Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/1/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass am Mittwoch, dem 20. Oktober, die Befragung der Bundesregierung entfällt und die Fragestunde wegen der Gedenkfeier für Hermann Ehlers erst um 14 Uhr beginnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz - Drucksache 15/3681 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) - Drucksachen 15/3834, 15/3865 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Storm Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Ulla Schmidt das Wort. ({2})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheitsreform wirkt. Sie verbessert die Qualität, die Transparenz und die Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung. Die gesetzliche Krankenversicherung schreibt wieder schwarze Zahlen. Wir haben viele Veränderungen auf den Weg gebracht, um die Strukturen im Gesundheitswesen zu verbessern. Es werden Verträge zur besseren Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Krankenhäusern, zur besseren Versorgung chronisch kranker Menschen und zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung geschlossen. Dies haben wir gemeinsam auf den Weg gebracht. Vor einem Jahr haben wir auch entschieden, den Zahnersatz künftig - wahlweise privat oder gesetzlich über eine Minikopfpauschale abzusichern. ({0}) Sie erinnern sich daran, dass das Frau Merkels Vorbedingung für Ihre Zustimmung zu unserem Kompromiss war. Schon damals war allen Insidern klar, dass dieses Vorhaben schwierig wird. Wir haben daran gearbeitet, wie es umgesetzt werden kann. ({1}) Dabei stellte sich heraus, dass es extrem bürokratisch und zu teuer ist, in einem System, das wie die gesetzliche Krankenversicherung einkommensabhängig finanziert ist, eine Minikopfpauschale einzuführen. Zudem ist es den Versicherten nicht zuzumuten, pro Monat 2 Euro nur für Bürokratie zu bezahlen. ({2}) Das wissen auch Sie. Deswegen haben wir seit Wochen über diese Frage gesprochen und über eine versichertenfreundliche, unbürokratische und sozialverträgliche Regelung verhandelt. Die Zeit drängt. Die Versicherten wollen Klarheit. Auch die Krankenkassen brauchen Klarheit; denn Wartezeit kostet Geld. Deswegen haben wir entschieden: Wir belassen den Zahnersatz im Leistungskatalog der Kassen und wir senken den durchschnittlichen Beitragssatz der Krankenkassen für ihre Mitglieder und die Lohnnebenkosten für die Betriebe. ({3}) Redetext Vielleicht ist Folgendes für Herrn Storm interessant: Am gemeinsam vereinbarten Leistungskatalog und Leistungsumfang beim Zahnersatz mit mehr Wahlmöglichkeiten für die Versicherten ab 1. Januar 2005 halten wir fest. Wir ändern nichts. Wir regeln nur die Finanzierung neu, ({4}) und zwar einkommensabhängig und sozialverträglich. ({5}) Indem die Versicherten diesen Sonderbeitrag zukünftig allein tragen müssen, entlasten wir die Lohnnebenkosten. Außerdem verpflichten wir die Krankenkassen, ihren allgemeinen Beitragssatz in gleichem Umfang zu senken. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU - Sie spreche ich ganz besonders an -, es grenzt manchmal schon an ein Stück aus dem Tollhaus: In all den Wochen machen Sie keinen einzigen Vorschlag, wie wir zu einer unbürokratischen Lösung kommen können. Hinter vorgehaltener Hand hört man aus Ihren Reihen immer wieder, dass die von uns vorgeschlagene Lösung eigentlich die beste sei. Dann wird stets gesagt: Springen täten wir gern, aber können dürfen wir nicht. Auf der einen Seite überbieten Sie sich tagtäglich mit immer neuen Privatisierungsorgien - ich nenne nur einige -: 70-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich, ({7}) die völlige Streichung des Kündigungsschutzes, eine Kopfpauschale im Gesundheitswesen, die dazu führt, dass die Krankenschwester den gleichen Beitrag wie der Manager zahlt, und die Privatisierung der Unfallversicherung, die Herr Storm kürzlich vorgeschlagen hat. Auf der anderen Seite, wenn es um eine einzige Entscheidung geht, die Lohnnebenkosten zu senken und beim Sonderbeitrag für Zahnersatz die Parität um 0,45 Prozent zu verschieben, drücken Sie sich vor der Verantwortung und schlagen sich in die Büsche. Meine Damen und Herren, wem es in der Küche zu heiß ist, der sollte die Küche meiden. Wer die Küche schon beim Kochen eines kleinen Gerichts verlassen muss, der hat gar kein Rückgrat, um in diesem Land in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen. ({8}) Die gemeinsam verabschiedete Gesundheitsreform verlangt nicht nur Entschlusskraft, sondern auch Standfestigkeit. ({9}) Sie stehen ja nicht einmal mehr zu der Minikopfpauschale. Ich kenne niemanden aus Ihren Reihen, der die Beibehaltung dieser Kopfpauschale fordert ({10}) und der auch dazu steht, dass man den Rentnerinnen mit einer Rente von 500 Euro klipp und klar sagt, sie müssten nicht, wie bei Frau Schmidt, 1 Euro, sondern 7,50 Euro mehr bezahlen. Ich kenne niemanden, der demjenigen, der monatlich 1 000 Euro Einkommen hat, sagt, er müsse nicht wie bei Frau Schmidt 2 Euro, sondern 6,50 Euro mehr bezahlen. ({11}) Dass Sie dazu stehen und dafür streiten, das erwarte ich von Ihnen hier und heute. Unser Vorschlag hält an dem gemeinsamen Kompromiss fest. Er hält an den Zielen fest, auch was den Leistungsumfang angeht. Wenn sich aber im Laufe eines Verfahrens herausstellt, dass die beschlossene Lösung zu bürokratisch ist und zu Belastungen der Versicherten führt, die man sich angesichts der Situation im Gesundheitswesen nicht erlauben kann, dann muss man den Mut haben, zu bekennen, dass die Entscheidung falsch gewesen sei. Heute treffen wir eine Entscheidung, die, im Interesse der Versicherten, sozialverträglich und unbürokratisch ist. Es wäre gut, wenn Sie dabei mitmachten. Dies zeigte, dass Sie auch das tun dürfen, was Sie tun müssen, und in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz … zum 1. Januar 2005 vorgesehene gesonderte Finanzierung des Zahnersatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung … soll rückgängig gemacht werden. So lautet der erste Satz Ihres Gesetzentwurfes. Damit wird eines ganz klar: Rot-Grün kündigt den Gesundheitskompromiss des vergangenen Sommers auf. ({0}) Dies ist nicht nur ein Vertrauensbruch, sondern auch ein Vertragsbruch. Diesmal liegt es nicht an Ihrer bekannten Unfähigkeit, sondern - das haben Sie heute Morgen deutlich gemacht - diesmal ist es politischer Vorsatz. Sie wollten und wollen diese Kompromisslösung nicht umsetzen. Das, was Sie selbst - Herr Schmidbauer, Herr Kirschner, Frau Lotz und wie Sie alle hier sitzen - vor einem Jahr beschlossen haben, wollen Sie jetzt wieder rückgängig machen. ({1}) Ihr Argument lautet: Wir wollen zwar, aber wir können nicht. Seit Mai dieses Jahres weisen die Spitzenverbände der Krankenkassen auf die Probleme beim Beitragseinzug hin; sie haben eine konkrete Lösung vorgeschlagen. Daraufhin haben auch wir Sie angeschrieben, Frau Schmidt. Sie teilten uns mit, es bestehe kein Handlungsbedarf. Statt die Probleme zu lösen, haben Sie die Dinge vorsätzlich liegen gelassen und damit ganz bewusst die Verunsicherung der Bevölkerung in Kauf genommen. ({2}) Die Menschen vertrauen Ihren handwerklichen Fähigkeiten schon lange nicht mehr. Ich erinnere nur an das Chaos bei der Einführung der Praxisgebühr, ({3}) an die Ausnahmeliste für die nicht verschreibungspflichtigen Medikamente, an die Fahrkosten und an vieles mehr. ({4}) Frau Schmidt, insbesondere bei der Umsetzung dieses Kompromisses hat auch die Union schlechte Erfahrungen mit Ihrer Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit gemacht; Sie wissen das. Bereits im ersten Arbeitsentwurf zur Umsetzung des Kompromisses war die Pauschalprämie nicht enthalten. Von Anfang an waren Sie nicht gewillt - das haben Sie auch heute wieder mehr als deutlich gemacht -, diese Vereinbarung umzusetzen. Herr Müntefering hat das mit entsprechenden Aussagen noch untermauert. ({5}) Heute schieben Sie ein kleines technisches Problem vor, das man bei gutem Willen rechtzeitig hätte lösen können. ({6}) Vordergründig geht es Ihnen um einen unbürokratischen Beitragseinzug für Rentner und Arbeitslose. In Wahrheit geht es Ihnen aber schlicht und einfach um die Ablehnung des Kompromisses. In der Anhörung wurde das doch bestätigt. ({7}) Sie versuchen heute zum wiederholten Male, die Bevölkerung mit falschen Zahlen in die Irre zu führen. ({8}) Der Zahnersatz inklusive den Verwaltungskosten ist in der gesetzlichen Krankenversicherung für rund 7 Euro monatlich versicherbar. Die Behauptung, die Pauschalprämie führe zu enormen Verwaltungskosten - Sie haben das vorhin so genannt -, konnte von keinem der angehörten Experten mit belastbaren Zahlen belegt werden. Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man einfach das Gegenteil behauptet. Ein unbürokratischer Beitragseinzug wäre möglich gewesen, wenn die Bundesregierung noch vor der Sommerpause ein Gesetz in den Bundestag eingebracht hätte. ({9}) Laut Krankenkassen wären in der Summe nicht mehr Verwaltungskosten angefallen als beim prozentualen Sonderbeitrag, nämlich 40 bis 60 Cent. Ob die Spitzenverbände der Kassen, der VDR oder die Bundesagentur für Arbeit - alle haben in der Anhörung bestätigt: Ja, wir sind in der Lage, das umzusetzen, wir brauchen dafür aber einen Vorlauf von etwa fünf Monaten. Genau das haben sie Ihnen ja auch mitgeteilt. Es ist sicher sinnvoll, Fehler zu korrigieren. Es stellt sich aber schon die Frage, wo das Problem im GMG eigentlich gelegen hat. ({10}) Die Kassen haben betont, es sei der fehlende Quelleneinzug bei den Rentnern und bei den Arbeitslosen. Diese an sich kleine Lücke braucht keinen völligen Neuansatz. Die Sachverständigen haben in der Anhörung gesagt, dass sich dies leicht hätte korrigieren lassen. Auch wenn Sie das Gegenteil behaupten: Wir haben Sie aufgefordert, die Grundlagen dafür zu schaffen. Selbst der VDR hat diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Die Antwort der Ministerin lautete: Ich sehe derzeit keine Regelungslücken, die unverzüglich geschlossen werden müssten. ({11}) Durch Ihr anhaltendes Nichtstun tragen Sie die Verantwortung dafür, dass die Neuregelung nicht pünktlich zum 1. Januar 2005 umgesetzt werden kann, wie dies im Kompromiss vereinbart wurde. Es zeugt nicht von Geradlinigkeit und Verlässlichkeit in der Bundesregierung, wenn man uns Handlungsunfähigkeit vorwirft und gleichzeitig neun Monate lang die Hände in den Schoß legt und erst in einer Last-Minute-Aktion innerhalb von drei Tagen dem Parlament und den beteiligten Fraktionen drei verschiedene Vorschläge vorlegt. ({12}) Der Preis des Regierens heißt Verantwortung. Ihr Versuch, die Schuld für Ihre Untätigkeit bis hin zur Blockade der Union in die Schuhe zu schieben, ist schlichtweg unverschämt. Die Regelung des Kompromisses ist die bessere Lösung. Sie brächte mehr Wettbewerb, mehr Transparenz und vor allen Dingen mehr Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheit für die Versicherten. Davor wollen Sie die Menschen in unserem Land ja immer wieder bewahren. Das beweisen Sie heute einmal mehr. Das, was Sie heute vorschlagen, ist die eindeutig schlechtere Lösung; denn häufig werden die Menschen jetzt mehr zahlen. Einer solchen Mehrbelastung ohne Sinn und Verstand stimmen wir nicht zu. ({13}) Ein Mann mit einem Eintrittsalter von 30 Jahren zahlt in unserem Land in Zukunft 10,80 Euro pro Monat. Dabei habe ich die verpflichtende Senkung des allgemeinen Beitragssatzes schon mit eingerechnet. Nach dem Willen von Rot-Grün wird ein Sonderbeitrag von 0,9 Prozent fällig, an dem sich die Arbeitgeber nicht beteiligen. ({14}) Sie haben nur vom Zahnersatz geredet. Ich habe kein einziges Wort darüber gehört, dass Sie gleichzeitig einen Sonderbeitrag für das Krankengeld einführen wollen. ({15}) Dieser dilettantische Versuch ist an Perfidität nicht zu überbieten. ({16}) Ihnen geht es in Wahrheit nur darum, die Einführung des Arbeitnehmersonderbeitrags, für den die Rentnerinnen und Rentner in unserem Lande Beiträge zahlen müssen, ohne dafür je eine Leistung zu erhalten, aus dem Wahljahr 2006 herauszunehmen und in das Jahr 2005 zu legen, damit die Menschen nicht merken, was Sie hier für ein perfides Spiel betreiben. ({17}) Zusätzlich suggerieren Sie ein Nullsummenspiel; Sie würden ja die Kassen verpflichten, im Gegenzug die Beiträge um 0,9 Prozent zu senken. Erstens. Eine einseitige Erhöhung und eine paritätische Senkung ergeben unterm Strich eben keine Null. Zweitens. Die Kassen werden die Beiträge weder in diesem noch im ersten Halbjahr 2005 senken können. ({18}) Im Gegenteil: Einige Kassen werden die Beiträge sogar anheben, um sich die notwendige Liquidität zu verschaffen. Das kann man den Kassen auch nicht verdenken; denn sie sind verpflichtet, die Beiträge wirtschaftlich zu kalkulieren und die Verschuldung abzubauen. Haben Sie § 220 Abs. 1 SGB V überhaupt einmal gelesen, Frau Schmidt? Da heißt es: Die Beiträge sind so zu bemessen, dass sie zusammen mit den sonstigen Einnahmen die im Haushaltsplan vorgesehenen Ausgaben und die vorgeschriebene Auffüllung der Rücklage decken. Drittens. Eine Beitragssenkung für alle Kassen bestraft insbesondere diejenigen, die bereits früher als andere Kassen Mehreinnahmen, die sie durch höhere Zuzahlungen und andere Maßnahmen erreicht haben, in Beitragssenkungen weitergegeben haben. Im Ergebnis ist also eine zusätzliche Zwangsabsenkung ein nicht kalkulierbares Finanzrisiko für die Kassen. Neue Verschuldung und höhere Beiträge werden nicht lange auf sich warten lassen. Zudem widerspricht die Zwangsabsenkung - darauf haben in der Anhörung selbst die Arbeitgeber hingewiesen - der Selbstverwaltung unserer sozialen Sicherungssysteme. Für dieses Jahr kann man laut Berechnungen des Schätzerkreises der Krankenkassen allenfalls mit einem Überschuss von etwa 3 Milliarden Euro rechnen. Ein Teil dieser Summe muss jedoch, wie es im Kompromiss verlangt wird, für den Abbau der Schulden verwandt werden. Bislang haben die Kassen den Beitragssatz lediglich um 0,1 Prozentpunkte auf 14,2 Prozent gesenkt. Damit sind wir noch weit von der mit der Reform angepeilten Marke von 13,6 Prozent entfernt. Nach den aktuellen Berechnungen des Schätzerkreises wird es in diesem Jahr kaum noch zu Beitragssatzsenkungen kommen. Im Gegenteil: Im nächsten Jahr sollen die Beiträge wieder ansteigen. Die Arbeitnehmer werden damit - das sind die aktuellen Prognosen - einen Beitragsanteil von 7,5 Prozent zu tragen haben. 7,5 Prozent, das ist der höchste Beitrag, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals zu tragen hatten. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Wir haben der Gesundheitsreform nur unter der Bedingung zugestimmt, dass sich die Be- und Entlastungen für die Versicherten über die Laufzeit des Vertrages in etwa die Waage halten. ({19}) Diese Ausgewogenheit, Frau Ministerin, verletzen Sie; denn der Sonderbeitrag im Jahr 2005 führt zu einer Belastungskumulation, der auf der anderen Seite keine entsprechenden Beitragsentlastungen gegenüberstehen. Damit belasten Sie gerade die Geringverdiener in einem nicht akzeptablen Maß. Es gäbe noch viel zu sagen. Die Verschiebung der Arbeitskosten ist keine wirkliche Entkoppelung und fördert damit eben nicht Beschäftigung. Sie verschieben in einem ganz erheblichen Umfang die Parität. Der Anteil der Arbeitgeber beträgt nur noch etwa 47 Prozent und der der Arbeitnehmer etwa 53 Prozent. Sie setzen falsche Anreize, insbesondere wenn es darum geht, die Abwanderung freiwillig Versicherter in die private Krankenversicherung zu verhindern. Vielmehr provoziert Ihr Gesetzentwurf diese Abwanderung. Das ist Entsolidarisierung und hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. ({20}) Wir werden Ihre Kapriolen nicht mitmachen. Für dieses Theater bekommen Sie unsere Zustimmung nicht. Das müssen Sie im Alleingang machen. Die VerantworAnnette Widmann-Mauz tung für die zusätzlichen Belastungen der Versicherten tragen Sie ganz allein. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ein Vertrags- und Vertrauensbruch gegenüber den Wählerinnen und Wählern. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre schön, wenn auch die Union einmal Lernfähigkeit beweisen würde. ({0}) Denn wenn man feststellt, dass eine Lösung, die man gefunden hat, wenngleich auch in einem Kompromiss, unpraktikabel ist, sollte man eine bessere suchen. Ich behaupte: Wir in der Koalition haben sie gefunden und Ihnen heute vorgelegt. Die Lösung, die wir jetzt vorschlagen, ist erstens versichertenfreundlich, zweitens wettbewerbsfördernd und führt drittens zu einer Entlastung bei den Lohnnebenkosten, die sich alle Parteien zum Ziel gesetzt haben. ({1}) Erstens. Die Kopfpauschale hat, so wie sie verabredet war, gravierende Nachteile. ({2}) Sie bringt eine hohe Belastung für niedrige Einkommen. Wenn Sie, Frau Kollegin Widmann-Mauz, jetzt immer beklagen, dass bei der prozentualen Lösung für Einkommen nahe der Beitragsbemessungsgrenze Belastungen entstehen, kann ich Ihnen nur sagen: Es ist das Wesen des Solidarsystems, dass diejenigen, die mehr haben, auch mehr zahlen, dass eine Umverteilung von gut Verdienenden zu schlecht Verdienenden stattfindet. ({3}) Das wollen Sie mit Ihrem Kopfgeld abschaffen. Gerade das unterscheidet uns auch in der Perspektive der Gesundheitsversorgung. ({4}) Der spezifische Kompromiss mit der Kopfpauschale beim Zahnersatz hat aber, so hat sich gezeigt, zusätzlich zu den erwähnten Nachteilen einen unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand mit sich gebracht, den niemand ernsthaft vertreten kann. ({5}) Zweitens. Die neue Lösung ist wettbewerbsfreundlich. ({6}) Seien wir doch ehrlich, der Union war es unheimlich wichtig, die PKV, die private Krankenversicherung, irgendwie in den Gesamtkompromiss einzubringen. Aber der Kompromiss, den wir unter viel Ächzen in der letzten Nacht, die ich, anders als Herr Seehofer, nicht so schön fand, ({7}) zustande gebracht haben, bedeutete keinen Wettbewerb, weil es zwischen der GKV und der PKV keinen Wettbewerb gibt. Die gesetzlichen Krankenkassen müssen alle aufnehmen, auch wenn sie krank sind und nicht viel verdienen; die privaten Krankenkassen nehmen Versicherte nach der Theorie des Rosinenpickens auf. ({8}) Die einen erheben normalerweise einkommensabhängige Beiträge - das hätten wir in diesem Fall geändert -, die anderen erheben sowieso risikoadäquate Beiträge. Ein weiterer Nachteil war, Frau Kollegin, dass wir den Wettbewerb innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen in diesem Bereich stillgestellt haben; denn bei einem einheitlichen Betrag für den Zahnersatz hat keine Krankenkasse mehr wirklich Interesse daran, durch gute Beratung der Versicherten für wirtschaftliche Leistungserbringung zu sorgen. Das ist jetzt wieder anders. Drittens. Wir senken - das war ja ein gemeinsames Ziel - jetzt tatsächlich die Lohnnebenkosten. ({9}) Hier verstehe ich den Einwand der Krankenkassen nicht und ich verstehe noch weniger, Frau Kollegin, dass Sie ihn sich zu eigen machen. Es ist doch schlechterdings unverständlich, wenn einer Erhöhung des Beitrages um insgesamt 0,9 Beitragssatzpunkte, mit der die Versicherten allein belastet werden, nicht eine entsprechende Entlastung auf der Arbeitgeberseite, also beim allgemeinen Beitragssatz, gegenübersteht. Was sich die Kassen denken, wenn sie dagegen opponieren, ist mir wirklich nicht klar. Vielleicht muss man sie auch einmal daran erinnern, dass sie für die Versicherten da sind und nicht für sich selber. ({10}) Wenn man die Strategie der Union - Union ist eigentlich ein komisches Wort für diese Veranstaltung, ich glaube, Sie sind eher so etwas wie eine Koalition, aber eine sehr schlecht funktionierende; vielleicht überprüfen Sie einmal die Verträge ({11}) betrachtet, sieht man, dass die Ablehnung von CDU und - vielleicht? - CSU von keinerlei Sacherwägungen getrübt ist. ({12}) Wenn wir ehrlich sind, Frau Kollegin, geht es hier doch nur um die Gesichtswahrung für Frau Merkel, damit sie ihr Kopfgeld weiterhin als Perspektive hochhalten kann. ({13}) Eine Vorsitzende, die so sehr auf Gesichtswahrung angewiesen ist, muss schon arg schwach sein. Aber das ist Ihr Problem. ({14}) Vielleicht klären Sie einfach einmal die Führungsfragen; das ist meine Empfehlung an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dann bekämen Sie mehr Durchblick bei den Sachfragen und würden unserer Lösung beim Zahnersatz auch zustimmen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dieter Thomae, FDPFraktion.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kompromiss zwischen Rot-Grün und der CDU/ CSU über den Zahnersatz ist schon eine Tragödie. Das kann man wirklich sagen. ({0}) Jetzt zeigt sich, dass dieser Kompromiss überhaupt nicht haltbar war und, wie ich glaube, von Rot-Grün von Anfang an nicht gewollt war. Sie behaupten heute, ein Wettbewerb zwischen Versicherungen, die auf einem Umlageverfahren basieren, und Privatversicherungen sei nicht denkbar. Das ist ein vorgeschobenes Argument; denn der Zahnersatz sollte aus dem Leistungsumfang des gesetzlichen Systems ausgegliedert werden. Das wäre machbar. Die gesetzlichen Krankenversicherungen haben stets behauptet, dass sie das können. Sie hätten ihnen die Chance geben sollen, in einem vernünftigen Umfang in den Wettbewerb mit den privaten Krankenversicherungen einzutreten. ({1}) Die privaten Versicherungen haben erklärt, dass sie zwar am Anfang risikogerechte Prämien nehmen, aber jeden ohne Prüfung aufnehmen, der wechseln will. ({2}) Das war ein entscheidendes Argument, um den Wettbewerb zu befördern. Nun kommen wir zu dem zweiten Argument, nämlich dass die Rentenversicherung und die Bundesagentur so immense Verwaltungskosten sehen, dass das überhaupt nicht machbar ist. Ich habe in der Anhörung etwas ganz anderes gehört; ({3}) aber vielleicht bin ich schwerhörig. Ich habe zwar in der dritten Reihe gesessen, aber genau gehört, ({4}) dass es kein Problem für die BfA und für die Bundesagentur wäre, die Beiträge abzuführen. ({5}) Mich erschüttern an dieser Konzeption zwei Punkte: Erstens. Ich finde es schade, dass die Versicherten nicht die Möglichkeit haben, Wahlfreiheit in Anspruch zu nehmen. ({6}) Das ist eine der wichtigsten Präferenzen, die wir den Bürgern einräumen müssen. Dass es viele Bürger gibt, die diese Präferenz gerne nutzen wollen, ersehen Sie daran, dass schon 500 000 Verträge vorab abgeschlossen worden sind. Die Bürger sind gar nicht so unkritisch und unmündig, wie wir manchmal glauben und wie es die SPD haben möchte. ({7}) Zweitens. Die Bundesregierung macht ein Gesetz; aber von Rechtssicherheit kann nicht die Rede sein. Das Gesetz wird einfach wieder geändert, obwohl solche Verträge abgeschlossen worden sind. Jetzt sagen Sie den Bürgern in voller Euphorie, dass sie nächstes Jahr den Zahnersatz und das Krankengeld - das wird allerdings nicht Krankengeld genannt - selber finanzieren müssen. Anschließend soll der Bürger eine vernünftige Beitragssenkung bekommen. Ich sage Ihnen heute voraus, dass das nicht passieren wird. Die gesetzlichen Krankenkassen haben schon heute so große Probleme mit ihren Krediten, dass die Vorstände der Krankenkassen genau wissen, dass sie mit einem Fuß im Gefängnis sind, wenn sie eine Beitragssatzsenkung herbeiführen. Es ist der Öffentlichkeit nicht bekannt, wie hoch die Kreditaufnahmen waren, und wir wissen nicht genau, wie die Situation in den nächsten Monaten aussieht. Ihr Optimismus ist nicht angezeigt. Sagen Sie den Bürgern die Wahrheit! Sie haben vor der Wahl mit aller Macht niedrige Beitragssätze durchgesetzt, obwohl dies ökonomisch nicht vertretbar war. Sie versuchen heute noch, die Vorstände massiv zu zwingen, die Beitragssätze zu senken. Die Vorstände machen das aber nicht mit, weil die ökonomische Situation der Krankenkassen sehr instabil ist. Daher werden Sie keine Beitragssatzsenkung zum Wohle der Versicherten herbeiführen. ({8}) Ich möchte zum Abschluss sagen: Sie betreiben eine Politik im Gesundheitswesen, die schlimmer als Planwirtschaft ist. ({9}) Viele Beteiligte - sowohl Versicherte als auch Leistungserbringer - sagen mir: Das ist schlimmer, als wir es uns je vorgestellt hatten. Meine Damen und Herren von RotGrün, treiben Sie die Planwirtschaft voran! Ich hoffe, dass die Bürger bald erkennen, wohin das führt. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Horst Schmidbauer, SPD-Fraktion, das Wort.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern war unter der Überschrift „Die Messer der Frau Merkel“ in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen: In Deutschland sind die politisch Interessierten eine Minderheit und diejenigen, die zum Beispiel die Unterschiede zwischen Kopfpauschale, Stufenprämien und Bürgerversicherung kennen, eine kleine Minderheit. Wir haben heute eine gute Chance, diesen Bürgerinnen und Bürgern zu einer Mehrheit zu verhelfen, indem wir den Unterschied zwischen der Kopfpauschale und einer solidarischen Versicherung ihrer Zahnersatzleistungen klar machen. Diese Chance werden wir nutzen. ({0}) Die „Süddeutsche Zeitung“ hat noch nachgelegt. In dem Artikel heißt es weiter: Merkel will, dass der Generaldirektor genauso viel Krankenversicherung bezahlt wie die Putzfrau. ({1}) - Das ist ein Zitat vonseiten der CSU, lieber Herr Kollege Zöller. ({2}) Herr Stoiber ist mit dieser Aussage zitiert worden. Es geht darum, dass die Menschen draußen kapieren, dass es nicht sozial gerecht sein kann, wenn derjenige, der oben steht, und die kleine Frau unten den gleichen Betrag für den Zahnersatz bezahlen sollen. ({3}) Das wollen wir nicht, weil wir glauben, dass eine solche Regelung in Deutschland nicht akzeptiert wird. Die Menschen haben ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit. Dieses Gefühl dürfen wir nicht verletzen; wir müssen ihm vielmehr Rechnung tragen. Das ist aber nur dann möglich, wenn die Leistungsfähigkeit des Einzelnen berücksichtigt wird. Wir dürfen die Menschen nicht überfordern. Es geht nicht an, dass derjenige mit einem kleinen Einkommen einen größeren Anteil zahlt als jemand mit einem hohen Einkommen. Insofern ist eine prozentuale Regelung notwendig. ({4}) Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sehen es so wie ich. Ich möchte einer Rentnerin, die über 500 oder 600 Euro im Monat verfügt, in die Augen schauen können. Dies kann ich aber nicht, wenn ich als Abgeordneter und freiwillig Versicherter den gleichen Beitrag bezahle, den wir von dieser Rentnerin verlangen müssten. Das können wir nicht machen; das wäre sozial ungerecht. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Abgeordneter Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Widmann-Mauz? ({0})

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidbauer, Sie haben von den Augen gesprochen, in die Sie nicht mehr schauen könnten. ({0}) Können Sie mir erklären, wie zum Beispiel eine Rentnerin, die in einem Pflegeheim untergebracht ist, ihre nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel bezahlen soll? ({1}) Sie muss diese nämlich in dem gleichen Umfang bezahlen wie der leistungsfähigere Versicherte, dessen Einkommen die Beitragsbemessungsgrenze überschreitet. Hat der Grundsatz, der nun für den Zahnersatz gelten soll, bei Ihren damaligen Erwägungen auch eine Rolle gespielt? Denn wenn ich mich recht erinnere, kam dieser Vorschlag von Ihnen.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Widmann-Mauz, ich glaube, dass Ihr Beitrag mit dem Thema Zahnersatz wenig zu tun hat. ({0}) Ich glaube vielmehr, dass Sie sich letztendlich vor dem davonstehlen wollen, was Sie selbst mitbeschlossen haben. Das ist der kleine, aber feine Unterschied. Wir werden in der Frage des Zahnersatzes das vereinbarte Ziel beibehalten und mit dem von uns angestrebten Gesetz bis 2007 eine Senkung der Lohnnebenkosten um 9 Milliarden Euro erreichen. ({1}) Ich frage Sie umgekehrt, wieso Sie dieses gemeinsam vereinbarte Ziel nicht beibehalten wollen. Wir halten an diesem Ziel fest, die Lohnnebenkosten zu senken, und zwar um 9 Milliarden Euro bis 2007. ({2}) Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, den ich für wichtig halte. Wir müssen darauf achten, dass Aufwand und Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Ich frage mich, wodurch es zu rechtfertigen wäre, 25 oder 30 Prozent der Beiträge für Bürokratie aufzuwenden. Dabei geht es schließlich um das Geld der Beitragszahler. ({3}) - Das kann man doch nachrechnen, Herr Kollege Zöller. So schwierig kann die Rechnung doch nicht sein. Sie ist auch in der Anhörung in aller Breite erläutert worden. Je nach Kassenart sind 25 bis 30 Prozent der Beiträge für Bürokratie aufzuwenden. ({4}) Wir wollen nicht, dass Beiträge für einen erhöhten Bürokratieaufwand missbraucht werden; wir wollen vielmehr, dass die Beiträge denjenigen zufließen, denen sie zustehen, nämlich dem Zahnarzt oder dem Zahntechniker. Das muss unser Ziel sein. Wir wollen das Geld nicht für Bürokratie, sondern für medizinische Leistungen aufwenden. Das ist der ganz entscheidende Punkt. ({5}) Wer das Ganze noch immer nicht rechnerisch nachvollziehen kann, der sollte sich Folgendes vor Augen führen: Wenn ein fester, einkommensunabhängiger Sonderbeitrag erhoben würde, müssten 20 Millionen Sonderkonten in Deutschland eingerichtet, geführt und verwaltet werden. ({6}) Dass das Geld kosten würde, dürfte jedem einleuchten. So etwas ist also unnötig. Aber in Ihrer Fraktion überwiegt die Zahl derjenigen, die den ideologischen Ansatz einer Kopfpauschale favorisieren. Sie sind selbst dann nicht bereit, unserem Vorschlag zuzustimmen, wenn damit das Ziel erreicht wird. Wir halten unseren Vorschlag auch im Hinblick auf die Akzeptanz für richtig. Da Geben und Nehmen Hand in Hand gehen müssen, haben wir, die Koalition, darauf geachtet, dass zum Stichtag 1. Juli 2005 - von da an wird ein einkommensbezogener Sonderbeitrag erhoben - den gesetzlich Krankenversicherten auch etwas gegeben wird. Wir schreiben den gesetzlichen Krankenkassen deshalb vor, den durchschnittlichen allgemeinen Beitragssatz um 0,9 Prozentpunkte zu senken. Diese Form des Gebens und Nehmens gehört zur Redlichkeit und wird die soziale Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger finden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hildegard Müller?

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Müller, bitte.

Hildegard Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003598, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schmidbauer, Sie haben gerade von Redlichkeit und von einem Verwaltungskostenanteil von 25 bis 30 Prozent gesprochen. Wenn ich darf, möchte ich gerne den Sachverständigen Herrn Schulte zitieren. Er hat in der Anhörung gesagt, dass bei einem festen, einkommensunabhängigen Sonderbeitrag in Höhe von 6,22 Euro mit einem Verwaltungsmehraufwand in Höhe von maximal 60 Cent pro Mitglied zu rechnen ist. Keiner der anwesenden Experten hat eine andere Zahl genannt. Wie kommen Sie also auf einen Verwaltungskostenanteil von 25 bis 30 Prozent?

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben allem Anschein nach nicht zugehört, als die anderen Sachverständigen - der Krankenkassen, der Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit geredet haben. Sie können doch nicht die Aussagen eines von Ihnen bestellten Sachverständigen für verbindlich erklären. ({0}) Verbindlich können sich nur diejenigen äußern ({1}) - das stimmt nicht -, die die Spitzenverbände der Krankenkassen, die Rentenversicherungsanstalten sowie die Bundesagentur für Arbeit vertreten. In der Anhörung ist doch ganz deutlich geworden, dass der Einzug eines festen, einkommensunabhängigen Sonderbeitrags zu Verwaltungsmehrkosten in Höhe von 1,50 bis 2 Euro pro Mitglied führen würde. Das muss man natürlich additiv sehen. Aber ich denke, dass Sie zusammenzählen können. Der Anteil der Verwaltungsmehrausgaben bei einem Beitrag von etwas über 6 Euro wäre entsprechend hoch. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. ({2}) Sie wollen das nur nicht wahrhaben, weil es Ihnen wehtun würde, das zuzugeben. Sie geben zwar ständig vor, gegen Bürokratisierung zu sein. Aber im gleichen Atemzug wollen Sie hier einer Lösung zum Durchbruch verhelfen, durch die das Geld der Versicherten letztendlich in die Bürokratie und nicht in die medizinischen Leistungen fließt. Das werden wir nicht mitmachen. Es wird also keinen gemeinsamen Weg geben. ({3}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Vertrauensschutz. ({4}) Da es neue gesetzliche Rahmenbedingungen geben soll - in dieser Hinsicht haben wir von Ihrem Verhalten 1988 gelernt -, belassen wir es nicht bei Absichtserklärungen, sondern schaffen mit dem Gesetz ein Sonderkündigungsrecht, damit wir auch denjenigen, die bereits eine Zahnersatzversicherung abgeschlossen haben, die also nicht dem Ratschlag gefolgt sind, damit zu warten, bis die Kosten für den Zahnersatz offen liegen, Vertrauensschutz geben. Ich glaube, es ist gut und richtig, dass der Streit nicht auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen wird. Ich glaube, die Perspektiven sind gut. Es wäre auch gut, wenn Sie angesichts des Ziels bereit wären, Ihren ideologischen Ansatz aufzugeben, und unserem Vorschlag zustimmen würden. Das würde auch Ihre Akzeptanz in der Bevölkerung verbessern. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Schmidbauer, vielleicht liegt es am Thema Zahnersatz, dass man hier so verbissen diskutiert. ({0}) Man sollte allerdings bei der Wahrheit bleiben. Sie haben hier kein einziges Argument vorgetragen, das man nicht schon vor einem Jahr kannte. Sie hätten vor einem Jahr anders abstimmen müssen. Es ist unredlich, sich hier in einer Abstimmung für eine bestimmte Regelung auszusprechen, und sich jetzt hier hinzustellen und so zu tun, als wollte man mit dieser Regelung nichts zu tun haben. ({1}) Man kann fachlich unterschiedlicher Auffassung sein. Mir geht es aber auch hier um die Verlässlichkeit unter den Parlamentariern. ({2}) Wir unterhalten uns jetzt über eine Änderung beim Zahnersatz. Dieser Änderung haben 90 Prozent der Abgeordneten zugestimmt und jetzt will sich die SPD davonschleichen. ({3}) Das sah vor drei Monaten noch ganz anders aus. Der Bundeskanzler antwortete in einem Interview mit dem „Spiegel“ im Juli dieses Jahres, also vor nur drei Monaten, auf die Frage, ob die SPD noch zu ihrem Wort hinsichtlich der Einführung der Zusatzversicherung für Zahnersatz stehe: Ich bekomme ja gelegentlich den Hinweis, man könne Vermittlungsergebnisse, die Gesetz geworden sind, später ändern, indem man aus Einzelteilen des Verabredeten neue Gesetze macht, die im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig sind. Da kann ich nur sagen: Das geht nicht. Wenn man in unserem Verfassungsgefüge in einem Vermittlungsverfahren einen Kompromiss erzielt, muss man ihn auch in den Punkten einhalten, wo er einem nicht gefällt. … Im Klartext: Pacta sunt servanda - das soll heißen - ich wusste es vorher nicht -: Verträge sind einzuhalten. ({4}) das gilt für die Opposition, das gilt auch für die Bundesregierung. Noch am 18. August erklärte der Bundeskanzler in der „Berliner Zeitung“ zu Forderungen aus Reihen der SPD, die Neuregelung beim Zahnersatz notfalls gegen den Willen der Union zu ändern: „Wir werden einseitig keine Absprachen brechen.“ Was ist das Wort des Bundeskanzlers und der rot-grünen Regierung eigentlich noch wert? ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Caspers-Merk?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Freuden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Caspers-Merk, bitte.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zöller, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass uns Ihre eigene Parteivorsitzende in einem Brief aufgefordert hat, hierzu einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen? Sind Sie ebenfalls bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass sie in diesem Brief ebenfalls mitgeteilt hat, dass die Union bereit ist, die neuen Regelungen zu prüfen, wenn die bisher geplante in der Tat zu viel bürokratischen Aufwand mit sich bringt, und dass wir genau dem Folge leisten?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bestätige Ihnen das. Ich füge aber hinzu, dass das, was Sie inhaltlich zu vermitteln versuchen, falsch ist. Ich habe den Brief dabei, den die Ministerin Schmidt an Frau Merkel geschrieben hat. Die Zeit für die Beantwortung dieser Frage wird nicht auf meine Redezeit angerechnet. Das ist hervorragend. In diesem Brief heißt es, monatliche Verwaltungskosten in Höhe von 2 Euro seien notwendig. In der Anhörung haben wir erfahren, dass monatliche Verwaltungskosten in Höhe von 0,4 Euro bis 0,6 Euro notwendig seien. Daraufhin haben Sie geschrieben, es fielen Verwaltungskosten in Höhe von insgesamt 1,2 Milliarden Euro an. Das ist richtig, falls die monatlichen Verwaltungskosten bei 2 Euro liegen, aber eben nicht, falls sie bei 0,4 Euro liegen. Ein ganz entscheidender Fehler ist, von einer Größenordnung von 4 bis 5 Euro pro Mitglied auszugehen - das wird jetzt fast verdoppelt -: Da hat die Ministerin wieder Mitglieder und Versicherte verwechselt. Dabei handelt es sich aber um einen gravierenden Unterschied; denn es gibt beitragsfreie Mitversicherte. Das heißt: Man hat hier entweder ganz bewusst mit falschen Zahlen gespielt oder man wollte den Kompromiss von vornherein einfach aufkündigen. ({0}) Ich will Folgendes ganz ernst sagen: ({1}) Damit wird die Akzeptanz von Reformen gebrochen. Die Akzeptanz von Reformen bekommt man nur, wenn man auch das nötige Vertrauen hat. Was sollen die Bürger davon halten, dass eine Änderung im Konsens beschlossen wird, woraufhin 500 000 Menschen Verträge abschließen, die dann nicht mehr gelten sollen? Was hat das noch mit Vertrauen zu tun? Es tut mir Leid, diese Fragen stellen zu müssen. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus fachlichen Gründen ist nicht erkennbar, warum man jetzt beim Zahnersatz Änderungen will. Ein Bereich, den man herausnehmen und klar abgrenzen kann und bei dem Versicherte durch ihr eigenes Verhalten etwas dazu beitragen können, ist gerade der des Zahnersatzes. ({3}) Wenn Sie unbedingt etwas ändern wollen, bei dem sich die gesetzliche Regelung als nicht sinnvoll erwiesen hat, dann hätten Sie fairerweise die Regelungen zum OTC, das heißt zu den nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, ändern müssen. ({4}) In diesem Bereich können die Leute durch ihr persönliches Verhalten nichts ändern und nichts beeinflussen. Wenn man etwas für die Versicherten hätte tun wollen, wäre eine solche Änderung redlicher gewesen. ({5}) All dies betrifft auch die Wahlfreiheit: Jetzt hätten wir endlich einmal wieder die kleine Chance gehabt, etwas Wettbewerb zwischen privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen in das System zu bringen. Aber das wollen Sie leider verhindern. Ich halte es auch nicht für in Ordnung, wie hier heute bei der Debatte vorgegangen wurde. Eine Regelung wurde im Konsens beschlossen und es wurde rechtzeitig darauf hingewiesen, dass man, wenn man die im Konsens gefundene Regelung unbürokratisch umsetzen will, auch dementsprechend handeln muss. 20 Millionen Einzelkonten sind nur dann erforderlich, Herr Kollege Schmidbauer, wenn die Regierung untätig bleibt. Wäre die Regierung tätig geworden und hätte sie den Quellenabzug gesetzlich geregelt, hätte es nie die Notwendigkeit gegeben, 20 Millionen Einzelkonten zu führen. Man muss also erst seine Hausaufgaben machen und darf nicht eine Regelung, die aufgrund des Nichtstuns der Bundesregierung so ausgeartet ist, als Begründung dafür nehmen, eine gesetzliche Änderung vornehmen zu müssen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch über die aus der Anhörung gezogenen Schlussfolgerungen bin ich schon ein wenig überrascht. Es kann doch nicht sein, dass man ein und dieselbe Anhörung so unterschiedlich wahrnimmt. ({6}) Es ist nachlesbar, dass die Sachverständigen bezüglich der Frage des Bürokratismus gesagt haben, dass es ohne weiteres unbürokratisch zu machen gewesen wäre. Auch die hierfür veranschlagten Kosten wurden genannt: zwischen 0,4 und 0,6 Euro und eben nicht 2 Euro. Selbst die Vertreter der von Ihnen hofierten Spitzenverbände haben konkrete Vorschläge unterbreitet, wie ein unbürokratisches Verfahren in diesem Bereich hätte aussehen können. Dies wurde Ihnen mitgeteilt. Es wurden sogar Gesetzestextformulierungen präsentiert. Was hat die Regierung gemacht? Nichts. Deshalb liegt für mich der Verdacht sehr nahe, dass von Anfang an überhaupt kein Interesse bestand, diese gemeinsam beschlossene Lösung umzusetzen. Ein möglicher Grund - lesen Sie einmal die Anhörungsprotokolle nach - dafür kam in der Anhörung zur Sprache. Ich darf Herrn Dr. von der Heide vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger zitieren: Wir haben vielmehr darauf hingewiesen, dass es erhebliche Probleme geben kann, nämlich für die Rentner, weil die Rentner diesen Einzug - gemeint ist der Einzug der Prämie im Quellenabzugsverfahren als Rentenkürzung empfinden würden. Darauf haben wir hingewiesen; das ist, denke ich, von der Regierung auch aufgenommen worden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie waren nicht bereit, den Rentnern die Wahrheit zu sagen. ({7}) Das eigentliche Problem ist also ein rein parteitaktisches und kein fachtechnisches. ({8}) Rot-Grün möchte die Belastung der Rentner in zwei Stufen wie ursprünglich aus Zumutbarkeitsgründen geplant - wir wollten ja am 1. Januar 2005 die Regelungen zum Zahnersatz und am 1. Januar 2006 die Regelungen zum Krankengeld in Kraft setzen - nicht mehr mitverantworten. Dabei haben wir ganz bewusst dieses zweistufige Verfahren vorgesehen, weil die Wahrscheinlichkeit groß war, dass zum 1. Januar 2005 und dann wiederum zum 1. Januar 2006 aufgrund unseres Finanzierungstableaus die Beiträge gesenkt werden und so höchstens eine geringe stufenweise Belastung der Rentner erfolgt. Das wollen Sie nicht mehr mittragen. Sie bündeln jetzt beide Maßnahmen und legen den Start - das ist hochinteressant - auf den 1. Juli 2005, also nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und weit vor den Bundestagswahlen. Rot-Grün hat inzwischen Angst vor den eigenen Reformen. ({9}) Aber diese Feigheit wird Sie noch einholen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. ({0}) Zum Thema Zahnersatz gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Ich fange mit der guten an: Es wird keine Kopfpauschale auf den Zahnersatz geben, wie es die CDU gefordert und SPD, Grüne und CDU/CSU schon einmal beschlossen hatten. Das ist ein Erfolg für die Gesundheitsministerin, Frau Schmidt, vor allem aber für die vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich massiv gegen die Praxisgebühr und damit gegen die schleichende Demontage des solidarischen Gesundheitssystems gewandt haben. ({1}) Die schlechte Nachricht ist allerdings: Der Zahnersatz soll nicht mehr paritätisch finanziert werden. Die Arbeitgeber werden mehr und mehr aus der Verantwortung entlassen. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Rogowski, hat den Kurs in einem „Zeit“-Interview schon vorgegeben. Zitat: Unternehmen sollen Arbeit schaffen, während die Beschäftigten die soziale Sicherung und das Gesundheitssystem selbst finanzieren. Das heißt, die Herausnahme des Zahnersatzes und des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung ist erst der Anfang. Der BDI und die CDU wollen das gesamte Gesundheitssystem und die soziale Sicherung den Arbeitnehmern überlassen und die Unternehmen völlig aus der Verantwortung herausnehmen. Wir, die PDS, lehnen diese Forderung ab. Wir sind aber auch besorgt, dass die Bundesregierung offensichtlich bereit ist, einen Teil des Weges mit dem BDI und der CDU zu gehen. Es wird immer wieder behauptet, das alles sei alternativlos, wenn man Arbeitsplätze erhalten wolle. Es wird gern von Lohnnebenkosten gesprochen, die gesenkt werden müssten. Doch auch Lohnnebenkosten sind Lohnkosten. Wer die Lohnnebenkosten senkt, senkt den Lohn. Wenn die Arbeitnehmer den Beitrag des Arbeitgebers zum Zahnersatz mitfinanzieren müssen, dann ist das eine direkte Lohnsenkung. Auch wir als PDS sehen, dass in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit und der demographischen Entwicklung die Finanzierung der Sozialsysteme neu gestaltet werden muss. Wir wollen allerdings nicht die Sozialsysteme abbauen, sondern die Finanzierung auf mehr Schultern verteilen. ({2}) Wir, die PDS, schlagen vor, dass in eine Bürgerversicherung alle einzahlen und nicht nur die abhängig Beschäftigten. Meine Damen und Herren, auch wenn das Gesetz gegenüber der Kopfschale auf Zahnersatz eine Verbesserung darstellt, werden wir nicht zustimmen, weil das ein Schritt in Richtung weniger Solidarität und weniger soziale Gerechtigkeit im Gesundheitssystem ist. Wir brauchen die paritätische Finanzierung, wir brauchen die Bürgerversicherung. Sie haben sie schon lange angekündigt; ({3}) arbeiten Sie bitte daran und legen Sie sie noch in dieser Legislaturperiode vor! Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Kirschner, SPDFraktion. ({0})

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich greife gern ein Wort vom Kollegen Zöller auf. Warum hier so „verbissen“ gekämpft wird, ({0}) kann ich gut verstehen; denn es geht natürlich um die Grundsatzfrage: Kopfpauschale oder weiterhin solidarische Finanzierung? Dazu kann ich Ihnen ein Zitat aus einem Interview in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. September mit Professor Böhmer, seines Zeichens Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, CDU - er war mir früher schon sympathisch, jetzt wird er mir immer sympathischer -, ({1}) nicht ersparen: Das Modell von Frau Merkel ist durch das Thema Zahnersatz angeschlagen. Heute - auch das gehört dazu - können Sie in der „Frankfurter Rundschau“ nachlesen: Ministerpräsident Wolfgang Böhmer ({2}) verglich das Vorhaben seiner Partei, eine einheitliche Gesundheitsprämie einzuführen, mit dem Gesundheitssystem der DDR, wo jeder Bürger eine Pauschale von 60 Mark pro Kopf zahlen musste. ({3}) Da dies aber nicht ausgereicht habe, sei auch das DDR-Modell von der Steuerfinanzierung abhängig gewesen. Dies habe dann „schnell dazu geführt, dass die Gesundheitsversorgung nach Haushaltslage erfolgte“. So Böhmer. ({4}) In der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. September steht: Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss auf eine neue Basis gestellt werden. Da müssten Sie jetzt eigentlich klatschen. Es klingt sympathisch, wenn gesagt wird: Wir finanzieren den Sozialausgleich über Steuern. Sie haben aber nicht gesagt, wie man mit einer Steuerreform, die dem Bürger mehr lassen will, gleichzeitig mehr einnehmen kann. Ich sage noch einmal: Böhmer ist richtig sympathisch. ({5}) Ich komme auf das eigentliche Thema zurück. Die gute Nachricht für die Versicherten lautet: Leistungen für Zahnersatz werden wie bisher von der gesetzlichen Krankenkasse bezuschusst. Das heißt, es ist eine Kassenleistung. Die bei den Verhandlungen zum GKV-Modernisierungsgesetz im letzten Sommer von der CDU/ CSU verlangte Einheitskopfpauschale für den Zahnersatz wird gestrichen. Die gute Nachricht ist - ich wiederhole es -: Der Zahnersatz bleibt Kassenleistung ({6}) und der Beitrag wird weiterhin solidarisch - in Höhe von 0,4 Beitragssatzpunkten von dem beitragspflichtigen Entgelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze - erhoben. Damit tragen stärkere Schultern mehr als schwache. Ich will nicht verschweigen: Die Finanzierung des Zahnersatzes und die Erhebung des Sonderbeitrags ab 1. Juli zahlen allein die Versicherten. Dadurch erfährt der allgemeine Beitragssatz jedoch eine Entlastung um 0,9 Beitragssatzpunkte. Ich sage deutlich: Damit sind die Kassen in der Pflicht, den allgemeinen Beitragssatz entsprechend zu senken. Ich will an dieser Stelle für die Koalition feststellen: Diese Absenkung durch die Neufassung des § 241 a des Sozialgesetzbuches V hat Vorrang vor der Entschuldung nach § 220 Abs. 4 und § 222 Abs. 5 Sozialgesetzbuch V. Die Aufsichten - das will ich deutlich betonen - haben dies zu beachten. Eine Blockade widerspricht eindeutig dem Willen des Gesetzgebers. Ich sage auch deutlich: Wenn unionsgeführte Länderministerien glauben, hier verdeckte Beitragssatzsteigerungen anordnen zu können, indem diese Absenkung um 0,9 Prozentpunkte, die - wohlgemerkt - für die Kassen finanzneutral ist, nicht voll umfänglich durchgeführt wird, handeln sie in höchstem Maße verantwortungslos, schädigen Versicherte sowie Arbeitgeber und gefährden den Erfolg des gemeinsam beschlossenen GKV-Modernisierungsgesetzes. Das will ich deutlich sagen. ({7}) Lassen Sie mich noch zu dem Argument kommen, das auch heute Morgen vorgebracht worden ist und das den prozentualen Beitrag bzw. den Einheitsbeitrag betrifft. Es ist auch von Ihnen, Frau Kollegin WidmannMauz, gesagt worden, freiwillig Versicherte würden wegen des prozentualen Beitragssatzes von 0,4 Prozent für Zahnersatz möglicherweise in die PKV wechseln, weil sie mehr bezahlen müssten als bei einer Einheitskopfpauschale für Zahnersatz, die zwischen 8 und 10 Euro liegt. Wer so etwas sagt, dem kann ich nur entgegenhalten - auch Horst Seehofer hat das einmal getan -: Das ist das typische Denken einer Ich-Generation. Anders kann ich das nicht bezeichnen. ({8}) Gehen wir einmal von 8 Euro für die Zahnersatzkopfpauschale aus. Die Altersrente einer Rentnerin beträgt im Durchschnitt 500 Euro. 8 Euro sind das Vierfache dessen, was ihr bei einem Beitragssatz von 0,4 Prozent abverlangt würde. ({9}) - Entschuldigung, wenn es 8 Euro sind, dann sind es 8 Euro. ({10}) - Damit widerlegen Sie mein Argument nicht. Es muss uns doch darum gehen - das ist das durchgängige Prinzip der gesetzlichen Krankenversicherung -, dass diejenigen mit den breiteren Schultern mehr zu tragen haben als diejenigen mit den schwächeren Schultern. ({11}) Ich sage noch einmal: 8 Euro sind das Vierfache von dem, was bei 0,4 Beitragssatzpunkten im Falle der Durchschnittsrente von Frauen herauskommt. ({12}) - Man kann ja auch schlauer werden. ({13}) - Ja sicher. Wo sind wir denn eigentlich? Wieso soll man nicht innerhalb eines Jahres Regelungen überprüfen und zu dem Schluss kommen, dass eine Änderung notwendig ist? Es ist vorhin von Frau Staatssekretärin CaspersMerk aus dem Brief von Frau Merkel zitiert worden, in dem sie geschrieben hat, man solle darüber nachdenken. Freiwillig Versicherte wie ich bringen diese 0,4 Prozent - ich bin ein freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung; das macht bei mir in etwa 14 Euro aus ({14}) - auch bei Ihnen; das weiß ich ({15}) leicht auf; das bringt mich nicht an den Bettelstab. Das ist gerechter, als pauschal 8 Euro zu verlangen. Das ist für mich ungerechter, als so wie jetzt 14 Euro zahlen zu müssen. Ich sage es noch einmal: Wir gehen vom Kern des Solidarprinzips aus. Deshalb fordere ich Sie auf, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU: Springen Sie über Ihren ideologischen Schatten! ({16}) - Natürlich handelt es sich hierbei um einen ideologischen Schatten. Denn Sie wollen mit den von Ihnen geforderten 8 Euro den Einstieg in die Kopfpauschale, wonach der Generaldirektor letzten Endes genauso viel zahlen soll wie die Putzfrau. ({17}) Das ist doch unsolidarisch. Deshalb fordere ich Sie auf: Springen Sie über Ihren ideologischen Schatten und stimmen Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zu! ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz auf Drucksache 15/3681: Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? ({0}) Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf Präsident Wolfgang Thierse ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Johannes Singhammer, Klaus Hofbauer, KarlJosef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Klarstellung der Auswirkungen der EU-Osterweiterung - Drucksachen 15/2438, 15/3015 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Bevor ich aber das Wort erteile, bitte ich die Kollegen, die den Plenarsaal verlassen wollen, sich zu beeilen, damit der Redner in Ruhe argumentieren kann. Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Beitritt von zehn Staaten zur Europäischen Union zum 1. Mai 2004 hat die Einigung Europas einen ganz gewaltigen Schritt nach vorne getan. Man spricht sogar davon, dass dies die wichtigste Entscheidung seit Gründung der Europäischen Union ist. Dieses Ereignis ist für unser Vaterland historisch, ist doch Deutschland vom Rande in die Mitte Europas gerückt. Mit der Einigung Europas sind viele positive Impulse verbunden. Auf unserem Kontinent werden damit Frieden und Freiheit gesichert bzw. gestärkt. Ein Europa ohne wirtschaftliche Grenzen schafft umfassende Entfaltungsmöglichkeiten. Entscheidend sind die vielfältigen menschlichen und kulturellen Kontakte, die wir miteinander erleben. Wir dürfen feststellen, dass die Einigung Europas, wenn sie richtig gestaltet wird, zu einer Erfolgsgeschichte auf unserem Kontinent werden kann. ({0}) Aber dieser Erfolg ist nur dann möglich, wenn das vereinte Europa bzw. der Einigungsprozess richtig gestaltet wird. Entscheidend ist für uns, dass wir auch zur Kenntnis nehmen: Mit dem 1. Mai 2004 ist der Einigungsprozess nicht abgeschlossen. Wir haben noch ganz gewaltige Aufgaben vor uns, um die Einigung zu vollenden bzw. den Erfolg überhaupt zu ermöglichen. ({1}) Erlauben Sie mir, einige Beispiele dafür anzuführen und kurz zu erläutern: Wir haben erheblichen Nachholbedarf bei der Verkehrsstruktur, insbesondere im Hinblick darauf, diese Verkehrsstruktur auf die europäische Einigung auszurichten. Bei der Diskussion um den Bundesverkehrswegeplan sowie bei der Diskussion um verschiedene Gutachten und Konzepte wird immer wieder festgestellt: Im vereinten Europa wird es infolge der Osterweiterung eine Zunahme des Güterverkehrs von 200 bis 300 Prozent geben. Die ersten Monate haben bereits gezeigt, dass diese Zahlen übertroffen werden. An den Grenzübergängen zwischen Bayern und Böhmen ist im Güterverkehr bereits nach fünf Monaten eine Steigerung um 20 Prozent festzustellen. Deswegen ist unsere zentrale Forderung: Wir brauchen „Verkehrsprojekte Europäische Einheit“. Sie müssen nicht nur im Bundesverkehrswegeplan niedergeschrieben, sondern auch finanziell unterfüttert werden. ({2}) Diese Verkehrsprojekte müssen tatsächlich verwirklicht werden. Dazu sind wir aufgerufen! ({3}) Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die Bahn ansprechen. Die Bahn ist nicht europafähig. Sie selbst stellen in Ihrer Antwort auf eine Anfrage der Kollegen von der FDP-Fraktion fest, dass es bei der Europäisierung der Bahn einen erheblichen Nachholbedarf gibt. ({4}) Wir brauchen - das hat die Bundesregierung selbst festgestellt - einen gemeinsamen, einheitlichen europäischen Eisenbahnraum. Ich fordere die Bundesregierung auf, diese Aussage zu untermauern bzw. Taten folgen zu lassen. ({5}) - Aber sehr langsam und nicht zielstrebig genug! Sonst könnten wir nicht noch fünf Monate nach der EU-Osterweiterung auf diesem Stand sein. Zum Beispiel können Loks nicht grenzübergreifend fahren. So weit sind wir im Hintertreffen! ({6}) Auf dem Arbeitsmarkt gibt es unheimliche Verwerfungen. Insbesondere in den Grenzregionen gibt es ganz gewaltige Lohngefälle. Die Lohnunterschiede bereiten momentan nicht der Industrie, sondern insbesondere dem Mittelstand erhebliche Schwierigkeiten. Wenn Sie in Tschechien ein Auto reparieren lassen, dann kostet es - bei gleicher Qualität - ein Drittel von dem, was auf deutscher Seite verlangt werden muss. Das bedeutet, dass auf deutscher Seite Wirtschaftskraft abgezogen wird. Auf diese Situation geht die Bundesregierung leider Gottes überhaupt nicht ein. ({7}) Als einen weiteren Punkt möchte ich die europäische und die nationale Strukturpolitik ansprechen. Wir stehen vor einer gewaltigen Reform. Die europäische Strukturpolitik wird neu gestaltet. Wir müssen uns auch auf nationaler Ebene einige Gedanken machen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Umsetzung der Ergebnisse der Föderalismuskommission einige EinKlaus Hofbauer schnitte mit sich bringen wird. Gerade wegen des Einigungsprozesses in Europa müssen wir klare Konzepte für eine europäische und eine nationale Strukturpolitik haben. Der Einigungsprozess muss gestaltet werden. Die Bundesregierung muss insbesondere bei der Europäischen Union eine eigene Strategie vorlegen. Momentan ist eine eigene Strategie nicht erkennbar. Wir brauchen Spielräume auf nationaler Ebene. Dies zu erreichen ist eine große Herausforderung. ({8}) Das vereinte, erweiterte Europa hat riesengroße Chancen. Diese Chancen müssen wir aber nutzen. Wir müssen das vereinte Europa gestalten! Dazu sind wir aufgerufen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der friedlichen Einigung Europas wird ein jahrhundertealter Traum Wirklichkeit, ein Traum, den große Europäer - wie Willy Brandt, Helmut Kohl und HansDietrich Genscher - teilten. Am 1. Mai wurde mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten und der damit verbundenen Überwindung der Teilung, mit der Vereinigung Europas, der lange Weg der Völker zu guter Nachbarschaft, zum freien Austausch von Waren und Ideen und zu einer zuvor nie gekannten Intensität der politischen Zusammenarbeit endgültig frei. ({0}) Mit der Erweiterung entstand zugleich ein Europa, das nicht nur ökonomisch ein Global Player ist, sondern das weltweit an Bedeutung und Einfluss gewinnt. Möglich wurde diese Entwicklung durch den beherzten Einsatz der Menschen in Polen, in Ungarn und in der damaligen DDR, die Mut zeigten, um Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung zu erkämpfen. ({1}) Die Entschlossenheit der Länder Mittel- und Osteuropas, der EU angehören zu wollen, zeigt die Attraktivität europäischer Integration, zeigt die Attraktivität des Erfolgsmodells eines friedlichen Interessenausgleichs auf der Grundlage von Demokratie, gemeinsamen Werten, Marktwirtschaft und der Möglichkeit zur Teilhabe am größten Binnenmarkt der Welt. Diese Entschlossenheit zeichnet viele der neuen Mitgliedstaaten bis heute aus. Millionen von Menschen verloren dort die Sicherheit eines geradlinigen, planbaren Lebensverlaufs. Zugleich entstanden aber neue, bessere Möglichkeiten, sich zu entfalten und sein Leben selbst zu gestalten. Etwas mehr von der Dynamik und Veränderungsbereitschaft, die in vielen neuen Mitgliedstaaten zu beobachten ist, wünschte ich mir manchmal auch bei uns. ({2}) Deutschland profitiert von der positiven Entwicklung und der wirtschaftlichen Dynamik in den mittel- und osteuropäischen Ländern in besonderem Maße. Seit 1992 haben sich unsere Exporte dorthin verfünffacht. Die Steigerungsraten sind bei einem Vergleich mit unseren traditionellen Handelspartnern noch eindrucksvoller. Schon heute ist der Warenaustausch mit den neuen Mitgliedstaaten größer als mit den USA. Unseren Titel als Exportweltmeister verdanken wir nicht zuletzt dem Erfolg auf neuen Märkten. Zugleich haben sich viele Befürchtungen, die mit der Erweiterung verbunden waren, nicht bewahrheitet. So stieg etwa die Zahl der Beschäftigten in der Automobilindustrie, die zu den größten Investoren in den Beitrittsländern zählt, in Deutschland von 1994 bis heute um rund 20 Prozent. Ich weiß natürlich, dass es trotz der insgesamt positiven Bilanz Sorgen der Bürgerinnen und Bürger gibt. Wir nehmen diese Sorgen ernst. Es gilt, die Herausforderungen zu benennen, sie aber nicht nur zu beklagen, sondern anzugehen. ({3}) Es gilt, zu erkennen, dass die EU zumeist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung ist. So ist grenzüberschreitende Kriminalität, die Sie in Ihrer Großen Anfrage thematisiert haben, kein Problem, das mit der Erweiterung entstanden ist. Sie ist zum Teil Folge offener Grenzen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Gerade durch die enge Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in der EU haben wir heute viel bessere Möglichkeiten, grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen. Die Schaffung eines europäischen Haftbefehls, der Aufbau einer europäischen Straftäterdatei und eine besonders enge Zusammenarbeit im Bereich der Grenzpolizei sind nur einige der Möglichkeiten, die die EU bietet. Um negative Begleiterscheinungen in den Grenzregionen abzumildern, hat die Bundesregierung Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit durchgesetzt. Zugleich setzen wir uns dafür ein, die EU-Förderung für grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf die neuen Außengrenzen, vor allem aber auf die neuen Binnengrenzen zu konzentrieren. Um die Chancen der Erweiterung besser nutzen zu können, hat die Bundesregierung erhebliche Mittel in den Ausbau der Verkehrsverbindungen mit den östlichen Nachbarn investiert. Grenzüberschreitende Autobahnverbindungen befinden sich im Bau bzw. unter Verkehr. Die deutschen Abschnitte der Schienenverbindungen Berlin-Warschau und Berlin-Prag befinden sich ebenfalls im Bau, abschnittsweise sind sie schon fertig gestellt. Ingesamt wurden 24 Projekte mit herausgehobener Bedeutung für die EU-Osterweiterung in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie, wie Herr Ministerpräsident Koch, Verkehrsinvestitionen als Subventionen betrachten, die Sie kürzen wollen, oder ob Sie, wie Herr Ministerpräsident Stoiber, alle Haushalte um 5 Prozent kürzen wollen, aber gleichzeitig Forderungen zur Verstärkung von Verkehrsinvestitionstiteln stellen. ({4}) Diese Widersprüche müssen Sie in Ihren Reihen klären. Eine erhebliche Unterstützung leistet - das will ich in diesem Zusammenhang erwähnen - die EU, die im Rahmen der Ziel-1-Förderung für das Programm Verkehrsinfrastruktur 1,66 Milliarden Euro für den Zeitraum 2000 bis 2006 zur Verfügung stellt. Die zentrale Herausforderung in der EU ist jedoch die Schaffung von mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätzen in allen Mitgliedstaaten. Mit dem Lissabon-Prozess hat sich die EU das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Jetzt - kurz vor der Halbzeitbilanz zeigt sich, dass wir in vielen Bereichen tatsächlich vorangekommen sind. Wir haben die strategisch wichtigen Märkte für Telekommunikation, Schienengüterverkehr, Post und Energie geöffnet. In einigen Hochtechnologiebereichen ist Europa heute gegenüber den USA und Japan bereits führend, so etwa im Bereich des Flugzeugbaus, in dem Airbus im letzten Jahr erstmals mehr Flugzeuge auslieferte als der Erzrivale Boeing. In anderen Bereichen sind wir noch nicht weit genug. Das ist für mich kein Anlass, das Ziel zu relativieren. Stattdessen müssen wir die Strategie auf die Ziele Wachstum und Beschäftigung fokussieren. Deutschland leistet mit der Agenda 2010 hierzu einen wesentlichen Beitrag. Indem wir Mittel gezielt für Innovation, Bildung und Forschung einsetzen, stärken wir die Innovationskraft unseres Landes und schaffen die Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg. Erfolg basiert auf Leistung, setzt aber auch faire Wettbewerbsbedingungen voraus. Diese gilt es auch im Bereich der Unternehmensteuern durchzusetzen. Die Bundesregierung tritt durchaus für Wettbewerb ein, seine Grundlage muss aber bleiben, dass jedes Land zumindest anstrebt, notwendige Infrastrukturmaßnahmen aus eigenen Steuereinnahmen zu finanzieren. Auf Steuereinnahmen bewusst zu verzichten, um Auslandsinvestitionen anzulocken, und zugleich darauf zu vertrauen, dass die Solidargemeinschaft der Europäischen Union die notwendigen Investitionen in Straßen und Häfen finanziert, widerspricht dem Prinzip eines fairen Wettbewerbs. ({5}) Ich habe allerdings zur Kenntnis genommen, dass Frau Merkel der Auffassung ist, dass Steuerdumping Teil eines fairen Wettbewerbs in Europa ist. Auch das gehört zu den Widersprüchen, die Sie nicht in Anfragen an die Bundesregierung, sondern in Anfragen an die eigene Parteivorsitzende einmal klären sollten. ({6}) Die Bundesregierung setzt sich für die Schaffung einer einheitlichen Bemessungsgrundlage für Unternehmensteuern ein. Dies würde nicht zuletzt kleinen und mittleren Unternehmen helfen, die Vorteile der EU besser zu nutzen, was angesichts 25 unterschiedlicher Steuersysteme in den Mitgliedstaaten gerade für den Mittelstand nicht immer ganz einfach ist. Doch auch hier gilt: Die gemeinsame Mitgliedschaft in der EU gibt uns bessere Möglichkeiten, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Wir haben deshalb allen Grund, nicht wie die Union - das kennen wir aus der Innenpolitik - Ja und Nein oder Ja und Aber zu sagen. Wir können die europäische Einigung uneingeschränkt als ein großes Geschenk betrachten und wir haben allen Grund, selbstbewusst, mit Selbstvertrauen und Optimismus in die Zukunft zu schauen, die Chancen zu nutzen und die Herausforderungen nicht zu beklagen, sondern anzunehmen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage, die Anlass der Debatte über die Auswirkungen der EU-Osterweiterung ist, ist wenige Tage vor dem Beitritt der zehn Staaten beantwortet worden. Die Große Anfrage ist wahrscheinlich in Vorfreude auf die Osterweiterung gestellt worden und macht eines deutlich: Man kann die Erweiterung und die Einheit Europas nicht in Cent und Euro messen; denn der historischen Dimension werden wir nur gerecht, wenn wir uns die Situation 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 15 Jahre nach dem Vollzug der deutschen Einheit vor Augen führen. Transformationsprozesse mit dem Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie zu Marktwirtschaft und Wettbewerb waren in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt nicht vorstellbar. Deshalb muss das die Debatte über die notwendigen Auswirkungen der EU-Osterweiterung immer noch beherrschen. Wir müssen alles dafür tun, dass die Bewertung dieses wichtigen historischen Prozesses nicht auf Einzelpunkte reduziert wird. ({0}) Fünf Monate nach dem Beitritt von zehn Staaten von unterschiedlicher Größe und mit sehr verschiedenen internen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ethnischen Bedingungen ist es außerdem viel zu früh, um eine erste Bilanz zu ziehen. Das werden wir im Laufe der nächsten Monate mit Sicherheit tun. Ebenso werden wir uns wichtige Einzelpunkte immer wieder vornehmen und überlegen müssen, wie wir möglicherweise falschen Entwicklungen durch Innenpolitik gegensteuern können. Aber diese Auseinandersetzung sollten wir auf keinen Fall dann führen, wenn wir über die Auswirkungen der Osterweiterung diskutieren. Denn wir wollen diesen für Europa wichtigen Prozess zukunftsorientiert gestalten, damit im Jahre 2007 hoffentlich auch Bulgarien und Rumänien der Europäischen Union beitreten können natürlich nur dann, wenn sie die entsprechenden Kriterien erfüllen. Wir wollen diesen Prozess. Deshalb sollten wir jetzt keine Debatten führen, durch die vielleicht Zweifel an unserer Haltung, die vor vielen Jahren begründet worden ist und zu der wir uns immer bekannt haben, aufkommen. ({1}) Das sollten wir im Rahmen der in der Politik notwendigen Diskussionen über Einzelpunkte auf jeden Fall deutlich machen, um uns nicht in diese Richtung zu bewegen. ({2}) Auch wir befassen uns mit den Auswirkungen und Entwicklungen im Rahmen der Osterweiterung, gerade hinsichtlich der Grenzregionen. Natürlich sind bestimmte Bundesländer - sei es Bayern, seien es die neuen Bundesländer - von dem Prozess der Erweiterung besonders betroffen; denn bisher waren sie Grenzregionen. Das sind sie nun Gott sei Dank nicht mehr. Ihre Grenzen sind keine Außengrenzen der Europäischen Union mehr, sondern Grenzen zu den Nachbarn. Die Grenzen der bisherigen Grenzregionen haben sich in den letzten Jahren schon geöffnet. Nun entwickeln sich die betroffenen Länder weiter und stellen in zunehmendem Maße einen gemeinsamen Markt für diese Grenzregionen dar. Dadurch wird auch die Möglichkeit eröffnet, sich viel schneller miteinander zu verstehen, die kulturellen Unterschiede als Chance bzw. Vielfalt wahrzunehmen, aufeinander zuzugehen und gerade der jungen Generation deutlich zu machen: Dies ist ein gemeinsamer europäischer Raum, in dem sie in Zukunft Chancen haben wird. ({3}) Schauen Sie sich nur einmal die oberfränkische Region an - wir alle haben ja Kontakt zu den Industrie- und Handelskammern; das ist auch sehr wichtig -: Es ist besonders hervorzuheben, dass insbesondere dort, wo vor der Erweiterung der Europäischen Union eher Skepsis vorherrschte, die ersten Trends - mehr als Trends sind die bisherigen Entwicklungen ja noch nicht - positiv zu bewerten sind. ({4}) In diesen Regionen herrschten Ängste vor dem Gefälle bei der Unternehmensteuer, der Körperschaftsteuer und den Löhnen. Man fragte sich: Wie nachteilig wirkt sich das aus? Inzwischen sehen wir, dass es Veränderungen, allerdings im positiven Sinne, gibt; denn diese Regionen wachsen zusammen. So werden zum Beispiel gerade in den neuen Märkten Zweitbetriebe eröffnet. Dort wird produziert. Dort werden mögliche Vorteile genutzt und das Ziel verfolgt, auch in Deutschland Produkte abzusetzen, sodass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind. ({5}) - Das ist nicht nur ein Problem der EU, sondern auch ein Problem der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbs. ({6}) Das hat positive Auswirkungen auf diese Regionen. Wenn sogar die Wirtschaftskammern zu diesem Ergebnis kommen, dann ist das doch ein anderes Urteil, als wenn wir immer wieder versuchen, unsere Vorurteile zu bestätigen. Das zeigt: Wir brauchen keine Regelungen, keine Mindeststeuersätze und keine festgelegten Lohngrenzen bzw. Mindestlöhne. Vielmehr brauchen wir einen Wettbewerb, dessen Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass auch die Wirtschaft in Deutschland bestehen kann. Daher müssen wir darüber diskutieren, wie wir die strukturellen Defizite in Deutschland beseitigen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Rainder Steenblock von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang Mai dieses Jahres erlebten wir bewegende Augenblicke. Wir alle haben die Stimmung und die Debatten gerade in den osteuropäischen Ländern miterlebt. Bei den Feierlichkeiten anlässlich der Erweiterung wurde deutlich, dass sich die Bevölkerung in den ost- und mitteleuropäischen Staaten den Weg nach Europa in schwierigen politischen Situationen auch unter großen Entbehrungen erkämpft hat. Wir können kaum ermessen, welche Freiheiten und Chancen, für die eine ganze Generation von Kritikern und Widerständlern in Osteuropa schwere Entbehrungen auf sich genommen hat, diese Menschen jetzt haben. Daher sollten wir bei den Debatten über Vor- und Nachteile der europäischen Einigung, die bei uns häufig sehr kleinteilig geführt werden, nie vergessen, welche politischen Implikationen und welche Opfer dieser Erweiterungsprozess gefordert hat und welche historischen Dimensionen er aufweist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Großen Anfragen ist es immer so eine Sache. Der rationale Kern dieser Anfrage, nämlich das Aufnehmen von in der Bevölkerung vorhandenen Befürchtungen, stellt sicherlich einen richtigen Ansatz dar. Aber so, wie diese Große Anfrage zeitlich angelegt und in ihren Details ausformuliert war, birgt sie zumindest die Gefahr in sich, einer falschen Fährte zu folgen und die Befürchtungen von Menschen zu instrumentalisieren, mit ihren Ängsten zu spielen und diese Ängste zu schüren. ({1}) Gerade die Wahlen in Sachsen haben deutlich gemacht, welches das Resultat ist, wenn man solche Ängste instrumentalisiert und schürt. Ich unterstelle Ihnen dies gar nicht; aber ich sage Ihnen ganz deutlich, was passiert, wenn man diese Ängste schürt, ohne die realen Chancen und Möglichkeiten in den Vordergrund zu stellen. ({2}) Dann wird man die Radikalen in diesem Lande stärken, die mit ihrem Populismus genau diese Ängste ausnutzen. Deshalb sollten wir uns auf eine Politik verständigen, die Ja zur Osterweiterung sagt und die Chancen, auch die ökonomischen Chancen, für die Menschen in unserem Lande in diesem politischen Prozess in den Vordergrund stellt. Wir wollen diesen Prozess nach vorn bringen. Wir wollen nicht an ihm herummäkeln, sondern uns den Schwierigkeiten stellen. Diejenigen, die als Behinderer dieses Prozesses in der braunen Soße sitzen, wollen wir politisch hart angehen. Sie sind die Rückwärtsgewandten, während wir nach vorn gehen. ({3}) Es ist zu früh, um nach fünf Monaten Bilanz zu ziehen. Aber es gibt einzelne Ergebnisse, die deutlich machen, dass der Prozess trotz aller Schwierigkeiten sehr viel positiver verläuft, als wir befürchtet haben. ({4}) Natürlich gibt es im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation Schwierigkeiten; darauf komme ich gleich noch. Aber denken wir nur an die Sicherheitsdebatte. Jeder, der wie ein Bedenkenträger in diese Debatte einsteigt, muss sich vor Augen halten, wie es sich an dieser Grenze verhielte, wenn wir die Osterweiterung nicht gehabt hätten. ({5}) Daher glaube ich, dass wir mit den Ergebnissen, die jetzt vorliegen, sehr zufrieden sein können. Wir haben in der Tat ökonomische Probleme. In offenen Volkswirtschaften ist Wettbewerb eines der zentralen Elemente. Ich halte es für hoch problematisch - Herr Hofbauer hat wieder versucht, in diese Richtung Politik zu machen -, dann, wenn Menschen von Wettbewerb betroffen sind, sofort nach dem Staat zu rufen, der mit seinen Subventionen dafür zu sorgen hat, dass in diesem Bereich niemandem auf die Füße getreten wird. ({6}) Genau diese Subventionierung von Wettbewerbsnachteilen aber haben Sie in der Konsequenz gefordert. So kann unsere Volkswirtschaft nicht funktionieren. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns den Problemen stellen. Herr Hofbauer, ich bin mit dem völlig einverstanden, was Sie zum Verkehr gesagt haben. Die Verkehrsprojekte auf den Ost-West-Achsen sind in Europa zu spät entwickelt worden. Darin sind wir uns einig. Die Zusammenführung von TEN und TINA ist ein Problem. Wir haben an den Grenzen Verkehrsprobleme und müssen zusehen, dass wir auf deutscher, aber auch auf europäischer Ebene diese Ost-West-Achsen schnellstens ausbauen. ({8}) Sie haben uns hier auf Ihrer Seite. Diese Debatten haben wir im Verkehrsausschuss ausführlich geführt. Es ist überhaupt keine Frage: Hier gibt es Verzögerungen und Probleme, die zu kritisieren sind.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Steenblock, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Silberhorn?

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Steenblock, Sie haben der Union gerade vorgeworfen, wir wollten subventionieren und den Wettbewerb an der ehemaligen Grenze zwischen Deutschland und den neuen Nachbarn im Osten dadurch beeinträchtigen. Ist es nicht vielleicht umgekehrt? Zwischen Deutschland auf der einen und Polen und Tschechien auf der anderen Seite gibt es das größte Wohlstandsgefälle zwischen Nachbarschaftsregionen weltweit. Ist es nicht so, dass der Wettbewerb bei einem solch großen Wohlstandsgefälle durch die Europäische Union beeinträchtigt wird und dass gerade aufgrund der Subventionierung aus den europäischen Fördertöpfen dort keine fairen Wettbewerbsbedingungen gegeben sein können, was die Ursache dafür ist, dass zahlreiche Betriebe aus Deutschland ihren Sitz nach Polen oder Tschechien verlagern wollen, um diese Förderungen mitzunehmen, ohne dass dadurch auch nur ein einziger neuer Arbeitsplatz geThomas Silberhorn schaffen würde? Das ist doch die Sorge, die die Menschen bei uns in den Grenzregionen bewegt. ({0})

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Silberhorn, ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Wir müssen darauf achten, dass es bei der europäischen Förderpolitik für diesen Grenzraum keine Disparitäten gibt. Ich habe immer betont, dass die EUStrukturpolitik für mich ein wesentlicher sozialer Kitt der Europäischen Union ist. Das ist ein wesentliches Element und wird auch in der nächsten Förderperiode ein zentrales Instrument sein, um diese Disparitäten auszugleichen. Bei regionalen Besonderheiten - seien es Randlagen oder andere - benötigen wir die EU-Strukturpolitik. Ich habe mich immer dafür eingesetzt, den statistischen Effekt zu berücksichtigen, das heißt, dafür zu sorgen, dass die neuen Bundesländer weiterhin Gegenstand der EUFörderpolitik bleiben. Wir werden dann prüfen müssen, wie sich die EU-Förderpolitik mengenmäßig auswirkt und welche Kriterien dafür wichtig sind. Ich war immer der Meinung, dass wir bei gleichen Bedingungen die Strukturpolitik für die neuen Bundesländer, für Polen und für die Beitrittsländer insgesamt brauchen. Gerade wegen der Ost-West-Achsen ist im neuen Haushalt mehr Geld für die Verkehrspolitik nötig. Wir brauchen mehr Innovationen in diesem Bereich. Wir benötigen einen größeren europäischen Haushalt - das gehört noch zur Antwort -, um diese EU-Strukturpolitik umzusetzen, die Disparitäten also zu begrenzen. Ich verlange von der Bundesrepublik, dass sie sich in erster Linie diesen inhaltlichen Kriterien stellt und dass sie in zweiter Linie sagt, wie man für einen Deckel sorgen kann, damit wir nicht zu viel bezahlen. Hier gibt es überhaupt keine Unterschiede zwischen uns. Die Strukturpolitik ist das zentrale Instrument, um dies realisieren zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss noch einmal deutlich machen: Es geht um ein historisch wichtiges Projekt. Die Ansätze, mit denen wir unsere ersten Erkenntnisse jetzt umgesetzt sehen, gehen in die richtige Richtung. Die ökonomische Entwicklung ist schneller positiv geworden, als wir es erwartet haben. ({0}) Meiner Meinung nach wirkt sich das auch auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus. In den Grenzgebieten ist zwar Verständnis für die Entscheidung zu spüren, dass wir hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf einen so langen Übergangszeitraum gesetzt haben. Ich glaube aber, dass wir hier in einem sehr viel kürzeren Zeitraum zu einer Parität kommen werden. Wir werden die Arbeitnehmerfreizügigkeit also in sehr kurzer Zeit erreicht haben. Diesen Herausforderungen werden wir uns stellen. Die Förderung der Grenzregionen - dies ist bereits in der Vergangenheit erfolgreich geschehen - wird von der Bundesregierung weitergeführt. Darüber haben wir hier ja schon häufiger diskutiert. In den Grenzförderfonds der Europäischen Union befinden sich über 16 Milliarden Euro. Damit muss vernünftig gearbeitet werden. Das heißt nicht, dass man mit der Fördergießkanne durchs Land geht. Man muss Kerne und Projekte mit sinnvollen Inhalten fördern und darf nicht jedem alles versprechen. Es muss eine intelligente Politik gemacht und dort mit der Förderung angesetzt werden, wo Potenziale vorhanden sind. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Robert Hochbaum, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heutigen Tag sind fünf Monate vergangen, seit die größte Erweiterung der europäischen Geschichte vollzogen wurde. Nach Krieg und ideologischer Teilung wurde eine neue Seite im Geschichtsbuch aufgeschlagen. Dies ist für die Menschen in Europa wahrlich eine große Chance. Mit der Erweiterung wird politisch die historische Spaltung Europas überwunden. Stabilität, Frieden und Sicherheit können dauerhaft gesichert werden. Wir von der CDU/CSU stehen - daran soll kein Zweifel aufkommen - zu diesem epochalen Schritt, der die Menschen Europas noch näher zusammenrücken lässt und ein weiterer Garant für Frieden und Freiheit ist. ({0}) Trotz dieser positiven Grundeinschätzung muss es erlaubt sein, auch über die Risiken der Erweiterung, das heißt über die Kehrseite der Medaille zu sprechen. Deren Ursachen sind hauptsächlich in der verfehlten Strukturund Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu suchen. ({1}) Diese Risiken betreffen vor allem die Regionen, die gemeinsame Grenzen mit den neuen Beitrittsstaaten haben. Dies trifft in unserem Lande West- wie Ostregionen, wobei die Letztgenannten aufgrund des bei weitem noch nicht abgeschlossenen Aufholprozesses gegenüber den alten Bundesländern natürlich besonders benachteiligt sind. In diesem Zusammenhang lassen einige Antworten der Bundesregierung auf unsere Anfrage zu den Auswirkungen der EU-Osterweiterung, wenn auch umfangreich an Seiten, nicht den Eindruck aufkommen, man beschäftige sich ernsthaft mit diesem Problem. ({2}) Da wird zum Beispiel auf die Frage nach den beschäftigungspolitischen Auswirkungen der EU-Osterweiterung lapidar geantwortet, dass man dies nicht genau voraussagen könne. Auch auf andere Fragen wie die nach dem Abwanderungspotenzial in der mittelständischen Wirtschaft oder in welchen Branchen Abwanderung zu erwarten ist, heißt es meistens: nicht bekannt. So, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, kann man den Problemen der EU-Osterweiterung nicht begegnen. ({3}) Eine Vogel-Strauß-Politik - den Kopf in den Sand stecken und abwarten, was passiert - hilft unserer Wirtschaft im Osten, vor allem aber den Menschen, die bereits betroffen sind oder noch betroffen sein werden, nicht weiter. ({4}) Dabei nützt es sehr wenig, wenn Sie als Alibi für Ihr Versagen bei der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik die Entwicklung der Weltwirtschaft ins Feld führen. ({5}) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich weiß nicht, ob an Ihnen die Erkenntnis vorbeigegangen ist, dass um uns herum die Weltwirtschaft wächst und nur in Deutschland ein Bremsklotz untergelegt zu sein scheint. ({6}) Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie von der Regierungskoalition der Bremsklotz sind. ({7}) Es hilft wenig, wenn der zuständige Bundesminister, Herr Stolpe, vor kurzem einen Bericht zur deutschen Einheit vorgelegt hat, der so schöngefärbt ist, dass meiner Meinung nach auch noch die Buchstaben hätten farbig gestaltet werden müssen. Wie aber sieht die Realität aus? Die Arbeitslosigkeit im Osten, der besonders betroffen ist, liegt bei über 18 Prozent, das heißt gut 10 Prozent höher als in den alten Bundesländern. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt laut dem letzten IWH-Report 2 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Für circa 30 Prozent der Arbeitsfähigen im Osten gibt es auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Stelle. Da hilft kein Schönfärben und kein Schreien, meine Damen und Herren von Rot-Grün. Diesen Fakten müssen Sie sich stellen. Diese sind die Folgen Ihrer katastrophalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre. ({8}) Diese Fakten treffen nun auf die Risikofaktoren der EU-Osterweiterung, nämlich auf die genannten Schwächen auf dem Arbeitsmarkt und die strukturellen Schwächen der Grenzregionen im Osten und ihrer Unternehmen, auf die schon angesprochene vollkommen unzureichende grenzüberschreitende Verkehrsinfrastruktur - auch das dürfen Sie sich auf Ihre Fahnen schreiben -, ({9}) eine geringe Unternehmensdichte, eine unterdurchschnittliche Präsenz großer und innovativer Unternehmen sowie eine Produktions- und Betriebsstruktur kleinerer und mittlerer Unternehmen, die im Hinblick auf den zu erwartenden verstärkten Wettbewerbsdruck in den Grenzregionen einfach unzureichend ist. Hierbei brennen gerade auch dem Handwerk in den Grenzregionen die wirtschaftlichen Konsequenzen der Erweiterung auf den Nägeln. Denn die Arbeitskosten beim östlichen Nachbarn machen nur einen Bruchteil der deutschen Arbeitskosten aus. Die versprochenen Aussichten auf neue, dynamisch wachsende Märkte erscheinen dort als Fata Morgana. Viele Betriebe, denen das Wasser ohnehin bereits bis zum Halse steht, sind nicht in der Lage, in neue Geschäftsfelder zu investieren. So sieht es vor Ort beim kleinen Handwerksmeister aus. Dem nützen keine Lagebeschreibungen, die nicht einmal das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Der braucht schlicht und einfach Hilfe. ({10}) Darum, meine Damen und Herren von Rot-Grün: Unternehmen Sie etwas! Kümmern Sie sich zum Beispiel tatsächlich um den Abbau von Bürokratie und der Regelungsflut in Deutschland! Sorgen Sie für ein verlässliches Förderszenario und unterstützen Sie damit die Grenzregionen! ({11}) Sparen Sie sich Drohgebärden in Richtung Wirtschaft wie zum Beispiel die mit der Ausbildungsplatzabgabe. Diese Politik schafft keine Arbeitsplätze, sondern diese Politik vernichtet sie. Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, über sieben Jahre erstrecken sich die Übergangsfristen bei der EU-Osterweiterung. Sieben Jahre sind eine sehr kurze Zeit, wenn sie von Ihnen schon im Ansatz verschlafen werden. Deshalb: Wachen Sie auf! Danke schön. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU hat im Januar eine Große Anfrage zur EU-Erweiterung gestellt. Die Bundesregierung hat sie Ende April beantwortet. Nun, Anfang Oktober, befasst sich der Bundestag mit beidem. Ein Beleg dafür, dass die EU im Bundestag Priorität genießt, ist das nicht gerade. ({0}) Genau das aber muss sich ändern. Im lyrischen Teil ihrer Anfrage beschreibt die CDU/ CSU-Fraktion die Osterweiterung der EU als eine der größten Chancen für die Menschen des Kontinents in diesem Jahrhundert. Sicher war die EU-Osterweiterung ein großer diplomatischer Akt. Aber das macht aus einem Pakt der Staaten noch längst keine EU der Menschen. Die „Bild“-Zeitung hat in Polen einen Ableger. Er heißt „Fakt“ und malt das Gespenst deutscher Reparationsforderungen mit großen Lettern. Hierzulande droht „Bild“ mit polnischen Billiglöhnern, die deutschen Bürgern die Arbeit nehmen werden. So steigert man zwar die Auflage, so schürt man Stimmungen, aber so schafft man keine Europäische Union. ({1}) Zugleich verweigert der Bundestag eine Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung. Anstatt die Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, signalisieren Sie, die EU sei viel zu komplex und zu kompliziert für das Volk. So verspielt man die größte Chance für die Menschen des Kontinents. Es geht aber auch um ganz praktische Fragen. Die Berliner PDS-Senatoren, die Fraktion im Abgeordnetenhaus und die PDS im Bundestag waren am vergangenen Wochenende in Szczecin, also in Polen. Es gab Gespräche mit Repräsentanten der Stadt und der Woiwodschaft. Es ging um die zukünftige gemeinsame EU-Oder-Region. Die Diskussionen mit den polnischen Partnern wie auch mit der Berliner Industrie- und Handwerkskammer ergaben dieselben Schwerpunkte: erstens ein gewinnendes Klima für die EU-Erweiterung schaffen; zweitens die gemeinsame Infrastruktur modernisieren; drittens falsche Regeln korrigieren. Dazu gehört auch die Sieben-Jahre-Übergangsfrist, mit der Bürgerinnen und Bürger der Beitrittsländer zu EU-Mitgliedern zweiter Klasse degradiert werden. ({2}) Damit komme ich zu meinem Hauptkritikpunkt. Nach allem, was überschaubar und absehbar ist, werden mit der EU-Osterweiterung dieselben Fehler wiederholt, die es im Zuge der deutschen Einheit gab. Den neuen Ländern werden die Strukturen der alten angedient, obwohl sie alles andere als modern und zukunftsfähig sind. Zugleich werden die neuen EU-Länder mit ihrem oft ärmlichen Niveau gegen die Menschen in den alten Ländern als Billiglohn- und Steuerparadiese in Stellung gebracht. Heraus kommen zwei Leitbilder, die auch in der künftigen EU-Verfassung stecken: das einer freien Marktwirtschaft, die möglichst ungetrübt von sozialen und ökologischen Zielen private Gewinne scheffelt, und das einer EU, die ihr Heil im militärischen Wettlauf sucht, anstatt sozialen Frieden zu suchen und zu stiften. Die PDS im Bundestag streitet für das soziale und friedliche Leitbild als Jahrhundertchance. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Rainer Fornahl, SPD-Fraktion.

Rainer Fornahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003120, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon mehrfach angesprochen worden, aber ich als Leipziger will es auch erwähnen: 1989 wurde erstmals in der Geschichte Europas die Tür für die Verwirklichung von Demokratie, Freiheit und Recht in ganz Europa weit geöffnet. Für das mutige Engagement Ungarns und Tschechiens - ich erinnere an die Grenzöffnung in Ungarn, den Fall des Eisernen Vorhangs und die Ereignisse um die Prager Botschaft, was fast 15 Jahre her ist - sollte man von dieser Stelle aus einen ganz herzlichen Dank an unsere Freunde in Ungarn und Tschechien aussprechen und ihnen unseren Respekt bekunden. ({0}) Seit dem 1. Mai 2004 ist die Europäische Union mit dem Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern - Malta und Zypern nicht zu vergessen; in Zypern besteht immer noch ein ungelöstes Problem - wirtschaftlich und kulturell reicher und im globalen Wettbewerb stärker geworden. Das ist eine Entwicklung, die man nicht in Mark und Pfennig messen kann. Ich stimme darin der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger ausdrücklich zu. Es sind vielmehr die historischen Dimensionen und die Perspektiven, die sich für Europa eröffnen, das in Zukunft in einer komplizierten Welt ganz anders gestalten kann. Die ersten 100 Tage sind um. Normalität ist entgegen allen Unkenrufen inzwischen eingekehrt, und zwar auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze. Das ist gut so. Jetzt wächst - um mit Willy Brandt zu sprechen - zusammen, was zusammengehört. Die Geschichte der europäischen Integration hat gezeigt, dass die EU und Deutschland bisher von jeder Erweiterung profitiert haben. Anpassungsprobleme und regionale Schwierigkeiten dürfen aber nicht unter den Teppich gekehrt werden. Das tun wir nicht, das tut die EU nicht und das tut auch der Bund nicht. Man wird sich auch in den Regionen mit diesen Problemen noch lange intensiv zu befassen haben. Liest man sich den Fragenkatalog durch, den die CDU/ CSU in ihrer Großen Anfrage aufstellt, dann stellt man fest, dass die EU-Erweiterung für sie nur ein einziger Wust von Problemen ist. Krank- und kaputtgeredete Regionen sind aber für Investitionen und Ansiedlungen nicht attraktiv. Auch werden die eigenen Bemühungen der dort lebenden Menschen gehemmt. Das sollten Sie immer beachten. ({1}) Die Mahnungen, Bedenken und Einwände, in insgesamt 113 Fragen gepresst, werden nur noch von dem ewigen Ruf nach mehr Geld und Programmen, zum Beispiel für die Strukturpolitik, übertroffen. Den Grenzregionen steht bereits seit langem ein bewährtes strukturpolitisches Förderinstrumentarium zur Verfügung. Meine Redezeit würde nicht ausreichen, um alle Instrumente aufzuzählen. Sie sollten sich aber die Dokumentation des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit mit dem Titel „Förderung der Grenzregionen zu den Beitrittsländern - Die Hilfen von EU, Bund und Ländern“ durchlesen. Das EU-Grenzregionenprogramm, also das Zusatzprogramm, das aus der Diskussion in Weiden über die EU-Osterweiterung entstanden ist, umfasst zusätzliche Fördermittel von immerhin 255 Millionen Euro, davon alleine 85 Millionen Euro für kleine und mittlere Unternehmen. Diese Mittel werden zusätzlich zu dem EU-Strukturförderprogramm gewährt, mit dem den Grenzregionen schon ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden. Mecklenburg-Vorpommern erhält 2,5 Milliarden Euro, Brandenburg 3,2 Milliarden Euro, Sachsen 5 Milliarden Euro und Bayern, wenn man die Förderung für die Landwirtschaft hinausrechnet, immerhin 1 Milliarde Euro für die Förderung in den dortigen Grenzregionen. Hinzu kommt eine Vielzahl von nationalen Förderprogrammen für kleine und mittlere Unternehmen, für Forschung und Entwicklung, für Netzwerkbildung und für vieles andere mehr. Das wird aus dem Haushalt des Bundes finanziert. ({2}) Darüber hinaus sollte uns um die weitere Unterstützung nicht bange sein. Die Verordnungsvorschläge der EU-Kommission von Juli 2004 zur Reform der Strukturund Kohäsionspolitik zeigen den festen Willen, die Förderung für die Periode 2007 bis 2013 fortzusetzen. Dabei liegt das besondere Augenmerk auf den Grenzregionen. Nicht zu vergessen ist die Initiative der Bundesregierung zur Erreichung ausreichender Handlungsspielräume für die nationale Förderpolitik zur Begleitung dieses Prozesses auf nationaler Ebene, über die derzeit in Brüssel verhandelt wird. Denken Sie auch an den Solidarpakt II für die neuen Bundesländer, für den die Finanzierung bis 2019 gesichert ist. Dass einige Ministerpräsidenten, angeführt vom hessischen Ministerpräsidenten Koch, die Gemeinschaftsaufgaben insgesamt in ihrer jetzigen Form in Zweifel ziehen, ist ein fatales und falsches Signal für den Aufbauwillen in den neuen Bundesländern. ({3}) Kommen wir zur Verkehrsinfrastruktur. Sie fordern entsprechend den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ die Verkehrsprojekte „Europäische Einheit“. In dem unter Ihrer Regierung entstandenen Bundesverkehrswegeplan 1992 war nicht ein einziges Schienenprojekt bis zur östlichen Grenze definiert. Wir haben damit Schluss gemacht. Unser Bundesverkehrswegeplan 2003 umfasst eine Reihe von Projekten mit einer Ost-West-Ausrichtung. Sie zeichnen die transeuropäischen Korridore nach und bieten zumindest auf unserer Seite entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Projekte sind bis 2015 ausfinanziert. ({4}) Die Umsetzung dieser Projekte ist aber nur dann möglich, wenn sie auch aufseiten unserer Nachbarn weitergeführt werden und wenn wir in der Lage sind, die großen Verbindungen von Menschen und Märkten gemeinsam zu realisieren. Insofern ist Zusammenarbeit notwendig. Ohne Konsens geht es nicht. In Grenznähe besteht aber auch die Notwendigkeit - das ist bereits angesprochen worden -, lokale und regionale Netze und Verbindungen wie auch die Grenzübergänge auszubauen, um damit regionale Kreisläufe zu schaffen. Auch dafür bestehen Fördermöglichkeiten. In diesem Zusammenhang verweise ich beispielsweise auf das GVFG und die Regionalisierungsmittel für den schienengebundenen Personennahverkehr. Eine möglichst große Zahl von Grenzübergängen und alle 20 km eine Autobahn in Richtung der Grenzen kann aber nicht die Lösung aller Probleme bieten. Es geht vielmehr darum, den Verkehr zu bündeln und die Grenzübergänge durchlässig zu gestalten, um schnelle und umfangreiche Transporte gewährleisten zu können. Derzeit führt die Bundesrepublik mit Tschechien und Polen Verhandlungen zu dieser Frage. Zurzeit weisen positive Signale darauf hin, dass fünf Grenzübergänge mit Polen und zehn mit Tschechien vereinbart werden können. Ich hoffe, es wird in Bälde gelingen, die Verkehrswege für den Wirtschaftsverkehr zu öffnen. Ich halte diese Initiative für sehr wichtig. Die betroffenen Länder sollten sich aktiv an den Verhandlungen beteiligen. ({5}) Abschließend möchte ich noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in Frankfurt/Oder in Brandenburg und im bayrischen Arzberg zwei große Informationsveranstaltungen zur aktuellen Bewertung der Lage durchgeführt. Dabei ging es darum, herauszufinden, wie die Stimmung ist, welche Probleme vorhanden sind und ob die Lösung dieser Probleme angegangen wird. Im Gegensatz zu dem Inhalt Ihres Antrags und dem, was in Ihren Redebeiträgen zum Ausdruck gekommen ist, wurde deutlich, dass zwar noch nicht alle Probleme gelöst worden sind, dass die Menschen aber die sich ihnen stellenden Aufgaben anpacken. Sie gehen ihre Probleme offen an und versuchen, Lösungen zu finden. Das ist zu begrüßen. Beispielsweise ist in Schirnding - wohlgemerkt: in Bayern - ein deutschRainer Fornahl tschechischer Kindergarten entstanden, in dem die Kinder die jeweils andere Sprache lernen und sich damit besser auf das Partnerland einstellen können. Das ist ein großer Erfolg. Abschließend habe ich eine Bitte an die Bundesregierung und an die Bundesländer. Sprache und Kultur sind sehr bedeutende Faktoren für das Verständnis benachbarter Länder. Daraus ergeben sich letztlich auch ökonomische Potenziale. Das Bundesverwaltungsamt finanziert in einer gemeinsamen Initiative mit der Kultusministerkonferenz und dem Auswärtigen Amt ein Austauschprogramm für Deutschlehrer. Meines Wissens gibt es Schwierigkeiten hinsichtlich der künftigen Finanzierung. Ich bitte Sie, dieses Thema in den Haushaltsberatungen zu berücksichtigen, damit dieses wichtige Programm, das deutschen Lehrern die Möglichkeit gibt, in Polen und Tschechien die deutsche Kultur und Sprache zu vermitteln und damit zu einer besseren Verständigung beizutragen, keine Streichungen erfährt, sondern in der bisherigen Größenordnung aufrechterhalten wird. Dann könnten wir sagen: Wir befinden uns auf einem guten Weg.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Rainer Fornahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003120, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Wir sollten den Menschen auf dem Wege zur Vollendung der europäischen Einheit Mut machen. Zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, sage ich: Reißen Sie endlich Ihre Klagemauer ein! Dann wird es gut. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Albert Rupprecht, CDU/CSU-Fraktion.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Osterweiterung ist formell und außenpolitisch am 1. Mai dieses Jahres erfolgreich vollzogen worden. Die große innenpolitische Frage ist nun aber, wie wir aus den Chancen der Erweiterung wirklich handfeste Erfolge machen. Das wird sicherlich nicht gelingen, wenn sich die Bundesregierung nicht darum kümmert. Die Regierung ist nach den Festlichkeiten am 1. Mai schlichtweg abgetaucht. ({0}) Derweil tun sich neue Baustellen auf, die die Regierung nicht zur Kenntnis nimmt. Erste Baustelle: Der behördliche Vollzug ist in vielen Bereichen überhaupt nicht geregelt. Konkretes Beispiel: Ein Malermeister fragt Anfang Mai bei der Kammer an, ob er einen tschechischen Einzelunternehmer als Subunternehmer beschäftigen kann. Die Antwort der Kammer ist: Grundsätzlich ja, der tschechische Partner muss nur sechs Jahre selbstständige Tätigkeit nachweisen. Das ist schnell erledigt. Der tschechische Einzelunternehmer legt ein amtliches Dokument vor, das bestätigt, dass er seit über sechs Jahren selbstständig tätig ist. Aber dann beginnt die groteske Steigerung des Falles Buchbinder Wanninger. Seit fünf Monaten kämpft der deutsche Unternehmer gemeinsam mit seinem tschechischen Partner darum, eine Genehmigung in Deutschland zu erhalten: von der Bezirksregierung zur Kammer, von der Kammer zum bayerischen Wirtschaftsministerium, vom bayerischen Wirtschaftsministerium zum Bundeswirtschaftsministerium, und all dies dreimal im Kreise. Wo liegt die Verantwortung? Das Bundeswirtschaftsministerium müsste den Vollzug regeln. Das hat es bis heute aber nicht getan. ({1}) Exemplarisch eine zweite Baustelle: Es gibt in der Tat bedenkliche Warnsignale, aber die Bundesregierung registriert diese nicht. Die Wissenschaft sagt uns, dass die Wirkung der Erweiterung in den Grenzregionen früher zu spüren sein wird. Dort werden wir als Erstes sehen, wie unsere Wirtschaft dem steigenden Wettbewerbsdruck aus Osteuropa begegnen wird. Die Grenzregionen haben sozusagen eine Frühwarnfunktion. Deswegen ist es schon hochinteressant, zu wissen, wie sich die Grenzregionen seit dem 1. Mai dieses Jahres entwickelt haben. Meine Frage an die Bundesregierung lautete daher, wie sich das Lohnsteueraufkommen in den Grenzregionen seit dem 1. Mai dieses Jahres entwickelt hat. Die kurze Antwort von Staatssekretär Diller war: Wir kennen die Zahl nicht; da müssen Sie die Finanzämter fragen. Das habe ich dann auch getan. Das Ergebnis ist schlichtweg verheerend. Das Lohnsteueraufkommen in den Finanzämtern in den Grenzregionen, die ich angerufen habe, ist im Schnitt um 5 bis 7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Das bedeutet eine dramatische Verarmung der Bevölkerung in diesen Regionen auf breiter Front. Natürlich können wir nicht abschließend sagen, ob die Ursache die Osterweiterung ist. ({2}) Aber in jedem Fall müsste die Bundesregierung ein Interesse daran haben, ein aussagekräftiges Monitoringsystem einzuführen und gegebenenfalls massiv gegenzusteuern. ({3}) Von dieser Art gibt es zahlreiche Baustellen und es tun sich neue auf. Aber wir alle wussten und wissen, dass uns die Erweiterung lange beschäftigen wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Hendricks von der SPD-Fraktion?

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am Ende meiner Rede gerne.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Hendricks möchte eine Zwischenfrage stellen, die sich auf ein aktuelles Argument Ihrerseits bezieht.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt erlaube ich keine Zwischenfrage. Wir, die Unionsfraktion, haben in den vergangenen Jahren viele Vorschläge gemacht, unter anderem zur Regionalförderung, zum Beihilferecht, zur Kriminalitätsbekämpfung und zu den Verkehrsprojekten „Europäische Einheit“. Die Bundesregierung hat unsere Vorschläge zum großen Teil abgeblockt. Damit müssen wir als Opposition leben. Aber dass die Regierung seit dem 1. Mai dieses Jahres abgetaucht ist, ist absolut inakzeptabel. ({0}) Die Antworten auf unsere Große Anfrage zeigen, dass sich die Bundesregierung für das Thema einfach nicht mehr interessiert. Die Antworten sind Stand 2002. Von den 116 Antworten sind 100 schlichtweg kalter Kaffee und vollkommen überholt. Keine Ansätze für heute und auch keine Ansätze für morgen! Eines ist an den Antworten aber in der Tat hochinteressant: Die Bundesregierung sieht sich im Jahr 2004 nicht in der Lage, abzuschätzen, wie sich die Erweiterung auf Deutschland und auf Europa in Zukunft auswirken wird. Wenn die Regierung das aber nicht abschätzen kann, dann kann sie auch nicht prognostizieren, wann Deutschland und die Europäische Union zur Aufnahme weiterer gewichtiger Länder fähig sind. Die Integrationsfähigkeit ist aber eines der entscheidenden Kriterien für Erweiterungsschritte. ({1}) Die einzig logische Folgerung ist, dass man der Türkei im Jahr 2004 keine verlässliche zeitliche Perspektive geben kann, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob man grundsätzlich für oder gegen ihren Beitritt ist. ({2}) Regieren besteht am wenigsten darin, die Korken knallen zu lassen, sondern darin, die großen Schritte im Detail nachzuarbeiten. Genau das ist es, was die Bundesregierung tun muss. Das ist ihr Auftrag. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Herr Kollege, ich will mich zu Ihren europapolitischen Aussagen hier gar nicht äußern. Das werden die Kollegen noch tun. Sie haben zum Ausdruck gebracht, der Rückgang des Lohnsteueraufkommens in den Finanzämtern der Grenzregionen sei ein Nachweis für die Verarmung der Bevölkerung. Wahrscheinlich haben Sie nicht zum Vergleich in Finanzämtern nachgefragt, die nicht in den Grenzregionen liegen, was sich ja angeboten hätte. Ich will nur kurz auf Folgendes hinweisen: Wir haben zu Beginn des Jahres 2004 - dies ist in die Lohnsteuertabellen unmittelbar eingearbeitet worden - den Grundfreibetrag von rund 7 300 Euro auf 7 664 Euro erhöht. Wir haben den Eingangssteuersatz von 19,9 Prozent auf 16 Prozent gesenkt und wir haben den Spitzensteuersatz von 47 Prozent auf 45 Prozent gesenkt. Dies alles ergibt notwendigerweise eine umfangreiche Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger und selbstverständlich ein Minus beim Lohn- und Einkommensteueraufkommen. Daraus den Schluss zu ziehen, die Bürgerinnen und Bürger in den Grenzregionen verarmten, halte ich nicht nur für von wenig Kenntnis getrübt, sondern auch für demagogisch. Ich bitte Sie in aller Form, das zurückzunehmen und die Wirkungen der Steuerreform zur Kenntnis zu nehmen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Rupprecht, Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Aussage war: Die Grenzregionen haben eine Frühwarnfunktion. Deswegen ist die Relation zwischen Grenzregionen und dem restlichen Deutschland entscheidend. Wenn mir die Bundesregierung keine vernünftige Antwort geben kann, dann kann ich dies nur exemplarisch, also über Einzelfälle, überprüfen. Meine Überprüfung hat ergeben, dass der Unterschied zwischen den Finanzamtsbezirken in den Grenzregionen und den anderen Finanzamtsbezirken dramatisch ist. Ob ein Rückgang um 6 Prozent unter anderem auf die Steuerreform zurückzuführen ist, ist unerheblich. ({0}) Entscheidend ist, dass der Unterschied zwischen den Grenzregionen und Gesamtdeutschland dramatisch ist. ({1}) Wir wissen, dass in den Grenzregionen eine Wirkung schneller zu erkennen sein wird. Bitte, nehmen Sie dies zur Kenntnis und vollziehen Sie die notwendigen Schritte, um angesichts der mit der Osterweiterung verbundenen Herausforderungen den Wohlstand nicht nur Albert Rupprecht ({2}) in den Grenzregionen, sondern in Gesamtdeutschland aufrechtzuerhalten. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berücksichtigung der Kindererziehung im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung ({0}) - Drucksache 15/3671 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) - Drucksache 15/3837 - Berichterstattung: Abgeordnete Hilde Mattheis b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Andreas Storm, Annette Widmann-Mauz, Horst Seehofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Familien entlasten statt Kinderlose bestrafen - Grundlegende Reform der Pflegeversicherung noch in dieser Wahlperiode einleiten - zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr ({4}), Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Dieter Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Familien spürbar durch einen Kinderbonus entlasten - Keine Beitragserhöhungen in der sozialen Pflegeversicherung - Grundlegende Reform beginnen - Drucksachen 15/3682, 15/3683, 15/3837 Berichterstattung: Abgeordnete Hilde Mattheis Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf zur Berücksichtigung von Kindererziehung im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung. Wir setzen damit ein Verfassungsgerichtsurteil um. In den vergangenen Tagen und Wochen haben wir viele Spekulationen über dieses Urteil gehört. Die wenigsten Äußerungen, die ich gehört habe, hatten aber etwas mit dem Urteil zu tun. Ich habe mich gewundert, dass es über Nacht plötzlich 80 Millionen Verfassungsexpertinnen und -experten gab und jeder seine Interpretation des Urteils zum Besten gab. ({0}) Deswegen zitiere ich zunächst aus dem Inhalt des Urteils. Dort stehen zwei entscheidende Sätze: Der Gesetzgeber verfügt über einen großen Spielraum bei der Ausgestaltung eines Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG entsprechenden Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung. Das Grundgesetz verpflichtet ihn lediglich dazu, beitragspflichtige Versicherte mit einem oder mehreren Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung bei der Bemessung der Beiträge relativ zu entlasten. Der zweite Satz ist der Kern des Urteils. Wir haben mit unserem Gesetzentwurf diesen Auftrag umgesetzt. Zugleich erreichen wir ein zweites Ziel, das uns besonders wichtig war: Wir wollen garantieren, Herr Kollege Storm, dass sich die Einnahmesituation der sozialen Pflegeversicherung, die ja im Moment insgesamt problematisch ist, verbessert. ({1}) Im Übrigen ist das keine neue Entwicklung: Schon 1995 haben die damals Regierenden bei der Einbringung des Gesetzes zur sozialen Pflegeversicherung - Herr Kollege, Sie erinnern sich, damals war Ihre Partei an der Regierung beteiligt - darauf hingewiesen, dass es bei Verschärfung des demographischen Problems schon in zehn bis 15 Jahren zu Problemen bei den Einnahmen kommen werde. Das war also schon 1995 bekannt. ({2}) Insofern leisten wir einen doppelten Beitrag: Wir setzen das Verfassungsgerichtsurteil um und stabilisieren die soziale Pflegeversicherung, um der Verunsicherung gerade älterer Menschen entgegenzuwirken. Ich glaube, das ist ein richtiger Ansatz. ({3}) Wir haben deswegen ein anderes Konzept als die Union verfolgt. Herr Kollege Storm, Sie müssen sich schon daran messen lassen, was Vertreter Ihrer Partei hier früher verkündet haben. Unserem Konzept liegt die Auffassung zugrunde, dass Ältere nicht zusätzlich belastet werden sollen. Ich darf mit der Erlaubnis der Frau Präsidentin einmal zitieren, was der Herr Seehofer am 30. Januar dieses Jahres an dieser Stelle gesagt hat: … eines kann man nicht machen, nämlich Familien, die in der Vergangenheit Kinder großgezogen haben und deren Kinder aus dem Haus sind, jetzt einen höheren Pflegeversicherungsbeitrag zumuten … Genau dies sieht aber Ihr Gesetzentwurf vor. Wir tun dies nicht, weil wir die Erziehungsleistung auch älterer Frauen respektieren. Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen ältere Eltern die Entlastung der jüngeren Eltern finanzieren. Eltern finanzieren Eltern. ({4}) Das ganze Konzept funktioniert nach dem Prinzip: raus aus der rechten Tasche, rein in die linke Tasche. Das, was Sie durch die für alle geltende Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,1 Prozentpunkte einnehmen, geben Sie wieder aus ({5}) für die vorgesehenen 5 Euro pro Kind. Das heißt, es werden diejenigen, die erwachsene Kinder haben und bereits eine Erziehungsleistung erbracht haben, nicht mehr ent-, sondern belastet. Sie belasten auch die Generation der Älteren. Das Ganze führt unterm Strich noch nicht einmal zu einer Konsolidierung der Pflegekasse, weil das, was eingenommen wird, eins zu eins wieder ausgegeben wird. Damit verspielen Sie auch Reformoptionen für die Zukunft. Es wird ja von niemandem bestritten, dass Reformbedarf in der Pflegeversicherung besteht. Diese Aufgabe müssen wir angehen. Eine Reform kann aber vernünftigerweise doch nur dann umgesetzt werden, wenn das finanzielle Konzept einigermaßen klar ist. Mit dem, was Sie jetzt vorhaben, erheischen Sie oberflächlich Lob von den Familienverbänden und von denen, die eine Entlastung wünschen. ({6}) Sie sagen ihnen aber nicht die Wahrheit, dass nämlich bei Umsetzung Ihres Konzeptes eine Chance für eine zukunftsfähige Reform der Pflegeversicherung verspielt und sich die finanzielle Situation der Pflegekassen verschärfen wird. Insofern ist es, wie ich glaube, sehr wichtig, in einem Reformschritt beide Ziele zu erreichen: Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils und finanzielle Konsolidierung der Pflegekassen. Das ist unser Konzept. Ich darf an dieser Stelle noch einmal darum bitten, nicht zu behaupten, dies sei schon die Reform der Pflegeversicherung. Diese hat noch zu erfolgen. ({7}) Wir haben in dieser Richtung gehandelt. Die beiden betroffenen Ministerien haben jetzt vier Arbeitsgruppen eingerichtet. ({8}) Die eine beschäftigt sich mit dem Thema Entbürokratisierung. Dieses Thema anzugehen wird der nächste Schritt sein. In einem weiteren Schritt muss das Thema der demenziell Erkrankten angegangen werden; auch darüber sind wir uns einig. Jetzt wird eingefordert, dass etwas getan werden müsse. Aber, Herr Kolb, mit dem Konzept, das Sie vorgelegt haben, brauche ich mich gar nicht auseinander zu setzen, denn das erfüllt noch nicht einmal die Mindestvoraussetzungen für die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils. Sie wollen Eltern nur für die ersten drei Jahre der Kindererziehung entlasten, und das auch noch über Steuern, also zulasten der öffentlichen Kassen. Sie sind aber noch nicht einmal so ehrlich, zu sagen, woher das Geld eigentlich kommen soll. ({9}) So etwas kann man nicht als Reform verkaufen. Deswegen sage ich noch einmal: Unser Konzept ist das einzige, das Reformvorhaben, Verfassungsgerichtsurteil und finanzielle Konsolidierung verbindet, und deshalb ist es das einzige verantwortbare. Schönen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Andreas Storm, CDU/CSUFraktion.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hätte heute ein guter Tag für die Pflegeversicherung und vor allen Dingen für Versicherte mit Kindern sein können. Dass daraus nichts wird, dafür hat Rot-Grün nachdrücklich gesorgt: Erstens hat der Bundeskanzler höchstpersönlich im Januar die Pläne für eine umfassende Reform der Pflegeversicherung, die dringend auf die Tagesordnung gehört, gestoppt. ({0}) Zweitens legen Sie jetzt, dreieinhalb Jahre nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zur Behandlung der Familien im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung und wenige Wochen vor Torschluss, eine völlig unbrauchbare Lösung vor. ({1}) In der Anhörung hat Ihr Gesetzentwurf einen Totalverriss erfahren. Es ist rational nicht mehr begründbar, wenn Sie dieses Gesetz heute im Bundestag beschließen wollen. Die Bauchschmerzen sind der Kollegin Selg von den Grünen mittlerweile ins Gesicht geschrieben. Das Bundesverfassungsgericht hat vor dreieinhalb Jahren in seinem Urteil Folgendes gefordert: Versicherte, die Kinder erziehen, müssen gegenüber kinderlosen Versicherten entlastet werden. Diese Voraussetzung erfüllt Ihr Gesetzentwurf, allerdings in einer höchst zweifelhaften Weise; denn Familien zahlen keinen einzigen Cent weniger, sie werden nur von der Beitragserhöhung ausgenommen. Das als Entlastung der Familien darzustellen ist schon mutig. Entscheidend sind aber die beiden anderen Forderungen des Verfassungsgerichts: Die Entlastung muss während der Erziehungsphase erfolgen und sie muss nach der Kinderzahl differenziert sein. ({2}) Hier scheitert Ihr Gesetzentwurf vollständig; denn ob jemand ein Kind oder mehrere Kinder erzieht - der Beschwerdeführer war immerhin zehnfacher Vater -, ob die Kinder noch klein sind oder schon aus dem Haus, spielt bei Ihnen keine Rolle, jeder wird gleich behandelt. Das ist absurd. ({3}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben die Experten bei der Anhörung unisono gesagt: Der Gesetzentwurf ist verfassungswidrig, weil er nicht nach der Kinderzahl differenziert. Ich zitiere hier beispielhaft den Präsidenten des Berliner Verfassungsgerichtshofs, Herrn Professor Sodan, ({4}) der wörtlich sagte: Die Gleichbehandlung von Versicherten mit einem Kind und solchen mit mehreren Kindern verstößt meines Erachtens gegen Art. 3 Abs. 1 - also gegen den allgemeinen Gleichheitssatz - des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 6 … Dieser Gesetzentwurf bietet an diesem Punkt eine enorme Angriffsfläche. So weit Professor Sodan, der heute noch einmal öffentlich dazu aufgefordert hat, gegen diesen Gesetzentwurf zu klagen. Damit ist ein weiterer Gang nach Karlsruhe schon vorprogrammiert. Es kommt aber ein Zweites hinzu: Sie wollen die Rentner in zwei Gruppen unterteilen, von denen die eine pauschal vom Beitragszuschlag befreit ist, die andere hingegen nicht. Sie wählen willkürlich einen Stichtag, nämlich den 1. Januar 1940, der nun wirklich durch nichts sachlich zu begründen ist. Auch das haben die Experten bestätigt. Ich zitiere einmal den Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Professor Ruland, der in der Anhörung wörtlich gesagt hat - Frau Ministerin, hören Sie gut zu -: Wenn man von den Fakten ausgeht, lässt sich der 1. Januar 1940 als Stichtag nicht rechtfertigen. Für diese Festlegung gibt es keinen Grund. So weit Professor Ruland. Wenn einerseits die Rentner die einzige Gruppe sind, die seit diesem Jahr den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung selbst bezahlen müssen, andererseits eine pauschale Ungleichbehandlung der Rentner nach dem Geburtsjahr vorgenommen wird, dann ist diese Regelung an Willkür kaum zu überbieten. ({5}) Ähnlich willkürlich sind auch die kurz vor Toresschluss erfolgten Änderungen bei den Arbeitslosen. Wenn jemand Arbeitslosengeld II bezieht, dann wird er vom Kinderzuschlag pauschal befreit. Das kann man noch nachvollziehen. Aber dass auch für alle anderen Arbeitslosen eine willkürlich festgelegte Pauschale von der Bundesagentur für Arbeit an die Pflegeversicherung gezahlt wird, ist in der Tat nicht mehr nachvollziehbar. Jetzt kommt der Hammer. Die Bundesagentur kann diese Pauschale mit Zustimmung des Bundeswirtschaftsministers von den Arbeitlosen einfordern, sie muss es aber nicht. Nach welchen Kriterien Herr Clement und Herr Weise das entscheiden - ob in den Arbeitsamtsbezirken unterschiedlich oder einheitlich vorgegangen wird, ob man den Beitrag einkassiert oder ob am Ende alle Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung diesen Mehraufwand gemeinsam tragen müssen, egal ob sie Kinder erzogen haben oder nicht -, ist völlig offen gelassen. Dies ist eine Form von Willkür, wie sie schlimmer nicht vorstellbar ist. ({6}) Damit wird deutlich: Es geht Ihnen nicht um eine sachgerechte Umsetzung des Karlsruher Urteils. Sie wollen Zeit gewinnen - nur darum geht es. Wenn Sie, Frau Staatssekretärin, sagen, man würde dadurch einen Beitrag zur finanziellen Konsolidierung der Pflegeversicherung leisten, ({7}) dann muss ich sagen, dass dies nachweislich falsch ist. ({8}) Sie gewinnen nur zwei Jahre. Die Pflegekassen stehen im Hinblick auf ihre finanzielle Situation spätestens im Jahr 2007 vor dem Aus, und zwar durch hausgemachte Fehler. Beispielsweise haben Sie die Pflegebeiträge für Langzeitarbeitslose, die aus dem Bundeshaushalt an die Pflegekassen gezahlt werden, deutlich reduziert. Allein dadurch ist mittlerweile ein Loch von 1,5 Milliarden Euro in den Pflegekassen entstanden. ({9}) Nun daranzugehen, das Karlsruher Familienurteil zu missbrauchen, um Löcher in der Pflegekasse zu stopfen, ohne die Strukturprobleme zu lösen, ist unverantwortlich. ({10}) Es gibt wirklich keinen vernünftigen Grund, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({11}) Dass es die SPD trotzdem tut, ist nicht verwunderlich. Aber wenigstens von den Grünen hätte ich mir doch ein bisschen mehr Standfestigkeit erwartet. Liebe Kollegin Selg, Sie haben seit Monaten gegen die Pflegepolitik der Bundesregierung gewettert. Sie haben das Gesetz zu Recht als bürokratisches Monstrum bezeichnet. Noch vor wenigen Tagen haben Sie nach der Anhörung erklärt: Ich frage mich ernsthaft, ob unser Gesetzentwurf verfassungskonform ist. - Es ist gut, dass wenigstens einer bzw. eine in der Koalition erkannt hat, dass dieser Weg ein Irrweg ist. ({12}) Daher ist es unverständlich, wenn Sie aus Koalitionstreue sagen: Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, obwohl wir ihn für falsch halten. Dabei liegen bessere Lösungen auf dem Tisch. Die Union will eine echte Entlastung für Versicherte, die Kinder erziehen, ({13}) und zwar durch einen Bonus pro Monat und Kind in Höhe von 5 Euro. Diese Entlastung - das hat die Frau Staatssekretärin vorhin zugegeben - findet bei den Familienverbänden - das zeigte sich auch bei der Anhörung viel Beifall. ({14}) Nun gestehe ich Ihnen durchaus zu, dass man darüber diskutieren kann, ob wir einen solchen Kinderbonus aus Beitragsmitteln, wie wir das vorgeschlagen hatten, oder aus Steuermitteln finanzieren. Viele Experten haben empfohlen, diesen Bonus aus allgemeinen Haushaltsmitteln zu finanzieren. Wir sind bereit, darüber zu diskutieren. Allerdings hat keiner der Experten gesagt, welche Steuermittel dafür herangezogen werden sollen. Deshalb bleibt im Moment nur der Weg über eine leichte Anhebung der Beiträge. In unserem Vorschlag ist aber dafür gesorgt, dass bereits ab dem ersten Kind unter dem Strich eine Entlastung übrig bleibt. Wir haben die größte Entlastung dort vorgesehen, wo sie am dringendsten gebraucht wird: ({15}) bei Familien mit niedrigem Einkommen und bei Familien mit mehreren Kindern. ({16}) Ich gestehe etwas Weiteres zu: Man kann darüber diskutieren, ob man den Kinderbonus nur bis zum 18. Lebensjahr oder für den gesamten Zeitraum zahlt, in dem Kindergeld gewährt wird. Auch insoweit wären wir gesprächsbereit gewesen; beides ist grundsätzlich machbar. Aber ohne eine Besserstellung der Familien geht man meilenweit an der Vorgabe des Verfassungsgerichts vorbei. Von dem, was Rot-Grün heute vorgelegt hat, würde man in der Schule sagen: Setzen, Thema verfehlt, sechs! ({17}) Eines ist aber in der Debatte der letzten Wochen auch klar geworden: Wir sind mittlerweile an den Grenzen der umlagefinanzierten und lohnabhängigen Pflegeversicherung angekommen. ({18}) Gestern hat der runde Tisch zur Pflege getagt und diskutiert. Es wird immer klarer, dass wir uns darüber unterhalten müssen, inwieweit die derzeitigen Leistungen und Strukturen noch stimmig sind. Ist beispielsweise der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ ausreichend berücksichtigt? ({19}) Offenbar nicht. Stimmen die Strukturen im Bereich der ambulanten und der stationären Leistung? Was ist mit der Anpassung der Pflegeleistungen an die Kostenentwicklung? Denn die Pflegeversicherung gewährt heute noch die Leistungen, die im Jahre 1995 festgelegt würden. Wie können wir vor allen Dingen die Pflegeversicherung auf die langfristige demographische Entwicklung einstellen? Müssen wir nicht auch das Finanzierungsverfahren ändern? Brauchen wir nicht starke Elemente der Kapitaldeckung? ({20}) Über diese Fragen muss diskutiert werden. Vor knapp zehn Jahren ist die Pflegeversicherung eingeführt worden. Rot-Grün ist seit sechs Jahren an der Regierung. Diese sechs Jahre waren leider verlorene Jahre, weil keine einzige dieser wichtigen strukturellen Fragen auch nur im Ansatz geklärt worden ist. Das anhaltende Nichtstun der Bundesregierung ist unverantwortlich gegenüber den pflegebedürftigen Menschen, gegenüber den Beitragszahlern, aber vor allen Dingen auch gegenüber den Pflegekräften. Wir brauchen noch in dieser Wahlperiode den Einstieg in eine umfassende Neuordnung der Pflegeversicherung, damit wir den demographischen, aber vor allen Dingen bereits kurzfristig den pflegerischen Herausforderungen für eine menschenwürdige Pflege gerecht werden. Ich nenne ein letztes Stichwort: die Einbeziehung der Demenzkranken in die Pflege, von den Grünen zu Recht gefordert und am Ende wieder fallen gelassen. Als Fazit bleibt: Der Gesetzentwurf, den SPD und Grüne heute zur Abstimmung vorlegen, ist familienpolitisch falsch und verfassungsrechtlich bedenklich. ({21}) Er ist von einer unverhohlenen Willkür gekennzeichnet. Da nahezu alle Experten bei der Anhörung vorausgesagt haben, dass dieser Gesetzentwurf wieder in Karlsruhe landen wird und Sie dort Schiffbruch erleiden werden, appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen von RotAndreas Storm Grün: Ersparen Sie uns diesen Irrweg! Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück und folgen Sie unserem Vorschlag! ({22})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Petra Selg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Storm, ich stehe mit beiden Beinen im Leben und werde noch lange dort stehen bleiben. ({0}) Es geht heute um die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Es geht darum, das Urteil fristgemäß umzusetzen, um die Pflegeversicherung einigermaßen zu stabilisieren und die weiteren Strukturprobleme angehen zu können. Beides, die Urteilsumsetzung und die Stabilisierung, erreichen wir, indem wir den Beitragssatz für Kinderlose ab 23 Jahre um 0,25 Prozent anheben. Ich möchte deutlich sagen - auch im Hinblick auf den Titel des CDU/CSU-Antrags -: Es geht hier nicht um eine Bestrafung von Kinderlosen. Denn die Pflegeversicherung ist nun einmal umlagefinanziert und sie ist daher auf nachwachsende Generationen angewiesen. Im Urteil ist nun einmal festgelegt worden, dass Mitglieder, die einen so genannten generativen Beitrag leisten, besser gestellt werden müssen. Herr Storm, ich wahre auch heute mein Gesicht. Es ist kein Geheimnis, dass wir in der Fraktion der Grünen uns Details der Umsetzung teilweise anders vorgestellt haben. Einige unserer Bedenken konnten auch in der Anhörung nicht ausgeräumt werden. Aber eines sage ich Ihnen: Wir übernehmen Verantwortung und wir sind standfest. ({1}) Denn wir verschließen uns nicht der Einsicht, dass im anderen Fall das Urteil nicht fristgerecht umgesetzt werden könnte und somit ein ganzes System ruiniert werden würde. ({2}) Wir haben auch die Lösung für viele Probleme, die in der Anhörung genannt wurden, in Änderungsanträge aufgenommen; auch da verweigern Sie sich. ({3}) In der ersten Lesung habe ich es Ihnen schon einmal gesagt: Auch die Oppositionsfraktionen haben mit ihren Anträgen bei weitem nicht den Stein der Weisen gefunden. ({4}) Ihre Anträge sind in der Anhörung ebenfalls ganz klar durchgefallen. Hier gilt genauso: setzen sechs! ({5}) Auf den Antrag der FDP möchte ich eigentlich gar nicht näher eingehen; seine Realitätsfremdheit ist offensichtlich. Sie können es im Anhörungsprotokoll gern nachlesen. Vor allem wollen Sie die Mittel aus dem Haushalt nehmen; Sie wollen Steuermittel heranziehen. ({6}) Erkundigen Sie sich doch einmal bei Herrn Eichel! Zum einen wettern Sie in den Haushaltsdebatten immer gegen die Überschuldung; zum anderen wollen Sie das Geld für die Finanzierung der Pflegeversicherung aus dem Haushalt nehmen. ({7}) Der Antrag der CDU/CSU betreibt Augenwischerei; denn der Bonus von 5 Euro pro Kind würde durch eine nicht paritätische Beitragssatzerhöhung für alle Mitglieder finanziert werden. Wo da eine Entlastung für die Familien liegen soll, kann ich nicht erkennen. Ich sage Ihnen: Das ist das Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“. ({8}) Entscheidend ist aber, dass in der Pflegekasse aufgrund dieses Vorschlags 760 Millionen Euro fehlen würden. Ein Beitrag zur Konsolidierung der Pflegekasse ist überhaupt nicht erkennbar. Sie würden wissentlich ein ganzes System an die Wand fahren. Sie verhalten sich hier unverantwortlich. ({9}) Herr Storm, ich stimme Ihnen zu: Weitere Reformschritte sind dringend notwendig. Nur, es nutzt überhaupt nichts, immer nur aufzuzählen, was alles nötig wäre, wenn man nicht sagt, wie man es finanzieren will. Auch da sehe ich bei Ihnen leider immer nur: Fehlanzeige! ({10}) Sie können sicher sein: Wir werden uns nicht verstecken; wir werden auch weiterhin Vorschläge dazu vorlegen, was in Zukunft notwendig ist. Wir beziehen dabei die Ergebnisse des runden Tisches mit ein, aber nicht nach dem Motto: Wenn einer mal nicht weiter weiß, dann bildet er einen Arbeitskreis. Das haben Sie ja heute für die Gesundheitspolitik beschlossen. ({11}) Ich rate Ihnen: Beziehen Sie doch die Pflege auch mit ein, damit die Leute von Ihnen erfahren, was Sie auch in Bezug auf die Pflege wollen. Vielleicht wollen Sie ja auch da eine Kopfpauschale? Ich rate Ihnen aber vor allem: Beziehen Sie doch Herrn Kampeter mit ein, Ihren Haushaltsexperten, der in der „Berliner Zeitung“ gesagt hat: Die Union fordert angesichts neuer Löcher im Bundeshaushalt auch Kürzungen bei den staatlichen Leistungen. Herr Kampeter meinte, es sei endlich an der Zeit; auch bei den so genannten Leistungsgesetzen müsse es Eingriffe geben. Als Beispiel nannte er das Erziehungsund das Kindergeld. ({12}) Ich wünsche Ihnen dabei frohe Verrichtung. Wenn Sie sich in Ihrer CDU/CSU-Fraktion und mit Herrn Kampeter einig sind, dann lassen Sie es uns und die Bevölkerung wissen. Von uns werden Sie in Zukunft klare Antworten bekommen. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Daniel Bahr, FDPFraktion. ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ja erst zwei Jahre im Deutschen Bundestag, aber eine solche Anhörung habe ich wirklich noch nicht erlebt, ({0}) eine Anhörung, in der die Vertreter aller Verbände und alle Experten diesen Gesetzentwurf unisono abgelehnt haben. ({1}) Sie haben Ihnen gesagt, dass Sie die fristgerechte Umsetzung nicht hinbekommen und dass zumindest erhebliche Zweifel an der Verfassungskonformität des vorliegenden Gesetzentwurfs bestehen. ({2}) Deswegen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, ist es nicht die Frage, ob der Vorschlag der FDP-Fraktion fristgerecht umgesetzt werden kann; es geht vielmehr darum, dass Ihr Gesetzentwurf nicht fristgerecht umgesetzt werden kann. Deshalb sollten Sie ihn so schnell wie möglich zurückziehen. Sie verunsichern die Bürgerinnen und Bürger; Sie verunsichern diejenigen, die diesen Gesetzentwurf umsetzen müssen. ({3}) Ich will einen Punkt aus dem Fiasko der Anhörung herausgreifen: Ihr Gesetzentwurf trägt den Titel „KinderBerücksichtigungsgesetz“. Aber Sie berücksichtigen darin gar nicht die Anzahl der Kinder. Frau Staatssekretärin, Sie müssen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch etwas weiter zitieren; denn Sie haben den entscheidenden Absatz weggelassen, als Sie vom breiten Ermessensspielraum des Gesetzgebers gesprochen haben. Danach heißt es nämlich: … allerdings ist er - der Gesetzgeber von Verfassungs wegen verpflichtet, eine Lösung zu wählen, die Unterhaltverpflichtete bereits ab dem ersten Kind relativ entlastet … Das heißt, das Urteil sieht zwingend eine Berücksichtigung der Anzahl der Kinder vor. ({4}) Das ist nach Ihrem Gesetzentwurf nicht der Fall. Sie entlasten nicht, sondern belasten Kinderlose. Sie entlasten die Familien nicht nach der Anzahl ihrer Kinder. ({5}) Genau das aber will die FDP. Wir wollen eine Regelung, die nicht mit viel Bürokratie verbunden ist und durch die die Familien wirklich spürbar entlastet werden. Wir haben daher vorgeschlagen, diese Familien in den ersten drei Lebensjahren des Kindes über das Kindergeld finanziell spürbar zu entlasten, und zwar in Höhe von 150 Euro pro Jahr. - In dem Urteil des Verfassungsgerichts steht nichts über die Dauer der Entlastung. Darin heißt es nur, dass eine entsprechende Berücksichtigung während der Zeit der Erziehungsleistung erfolgen muss. Wir meinen, dass drei Jahre beherrschbar sind, und deswegen schlagen wir das vor. Liebe Frau Selg, tun Sie doch nicht so, als sei das nicht machbar. Sie haben in der ersten Lesung gesagt: Wir können uns keinen Zuschuss für die Pflegekasse leisten. Einer der Änderungsanträge, die vorgelegt wurden, sieht aber einen Zuschuss in Höhe von 20 Millionen für die Pflegekasse vor. Das ist doch nichts anderes als das, was wir vorgeschlagen haben. ({6}) Wir müssten nur noch 80 Millionen drauflegen. Mit 100 Millionen Euro bekommen Sie dies im ersten Jahr finanziert. Schließlich ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Berücksichtigung der Erziehungsleistung durch die Familien zu finanzieren. Daniel Bahr ({7}) ({8}) Frau Selg, nun zu Ihren vollmundigen Ankündigungen, was das Gesetz alles bewirken soll. Noch im Juni, als der Referentenentwurf vorlag, haben Sie von drei Bedingungen gesprochen: Die Demenzkranken müssen berücksichtigt werden, ambulante und stationäre Pflege sind gleichzustellen und es muss eine Demographiereserve aufgebaut werden. ({9}) Nachdem Sie diese drei Bedingungen formuliert haben, können Sie diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({10}) Dieser Gesetzentwurf ist Murks. Damit wird nichts anderes bewirkt, als den Reformbedarf in der Pflege um ein bis zwei Jahre hinauszuschieben. Die Probleme in der Pflegeversicherung lösen Sie mit diesem Gesetzentwurf keineswegs. Deswegen sollten Sie ihn alle ablehnen. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Hilde Mattheis, SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es vorhin von der Parlamentarischen Staatssekretärin gehört: Wir sind uns in der Koalition einig - auch die Opposition sagt diesmal nichts anderes -, dass wir eine umfassende und sorgfältig vorbereitete Reform der Pflege brauchen. ({0}) Dazu brauchen wir eine finanzielle Konzeption, die trägt. Wir alle wissen: Die Pflegeversicherung hat sich grundsätzlich bewährt. Aber zehn Jahre nach ihrem InKraft-Treten brauchen wir neben Strukturreformen dringend auch eine Verbesserung auf der Einnahmeseite. Wir werden dies in den nächsten Monaten hinreichend debattieren und die Gelegenheit haben, uns über die unterschiedlichen Konzeptionen auszutauschen. Heute stand in der „Welt“ schon einiges darüber, was sich die CDU vorstellt. Sie wollen eine Reform der Pflegefinanzierung und hantieren mit einem Beitragssatz in Höhe von 3,2 Prozent. ({1}) Ich möchte gern einmal wissen, wie Sie eine solche Finanzkonzeption vermitteln wollen. Ihre Idee bedeutet im Prinzip, dass alle, die pflegebedürftig sind, ihre Pflegebedürftigkeit zunächst einmal selbst finanzieren müssen, ist also nichts anderes als eine Privatisierung des Pflegerisikos. Das ist mit uns nicht zu machen. Für uns ist mit der Pflegeversicherung Solidarität verbunden. ({2}) Wir werden also in den nächsten Monaten grundsätzlich diskutieren. ({3}) Wir wollen erreichen, dass alte und pflegebedürftige Menschen möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben führen können und dass die Angehörigen der Pflegebedürftigen so weit entlastet werden, dass sie mit der Pflege weder körperlich noch emotional überfordert sind. Heute geht es ausschließlich um die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Vorab möchte ich noch einige grundsätzliche Anmerkungen dazu machen: Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber mit seinem Urteil vor keine leichte Aufgabe gestellt; denn das, was das Gericht verlangt - beitragspflichtige Versicherte mit einem oder mehreren Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung bei der Bemessung der Beiträge relativ zu entlasten -, ist zum einen vor dem Hintergrund der allgemeinen Haushaltssituation des Bundes und der Situation der Pflegekassen nicht einfach, zum anderen führt die große Zahl der Kritikerinnen und Kritiker aus, das Bundesverfassungsgericht betreibe an dieser Stelle selbst Sozialpolitik und überschreite damit seine Kompetenzen. Es ist also keine leichte Aufgabe für uns alle. Nach diesen grundsätzlichen Anmerkungen gehe ich gern auf den Vorschlag der FDP ein, wonach Erziehende in den ersten drei Lebensjahren des Kindes 150 Euro jährlich pro Kind erhalten sollen. Diese Forderung ist höchst problematisch. Das haben unisono alle Sachverständigen - bis auf den Sachverständigen, der von Ihnen bestellt wurde - ausgeführt. Sie legen dazu kein Finanzierungskonzept vor; darauf wurde bereits eingegangen. Die CDU/CSU-Fraktion will mit ihrem Kinderbonus von 5 Euro pro Monat für Kinder unter 18 Jahren genau das nicht umsetzen, was das Bundesverfassungsgericht fordert, ({4}) nämlich Familien mit Kindern zu entlasten, die sich noch in der Erziehungsphase befinden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bahr?

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte. ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Mattheis, in dem Magazin „Pflege intern“ ist am 10. September - einen Tag nach der ersten Lesung des Gesetzentwurfs - ein Kommentar von Ihnen veröffentlicht worden. Darin sprechen Sie sich wörtlich für eine „steuerfinanzierte Umsetzung“ aus. Sie sagen dort: Eine steuerfinanzierte Umsetzung, die Erhöhung des Kindergeldes, erscheint hier als gangbarster Weg. Zum Ende hin heißt es: Mit der „Kindergeld-Lösung“ wäre dagegen im Hinblick auf unser eigentliches Anliegen, die Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes zur Reform der Pflege, keine Vorfestlegung getroffen … Und außerdem: Der Personenkreis ist klar beschrieben. Dagegen ist die Eingrenzung von so genannten Kinderlosen sehr schwierig und wirft viele Detailfragen auf. Nachdem ich gelesen habe, was einen Tag nach der ersten Lesung veröffentlicht wurde, frage ich mich: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf der Regierung nicht zu? Stimmen Sie dem FDP-Vorschlag zu? ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Herr Kollege Bahr, solche Artikel werden nicht punktgenau geschrieben; auch dieser ist nicht erst einen Tag nach der ersten Lesung, sondern etwas früher verfasst worden. Aber das spielt jetzt eine untergeordnete Rolle. Zweitens. Wir haben immer gesagt - auch in dieser Hinsicht besteht große Übereinstimmung -, dass das, was das Bundesverfassungsgericht uns aufgetragen hat, nicht so einfach zu lösen ist. Das Wunschdenken hebt sich manchmal von dem ab, was man in der Realität umsetzen kann. In diesem Fall ist das nicht anders: Der Wunsch, das Urteil über eine Kindergeldlösung umzusetzen, ist das eine; ob man dafür Steuermittel locker machen kann, ist etwas ganz anderes. Das haben auch viele Sachverständige bestätigt. ({0}) Eine Diskussion wie die, welche wir gestern über das Thema Eigenheimzulage geführt haben, möchte ich bei diesem Thema nicht auch noch haben. ({1}) Deshalb haben wir ganz offen gesagt: Bei der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils kann es nur eine zweitbeste Lösung geben. Aber diese Lösung müssen wir finden; in diesem Fall ist die Lösung die der Koalition. ({2}) Ich halte die drei Verbesserungen, die wir auf der Grundlage der Sachverständigenaussagen vom 22. September in den Entwurf aufgenommen haben, für grundsätzlich wichtig. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hat sich gezeigt, dass wir bezüglich bestimmter Personengruppen Klärungen benötigten. Die Ergebnisse dieser Klärungen haben wir jetzt umgesetzt. So haben wir in den Gesetzentwurf aufgenommen, dass für die Gruppe der ALG-IIEmpfängerinnen und -Empfänger keine Zuschlagspflicht besteht. Eine Prüfung hat zudem ergeben, dass das BSHG eine entsprechende Regelung für Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger gewährleistet. Das ist genauso wichtig wie die Regelung, dass die Beitragszuschläge für kinderlose Leistungsempfänger nach dem SGB III pauschal in Höhe von 20 Millionen Euro pro Jahr gezahlt werden. ({3}) - Herr Bahr, es sind 20 Millionen Euro. Es gibt einen Unterschied zwischen zwei- und dreistelligen Beträgen. Das sollte ich Ihnen eigentlich nicht sagen müssen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das tue ich. Vor diesem Hintergrund glauben wir als Koalition, dass wir mit der ersten Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts das in die Wege geleitet haben, was schon die Parlamentarische Staatssekretärin in ihrer Rede ausgeführt hat: Erstens haben wir uns Spielraum verschafft und die Kassenlage stabilisiert. Zweitens haben wir dem, was das Gericht von uns erwartet und verlangt hat, Rechnung getragen, ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- immer wissend, dass die Reform nicht aufgeschoben ist; denn hier brauchen wir eine Lösung. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 21 a: Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Kinder-Berücksichtigungsgesetzes auf Drucksache 15/3671. Dazu lieVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner gen mir mehrere Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor, ({0}) und zwar vom Kollegen Volker Beck, von der Kollegin Petra Selg und weiteren 17 Abgeordneten der Grünen ({1}) sowie von der Kollegin Ekin Deligöz und weiteren sechs Abgeordneten der Grünen.1) ({2}) Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 15/3837, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- tung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim- men der CDU/CSU und FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 21 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung auf Drucksache 15/3837. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3682 mit dem Titel „Familien entlasten statt Kinderlose bestrafen - Grundlegende Reform der Pflegeversicherung noch in dieser Wahlperiode einlei- ten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Noch Tagesordnungspunkt 21 b: Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3683 mit dem Titel „Familien spürbar durch einen Kinderbonus entlasten - Keine Beitragser- höhungen in der sozialen Pflegeversicherung - Grund- legende Reform beginnen“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit 1) Anlagen 3 bis 5 ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Neustrukturierung der Außenwirtschaftsförderung als Beitrag zur Schaffung von Wachstum und Beschäftigung - Drucksachen 15/746, 15/3269 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Müller ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ({5}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde gern die Aussprache eröffnen. Daher bitte ich diejenigen, die sich nicht beteiligen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzusetzen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs zu dem hier vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion Folgendes bemerken: Wir benötigen keine Neustrukturierung unserer Außenhandelspolitik. Wir haben im Außenhandel ein hohes Maß an Erfolgen zu verzeichnen. Wir bekennen uns dazu, unsere Instrumente immer wieder den Gegebenheiten anzupassen, sie feinzujustieren und, wenn erforderlich, zu steuern. Aber eine Neustrukturierung, wie sie in diesem Antrag suggeriert wird, brauchen wir weiß Gott nicht. Der Außenhandel ist die Triebfeder für wirtschaftliches Wachstum in Deutschland; das wissen wir alle. Der Anteil der Exporte am Sozialprodukt lag 2003 bei rund 35 Prozent und ist damit in den vergangenen zehn Jahren um rund 11 Prozent gestiegen. Jeder fünfte Arbeitsplatz und jeder dritte Industriearbeitsplatz hängt in Deutschland vom Außenhandel ab. Die deutsche Exportwirtschaft hat ihre Position in der Weltspitze gut behauptet und ist nach wie vor nach den Vereinigten Staaten von Amerika auf Platz zwei. Noch wichtiger ist, dass die deutsche Wirtschaft ihren Weltmarktanteil nach zwischenzeitlichen Schwächen Mitte der 90er-Jahre nunmehr bei deutlich über 9 Prozent hat halten können. Dagegen haben andere OECD-Staaten wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan und Frankreich ganz erhebliche Exportanteile verloren. Dies ist insbesondere der Exportkraft Chinas und der mittelosteuropäischen Länder geschuldet. Auch die regionale Struktur ist „topgesund“, wenn ich es so sagen darf. Rund 70 Prozent unserer Handelsbeziehungen sind Handelsbeziehungen mit Europa, vor allem natürlich mit den Staaten der Europäischen Union. Hier muss man sehen, dass diese Beziehungen in den letzten zehn Jahren ein Wachstum um rund ein Drittel des Volumens aufwiesen. Auch hier können wir auf eine Erfolgsbilanz verweisen. Sehr wichtig für unsere politischen Rahmenbedingungen ist auch die Güterstruktur: Der Automobilbau, der Maschinenbau und die Chemieindustrie sind die eigentlichen Träger dieses großen Exporterfolges. Sie machen rund 45 Prozent der Exportgüter aus, die aus Deutschland kommen. Natürlich wissen wir, dass der Außenhandel auch deshalb so robust ist, weil er sich in hohem Maße auf Investitionsgüter stützt. Sie machen rund 45 Prozent der Exporte aus, sind vergleichsweise konjunkturunabhängig und haben auch davon profitiert, dass beispielsweise in China und in den mittelosteuropäischen Volkswirtschaften eine sehr hohe Nachfrage besteht. Die positive Entwicklung des deutschen Außenhandels seit 2001 spiegelt die gegenüber unseren Hauptwettbewerbern verbesserte preisliche Wettbewerbsfähigkeit wider. Das hat vor allen Dingen zwei wichtige Gründe: zum einen die hohe Preisstabilität und die moderate Lohnpolitik, die die Lohnstückkostenvorteile ganz erheblich beeinflusst hat, zum anderen die hohe Produktivität, also der Einsatz neuester Technologien in unserer Produktion, die uns immer wieder Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Ländern bringt. Zur aktuellen Exportentwicklung sei gesagt: Der deutsche Export hat nochmals kräftig an Dynamik gewonnen. Er ist die Stütze der konjunkturellen Erholung. Der Zuwachs bei der Warenausfuhr beträgt im bisherigen Verlauf des Jahres rund 4 Prozent. Die Auftragssteigerung aus dem Ausland lag in den Monaten April, Mai und Juni bei rund 4,1 Prozent. Auch hier ist also ein deutlicher Wachstumstrend erkennbar, der sich natürlich auch positiv auf die Wachstumsprognosen in unserem Land auswirkt. In diesem Zusammenhang müssen wir immer wieder bedenken, dass nichts von alleine kommt. Diese Erfolge müssen immer wieder erarbeitet werden. Es gibt zwei große Problemfelder: Das eine sind die Währungsparitäten - insbesondere die Währungsparität zwischen dem Euro und dem Dollar - und das andere ist die problematische Rohstoffsituation und hier insbesondere die Entwicklung des Ölpreises. - Ich will an dieser Stelle allerdings auch sagen: Es ist ein Erfolg, dass es uns trotz dieser für uns eher ungünstigen Entwicklung gelungen ist, solche Erfolge zu erzielen. Das zeigt, in welch hohem Maße die deutschen Unternehmen Vorsorge geleistet haben, um sich auf derlei Entwicklungen vorzubereiten. Auch hier gibt es also eine sehr positive Entwicklung. ({0}) Die Erfolge sind insbesondere natürlich der Arbeit der deutschen Unternehmen zuzurechnen. Die Politik kann lediglich Rahmenbedingungen setzen und Entwicklungen unterstützen. Ich glaube, dies tun wir mit ganz erheblichem Erfolg. Wir haben hervorragend arbeitende Außenhandelskammern - einschließlich der Repräsentanten sind es 120 in 80 Ländern dieser Welt und eine Bundesagentur für Außenwirtschaft mit rund 50 Korrespondenten, die wertvolle Informationen liefert. Hiermit bin ich bei zwei zentralen Dingen angelangt, die wir tun können: zum einen zu informieren und zum anderen vor Ort zu helfen, damit jene, die Interesse haben, in einem solchen Land zu investieren, Ansprechpartner finden. Wir haben auch etwas für die Auslandsmesseförderung getan. In unserer Politik haben wir eine grundlegende Überlegung platziert: Den ganz großen Unternehmen - Siemens und anderen - müssen wir eigentlich nicht mehr helfen; sie wissen sich selbst zu helfen. Sie sind weltweit bestens aufgestellt. Wo immer man hinkommt: Mindestens ein Vertreter der Firma Siemens ist schon vor Ort. Wir setzen unsere Prioritäten ganz klar auf die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen, die mit ihrer Arbeit beginnen. ({1}) Wir haben noch längst nicht alle Potenziale gehoben. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ihnen zu helfen. Meist können kleine und mittlere Unternehmen an den verschiedensten Ecken dieser Welt nicht gleichzeitig vertreten sein. Sie müssen einen Treffer landen, um dann erfolgreich arbeiten zu können. Dabei wollen und müssen wir ihnen helfen. Dies tun wir sehr erfolgreich. Ich denke, mit dem Instrument der Hermes-Bürgschaften haben wir ganz erhebliche Erfolge erzielt. Rund 200 000 Arbeitsplätze in Deutschland werden allein über diese Absicherungsgeschäfte gesichert. Weil das immer groß thematisiert wird, will ich hinzufügen: 99 Prozent aller Hermes-Anträge werden ohne jede Diskussion durchgeleitet. Das ist auch ganz vernünftig. Ein großer Teil der Anträge liegt vom Antragsvolumen her unter der ersten Schwelle von 2,5 Millionen Euro. Es gibt nur einen sehr kleinen Teil - dieser liegt in sensiblen Bereichen des Umweltschutzes und der Wehrtechnik -, in dem es die bekannten Diskussionen im interministeriellen Ausschuss gibt. Mit der neuen Hermes-Deckung „APG-light“ haben wir es geschafft, dass die Absicherungen im Ausland unbürokratischer und insbesondere auch kostengünstiger werden. Das ist ein Schlüsselthema für all diese deutschen Unternehmen. Mit „Invest in Germany“ haben wir ebenfalls ein gutes Instrument an der Hand. Wir haben hier drei wichtige und bedeutende deutsche Unternehmer gewinnen können, die für Deutschland aktiv sind, nämlich Herrn von Pierer, Herrn Weber und Herrn Mangold. Mit einem Schwerpunkt auf die Vermarktung innovativer Technologien aus Deutschland im Ausland haben wir eine sehr erfolgreiche Strategie begonnen. Zudem haben wir - auch das will ich noch einmal sagen - im Bereich der Zollverfahren die ersten Schritte zur Entbürokratisierung unternommen. Das ist für jeden, der mit einem anderen Handel treiben will, wichtig. Darüber hinaus ist für mich wichtig, dass wir eine konsequente Marktöffnungspolitik betreiben. Wir haben im Juli unter erheblicher Einflussnahme von Minister Clement und der Bundesregierung erreicht, dass in der Welthandelsrunde Rahmenvereinbarungen beschlosParl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt sen worden sind. Wir wollen Fortschritte in der Liberalisierung der Agrarmärkte erzielen, damit auch die Entwicklungsländer eine Möglichkeit bekommen, ihre Produkte in stärkerem Maße auf die Märkte der hoch industrialisierten Länder zu bringen. Andererseits wollen wir aber auch die Themen Industriezölle und Dienstleistung in verstärktem Maße in den Vordergrund rücken, weil wir glauben, hier unsererseits noch ganz erhebliche Potenziale entwickeln zu können, was einer weiteren Unterstützung unserer Wirtschaft zugute käme. Lassen Sie mich eines ganz schlicht sagen: Die Idee des internationalen Handels beruht auf der Erkenntnis, dass es offene Märkte und Wettbewerb gibt. Es ist klar, dass sich die bestmögliche Allokation von Kapital und Arbeit genau danach richtet. Deshalb dürfen wir uns nicht zurückziehen und in die Defensive gehen, sondern wir müssen alles dafür tun, um unsere eigene Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen und weiterzuentwickeln. Dabei hilft uns die Agenda. Auch mit einer Vielzahl von verbesserten Rahmenbedingungen, die seit 1998 in diesem Lande realisiert worden sind, sind wir ein gewaltiges Stück vorangekommen. Daran werden wir weiter bauen. Deshalb - das will ich zum Abschluss sagen - habe ich gar keine Sorge, dass wir es nicht schaffen werden, weiterhin in der Außenwirtschaft ein überaus erfolgreiches Land zu bleiben. Der Erfolg in diesem Bereich zeigt, dass insbesondere das Schlechtreden in diesem Lande so stichhaltig nicht sein kann, sonst hätten wir diese Erfolge in der Welt nicht aufzuweisen. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Erich Fritz, CDU/CSUFraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Holzspielzeug aus Thüringen per Internet in alle Welt, Turbinen nach China, Industrieroboter in die Slowakei und Autos in die USA: Deutschland ist wie nie vorher in der Weltwirtschaft verflochten. Ich möchte deshalb zunächst allen Unternehmern und ihren Mitarbeitern danken, die mit immer neuer Energie und vielen Ideen auf den Märkten dieser Welt unterwegs sind und die trotz aller hausgemachten Schwierigkeiten ihre Chancen nutzen und einen wesentlichen Beitrag zu unserem Wirtschaftsergebnis leisten. ({0}) Dies zu wissen ist ebenso ermutigend, wie in diesen Tagen die nach oben korrigierten Exportprognosen 2004 - der Staatssekretär hat es gerade angeführt - der meisten Forschungsinstitute zu lesen. Eurostat beispielsweise rechnet mit einem Plus von 1,5 Prozent, der IWF mit einem Plus von 1,9 Prozent. Auch die OECD hat ihre Prognose für Deutschland von 1,1 Prozent auf 1,7 Prozent erhöht. All das klingt sehr gut. Das Bild wird allerdings darüber getrübt, dass in deutschen Importen immer weniger deutsche Wertschöpfung steckt. Der Anteil ausländischer Zulieferungen ist in 15 Jahren von 20 auf 40 Prozent gestiegen. Das ist zwar im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung ein nicht zu beklagender Vorgang, aber er macht sich natürlich an den Arbeitsplätzen bemerkbar, die mit dem Export zusammenhängen. Die Forschungsinstitute, zum Beispiel das IfW, sagen aber auch voraus, dass das erneute Anziehen des Ölpreises dazu führen dürfte, dass die Konjunktur in der zweiten Hälfte dieses Jahres etwas schwächer verläuft und sich die Zuwächse beim Export angesichts einer etwas langsameren Gangart der Weltkonjunktur abflacht, auch wenn auf der anderen Seite die dämpfenden Effekte aus der Euroaufwertung nachlassen. Der Euroaufwertung ist zu einem guten Teil der Titel „Exportweltmeister 2003“ geschuldet; Sie kennen das. Tatsächlich sind wir wechselkursbereinigt seit Jahren „nur“ Exportvizeweltmeister. Die Exportleistung ist gut, aber sie ist nicht so gut, wie behauptet wird. Es gibt durchaus Veränderungen, die man ernst nehmen muss. Eine Studie des DIHK macht deutlich, dass Deutschland hinter die USA zurückfiele, würde man den durchschnittlichen Euro-Dollar-Kurs des Jahres 2002 zugrunde legen. Ein besserer Indikator, die Exportperformance, bei der das Wachstum der deutschen Exporte mit dem der Importe der deutschen Handelspartner gemessen wird, zeigt, dass Deutschland zwischen 1990 und 2003 ungefähr ein Siebtel seiner Weltmarktanteile am Welthandel verloren hat. Der Welthandel insgesamt wächst. Es wird immer schwieriger, einen entsprechenden prozentualen Anteil zu halten, vor allen Dingen angesichts der Dynamik in einigen Bereichen. Man könnte also meinen, es sei alles in Ordnung. Trotzdem ist es sinnvoll, gerade auf einem Feld, auf dem wir an einem Strang ziehen, wieder über die Frage nachzudenken: Wie kann man es noch besser machen? Es gibt Fortschritte wie die Ausweitung des AHK-Netzes und die Erhöhung der Mittel in der Auslandsmesseförderung von 35 Millionen Euro im Jahr 2002 auf 36 Millionen Euro im Jahr 2003. Darüber freuen wir uns. Aber die Herausforderungen sind nach wie groß und deshalb war es sinnvoll, diesen Antrag zu stellen, meine Damen und Herren. Es gibt eine Reihe von Einschränkungen. Beim Vergleich der Attraktivität einzelner Länder als Investitionsstandorte rutscht Deutschland von Jahr zu Jahr ab. Inzwischen liegen wir hinter einer Reihe von europäischen Ländern. Es gibt also zahlreiche Felder, auf denen man weiterhin aufmerksam sein muss. Wir wissen alle, dass die beste Außenhandelsförderung natürlich eine vernünftige Reformpolitik in Deutschland ist. Wenn man die Unternehmen von Bürokratie und von zu schwierigen Genehmigungsverfahren entlastet, wenn man ihnen die Ertragskraft zugesteht, die ihnen das Bewegen auf dem Weltmarkt ermöglicht, wenn man ihnen die Flexibilität gibt, die sie brauchen, dann ist das die beste Förderung der Außenwirtschaft. Natürlich will ich überhaupt nicht an dem von uns gemeinsam für gut befundenen Instrumentarium der Bundesrepublik Deutschland herummäkeln. Dafür gibt es keinen Grund. Es ist ein sehr bewährtes Instrumentarium, es ist bekannt und es wird deshalb sehr gut genutzt im Vergleich zu vielen anderen Unterstützungsformen in der Wirtschaftspolitik, von denen manchmal die Betroffenen oder die, die sie nutzen könnten, noch nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Ziel unseres Antrages ist es, meine Damen und Herren, die Instrumente der Außenwirtschaftspolitik kontinuierlich an den Bedarf und an die Belange vor allem der mittelständischen Wirtschaft anzupassen. Das ist angesichts der Bedeutung des mittelständischen Exportgeschäfts und der mit der Globalisierung einhergehenden Herausforderungen sowie im Hinblick auf die neuen Wettbewerber in China, in Russland, in den EU-Beitrittsstaaten und in den hoffentlich bald wieder aufkommenden südamerikanischen Staaten aktueller und notwendiger denn je. Die Bemühungen, mit der Außenwirtschaftsoffensive vor allem exportorientierte Mittelständler noch stärker ins Auslandsgeschäft zu bringen, sind ein guter Ansatz, sie zeigen aber noch nicht die Wirkung, die wir brauchen. Nach wie vor ist es für Mittelständler wesentlich schwieriger als für die großen Global Players, sich auf dem Weltmarkt zu bewegen. Der Mittelstandsbericht 2004 des DIHK zeigt genau in diesem Bereich noch Schwächen auf. Deshalb müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Mittelständler noch stärker auf den Weltmarkt zu bringen. Für die KMUs ist es schwieriger, gestiegene Rohstoffpreise an ihre Kunden weiterzugeben. Auch der steigende Preisdruck durch die MOEWettbewerber muss berücksichtigt werden. Gerade entstandene Chancen werden dadurch schon wieder begrenzt und eingeschränkt. Unsere Aufgabe ist es, da die richtigen Methoden zu finden. Meine Damen und Herren, einige Einzelforderungen aus unserem Antrag, bei denen sich die Bundesregierung ein wenig schwer tut, möchte ich noch ansprechen. Angesichts der guten Ergebnisse der Hermes-Exportkreditgarantien und des erwirtschafteten Hermes-Überschusses plädieren wir dafür, das Hermes-Instrumentarium über das von Rot-Grün eingeführte und erfreulicherweise stark angenommene APG light hinaus noch mittelstandsfreundlicher zu gestalten. Vertreter der deutschen Wirtschaft haben Ihnen dazu mit der Einführung von Schadensfreiheitsrabatten, der Reduzierung der Selbstbehalte und der Entgeltsenkung konstruktive Vorschläge gemacht. Darüber müsste man einmal ernsthaft nachdenken. Außerdem fordern wir die Regierung auf, in Brüssel für eine Übergangsfrist für Geschäfte mit Mittel- und Osteuropa einzutreten, falls die EU-Kommission die Marktfähigkeit von Kreditrisiken in den EU-Beitrittsländern feststellt und damit die staatlichen Deckungen wegfallen. Eine solche Übergangsfrist ist unerlässlich, weil die Absicherungsmöglichkeiten auf dem privaten Markt unzureichend und aufgrund der hohen Kosten vor allem für mittelständische Unternehmen unzugänglich sind. Eine gerade erhobene Umfrage zeigt, dass viele Mittelständler zur privaten Absicherung noch keinen Zugang haben. Da müssen Sie noch einmal genau hinschauen, Herr Staatssekretär Staffelt. Das ist ein Feld, auf dem Sie sich noch bewähren können. Die BfAI ist wirkungsvoller geworden. Es ist ein erstaunlicher Weg mit IXPOS, den Internetangeboten und der Ausweitung des Korrespondentennetzes zurückgelegt worden. Ich finde, da ist zur richtigen Zeit das Richtige geschehen. Aber ({1}) - natürlich „aber“, es muss doch weitergehen - was erheblich hindert, ist der Eigenfinanzierungsanteil. Mitte der 90er-Jahre war ein Anteil von 20 Prozent angepeilt, dann wurde die Marge auf 14 Prozent reduziert. Tatsache ist, dass dieser Anteil nicht zu erwirtschaften ist. Viele Dinge kann man verkaufen. Aber bei den Internetzugriffen zeigt sich ganz klar, dass es zwar ein Rieseninteresse an dem Angebot gibt, aber die Leute das Interesse verlieren, sobald sie Gebühren entrichten sollen. Das ist nicht verwunderlich. Information ist kein Gut, das man sich vorher anschaut. Information muss man kaufen, ohne zu wissen, was man bekommt. Also gehen viele nicht weiter. Wir könnten einen wesentlichen Beitrag gerade für die ganz kleinen Unternehmen leisten, wenn wir den Eigenfinanzierungsanteil senken und die Internetangebote für Abonnenten frei zugänglich machen würden. Unsere Konkurrenten in Europa machen dies übrigens schon. Die Briten, die Niederländer, die Franzosen und die Österreicher haben das umgestellt. Darüber sollten wir nachdenken. Bei der Auslandsmesseförderung sollten wir prüfen, ob Großereignisse wirklich die sinnvollste Präsentation sind und ob nicht eine noch stärkere Konzentration auf den Mittelstand sinnvoll ist. ({2}) - Das ist in Ordnung. - Man sollte fragen, ob man dort, wo heute noch künstliche Grenzen wie zum Beispiel die Mindestbeteiligung existieren, flexibler werden kann. Außerdem müssen wir gemeinsam aufpassen, dass nicht eine weitere Abschmelzung des Haushaltstitels erfolgt. Denn das ist für die kleinen und mittleren Unternehmen eines der Hauptinstrumente, um den Fuß in einen neuen Markt zu bekommen. Wir würden sehr gerne die Anlaufstellen des Wirtschaftsministeriums und des Auswärtigen Amtes zusammenführen. Es war gut, dass seinerzeit beim Auswärtigen Amt eine Anlaufstelle für politische Flankierung eingerichtet worden ist. Später kam das Gleiche im Wirtschaftsministerium. Diese Entwicklung war logisch; denn der Unternehmer wendet sich zuerst an das Wirtschaftsministerium, bevor er ins Außenministerium geht. Das Außenministerium hat die Weisungsbefugnis. Ist es nicht möglich, eine Serviceeinrichtung beider MinisteErich G. Fritz rien einzurichten, die dem Unternehmen eine solche Dienstleistung aus einer Hand anbietet? Außerdem gibt es eine Reihe von Beschwerden von der mittelständischen Wirtschaft, dass die politische Flankierung wieder schwächer geworden ist. Das ist kein Vorwurf an das BMWA. Es heißt, der Bundesaußenminister interessiere sich nicht für Wirtschaftsfragen. ({3}) Der Schwerpunkt, der vor ihm gelegt worden sei, existiere nicht mehr und man stehe wieder vor verschlossenen Türen. Herr Kuhn, seien Sie so freundlich und sprechen Sie ein Wort mit dem Außenminister, damit er wieder ein klares Wort im Hause sagt. Unsere Standortwerbung ist nicht gut. Sie ist nicht aus einem Guss, sie ist undifferenziert und es gibt eine Konkurrenz zwischen Bund und Ländern. Es ist nicht so einfach, aber man muss versuchen, eine Lösung zu finden. Dazu gehört auch, zu prüfen, ob man die Invest in Germany GmbH und das IIC zusammenlegen kann. Ich habe in einer Sitzung des Wirtschaftsausschusses von Herrn Schlauch gehört, dass man daran denkt. Jetzt ist es aber für einige Jahre festgeschrieben. Man sollte die Sache nicht aus den Augen verlieren. Die Agentur unseres westlichen Nachbarn Invest in France - sie gibt es noch nicht so lange - gibt inzwischen das Dreifache der Summe aus, die wir für Standortwerbung ausgeben. Dieser Bereich ist also noch etwas unterbelichtet. Ich finde es gut, dass es jetzt Personen gibt, die sich dafür im Rahmen von 1-Dollar-Jobs engagieren. Das war früher eine interessante Sache. Da können Potenziale mobilisiert werden, ohne dass Kosten anfallen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir an den organisatorischen Strukturen arbeiten. Erfolg in der Außenwirtschaft muss jeden Tag aufs Neue errungen und verteidigt werden. Die Wettbewerber in dieser Welt schlafen nicht. Die Probleme bei der Rohstoff- und Energiefrage und bei den Liberalisierungsbemühungen im Rahmen der WTO verlangen, dass wir alles tun, um vor allem unsere mittelständische Wirtschaft auf den Märkten gut zu platzieren. Deshalb ist es wichtig, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Außenwirtschaftsförderung effektiver zu gestalten und dem Mittelstand den Zugang zu den Auslandsmärkten zu erleichtern. Auch wenn Sie diesen Antrag jetzt ablehnen, seien Sie so freundlich, sich weiter mit diesen Vorschlägen zu beschäftigen. Denn wir wollen gemeinsam das Instrumentarium verbessern. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der Breite des Themas, die in dem Antrag der CDU/CSU und in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, ist meines Erachtens festzustellen, dass wir hinsichtlich der deutschen Außenwirtschaftsförderung und ihrer Erfolge gut dastehen. Ich denke, dass Sie das genauso sehen, Herr Fritz. Das wird auch aus Ihren Ausführungen deutlich. Die Außenwirtschaftsoffensive „Weltweit aktiv“ der Bundesregierung ist gut, wird von uns unterstützt und trägt bereits Früchte. Sie haben im Zusammenhang mit Informationen über mögliche Auslandsengagements mittelständischer Firmen die gute Arbeit der BfAI insbesondere für den Mittelstand angesprochen. Ich bin sehr zufrieden damit; denn es wurden eindeutig Verbesserungen erzielt. Ich möchte an dieser Stelle etwas zu dem Beitrag anmerken, den diejenigen entrichten müssen, die dort Informationen abrufen. Ich halte diese Regelung für gut; ({0}) denn bei uns im Schwäbischen gibt es den guten alten Spruch „Was nichts kostet, taugt nichts“. Der für die Informationen zu zahlende Betrag hat viele veranlasst, sich genau zu überlegen, ob sie ihnen das wert sind. Das hat sicherlich die Wertschätzung erhöht und zu einer besseren Nutzung der Informationen geführt. Insofern halte ich den Einwand, es wäre viel besser, die Informationen kostenlos zur Verfügung zu stellen, für zu kurz gesprungen; es hilft in der Sache nicht weiter. Die Exportzahlen sprechen für sich. Die derzeit bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind auch nicht auf den Export zurückzuführen, sondern haben sich aus dem Binnenmarkt ergeben. Notwendig ist eine Verstetigung des Exports. Dazu ist im Zusammenhang mit dem Thema Innovation bereits alles Wichtige gesagt worden. Auch bei den deutschen Direktinvestitionen im Ausland stehen wir nicht schlecht da. Ich will Ihnen die Entwicklung über einen längeren Zeitraum anhand der Zahlen darstellen; denn meines Erachtens operieren Sie immer wieder mit falschen Zahlen. 1996 wurden Direktinvestitionen in einem Umfang von 4,94 Milliarden Euro getätigt, Herr Fritz. 1997 waren es 10,61 Milliarden Euro, 1998 - in diesem Jahr haben wir die Regierung übernommen - 22,19 Milliarden Euro, 1999 52 Milliarden Euro - dieser starke Anstieg ist auf den Technologieboom zurückzuführen - und im Jahr 2000 waren es 215 Milliarden Euro. ({1}) In dem Jahr hat sich die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone ausgewirkt. Das muss berücksichtig werden, weil sich die Summe dadurch entsprechend erhöht hat. Dann kam es zum Crash, als die Dotcom-Blase geplatzt ist. Das hat neben steuerlichen Auswirkungen zu einem Rückgang der Investitionen geführt. 2001 betrug die Summe der Direktinvestitionen 23 Milliarden Euro, 2002 38 Milliarden Euro. Im Krisenjahr 2003 war die Summe der Direktinvestitionen mit 11,4 Milliarden Euro immer noch höher als in Ihrer Regierungszeit in den 90er-Jahren. ({2}) Die Tendenz ist derzeit steigend. Insofern besteht kein Anlass zu Kritik und Skepsis. Sie haben Recht: Eine Initiative wie „Invest in Germany“ ist notwendig und gut. Eine solche Initiative wird man angehen müssen. Aber ich möchte zum Schluss dieser kurzen Rede eines festhalten: Wenn ich in London, in den USA oder wo auch immer mit Vertretern der Wirtschaft über Standorte und Ähnliches spreche, dann stelle ich immer wieder fest, dass Deutschland als guter Standort betrachtet wird. Im Verlaufe eines Gesprächs werde ich oft gefragt, was eigentlich bei uns los sei. Sie hörten von deutschen Politikern - sie geraten wohl oft an Vertreter der CDU bzw. CSU -, dass in Deutschland alles so schrecklich sei. Meine Gesprächspartner haben mir gegenüber festgestellt, es gebe kein anderes Land, in dem die eigene Lage so miesgeredet wird, wie es in Deutschland in dem von Ihnen angefeuerten Diskurs der Fall ist. ({3}) Insofern will ich Ihnen zum Schluss eine ernsthafte Empfehlung für die Initiative „Invest in Germany“ geben. Das Beste, das Sie persönlich für die Förderung der Außenwirtschaft und der Direktinvestition tun können, ist, unser Land, den Kanzler, die Agenda 2010 und die deutsche soziale Marktwirtschaft zu loben. ({4}) Erwähnen Sie aber nicht die Namen „Angela Merkel“ und „Guido Westerwelle“. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sowieso. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Lieber Herr Kuhn, zu loben ist unsere deutsche Wirtschaft, die sich trotz des Fehlens passender Rahmenbedingungen redlich müht, Geschäfte zu machen und am Markt präsent zu bleiben. Das ist gerade für mittelständische Unternehmen eine riesengroße Aufgabe. Herr Kuhn, Sie sollten hier nicht so dick auftragen; denn Sie haben allen Grund, Ihre Leistungen selbstkritisch zu hinterfragen. ({0}) Keine Frage, die Außenwirtschaftsförderung ist angesichts ihrer Bedeutung sowohl für das internationale als auch für das deutsche Wirtschaftsgefüge eine Schlagader. Herr Staatssekretär Staffelt, es ist zwar richtig, dass auf diesem Gebiet sehr viel Positives geschehen ist. Aber es ist sicherlich auch für Sie keine unüberwindbare Hürde, einzuräumen, dass die Außenwirtschaftsförderung effizienter und unbürokratischer gestaltet werden kann. Zumindest das muss doch möglich sein. Damit hat der Kollege Fritz völlig Recht. Ich sage Ihnen im Namen der FDP-Bundestagsfraktion, dass der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion sehr gut ist; denn in ihm wird die tatsächliche Lage sehr kritisch beschrieben. Kleine und mittelgroße Unternehmen haben es wirklich sehr schwer, sich international aufzustellen. Deshalb fordern wir nicht mehr Mittel - wir wissen ja, dass das bei der momentanen Finanzlage schwierig ist -, sondern, die Effizienz des Mitteleinsatzes zu verbessern. Wir sollten den Firmen zum Beispiel im Rahmen der Auslandsmesseförderung mehr helfen. Hier gibt es noch eine Menge zu tun; denn die Transaktionskosten eines Auslandsengagements stellen nach wie vor sehr hohe Hürden für die kleinen und mittelgroßen Unternehmen dar. Ich bitte Sie, noch einen anderen Punkt zu überdenken. Die Vertreter der freien Berufe gehören bislang nicht zum Förderkreis. Ich finde, angesichts der Tatsache, dass international auch Dienstleistungen unter die Exportförderung fallen, müssen die freien Berufe ebenfalls berücksichtigt werden. Zum Thema Effizienzsteigerung: Herr Staffelt, die Außenwirtschaftsförderung ist derzeit in verschiedenen Ressorts angesiedelt. Auch hier können wir mehr Potenzial heben und effizienter arbeiten. Das hat der Kollege Fritz eben ganz klar herausgestellt. Für uns ist das Nebeneinander verschiedener Akteure störend. Hier gibt es eine Menge zu tun. Wir müssen für eine Angleichung der Förderinstrumente und für Entbürokratisierung sorgen. Wir müssen vor allen Dingen den kleinen und mittelgroßen Unternehmen eine faire Chance geben, sich nicht nur europäisch - das machen sie schon häufig -, sondern auch international aufzustellen. Diese Unternehmen sollten sich mehr zutrauen. Ich bitte Sie daher, den Antrag der CDU/CSU positiv zu bescheiden. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/3269 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Neustrukturierung der Außenwirtschaftsförderung als Beitrag zur Schaffung von Wachstum und Beschäftigung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/746 abzulehnen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung ({0}) - Drucksache 15/3654 ({1}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) - Drucksachen 15/3824, 15/3866 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/3836 Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Lehn Dr. Michael Luther Anja Hajduk Otto Fricke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster der Kollege Peter Dreßen, SPD-Fraktion.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir verabschieden heute ein Gesetz, das schon vier Wahlperioden im Gespräch war, dessen Verabschiedung aufgrund unterschiedlicher Meinungen bei Bund und Ländern aber immer wieder gescheitert ist oder hinausgezögert wurde. Wir haben heute einen guten Tag; denn heute werden - wenn ich das richtig sehe - alle Fraktionen in diesem Hause dem Rentenversicherungsorganisationsgesetz zustimmen. Man fragt sich natürlich: Wer sind eigentlich die Gewinner dieses Gesetzes? Das sind in erster Linie die Versicherten; denn durch dieses Gesetz werden die Verwaltungskosten innerhalb von fünf Jahren um rund 350 Millionen Euro gesenkt. Darüber hinaus haben die Versicherten Grund, sich darüber zu freuen, dass Auskunft und Beratung zukünftig sehr dezentral, nämlich in jeder mittelgroßen und in jeder größeren Stadt, möglich sein werden. Hinzu kommt, dass die Entscheidungswege viel kürzer sein werden: Unter dem Dach der Deutschen Rentenversicherung werden sich zukünftig alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wiederfinden. Die Versicherten müssen also nicht, wie bisher, erst einmal klären, wer für sie wann und wo zuständig ist. Sie wenden sich vielmehr an die Deutsche Rentenversicherung, egal ob sie bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, bei einem der Regionalträger oder bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See versichert sind. Gewinner sind auch die Länder und damit die Beschäftigten bei den diversen Rentenversicherern; denn die Arbeitsplätze bleiben zum größten Teil an ihren Standorten erhalten. Wir haben in der Vergangenheit bestimmte Auszehrungen erlebt, weil es in diesem Land immer mehr Angestellte gab. Dieses Gesetz sieht eine Aufschlüsselung der Versicherten vor: 55 Prozent bei den Regionalträgern, 40 Prozent bei der Deutschen Rentenversicherung Bund und 5 Prozent bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See. Ich hoffe - das gebe ich zu -, dass, insbesondere in Bayern, weitere Fusionen stattfinden werden. Dabei könnte das Modell in Baden-Württemberg Pate stehen; denn dort wurde der größte Teil der Arbeitsplätze durch den Zusammenschluss von LVA Baden und LVA Württemberg in Karlsruhe und Stuttgart erhalten. Allerdings wurden in den Führungsetagen Mittel eingespart. In der einen oder anderen Ecke dort knistert es jedoch noch. Auch haben wir die große Hoffnung, dass die angedachten Fusionen im Norden unserer Republik Wirklichkeit werden und sich nicht als Fata Morgana erweisen. Die Mitarbeiter des Bundesrechnungshofs können sich zumindest teilweise zu den Gewinnern zählen; denn ihr Mindestziel von 10 Prozent Einsparungen werden wir erreichen. Wenn wir den Vorschlägen des Bundesrechnungshofes nun doch nicht zu 100 Prozent folgen - er hatte vorgeschlagen, dieses Ziel in kürzerer Zeit zu erreichen; die 10 Prozent waren nur die Untergrenze des Einsparpotenzials -, so hat dies im Wesentlichen soziale Gründe: Bei einer kürzeren Umsetzungsphase wären betriebsbedingte Kündigungen nicht zu vermeiden gewesen. So gehen wir davon aus, dass das Ziel durch normale Fluktuationen und Übergänge in die Altersrente erreicht wird. Damit hat Rot-Grün ein Beispiel dafür gegeben, wie es möglich ist, soziale Verantwortung und ökonomische Notwendigkeiten unter einen Hut zu bringen. ({0}) Ein weiterer Gewinner in dieser Angelegenheit ist der Wettbewerb. Durch das Benchmarking der verschiedenen Rentenversicherungsträger auf Ebene des Bundes und der Länder wird es zu einem Wettstreit über kostengünstige Lösungen kommen. Ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, dass es noch Möglichkeiten für Einsparungen gibt. Ich nenne als Beispiel die Abkommensfälle. Dabei handelt es sich um ausländische Arbeitnehmer, zum Beispiel aus Italien, die teilweise in Deutschland gearbeitet haben und Rentenansprüche bei uns und in Italien erworben haben. Die LVA Schwaben betreut als Verbindungsstelle 92,6 Prozent dieser italienischen Arbeitnehmer. Gleichzeitig gehören von ihnen, was die gesetzliche Rentenversicherung angeht, nur 5,3 Prozent der BfA und 2 Prozent der Knappschaft an. Angesichts dessen kann man sich schon die Frage stellen, ob der Regionalträger Schwaben der Deutschen Rentenversicherung in Zukunft nicht alle Versicherten aus Italien betreuen sollte. Man würde dadurch sicherlich die eine oder andere Million sparen. Dieses Gesetzesvorhaben hat eine intensive Beratung erfahren. Das strucksche Wort, dass kein Gesetz so verabschiedet wird, wie es in den Bundestag eingebracht worden ist, trifft auf dieses Gesetz voll und ganz zu. ({1}) So hat Rot-Grün in den Beratungen erkannt, dass der vorgesehene Genehmigungsvorbehalt das bisherige Beanstandungsrecht nicht ersetzen sollte. ({2}) Wir sind damit einem Wunsch der Rentenversicherungsträger, aber auch des Bundesrates entgegengekommen. Ausgenommen davon bleibt die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See, weil der Bund hier in der Defizithaftung steht. Die Selbstverwaltung muss jedoch wissen, dass sie auch Verantwortung übernommen hat. ({3}) Wir werden sehr genau darauf achten, ob das vorgegebene Einsparziel erreicht wird. Dem dient auch der Änderungsantrag Nr. 9, mit dem wir in § 220 Abs. 3 SGB VI diesen Wunsch verfestigen. Die Regelung eines weiteren Änderungsantrages, den wir beschlossen haben, kommt wiederum den Versicherten zugute, denn die Deutsche Rentenversicherung Bund wird in Zukunft regelmäßig Informationen zu Fragen der Alterssicherung einschließlich der Rehabilitation herausgeben. Dies führt zu einer verbesserten Aufklärung aller Versicherten und damit auch zu einer Erhöhung der Akzeptanz der Deutschen Rentenversicherung. ({4}) Auch haben wir in der Deutschen Rentenversicherung Bund bei den Kompetenzabgrenzungen zwischen dem erweiterten Direktorium und den Fachausschüssen Änderungen vorgenommen, die die Arbeit der Selbstverwaltung in Zukunft erleichtern werden. Ein weiterer Änderungsantrag stellt klar, dass auch die Personalvertretungen aus den verschiedenen Bereichen in der Übergangsphase zusammenarbeiten müssen. Abschließend möchte ich mich insbesondere bei der Ministerin Ulla Schmidt, dem Staatssekretär Heinrich Tiemann und der Ministerialrätin Frau Freund bedanken, die hier eine entsprechend gute Vorarbeit geleistet haben. ({5}) - Selbstverständlich geht mein Dank auch an Staatssekretär Thönnes, aber bei Heinrich Tiemann ist ja das Ganze zusammengelaufen. Rot-Grün hat hiermit gezeigt, dass auch ein schwieriger Sachverhalt kompetent und zur Zufriedenheit aller gelöst werden kann. Dabei möchte ich mich - ausnahmsweise einmal - auch bei der Opposition für die konstruktive Mitarbeit herzlich bedanken. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSUFraktion.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einig mit Herrn Dreßen zu sein ist ein seltener Genuss. ({0}) Die Neuorganisation der Rentenversicherung ist ein großer Schritt. Der Begriff „historische Entscheidung“ wird oft inflationär gebraucht, manchmal sogar hochstaplerisch. Die Neuorganisation der Rentenversicherung verdient aber das Prädikat „historische Weichenstellung“. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, begrüßen und unterstützen diese historische Weichenstellung. ({1}) Keine Trennung mehr zwischen den Rentenversicherungen für Arbeiter und für Angestellte; von jetzt an sind sie zusammengefasst in der gemeinsamen Arbeitnehmerrentenversicherung. Keine Zersplitterung, aber auch keine bürokratische Zentralisierung; eine gegliederte, bürgernahe Rentenversicherung, aber ein organisatorisches Dach, eine starke gemeinsame Stimme. Keine Zerschlagung - das ist ganz wichtig, da war manches in Gefahr - leistungsfähiger Verwaltungen, vielmehr Straffung der Organisationsstruktur im Ganzen. Auch wenn wir uns einerseits gewünscht hätten, dass diese Weichenstellungen früher vorgenommen worden wären, so war es andererseits doch richtig, sie sorgfältig vorzubereiten; denn unsere gesetzliche Rentenversicherung braucht Verlässlichkeit und Vertrauen. Sie muss von Berechenbarkeit geprägt sein. Deshalb darf man Entscheidungen über die Organisationsstruktur nicht übers Knie brechen. Im Ganzen also ein gelungener Wurf, ein gelungener Kompromiss. Die gesetzliche Rentenversicherung bekommt ein neues, tragfähiges Fundament, das mehr Effizienz, mehr Effektivität und bessere Servicequalität gewährleistet. Die neue Rentenorganisation ist ein Konsens der Vernunft. Insoweit hat Herr Dreßen Recht: Sie ist eine große Gerald Weiß ({2}) Gemeinschaftsleistung. Viele haben an dieser Gemeinschaftsleistung Anteil: die Bundesregierung, die Länderregierungen, gerade die von CDU und CSU getragenen, die Opposition im Bundestag, die Koalition im Bundestag. Aber nehmen wir uns doch bescheiden ein bisschen zurück. Der mit Abstand größte Beitrag kam aus der Selbstverwaltung, die in diesem Punkt Mut und Gestaltungskraft bewiesen hat ({3}) und die unseren Dank und unseren Respekt verdient. ({4}) Ohne den Kraftakt der Selbstverwaltung - da hat einiges seine Zeit gebraucht - gäbe es, Kollege Dreßen - deshalb meine ich, Sie haben mit dem Lob an der falschen Stelle angefangen -, heute keinen Gesetzesakt. Wir tragen diese Reform mit. ({5}) Bei allen Reformerfordernissen, auch im Leistungsrecht, bei aller Notwendigkeit, stärker als bisher ergänzend betrieblich und privat vorzusorgen, gilt für uns: Ohne eine starke erste Säule der Alterssicherung, umlagefinanziert und solidarisch organisiert, kommen wir auch in Zukunft nicht aus. Im Übrigen kann jeder, der eine bessere Vernunftgemeinschaft der Parteien und in der Gesellschaft wünscht, heute feststellen - insoweit ist es ein guter Tag -: Ihr habt zwar ein bisschen lange gebraucht; aber am Ende ist gute Arbeit dabei herausgekommen. Gerade weil wir eine starke gesetzliche Rentenversicherung wollen, müssen wir sie modernisieren. Das beginnt damit, dass wir den alten Hut der Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten auch in der Organisationsstruktur der Rentenversicherung als nicht mehr zeitgemäß über Bord werfen. ({6}) Das Arbeitsrecht hat diese Aufspaltung längst überwunden. Bei den Kündigungsfristen und in vielen Tarifverträgen hat man sich von ihr verabschiedet; jetzt geschieht das auch in der Rentenversicherung. Handlungsbedarf bestand auch, weil der Anteil der Arbeiter an den Beschäftigten stetig zurückgeht. Durch den Wandel der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft steigt der Anteil der Angestellten ständig. Es kann nicht angehen, dass dem einen Träger die Versicherten ausgehen, während zugleich der Bundesträger einen immer größeren Anteil des Versichertenkuchens schultern muss. Richtig ist auch, dass durch den Zusammenschluss der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger zur Deutschen Rentenversicherung Bund Grundsatz- und Querschnittsaufgaben mit verbindlicher Entscheidungskompetenz gegenüber den Trägern gebündelt werden. Wir brauchen eine Institution, die zugleich Thinktank ist und die die Rentenversicherung wirksam nach außen, auch gegenüber der Politik, mit starker Stimme vertritt. Bei aller Notwendigkeit einer starken Zentrale und einer schlagkräftigen Vertretung nach außen durften wir gerade keinen zentralistischen, bürokratischen Moloch und keine Monopolstruktur schaffen. Der Kompromiss, der gefunden wurde, verhindert dies. Alles in allem ist eine Reform herausgekommen, die dem Strukturwandel Rechnung trägt. Das Subsidiaritätsprinzip wurde ernst genommen, das dezentrale Element ist unverkennbar und die Selbstverwaltungskörperschaften haben eine starke Stellung. Leider ist die starke Stellung der Selbstverwaltung keine Selbstverständlichkeit gewesen. Es hat einiger Anstrengungen bedurft, um sie im Gesetzgebungsverfahren zu sichern, Herr Kollege Dreßen. Denn die rot-grüne Koalition hatte einen Frontalangriff auf die Selbstverwaltung vor, ({7}) - auch Unangenehmes muss gesagt werden -, als sie bekanntlich einen Genehmigungsvorbehalt für die Haushalte der Rentenversicherungsträger einführen wollte. Eine gespenstische Vorstellung: Die Rentenversicherung am Gängelband von Hans Eichel. ({8}) Das wäre absurd gewesen. Sie sind jetzt auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt ({9}) und haben von Ihrer abstrusen Vorstellung Abschied genommen. Es wäre auch ein Stück aus dem Tollhaus gewesen. Die große Verantwortlichkeit, die die Selbstverwaltung gerade dieses Zweiges der Sozialversicherung unter Beweis gestellt hat, sozusagen mit staatlich organisiertem Misstrauen zu vergelten, wäre völlig inakzeptabel gewesen. Wir können den Selbstverwaltungskörperschaften zutrauen, dass sie mit den Beitragsmitteln der Versicherten ordentlich umgehen. Es sind die Mittel der Solidargemeinschaft, also die Mittel derer, die von der Selbstverwaltung vertreten werden. Wir wollen keine staatliche Einheitsversicherung. Die Reform soll die Zukunft der Rentenversicherung sichern helfen. Sie soll auch ein Stück mehr Versichertennähe und bessere Serviceorientierung schaffen. Herr Kollege Dreßen, auch das müssen wir erwarten: Mit dieser Reform sollen die Verwaltungs- und Verfahrenskosten in den ersten fünf Jahren - so ist es quantifiziert - um 10 Prozent gesenkt werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die neue Organisationsform in der gesetzlichen Rentenversicherung liegt in unserer gemeinsamen politischen Verantwortung. Die aktuelle materielle Rentenpolitik aber ist in Gerald Weiß ({10}) diese gemeinsame Verantwortung natürlich nicht mit eingeschlossen. Für den rentenpolitischen Murks, für die Achterbahnfahrt, die Rot-Grün hier zu verantworten hat, tragen wir zu keiner Sekunde Verantwortung. ({11}) - Frau Scheel, es muss schon klargestellt werden: Die Nullrunden für die Rentnerinnen und Rentner hat RotGrün allein zu verantworten. Dass die Rentner ihre Pflegeversicherungsbeiträge allein zahlen müssen, hat RotGrün allein zu verantworten. Das sich daraus ergebende Minus im Geldbeutel der Rentner hat Rot-Grün allein zu verantworten. Das Aussetzen des demographischen Faktors - der Bundeskanzler hat inzwischen eingeräumt, dass dies ein Irrtum gewesen ist; in Wirklichkeit war es eine vorsätzliche Irreführung, was man an den deutschlandweit aufgehängten Plakaten erkennen konnte -, ({12}) die Einführung des Riester-Faktors und das Draufsatteln des Nachhaltigkeitsfaktors sind keine konsistente Politik. Dieser Murks liegt nicht in unserer Verantwortung. Sie haben drastische Rentenkürzungen beschlossen, ohne die Rahmenbedingungen für ergänzende betriebliche und private Vorsorge hinreichend zu verbessern. Die Riester-Rente floppt. Sie konnten sich auch nicht dazu durchringen, die Entgeltumwandlungsmöglichkeit über 2008 hinaus bestehen zu lassen. ({13}) - Das mache ich zu anderer Stunde gern. - Die kapitalgestützte Vorsorge ist nicht hinreichend gestärkt. Der Zweigenerationenvertrag ist unseligerweise nicht zu einem Dreigenerationenvertrag mit stärkerer Anerkennung der Erziehungsleistung ausgestaltet worden. Sie mögen unseren guten Willen in der Rentenpolitik daran erkennen, dass wir an dieser entscheidenden Stelle mitwirken. Es könnte auch ein Stück rentenpolitischer Neuanfang sein. Sichern Sie mit uns gemeinsam die Zukunft unserer gesetzlichen Rente! Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/ Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weiß, jetzt dachte ich glatt, ich könnte einer Rede von Ihnen Beifall zollen. Aber leider mussten Sie dann am Schluss doch noch aufs Blech hauen. Also sage ich kurz in Ihre Richtung: Wer noch vor kurzem die Rentenversicherungsbeiträge für die nächsten Jahrzehnte auf 20 Prozent festschreiben wollte, sollte sich in Sachen Rentner und Rentenhöhe mäßigen. Wäre das nämlich erfolgt, wären die Renten heute niedriger, als sie es unter unserer Regierung sind. ({0}) Jetzt komme ich zur Organisationsreform, ({1}) über die wir uns hier im Hause - das ist auch gut so - einig sind. Die Reform führt auch aus grüner Sicht zu mehr Wirtschaftlichkeit, Effektivität und Bürgernähe der Rentenversicherung. Die Landesversicherungsanstalten erhalten stabile Rahmenbedingungen für ihre Arbeit. Es ist gut, dass die Versicherten nicht mehr wie bisher in Arbeiter und Angestellte gespalten werden, sondern dass wir einen einheitlichen Versichertenbegriff haben. Dem Bund werden 45 Prozent der Versicherten und den Regionalträgern 55 Prozent zugeordnet. Die Zahl der Bundesträger wird halbiert; weitere Zusammenschlüsse der Regionalträger sind geplant. Ich hoffe, sie werden auch kommen. BfA und VDR werden zu einem Träger vereinigt, der wichtige Grundsatz- und Querschnittsaufgaben verbindlich entscheiden kann. Das erleichtert die Koordination und beseitigt Mehrarbeit. Ein Vorteil der Reform ist auch, dass die Finanzbeziehungen zwischen den Arbeitgebern und den Einzugsstellen sowie unter den Trägern selbst optimiert werden. Die tatsächlichen Zahlungsströme werden auf ein Minimum reduziert. Für die Beschäftigten - Kollege Dreßen hat es hervorgehoben wird der Übergang sozialverträglich vollzogen. Im Mittelpunkt wird in Zukunft der Wettbewerb der Träger stehen. Durch einen kontinuierlichen und systematischen Vergleich werden die Strukturen und Prozesse nach dem Prinzip des Lernens von den Besten optimiert. Der Gesetzentwurf wurde im Verfahren verändert. Zwei Punkte sind am wichtigsten: Die Koalition hat sich darauf verständigt, die Selbstverwaltung zu stärken. In dieser Hinsicht wurde der Gesetzentwurf überarbeitet. Zum einen haben wir Kritik am Entscheidungsverfahren aufgegriffen; die Selbstverwaltung erhält nun ein Initiativrecht. Zum anderen werden die Rentenversicherungsträger - das war Ihnen, Herr Kollege Weiß, besonders wichtig - ihre Haushalte auch in Zukunft ohne Genehmigung der Behörden erstellen können. Wichtig ist aber, dass wir als Alternative eine Zielvorgabe für die Senkung der Verwaltungs- und Verfahrenskosten eingeführt haben. Wir sind uns einig, dass die Kosten der Rentenversicherungsträger weiter gesenkt werden können und gesenkt werden müssen. Der nun gewählte Ansatz stärkt den Wettbewerb und das wird von der Fraktion der Grünen ausdrücklich unterstützt. Jedoch sind die Träger gefordert, ihre Strukturen und Verfahren fortlaufend zu verbessern sowie wirtschaftlicher und effektiver zu arbeiten. Dies setzt voraus, dass geeignete Kriterien und Instrumente entwickelt werden, die einen Leistungs- und Qualitätsvergleich innerhalb der gesamten Rentenversicherung ermöglichen. Zum guten Schluss sage ich: Was lange währt, wird endlich gut. Jetzt brauchen wir noch eine gute Umsetzung. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heute zu beschließende Organisationsreform wird von einer breiten Mehrheit dieses Hauses - die FDP gehört dazu - getragen. - Das ist die gute Nachricht. Die Wahrheit ist aber: Der Preis für diesen Konsens ist die Beschränkung auf eine Minimalreform. Sie ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Herr Dreßen, Sie haben es gesagt: In den nächsten fünf Jahren und dann auf Dauer sollen jährlich 10 Prozent der Verwaltungskosten - das sind immerhin rund 350 Millionen Euro - eingespart werden. Nach Ansicht des Bundesrechnungshofes, vorgetragen in unserem Ausschuss, wäre aber eine Einsparung von 30 Prozent bei einer entschlosseneren und einschneidenderen Reform ohne weiteres möglich gewesen. Aber Maximalreformen scheinen nicht die Art und Weise zu sein, wie in Deutschland - zumal unter einer rot-grünen Regierung - Veränderungen durchgeführt werden. Wir verbinden unsere Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf deswegen heute mit der klaren Aussage: Das kann nicht alles gewesen sein; dieser Reform werden weitere Schritte folgen müssen. ({0}) Voraussetzung für unsere Zustimmung war auch, dass es den Sachverständigen und der Opposition gelungen ist, zu erreichen, dass zwischenzeitlich zu beobachtende Irrwege typisch sozialdemokratischer Machart, hinsichtlich der Haushaltsbeschlüsse eine Pflicht zur Genehmigung durch die staatlichen Stellen herbeizuführen, abgewendet werden konnten. Dass Sie so etwas immer wieder versuchen, zeugt von einem staatszentrierten Denken bei Ihnen. Die Bedeutung von Anreizstrukturen für eine erfolgreiche Gesetzgebung wird weithin missachtet. Das ist leider kein Einzelfall. Als besondere Schwäche dieser Reform möchte ich ferner benennen, dass auch nach der Reform § 127 a SGB VI fortbestehen wird, der die eigentlich aus Gründen der Kostensenkung erwünschten und notwendigen Fusionen zwischen den Landesträgern behindert, ({1}) weil er eine Genehmigung der Landesaufsichtsbehörden bei Fusionsvorhaben fordert. Damit bleibt - man muss es so nüchtern sehen - Regionalinteressen weiterhin Tür und Tor geöffnet. ({2}) Es ist ein Widerspruch, wenn man auf der einen Seite die Selbstverwaltung auffordert, die Kosten zu senken, die Länder aber aus strukturpolitischen Gründen die Rationalisierung der Aufgabenwahrnehmung behindern können. Warum ist es eigentlich nicht möglich, diese Regelung aufzuheben? ({3}) Es ist aus unserer Sicht ebenfalls nicht nachzuvollziehen, warum den Selbstverwaltungsorganen eine bestimmte Gremiengröße vorgeschrieben wird, statt gesetzliche Anreize zur Verringerung der Zahl der Sitze etwa in den Vertreterversammlungen zu geben. Typisch für eine von den Trägern weitgehend selbst entworfene Reform ist schließlich, dass im Zentrum der Reformbemühungen vor allem verwaltungsinterne, organisatorische Überlegungen stehen; Aspekte der Qualität des Systems für den Bürger, für den Versicherten treten demgegenüber deutlich erkennbar zurück. Gerade deswegen ist die Zuteilung der Versicherten nach Quoten, nach einem Zufallsverfahren - auch Sie, Herr Dreßen, haben ein Beispiel angesprochen - im Sinne der Betroffenen. Es wird eine qualitativ bessere und von den Kosten her günstigere Betreuung nicht dadurch gewährleistet, dass eine Konzentration von bestimmten Versichertengruppen an einem Ort stattfindet. Ich nenne hier auch noch ergänzend das Handwerk und die freien Berufe. Trotz aller Mängel des Gesetzentwurfs wird die FDPBundestagsfraktion der Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung zustimmen. Denn neben den Problemen, die ich aufgezählt habe und die bestehen bleiben, werden doch auch einige Probleme gelöst, die die Rentenversicherung bisher unnötig belasteten. Frei nach Sepp Herberger gilt in der Rentengesetzgebung aber unverändert weiter: Nach der Reform ist vor der Reform. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Drucksache 15/3654. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen; das sind die Drucksachen 15/3824 und 15/3866. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkte 6 a bis 6 c auf: 24 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Julia Klöckner, Peter H. Carstensen ({1}), Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Arznei- mittelgesetzes für Tierärzte und Landwirte praxisgerecht und verbraucherfreundlich ge- stalten - Drucksachen 15/3112, 15/3828 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Friedrich Ostendorff Hans-Michael Goldmann ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes - Drucksache 15/1494 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3}) - Drucksache 15/2999 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Friedrich Ostendorff Hans-Michael Goldmann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Praxisgerechte Novelle des Tierarzneimittelge- setzes verbessert Tier- und Verbraucherschutz - Drucksachen 15/1596, 15/2999 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Friedrich Ostendorff Hans-Michael Goldmann c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Volker Wissing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Agrarischen Veredlungsstandort Deutschland stärken - Bürokratie abbauen und Rahmenbedingungen verbessern - Drucksache 15/3103 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({5}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte am Anfang der Debatte über den CDU/CSU-Antrag die Gelegenheit nutzen, darzulegen, was die Bundesregierung auf dem Gebiet der Novellierung des Arzneimittelgesetzes in Bezug auf die Tierarzneimittel vorhat. Es werden zwei Dinge deutlich werden: zum einen, dass sich der Antrag der CDU/CSU-Fraktion in wenigen Wochen erledigt hat, und zum anderen, dass die in dem Antrag enthaltenen Vorschläge in die falsche Richtung führen. Es ist aber ebenfalls notwendig, die Ausgangssituation darzustellen, in der wir uns befinden. Erst im Jahre 2002 waren die Regelungen über die Genehmigung von Tierarzneimitteln novelliert worden. Es handelte sich damals um einen Antrag der Bundesländer, der im Bundesrat mit 16 : 0 beschlossen wurde. Das war die Reaktion der Länder auf die Tierarzneimittelskandale, auf das, was ich vereinfachend mit dem Begriff Autobahntierärzte umschreiben will. Wohlgemerkt: Der Antrag wurde damals mit 16 : 0 beschlossen. Vonseiten unseres Hauses ist damals auf die Novellierung dahin gehend Einfluss ausgeübt worden, dies praktikabler zu machen. Das führte zu der Situation, die wir heute haben. In der nächsten Woche werden wir dem Bundeskabinett einen Novellierungsentwurf vorlegen, über den dann auch beschlossen wird, der folgende Kernpunkte enthält: Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim Tierärzte und Landwirte haben die Begrenzung der Verschreibung von Tierarzneimitteln auf sieben Tage kritisiert. Künftig soll es möglich sein, Arzneimittel bis zu 31 Tagen zu verabreichen. Allerdings wird es bei Antibiotika bei der Begrenzung auf sieben Tage bleiben. Die Antibiotikaregelung war im Prinzip der Kernpunkt; damit soll sichergestellt werden, dass sich keine Antibiotikarückstände in Fleisch und anderen tierischen Produkten befinden. Wir werden jedoch Ausnahmen bei der Siebentageregelung zulassen. Darüber gab es eine lange Diskussion - ich nenne als Stichwort nur die Behandlungspläne -; Sie kennen die Geschichte. Es haben auch eine Reihe von Anhörungen dazu stattgefunden. Wir sind sehr wohl bereit, auch bei der Verordnung von Antibiotika praktikablere Regelungen zuzulassen, allerdings mit der Einschränkung, dass klar sein muss, für welche Indikationen dies gilt. Dafür muss die Indikation präzise beschrieben werden, sodass die Nachvollziehbarkeit der Diagnose der Tierärzte gegeben ist. Das wird Inhalt einer in diesem Punkt flexibleren Regelung sein. Wir sind mit diesem Vorgehen den Hinweisen, die uns in der Anhörung gegeben wurden, nachgekommen. Ich erinnere mich noch daran, dass uns der Vertreter aus Bayern mit auf den Weg gegeben hat, hier sehr vorsichtig vorzugehen. Dass die Regelungen richtig waren, die wir im Jahre 2002 beschlossen haben, wird daran deutlich, dass uns gelegentlich Tierärzte sagen: Seit der Novelle von 2002 werden wir wieder geholt; es erfolgt keine Selbstmedikation mehr. Früher haben die Landwirte aufgrund ihrer Reserven, die sich im Stall befanden, die Arzneimittel selbst verordnet. Weitere Punkte neben dieser zentralen Flexibilisierungsregelung wird die Schaffung einer Kommission sein, die hier Vorgaben macht, außerdem die so genannte Umwidmungskaskade, die Erleichterung der Einfuhr von Arzneimitteln für die Anwendung bei Tieren, die der Gewinnung von Lebensmitteln dienen, aus anderen Mitgliedstaaten und schließlich die Erleichterung der Abgabe bei Teilmengen. Wir sind überzeugt, dass wir mit dem Novellierungsentwurf den berechtigten Einwendungen der Tierärzte und der Landwirte Rechnung tragen, aber gleichwohl bei der Anwendung von Antibiotika dem Ziel und den Grundsätzen der Lebensmittelsicherheit und des Verbraucherschutzes entsprechende Beachtung einräumen und sicherstellen, dass dies gewährleistet ist. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSUFraktion. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank, Herr Thalheim, für Ihre Ausführungen. Man hat gar nicht mehr zu glauben gewagt, einen Gesetzentwurf vorgelegt zu bekommen. Aber noch haben wir ihn nicht auf dem Tisch. Sie wissen, dass wir vor vier Monaten schon einmal an dieser Stelle standen und uns daran erinnert haben, dass wir vor vier Monaten auch schon einmal an dieser Stelle standen und über das gleiche Thema debattierten. Damals hieß es, dass in Bälde ein Gesetzentwurf auf dem Tisch liegen würde. Das geschah aber leider nicht. Dann wurde gesagt: vor der Sommerpause. Danach lautete es: nach der Sommerpause. Dann sollte unsere Büros im September ein Entwurf erreichen. Vor allen Dingen wollte man bereit sein, mit uns gemeinsam eine Lösung zu finden. Jetzt haben wir Oktober und Sie kündigen den Gesetzentwurf für nächste Woche an. Es wäre wunderbar, wenn es dazu kommen würde; wir würden uns freuen. Zwischendurch war ein Referentenentwurf im Umlauf, der aber still und heimlich in der Schublade verschwand. Ich muss Ihnen sagen: Ich wäre sehr enttäuscht, aber es würde mich nicht wundern, wenn der angekündigte Gesetzentwurf nur eine kleine redaktionelle Überarbeitung wäre. Sie haben das schon angedeutet, Herr Thalheim. Ich schätze Sie als Pragmatiker und habe ein bisschen Mitleid mit Ihnen, weil Sie hier gegen Ihre Überzeugung handeln müssen. ({0}) An der Idee einer Sachverständigenkommission hält Ihr Entwurf fest. Das Gleiche gilt für die Indikationsliste. Jeder Praktiker weiß das. Deshalb haben die Tierärzte in den Koalitionsfraktionen, die Ahnung haben, meinen Beistand. Gemeinsam könnten wir es schaffen, das aus dem Gesetzentwurf zu streichen. Den Wiederholungsreigen aus Hoffen und Bangen kann niemand leugnen. Wir setzen damit das falsche Zeichen für die Tierärzte, Tierhalter und Verbraucher. Dieses Hin und Her ist eine Selbstbeschäftigung unsererseits. Aber diejenigen, die damit jeden Tag arbeiten müssen, ärgern sich darüber, dass das jetzige Tierarzneimittelgesetz - wir sind uns alle darin einig und es würde mich wundern, wenn jemand, der davon Ahnung hat, anderer Meinung wäre - überhaupt nicht praktikabel ist. ({1}) Das Tierarzneimittelgesetz ist praxisfern. Als wir es verabschiedeten bzw. die Regierung es durchdrückte, haben wir erkannt, dass wir es sofort novellieren müssen. Diese Erkenntnis ist so ähnlich wie der Wunsch nach einer guten Scheidung: Wenn man sie will, muss man nicht noch zwei Jahre zusammenbleiben. ({2}) Sie aber blieben bei dem Gesetz und wir warten auf die Überarbeitung. Ich denke sehr gern an den Beginn meiner Parlamentszeit vor zwei Jahren zurück, damals haben wir parteiübergreifend zusammengearbeitet. Die Berichterstatter aller Fraktionen haben sich auf einen Obleutebrief geeinigt, in dem die neuralgischen Punkte aufgeführt werden sollten. Wir haben dafür die Zustimmung von allen beteiligten Gruppierungen erhalten. Was war das Ende vom Lied? Frau Ministerin Künast hat es nicht erlaubt, dass dieser Brief abgeschickt wurde. So konnten die entsprechenden Parteifreunde auch nicht unterschreiben. Das verstehe ich nicht unter Hilfe für Verbraucher, für Betroffene und für die Menschen, die die Steuergelder für uns aufbringen. ({3}) Dieser Brief wurde wie letztlich auch ein gemeinsamer Gesetzentwurf verhindert. Jetzt wird gebangt und darum gerungen, was gemacht werden soll. Ich möchte daher noch einmal die wichtigsten Punkte unseres Antrags, der Ihnen schon lange vorliegt, skizzieren. Es wundert mich übrigens, dass das Gespräch mit uns nicht gesucht wird und dass auch nicht versucht wird, mit uns zu einer Einigung zu kommen. Dabei wird doch auf der anderen Seite immer wieder gesagt, die Union und die FDP blockierten. Das ist mitnichten der Fall! ({4}) Wenn es um Prinzipien geht und man prinzipielle Äußerungen tätigt, muss man auch überprüfen, woran man diese Äußerungen festmacht. Für uns ist die Frage der Siebentageregelung besonders wichtig. Herr Staatssekretär Thalheim, Sie haben die Siebentageregelung angesprochen. Diese Regelung ist der Punkt, der allen auf den Nägeln brennt. Wir müssen die Tierärzte und Tierhalter aus der Grauzone herausholen; denn es kann nicht sein, dass sie bei ihrer täglichen Arbeit, die von einem Verständnis für den Verbraucherschutz und den Tierschutz geprägt ist, mit einem Bein im Gefängnis stehen. Das darf in Deutschland nicht länger der Fall sein. ({5}) Sie schlagen eine neue Regelung vor und wollen die Siebentageregelung angehen. Sie sprachen jetzt von 31 Tagen; das hört sich gut an. Ich bitte aber alle, die damit zu tun haben, den Gesetzentwurf genau zu lesen: 31 Tage sind nicht gleich 31 Tage; denn die 31 Tage sollen sich nicht auf die Dauer der Behandlung mit Antibiotika beziehen. Das ist jedoch genau der Punkt, um den es geht. Soll denn ein Tierarzt alle sieben Tage jedem Tier, sei es ein Hamster oder ein Mastkalb, einen Besuch abstatten? ({6}) Zum Glück haben unsere Tierärzte in Deutschland noch ein bisschen mehr zu tun. Vielleicht sind sie eines Tages dazu in der Lage, wenn es keine Tierhalter und keine Bauern mehr gibt. Dieser Punkt ist entscheidend und es bringt nichts, vorher über irgendetwas anderes zu reden, solange dieser Punkt nicht zufriedenstellend gelöst ist. Natürlich müssen wir auch die anderen offenen Punkte in diese Paketlösung einbeziehen. Wenn wir einmal dabei sind, lassen Sie uns doch auch die Frage nach der Umfüllung und der Kaskadenregelung und einiges andere mit klären. Ich denke, dabei haben wir weniger Probleme, uns zu einigen. Es ist uns sehr wichtig, eine Art Behandlungsplan zu entwerfen, der im Gegensatz zu der Siebentageregelung flexibel ist und auf die verschiedenen Arten der Tierhaltung eingeht, sodass wir damit zu einer praktikablen und vor allen Dingen schnellen Lösung kommen. Wir können uns noch ewig damit beschäftigen. Dann hätten wir immer ein Thema und ich müsste mich nicht mehr so lange vorbereiten, weil wir dann alle genau informiert wären. Das kann es aber nicht sein, weil es uns nicht hilft. Deshalb warte ich auf ein Gesprächsangebot, damit Sie unseren Antrag in Ihr Vorhaben integrieren. Denn auch die Fachleute sehen keinen Grund, warum unser Antrag abgelehnt werden sollte. Lassen Sie uns also zusammenarbeiten! Ganz herzlich danke ich den Kolleginnen und Kollegen, die bisher mit uns zusammengearbeitet haben. Das war ein gutes Zeichen. Allerdings kann man hier auch sehen, wie eine Regierung das Parlament missachtet. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die geltende Elfte Novelle des Tierarzneimittelgesetzes hat seit ihrem In-Kraft-Treten bei Tierärzten und Tierhaltern sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Die Hauptkritikpunkte waren Probleme bei der praktischen Durchführung bestimmter Regelungen und ihrer Kontrolle. Diese Probleme haben wir in den vergangenen Monaten intensiv diskutiert und beleuchtet. Die Bundesregierung hat heute angekündigt, dass sie bald einen veränderten Gesetzentwurf vorlegen wird, in dem die aufgetretenen Probleme aufgegriffen werden. Es hat sich erwiesen, dass einzelne Regelungen des Arzneimittelgesetzes, die gemeinsam von allen 16 Bundesländern beschlossen worden waren, in der Praxis sehr schwer umzusetzen sind. Daher sollten sie entsprechend angepasst werden. Dies betrifft die so genannte Umwidmungskaskade, die Verfügbarkeit zugelassener Tierarzneimittel, die Möglichkeit der Abgabe von Teilmengen aus Arzneimittelpackungen und einige weitere Details. Es muss auch darüber nachgedacht werden, ob die bestehende Siebentageregelung, die Begrenzung der Abgabemenge auf den Bedarf von sieben Tagen, für bestimmte Arzneimittel auf 31 Tage ausgeweitet werden sollte. Sehr vorsichtig müssen wir allerdings beim Umgang mit Antibiotika sein. Die Abgabe von Antibiotika muss weiterhin eng an den vom Tierarzt festgestellten Bedarf gebunden sein. In diesem Bereich dürfen wir aus übergeordneten Interessen des allgemeinen Gesundheitsschutzes keine Aufweichungen der geltenden Rechtslage zulassen. Antibiotikaresistenzen sind eine ausgesprochen ernste und gefährliche Angelegenheit. Ihre Ausbreitung muss im Interesse des Gesundheitsschutzes von Mensch und Tier verhindert werden. Wenn wir die Kontrolle von Antibiotika ernst nehmen, dann müssen wir die Bedingungen ihrer Abgabe sehr stringent handhaben. Anders geht es nicht. Das hat nichts mit einem Generalverdacht gegenüber den Anwendern zu tun, sondern mit dem Grad der Gefährdung, der auch von wenigen schwarzen Schafen ausgehen kann. Daher dürfen wir uns auf keinen Fall auf eine generelle Abschaffung oder Aufweichung der Siebentageregelung, wie sie sich die Opposition vorstellt, einlassen. ({0}) Diese Auffassung wird übrigens auch von den Bundesländern mehrheitlich getragen. Lediglich bei bestimmten, eng und klar eingegrenzten endemischen Krankheitsbildern wie MMA oder chronischer Mastitis kann über eine Verlängerung der Abgabedauer nachgedacht werden. ({1}) Ich sage sehr deutlich, dass wir für alle praxisgerechten Neuregelungen zu haben sind, solange die elementaren Zielsetzungen der 11. AMG-Novelle nicht eingeschränkt werden. Diese sind ein verbesserter Gesundheits- und Verbraucherschutz durch die Reduzierung des Arzneimitteleinsatzes auf das therapeutisch unerlässliche Mindestmaß, insbesondere im Bereich der Antibiotika, und eine Verbesserung der Sicherheit im Tierarzneimittelverkehr. Das sind unsere Kriterien. Alle Vorschläge sind daraufhin zu prüfen. Leider halten Ihre Anträge, meine Damen und Herren von der Opposition, dieser Überprüfung nicht stand. Sie wollen eine Lockerung des geltenden Rechts hin zu weniger Kontrolle. Diese Lockerung halten wir im Sinne des Gesundheits- und Verbraucherschutzes für nicht vertretbar. ({2}) Die Lebens- und Futtermittelskandale der vergangenen Jahre haben der Landwirtschaft jedes Mal gewaltige Verluste und Kosten beschert. Wir haben daraus die Konsequenz gezogen, die jedes Unternehmen im Bereich der Lebensmittelerzeugung ziehen muss, wenn es seine Existenz nicht aufs Spiel setzen will: Lebensmittelsicherheit muss auch und gerade aus wirtschaftlichem Interesse oberste Priorität haben, selbst wenn dies manchmal mit viel Aufwand und mit Kosten verbunden ist. Jeder Lebensmittelskandal kostet die Landwirtschaft ein Vielfaches dessen, was die Vorbeugung an Mehraufwand bedeutet hätte. Hier darf es keine faulen Kompromisse geben. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich finde es äußerst problematisch, dass Sie im Sinne einzelner Interessengruppen immer wieder Abstriche bei der Lebensmittelsicherheit machen wollen. ({3}) Sie wollen eine Erhöhung des BSE-Testalters, möglichst lasche Kennzeichnungen bei gentechnischer Verunreinigung und die Abschaffung der Siebentageregelung bei Arzneimitteln. ({4}) Diese Liste Ihrer Botschaften ließe sich beliebig fortsetzen. Ich kann Ihnen schon sehr genau sagen, was beim nächsten Lebensmittelskandal passieren wird: Dann werden Sie und alle Herrschaften, die jetzt noch sämtliche Regelungen und Kontrollen abschaffen wollen, mit größter Entrüstung und aufgeblasenen Backen über die angeblichen Versäumnisse von Ministerin Künast beim Verbraucherschutz schwadronieren. ({5}) Diese Doppelbödigkeit, meine Damen und Herren, machen wir nicht mit. Wir werden uns deshalb auch nicht darauf einlassen, beim Arzneimittelgesetz mehr Zugeständnisse zu machen, als vertretbar sind. Wir bleiben bei der in der 13. AMG-Novelle enthaltenen klaren Reihenfolge: erst der Schutz der Gesundheit, dann die Interessen der Anwender. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel HappachKasan. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittelsicherheit hat für die FDP hohe Priorität. Aber wir fügen hinzu, dass auch der Tierschutz beachtet werden muss. Staatssekretär Thalheim hat gerade ausgeführt, dass wir im Bereich des Tierarzneimittelgesetzes praktikablere Regelungen brauchen. Genau dies fordern wir: praktikablere Regelungen. Damit, Herr Staatssekretär, haben Sie auch gesagt, dass die jetzigen Regelungen nicht praktikabel sind. Genau dies ist unsere Kritik daran. ({0}) Die Fachleute in allen Fraktionen sind sich einig, dass dieses Gesetz gründlich überarbeitet werden muss. Die Tatsache, dass dies noch nicht geschehen ist, zeigt auch, dass in dieser Bundesregierung nicht Fachleute das Sagen haben, sondern ideologisch bestimmt wird, was gemacht werden darf. Es ist bereits ausgeführt worden, dass die Siebentageregelung so, wie sie im Gesetz steht, nicht praktikabel ist. Wir brauchen eine klare Grenzziehung zwischen Tieren, die Lebensmittel liefern, und Tieren, die aus Sportgründen oder als Haustiere gehalten werden. Wir brauchen die adäquate Behandlung von Tieren mit zugelassenen Wirkstoffen; diese darf nicht länger illegal sein, wie es das Gesetz heute bestimmt. ({1}) Dieses Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Ausdruck des Misstrauens gegenüber der fachlichen Kompetenz und der beruflichen Redlichkeit von Tierärzten und Landwirten. Genau dies weisen wir zurück. Wir wissen, dass es Verfehlungen gegeben hat. Diese Verfehlungen müssen geahndet werden und es muss dafür gesorgt werden, dass sie ein Ende haben. Aber ein solches bürokratisches Monstrum von Gesetz, wie Sie es hier erlassen haben, muss schnellstens novelliert werden. Dieses Gesetz reiht sich in die Politik der Bundesregierung ein, den Veredelungsstandort Deutschland zu schwächen. Tierschutz ist dafür die Begründung; diese Begründung aber ist falsch. Wir brauchen einen einheitlich hohen Tierschutz in der gesamten EU; er muss überall in der EU einen höheren Stellenwert bekommen. Nur so ist sichergestellt, dass die Tierproduktion nicht in Länder mit geringeren Standards verlagert wird. Genau dies aber ist die Folge Ihrer Politik. Deswegen lehnen wir Ihre bürokratischen Regelungen in der Schweinehaltungsverordnung und in der Legehennenverordnung ab. Wir haben die Folgen schon jetzt zu tragen. Dass der Standort Deutschland geschwächt wird, weil Produktionsbetriebe abwandern und Arbeitsplätze in Deutschland verlorengehen, wollen wir verhindern. ({2}) Deshalb fordern wir die vorurteilsfreie und nach fachlichen Kriterien durchgeführte Prüfung der so genannten Kleinvoliere. Wir wollen, dass beim Tierschutz die Raumgröße Beachtung findet, die dem Tier zur Verfügung steht. Wir wollen aber auch, dass die Ernährung und die Verhaltensweisen berücksichtigt werden und dass hohe Mortalitätsraten zur Schließung von Betrieben führen. 25 Prozent Todesfälle bei Legehennenbodenhaltung und ein hoher Medikamenteneinsatz können nicht toleriert werden. Im Bereich der Tierhaltung gibt es noch eine Menge zu tun. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wilhelm Priesmeier.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, heute ist es einmal an der Zeit, ein Resümee bezüglich der eigentlichen Entstehungsgeschichte dieser immer wieder so umstrittenen 11. AMG-Novelle zu ziehen. In Bayern hat es damals einen großen Arzneimittelskandal gegeben, der weit über die bayerischen Grenzen hinaus bis nach Thüringen, Sachsen und Österreich gegangen ist. Im Laufe der Bewältigung dieses Skandals ist der politische Druck so groß geworden, dass man sich auf Länderebene gemüßigt gesehen hat, möglichst rigide Regelungen umzusetzen. Hätte das damalige BMVEL bei verschiedenen Punkten nicht für Entlastung gesorgt, dann hätte es eine noch wesentlich rigidere Lösung gegeben. ({0}) Offensichtlich gibt es Situationen, in denen die Überwachung in den einzelnen Bundesländern versagt. Dies war ein klassischer Fall des Versagens der Überwachung; das muss man konstatieren. Gott sei Dank hat es in Bayern zu entsprechenden personellen Konsequenzen auf der Ministerebene geführt. Man hat die Verantwortlichkeiten erkannt und sich neu orientieren müssen. Das zeigt die Grundproblematik, vor der wir Politiker stehen. Wir können uns natürlich nicht davonstehlen, indem wir ein Gesetz erlassen, sondern wir müssen uns an den praktischen Gegebenheiten und Erfordernissen orientieren, wie sie sich in der konkreten Umsetzung der Gesetze darstellen. Ich glaube, wir alle haben in verschiedenen Bereichen einen zum Teil erheblichen Nachholbedarf, wenn es um das Ausformulieren und das Vorgeben von neuen Verordnungen und Gesetzen geht. Diesen haben wir gemeinsam zu bewältigen. Das, was mit der 11. AMG-Novelle beschlossen worden ist, war in vielen Teilbereichen überhaupt nicht praktikabel. ({1}) Das steht hier vollkommen außer Frage und wird von niemandem bezweifelt - auch von der Koalition nicht. Die Ursache muss noch einmal benannt werden: Die 11. AMG-Novelle ist damals mit dem geschlossenen Votum des Bundesrates umgesetzt worden. Auch Regierungen, die von der FDP mitgetragen wurden, waren daran beteiligt. Schuldzuweisungen helfen uns im Augenblick überhaupt nicht. Richten wir unseren Blick doch in die Zukunft. Wenn wir ein wenig vorausschauen, dann erkennen wir, dass die jetzt vorliegende 13. AMG-Novelle eine durchaus vernünftige Grundlage ist, auf der man zu adäquaten Regelungen kommen kann, durch die der Verbraucherschutz bei uns sichergestellt und auch der Tierschutz nicht außer Acht gelassen wird. Es wurden verschiedene Tatbestände liberalisiert, die auch auf Länderebene mit Sicherheit jetzt schon unumstritten sind. Ich nenne die Verbesserung der Einfuhr von in anderen EU-Staaten registrierten Arzneimitteln, die Bevorratung in dem Bereich, die Veränderung der Kaskadenregelung im Rahmen der Umwidmung und die Änderungen beim Anwendungsverbot für den Tierhalter in Bezug auf umgewidmete Arzneimittel. Das alles sind ganz erhebliche Erleichterungen. Niemand kann das hier infrage stellen und das Gegenteil davon behaupten. Diese ganz erheblichen Verbesserungen steckten auch schon im Referentenentwurf. Ganz zentral geht es um das Problem der sieben Tage, das hier hochstilisiert wird. Es geht um die Lebensmittelsicherheit, den Verbraucherschutz und auch den Tierschutz. Die Frage ist natürlich nicht ausschließlich an den sieben Tagen zu orientieren. Wir müssen versuchen, zu einem Konsens zu kommen, der auch auf der Länderebene mitgetragen wird. Ansonsten werden wir vielleicht wieder die alten Konstellationen erleben: Es könnte zu einem Konflikt zwischen den Intentionen der Länder und dem, was wir hier verfolgen, kommen. Das wäre mit Sicherheit nicht förderlich für den ganzen Prozess; das wäre eher kontraproduktiv. Auf dieser Basis sollten wir den weiteren Verlauf dieses Gesetzentwurfs debattieren und diskutieren. Keine Vorlage ist so gut, dass sie nicht noch verbesserungsfähig wäre. Entsprechende Verbesserungen sollten wir noch einfügen. Ich sehe auch die Notwendigkeit, zu definieren, was Lebensmittel liefernde Tiere sind. Weil das ein Bereich ist, der im Augenblick nicht klar definiert ist und in dem die Kollegen vor Ort und auch die betroffenen Tierbesitzer Schwierigkeiten haben, müssen wir dort zu klaren Regelungen kommen, wodurch wir letztendlich für Rechtssicherheit sorgen. Bisher kann nicht ausgeschlossen werden, dass Pferde, welche man zum Reiten oder zu anderen Zwecken benötigte, noch immer als Lebensmittel an den Verbraucher gelangen, nachdem sie geschlachtet wurden. Hier gilt es, entsprechende Verbesserungen einzufügen. Das ist aber auch nur ein Randaspekt. Es stellt sich die Frage, ob wir mit den Regelungen von Kommissionen und mit von diesen Kommissionen festgelegten Indikationen im praktischen Bereich, also bei der Umsetzung, eine Verbesserung erreichen werden. Darüber müssen wir uns nüchtern und vernünftig unterhalten. Es ist mir ein wesentliches Anliegen, dass wir uns auch mit der Praxis rückkoppeln. Zu gegebener Zeit sollte man sich im Rahmen des Beratungsverfahrens zur 13. Novelle erneut Sachverstand in den entsprechenden Ausschuss holen und dort über die Ausgestaltung debattieren und diskutieren. Das halte ich in diesem Bereich für ganz wesentlich. Wir können die 13. Novelle nicht abgekoppelt und unisono als einzelnes Gesetzesvorhaben sehen, sondern wir müssen erkennen, dass erst die Gesamtheit von Verbesserung und Novellierung der Verordnung über tierärztliche Hausapotheken, die Anpassung des Begriffs der tierärztlichen Behandlung zusammen mit der Stallbuch-Verordnung und dieser 13. Novelle ein rundes Ganzes ergibt. Wenn wir das auf dem Tisch liegen haben, dann werden wir auch zu einem vernünftigen Konsens kommen. Der ursprüngliche Grundsatz, sich an der Sache zu orientieren, ist irgendwo aufgekündigt worden. Wenn wir zielgerichtet fortschreiten, dann gelingt es uns, hier zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen. Um auf Ihre Einwendungen zur Hennen- und Schweinehaltung Position zu beziehen: Ich halte es für vernünftig, dass man sich in der jetzigen Situation, bei der es in der Umsetzung und der Ausgestaltung große Probleme gibt, an den Gegebenheiten orientiert und einen Kompromiss findet. Man muss versuchen - das ist von dieser Stelle mein Appell an die Agrarministerkonferenz und die Ministerin -, einen Konsens zu finden, der letztendlich tragbar ist. Mit den im Augenblick verhärteten Fronten ist der deutschen Landwirtschaft, den Hühnern und auch uns allen nicht gedient. Ich meine, dass man auf einer vernünftigen Ebene durchaus noch Bewegungsspielräume hätte, wenn man es denn wollte. Das setzt aber voraus, dass sich auch die andere Seite bewegt. Bei bisher kritischen Positionen, bei denen die Tierschutzverbände den Dialog nicht weiterführen, müssen alle Seiten bereit sein, den Dialog wieder aufzunehmen, sodass man zu vernünftigen Regeln kommt. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Bleser. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hätte die Bundesregierung 2002 kurz vor der Bundestagswahl auf die CDU/CSU-Fraktion gehört, dann hätten wir uns heute diese Zeit sparen können. Wir hätten in der Tierarzneimittelpolitik nicht zwei Jahre mit einer Grauzone leben müssen, ({0}) es wäre zu keiner praxisfremden und tierfeindlichen Gesetzgebung gekommen ({1}) und wir hätten kein überbürokratisches und wettbewerbsverzerrendes Gesetz gehabt. ({2}) All das hätten wir uns sparen können. Herr Staatssekretär Thalheim hat vorhin auf die Bundesländer verwiesen, ich gebe gerne zu, dass sich auch dort die Landesveterinäre von der allgemeinen Hysterie haben anstecken lassen und nicht auf den fachmännischen Rat unserer Fraktion gehört haben. ({3}) Aber das entschuldigt das Verhalten überhaupt nicht. Das hat auch deswegen nicht zur Entschuldigung gereicht, weil doch schon eine gewisse Philosophie dahinter steckt; das will ich einmal aufzeigen. Dass sich damals insbesondere Frau Künast als besonders beratungsresistent erwiesen hat, ist sicherlich nicht nur auf mangelnde Sachkenntnis zurückzuführen. ({4}) Es war nüchternes Kalkül, mit der Verschärfung des Tierarzneimittelgesetzes den Menschen zu suggerieren, die Lebensmittelqualität würde verbessert. Das war in Wahrheit das Motiv von Frau Künast. Das passt in ihre Strategie, mit der Verängstigung der Verbraucher und anschließendem opportunistischen Handeln insbesondere in den Oberschichten der Städte auf Stimmenfang zu gehen. Diese Intention stand hinter der damaligen Gesetzgebung; das muss man einmal deutlich machen. ({5}) Dabei war und ist es ihr völlig gleichgültig, dass damit der Tierschutz mit Füßen getreten wird. Bestes Beispiel dafür ist das Verbot der Umwidmung von zwar wirksamen, aber selbst in Notfällen und bei Lückenindikation nicht zugelassenen Medikamenten. Ich habe ihr vor einigen Monaten das Beispiel einer von Leberegeln befallenen Ziege genannt, bei der eine Behandlung möglich wäre, aber kein zugelassenes Medikament vorhanden ist. Die Tierärzte müssen zum Schutz des Tieres wider das Gesetz handeln, wenn sie ihren Charakter bewahrt haben. Ich bin sicher, dass dies die meisten getan haben. ({6}) Es ist Ihnen völlig gleichgültig, dass die jetzt auf sieben Tage begrenzte Zeit für die Abgabe von Medikamenten in der Praxis nicht eingehalten werden kann. Landwirte und Tierärzte werden damit in den Konflikt mit dem Gesetz getrieben. Man stelle sich nur einmal vor - dies als Hinweis für die Zuschauer -, in der Humanmedizin gäbe es eine solche Beschränkung der Lagerung von Medikamenten. Praktisch alle Bundesbürger wären Gesetzesbrecher. Es ist Ihnen auch völlig gleichgültig, dass das Verbot des Umfüllens und Aufteilens von Großpackungen nichts anderes als Kostentreiberei ist und damit die fachliche Kompetenz und Verantwortung der Tierärzte untergraben wird. ({7}) Nun hören wir, Herr Priesmeier, dass die Bundesregierung eventuell in der nächsten Woche endlich einen Gesetzentwurf vorlegen wird. Ich bin sehr gespannt auf diesen Vorschlag. Außerdem möchte ich die Aussage von Herrn Ostendorff, wir sähen den Verbraucherschutz nicht an vorderster Stelle, entschieden zurückweisen. ({8}) Ich stelle hier in aller Klarheit fest: Wir sind für minimalen und nur unvermeidbaren Medikamenteneinsatz in der Tierhaltung. ({9}) Wir sind für eine mit strengen und harten Sanktionsmöglichkeiten ausgestattete Lebensmittelüberwachung, gerade in der Fleischproduktion. ({10}) Wir sind für eine optimale tierärztliche Behandlung von Tierbeständen nach dem Stand - das ist wichtig der tierärztlichen Wissenschaft. Das ist eine sich ständig erweiternde flexible Grenze und deshalb kann die Politik nicht ständig nachjustieren. Wir sind für mehr Wettbewerbsgleichheit beim Tierarzneimittelgesetz innerhalb der Europäischen Union, weil die Erzeugnisse auch grenzüberschreitend gehandelt und von unseren Mitbürgern auch grenzüberschreitend verzehrt werden. Meine Damen und Herren, in einem Punkt herrscht Einigkeit in diesem Haus: bei der Notwendigkeit eines Nachbesserungsgesetzes. Schon vor einem Jahr wurde mit dem Entwurf eines Briefes, der von allen Fraktionen mitgestaltet und inhaltlich mitgetragen worden ist, diese Notwendigkeit einer Gesetzesänderung aufgezeigt. Es wurden auch Vorschläge für Veränderungen gemacht. Leider durften die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsparteien diesen Brief nicht abschicken. Sie wurden mit der Ankündigung eines Gesetzentwurfes der Regierung getröstet. Wenn es denn wahr ist, dass ein solcher Entwurf in der nächsten Woche das Licht der Welt erblickt, hat es bis zur Vorlage über ein Jahr gedauert. Meine Damen und Herren, wie man hört - das wurde heute Morgen noch einmal bestätigt -, ist in diesem Gesetz wiederum die Siebentagefrist enthalten. Zwar sind Auflockerungen durch alle möglichen bürokratischen und verfahrenstechnischen Umgehungen vorgesehen, ({11}) aber das ändert doch nichts an der Tatsache, dass die Grauzone, die zwangsläufig bei einer starren Frist entstehen muss, weiter bestehen bleibt. Das werden Sie mit uns nicht machen können. Wir werden dagegen angehen und ein solches Gesetz nicht mittragen. Das ist völlig klar. ({12}) Meine Damen und Herren, wir sind für eine stärkere Bindung der Tierärzte an die Landwirtschaft. Ich kann mir vorstellen, dass mit Betreuungsverträgen einiges zu gestalten ist, um die Wissenschaft und die Praxis zueinander zu führen und verantwortliches Handeln in der Praxis zu garantieren. Darüber kann man mit uns reden, aber man muss auch bereit sein, andere Vorschläge wie insbesondere die starre Frist beiseite zu räumen. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, mit diesem neuen Tierarzneimittelgesetz eine Situation zu schaffen, die in der Praxis nicht nur handhabbar ist, sondern die auch dazu führt, das Vertrauen der Verbraucher in Zukunft zu erhalten. ({13}) Mehr Selbstverantwortung für Tierärzte und Landwirte ist das Gebot der Stunde. Ich würde mich freuen, wenn auch Minister und Abgeordnete bereit wären, über die Empfehlungen der Amtstierärzte hinaus Verantwortung zu übernehmen. Wir sind dazu bereit und wir laden Sie ein, dabei mitzumachen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache und wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Drucksache 15/3828, zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes für Tierärzte und Landwirte praxisgerecht und verbraucherfreundlicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3112 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 15/1494 zur Änderung des Arzneimittelgesetzes. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2999, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Drucksache 15/2999, zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Praxisgerechte Novelle des Tierarzneimittelgesetzes verbessert Tier- und Verbraucherschutz“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/1596 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3103 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes ({0}) - Drucksache 15/3169 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) - Drucksachen 15/3838, 15/3867 - Berichterstattung: Abgeordnete Verena Butalikakis Die Kollegen Kirschner, Butalikakis, Kurth, Funke und Lötzsch haben gebeten, ihre Reden zu Protokoll ge- ben zu dürfen. - Sie sind damit, wie ich sehe, einverstan- den. Dann verfahren wir so.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/3169. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Konsequenzen aus der Entscheidung zum Ladenschlussgesetz ziehen - Regelung des Ladenschlusses den Ländern überlassen - Drucksache 15/3359 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss 1) Anlage 7 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre ich keinen. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Gudrun Kopp.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Seit fast zehn Jahren diskutieren wir im Deutschen Bundestag darüber, ob die Bestimmung über den Ladenschluss um einige wenige Minuten gelockert werden soll oder nicht. Es stellt sich nicht die Frage, ob rund um die Uhr geöffnet werden soll, sondern die Grundfrage ist, was der Staat gesetzlich regeln soll oder muss und ob er bevormunden soll. Wir Liberale sagen ganz klar: Hier können wir einen alten Zopf abschneiden, nämlich den auf dem Markt Agierenden, also den Händlern und denjenigen, die die Dienstleistung abfragen, den Kunden, vorzuschreiben, wann eine Ladentür zu schließen ist und wann nicht. Das ist in höchstem Maße antiquiert und entspricht nicht einem modernen Zeitgeist. ({0}) Deshalb freuen wir uns, dass das Bundesverfassungsgericht im Juni dieses Jahres zumindest eine Bandbreite des Handelns dem Bundesgesetzgeber gegeben hat und empfiehlt, den Ländern die Entscheidung über die jeweiligen Ladenschlusszeiten an Werktagen zu belassen. Dabei handelt es sich um einen sehr wichtigen Punkt. Es geht um die Tage Montag bis Sonnabend. Die Sonnund Feiertage sind grundgesetzlich geschützt. Insoweit haben die Länder die Möglichkeit, zu handeln, sofern der Bundesgesetzgeber dafür die rechtlichen Voraussetzungen in Form eines so genannten Ermächtigungsgesetzes schafft. Wer eine Überbelastung von Arbeitnehmern und die Aushöhlung des Arbeitsrechts befürchtet - Sie lächeln schon vielsagend, Herr Kollege Ulrich; Sie tragen sicherlich gleich wieder die übliche Arie vor -, den weise ich auf das Arbeitszeitgesetz und die darüber hinaus bestehende tarifvertragliche Vereinbarung über die Arbeitszeiten von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hin. Ich halte es für notwendig, ideologiefrei an das Thema Ladenschluss heranzugehen. Der Deutsche Bundestag sollte nicht ständig aufs Neue mit diesem Thema befasst werden. Ich denke, wir haben andere Sorgen und sollten die bestehenden Möglichkeiten nutzen, um Freiräume zu schaffen und zur Entbürokratisierung beizutragen. ({1}) Ich habe mit Freude gelesen, dass etwa zehn Bundesländer die gesetzliche Freigabe des Ladenschlusses fordern. Sie haben signalisiert, dass sie die Ladenöffnungszeiten in ihrem jeweiligen Land an Werktagen freigeben möchten. Das ist ein gutes Signal. Ich halte nichts davon, dass Bundeswirtschaftsminister Clement, der die Meinung vertritt, die Entscheidung über die Freigabe des Ladenschlusses nicht den Ländern überlassen zu dürfen, das Thema in die Föderalismuskommission verlagern möchte. Es ist immer wieder dasselbe: Wenn man sich nicht traut, eine Entscheidung zu treffen oder sich ein weiteres Mal mit den Gewerkschaften anzulegen, dann kommt eine Kommission gerade recht, um eine unangenehme Entscheidung zumindest zu vertagen. Wir wollen nicht, dass das Thema vertagt wird und in der Versenkung verschwindet, und fordern mit unserem Antrag dezidiert eine bundesgesetzliche Regelung, nach der das Ladenschlussgesetz durch Landesrecht ersetzt werden kann. Meine Fraktion und ich sind der Ansicht, dass es hohe Zeit ist, diesen Schritt endlich zu vollziehen. Denn wir müssen den Gegebenheiten der heutigen Zeit und den Lebensgewohnheiten der Menschen gerecht werden. Ich bitte diejenigen, die unserem Anliegen skeptisch gegenüberstehen, noch einmal in sich zu gehen. Trauen Sie den Ländern mehr zu und lassen Sie uns die Regelung des Ladenschlusses an die Länder übertragen! Sie wissen selbst am besten, welche Regelung vor Ort angebracht ist. Deshalb fordere ich Sie auf: Zeigen Sie Mut zur Entscheidung und bescheiden Sie unseren Antrag positiv! Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anette Kramme.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kopp, ich habe von Ihnen kein einziges Argument gehört. Das einzige vermeintliche Argument, das Sie vorgetragen haben, lautet: Wir müssen alte Zöpfe abschneiden. Der Bürokratieabbau, den Sie angesprochen haben, stellt allerdings ebenso wie die Bürokratie als solche keinen eigenen Wert dar. Wenn ich gut singen könnte - das kann ich aber leider nicht -, dann würde ich jetzt Folgendes vortragen: Alle Jahre wieder kommt der Ladenschluss auf den Bundestag nieder, wo wir Leidtragende sind. ({0}) Das Thema Ladenschluss hat in der Vergangenheit schon oft auf der Tagesordnung gestanden. Man sollte meinen, dass dazu schon alles gesagt worden ist. Offensichtlich besteht aber nach wie vor Klärungsbedarf, wie der Antrag der FDP zeigt. Deshalb lassen Sie mich noch einmal dazu Stellung nehmen. Meine Damen und Herren von der FDP, der Titel Ihres Antrags lautet: „Konsequenzen aus der Entscheidung zum Ladenschlussgesetz ziehen - Regelung des Ladenschlusses den Ländern überlassen“. Sie erwecken damit den Eindruck der vermeintlichen Verfassungswidrigkeit der gegenwärtigen Rechtslage. Um es klar und deutlich hervorzuheben: Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Das Gesetz ist in formaler Hinsicht ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt worden. Der Sachverhalt stellt sich wie folgt dar: Der Bund darf Änderungen an dem Gesetz vornehmen. Nur wenn es um grundlegende Neuregelungen geht, gilt eine Regelungssperre. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass keinerlei Verstoß gegen Art. 12 oder Art. 3 des Grundgesetzes vorliegt und hat in diesem Zusammenhang die Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer hervorgehoben. Es gibt derzeit also keinerlei Grund, gesetzgeberisch zu handeln, zumal der Gesetzgeber erst letztes Jahr tätig geworden ist. Ich schlage deshalb vor, dass wir bei diesem Thema Ruhe und Gelassenheit bewahren und es der Föderalismuskommission überlassen, und zwar nicht, um uns einen Zeitaufschub zu verschaffen oder um uns vor der Behandlung dieses Themas zu drücken, sondern, weil Bund und Länder inzwischen über viele Dinge streiten, unter anderem über die konkurrierende Gesetzgebung. Es ist daher objektiv vernünftig, dies zu tun. Meine Damen und Herren der Dagobert-Duck-Partei, Ihr Antrag zielt einzig und allein darauf ab, den Ladenschluss mit der vermeintlichen Hilfe der Länder vollständig zu kippen. Sagen Sie das doch klipp und klar und zünden Sie keine rhetorischen Nebelkerzen! Meine Damen und Herren von der FDP, wieder einmal wollen Sie ohne Sinn und Zweck den Arbeitnehmern mehr zumuten. ({1}) Sie gebärden sich als Ladendiebe des Arbeitsrechts. Frau Kopp, auch wenn Sie nicht allein für den vorliegenden Antrag verantwortlich sind, möchte ich auf die vermeintlichen Argumente zugunsten einer weiteren Flexibilisierung des Ladenschlusses eingehen. Zunächst Folgendes: 2003 haben wir weitere Lockerungen gestattet. Dabei haben wir eine vernünftige Abwägung zwischen den Interessen der Verbraucher, der Arbeitnehmer und insbesondere der Arbeitnehmerinnen sowie des gesamten Handels vorgenommen und die Interessen nicht nur der großen, sondern auch der kleinen Unternehmen berücksichtigt. Für längere Öffnungszeiten besteht zwar derzeit kein Bedarf. Trotzdem möchte ich auf das Pro und Kontra einer vollständigen Aufhebung des Ladenschlusses eingehen. Ein erstes gewichtiges Argument für längere Öffnungszeiten ist der vermeintliche Verbraucherwunsch. Diesen Wunsch gibt es tatsächlich. Auch ich finde es toll, jederzeit das zu bekommen, was ich möchte. Allensbach hat festgestellt, dass ein entsprechendes Interesse besteht und dass sich der Nutzungsgrad der bisherigen Öffnungszeiten positiv gestaltet. 50 Prozent - das sind vor allem Jüngere und Berufstätige - machen von den längeren Öffnungszeiten Gebrauch. Das ist allerdings nicht der einzige Verbraucherwunsch. Die Verbraucher - das gilt vor allen Dingen für Ältere - haben auch Interesse an einer wohnungsnahen Versorgung. Eine Umfrage des Landes Nordrhein-Westfalen dazu hat ergeben - das ist erschreckend -, dass 17 Prozent der Gesamtbevölkerung und sogar 29 Prozent der durchschnittlichen Gemeindefläche des Landes bereits heute von einer unzureichenden Lebensmittelnahversorgung betroffen sind. ({2}) - Natürlich liegt das am Ladenschluss; denn die Verlängerung des Ladenschlusses hat zu Konzentrationsprozessen geführt. Hier gilt es also widerstreitende Interessen zu berücksichtigen. Würden wir der Forderung nach einer weiteren Flexibilisierung nachgeben, führte dies zu einer weiteren Einschränkung der wohnungsnahen Versorgung. Ein anderes Argument für eine weitere Flexibilisierung des Ladenschlusses ist die Steigerung des Umsatzes. 1996 hat die damalige Bundesregierung, gestützt auf eine Ifo-Studie, behauptet, die verlängerten Öffnungszeiten brächten 20 Milliarden Euro mehr Umsatz. 1999 musste das Ifo-Institut zugeben, dass es keinerlei Umsatzsteigerungen gegeben hat. Vielmehr haben wir zu registrieren, dass der Gesamtumsatz seit Jahren stagniert. Trotz erweiterter Öffnungszeiten waren die Umsatzzahlen im Jahr 2003 negativ. Der Rückgang betrug 0,7 Prozent. Damit ist Ihre Argumentation zugunsten einer weiteren Flexibilisierung des Ladenschlusses widerlegt. Es ist nicht mit Umsatzsteigerungen zu rechnen. Es gibt kein Argument für mehr Flexibilität. Des Weiteren wird ein städtebauliches Argument für eine weitere Flexibilisierung der Ladenschlusszeiten angeführt, nämlich die Belebung der Innenstädte. Dazu gibt es drei Feststellungen in einer der beiden Ifo-Grundsatzstudien zu diesem Thema. Die erste lautet: Die kleineren Geschäfte - damit sind diejenigen gemeint, deren Jahresumsatz unter 2 Millionen DM liegt - können nicht mithalten und schließen überwiegend um 18.30 Uhr, während nahezu alle großen Geschäfte - damit sind diejenigen gemeint, die einen Jahresumsatz von mehr als 25 Millionen DM haben - davon Gebrauch machen. Die zweite Feststellung des Ifo-Instituts lautet: Die Ausweitung der Öffnungszeiten hat den öffnungsaktiven Geschäften nennenswerte Umsatzsteigerungen gebracht. Die verlängerten Öffnungszeiten haben daher zu einer Differenzierung der Leistungsprofile der Geschäfte und Filialsysteme geführt. Zentrale Standorte des Einzelhandels sowie großflächige Betriebstypen haben an Bedeutung gewonnen. Die dritte Feststellung des Ifo-Instituts lautet - das ist die Schlussfolgerung -: Gewinner sind die Ia-Lagen in Großstädten ab 500 000 Einwohnern. Verlierer sind die Stadtteile, die Klein- und die Mittelstädte. Auch der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels hat sich in einer Sachverständigenanhörung im Jahre 2003 gegen eine gänzliche Ausweitung ausgesprochen: Unsere große Sorge ist, dass sich, wenn eine totale Liberalisierung stattfände, der schon zu beobachtende Drang auf die grüne Wiese noch weiter verstärken wird, insbesondere wenn die Öffnungszeiten tief in die Nacht hineingehen. Wir befürchten, dass Einzelhandelsstandorte der Innenstadt in der Konkurrenz mit der grünen Wiese noch weiter zurückfallen werden. Also trägt auch das Argument „Belebung der Innenstädte“ nicht. Meine Damen und Herren der FDP, seien Sie doch ehrlich: Sie wollen den kleinen und mittelgroßen Einzelhändlern doch gar keine Chancen verschaffen. Ihnen geht es nur um Ihre Klientel, um die Interessen der großen Kaufhäuser und der Einkaufszentren auf der grünen Wiese. ({3}) Meine Damen und Herren von der FDP, die Geschichte von Robin Hood ging anders. Sie lautete nicht - so macht es die FDP -: Nehmts den Kleinen, gebts den Großen. Ein weiteres Argument lautet: mehr Beschäftigung. Auch in dieser Hinsicht hat es in der Vergangenheit viel versprechende Voraussagen gegeben. 1996 hat Ihre alte Bundesregierung erklärt, das Ganze werde 50 000 Arbeitsplätze bringen. Das Gegenteil war die Folge. Die Zahl der Beschäftigten im Einzelhandel ist von 2,75 Millionen im Jahr 1995 auf 2,5 Millionen im Jahr 2002 zurückgegangen. Das sind die offiziellen Zahlen. Hinzuzufügen ist, dass der Umfang der geringfügigen Beschäftigung und der Teilzeitbeschäftigung zugenommen hat, sodass das Ausmaß des Beschäftigungsabbaus noch deutlich größer ist. Die Konsequenz: kein Arbeitsplatz mehr, aber eine weitere Verschlechterung der Arbeitsbedingungen von 2,5 Millionen Menschen. Das ist nicht akzeptabel. Sie wollen die Arbeitnehmerrechte dem Wühltisch preisgeben. Das letzte Argument - es richtet sich besonders klar gegen Ihr Vorhaben -: Das Ganze ist frauen-, familienund gesellschaftsfeindlich. Fast 70 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel sind Frauen. Wie sie mit den Arbeitszeiten fertig werden sollen, insbesondere vor dem Hintergrund der Kinderbetreuungssituation, die nun einmal vorrangig von den Ländern bestimmt wird, können Sie nicht erklären. Soziale Werte wie Familienleben, Vereinsleben und bürgerschaftliches Engagement gelten bei Ihnen wenig. Sie sind ja auch nicht in Euro und Cent messbar. Meine Damen und Herren der FDP, die Ihrerseits intendierte vollständige Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten ist ein Ladenhüter. Kein Umsatzplus, kein Beschäftigungsplus, sondern eine zusätzliche Verödung der Innenstädte und schlechtere Arbeitsbedingungen wären die Folge. Nehmen Sie Abstand von Ihrem Vorhaben! Vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Kues. ({0})

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, wenn wir heute am Punkt null wären und uns überlegen müssten, wie wir das Ganze - Zuständigkeiten des Staates, Umfang des Freiraums der Menschen organisieren sollten, kämen wir dann wohl auf die Idee, ein so kompliziertes Ladenschlussgesetz zu verabschieden? Ich glaube, nein. Deswegen sage ich im Hinblick auf Ihre Argumentationsweise ausdrücklich: Sie sind dem Status-quo-Denken zu sehr verhaftet. Das ist für mich strukturkonservativ und bringt uns überhaupt nicht weiter. ({0}) Auch unter den Sozialdemokraten gibt es sehr unterschiedliche Töne; ich denke zum Beispiel an den Wirtschaftsminister. Ich habe schon einmal gesagt - ich rede nicht zum ersten Mal zum Thema Ladenschluss -: Dieses Thema wird immer dann hervorgeholt, auch von den Sozialdemokraten, wenn einem zur Wirtschaftspolitik nicht mehr so ganz viel einfällt. Man tut dann so, als wäre damit die zentrale Lösung verbunden. Das ist aber keineswegs so. Die zentrale Lösung ist - darüber müssen wir uns Gedanken machen -, dass wir wirtschaftlich wieder in Gang kommen, damit vorhandene Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen werden. ({1}) Ich will ganz klar festhalten, dass die Position der Union zum Ladenschluss von zwei Eckpunkten gekennzeichnet ist: Erstens wollen wir den Sonntag konsequent schützen. ({2}) Zweitens wollen wir dem Werktag die bürokratischen Fesseln nehmen. Wir sind also liberal, was die Werktage angeht, wir sind aber prinzipienorientiert, was den Sonntag angeht. ({3}) Ich will ganz deutlich sagen, wie wir das sehen: Der Sonntag ist wichtig für Familien, Verwandte und Freunde; er ist wichtig für die Pflege sozialer und gesellschaftlicher Kontakte; er ist auch wichtig als Ruhepause, in der man zur Besinnung kommen und innehalten kann; er ist auch wichtig als Freiraum für religiöse Aktivitäten; er ist wichtig für Freizeit und Sport, also für die Zeit, die nicht in erster Linie von vordergründigen Nützlichkeitserwägungen bestimmt ist. Es ist klug, wenn wir als Gesetzgeber zum einen klar sagen, was für uns von zentraler Bedeutung ist, nämlich der Sonntagsschutz, zum anderen uns aber ebenso zu unbürokratischen Regelungen an Werktagen bekennen. Der Ansatzpunkt der Union ist klar: Zur Siebentagewoche gehört ein freier Tag. Das ist Teil unserer Kultur und hat eine mindestens 2 000-jährige Tradition. Unserer Auffassung nach muss der Gesetzgeber das bundeseinheitlich und effektiv schützen, unabhängig davon, welchen Spielraum man den Ländern ansonsten einräumt. Ich sage aber auch, und zwar nicht nur aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes, sondern auch aufgrund der Diskussionen, die es im Bundesrat gegeben hat, dass meines Erachtens der Bundesgesetzgeber handeln muss, und zwar völlig unabhängig von den Entwicklungen in der Föderalismuskommission. ({4}) Wir sind dafür, dass den Menschen zeitlicher Spielraum gegeben wird, den Verbrauchern ebenso wie den zahlreichen Menschen, die sich beispielsweise mit einer Dienstleistung zu einer ungewöhnlichen Zeit ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, statt arbeitslos zu sein. Wir als Union sind dafür, lieber weniger und das gescheit zu regeln, als alles Mögliche zu regeln. Damit produzieren wir nur neue Bürokratie und verlieren im Endeffekt das eigentliche Ziel aus den Augen. Den Sonntagsschutz dürfen wir eben nicht aus den Augen verlieren. Deswegen brauchen wir hierfür bundeseinheitliche Regelungen. Ich kann es noch anders formulieren: Wir müssen wissen, was wir verlieren, wenn wir die letzte einheitlich geprägte Zeitzone in einer immer flexibilisierteren Zeitstruktur vernichten. Ich weiß nicht, um den wievielten Antrag zum Ladenschluss es sich bei dem vorliegenden handelt. Wir reden seit Jahrzehnten darüber. Immer ging es darum, etwas zu regeln bzw. festzuschreiben. Interessanterweise reden wir ja auch von Ladenschluss und nicht von Ladenöffnung. Wir schreiben den Kaufleuten vor, wann sie den Laden geschlossen zu halten haben, und wir schreiben den Kunden vor, wann sie einzukaufen haben. Wir überziehen den Vorgang des Kaufens, der ja eigentlich ein sehr individueller ist, meiner Meinung nach völlig unnötig mit Paragraphen. ({5}) Der Kollege Brandner hat kürzlich einmal gesagt - das klang ja hier eben auch wieder an -, er sei gegen eine Freigabe der Öffnungszeiten, weil die bestehenden Ladenöffnungszeiten schon nicht genutzt würden. Ich sage deutlich: Darum geht es gar nicht. Es geht darum, ob wir den Menschen vorschreiben wollen, wann und wo sie ihre Geschäfte zu öffnen haben und wann und wo sie einzukaufen haben. Ich bin dagegen, da sich, wie ich denke, die Konsumgewohnheiten und die Konsummöglichkeiten nicht zuletzt dank des Internets geändert haben. Ich gebe zwar nicht viel auf Umfragen, aus denen hervorgeht, dass etwa 70 Prozent der Bevölkerung die jetzigen Regelungen als nicht weit genug gehend empfinden und mehr Flexibilität wollen, aber zugleich möchte ich auch nicht, dass die Menschen - das wollen sie ja auch selbst nicht - auf Tankstellen und Bahnhofsverkaufsstände angewiesen sind, wo die Waren in der Regel wesentlich teurer sind. Deswegen sollten wir den Menschen mehr zeitlichen Spielraum geben. Sie sollten selbst entscheiden können, wo es sich für sie lohnt bzw. wann es sich für sie privat oder familiär einrichten lässt. Ausdrücklich gilt: Keiner muss seinen Laden öffnen. Die Frage ist, ob er es darf. Ich bin sicher, dass sich aufgrund der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten vernünftige Regelungen - das können wir auch bei dem jetzt vorgegebenen zeitlichen Rahmen feststellen - einpendeln werden. Manche sagen zwar, es werde nicht zu zusätzlichen Umsätzen kommen. Aber ich bin ganz sicher, dass der Einzelhändler genau weiß, ob es sich für ihn lohnt, sein Geschäft zu öffnen; wenn sich herausstellt, dass es zu bestimmten Zeiten keine Nachfrage gibt, wird er es zu diesen Zeiten sicher schnell wieder schließen. Ich finde jedenfalls, diejenigen, die einfallsreich sind, die etwas unternehmen wollen, die eine besondere Dienstleistung anbieten wollen, dürfen nicht gezwungen werden, sich eine Tankstelle zu pachten, damit das möglich wird. ({6}) Insofern ist der Antrag der FDP durchaus zu begrüßen; denn die Forderung, den Ladenschluss den Ländern zu überlassen, ist nicht nur eine föderalistische Frage, sondern sie läuft darauf hinaus, den Ladenschluss faktisch zu flexibilisieren. Wenn eben gesagt wurde - dazu sind auch einzelne Stimmen aus dem Regierungslager zu hören -, über den Ladenschluss müsse die Föderalismuskommission entscheiden, so ist das meines Erachtens nichts weiter als ein Bremsmanöver, weil man sich in der Sache nicht einig ist. Die Landwirtschaftsminister fordern den Wechsel und die Bundestagsfraktion ist dagegen. Ich jedenfalls erkenne keine Linie. Angesichts dessen, was die Föderalismuskommission vor sich hat, frage ich mich, warum man ihr diese Entscheidung überlassen will. Ich finde, man sollte das abräumen, was man leicht abräumen kann, wenn man es nur will. Wir quälen uns in Deutschland seit über 110 Jahren mit diesem Problem herum, das andernorts überhaupt kein Thema mehr ist. Die Argumente werden seit Jahren ausgetauscht; sie sind im Wesentlichen auch im FDP-Antrag aufgeführt, es sind nur weniger geworden. Der Schwerpunkt liegt gegenwärtig auf der Frage, wie viel Kompetenz man den Ländern geben will. Es sind im Grunde genommen immer dieselben Argumente, im Wesentlichen wirtschaftliche Gründe. Ich sage ausdrücklich, dass der wirtschaftliche Grund, der flexible Ladenschluss führe womöglich zu Umsatzsteigerungen, für mich nicht der zentrale ist; denn das ist nur begrenzt überzeugend. Für mich ist ein anderer Aspekt entscheidend: Wenn man, abgesehen von der Sonntagsregelung, die Bundeszuständigkeit hier aufgeben würde, wäre das ein Signal, den Bürgern auch in anderen Bereichen mehr Entscheidungsfreiheit zu geben, ihnen mehr Verantwortung zukommen zu lassen und auch in anderen Bereichen mehr von den Bedürfnissen der Menschen auszugehen, statt immer alles staatlich vorzuschreiben. ({7}) Das Stichwort Arbeitsschutz ist hier angesprochen worden. Es ist schon mehrfach gesagt worden: Dafür gibt es arbeitszeitgesetzliche und tarifvertragliche Regelungen. Für mich ist völlig klar, dass die Öffnungszeiten in Berlin ganz anders geregelt werden können als zum Beispiel auf dem flachen Land. Wir wollen, bis auf den generellen Sonntagsschutz, den Ländern die Zuständigkeit übertragen. Wir haben in den vergangenen Jahren in immer schnellerer Folge neue Öffnungszeiten beschlossen. Das hat auch etwas damit zu tun, dass sich die Gewohnheiten der Menschen verändert haben und dass wir im Prinzip eingesehen haben, dass wir ihnen in diesem Bereich keine Fesseln anlegen sollten. ({8}) Es haben sich über viele Jahre Sonderregelungen etabliert: Apotheken dürfen Arzneien, Kioske Zeitungen und Bäcker Brötchen verkaufen. An Tankstellen - ich habe sie schon angesprochen -, Bahnhöfen und Flughäfen kann sich der Kunde mit Artikeln des Reisebedarfs eindecken, wozu heute fast alles gehört, sodass mancher Bahnhof zum Shoppingcenter und nicht wenige Tankstellen zu regelrechten Supermärkten geworden sind. Außerdem sind anlässlich von Märkten und Messen bis zu vier verkaufsoffene Sonn- und Feiertage erlaubt. Weitere Ausnahmen gibt es für beliebte Tourismusziele. Ich werbe aus gutem Grund deswegen erstens für Länderzuständigkeit, zweitens für die Abschaffung der Überregelung an Werktagen und drittens für einen konsequenten bundeseinheitlichen Schutz des Sonntags. Dabei will ich eines allerdings nicht verschweigen: Der Sonntag schenkt uns nicht einfach Zeit, sondern er schenkt uns vor allem gemeinschaftliche Zeit, frei von Nützlichkeitserwägungen und ohne großen Koordinierungsaufwand. Das wird in Zukunft ein wertvolles Gut sein. ({9}) Wie sich allerdings die Regelung bezüglich des Sonntags auf Dauer entwickeln wird, hängt - diese persönliche Bemerkung sei mir gestattet, auch an dieser Stelle am Freitagnachmittag - in erster Linie nicht vom staatlichen Rahmen ab. Das hängt vielmehr davon ab, wie wir als Bürgerinnen und Bürger den Sonntag praktizieren und ob wir ihn durch unser Verhalten auch inhaltlich füllen. Denn eine leere Hülle ist auf Dauer schwer zu verteidigen. Damit wir ihn überhaupt inhaltlich füllen können, muss der Staat die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen, und zwar bundeseinheitlich und effektiv unter Mitwirkung der Länder. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erteile nun dem Abgeordneten Hubert Ulrich das Wort zu seiner vorerst letzten Rede in diesem Parlament. Er geht zurück ins Saarland. ({0})

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hintergrund des FDP-Antrages - so interpretiere ich ihn - ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer dieses Jahres. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass der Deutsche Bundestag in Zukunft nur noch sehr eingeschränkte Möglichkeiten haben wird, das Ladenschlussgesetz zu ändern. Daraus folgte ein einstimmig beschlossener Gesetzentwurf der Länder, die den Ladenschluss in eigener Hoheit regeln wollen. Über eine Länderzuständigkeit für den Ladenschluss kann man ernsthaft diskutieren. Ich habe grundsätzlich kein Problem damit. Allerdings gibt es, wie wir vorhin gehört haben, die Föderalismuskommission. Diese Kommission verhandelt über ein Gesamtpaket zur Entflechtung des Wirrwarrs bezüglich der Bund- und Länderkompetenzen, was mehr als sinnvoll ist. Zum jetzigen Zeitpunkt, liebe Frau Kopp, wäre es völlig falsch, einen einzelnen Punkt aus diesem Verhandlungspaket herauszulösen. ({0}) Der Ladenschluss ist ein Teil der Verhandlungsmasse. Diese Kommission ist nicht irgendeine Kommission, wie das vorhin von Ihrer Seite dargestellt wurde. Es ist eine Kommission, die immerhin von Franz Müntefering und Edmund Stoiber geleitet wird. ({1}) Sie ist also hochkarätig besetzt. Es soll auch etwas dabei herauskommen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt eine entsprechende Entscheidung zu treffen wäre völlig falsch. Was Sie machen - das ist meine Interpretation -, ist reiner FDP-Klamauk, um ein Thema hochzubringen, über das Sie gerne diskutieren wollen. Diese Diskussion hat einen anderen Vorteil, Frau Kopp: Sie gibt uns Gelegenheit, ernsthaft über die aktuelle Karstadt-Krise zu reden. ({2}) Ich habe mit Schmunzeln die Einlassungen des hochkompetenten Herrn Brüderle, des harten Marktwirtschaftlers der FDP, vernommen, der vor dem Hintergrund der Karstadt-Krise nach dem Staat ruft. Herr Brüderle tritt sonst immer für eine knallharte Deregulierung, für die Privatisierung bis zum letzten Putzlappen und für das freie Spiel der Kräfte ein. Ein großes Privatunternehmen ist - wie man hört - im Wesentlichen durch eigene Managementfehler in der Krise. Jetzt kommt aber nicht der Ruf der FDP nach marktwirtschaftlichen Lösungen. Nein, man ruft nach dem starken Staat. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Herr Brüderle zu solchen Einlassungen verstiegen hat. Was hat Herr Brüderle gefordert, als vor anderthalb oder zwei Jahren die T-Aktie in den Keller gerutscht war? ({3}) - Ja, der Staat muss aushelfen. Die Verluste sollen vom Staat übernommen werden. - Das ist wirklich ein starkes Stück. Ein solcher Unsinn kommt normalerweise nur von der PDS. Von einer Partei wie der FDP, die ernsthaft den Anspruch erhebt, dieses Land wieder zu regieren, sollte man etwas anderes erwarten können. Aber das ist Ihre Linie. ({4}) Stichwort Handwerksordnung. Auch da war die FDP gegen eine Deregulierung. Ihre Gesundheitspolitik ist reine Klientelpolitik. Diese Art von Populismus schadet der Sache insgesamt. Was Sie hier machen, ist PDS für Besserverdienende, sonst nichts. ({5}) Die „Financial Times Deutschland“ hat heute Morgen diese Diskussion in einem Kommentar gut auf den Punkt gebracht. Sie hat daran erinnert, dass der Ruf der FDP nach dem Kanzler fatal an einen alten Glauben in der DDR erinnert, nämlich an den Glauben, dass eine Eingabe an Honecker es schon richten würde. ({6}) Vor dem Hintergrund, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Kompetenz für den Ladenschluss wirklich an die Länder übergeht, nicht so gering ist, will ich auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass der Staat helfend eingreifen könnte, um die Verödung der Innenstädte aufzuhalten. Die Verödung der Innenstädte ist ja in dieser Woche vor dem Hintergrund der Karstadt-Krise in der Tat ein ernsthaftes Thema in der deutschen Presse. Und das zu Recht. Unsere Innenstädte veröden wirklich. Der Staat muss sich überlegen: Wie kann er da eingreifen? ({7}) Es wurde ja schon mehrfach in den Debatten um den Ladenschluss versucht, das so genannte Cityprivileg in die Diskussion zu bringen. Ich glaube, eine zeitliche Differenzierung im Hinblick auf Geschäfte in Innenstadtlagen und im Hinblick auf solche auf der grünen Wiese ist vermutlich der einzige Weg, wie man der Innenstadt helfen und eine Verödung stoppen kann. So kann man in Deutschland vielleicht eine Entwicklung verhindern, die heute in den Vereinigten Staaten mit horrenden Summen bekämpft wird. Dort hat man die Innenstädte durch die Ansiedlung von Geschäften auf der grünen Wiese ausgeräumt. Heute werden zig Millionen US-Dollar investiert, um die Innenstädte wieder zu beleben. Das heißt, man sollte ernsthaft darüber nachdenken - das ist auch ein Appell an die Länder, falls sie die Kompetenz erhalten sollten, die Ladenschlusszeiten zu regeln -, eine zeitliche Differenzierung einzuführen, was ja rechtlich geht. So etwas kann man beispielsweise in der Baunutzungsverordnung regeln - das geht auch im Rahmen der jetzt geltenden Ladenöffnungszeiten -, sodass Geschäfte auf der grünen Wiese eine Stunde bzw. anderthalb Stunden früher schließen müssten als Geschäfte in Innenstadtlage. ({8}) Das heißt, Geschäfte in der Innenstadt haben bis 20 Uhr und Geschäfte auf der grünen Wiese haben bis 18.30 oder 19 Uhr geöffnet. Das hätte auch den enormen Vorteil, dass davon nicht nur die Geschäfte in den Innenstadtlagen profitieren würden, sondern insbesondere auch Kleinunternehmer, die von der FDP regelmäßig vergessen werden. Dies gilt auch für Kinos, Theater und die Gastronomie. ({9}) Darüber sollte man also noch einmal ernsthaft nachdenken. ({10}) Meine Redezeit geht zu Ende. ({11}) Die Präsidentin war so nett, darauf hinzuweisen, dass dies heute meine letzte Rede im Deutschen Bundestag ist. Ich gehe in den saarländischen Landtag zurück. ({12}) Deshalb möchte ich mich heute an dieser Stelle von Ihnen verabschieden und mich bei all denen bedanken, mit denen ich in diesem Hause gut zusammengearbeitet habe. Ich wünsche Ihnen allen parteiübergreifend eine gute Hand bei der Politik, die Sie hier für uns alle machen müssen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich wünsche Ihnen auch alles Gute für Ihre politische und persönliche Zukunft. Wir sehen uns bestimmt wieder. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3359 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur wirkungsgleichen Übertragung von Regelungen der sozialen Pflegeversicherung sowie der gesetzlichen Krankenversicherung auf dienstrechtliche Vorschriften - Drucksache 15/3444 ({0}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 15/3830 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Thomas Strobl ({2}) Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/3847 - Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke Klaus Hagemann Alexander Bonde Otto Fricke Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP vor. Die Abgeordneten Kemper, Göbel, Stokar von Neuforn und Max Stadler sowie der Parlamentarische Staatssekretär Körper haben gebeten, ihre Reden zu Pro- tokoll geben zu dürfen. Sie sind damit einverstanden? - Dann verfahren wir auch so.1) Wir kommen zur Abstimmung über den eingebrachten Gesetzentwurf. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3830, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag auf Drucksache 15/3848? ({4}) 1) Anlage 8 Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan- trag ist mit den Stimmen der SPD und des Bünd- nisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen wor- den. Der Abgeordnete Kelber hatte darum gebeten, eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu dem eben verabschiedeten Gesetzentwurf zu Protokoll zu geben. Der Bitte wird entsprochen.2) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Autobahnmautgesetzes für schwere Nutzfahrzeuge - Drucksachen 15/3678, 15/3822 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) - Drucksache 15/3819 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Weis ({7}) Wilhelm Josef Sebastian b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({9}), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU LKW-Mauteinführung zügig voranbringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({11}), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Mautbefreiung für humanitäre Hilfstrans- porte - Drucksachen 15/3314, 15/3489, 15/3819 - 2) Anlage 6

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Reinhard Weis ({0}) Wilhelm Josef Sebastian Die Abgeordneten Weis, Hofbauer, Sebastian, Schmidt und Friedrich und die Parlamentarische Staatssekretärin Mertens haben gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) - Auch das findet Ihre Zu- stimmung. Wir kommen somit gleich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Autobahnmautgeset- zes für schwere Nutzfahrzeuge; das sind die Druck- sachen 15/3678 und 15/3822. Der Ausschuss für Ver- kehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3819, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu- stimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. 1) Anlage 9 Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3314 mit dem Titel „LKW-Mauteinführung zügig voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3489 mit dem Titel „Mautbefreiung für humanitäre Hilfstransporte“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Oktober 2004, 14 Uhr - das ist eine Stunde später als üblich -, ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und ebenso den Besucherinnen und Besuchern auf den Tribünen eine gute Heimfahrt und ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.