Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Grüß Gott, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung der Vorschriften zum diagnoseorientierten Fallpauschalensystem für Krankenhäuser und zur Änderung anderer
Vorschriften ({0})
- Drucksache 15/3919 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell ist vereinbart, die für morgen vorgesehene erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Fallpauschalenänderungsgesetzes auf heute vorzuziehen. Eine Aussprache
soll heute nicht stattfinden. - Ich sehe, Sie sind mit der
Vereinbarung einverstanden.
Wir kommen daher gleich zur Überweisung. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den eben genannten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/3919 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fragestunde
- Drucksache 15/3925 Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf. Zur
Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke bereit.
Wir kommen zur Frage 1 des Abgeordneten Joachim
Günther ({2}):
Welche Projekte sind in den Bereichen Bestandsnetz, Ausund Neubau der Deutschen Bahn AG, DB AG, in den kommenden zwei Jahren für die Bundesländer Sachsen und Sachsen-Anhalt geplant und in welcher Höhe stehen dafür Investitionsmittel des Bundes zur Verfügung?
Kollege Günther, Ihre Frage beantworte ich wie folgt:
Aufgrund der Einsparauflagen aus der Umsetzung der
Beschlüsse des Vermittlungsausschusses von Bundestag
und Bundesrat zum Subventionsabbau vom 19. Dezember 2003 ergab sich die Notwendigkeit zur Priorisierung
sowohl der laufenden als auch der neu zu beginnenden
Schienenvorhaben. Den Abstimmungen wurde ein Plafond für das Bestandsnetz von 2,5 Milliarden Euro pro
Jahr zugrunde gelegt. Damit kann der Bedarf für Erhaltung und Modernisierung des Bestandsnetzes vollständig
gesichert und Substanzverzehr vermieden werden.
Die notwendigen Einsparungen waren insofern vollständig aus den Bedarfsplanvorhaben zu erbringen. So
konnten Vorhaben des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege im Zeitraum 2004 bis 2008 im Umfang
von circa 3,1 Milliarden Euro berücksichtigt werden.
Die Mittelfristplanung stellt die Weiterführung von Vorhaben sicher und trägt dazu bei, dass bei einigen Vorhaben erhebliche Abbruchkosten vermieden werden können. Die verfügbaren Mittel erfordern allerdings, eine
Anzahl von Vorhaben in Stufen auszubauen.
Im Rahmen der zwischen Bund und Eisenbahninfrastrukturunternehmen des Bundes abgestimmten Mittelfristplanung 2004 bis 2008 - es handelt sich dabei um
die so genannte 66er-Liste - sind folgende Neu- und
Ausbauvorhaben, die auch die Länder Sachsen und
Sachsen-Anhalt betreffen, vorgesehen: VDE 8.2 Erfurt-Halle-Leipzig mit einem Volumen von 166 Millionen Euro, VDE 8.3 Berlin-Halle-Leipzig mit einem Volumen von 59 Millionen Euro, VDE 9 Leipzig-Dresden
mit einem Volumen von 128 Millionen Euro, die Ausbaustrecke Paderborn-Chemnitz mit einem Volumen
von 84 Millionen Euro, die Ausbaustrecke Karlsruhe-Stuttgart-Nürnberg-Leipzig-Dresden mit einem
Volumen von 143 Millionen Euro, die Ausbaustrecke
Berlin-Dresden mit einem Volumen von 24 Millionen
Redetext
Euro, Rangierbahnhof Halle mit einem Volumen von
29 Millionen Euro, der Knoten Halle-Leipzig mit einem
Volumen von 55 Millionen Euro, der Knoten Magdeburg
mit einem Volumen von 47 Millionen Euro und Dresden-Pirna mit 12 Millionen Euro.
Die Eisenbahninfrastrukturunternehmen des Bundes
entscheiden selbst in ihrer unternehmerischen Zuständigkeit, wo und in welchem Umfang Investitionen in das
Bestandsnetz getätigt werden sollen. Informationen darüber, welche Investitionen in das Bestandsnetz in den
Bundesländern Sachsen und Sachsen-Anhalt in den
kommenden zwei Jahren realisiert werden, liegen der
Bundesregierung nicht vor.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gesagt, dass nach der
Mittelfristplanung manche Vorhaben in Stufen ausgeführt werden müssen. Wie ist es dann möglich, dass die
Bahnbauunternehmen in Mitteldeutschland im ersten
Halbjahr dieses Jahres einen Auftragseingang in Höhe
von nur 16 Prozent der ursprünglich vorgesehenen
Summe hatten? Besteht der Verdacht, dass eigentlich genehmigte oder projektierte Vorhaben vonseiten der
Bahn AG nicht umgesetzt wurden?
Herr Kollege Günther, ich kann die Zahlen der Bauwirtschaft gegenwärtig nicht verifizieren und nachvollziehen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir die
Unterlagen, die Sie von der Bauwirtschaft sicherlich bekommen haben, zur Verfügung stellen könnten, sodass
wir der Sache nachgehen können. In unserem Interesse
liegt es natürlich, dass die zur Verfügung stehenden Bundesmittel in die Infrastruktur fließen und für Baumaßnahmen genutzt werden.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ich habe noch eine weitere Frage. Sie haben dargelegt, dass 2,5 Milliarden Euro für die Substanzerhaltung
bereitgestellt werden. Das bedeutet, dass es in diesem
Bereich theoretisch keinen Abbruch gab. Ist Ihnen bekannt, dass Züge der Deutschen Bahn mit dem Winterfahrplan zum Beispiel über die Sachsenmagistrale von
Dresden nach Nürnberg fünf Stunden benötigen und
dass die Fahrzeit damit länger ist als unmittelbar nach
dem Ersten Weltkrieg? Was kann man dagegen tun? Ist
in diesem Zusammenhang vielleicht etwas verschlafen
worden?
Ich habe Ihnen bereits dargelegt, dass die Bahn hinsichtlich der Investitionen in das Bestandsnetz in eigener
unternehmerischer Verantwortung zu handeln hat. Dabei
besteht ganz klar ein Interesse daran, dass es nicht zum
Substanzverzehr bei Strecken kommt. Gleichwohl ist
Ihre Aussage richtig: Langsamfahrstrecken senken die
Attraktivität der Bahn. Insofern legen wir sehr viel Wert
darauf, dass es zu keinem Abbruch gekommen ist. Deshalb ist der Plafond von 2,5 Milliarden Euro gesichert.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Joachim
Günther auf:
Wie ist der Stand des Abschlusses der Anpassungsfinanzierungsvereinbarung zwischen der DB AG und der Bundesregierung?
Herr Kollege Günther, die Anpassungsfinanzierungsvereinbarung ist zwischen den Eisenbahninfrastrukturunternehmen des Bundes und dem EisenbahnBundesamt abgestimmt worden. Derzeit wird im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
der Antrag auf Entsperrung der für den Abschluss der
Anpassungsvereinbarung notwendigen Ausgabenmittel
und Verpflichtungsermächtigungen vorbereitet. Es ist
beabsichtigt, die Anpassungsfinanzierungsvereinbarung
in Kürze den Eisenbahninfrastrukturunternehmen des
Bundes zur Unterzeichnung zu übersenden.
Es gibt keine Zusatzfrage. Dann schließe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf. Die Frage 3 der Abgeordneten Petra
Pau wird aufgrund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für
die Fragestunde schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf. Die Fragen 4 und 5 der Kollegin Gitta
Connemann werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Fragen 6 und 7 des Kollegen Georg Girisch
werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung auf. Die
Frage 8 des Kollegen Albert Rupprecht wird ebenfalls
schriftlich beantwortet.
Ich komme jetzt zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr
Staatsminister Hans Martin Bury zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
auf:
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung des
Expräsidenten der USA Jimmy Carter - „Süddeutsche Zeitung“ vom 1. Oktober 2004, „Washington Post“ vom 27. September 2004 -: „In Florida fehlen einige grundsätzliche Voraussetzungen für eine faire Wahl“ und inwieweit leitet die
Bundesregierung daraus außenpolitischen Handlungsbedarf
gegenüber der US-Regierung ab?
Frau Kollegin Lötzsch, die USA sind eine funktionierende Demokratie. Sie verfügt nicht nur über ein Wahlund Rechtssystem, das gegebenenfalls rechtsstaatliche
Mittel zur Überprüfung von Wahlen bietet, sondern sie
stützt sich vor allem auch auf eine sehr aktive Zivilgesellschaft und starke Medien, die für eine effektive Kontrolle sorgen.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
der Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter hat darauf
hingewiesen, dass es erhebliche Unregelmäßigkeiten bei
den Wahlen gibt. In etlichen Zeitungsartikeln und Fernsehberichten wurde dargestellt, wie kompliziert schon
die vorgezogene Stimmabgabe bei der Wahl in Florida
ist. Bei den letzten Wahlen gab es ebenfalls große
Schwierigkeiten. Hat die Bundesregierung das zum Anlass genommen, in dieser Angelegenheit mit der Regierung der USA Kontakt aufzunehmen?
Frau Kollegin Lötzsch, ich darf zum einen auf meine
Beantwortung Ihrer Eingangsfrage verweisen. Zum anderen möchte ich darauf hinweisen, dass in den Vereinigten Staaten selbst vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den vorangegangenen Präsidentschaftswahlen
Reformbestrebungen im Gange und auch bereits Reformen eingeleitet worden sind, deren Umsetzung allerdings andauert. Das hat mit der Komplexität der Thematik und der Tatsache zu tun, dass das amerikanische
Wahlsystem dezentral organisiert ist, sodass wesentliche
Kompetenzen für die Durchführung der Wahlen bei den
Bundesstaaten oder den Counties liegen und die Bundesebene nur begrenzte Kompetenzen hat. Dennoch hat die
OSZE im Zusammenhang mit dem Help America Vote
Act von einem Beispiel für eine schnelle und umfassende Reform gesprochen.
Frau Dr. Lötzsch, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Staatsminister. - Die Bundesregierung und auch andere
Vertreter des politischen Lebens der Bundesrepublik äußern sich häufig zu Wahlen in vielen Staaten dieser Welt
und deren Rechtmäßigkeit. Kann ich davon ausgehen,
dass die Bundesregierung keinen Unterschied macht,
wenn es um die Sicherung international gültiger Voraussetzungen für faire Wahlen geht, und dass sie den USA
aus Bündnistreue sozusagen keinen Demokratiediscount
gewährt?
Frau Kollegin Lötzsch, ich glaube, dass es nicht angemessen ist, im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten von Amerika von „Demokratiediscount“ zu sprechen. Dessen ungeachtet setzt sich die Bundesregierung
überall für die Schaffung bzw. die Einhaltung von demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen ein.
Die Fragen 10 und 11 des Kollegen Dr. Egon Jüttner
werden schriftlich beantwortet. - Vielen Dank für die
Beantwortung der Fragen, Herr Staatsminister.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Die Fragen 12 und 13 des Kollegen Johannes Singhammer werden schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 14 und 15 des Kollegen
Hartmut Koschyk.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Melanie Oßwald
auf:
Trifft ein Bericht des „Spiegels“ vom 27. September 2004
zu, wonach Bundeskanzler Gerhard Schröder Ende Januar
2002 mit dem damaligen Vorstandssprecher der Deutschen
Bank, Rolf Breuer, in der Sache Kirch zusammengetroffen ist,
und, wenn ja, wer hat an der Besprechung ferner teilgenommen?
Frau Kollegin Oßwald, wenn Sie damit einverstanden
sind, werde ich Ihre Fragen 16 und 17 zusammen beantworten.
Frau Oßwald, sind Sie damit einverstanden? - Das
scheint der Fall zu sein. Dann rufe ich auch die Frage 17
der Kollegin Melanie Oßwald auf:
Von wem ist gegebenenfalls die Initiative zu diesem Treffen ausgegangen und was war der genaue Inhalt des Gesprächs?
Der Bundeskanzler führt regelmäßig Gespräche mit
Vertretern der Kreditwirtschaft. Über die Teilnehmer
solcher Gespräche, über deren Inhalt und Vorbereitung
gibt die Bundesregierung keine Auskünfte.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte, Frau Oßwald.
Wie kann es dann - laut des Artikels, den ich in meiner schriftlich eingereichten Frage 16 erwähnt habe - zu
einem derartigen Protokoll über die nachfolgende Sitzung des Vorstands der Deutschen Bank kommen?
Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass die Bundesregierung grundsätzlich keine Auskünfte über Gespräche mit
Vertretern der Kreditwirtschaft gibt. Deswegen kann ich
Ihre Frage weder mit Ja noch mit Nein beantworten und
natürlich auch keine Auskunft zu Veröffentlichungen im
„Spiegel“ geben.
Frau Oßwald, Sie haben noch drei weitere Zusatzfragen.
Nein. Ich verzichte.
Die Frage 18 des Kollegen Dietrich Austermann wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Dr. Peter
Ramsauer auf:
Mit welchen Argumenten begründet die Bundesregierung
ihre mir in der Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen, Dr. Barbara
Hendricks, vom 11. Oktober 2004 auf meine schriftlichen
Fragen mit den Arbeitsnummern 10/40 und 10/41 mitgeteilte
Ablehnung zum von der EU-Kommission am 14. September
2004 unterbreiteten Vorschlag an den Rat zur Ermächtigung
Frankreichs zur Staffelung der Steuern auf Kraftstoffe?
Herr Kollege Ramsauer, der Kommissionsvorschlag
ist unter europarechtlichen Gesichtspunkten als sehr bedenklich einzuschätzen. Die Energiesteuer-Richtlinie
geht von dem Grundsatz aus, dass in einem nationalen
Steuergebiet für ein Energieprodukt und einen Verwendungszweck nur ein einheitlicher Steuersatz gelten darf.
Die von Frankreich angestrebte Maßnahme stellt eine
Durchbrechung dieses Grundsatzes dar. Bei Zulassung
der Maßnahme würde ein Präzedenzfall geschaffen, den
andere Mitgliedstaaten zum Anlass für ähnliche, ausschließlich auf die Befriedigung nationaler Bedürfnisse
abzielende Maßnahmen nehmen dürften. Dies hätte eine
Aufweichung der Prinzipien der Energiesteuer-Richtlinie und eine Zersplitterung bzw. Regionalisierung der
Steuersätze zur Folge, was nicht nur den Harmonisierungsprozess bremsen, sondern einen Rückschritt darstellen würde.
Nach Art. 19 der Energiesteuer-Richtlinie können die
Sonderregelungen lediglich für eine Höchstdauer von
sechs Jahren gewährt werden. Demgegenüber ist das
Vorhaben Frankreichs Bestandteil eines umfassenden
und dauerhaften Dezentralisierungsprozesses, sodass bereits zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgegangen werden
muss, dass eine zunächst für sechs Jahre erteilte Ermächtigung nach Fristablauf fortlaufend verlängert werden
müsste. Damit würde aber Art. 19 seinen Charakter als
zeitlich befristete Ausnahme verlieren. Einem Mitgliedstaat kann gemäß Art. 19 nur dann eine Ermächtigung
gewährt werden, wenn besondere politische Erwägungen vorliegen. Dieses Merkmal hat den Zweck, Ermächtigungen nur auf ganz bestimmte Sonderfälle zu beschränken.
Die von Frankreich beabsichtigte Dezentralisierung
ist sicherlich ein politisches Ziel. Ob es sich hier allerdings um einen Sonderfall handelt, der eine Ermächtigung rechtfertigt, muss ernsthaft bezweifelt werden. Es
ist nicht ersichtlich, warum sich Frankreich zur Umsetzung seiner Dezentralisierungsidee gerade des Mineralölsteuerrechts bedient, welches auf europäischer Ebene
die genannten strengen Standards vorschreibt. Der Antrag Frankreichs stützt sich auf sozioökonomische Gegebenheiten. - Das war ein Zitat.
Wenn die Kommission derart unbestimmte Aussagen
zulässt, besteht die erhebliche Gefahr, dass andere Mitgliedstaaten ihre Anschlussforderungen unter Bezugnahme auf den französischen Antrag ebenfalls nur vage
begründen und damit das Kernelement des Art. 19 der
Energiesteuer-Richtlinie im Ergebnis ausgehöhlt würde.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung
- das gilt auch für Sie, Frau Staatssekretärin - jedes nur
erdenkliche Argument, auch Scheinargument, heranzieht, um Aktionen zur Bekämpfung des Tanktourismus
zu verhindern. Deswegen stelle ich die Zusatzfrage, ob
es nicht sinnvoll wäre, dass sich die Bundesregierung
mit der französischen Regierung in Verbindung setzt, um
zu erreichen, dass die französische Regierung ein solches Begehren der deutschen Seite unterstützt, wenn die
deutsche Regierung eine Unterstützung des französischen Anliegens in Aussicht stellt. Auch wenn der französische Vorstoß andere Nuancierungen hat als das, was
wir in Deutschland zur Bekämpfung des Tanktourismus
im Auge haben, so gibt es von der Grundproblematik her
eine Fülle von Gemeinsamkeiten, die man positiv nutzen
müsste.
Meine Zusatzfrage lautet also: Halten Sie es nicht für
sinnvoll, das Vorgehen zu koordinieren, um dann auch
die anderen Mitgliedstaaten für solche Pläne zu gewinnen?
Herr Kollege Ramsauer, zunächst einmal weise ich in
aller Form das Wort Scheinargument zurück, welches
Sie gerade gebraucht haben, weil ich der Auffassung bin,
dass ich in meinen Ausführungen die europäische
Rechtslage sehr ausführlich und inhaltlich zutreffend
dargelegt habe. Dabei handelt es sich keinesfalls um
Scheinargumente.
Ich möchte Sie im Übrigen darauf hinweisen, dass das
Begehren der französischen Regierung nicht auf etwas
abzielt, was mit der Eindämmung des Tanktourismus
vergleichbar wäre. Es ist zudem nicht nur auf Grenzgebiete gerichtet, sondern auf alle Gebiete, zum Beispiel
auch auf Zentralfrankreich.
Das Petitum ist ebenfalls nicht vergleichbar. Die französische Regierung begehrt eine Ermäßigung um 2,3 bis
3,54 Cent pro Liter. Wenn man das Preisgefälle zu einzelnen Nachbarstaaten der Bundesrepublik, zum Beispiel Tschechien, betrachtet, dann erkennt man, dass
eine Reduzierung in einem solchen Umfang natürlich in
keiner Weise ausreichen und den Tanktourismus selbstverständlich nicht eindämmen würde.
Schließlich muss ich darauf hinweisen, dass eine solche Absprache, wenn sie denn überhaupt sinnvoll wäre
- die Bundesregierung erachtet sie aus den von mir genannten Gründen, nämlich aus prinzipiellen europarechtlichen Gründen, nicht für sinnvoll -, nicht bedeuten
würde, dass auch alle anderen Länder dem Begehren
Deutschlands zustimmen, wenn wir denn, wie Sie es
wünschen, Maßnahmen zur Eindämmung des Tanktourismus einleiten wollten. Die Interessenlage ist zum Beispiel in Tschechien eine völlig andere als in Frankreich.
Eine Zustimmung Frankreichs würde nicht dazu führen,
dass auch andere Nachbarländer der Bundesrepublik
Deutschland zustimmen. Sie wissen, dass jede Änderung
einstimmig erfolgen muss. Dies ist auch genau das
Pfund, mit dem die Bundesregierung hier wuchert. Wir
haben nicht vor, dem französischen Begehren zuzustimmen.
({0})
Ihre zweite Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, gerade Ihre allerletzte Äußerung belegt eigentlich, dass die Bundesregierung nicht
gewillt ist, den Tanktourismus in irgendeiner Weise zu
bekämpfen oder einzudämmen.
({0})
Deswegen möchte ich nachfragen, ob diese Problematik
nicht gerade wegen der Steuerausfälle, die mit dem
Tanktourismus verbunden sind - der Sachverhalt ist von
der Bundesregierung und auch von Ihnen schon eingestanden worden -, eine umfassende innenpolitische Angelegenheit ist, damit ebenso einen innenpolitischen
Charakter hat wie das französische Anliegen und gerade
deshalb bei der EU-Kommission eine Ermächtigung zur
Staffelung der Mineralölsteuersätze in Deutschland beantragt werden sollte.
Selbstverständlich verfolgen die betroffenen Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, zum Beispiel
der deutsche Mineralölwirtschaftsverband, dieses Anliegen. Gleichwohl ist es naturgemäß kein rein innenpolitisches Anliegen, weil der von Ihnen angesprochene
Tanktourismus immer in die Nachbarländer geht. Berührt ist also immer ein mindestens bilaterales Verhältnis. Mit anderen Worten: Es handelt sich eben nicht um
ein innenpolitisches Anliegen - mögen damit auch in der
Bundesrepublik Deutschland entstehende Wünsche verbunden sein -, weil immer Nachbarstaaten betroffen
sind.
Ich darf im Übrigen darauf hinweisen, dass bisher
noch niemand eine vernünftige Regelung für eine Einschränkung des Tanktourismus gefunden hat.
({0})
Das italienische Modell beinhaltet beispielsweise - Sie
wissen, dass es ausläuft - eine Verlegung der Grenze um
30 Kilometer ins Binnenland. Dieses Modell gilt für die
Grenzregion zwischen Italien und Slowenien - es wurde
genehmigt, als Slowenien noch nicht zur Europäischen
Union gehörte - sowie zwischen Italien und der Schweiz
- sie gehört nicht zur Europäischen Union -, aber nicht
für die Grenzregion zwischen Italien und Österreich. In
einem Grenzraum von 30 Kilometern werden Bürgern
Chipkarten ausgehändigt, sodass sie steuerermäßigt tanken können. Dadurch, dass die Grenze 30 Kilometer ins
Binnenland verlegt wird, hört der Tanktourismus allerdings nicht auf; die Probleme werden vielmehr einfach
nur verlagert.
Im Übrigen darf ich Sie noch einmal darauf hinweisen, dass der - zweifellos bestehende - Tanktourismus
durch eine Fülle von Motivationen zustande kommt.
({1})
Einfach ausgedrückt: Jemand fährt zum Tanken, geht anschließend zum Friseur und kauft danach vielleicht noch
die erlaubte Menge Zigaretten. Es soll sogar schon Bürgermeister gegeben haben, die über die tschechische
Grenze zum Besuch von Bordellen gegangen sind.
({2})
Diese Mischung von Motivationen wird man allein über
den Mineralölpreis nicht steuern können.
({3})
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Rupprecht.
Frau Staatssekretärin, kann es sein, dass die Bundesregierung die Bevölkerung in den Grenzregionen
Deutschlands seit Jahren an der Nase herumführt? Die
von der Bundesregierung bis dato gegebenen Begründungen, warum Vorschläge zur Beseitigung des Tanktourismus stets abgelehnt wurden, waren stets europarechtlich; man verwies immer wieder auf den
Widerstand der Europäischen Union. Das gilt auch für
Ihre Argumentation. Sie schrieben beispielsweise am
22. Dezember 2003 an mich - ich zitiere -:
Maßgeblich dafür ist insbesondere, dass die Europäische Kommission ein solches Anliegen nicht unterstützt.
Albert Rupprecht ({0})
Mittlerweile liegt ein Vorschlag der Europäischen
Kommission für eine Differenzierung, die auch eine regionale Differenzierung ermöglicht, vor. Diesen Vorschlag lehnen Sie ab. Wie wollen Sie der Bevölkerung
erklären, dass Sie hier widersprüchlich agieren?
Nein, Herr Kollege, ich agiere nicht widersprüchlich.
Ich bin auch weiterhin der Auffassung, dass der Vorschlag, den die Kommission auf Begehren von Frankreich gemacht hat, erheblichen europarechtlichen Bedenken begegnet. Das habe ich in meiner Antwort auf
die Frage des Kollegen Ramsauer ausgeführt. Es liegt
der Bundesregierung daran, einmal erreichte Fortschritte
in der Steuerangleichung, wie wir sie in der Energiesteuer-Richtlinie erreicht haben, nicht wieder aufzugeben.
Es ist in der Tat richtig, dass die Bundesrepublik
Deutschland in Bezug auf alle Rechtsgebiete Wert darauf legt, in Europa einmal erreichte Integrationsfortschritte nicht wieder aufzugeben. Das gilt auch für den
Energiesteuerbereich.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Scheuer.
Frau Staatssekretärin, Sie haben Ihr Amt nicht in der
luxemburgischen, in der österreichischen oder in der
tschechischen Regierung, sondern in der deutschen. Wir,
Deutschland, sind von Ländern umzingelt, in denen Mineralölprodukte billiger sind. Angesichts dessen drängt
sich mir die Frage auf, warum Sie fast fünf Jahre tatenlos
zugesehen haben. Die Unionsfraktion hat bereits viele
Initiativen gestartet, zum Beispiel eine Kleine Anfrage
vom Februar 2000. Ihnen sind die Steuerausfälle in
Höhe von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr, der Verlust von
5 000 Arbeitsplätzen und der Konkurs vieler mittelständischer Unternehmen in der Grenzregion anscheinend
egal.
Herr Kollege, zunächst weise ich das Wort „umzingelt“ zurück. Unsere Nachbarn sind uns alle freundschaftlich verbunden. Es gibt im Übrigen durchaus auch
einzelne Nachbarstaaten, in denen die Preise höher liegen, zum Beispiel ist das in Dänemark und den Niederlanden der Fall. Ich komme aus einer Gegend nahe der
niederländischen Grenze und kann das beurteilen. Da
profitieren die mittelständischen Tankstellen von einem
umgekehrten Tanktourismus. Das Gleiche gilt für
Schleswig-Holstein, wo Tankstellen viele dänische Kunden haben. Es gibt also in der Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich auch einen Tanktourismus in die
andere Richtung. Es ist nun einmal so, dass die Preise in
der Europäischen Union unterschiedlich hoch sind.
Wir haben aber - auch das muss ich deutlich sagen die letzten fünf Jahre natürlich nicht einfach tatenlos zugesehen, sondern die von mir gerade angesprochene
Energiesteuer-Richtlinie, wie ich meine, richtigerweise
noch vor dem EU-Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten durchgesetzt. In dieser Energiesteuer-Richtlinie sind
Mindestsätze der Besteuerung festgelegt worden. Ich
räume ein, dass es lange Übergangsfristen bis 2007 oder
für einzelne Mitgliedstaaten gar bis 2009 gibt. Eine solche Vereinbarung hat zum Acquis communautaire gehört
- das ist der europäische Ausdruck für Sachverhalte, die
alle akzeptieren müssen -, bevor die zehn neuen Mitgliedsländer beigetreten sind. Diese Übergangsfristen
sind in der Tat noch nicht abgelaufen, es war aber das
Ziel der Bundesregierung - das hat sie erfolgreich in
Brüssel durchgesetzt -, über die Energiesteuer-Richtlinie
Mindestsätze für die Besteuerung vorzusehen. Nach Ablauf dieser Übergangsfristen werden die Unterschiede
also kleiner. Sie werden nicht vollständig beseitigt werden können, aber sie werden kleiner werden.
Ich weise also den Vorwurf zurück, dass die Bundesregierung in den vergangenen fünf Jahren untätig gewesen sei. Im Gegenteil, sie war in der Frage sehr erfolgreich. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum wir
nicht wollen, dass diese Energiesteuer-Richtlinie jetzt
unter Bezugnahme auf andere Gesichtspunkte wieder
aufgerollt wird. Denn dann könnte es passieren, dass die
festgeschriebenen Mindeststeuersätze nicht mehr beibehalten werden. Daraus würden sich auf lange Sicht Probleme an den Grenzen ergeben.
({0})
Herr Kollege Hinsken, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben vorhin darauf verwiesen, dass es sich bei dieser Frage nicht um ein innenpolitisches Anliegen handele. Ich prophezeie Ihnen, dass
es sehr bald eines werden wird. Die Bundesregierung
kann doch nicht längere Zeit zusehen, wie seit Einführung der Ökosteuer jährlich mehr als 1,2 Milliarden Euro
Mineralölsteuer in die angrenzenden Länder fließen.
Jetzt gibt es die Möglichkeit, dagegenzuhalten. Ist es
nicht Ihre Aufgabe und zugleich Ihre Verpflichtung, jede
Möglichkeit zu ergreifen und alles dafür zu tun, dass
Gelder und damit Steuern in der Bundesrepublik
Deutschland verbleiben?
Herr Kollege Hinsken, ich habe eingeräumt, dass dies
selbstverständlich ein innenpolitisches Anliegen ist, es
aber nicht rein innenpolitisch angegangen werden kann,
weil naturgemäß immer - wir reden vom Tanktourismus
über die Grenzen - von dieser Fragestellung auch Nachbarländer tangiert werden. Insofern will ich in keiner
Weise negieren, dass dieses ein Anliegen ist, welches
von den Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland
mit guten Gründen vorgetragen wird. Diese Sicht der
Betroffenen bestreite ich gar nicht.
Allerdings handelt es sich bei den Zahlen, die Sie genannt haben, um Schätzzahlen, die wir so nicht bestätigen können. Sie beruhen auf Schätzungen des deutschen
Mineralölwirtschaftsverbandes und nicht auf statistisch
durchgeführten Erhebungen.
({0})
Abschließend haben Sie die Frage gestellt, ob es nicht
meine Aufgabe sei, alles zu tun, was in unserer Macht
stünde, um solche Diskrepanzen zu vermeiden. Auf
diese Frage antworte ich Ihnen mit Ja. Ich habe Ihnen
aber auch dargelegt, warum nicht mehr in unserer Macht
steht als das, was ich Ihnen eben gesagt habe.
Bei den Fragen 20 und 21 des Kollegen Albrecht
Feibel, der nicht im Saal ist, wird verfahren, wie in der
Geschäftsordnung vorgesehen ist.
Ich schließe damit den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit auf. Die Fragen werden von Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Rezzo
Schlauch beantwortet.
Die Fragen 22 und 23 des Kollegen Manfred Kolbe
werden schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 24
und 25 des Kollegen Dirk Niebel. Ebenfalls schriftlich
beantwortet wird die Frage 26 der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch.
Ich rufe die Frage 27 der Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth auf:
Inwieweit sind die Bescheide, die nach der Arbeitsmarktreform, Hartz IV, ab 1. Januar 2005 von den durch die
kommunalen Träger und die Arbeitsagenturen gebildeten Arbeitsgemeinschaften erteilt werden, rechtlich anfechtbar und
wer haftet für fehlerhafte Bescheide?
Frau Kollegin Dr. Flachsbarth, wenn Sie gestatten,
beantworte ich die Fragen 27 und 28 wegen ihres Sachzusammenhangs gemeinsam.
Dann rufe ich auch die Frage 28 auf:
Wer stellt im Falle des Ausscheidens von Mitarbeitern aus
diesen Arbeitsgemeinschaften mit welcher finanziellen Konsequenz den nachfolgenden Mitarbeiter ein?
Zur Frage 27: § 44 b Abs. 3 Satz 3 SGB II regelt, dass
die Arbeitsgemeinschaft „berechtigt“ ist, „zur Erfüllung
ihrer Aufgaben Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide zu erlassen“. Die Bundesregierung geht davon
aus, dass von der Arbeitsgemeinschaft erlassene Bescheide insoweit nicht anfechtbar sind. Die Frage nach
einer Haftung stellt sich demnach nicht.
Zur Frage 28: Für die personelle Ausstattung der Arbeitsgemeinschaften sind die örtlich zuständigen Träger
der Grundsicherung für Arbeitsuchende, also die Agenturen für Arbeit und die kreisfreien Städte bzw. Landkreise, zuständig. Es bestehen keine gesetzlichen Vorgaben, ob die Arbeitsgemeinschaften eigenes Personal
vorhalten sollen oder ob die zuständigen Träger den Arbeitsgemeinschaften Personal bzw. die zu erbringende
Dienstleistung überlassen. Nach Kenntnisstand des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt die
Bundesagentur für Arbeit den örtlich zuständigen Arbeitsagenturen, die Bereitstellung der Dienstleistung des
Arbeitnehmers an die Arbeitsgemeinschaften im Rahmen eines Dienstleistungsüberlassungsvertrages sicherzustellen. Bei dieser Konstellation trägt auch die überlassende Stelle die finanzielle Verantwortung für das
insoweit eingesetzte Personal.
Dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit ist
nicht bekannt, in welcher Weise die Kommunen den Arbeitsgemeinschaften Personal zuordnen werden. Aufgrund der kommunalen Selbstverwaltung wird dies in
den unterschiedlichsten Formen geschehen, wobei der
Weg des Dienstleistungsüberlassungsvertrages auch für
die kommunalen Träger möglich ist. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit vertritt aber die Auffassung, dass die Mitarbeit von Beamten, Angestellten und
Arbeitern in der Arbeitsgemeinschaft zunächst auf freiwilliger Basis, das heißt mit Zustimmung der Betroffenen erfolgen soll. Erst wenn auf freiwilliger Basis keine
Lösung erreicht werden kann, sollte der Weg der Dienstleistungsüberlassung beschritten werden.
Ihre Zusatzfragen, bitte, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
zunächst zu meiner ersten Frage zwei Nachfragen. Wie
beurteilt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund
die Empfehlung des Deutschen Landkreistages an die
Kommunen, sich mit den Arbeitsagenturen abzustimmen, um die unterschiedlichen und vom Gesetzgeber getrennten Aufgaben eigenverantwortlich zu erfüllen?
Nach unserer Auffassung sind die Arbeitsgemeinschaften rechtliche Trägerschaften, gegen die Rechtsmittel, beispielsweise Widersprüche, erhoben werden können. Es ist
wie in jedem anderen Verwaltungsrechtsverfahren: Widerspruchsbescheid - in diesem Fall gegen die Arbeitsgemeinschaften - und dann gegebenenfalls Klageweg.
Insoweit kann ich die Empfehlung des Landkreistages
nicht nachvollziehen.
Nichtsdestotrotz soll das Rechtskonstrukt in diesem
Zusammenhang ein Konstrukt sui generis sein, was auf
eine gewisse Rechtsunsicherheit hinweisen mag. Wie
steht die Bundesregierung vor diesem Hintergrund der
Konstruktion einer AG mit einer nur partiellen bzw.
ohne Rechtsfähigkeit gegenüber?
Wie gesagt: Unser Haus ist der Auffassung, dass die
Arbeitsgemeinschaft als selbstständiger Träger einen
Widerspruchsbescheid erlassen kann. Sie ist bescheidfähig und widerspruchsbescheidfähig.
Sie haben noch zwei weitere Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, mit welchem zusätzlichen Personalbedarf ist aufgrund der von Hartz IV veranlassten Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe bundesweit zu rechnen?
Diese Frage kann ich Ihnen nach meinem jetzigen
Kenntnisstand nicht beantworten. Ich reiche Ihnen eine
entsprechende Abschätzung gerne nach.
Herr Staatssekretär, wie stellt die Bundesregierung sicher, dass das benötigte Personal tatsächlich eingestellt
wird, und zwar über den Umfang hinaus, den Sie eben
genannt haben? Es kann ja sein, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer aus Krankheitsgründen oder aus
Altersgründen - wie auch immer - aus diesen Überlassungsverhältnissen ausscheiden. Wie wird dann sichergestellt, dass der Sollstand beim Personal gehalten wird?
Das sicherzustellen ist in erster Linie die Aufgabe der
Bundesagentur für Arbeit. Ich gehe aber davon aus, dass
den örtlichen Arbeitsgemeinschaften das nötige Personal
von den Leistungsträgern zur Verfügung gestellt wird.
Wenn eine Problemlösung auf diese Weise nicht möglich
ist, dann muss die Bundesagentur für Arbeit an diesem
Punkt unterstützend eingreifen.
Vielen Dank.
Die Frage 29 des Kollegen Peter Harry Carstensen
wird schriftlich beantwortet.
Ich schließe diesen Geschäftsbereich. Vielen Dank,
Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Die Beantwortung der Fragen übernimmt der Parlamentarische Staatssekretär
Hans Georg Wagner.
Die Fragen 30 und 31 der Kollegin Kristina Köhler,
die Frage 32 des Kollegen Dietrich Austermann sowie
die Fragen 33 und 34 des Kollegen Günther Friedrich
Nolting werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 35 der Kollegin Petra Pau auf:
Von wem genau hat die Bundesregierung die Anforderung
bzw. den Auftrag erhalten, 20 Fuchs-Panzer an den Irak zu
liefern, und welche politischen Erwägungen haben vor dem
Hintergrund, dass Kriegswaffen nicht in ein Spannungs- bzw.
Kriegsgebiet geliefert werden sollen, dazu geführt?
Sehr geehrte Frau Kollegin, die Absicht zur Lieferung
von 20 Transportpanzern Fuchs ist Ergebnis von Gesprächen der neuen irakischen Regierung, in denen diese Interesse an einer Unterstützung der neuen irakischen Sicherheitskräfte geäußert hat. Der Bedarf der irakischen
Sicherheitskräfte an geschützten Transportkapazitäten
ist nachvollziehbar und wird seitens der Bundesregierung anerkannt.
Die Entscheidung für die Lieferung der gepanzerten
Transportfahrzeuge wurde von der Bundesregierung als
Einzelfallentscheidung unter Abwägung aller Argumente getroffen. Es liegt im deutschen sicherheits- und
militärpolitischen Interesse, Stabilität und Sicherheit im
Irak zu fördern und die Legitimität der irakischen Übergangsregierung zu stärken. Einsatzbereite - das heißt:
angemessen ausgerüstete - und gut ausgebildete irakische Sicherheitskräfte können hierzu einen wichtigen
Beitrag leisten. Die geplante Lieferung von bis zu
20 unbewaffneten Gruppentransportfahrzeugen Fuchs
fügt sich in diese Bemühungen ein.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Danke, Herr Staatssekretär. Mich bewegt nur noch die
Frage, welche Garantien die Bundesregierung von der
provisorischen Regierung des Iraks eingefordert und
bekommen hat, dass diese Fuchs-Fahrzeuge nicht nachträglich mit Waffen ausgerüstet und nicht in der Auseinandersetzung mit so genannten Aufständischen eingesetzt werden.
Sie wissen doch genau, dass die Schulungen für die
Nutzung dieser Fahrzeuge in den Vereinigten Arabischen Emiraten oder auch in Deutschland stattfinden.
Ein Einsatz im Irak selber ist vorerst nicht geplant, es sei
denn, aus den demokratischen Wahlen geht eine Regierung hervor, die solche Garantien abgeben kann.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass diese Fahrzeuge
nicht innerhalb der Landesgrenzen des Iraks eingesetzt
werden sollen und deshalb diese Garantien nicht notwendig sind?
Sie werden zunächst einmal in den Vereinigten Arabischen Emiraten eingesetzt und dort zur Schulung der irakischen Sicherheitskräfte genutzt.
Auch Ihnen, Herr Staatssekretär, vielen Dank für die
Beantwortung der Fragen.
Ich schließe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Ich unterbreche die Sitzung bis zum Beginn der Aktuellen Stunde
um 16 Uhr.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kampf um Arbeitsplätze unterstützen, Unternehmenskrisen meistern, Beschäftigungspotenziale erhalten - Restrukturierungsanstrengungen bei Karstadt/Quelle und GM/Opel stärken
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang
Clement.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich als Erstes sagen, dass ich mich
von Herzen freue, dass die Arbeit in Bochum wieder
aufgenommen worden ist und die Bänder wieder laufen.
Ich hoffe sehr - davon gehe ich aus -, dass damit endgültig der Weg für Verhandlungen frei ist, die das Unternehmen Opel aus der krisenhaften Zuspitzung, in die es
geraten ist, herausführen können.
Bei beiden Unternehmenskrisen, die Gegenstand dieser Aktuellen Stunde sind, bei der Krise von Karstadt/
Quelle auf der einen Seite und GM/Opel auf der anderen
Seite, haben wir es nicht mit Krisen zu tun, die sich aus
einer spezifisch deutschen Situation ergeben. In diesen
zwei Fällen haben vielmehr eine mangelnde Führung
und Missmanagement zu diesem Problem geführt.
({0})
Das ist fast unstrittig. Dieses Missmanagement ist, wenn
ich es richtig sehe, nicht von den aktuellen Vorständen
der Unternehmen zu verantworten, sondern hat sich im
Laufe von Jahren aufgebaut.
Ich bin sehr froh darüber, dass bei Karstadt ein sehr
enges Verhandeln der neuen Unternehmensleitung mit
den Betriebsräten und der Gewerkschaft Verdi zu einem
Sanierungsprogramm geführt hat, das den Weg aus der
Krise weisen kann und das Unternehmen hoffentlich
wieder in eine gute, sichere Zukunft führt. Im Rahmen
des Karstadt-Sanierungsprogramms - ursprünglich
drohte ein Arbeitsplatzabbau von bis zu 30 000 - sollen
leider auch jetzt 5 500 Arbeitsplätze, überwiegend in
den Verwaltungen der Unternehmen, abgebaut werden.
Es kommt jedoch nicht zu betriebsbedingten Kündigungen. Mit den Arbeitsagenturen vor Ort kann mit dazu
beigetragen werden, dass dieser Prozess so sozialverträglich wie irgend möglich stattfindet. Ich begrüße sehr,
dass dieser Weg - bei allen Problemen, zu denen er ansonsten führt - eröffnet worden ist.
Im Fall Opel sieht es im Moment sehr viel schwieriger aus. Die Unternehmenskrise dort hat sich ebenfalls
in langen Jahren aufgebaut. Wer Opel kennt, weiß, dass
in den letzten 15 bis 20 Jahren die jeweiligen Vorstände
bei Opel Deutschland und GM Europa fast im Jahresrhythmus ausgewechselt worden sind. In einem Fall ist
ein Vorstand nach vier Monaten wieder abberufen worden. Es hat dort über Jahre, wie alle Fachleute bestätigen, eine kaum nachvollziehbare Modellpolitik gegeben.
In der so genannten Lopez-Ära ist mit den Zulieferern so
umgegangen worden, dass schwere Schäden auch für
das Unternehmen selbst herbeigeführt wurden. Das alles
führt nun zu einem Kostenproblem in einer Größenordnung von jährlich 500 Millionen Euro, wie es das
Management beziffert.
Ich setze darauf, dass die Verhandlungen, die gottlob
am Montag zwischen dem europäischen und dem deutschen Management sowie dem Gesamtbetriebsrat und
der Gewerkschaft IG Metall begonnen haben, zu einem
positiven Ergebnis führen. Die gesamte Bundesregierung setzt dabei darauf, dass es gelingen wird, Opel an
allen Standorten in Deutschland, in Rüsselsheim, dem
Stammsitz von Opel, in Bochum mitten im Ruhrgebiet,
dem Hauptmarkt von Opel in Deutschland, in Kaiserslautern und in Eisenach - dieser Standort steht ohnedies
nicht zur Debatte -, zu halten.
Wir hoffen, dass der Sanierungsprozess ohne betriebsbedingte Kündigungen erfolgen kann. Dies zu erreichen ist sehr wichtig. Wir hoffen natürlich, dass sich
der angekündigte Arbeitsplatzabbau in sehr viel engeren
Grenzen bewegen wird, als es an den ersten Ankündigungen des Managements abzulesen war: 10 000 von
30 000 Arbeitsplätzen in Deutschland. Das ist jeder
dritte Arbeitsplatz. In Bochum sollten 4 100 von gut
9 000 Arbeitsplätzen abgebaut werden. Das wäre sogar
fast jeder zweite Arbeitsplatz. Das wäre eine Katastrophe, und zwar sowohl für die einzelnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für den Arbeitsmarkt.
Deshalb haben wir natürlich ein außerordentliches Interesse daran, dass sich der Personalabbau in den Unternehmen hier am Standort Deutschland in engen Grenzen
bewegt. Was wir tun können, tragen wir dazu bei. Zusammen mit dem Management und den Betriebsräten
haben wir die Arbeitsagenturen vor Ort einbezogen. Sie
stehen zur Verfügung, um zu einem sozialverträglichen
Vorgehen beizutragen. Wir sind übrigens auch mit der
schwedischen Regierung, mit Ministerpräsident Persson,
mit dem schwedischen Wirtschaftsminister und den
schwedischen Gewerkschaften im Gespräch. Ferner sind
wir, genauso wie Ministerpräsident Persson, mit GM
Europa im Gespräch. Von uns aus ist alles vorbereitet.
Eines muss aber klar sein: Die Verantwortung zur
Überwindung der Krisen liegt bei den Unternehmen und
den Vorständen, in Zusammenarbeit mit den Betriebsräten und den Gewerkschaften. Ich gehe davon aus, dass
wir zu einem gemeinsamen Konzept kommen, welches
Opel in Deutschland eine Perspektive sichert und eine
Zukunft gibt.
Das nämlich, so glaube ich, ist das Hauptproblem des
ersten Antritts des Managements hier gewesen: dass ein
solch radikaler Personalabbau angekündigt wurde, ohne
dass man eine klare Zukunftsvision des Unternehmens
erkennen konnte. Ich hoffe, dass diese in den folgenden
Diskussionen aufgezeigt wird.
({1})
Diese krisenhafte Zuspitzung bei Opel - als jemand,
der aus dieser Region kommt, weiß ich natürlich, wie
wichtig Opel für Bochum ist, insbesondere nach dem
Rückzug des Bergbaus aus dieser Stadt und der ganzen
Region -, die ich in wirklich jedem Schritt nachvollziehen kann und die ich über viele Jahre auch begleitet
habe, hat nichts mit dem Automobilstandort Deutschland zu tun. Der Automobilstandort Deutschland - um
das in aller Klarheit und Deutlichkeit zu sagen - ist weltweit der beste und stärkste Standort.
({2})
Es gibt auf der Welt keinen Standort - das gilt schon gar
nicht für die USA, aber auch nicht für Japan, jenes Land,
das der Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht
noch am ehesten nahe kommt -, der eine höhere Kompetenz auf dem Automobilsektor aufzuweisen hat als wir
hier in Deutschland. Daran sollten wir auch keinen
Zweifel lassen. Es gibt auch keinen Grund, das zu zerreden.
({3})
Ich bin ohnedies der Meinung, dass wir uns endlich
abgewöhnen sollten, diesen Standort permanent schlecht
zu reden. Ich will jetzt gar nicht über die BertelsmannStudie reden, die ich alles andere als überzeugend finde.
({4})
Ich bitte darum, einmal das entgegenzusetzen, was kürzlich die Agentur Ernst & Young als Ergebnis einer Umfrage bei 500 international agierenden Unternehmen dargestellt hat, dass nämlich der Investitionsstandort
Deutschland zurzeit der drittinteressanteste auf der Welt
- hinter China und den USA - ist. Deutschland ist der
erste unter den europäischen Standorten. Ich halte es für
wichtig, dass wir uns das ab und zu wieder vor Augen
führen.
({5})
Es ist übrigens auch bemerkenswert, dass die Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland nach einer Untersuchung des World Economic Forums hinsichtlich
ihrer unternehmerischen Wettbewerbsfähigkeit international auf Platz drei stehen. Das ist eine sehr gute Position. In Deutschland haben viele Kostenreduzierungen
zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stattgefunden. Dafür musste oftmals die Allgemeinheit zur
Verfügung stehen. Ich denke nur an die Arbeitsagenturen, die Veränderungen in der Arbeitslosenversicherung
und alles, was in dieser Hinsicht beizutragen ist.
Ich will auch darauf hinweisen - wie auch die führenden Wirtschaftsinstitute gestern in ihrem Herbstgutachten aufgezeigt haben; diese folgen dem Grunde nach der
allgemeinen Einschätzung -, dass wir in Deutschland
zurzeit eine konjunkturelle Belebung haben, die etwas
kräftiger ist, als Anfang des Jahres prognostiziert worden ist, und dass diese wirtschaftliche Belebung weitergehen wird. Die Gutachter - das empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit - gehen trotz aller sonstigen Diskussionen
davon aus, dass die Binnenkräfte in Deutschland gestärkt werden. Übrigens steigt auch die Nachfrage langsam, aber sicher. Das zeigen Umfragen der Gesellschaft
für Konsumforschung. Es ist sehr wichtig, dass wir die
Binnenkräfte in Deutschland stärken.
Es stimmt, dass der derzeitige Konjunkturaufschwung
vom Export getragen wird. Das ist kein Übel. Fast alle
Aufschwünge in Deutschland haben mit einer Kräftigung des Exports begonnen. Unsere Exportwirtschaft ist
sehr stark. Diese Kräfte können von der Binnenwirtschaft aufgenommen und übersetzt werden.
({6})
Ich glaube, dass wir - auch wenn es notwendig ist, noch
mehr Kräfte zu mobilisieren - insgesamt auf dem richtigen Weg sind. Das sagen uns auch die Gutachter.
Auch hinsichtlich des Umbaus der Bundesagentur für
Arbeit und der Agenturen für Arbeit sind wir auf dem
richtigen Weg. Sie wissen, dass die Agenturen am
Montag mit dem IT-Programm begonnen haben. Ich
habe bis heute nicht verstanden, warum ich ausgerechnet
vom Vertreter der Arbeitgeber aufgefordert wurde, dieses Programm, das das modernste und größte E-Government-Programm in Europa ist, zurückzustellen. Es ist
das erste Mal, dass ich von einem Arbeitgebervertreter
aufgefordert wurde, einen solchen Schritt zu tun. Ich
werde dem nicht folgen. Wir gehen davon aus, dass wir
am 3. Januar mit der Auszahlung beginnen werden. Ich
gehe davon aus, dass uns gelingt, was wir uns vorgenommen haben.
Im nächsten Jahr wird - auch dies dient der Stärkung
der Konjunktur - die Arbeitsmarktreform fortgesetzt. Es
wird zudem einen weiteren Schritt im Rahmen der
Steuerreform geben. Ab Januar werden Bürger und Unternehmen um Steuern in der Größenordnung von
6,8 Milliarden Euro entlastet. Die Beiträge zu den Krankenversicherungen werden im nächsten Jahr weiter nach
unten gehen - ganz besonders für die Unternehmensseite -, und zwar bis auf etwa 13 Prozent. Insgesamt betrachtet wird klar, dass wir die Konjunktur stärken.
Wir brauchen insbesondere mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung, Bildung und Wissenschaft. Es
wäre allerdings wichtig, dass die Opposition den Weg
für den Abbau oder zumindest für eine Kürzung der
Eigenheimzulage im Bundesrat freigibt, weil dadurch
die Mittel, die wir für Schulen und Hochschulen, für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Deutschland brauchen, freigesetzt werden.
({7})
Das ist nämlich - das können Sie allen Gutachten entnehmen - die wichtigste Aufgabe, wenn man die Strukturen in Deutschland in Ordnung bringen und die Konjunktur noch stärker in Fahrt bringen will, als uns das
bisher gelungen ist. Ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass wir alle
in diesem Saal über die aktuelle Entwicklung bei Opel
und Karstadt-Quelle zutiefst betroffen sind. Ich muss
aber sagen: Das wird nur die Spitze des Eisbergs sein.
Ob Opel, Karstadt, Schlecker oder Volkswagen - wohin
man blickt, werden zurzeit Jobs abgebaut, Jobverlagerungen angedroht und den Beschäftigten Opfer abverlangt, um Entlassungen zu vermeiden. Es gibt fast keinen Unternehmer mehr, der nicht in diese Richtung
denkt. Es gibt fast keinen Konzernchef mehr, der nicht
sagt: Die bisherigen Standards sind nicht mehr zu verteidigen. Klar ist, dass es in Zukunft nicht mehr darum
geht, neue Besitzstände zu verteilen; vielmehr wird man
zusehen müssen, im Rahmen des immer härter werdenden Standortwettkampfs bestehen zu können.
In diesem Jahr werden wir mehr als 40 000 Unternehmenspleiten in unserem Land haben. Die meisten dieser
Unternehmen werden ohne großes Medienecho untergehen. Viele Unternehmen, die ihre Türen schließen werden, weil es keine neuen Aufträge mehr gibt, werden in
den Statistiken nicht erscheinen, weil sie keinen Insolvenzantrag stellen. Hinter all dem stehen, wie wir wissen, viele persönliche Schicksale - bei den Entlassenen
wie bei deren Familien. Angesichts dessen müssen bei
Ihnen, meine lieben Damen und Herren von Rot-Grün,
doch endlich einmal die Alarmglocken schellen. Sie
müssen endlich einmal wachgerüttelt werden.
Um auf die aktuellen Fälle zurückzukommen: Sie
dürfen bei den Menschen keine falschen Hoffnungen
wecken. Das darf man nicht tun. Sie dürfen nicht Populismus - Holzmann lässt grüßen! - walten lassen. Sicher,
damit hat der Minister Recht, bei Opel und bei Karstadt
sind Managementfehler gemacht worden. Das ist überhaupt kein Thema. Sie können sich aber nicht zurücklehnen und sagen, hier seien nur die Manager und Konzernbosse schuld und diese Regierung habe überhaupt nichts
damit zu tun. Damit machen Sie es sich ein bisschen zu
leicht, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
({0})
Ich sage mit Nachdruck: Manager haben eine Verantwortung - überhaupt keine Frage -, insbesondere gegenüber ihren Mitarbeitern. Dieser Verantwortung müssen
sie sich auch bewusst werden. Aber man muss auch Folgendes sehen: In den vorliegenden Fällen handelt es sich
um zwei Aktiengesellschaften. In diesen gibt es Aufsichtsräte. Aufsichtsräte sind Kontrollorgane, in denen
neben den Arbeitgebern auch Gewerkschaftsfunktionäre
sitzen. Alle Entscheidungen und auch alle Fehlentscheidungen, die dort über viele Jahre hinweg getroffen wurden - die Krisen kamen ja nicht über Nacht, sondern sie
haben sich abgezeichnet -, sind mit Zustimmung der Gewerkschaften getroffen worden.
({1})
Daher frage ich mich, was die viel gelobte Mitbestimmung in diesen Bereichen noch wert ist. Denn es waren
nicht allein Managementfehler, sondern es war auch
politisches Missmanagement, das zur gegenwärtigen Situation beigetragen hat.
Wenn eine Modellrechnung ergibt, dass man, wenn
man alle Produktionsstandorte von Opel von heute auf
morgen nach Frankreich verlegte, aufgrund der dort
niedrigeren Lohnkosten und Sozialabgaben 500 bis
700 Millionen Euro einsparen würde - das entspricht genau dem Betrag, der durch den Beschäftigungsabbau
hierzulande eingespart werden soll -, dann muss man
doch feststellen, dass unsere Arbeitskosten zu hoch sind.
Auch das ist ein Grund für die gegenwärtige Misslage.
Da wir nun einmal in einer globalisierten Wirtschaft
leben, muss man sich fragen: Wie wird unser Standort
wieder konkurrenzfähig? Wie schaffen wir wieder mehr
Arbeitsplätze? Wie schaffen wir wieder mehr Dynamik?
Wie schaffen wir es, dass wir endlich wieder ein höheres
Wachstum als 1,5 oder 1,8 Prozent erreichen? Wir wissen doch ganz genau - verschiedene Wirtschaftsforschungsinstitute haben es uns doch ins Stammbuch
geschrieben -, dass Deutschland, was das Wirtschaftswachstum betrifft, im nächsten Jahr wieder die rote Laterne bekommt und Letzter in Europa sein wird. Das
größte Problem, das wir diesbezüglich haben, ist - lassen
wir alle Zahlen außen vor -, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sinkt.
Wenn die Energiepreise im nächsten Jahr weiter steigen und sich in der Konsequenz der Welthandel abschwächen wird, sind wir - auch das ist uns von den
Wirtschaftsforschungsinstituten ins Stammbuch geschrieben worden - aufgrund unserer Exportabhängigkeit die ersten, die davon betroffen sind. Im nächsten
Jahr wird also auch das Bein, auf dem wir derzeit noch
stehen können, zu lahmen beginnen. Die Binnenkonjunktur liegt sowieso am Boden; denn die Menschen haben kein Vertrauen mehr. Sie sparen und haben netto zu
wenig Geld in der Tasche. Sie glauben ihrer Regierung
nicht mehr, dass sich die Situation verbessert, weil Sie es
nicht verstehen, entsprechende Konzepte auf den Tisch
zu legen.
({2})
Sie lehnen sich zurück und verweisen auf die
Agenda 2010, nach dem Motto: Das ist genug, die Probleme werden sich schon von selbst lösen.
({3})
Dem wird aber nicht so sein. Es ist noch vieles zu tun.
Sie müssen einen Sanierungsplan für die Deutschland AG vorlegen.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Ludwig Stiegler für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
gerade wieder Kassandra gehört. Sie kann nur Trübsal
blasen. Gehen Sie in Ihren Keller, machen Sie alle Fenster zu und bleiben Sie traurig. Lassen Sie uns aber arbeiten!
({0})
Die SPD-Fraktion dankt dem Bundeswirtschaftsminister für seinen Einsatz;
({1})
denn er hat sich gemeinsam mit den Kollegen vor Ort
und der Landesregierung sofort engagiert eingebracht.
Dafür herzlichen Dank!
({2})
Ebenso danken wir allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland und Europa für die Solidarität, die sie aufgebracht haben. Sie haben sich nicht
gegeneinander aufhetzen lassen, sondern in einer gemeinsamen Aktion gezeigt, dass man durch die Kraft der
Solidarität ein menschenfernes Management zum Reden
bringen kann. Herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch!
({3})
Wir danken den Gewerkschaften und den Betriebsräten, die große Leistungen vollbracht haben. Wenn ich
mir die Gewerkschaftshetze vorstelle, die von Ihrer Seite
betrieben wird, und wenn ich mir vor Augen führe, dass
Sie gerade in der jetzigen Zeit die Mitbestimmung und
den Kündigungsschutz beseitigen wollen, frage ich mich
wirklich: Wo würden die Menschen stehen, wenn Ihr
Recht gelten würde?
({4})
Wie einsam wären die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn es keine rechtlichen Möglichkeiten gäbe,
ihre Belange einzubringen! Es ist schäbig, jetzt zu versuchen, den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat die
Verantwortung für das Missmanagement anzulasten.
({5})
Wir wissen alle, wie viele Vorschläge gerade von den
Arbeitnehmern gekommen sind. Nehmen wir Opel: Die
ganze Qualitätsoffensive war eine Erfindung der Betriebsräte und der IG Metall und nicht dieses Managements, das da im Karussell ab und zu in Rüsselsheim geparkt hat. Deshalb ist es so schäbig, die Krise jetzt als
Vorwand zu nehmen, um eine längst beabsichtigte Antimitbestimmungs- und Antikündigungsschutzkampagne
zu führen. Wir brauchen mehr statt weniger Mitbestimmung
({6})
und die Kraft des Wissens der Belegschaften. Die Arbeitnehmer wissen oft mehr über die Zukunft des Unternehmens und seine Probleme als mancher, der nur dem
Shareholder Value verpflichtet ist und die Wirklichkeit
überhaupt nicht mehr sieht.
({7})
Wir brauchen auch und gerade die Verantwortung der
Kapitalseite. Wer den Unternehmen über Jahre und Jahrzehnte die Investitionen versagt, weil er in seiner Renditeerwartung maßlos ist, muss sich am Ende nicht
wundern, dass die Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
({8})
Hier ist ein Umdenken erforderlich. Wie viele träumen
plötzlich von Kapitalrenditen von 25 Prozent und mehr?
Das ist das Ende aller Investitionen. Jahrelang hat man
den Arbeitnehmern Bescheidenheit gepredigt. Wo bleibt
die Bescheidenheit des Kapitals bei den Ansprüchen an
die Erträge, Herr Ackermann und andere?
({9})
Wir stehen zu den Belegschaften und zu den Standorten, wir stehen auch zu den Zulieferern und werden alles
tun, was wir begleitend machen können. Wenn Sie schon
nichts tun, außer mit Herrn Rogowski die Mitbestimmung anzugreifen, sollten Sie wenigstens die Rahmenbedingungen nicht schlecht reden: Wir werden im nächsten Jahr kein zurückgehendes Wachstum haben, sondern
arbeitstagebereinigt wird sich ein beschleunigtes Wachstum einstellen - auch wenn es Ihnen nicht passt. Ihre
ganze Kassandra-Rederei hat Ihre Umfrageergebnisse
nicht befördert, sondern Ihre Werte gehen Gott sei Dank
nach unten.
({10})
Wir haben gute Aussichten, dass sich unser Standort
behauptet, wenn wir mit Forschung und Entwicklung,
mit Technologietransfer und Investitionen dafür sorgen,
dass sich der Standort Deutschland weltweit auch in der
Güte seiner Unternehmen widerspiegelt. Das ist unser
Auftrag und da sollten Sie mithelfen und nicht meinen,
Sie könnten im Trüben fischen.
Die Koalitionsfraktionen erklären ihre Solidarität mit
den Belegschaften und den Städten und Gemeinden der
Standorte. Wir fordern das Management auf, mit der
Bundesregierung, den Landesregierungen und den Betriebsräten zu reden und offensiv in die Zukunft zu investieren, anstatt vor den Problemen davonzurennen damit wir uns insgesamt behaupten können!
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke
dem Kollegen Stiegler, dass er so offen darlegt, wie die
Fehlsteuerung rot-grüner Politik ist.
Sie machen es sich zu einfach, Herr Minister
Clement, wenn Sie sagen, dass ausschließlich Managementfehler schuld an der Lage von Opel seien. Jawohl,
Managementfehler wurden gemacht. Aber die paritätische Mitbestimmung hat diese Fehler mitgetragen. Ich
habe nirgends erfahren, dass die Arbeitnehmervertreter
und die Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsräten
den Kurs der Unternehmen nicht mitgetragen hätten. In
der Regel stimmen sie zu und wenn es anschließend
schief geht, waren sie nicht dabei. So einfach können Sie
es sich nicht machen.
({0})
Richtig ist: Ein Holzmann II kann es nicht geben - weder
bei Karstadt noch bei Opel. Aber Sie haben eine entscheidende Mitverantwortung für falsche Rahmenbedingungen. Da ist Ihre Solidaritätsadresse an die Betroffenen,
die geboten ist, nicht redlich. Sie haben nämlich nicht
die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass das
Missmanagement und die negativen Folgen des Strukturwandels abgefedert werden können, und Sie haben
keine Alternativen geschaffen. Sie haben eine falsche
Steuerpolitik betrieben.
({1})
Wenn Sie die Ökosteuer permanent erhöhen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn die Leute weniger
Auto fahren. Das hat doch seine Auswirkungen. Ihr
Zick-Zack in der Politik trägt zu einer Verunsicherung
bei, die dazu führt, dass der Konsum nicht zunimmt,
dass die Nachfrage nicht steigt und dass die Leute aus
Angst sparen. Sie werden permanent verunsichert durch
Sie.
({2})
Vor dieser Verantwortung können Sie sich nicht drücken.
({3})
Entscheidend ist, dass die Produktivitätsentwicklung
und das Wachstum in Deutschland seit Jahren zu
schwach sind. Wir kommen gerade aus der Anhörung
der Sachverständigen im Wirtschaftsausschuss. Herr
Clement, die haben etwas ganz anderes erzählt, als Sie
hier vorgetragen haben. Danach wird nämlich bereits
2005 der Höhepunkt unserer Wachstumsentwicklung zu
verzeichnen sein.
({4})
Daneben ist die Einschätzung für die Zeit danach sehr
gedämpft und pessimistisch. Sie wissen genau, dass die
Beschäftigungsschwelle bei dem Wachstum, das wir
heute zu verzeichnen haben - das gilt selbst dann, wenn
die Prognose zutrifft -, nicht überschritten wird.
({5})
Mit diesem Wachstum ist fast kein Beschäftigungseffekt
verbunden. Das liegt in Ihrer Verantwortung. Sie haben
die Rahmenbedingungen falsch gesetzt, wodurch der
Strukturwandel und die Fehlentscheidungen des Managements in diesem Land härter durchschlagen und
härter greifen als in anderen Ländern.
Warum ist denn die Arbeitslosenrate in Großbritannien nur halb so hoch wie in Deutschland? Auch dort
gibt es Missmanagement und Fehler und auch dort sind
die Auswirkungen der Globalisierung und der Osterweiterung zu spüren. Sie ist deshalb niedriger, weil dort bessere Rahmenbedingungen geschaffen wurden als in diesem Land. Diese Verantwortung müssen Sie sich
zurechnen lassen.
({6})
Wenn Sie das nicht in Ihre Betrachtungen mit einbeziehen, dann kann man nicht von redlicher Solidarität sprechen. Sie sollten einen Kurswechsel betreiben, damit
entsprechende Möglichkeiten vorhanden sind.
Ich werde jetzt ganz konkret und spreche vom Tarifkartell. Bei Opel wurden jahrelang 20 Prozent über Tarif
gezahlt.
({7})
Ich gönne den Leuten das Geld. Die Folge der übertariflichen Bezahlung war aber, dass Arbeitsplätze beim Mittelstand vernichtet wurden. Jetzt haben Sie ein Konzept
à la Holzmann, wonach unter Tarif bezahlt werden soll.
Dies wird erneut dazu führen, dass Arbeitsplätze bei mittelständischen Betrieben vernichtet werden: weil die
eben nicht die Chance haben, aus dem Tarifkartell in dieser Weise auszusteigen. Diese Zusammenhänge sprechen Sie nicht an; das ist nicht redlich. Hier gibt es eine
Schieflage in Bezug auf den Jobmotor Nummer eins in
Deutschland, nämlich den Mittelstand.
Wir werden die Globalisierung nicht verhindern können; das wollen wir auch nicht. Sie hat aber natürlich zur
Folge, dass die Unternehmen dort hingehen, wo sie
günstiger produzieren können. Auch die Solidarnocs in
Polen hat zwar aus Solidarität eine Fahne aufgestellt,
aber es spricht doch Bände, wenn - wie gestern im Fernsehen zu hören - polnische Arbeiter erklärten, sie seien
zuverlässig, bei ihnen gebe es keine wilden Streiks, so
etwas tue man nicht. Es ist also unvermeidlich: Die Abwanderung wird sich in Teilbereichen ein Stück fortsetzen. Wenn Sie eine Frau heiraten, die kein Vermögen
hat, dann besitzen Sie nur noch die Hälfte. So ist das halt
im Leben.
({8})
Wenn sie nach der Osterweiterung jetzt auch noch die
Türkei in die EU aufnehmen, deren Sozialprodukt pro
Kopf im Vergleich zu uns bei 20 Prozent liegt, wird uns
das zunächst nicht reicher machen; das ist die Realität.
In Ihrer Verantwortung liegt es, dass Sie nicht die Weichen dafür gestellt haben, dass Neues entsteht und dass
mehr Produktivitäts- und Wachstumschancen vorhanden sind. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass unser
Wachstumspotenzial deutlich geringer ist als das der
Vereinigten Staaten. Das Wachstumspotenzial der USA
liegt bei 2,5 bis 3 Prozent, unseres bei 1 Prozent, wie die
Sachverständigen in der Anhörung heute einhellig bestätigt haben. Dafür tragen Sie die Verantwortung, weil zu
wenig in Forschung und Entwicklung investiert wurde
und weil im Bildungssystem durchgängige Schwächen
existieren: Es wird zu wenig investiert und es gibt zu
wenig Human Capital.
Darum sind die Chancen, neue Arbeitsplätze in diesem Land entstehen zu lassen, zu gering. Deshalb wirken
sich Missmanagement und Fehlentscheidungen gravierender aus als anderswo. Das Umfeld ist eben nicht stimmig. Es geht nicht, dass man die Weichen falsch stellt,
eine falsche Wirtschaftspolitik betreibt und dann sagt,
damit habe man nichts zu tun, die Ursachen lägen woanders. Das ist die Vorspiegelung einer heilen Welt.
({9})
- Herr Clement, wir wollen den Standort nicht schlecht
reden, Sie dürfen ihn aber auch nicht gesundbeten. Das
glaubt Ihnen niemand. Sie sagen, es sei alles wunderbar,
es gebe eine Dynamik, die sich noch verstärke, und im
nächsten Jahr fielen Arbeitsplätze wie Manna vom Himmel.
Nein, es gibt viele Fehlsteuerungen. Das sagen Ihnen
auch die Sachverständigen. Die Ich-AGs fallen weg,
wenn die Subventionen auslaufen. Dadurch verzerren
Sie nur den Wettbewerb.
Herr Kollege Brüderle!
Ich komme zum letzten Satz. - Selbst der Kollege
Kuhn hat im Ausschuss gehört, dass das so ist.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine
kleine Vorbemerkung, Herr Kollege Brüderle: Sie wären
nach Ihrer Logik vielleicht nicht so arm dran, wenn Sie
eine reiche Frau geheiratet hätten. Ihre Rede bestätigt
das, was wir jüngst in der Presse lesen konnten. Da
wurde auf den staatsinterventionistischen amateurhaften
Einsatz alter Schule von Herrn Brüderle verwiesen, der
bei der Krise von Karstadt nach dem Staat, nach einem
starken Kanzler und nach Subventionen gerufen hat.
({0})
Dabei wurde gefragt: Was ist ein Brüderle? Ein Brüderle
ist die kleinste populistische Einheit. Das wurde uns hier
gerade wieder vorgeführt.
({1})
Wir haben die Gutachter, die für das Herbstgutachten
verantwortlich sind, heute im Ausschuss gehört. Sie alle
haben übereinstimmend deutlich gemacht, Herr
Brüderle, dass Deutschland ein sehr guter Standort für
die Automobilindustrie ist.
({2})
Die Krise bei Karstadt und Opel - das müssen Sie ernst
nehmen und Sie dürfen sich nicht wegdrücken - sind die
Folgen jahrelanger gravierender Managementfehler. Das
zeigt sich darin, dass es andere Unternehmen in
Deutschland am gleichen Standort geschafft haben:
Kaufhof ist an Karstadt vorbeigezogen, Mercedes hat es
geschafft, Ford hat Opel in den Schatten gestellt.
Was hat Opel in den letzten Jahren gemacht? Es hat
die Manager wie die Trainer bei einem Fußballverein
ausgewechselt. Flächendeckend wurde dort jahrelang
auf Mittelmaß gesetzt. Gerade bei der Produktivitätsentwicklung ist dies an einem hoch qualifizierten Standort
mit hoch qualifiziertem Personal und einem entsprechenden Angebot nicht möglich. Auch in der Produktund Modellentwicklung hat Opel auf Mittelmaß gesetzt.
Das sind Managementfehler. Das einzig Gute daran ist,
dass man diese Managementfehler ausgleichen kann und
es für diesen Standort Konzepte gibt. Darauf kommt es
jetzt an. In diesen Prozess müssen wir eintreten. Das ist
durch die Verhandlungen geschehen. Ich bin froh, dass
in Bochum die Bänder heute wieder angelaufen sind.
Die Situation gerade auch in Bochum ist wie ein Ritt
auf einer Rasierklinge. Es ist völlig klar, dass die Belegschaft Angst hat und wütend ist, wenn sie aus der Zeitung
wie eine absolutistische Verkündung erfährt, dass Zehntausende von Arbeitsplätzen in Deutschland gestrichen
werden sollen. Dass aus dieser Wut eine Reaktion entsteht, ist verständlich. Aber heute wird wieder gearbeitet.
Wir wissen, dass nun alle gemeinsam, der Gesamtbetriebsrat, die Beschäftigten, aber auch die Konzern- und
Unternehmensleitung, mithilfe der Moderation aus der
Politik - mit Herrn Clement, mit Politikern von den Grünen, aber auch mit Oppositionspolitikern - in einen ernsten Prozess der Weiterentwicklung treten. Das ist wichtig. Die positive Entwicklung, die bei Karstadt auf den
Weg gebracht wurde, kann und muss auch bei Opel eingeleitet werden; denn deutsche Standorte wie Bochum
und Rüsselsheim können Produktionsorte bleiben, wenn
das Management und die Konzeption stimmen.
Was macht die Opposition? Zu Herrn Brüderle habe
ich schon etwas gesagt; das reicht an dieser Stelle. Ich
möchte gerne etwas zur Union sagen. Wie gehen Sie mit
dieser Situation um? Als Lösungsvorschlag werden wieder die alten Konzepte angeführt, die aus zwei Elementen bestehen. Das erste Element ist die Attacke auf die
Mitbestimmung und das zweite Element die Attacke auf
die Arbeitnehmerrechte. Ich kann Ihnen nur eines sagen:
Die Abkürzung CDU wird dadurch für mich zu einem
neuen Begriff, nämlich zu „Crassestem Denkbaren Unsinn“. Das hat sich während der Krise bei Opel und
Karstadt gezeigt.
({3})
Frau Kollegin, Sie greifen damit der Rechtschreibreform kühn vor.
({0})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Das Beispiel Opel zeigt deutlich: Wenn man in den
letzten Jahren die Hinweise der Arbeitnehmer auf das,
was bei Opel schief gelaufen ist, ernst genommen hätte
- das bezieht sich auch auf die Mitbestimmung -, dann
hätte schon im Vorfeld einiges aufgefangen werden können. Mitbestimmung ist für Deutschland eher ein Standortvorteil.
Sie greifen immer wieder den Flächentarifvertrag an.
Gerade die Entwicklung bei Opel zeigt doch, dass wir in
Deutschland einen Flächentarifvertrag brauchen. Wir
müssen ihn auch zukünftig schützen, weil nur mit seiner
Hilfe Auseinandersetzungen einigermaßen geregelt ausgetragen werden können. Das ist wichtig für die Entwicklung in Deutschland.
Unterm Strich: Hören Sie auf mit Geisterdebatten wie
der über den Kündigungsschutz!
({0})
Setzen Sie sich mit der Situation in Deutschland auseinander! Wir brauchen Investitionen - der Minister hat
darauf hingewiesen - in Bildung, in Wissenschaft und in
Forschung.
({1})
Diese Standortvorteile müssen wir erhalten. Dazu brauchen wir Ihre Hilfe.
({2})
Wir brauchen keine weiteren Attacken auf die Mitbestimmung und den Kündigungsschutz.
Danke schön.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Hartwig Fischer, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelhandelsumsatz aufgrund privater Konsumausgaben
hat von 1999 bis 2003 um circa 7,5 Prozent abgenommen. Der nominale Einzelhandelsumsatz wies 2001 gegenüber 2000 noch ein Plus von 1,3 Prozent auf, nahm
dann im Jahr 2002 um 1,5 Prozent ab, sank im Jahr 2003
um 0,8 Prozent und ist im Jahr 2004 weiter rückläufig.
1999 lag die Zahl der Insolvenzen in der Bundesrepublik Deutschland bei 26 000. Im Jahr 2003 stieg die Zahl
auf 39 000. Dieses Jahr haben wir weit über 40 000 Insolvenzen. Es gibt Tausende von Insolvenzen im Einzelhandel.
({0})
Hartwig Fischer ({1})
- Herr Brandner, schauen Sie sich einmal den Saldo von
Geschäftsaufgaben und Neugründungen im Einzelhandel an! Im vergangenen Jahr gab es über 10 000 und im
vorvergangenen Jahr über 9 000 Betriebe weniger. - Im
Jahre 2002 hatten wir 21 000 Privatinsolvenzen, im Jahr
2003 33 000. Hinzu kommen die steigende Arbeitslosigkeit und der Verlust von 870 000 versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.
Allein die Ökosteuer beläuft sich für den Bürger auf
206 Euro pro Jahr. Das beeinträchtigt die Binnenkonjunktur, weil nicht genug Nachfrage vorhanden ist.
Wenn wir in den letzten drei Jahren ein Wachstum wie
Großbritannien mit 6,2 Prozent, die USA mit 5,8 Prozent
oder wie das trudelnde Japan mit 2,6 Prozent gehabt hätten, dann hätten wir ein Plus beim Bruttoinlandsprodukt
von mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr. Das sind die
Rahmenbedingungen, denen sich die deutsche Wirtschaft und insbesondere der Handel stellen müssen. Die
Konsequenz daraus ist, dass Vertrauen in politisches
Handeln verloren gegangen ist. Das führt zu Zukunftsangst, zur Sorge um den Arbeitsplatz und dazu, dass private Rücklagen für schwierige Situationen, eventuell für
das Alter, gebildet werden. Das bedeutet echtes Angstsparen.
Herr Clement, Sie haben gestern Abend im „heutejournal“ von Managementfehlern gesprochen, die zwar
nicht aktuell, aber in der Vergangenheit stattgefunden
hätten. Damit versuchen Sie Absetzbewegungen von der
eigenen Verantwortung für diese Rahmenbedingungen
zu machen.
({2})
Mit solchen Äußerungen entzieht sich jemand der
Verantwortung, der die Situation besser kennen müsste.
Sie waren Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.
Viele haben von Ihrem Sachverstand in punkto Wirtschaft und Handel gesprochen. Ich war elfeinhalb Jahre
Betriebsratsvorsitzender bei Karstadt. Ich war im Wirtschaftsausschuss des Gesamtkonzerns und habe mit dem
Vorstand Gespräche führen können. Ich habe die Verantwortung mittragen müssen. Als seinerzeit das Kartellamt
den Zusammenschluss von Karstadt und Neckermann
verhindern wollte, hat der SPD-Bundeskanzler Helmut
Schmidt dringend darum gebeten, die Übernahme durchzuführen. Wir haben damals Neckermann integriert und
über acht Jahre hinweg Geld hineingebuttert und dafür
gesorgt, dass 20 000 Arbeitsplätze geschaffen wurden.
Das haben nicht Sie gemacht. Sie sind nicht dabei gewesen. Wir haben damals mit dem Vorstand verhandelt.
Wir hatten damals mit Dr. Deuss und Uwe Lorenzen einen Vorstand, bei dem der Mensch im Mittelpunkt der
Geschäftspolitik stand. Mit denen konnte man verhandeln. Da wurden die Zahlen auf den Tisch gelegt. Da waren die Mitarbeiter nicht nur Kostenstellen wie im Jahr
2000, als sich das geändert hat.
({3})
- Das sage ich Ihnen gleich. - Im Jahr 2000 hat es einen
Vorstandswechsel gegeben. Damals ist eine Bilanz übergeben worden, die umgerechnet einen Gewinn vor Ertragsteuern in Höhe von 220 Millionen Euro ausgewiesen hat. Herr Urban hat dieses Unternehmen auf
108 Millionen Euro, die in der letzten Bilanz ausgewiesen wurden, heruntergewirtschaftet - da besteht überhaupt kein Zweifel -, und zwar durch den ständigen Versuch, Wachstum dazuzukaufen.
In der Phase des alten Vorstandes sind Neckermann
und Hertie integriert worden. Alle drei Bereiche sind im
Jahr 2000 mit Gewinn übergeben worden. Dann ist es
- deshalb komme ich auf die Mitbestimmung zu sprechen - zu dem Zusammenschluss der Gewerkschaften
HBV und DAG zu Verdi gekommen. Der alte Betriebsrat ist zerschlagen worden. Die DAG-Kollegen, die jahrelang Erfahrung gesammelt haben, sind daraus vertrieben worden und mussten auch den Aufsichtsrat und den
Gesamtbetriebsausschuss verlassen, weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sie nicht in ihren Funktionen behalten wollten. Ich bin immer noch Mitglied bei Verdi,
obwohl ich es für schlimm halte, was in diesem Zusammenhang passiert ist.
Keiner von denen, die sich jetzt dazu äußern, hat nach
den mir vorliegenden Informationen auch nur eine der
strategischen Unternehmensentscheidungen im Bereich
des Aufsichtsrates kritisiert. Das ärgert mich und darüber rege ich mich heute auf. Damit stellen sie selbst
ihre Mitbestimmung infrage.
({4})
- Herr Kollege Brandner, Sie können gerne nachher mit
mir einen Kaffee trinken. Aber Ihre Informationen habe
ich in den zwei Jahren, seit ich im Bundestag bin, kennen gelernt. - Wir müssen mit offenem Visier kämpfen.
Wir müssen die Kollegen ernst nehmen, aber wir müssen
auch darauf setzen, dass es Unternehmensleitungen gegeben hat und in weiten Bereichen noch gibt, die ihre
Verantwortung ernst nehmen, mit den Betriebsräten offen zu diskutieren.
({5})
Das bleibt aber leider bei den neuen Unternehmenskulturen in Teilbereichen aus. Damals haben sich die Menschen als „Karstädter“ gefühlt. Heute fühlen sie sich als
Kostenstellen eines Vorstandes.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Fritz Kuhn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man einen Blick auf die Reihen der CDU/CSU
wirft, fragt man sich, warum eigentlich der neue wirtschaftspolitische Sprecher Pofalla nicht an einer solchen
Debatte teilnimmt.
({0})
Sie haben sich eine Woche bemüht, einen neuen Sprecher zu finden. Heute geht es um eine existenzielle
Frage, die die deutsche Wirtschaft wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heftig beschäftigt. Ist
der neue wirtschaftspolitische Sprecher noch dabei, sich
einzuarbeiten, oder wie soll ich das verstehen, was Sie
heute aufbieten? Ich würde Ihnen raten, besser auf Ihr
Personal zu achten, wenn solche Debatten stattfinden.
Ich will zum Inhalt Folgendes ausführen: Herr
Brüderle, wenn man die Differenz beispielsweise zwischen Karstadt und Kaufhof oder zwischen Ford und
Opel betrachtet, ist festzustellen, dass es auf Qualität,
neue Konzepte, die Produktpalette und auf Produktivität
ankommt. Ich glaube, diesen Aspekt kann man in der
Debatte nicht unberücksichtigt lassen. Eine Schuldzuweisung an Rot-Grün ist billig. Sie sind im Übrigen mit
dieser einfachen These zur Volksverdummung, die Sie
verbreiten wollen, auch nicht durchgekommen.
({1})
Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn
Sie die Schuld bei der Mitbestimmung suchen - vielleicht auch beim Kündigungsschutz, der auch zu Ihrer
Palette gehört; den haben Sie bei Ihren Ausführungen
vergessen -, dann halte ich angesichts des vergangenen
halben Jahres fest, dass die Lösungen, die man bei
Daimler, Siemens und Karstadt gefunden hat und die
man bei Opel hoffentlich finden wird, ohne eine gut verankerte Mitbestimmung in Deutschland nicht in dieser
Weise möglich gewesen wären.
({2})
Deswegen halten wir von den Grünen es für eine Unverschämtheit, wenn just in dem Moment, in dem ein
eklatantes Managerversagen offenbar wird, eine Großkampagne des BDI gegen die Mitbestimmung in
Deutschland gefahren wird. Ohne diese wären die Lösungen nicht zustande gekommen und wir müssten jetzt
mit staatlichen Eingriffen versuchen, die Betriebe und
Arbeitsplätze zu erhalten. Das sollte die Union berücksichtigen, ehe sie weiterhin dieselben Schallplatten abspielt, die sie in der Vergangenheit immer wieder aufgelegt hat. Ihre Vorschläge haben bisher nicht geholfen und
werden auch in Zukunft nichts bringen.
({3})
Es ist klar, dass, wenn wir bei der Produktivität zum
Beispiel in der Automobilindustrie Fortschritte machen
wollen, über bestimmte Privilegien, die in den letzten
Jahren geschaffen worden sind, nachgedacht werden
muss. Wer aber soll das effektiv umsetzen, wenn nicht die
Betriebsleitungen zusammen mit aufgeklärten und am Interesse des gesamten Betriebs orientierten Belegschaften? Sie sagen, im Ausland wird die deutsche Mitbestimmung nicht verstanden. Dann erklären Sie sie doch!
Wenn sie nicht verstanden wird, kann man doch etwas
tun. Wir können doch in Deutschland vieles erklären.
({4})
Ich ziehe folgendes Fazit der bisherigen Debatte: Die
Union hat keinen einzigen Vorschlag gemacht und hat in
ihrer Analyse noch nicht einmal eines der Probleme, die
es bei Opel gibt und die es bei Karstadt gegeben hat,
richtig benannt. Sie haben in dieser entscheidenden
Stunde nichts anderes gemacht, als Ihre alte Behauptung
zu wiederholen, Rot-Grün und vielleicht auch die Mitbestimmung und der Kündigungsschutz seien schuld. Damit leisten Sie keinen Beitrag zur Lösung der Probleme.
Sie machen sich mit Ihrer antiquierten Haltung eigentlich lustig auf Kosten der Beschäftigten. Ich finde, der
Bundestag hat das, was Sie heute abgeliefert haben,
nicht verdient.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Vorgänge bei Opel und Karstadt sind keine singulären Ereignisse, sondern sie sind in eine Gesamtentwicklung eingebunden und sind letztendlich auch das
Resultat falscher Politik. Ich möchte aus aktuellem Anlass kurz zu dem Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute Stellung nehmen, um den Gesamtzusammenhang darzustellen.
Sie haben gerade - dazu gehören auch Sie, Herr
Brandner - ein weiteres Mal die wirtschaftspolitische
Erfolglosigkeit der Bundesregierung deutlich vor Augen
geführt. Konjunktur und Wachstum sind in Deutschland
am geringsten in ganz Europa. Während 2003 das Wirtschaftswachstum beispielsweise in Spanien bei
2,5 Prozent, in Großbritannien bei 2,2 Prozent und in Irland sogar bei 3,7 Prozent lag - diese Aufzählung ließe
sich fortführen -, ging das Bruttoinlandsprodukt in
Deutschland um 0,1 Prozent zurück. Das zeigt ganz offensichtlich, dass Deutschland - bei ähnlichen Rahmenbedingungen in Europa - weniger erfolgreich ist als
seine Nachbarländer.
Woran liegt das? Ich möchte das einmal am Beispiel
der Energiepreise deutlich machen. In dem heute veröffentlichten Herbstgutachten wird festgestellt, dass der
Ölpreisanstieg die Konjunktur dämpft - das ist richtig -,
und es wird davon ausgegangen, dass bei einem nachhaltigen Anstieg des Ölpreises um 10 Prozent das Wirtschaftswachstum im Euroraum um 0,3 Prozent geringer
ausfällt. Die Gutachter haben heute auf Nachfrage deutlich gemacht, dass Deutschland am wenigsten von allen
europäischen Ländern von den hohen Energiepreisen betroffen ist - das ist positiv -, weil es uns seit den 70erJahren gelungen ist, die Energieeffizienz zu erhöhen und
das Wirtschaftswachstum von den Energiepreisen weitgehend zu entkoppeln. Trotzdem ist das Wachstum in
Deutschland in diesem Jahr wieder am geringsten.
Herr Clement, ein Grund dafür ist, dass Sie keine verlässlichen Rahmenbedingungen für Investitionen schaffen. Um das wieder am Beispiel der Energiepolitik
deutlich zu machen: In diesem Land stehen Investitionen
in Höhe von 30 Milliarden bis 40 Milliarden Euro für
den Ersatz und die Erneuerung des Kraftwerkparks an.
Diese werden aber verschoben, weil die Rahmenbedingungen unklar sind. Sie werden nicht angegangen, weil
Sie beispielsweise nicht in der Lage waren, rechtzeitig
einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes einzubringen. Zu allem Überfluss
schieben Sie das auch noch der Opposition in die
Schuhe. Sie hätten das bis zum 1. Juli dieses Jahres umsetzen sollen. Aber nichts ist geschehen. Sie haben das
nicht getan und das Ganze verschoben. Das sind die
Rahmenbedingungen, die Investitionen in Deutschland
verhindern und zu schlechten Ergebnissen führen. Das
ist wachstumshemmend und hausgemacht und nicht von
außen induziert.
Herr Clement, Sie haben von der Stärkung der Binnenkräfte gesprochen. Nehmen wir wieder den Energiebereich als Beispiel. 1998, als Sie die Regierung übernommen haben, gab es im Bereich der Strompreise eine
administrative Belastung in Höhe von 2 Milliarden Euro.
Heute, im Jahr 2004, beträgt die administrative Belastung 15 Milliarden Euro. So viel zur Stärkung der Binnenkonjunktur. Diese Gelder fehlen selbstverständlich
den privaten Haushalten, insbesondere den Familien,
und der Wirtschaft. Das alles ist wachstumshemmend
und hausgemacht.
Ich möchte nun auf die Beschäftigungseffekte zu
sprechen kommen. Die hohen Energiepreise in Deutschland führen zu einer Vertreibung der energieintensiven
Unternehmen. 600 000 Arbeitsplätze in der energieintensiven Produktion sind in Gefahr. Nehmen wir den
Bundeshaushalt als Beispiel. Während Sie von Haushaltskonsolidierung sprechen, werden zusätzlich 16 Milliarden Euro für die Subventionierung der Steinkohle in
Nordrhein-Westfalen eingestellt.
Im Bereich der Kernenergie gibt es ein Hin und Her
bei der Endlagerdiskussion. 3 Milliarden bis 7 Milliarden Euro wird der nicht nachvollziehbare Umstieg in ein
technisch nicht realisierbares Ein-Endlager-Konzept dieses Land kosten.
Hemmnis Nummer eins in Deutschland ist nicht der
Ölpreis, ist nicht die Unfähigkeit des Managements, sind
nicht Verschwörungen aus den USA, wie der Kollege
Müller dieser Tage kundgetan hat, ist auch nicht das
- vermeintliche - Schlechtreden durch die Opposition
und ist schon gar nicht der Klassenkampf, Herr Stiegler,
sondern Wachstumshindernis Nummer eins ist die Politik von Rot-Grün.
({0})
Machen Sie Ihre Hausaufgaben in der Energiepolitik!
Entideologisieren Sie die Energiepolitik! Schaffen Sie
verlässliche Rahmenbedingungen, Herr Clement, sagen
Sie nicht immer nur: „Wir sollten, wir müssten“, sondern
machen Sie endlich etwas und überdenken Sie Ihr ständiges Drehen an der Steuerschraube im Energiebereich!
Nur so schaffen Sie Wachstum und Beschäftigung.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Wend, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden in diesen Tagen von Betroffenen und von den Medien häufig gefragt: Was kann die Politik angesichts der
Krise bei Opel tun? Wenn ich die bisherige Debatte Revue passieren lasse, meine Damen und Herren auf der
rechten Seite des Hauses, so muss ich sagen: Ich schäme
mich ein Stück weit. Wenn Sie einer Betroffenheit verbal
Ausdruck verleihen - diesen Eindruck habe ich -,
({0})
anschließend nichts anderes tun, als in kleinster Münze
parteipolitisch zurückzugeben, dann ist das ein Niveau
von Politik, für das ich mich mit schäme,
({1})
weil alle politischen Parteien für das in Haftung genommen werden, was Sie hier bieten. Es ist ein Skandal,
meine Damen und Herren!
({2})
Wenn wir uns Gedanken über das machen, was bei
Opel passiert ist, dann kommen wir aus meiner Sicht zu
dem Ergebnis, dass es einen Dreiklang gibt. Erstens ist
von Managementfehlern gesprochen worden. Dabei tue
ich mich schwer, weil das immer danach riecht, dass die
eine Seite der jeweils anderen die Verantwortung zuschiebt.
({3})
Wenn wir über Opel reden, müssen wir auf zwei
Dinge hinweisen. Erstens sind bei der Produktpalette in
den 90er-Jahren Fehlentscheidungen getroffen worden.
Zweitens - das ist für mich noch wichtiger, weil es auch
etwas mit der Standortdebatte zu tun hat - wurden Modernisierungsinvestitionen in den Standort Bochum verschleppt, obwohl Gewerkschaften, Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten sie dringend
angemahnt haben. Nicht Arbeitnehmervertreter haben
versagt, sondern die Anteilseignerseite hat bei der Aufgabe versagt, Modernisierungsinvestitionen durchzuführen.
({4})
Das ist sehr problematisch. In Gliwice - jetzt bin ich
bei der Standortfrage - betragen die Lohnkosten
15 Prozent der Lohnkosten in Bochum. Damit konnte
man eine Reihe von Jahren deshalb leben, weil die Produktivität in Deutschland so hoch war und die Lohnstückkosten deshalb so niedrig waren. Von daher konnte
man die unterschiedlichen Stundenlöhne verkraften.
Weil aber in Bochum die Erneuerungsinvestitionen
unterblieben sind, ist der Produktivitätsvorteil in BoDr. Rainer Wend
chum zurückgefallen mit der Folge, dass es massive Probleme dabei gibt, in der Globalisierung im Wettbewerb
mit anderen Standorten noch mitzuhalten. Das ist einerseits ein Standortproblem - darauf komme ich gleich
noch einmal -, andererseits aber auch wieder das Versagen der Anteilseignerseite, weil sie nicht verstanden hat,
dass sie im internationalen Wettbewerb auf Innovation,
Erneuerung und Produktivitätsfortschritt setzen muss
und nicht auf Stillstand setzen darf.
Nächster Punkt - das ist aus meiner Sicht der vielleicht wichtigste; darüber ist noch nicht gesprochen worden -: Was ist eigentlich mit der Struktur los? Wie sind
die Unternehmen in Deutschland stark geworden? Die
Unternehmen waren mittelständisch geprägt, idealerweise eigentümergeführt mit der Folge, dass eine Investitionspolitik betrieben wurde, die sich nicht in erster Linie an kurzfristigen Profitinteressen orientierte, sondern
neben Gewinninteressen - solche waren immer da; das
ist auch gut so - die Sozialpartnerschaft im Auge hatte
und auch, dass sich Investitionen mittel- und langfristig
rentieren. Wir haben es heute im Konzernbereich mit einer zunehmenden Anonymisierung auf Anteilseignerseite zu tun. Fonds und Ähnliche legen auf Sozialpartnerschaft und auf gesellschaftliche Verantwortung
weniger, auf kurzfristige Profitinteressen - das ist mein
Schwerpunkt - aber mehr Wert. Man denkt von einer
Aktionärsversammlung zur nächsten und - da man ausschließlich kurzfristige Profitinteressen im Blick hat verpasst Investitionen, die sich erst in drei, fünf oder
acht Jahren auszahlen. Bei Opel, aber auch bei anderen
Betrieben wird für mich eine neue Situation deutlich.
Wenn es uns in der Globalisierung nicht gelingt, dieser
Entwicklung auch das europäische Sozialstaatsmodell
entgegenzusetzen - es wünscht Unternehmensgewinne,
aber auch Sozialpartnerschaft und gesellschaftliche Verantwortung -, dann werden wir Wohlstand in unserer
Republik auf Dauer nicht sichern können.
Ich nenne zum Abschluss folgende Stichworte: Mitbestimmung, Kündigungsschutz, Steuern. Wir haben in
unserer Regierungszeit die Körperschaftsteuern von
45 Prozent auf 25 Prozent, den Spitzensteuersatz von
53 Prozent auf 42 Prozent und den Eingangssteuersatz
von 26 Prozent auf 15 Prozent gesenkt. Außerdem haben
wir die Möglichkeit geschaffen, die Gewerbesteuer mit
der Einkommensteuer zu verrechnen. Das alles sind
doch Entwicklungen, die für den Standort Deutschland
sprechen. Es ist gut so, dass wir bei der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen so gut dastehen.
({5})
Die Diskussion über den Standort Deutschland ist
nicht nur eine Kostendebatte - die müssen wir auch führen -; Standort Deutschland heißt vielmehr auch: Qualität, Ausbildung, Innovation, neue Technologien und
auch Sozialpartnerschaft. Das kann man am Beispiel
Opel sehen. Diejenigen, die vor Ort die Verantwortung
tragen, waren bis heute noch nicht einmal in der Lage,
den Arbeitnehmervertretern und den Arbeitnehmern gegenüberzutreten. Sie hatten weder den Mut noch den
Anstand, ihnen zu sagen, was Sache ist. Das ist kein Zeichen von guter sozialpartnerschaftlicher Kultur, auf die
wir Sozialdemokraten nach wie vor uneingeschränkt
Wert legen.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir, die PDS, sind mit den Arbeitern und Angestellten von Opel solidarisch und unterstützen ihren Arbeitskampf. Wir haben kein Verständnis für die Äußerungen
von Bundesminister Clement und Ministerpräsident
Steinbrück, die sich gegen die Arbeitsniederlegung ausgesprochen haben. Herr Clement, Sie werden sich sicherlich der Meinung des Betriebsrates anschließen
müssen, dass gerade die entschiedenen Proteste der Arbeiter und Angestellten die Verhandlungen erzwungen
haben und ein wichtiger Anstoß auf dem Weg der von
Ihnen mittlerweile gelobten Verhandlungen waren.
Es wurde in den letzten Tagen und auch in dieser Debatte viel über Managementfehler bei Opel gesprochen.
Wir wissen, dass viele Manager - nicht nur bei General
Motors - überbezahlt sind, sowohl hinsichtlich ihrer
fachlichen Kompetenz als auch bezogen auf ihre soziale
Verantwortung, die sie unzureichend wahrnehmen. Doch
für Managementfehler sind weder Bundesregierung
noch Opposition zuständig und sie werden es hoffentlich
auch nicht sein.
Lassen Sie uns über die Zuständigkeit der Politik reden. Auf einer Anti-Hartz-Demonstration in Klingenthal
sagte zum Beispiel eine von Hartz IV betroffene Frau:
Bald werden wir 1-Euro-Jobs haben. Aber wo werden
eigentlich die 1-Euro-Autos hergestellt? Henry Ford I.
wollte damals, dass sich jeder Arbeiter einen Ford leisten kann und schuf mit der Ford-Serienproduktion eine
Voraussetzung für preiswerte Autos. Oft wird aber vergessen, dass damals gleichzeitig die Einkommen der Arbeiter in den USA stiegen. Genau das ist der Punkt: Was
wir jetzt erleben, sind die Vorboten von Hartz IV. Opel,
Karstadt/Quelle, Volkswagen, alle haben viele unterschiedliche Probleme; aber sie haben auch ein gemeinsames Problem: Hartz IV.
Die Binnennachfrage ist in Deutschland so schlecht
wie noch nie und das Arbeitslosengeld II - 331 Euro im
Osten bzw. 345 Euro im Westen - wird die Binnennachfrage weiter schwächen. Peter Hartz selbst hat sich an
abenteuerliche politische Reformen gewagt, die ihn jetzt
wie ein Bumerang als Volkswagenmanager selber treffen
werden. Denn schon jetzt ist klar, dass die Opelkrise
auch den Druck auf Volkswagen erhöhen wird. Jetzt
wird vielen Menschen, die noch einen Job haben, deutlich, dass Hartz IV gar nicht so weit weg ist und dass sie
nach kurzer Zeit selbst betroffen sein könnten.
Die Bundesregierung muss endlich einsehen, dass die
Agenda 2010 Gift für die Binnennachfrage ist. Die
Agenda 2010 schafft keine Arbeitsplätze, sondern
vernichtet sie, wie wir nicht nur bei Opel in diesen Tagen
beobachten müssen.
Die Bundesrepublik braucht Reformen, die das Land
voranbringen. Die Agenda 2010 ist dazu augenscheinlich nicht geeignet.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Müller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser
Land braucht vor allem Menschen, die Probleme durchdringen und nicht alles durch die parteipolitische Brille
sehen. Es ist schlimm, dass auch das jetzt wieder in dieser Debatte hier stattfindet.
({0})
Aus meiner Sicht ist der Fall Opel ein Beispiel für
eine fehlgeleitete, sich leider global ausdehnende Unternehmensstrategie, bei der die kurzfristigen Gewinne
über den Erhalt von Substanz und Produktivität gestellt
werden. Hier scheint mir der eigentliche Kern des Problems zu liegen.
({1})
Man hat es - da stimme ich George Soros völlig zu - in
der Gier nach schnellem Geld versäumt, sich um die eigentlichen Aufgaben eines Unternehmens zu kümmern,
nämlich um Innovationen und Investitionen. Hier liegt
das eigentliche Problem; das gilt nicht nur für die nationale Ebene, sondern für das weltweite Handeln von General Motors. Das Abmelken von Gewinnen war wichtiger als der Schutz bzw. der Neuaufbau von Substanz.
Darin liegt der Grund für den Konflikt. Deshalb kann ich
nur sagen, um es auf den Punkt zu bringen: Die Blaumänner sind uns lieber als die Ackermänner.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist auch falsch, die Problemanalyse allein auf Opel zu reduzieren. Schauen wir
uns einmal genau an, was bei General Motors passiert.
General Motors ist aufgrund der unglaublichen Auszehrung des Kapitals - hier liegt, wie ich glaube, der eigentliche Kern des Problems - von den Ratingagenturen
enorm abgewertet worden. GM hat große Probleme, weil
sowohl der Autoumsatz eingebrochen als auch ihre unternehmerische Strategie - in der Vergangenheit haben
sie vor allen Dingen über Hypotheken- und Finanzgeschäfte Gewinne zu erzielen versuchtt - nicht aufgegangen ist. Deshalb wurde General Motors beispielsweise
bei dem Investmentgrade von Standard & Poor’s auf den
vorletzten Platz der Ratingrangfolge gesetzt. Was ist
dann passiert? General Motors hat kurzfristig und hysterisch auf diese Einstufung reagiert und die Schuld hierfür vor allen Dingen den europäischen Konzerntöchtern
gegeben. Dabei macht General Motors heute überall,
nicht nur in Deutschland, Verluste im Automobilsektor.
Statt also grundsätzlich die Probleme in den USA zu lösen, findet eine Verlagerung nach Europa statt. Eines der
Kernprobleme dieses global tätigen Unternehmens ist,
dass nicht nach einer Lösung des Problems gesucht wird,
sondern die Schuld verdrängt und auf andere, die scheinbar schwächer sind, abgeschoben wird.
({3})
Wir können das vertiefen: Schauen wir uns einmal an,
welche spekulativen Geschäfte General Motors mit seinen Pensionsfonds und den darin enthaltenen Rückstellungen für Krankheitsfälle getrieben hat. So verhält sich
kein ordentliches, ethisch sauber handelndes Unternehmen. Hierbei handelte es sich um ein in hohem Maße
spekulatives Vorgehen, was im Kern die Innovationsfähigkeit des Unternehmens gefährdet hat. Dieses muss
man öffentlich anprangern. Insofern darf man nicht nur
Opel, sondern muss General Motors insgesamt in den
Blick nehmen.
({4})
Hinzu kommt ein weiterer Punkt: General Motors hat
die Zeichen der Zeit verkannt. Es hat weiter auf große
Autos gesetzt und erleidet vor allen Dingen deshalb jetzt
einen Absatzeinbruch, weil sparsamere Autos gefragt
sind, die General Motors nur bedingt anbietet. Hinzu
kommen natürlich Probleme in Deutschland; das wollen
wir gar nicht wegdiskutieren. So hat Opel beispielsweise
sehr unzureichend auf die Entwicklung in der Dieseltechnologie reagiert, im Bereich der Kleinwagen enorme
Fehler gemacht, viel zu spät den Vectra gebracht und
vieles andere mehr. Es bleibt aber dabei: Das Unternehmen hat in einem Kernbereich unternehmerischen Handelns versagt, indem es nicht auf Innovationen gesetzt
und keine Investitionen getätigt hat.
Deshalb müssen wir uns bei den Diskussionen, die
wir hier zu führen haben, auch mit einer Unternehmensphilosophie auseinander setzen, die glaubt, Kapitalmarktmanagement sei die wichtigste Aufgabe eines Unternehmens. Nein, die eigentliche Aufgabe eines
Unternehmens ist es, für die Zukunft vorzusorgen und
Innovationen in Form von neuen Produkten und Verfahren zu entwickeln, um damit besser als andere zu sein.
Das ist die Kernaufgabe eines Unternehmens. In diesem
Punkt ist der Grund für die Krise von Opel und General
Motors zu suchen. Deshalb ist es richtig, auch das Management massiv zu kritisieren. Jede Argumentation, die
die Probleme auf die Bereiche Betriebsrat, Mitbestimmung etc. reduziert, stellt vor diesem Hintergrund
schlichtweg eine Heuchelei dar.
({5})
Ich glaube, dass wir auch darüber diskutieren müssen,
was in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Aus meiner Sicht werden die beiden großen Herausforderungen
der Zukunft lauten: schneller bei Innovationen zu werden und vorausschauend auf die knapper werdenden
Ressourcen zu reagieren. Das werden die beiden großen
Michael Müller ({6})
Herausforderungen für industrielle Unternehmen sein.
Wer glaubt, auf eine solche Situation mit einer Unternehmensphilosophie von gestern oder vorgestern reagieren
zu können, statt im Gegenteil die schöpferischen Kräfte
eines Arbeitnehmers, die Teamfähigkeit eines Betriebs,
die kreativen Fähigkeiten eines Menschen zu fördern,
hat versagt.
({7})
Wir müssen nach vorne schauen, anstatt diesen alten,
überholten Strategien weiter anzuhängen. Gerade für
Opel ist das der richtige Weg.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes
Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit nunmehr sechs Tagen streiken
({0})
und demonstrieren Zehntausende von Beschäftigten mit
ihren Angehörigen vor den Werkstoren von Opel in Bochum.
({1})
Seit sechs Tagen nehmen sie Entbehrungen auf sich und
seit sechs Tagen rufen sie auch die Politik an und fragen:
Könnt ihr etwas für uns tun, gibt es irgendwelche Hilfe?
Auf der anderen Seite haben wir hier eine Debatte mit
einer, wie gerade eben, Vorlesung in Ökonomie und mit
einem Beitrag von Frau Dückert, der in einem billigen
Witzchen über das, wofür ihrer Meinung nach die Abkürzung CDU steht, gipfelte. Ist das die Hilfe, die Sie
diesen Menschen anbieten? Dann kann ich nur sagen:
Darauf kann sich niemand verlassen!
({2})
Die Lage ist doch viel ernster, als sie hier dargestellt
wird, und eignet sich nicht für Schmonzetten und irgendwelche Lustigkeiten. Deutschland braucht - das wissen
wir alle - sehr viel mehr Mut, Zuversicht und Vertrauen;
das Vertrauen muss wachsen. Aber wenn ich in die Gesichter der demonstrierenden Menschen schaue, dann
sehe ich nur eines, was wächst: Zorn und Angst, aber
nicht Zuversicht.
Wenn jetzt schon im Kernbereich, im Herzbereich der
deutschen Industrie, in der Automobilindustrie, bei einem Traditionsunternehmen wie Opel, massenhaft Arbeitplätze bedroht sind, dann empfinden das auch die
Beschäftigten in anderen Branchen als ein Menetekel,
das ihnen möglicherweise ebenfalls droht. So ist die
Lage. Viele fragen sich: Wer ist der Nächste, wer kommt
noch dran, wenn es sogar bei Opel so schief gelaufen ist?
({3})
Menschen, die so denken, können nicht konsumfreudig sein. Ein Arbeiter bei Opel wird sich jetzt sehr genau
überlegen, ob er sich einen neuen Anzug kauft. Vermutlich wird er das nicht tun und deshalb auch nicht den
Konsum ankurbeln, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({4})
Ich warne vor der Einschätzung, dass dies ein singuläres Ereignis sei, das ausschließlich mit Managementfehlern, die es natürlich gegeben hat, zu erklären sei. So ist
es nicht.
Weil gerade gestern das Herbstgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute vorgestellt worden ist, möchte ich auf eine entscheidende Zahl
eingehen, die unterstreicht, wo das Problem liegt. Das
Herbstgutachten der renommiertesten deutschen Institute hat, was den Substanzverlust an Arbeit in Deutschland betrifft, festgestellt, dass das Arbeitsvolumen seit
dem Jahr 2000 bis in das Jahr 2004 um 3 Prozent abgenommen hat. Das sind rund 1,7 Milliarden Arbeitsstunden, die in Deutschland weniger geleistet wurden.
Das zeigt, dass Opel kein Einzelfall ist, sondern als
Symbol für viele andere Betriebe steht, in denen die Arbeitsplätze bedroht sind.
({5})
Die Konkurrenz wächst natürlich. Die Konkurrenz für
Opel sitzt in Europa beispielsweise in Gleiwitz in Polen,
wo für nur ein Fünftel der Bruttostundenarbeitskosten
des Werkes in Bochum gearbeitet wird. Während in der
deutschen Automobilbranche durchschnittlich 33 Euro
in der Stunde gezahlt werden, sind es in Polen derzeit
nur rund 6 Euro in der Stunde. In der Türkei - falls Sie
auch das interessiert - ist die durchschnittliche Bruttoarbeitsstunde derzeit für 1 Euro zu haben.
Nun kann es Ihnen ja gar nicht schnell genug gehen,
dass die Türkei endlich der EU beitritt. Ich frage Sie an
dieser Stelle nur: Glauben Sie, dass durch einen Beitritt
der Türkei die Arbeitsplätze in Deutschland sicherer
werden? Ich sage Ihnen voraus, dass wir noch viele Bochums in Deutschland erleben werden, wenn Sie den
Beitritt der Türkei durchpauken.
({6})
Viele, die um ihre Arbeitsplätze zittern, fragen, was
die Politik überhaupt tun kann.
({7})
Man muss feststellen, dass die Politik nicht allzu viel tun
kann. Was Herr Bundesminister Clement vorhin gesagt
hat, unterstreicht dies. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass wir die Rahmenbedingungen grundsätzlich
ändern, damit sich das, was jetzt in Bochum geschieht,
nicht wiederholt. Ich nenne dazu fünf Punkte: etwas
längere Arbeitszeiten und - auch wenn es unangenehm
klingt - etwas weniger Urlaub, etwas weniger Steuern
und etwas weniger Abgaben, etwas weniger Macht für
Konzern- und Gewerkschaftszentralen, etwas mehr Verantwortung für die Betriebe vor Ort sowie etwas mehr
Vertrauen und Mut in die eigenen Fähigkeiten, die die
Menschen in unserem Land Gott sei Dank haben.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Axel Schäfer, SPDFraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich
komme aus Bochum. Deshalb will ich dem Kollegen
Singhammer direkt antworten. Er hat keine Ahnung von
der betrieblichen Wirklichkeit. Er weiß nicht, was vor
Ort in der Automobilindustrie vor sich geht. Außerdem
kann er Lohnkosten und Lohnstückkosten sowie Produktion und Produktivität nicht unterscheiden.
({0})
Leider sind in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nur
noch sechs von 248 Mitgliedern bekennende Gewerkschafter.
({1})
Von nichts kommt nichts.
Lassen Sie mich berichten, was in Bochum passiert
ist. Die Konzernleitung von GM hat den großen Hammer geschwungen und drauf geschlagen. Aber die Arbeitnehmer wissen seit 150 Jahren, dass Menschen nicht
Amboss sein wollen, sondern dass wir uns alle auf gleicher Augenhöhe begegnen.
({2})
Deshalb haben sich die Beschäftigten bei Opel gewehrt.
An unserem Aktionstag nahmen gestern europaweit
über 50 000 Menschen teil,
({3})
erstmals auch am Standort des Saab-Werks in Trollhättan. In Bochum hatte das Management nämlich nicht den
Mut, sich zusammen mit dem Betriebsrat offen vor die
Belegschaft zu stellen und diese zu informieren. Deshalb
hat es permanente Informationsveranstaltungen gegeben
und deshalb ist es zu einer Unterbrechung der Produktion gekommen.
In dieser aktuellen Auseinandersetzung geht es um
Menschen und um Arbeitsplätze, aber auch darum, wie
wir in Europa die Kultur unseres Sozialmodells erhalten.
Der Konflikt ist ein doppelter: Es gibt tatsächlich Struktur- und Absatzprobleme in der Automobilindustrie. Es
gibt aber gleichzeitig eine Konzernzentrale in Detroit,
die versucht, die Belegschaft zu spalten, Arbeitskampfmaßnahmen zu provozieren und Standorte infrage zu
stellen. Was wir am Donnerstag vor Ort erlebt haben,
hatte mit Geist und Buchstaben des Betriebsverfassungsgesetzes, mit Mitbestimmung und vertrauensvoller Zusammenarbeit nichts zu tun.
({4})
Die Kolleginnen und Kollegen bei Opel gehören zu
GM. Sie wissen, was bei General Motors in Flint passiert ist. Dort wurde ein Werk plattgemacht und eine
Stadt kaputtgemacht. Sie wollen das nicht mit sich machen lassen. Das ist auch richtig so.
({5})
Ich will Ihnen die Dimension deutlich machen. In Bochum wurde in den vergangenen 14 Jahren die Belegschaft um 10 000 Mitarbeiter reduziert. Jetzt sollen
innerhalb von 14 Monaten auf einen Schlag 3 000 Arbeitsplätze vernichtet werden, und dann noch einmal
1 000. Dabei kann niemand unternehmensintern klar
darlegen, welche verschiedenen Kostenrechnungen und
-berechungen zugrunde gelegt werden, weil alles im gemeinsamen GM-Etat verrührt wird.
Die jetzige Auseinandersetzung zeigt uns zweierlei.
Wir brauchen erstens eine neue Form von globaler Politik in einer globalisierten Ökonomie. Wir brauchen eine
stärkere europäische und internationale Absicherung von
Arbeitnehmervertretern in multinationalen Konzernen.
Die Euro-Betriebsräte sind ein erster Schritt.
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Wir brauchen zweitens eine lokale Perspektive für zukunftsfähige Arbeitsplätze. Dabei ist die industrielle
Produktion in Deutschland unverzichtbar. Das ist die
Position, die ich mit meinen Kollegen Gustav Herzog
und Gerold Reichenbach an den Standorten Kaiserslautern, Rüsselsheim und Bochum gemeinsam vertrete.
Ich will noch speziell zu meiner Stadt etwas sagen.
Wir haben im Ruhrgebiet eine besondere Mentalität: Wir
sind offen. Fremde werden hier zu Freunden. Wir sind
beharrlich, stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden, sind mit dem Kopf bei der Arbeit und mit dem Herzen beim VfL, manche auch bei Schalke oder Dortmund.
Wir haben Mut und keinen Übermut.
Lassen Sie mich etwas Persönliches hinzufügen: Ich
habe vor 30 Jahren als Sprecher einer Jugendvertretung
zum ersten Mal an einer Solidaritätsaktion bei Opel teilgenommen. Jetzt bin ich der von fast 100 000 Menschen
gewählte Bundestagsabgeordnete. Ich war seit Donnerstag morgens, mittags, abends und teilweise nachts bei
meinen Kolleginnen und Kollegen. Ich habe mit den Beschäftigten, den Vertrauensleuten, den Betriebsräten und
der Werksleitung geredet. Ich weiß tatsächlich, was vor
Ort los ist. Ich habe erlebt, wie Rentner kamen und gesagt haben: Ich spende aus Solidarität 500 Euro, damit
wir gemeinsam durchkommen.
Axel Schäfer ({7})
Wir werden da gemeinsam durchkommen. Wir haben
heute mit mehr als 70 Prozent der Belegschaft die Entscheidung getroffen, dass gearbeitet wird und die Verhandlungen beginnen können. Klar ist, dass der Standort
zu erhalten ist, es keine betriebsbedingten Kündigungen
geben darf und dass sozialverträgliche Regelungen getroffen werden.
Als Bochumer sage ich Ihnen auch: Wir sind stolz auf
unsere Stadt. Hier gab es den ersten Stahlformguss der
Welt und das erste Automobilwerk im Ruhrgebiet. Hier
ist die erste Adresse für deutsches Sprechtheater und hier
fand die erste Universitätsneugründung der Region nach
dem Zweiten Weltkrieg statt. Herbert Grönemeyer hat
einmal gesagt:
Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser, als man glaubt.
Das ist Bochum. Glück auf!
({8})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Titel dieser Aktuellen Stunde ist verführerisch.
Er lautet: „Kampf um Arbeitsplätze unterstützen, Unternehmenskrisen meistern, Beschäftigungspotenziale erhalten - Restrukturierungsanstrengungen bei KarstadtQuelle und GM/Opel stärken“. Ich habe mich zunächst
gefragt, was das soll. Heute ist mir klar geworden: Hier
haben eine Menge Solidaritätskundgebungen stattgefunden. Gerade den letzten Beitrag hätten Sie gestern und
vorgestern in Bochum dreimal halten können.
({0})
Aber wenn sich der Bundestag mit diesem Thema beschäftigt, dann kann man von der Fraktion, die diese Aktuelle Stunde beantragt, erwarten, dass sie etwas Konkretes dazu sagt, was getan werden soll.
({1})
Stattdessen habe ich heute Morgen im Frühstücksfernsehen unseren geschätzten Ausschussvorsitzenden, Herrn
Wend, gehört, der wörtlich gesagt hat: Aus der Politik zu
raten kann fast nur falsch sein. - Wenn Sie Ihre meinen,
haben Sie völlig Recht. Sie haben gesagt: Ich glaube,
man kann direkt nichts tun.
({2})
Deswegen die Frage: Warum reden wir darüber? Ich
habe nichts dagegen, wenn wir angesichts der derzeitigen Beispiele - sie sind eigentlich nur die Spitze des Eisberges - feststellen, dass wir uns in Deutschland in einem Umstrukturierungsprozess befinden und wir alle es
bisher nicht geschafft haben - vor allem Sie, die Sie seit
sechs Jahren regieren -, konkrete Maßnahmen im Hinblick auf die Rahmenbedingungen zu ergreifen, in denen
sich ein solcher Umstrukturierungsprozess vollziehen
muss. Das ist genau der Punkt, über den man hier reden
muss.
Ich habe nichts dagegen, wenn man hier feststellt,
dass es auch um Managementfehler geht; ich will sie
nicht alle wiederholen.
({3})
- Von mir aus, Herr Stiegler, auch „in erster Linie“. Aber
dies hier ist nicht der Platz, an dem Sie alte Kampfparolen aus den 70er- und 80er-Jahren herausholen sollten.
({4})
Die passen nun wirklich nicht mehr in diese Zeit. Ihre
Rede, Herr Stiegler, war entlarvend.
({5})
Managementfehler gab es sicherlich. Das ist leicht zu
erklären: Wenn man bei Opel ständig das Personal auswechselt und die Produktpalette nicht so ganz im Griff
hat, dann besteht in dieser Hinsicht keine Frage. Aber
man muss natürlich die Frage stellen, ob allein Managementfehler für die derzeitige Krise verantwortlich sind.
Bei Karstadt ist lange Zeit auch seitens der Gewerkschaften keine Bereitschaft vorhanden gewesen, zu flexibleren Lösungen zu kommen. Jetzt, in der gegenwärtigen Situation, hat sich Gott sei Dank etwas bewegt. Man
ist bereit, über Dinge zu reden, um zu Lösungen zu kommen.
({6})
Das heißt, wir müssen anhand dieser Beispiele generell
darüber reden, wie die Politik in unserem Lande die
Rahmenbedingungen verändern soll.
({7})
Ich finde es sinnvoll, an diesem Tag auch einen Zusammenhang zum Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute herzustellen. Ich lese Ihnen einmal nur
die Überschriften aus diesem Herbstgutachten vor - die
Redezeit in einer Aktuellen Stunde reicht ja nicht für
mehr -, die charakterisieren, wo wir stehen.
({8})
- Das geht ganz kurz und ist auch für jemanden verständlich, der keine langen Sätze versteht. - Die Überschriften
lauten: „Exportmotor mit verringerter Drehzahl“ - Sie
haben eben gesagt, dass Export dem Aufschwung hilft -,
„Verzögerter Anstieg der Ausrüstungsinvestitionen“,
„Bauinvestitionen bleiben schwach“,
({9})
„Nur leicht bessere Aussichten für den privaten Konsum“. An dieser Stelle muss viel getan werden, da bei
den Menschen verständlicherweise große Zurückhaltung
vorherrscht, und sie das Geld nicht so schnell ausgeben,
weil sie nicht wissen, wohin Ihre Politik sie führt.
({10})
Weitere Überschriften sind: „Moderate Zunahme der
Produktion“, „Lage am Arbeitsmarkt bessert sich nur zögerlich“, „Finanzpolitik verfehlt Defizitziel“. Das sind
die Überschriften im Herbstgutachten über die Politikerwartung für das nächste Jahr.
Wir suchen nach konkreten Antworten. Der Minister
ist die Antwort auf die Fragen schuldig geblieben. Wo
sind Ihre Antworten bezüglich mehr Flexibilität im Arbeits- und Tarifrecht? Dort gibt es doch zurzeit Bewegung, die wir brauchen. Wir werden auch bei Opel darüber reden müssen.
({11})
- Ich glaube schon, dass wir darüber reden müssen. Ich
glaube nicht, dass sich das Unternehmen angesichts einer übertariflichen Bezahlung in einer Größenordnung
von 20 Prozent - diese Ehrlichkeit gehört dazu - eine
Lösung ohne eine gewisse Bewegung auch auf Arbeitnehmerseite vorstellen kann. Wir werden sehen, wie sich
das entwickelt.
Wo ist Ihre Antwort auf die Frage, die heute Morgen
Karl-Josef Laumann gestellt hat: Wo ist eigentlich Ihr
wirtschaftspolitisches Konzept nach Hartz IV? Damit
meine ich nicht die Frage: Wann kommt Hartz V? Die
Frage ist vielmehr: Wo sind die entscheidenden Dinge,
die den Arbeitsmarkt wirklich nach vorn bringen?
({12})
Wo sind die Konzepte, die Wirtschaftswachstum bringen? Wo sind die Konzepte, um die Lohnnebenkosten zu
senken?
Zum Schluss sage ich Ihnen, was im Herbstgutachten
dazu ausgeführt ist:
Ein schlüssiges Konzept für eine wachstumsfördernde Politik ist von der Bundesregierung bislang
nicht vorgelegt worden. Vielmehr bleibt der Eindruck, es handele sich überwiegend um Einzelmaßnahmen, die darüber hinaus zum Teil nur deshalb
ergriffen wurden, weil sich die Haushaltslage immer weiter zugespitzt hat.
({13})
Die Antwort auf die Frage, was die Politik wirklich
tut, um die Situation zu ändern, sind Sie heute schuldig
geblieben. Das ist die Kernfrage, die uns hier beschäftigen sollte.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Gerold Reichenbach,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin
nicht nur als Wahlkreisabgeordneter, sondern auch persönlich betroffen: Mein Vater hat bei Opel geschafft
- wie wir in Hessen sagen -, mein Großvater hat dort geschafft und vieler meiner Schulkameraden und Weggefährten arbeiten noch heute dort.
Gestern waren 15 000 oder 20 000 Menschen - keiner
kennt die genaue Zahl - in Rüsselsheim auf der Straße.
20 000 waren es in Bochum. Europaweit haben die Kolleginnen und Kollegen von General Motors ihre Solidarität bekundet, weil die Menschen dort - in Rüsselsheim
und Bochum - Angst nicht nur um ihren Arbeitsplatz,
sondern um die ganze Region haben.
Die Art und Weise, wir hier in diesem Hause und insbesondere von Ihnen, von der FDP und der CDU/CSU,
in der Aktuellen Stunde über dieses Thema diskutiert
wurde, ist den Ängsten der Menschen nicht gerecht geworden.
({0})
Herr Pfeiffer hat die falsche Rede, nämlich die zum
Energiewirtschaftsgesetz, eingepackt. Herr Brüderle und
Frau Wöhrl, die inzwischen gar nicht mehr hier ist, haben nichts anderes zu sagen gewusst, als alte Ideologien
zu verbraten. Von der PDS kam das Thema Hartz IV.
Das hat mit Opel und der Krise bei Opel wenig oder gar
nichts zu tun.
({1})
Dem einen oder anderen von Ihnen gebe ich den Rat:
Reden Sie doch erst mit Betriebsräten, bevor Sie über
Betriebsräte reden.
({2})
Zu der Gesamtsituation von General Motors ist vieles
gesagt worden. Ihr Bemühen, die Bundesregierung für
alles verantwortlich zu machen, ist geradezu lächerlich.
Die Bundesregierung hat nicht die Unternehmenspolitik
von General Motors in den USA bestimmt. Die Bundesregierung ist garantiert auch nicht dafür zuständig, dass
General Motors in Mittelamerika und den Vereinigten
Staaten selber Probleme und Einbrüche hat.
Die Bundesregierung hat auch nicht Herrn Lopez bei
Opel eingestellt, der dafür verantwortlich ist, dass Opel
in den 90er-Jahren in die Krise geraten ist. Statt in Innovationen zu investieren, hat man schon damals die KosGerold Reichenbach
tenschraube nach unten gedreht. Mit anderen Worten:
Man hat möglichst billige Produkte eingebaut. Die Opelaner, die immer stolz auf die von ihnen gebauten Autos
waren, konnten die Produkte - ich sage es einmal drastisch - so gut montieren, wie sie wollten: Wenn Billiges
eingekauft wurde, dann wurde billig Eingekauftes zwar
gut montiert; das wurde den Qualitätsansprüchen der
Kunden aber nicht gerecht. Das hat Opel in die Krise gebracht.
Mit dem Argument der Flaute in der Automobilbranche, die natürlich vorhanden ist, kommen Sie hier nicht
weiter. Der Einbruch des Marktanteils von Opel von
20 auf 11 Prozent ist in den 90er-Jahren passiert. Auch
das können Sie schlechterdings kaum dieser Bundesregierung in die Schuhe schieben.
({3})
Die Krise bei Opel hat auch etwas damit zu tun, dass
man auf ein falsches Marktsegment gesetzt hat. Es gibt
nämlich keine Krise der Automobilbauer in Deutschland; viele machen noch gute Geschäfte. Bei der Belegschaft von Opel ist natürlich die Angst vorhanden, dass
diese Krise ähnlich wie damals ausgetragen wird und
dass wieder, ohne Innovation anzustoßen, nur die Kosten
reduziert werden sollen - und diesmal allein auf dem
Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Inzwischen gibt das General-Motors-Management
selbst zu, Managementfehler begangen zu haben. Da
sind sie weiter als Sie, Herr Brüderle.
Ich komme zum Thema Mitbestimmung. Wenn wir in
dieser Republik ein Beispiel suchen, bei dem Mitverantwortung und Mitbestimmung im Interesse des Unternehmens funktioniert haben, dann ist es Opel. Ihr Versuch,
die Opfer falscher Unternehmensentscheidungen teilweise zu Tätern zu machen, ist nicht nur intellektuell unredlich, sondern den Betroffenen gegenüber geradezu
zynisch.
({4})
Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Sie zeichnen eine
Schimäre von inflexiblen Gewerkschaften, die nicht bereit sind, das Gehaltsniveau, das bei 20 Prozent über Tarif liegt, zu senken. Das stimmt doch überhaupt nicht.
Das jetzt zur Debatte stehende Werk, das vor zwei Jahren eingeweiht wurde, ist zum großen Teil von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei Opel selbst finanziert worden, weil sie künftige Tariferhöhungen
angerechnet haben. Auch das Qualitätsmanagementprogramm Olympia, das den Turnaround bewirkt hat - Opel
hat heute wieder hervorragende Wagen auf dem Markt,
die fast jeden Wettbewerb gewinnen -, wurde von der
Arbeitnehmerschaft angeregt und von ihr durch den Verzicht auf übertarifliche Maßnahmen begleitet.
({5})
Die Kolleginnen und Kollegen von Opel haben in der
Absatzkrise zu Beginn dieses Jahres gesagt: Um Arbeitsplätze zu halten, machen wir das Programm „30 plus“.
Das heißt nichts anderes als 30 Arbeitsstunden in der
Woche ohne vollen Lohnausgleich. Es ging also noch
einmal runter mit den Löhnen.
Und nun stellen Sie sich hier hin und sagen: Die Gewerkschaften sind inflexibel; das ist alles deren Schuld.
Das ist zynisch hoch drei, passt zwar in Ihre Kampagne,
hat aber mit der Realität überhaupt nichts zu tun.
({6})
Sie haben Polen erwähnt. Schauen wir uns das Werk
in Rüsselsheim einmal an. Momentan ist es zu 60 Prozent ausgelastet. Es ist das modernste Automobilwerk
der Welt.
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit.
Rechnen Sie einmal: Selbst wenn die Opelaner in
Rüsselsheim für 0 Euro arbeiten würden, bei dieser Auslastung käme das Werk momentan nicht in den Rentabilitätsbereich hinein.
({0})
Die Polen mussten 15 Prozent unter dem Tariflohn bleiben, um die Produktion des Zafira, die die Auslastung in
Rüsselsheim nicht bringen würde, zu erhalten. Hinterher
stellte sich heraus, dass es sich um ein Kompensationsgeschäft in Sachen Rüstung handelte. Und Sie behaupten, der Lohnkostenanteil sei entscheidend gewesen.
Nein, die Betriebsrätinnen und Betriebsräte handeln
verantwortlich, wenn sie im europäischen Konzernverbund verhandeln. Sie dürfen sich zwischen den Standorten Bochum und Kaiserslautern nicht gegenseitig ausspielen lassen. Sie wollen ihren Beitrag leisten. Sie
sagen: „Natürlich leisten wir unseren Beitrag. Wichtig
ist, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen gibt.“
Herr Kollege!
Damit komme ich zum Schluss. Die Standorte müssen erhalten bleiben. Nur mit Innovationen kann man dafür sorgen, dass die Kolleginnen und Kollegen eine Zukunft haben. Das ist der richtige Weg.
Was kann die Bundesregierung machen? Den Weg,
den der Bundeswirtschaftsminister einschlägt, ist richtig,
nämlich dafür zu sorgen, dass im europäischen Konzert
zusammengearbeitet und der Kontakt mit den schwedischen Kollegen aufgenommen wird. Das ist die richtige
Unterstützung. Das hilft den Kolleginnen und Kollegen
vor Ort, nicht Ihre Ideologie.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entgegen einer
spontanen Vermutung bin ich bei der Bemessung der
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Redezeiten und der Interpretation der Geschäftsordnung
nicht besonders penibel, sondern besonders großzügig.
({0})
Nun hat als letzter Redner in dieser Debatte der Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Opel-Stadt Rüsselsheim ist
meine Heimatstadt. Die gesamte Region - ich glaube sogar, die ganze Nation - macht sich Sorgen um die Arbeitsplätze in Rüsselsheim, Bochum und Kaiserslautern;
aber nicht nur um die Arbeitsplätze dort. Denn es gibt
4,3 Millionen Arbeitslose. Das ist der höchste Wert seit
14 Jahren.
Für diejenigen, die sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz
machen müssen - diese Sorgen verstehen wir -, gab es
heute - das stimmt, Herr Clement - eine gute Nachricht.
Diese gute Nachricht lautet, dass die Arbeitsniederlegung bei Opel beendet ist,
({0})
dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einem guten Dialog stehen und gemeinsam versuchen, die Automobilwerke an den Standorten Rüsselsheim und Bochum, wie
es heißt, so weit wettbewerbsfähig zu machen, dass sie
über das Jahr 2010 hinaus erhalten werden können. Das
ist das Ziel.
Herr Stiegler, wenn man insbesondere Ihre triviale
Politökonomie bzw. Ihren gruftigen Klassenkampf erlebt
hat,
({1})
fragt man sich: Was müssen die Menschen über die Qualität der Auseinandersetzung angesichts der Sorgen und
Nöte bezüglich ihrer Arbeitsplätze denken?
({2})
Was die Regierungsfraktionen hier geboten haben, war
die Abwesenheit eines jeden Handlungskonzeptes, Angesichts der kollektiven Ratlosigkeit
({3})
der Rednerriege, die hier für Rot-Grün aufmarschiert ist,
muss man wirklich Angst haben, weil Ihnen wirtschaftspolitische Verantwortung in die Hand gegeben ist.
Natürlich haben Sie versucht, Opel und Karstadt als
Einzelfälle, in denen es Managementfehler gegeben hat,
darzustellen. Gestern und schon vorgestern gab es
Managementversagen, das sich heute rächt. Das lässt
sich auch anhand des gesunkenen Marktanteils, der sich
langsam wieder stabilisiert, messen.
Darüber hinaus gibt es allerdings allgemeine Rahmenbedingungen für das Wirtschaften, für Arbeitsplätze
und für Beschäftigung in Deutschland, für die Sie die
politische Verantwortung haben. Sie sind doch aufs
Engste mit dem verbunden, was meine Kollegen beschrieben haben. Herr Reichenbach, da Sie gesagt haben, wir wollten die Bundesregierung für alle Krisen
verantwortlich machen, antworte ich Ihnen: Wir wollen
Sie nicht für alles verantwortlich machen. Ich habe gerade vom Managementversagen gesprochen. Aber Sie
haben für entscheidende Dinge in Deutschland die Verantwortung.
({4})
Man kann feststellen, dass die Energiekosten
({5})
in Deutschland um 30 Prozent höher als beispielsweise
in Schweden sind, dass die Bruttoarbeitskosten in
Deutschland um 30 Prozent höher als in Schweden sind
({6})
und dass es ein negatives Verhältnis zwischen den Bruttoarbeitskosten und dem, was die Arbeitnehmer herausbekommen, gibt, das ein Ausmaß wie nirgendwo sonst
hat.
({7})
Das sind die Ursachen der Krisen.
({8})
Dazu zählt auch die Wachstumskrise. Wie es im
Herbstgutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute heißt, werden wir in Deutschland auch im nächsten Jahr nur mit einem Wachstum von 1,5 Prozent rechnen können.
({9})
Das bedeutet erneut mit Abstand die Schlusslichtposition in Europa. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Das
liegt in Ihrer Verantwortung.
({10})
Ihre Politik schlägt sich in den Unternehmenskrisen, im
Investitionsverhalten und im Kaufverhalten nieder.
Ich meine die Kaufkraftzurückhaltung und die Rekordsparquote, die das Angstsparen aufzeigt. Wie ich
gehört habe, beträgt die Sparquote in dem Bundesland,
aus dem Sie, Herr Brüderle, kommen, 15 Prozent. Das
ist die Rekordsparquote in Deutschland.
({11})
Das ist ein Ausdruck von Zukunftsangst. Meine sehr
verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, Sie können
uns doch nicht erklären, dass Ihre Politik für diese Zukunftsangst nicht verantwortlich ist.
Gerald Weiß ({12})
Deshalb müssen Sie die Rahmenbedingungen verbessern. Der Keil zwischen Bruttoarbeitskosten und Nettoarbeitserträgen, die Energiekosten, die Ökosteuer und
der ins Wahnsinnige gehende Benzinpreis, das offensichtliche Fehlen eines Steuerkonzeptes und einer großen Steuerreform, das alles sind schlechte Rahmenbedingungen für Deutschland.
({13})
Die müssen Sie, die Sie politische Verantwortung tragen,
in Ordnung bringen. Dann werden die Beschäftigungsaussichten und die Zahlen auch in den Konzernen wieder
besser werden, die Sie heute als Einzelfälle, in denen es
Managementfehler gegeben hat, darzustellen versucht
haben.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({14})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Wir sind damit auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
morgen, Donnerstag, den 21. Oktober 2004, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.