Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/4/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um weitere Zusatzpunkte er- weitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegen- den Zusatzpunktliste aufgeführt: 5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble und der Fraktion der CDU/CSU: Für ein glaubwür- diges Angebot der EU an die Türkei - Drucksache 15/126 - 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angela Merkel, Michael Glos, Volker Kauder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Einsetzung eines Untersuchungs- ausschusses - Drucksache 15/125 - Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wi- derspruch. Dann ist es so beschlossen. Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungs- punkt 1 - fort: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2003 ({0}) - Drucksache 15/150 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2002 ({1}) - Drucksache 15/149 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft des Bundes - Drucksache 15/151 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige Aussprache insgesamt 10,5 Stunden und für die Aussprache morgen 5,5 Stunden beschlossen haben. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes. Außerdem rufe ich den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble und der Fraktion der CDU/CSU Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei - Drucksache 15/126 Das Wort erteile ich dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst herzlichen Dank dafür, Herr Bundeskanzler, dass Sie unseren österreichischen Freunden so geholfen haben. ({0}) Durch Ihren Einsatz - das war ein beispielloses Mobbing eines kleines Landes ({1}) und durch die Tatsache, dass Ihre Politik so abschreckend gewesen ist, ist dieses Wahlergebnis in Österreich zustande gekommen. ({2}) - Bevor Sie von der linken Seite her schon in aller Früh so laut rufen, sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass es Ihre Genossen in Österreich waren, die die Abschlusskundgebung mit Bundeskanzler Schröder aus Deutschland abgesagt haben. ({3}) Aber es war zu spät. Es hat nichts mehr geholfen. ({4}) Das zeigt wieder, dass das alte Sprichwort noch gültig ist, das da heißt: Niemand ist unnütz; er kann immer noch als abschreckendes Beispiel dienen. ({5}) Wir wissen, dass Sie bei uns in Deutschland die Wahl durch einen Parforceritt, der längerfristig zum Schaden unseres Landes sein wird, knapp gewonnen haben. Wir müssen das akzeptieren und wir werden das akzeptieren. ({6}) - Wenn Sie es nicht akzeptieren, dann lässt es sich auch durch Lautstärke nicht heilen. - Ich fordere Sie und Ihre Freundinnen und Freunde, wie es heißt, auf, endlich zu regieren und endlich von Ihrem Mandat Gebrauch zu machen, statt ständig neue Kommissionen einzusetzen. ({7}) Herr Stiegler von der SPD ist ja zu Zeiten des Wahlkampfs Fraktionsvorsitzender gewesen. Sie müssen nun in seine großen Schuhe hineinwachsen, Herr Müntefering. ({8}) Wo der Herr Stiegler Recht hat, hat er Recht. Daran sieht man auch, welche Halbwertszeit vor allem Ihre Machtworte haben. Sie haben am Montag im SPDPräsidium ein so genanntes Machtwort gesprochen. Herausgekommen sind wieder nur Kakophonie und überflüssige Debatten. Das hat unser Land und das haben die Bürgerinnen und Bürger satt. Sie haben das nicht verdient. ({9}) Die „Süddeutsche Zeitung“, die Ihnen sonst sehr gewogen ist, hat Recht, wenn sie ausgerechnet am 11. November Herrn Kister schreiben lässt - ich zitiere -: Dies ist eine Regierung der Enttäuschung. ({10}) Zu ergänzen ist: Dies ist nicht nur eine Regierung der Enttäuschung, sondern auch eine Regierung der Täuschung und der Irreführung, eine Regierung des Wahlbetrugs und der Bilanzfälschung, eine Regierung der Faktenverschleierung und der Wirklichkeitsverweigerung. Das sind die Tatsachen. ({11}) Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Hartz, der langsam die Rolle von Herrn Stollmann übernimmt - auch er war ein Herzeigewirtschaftler, ausschließlich hervorgeholt, um die letzte Wahl zu gewinnen - und in dessen Fußstapfen tritt, hat mit der so genannten Ich-AG eine Legalisierung der Schwarzarbeit vorgeschlagen. Nach der Ich-AG müsste richtigerweise die Du-AG folgen. Die Du-AG müsste Murksarbeit legalisieren; denn das, was Sie von Rot-Grün bisher abgeliefert haben, war Murksarbeit. ({12}) Herr Bundeskanzler, Sie haben das in einem Interview mit einer großen Hamburger Wochenzeitung als handwerkliche Fehler bezeichnet. Ich finde, man sollte das deutsche Handwerk nicht beleidigen, indem man einen solchen Murks mit handwerklichen Fehlern entschuldigt. ({13}) Wir haben es nicht nur in der Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik, sondern auch - und das kann langfristig noch schlimmer sein - in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dilettantischem Verhalten zu tun. Die Position der Bundesregierung in der Irak-Frage ist ebenfalls von Irreführung und Verschleierung geprägt. ({14}) Die Wahrheit wird nur scheibchenweise preisgegeben. Die Informationspolitik der Öffentlichkeit und dem Parlament gegenüber spottet jeder Beschreibung. Das Wort „Volksverdummung“ ist nur ein milder Ausdruck dafür. Im Inland werden aus wahltaktischen Gründen Pazifismus, deutsche Sonderwege und Äquistanz - ({15}) - Ich meinte natürlich: Äquidistanz. Herr Bundesminister des Äußeren, Sie wollen - das ist Ihr Komplex - immer wieder zeigen, dass Sie von einem Steinewerfer, von einem Bücherbesorger - ich drücke es vorsichtig aus; manche haben Sie „Bücherdieb“ genannt - endlich zu einem Mann im Nadelstreifen geworden sind. Sie kennen sogar Fremdworte. Sie versprechen sich nie. Sie sind eine großartige Figur. ({16}) Aber machen Sie Ihre Großartigkeit endlich in der Politik und im Verhältnis zu unseren amerikanischen Freunden geltend! Meine sehr verehrten Damen und Herren, deutsche Sonderwege sind falsch. Man ist jetzt bestrebt, in den USA weiteren Flurschaden zu vermeiden. Das hat Struck unlängst bei Rumsfeld versucht. Ich halte das für nötig und für sinnvoll. Herr Bundeskanzler, Sie wissen, dass sich in dieser Frage das Koordinatensystem geändert hat. Der UN-Sicherheitsrat hat die Irak-Resolution einstimmig gebilligt und beschlossen. In Prag wurde die einmütige Haltung der NATO bekräftigt. Doch wenn es konkret wird, weichen Sie aus: Eine passive Beteiligung an einer möglichen militärischen Intervention - so haben Sie das unlängst genannt - stellen Sie in Aussicht, eine aktive Beteiligung lehnen Sie allerdings ab. ({17}) Ich kann Ihnen nur empfehlen - Sie rufen: „Richtig!“ -: Schaffen Sie Klarheit! ({18}) Machen Sie klar, wo eigentlich die Grenzen sind. Außer Ihnen weiß das offensichtlich niemand. Den USA stellen Sie logistische Unterstützung, Israel Abwehrraketen und möglicherweise Panzer in Aussicht. Im Wahlkampf haben Sie noch jegliche Beteiligung kategorisch ausgeschlossen und abgelehnt. Damit haben Sie Vorbehalte bei unseren wichtigsten Verbündeten geschürt. Das Verwirrspiel um die Fuchs-Panzer für Israel ist der Gipfel von Dilettantismus. Auch Herr Struck hat sich in dieser Frage nicht als schlauer Fuchs erwiesen. Man gewinnt den Eindruck, die zuständigen Herren sind den Anforderungen nicht gewachsen. ({19}) Was besonders schlimm ist: Erstmals in der Geschichte unseres Landes hat sich Deutschland bei einer existenziellen Frage aus der westlichen Wertegemeinschaft ausgeklinkt. Deutschlands Ansehen in der Welt wurde massiv beschädigt. Unglaubwürdig, unberechenbar und unzuverlässig - so wird Rot-Grün von unseren Freunden zu Recht gesehen. Das ist schlimm für unser Land. ({20}) Unter Helmut Kohl war Deutschland ein verlässlicher Partner der westlichen Gemeinschaft. ({21}) Unter Gerhard Schröder - Herr Bundeskanzler, diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen - herrschen Misstrauen und Verunsicherung. Das Gerede von den deutschen Sonderwegen hallt immer noch nach. Unsere Partner haben nicht vergessen, wohin deutsche Sonderwege in der Geschichte des letzten Jahrhunderts und vorher geführt haben. ({22}) Deswegen sollten Sie mit dem Wort von den deutschen Sonderwegen vorsichtig sein. Wir wollen einen gemeinsamen europäischen Weg gehen, der die Erfahrungen unserer Geschichte mit beherzigt. ({23}) Was ganz besonders schlimm war: Nicht einmal die Staatsräson, die eigentlich einen Bundeskanzler binden sollte, hat Sie während des Wahlkampfes davon abgehalten, mit billigem Antiamerikanismus auf Stimmenfang zu gehen. Dafür bringe ich auch gerne Beweise. Es war schlimm, eine Bundesministerin bis nach der Wahl im Amt zu belassen, die es immerhin fertig gebracht hat, den amerikanischen Präsidenten mit Hitler zu vergleichen und ihn ins Zuchthaus zu wünschen. ({24}) Das ist die Tatsache. Sie haben sie im Amt belassen und nicht weggeschickt. Von Meinungsverschiedenheiten unter Freunden war dann nur die Rede. Das ist sehr verharmlosend für das, was sich angebahnt hat. Ich nenne beispielhaft die Gespräche von Struck, über die er Sie sicherlich unterrichtet hat. Diese Gespräche werden übrigens in den Vereinigten Staaten anders gesehen als in Deutschland. Offensichtlich ist in Hintergrundgesprächen amerikanischen Journalisten etwas anderes gesagt worden, als deutschen Journalisten zur Veröffentlichung freigegeben wurde. ({25}) Herr Struck, Sie waren gleichsam eine Art Spürpanzer des Bundeskanzlers in den USA. Hinterher hieß es dann, das Eis sei jetzt gebrochen. Aber ich stelle fest: Auf gebrochenem Eis kann man keine Eistänze mehr aufführen und keine Pirouetten drehen. Vor allen Dingen geht es darum: Wenn man schon auf dem Eis tanzt, hat die Kür in diesen schwierigen Zeiten keinen Sinn. Tun Sie endlich Ihre Pflicht! ({26}) George Bush senior hat gegenüber Helmut Kohl die deutsch-amerikanischen Beziehungen seinerzeit unter das Motto „Partners in Leadership“ oder „Partnership in Leadership“ gestellt. Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, mussten sich bei Ihren Begegnungen mit Bush junior in Prag - auf diese Begegnung haben Sie lauern müssen mit einem knappen Händedruck begnügen. Der NATOGipfel in Prag wird als der Gipfel des erschlichenen Händedrucks in die Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen eingehen. ({27}) Noch nie zuvor hat ein solches Treffen ohne Begegnung zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten stattgefunden. Wir unterstützen die Außenpolitik, wenn sie die Verantwortung unseres Landes in einer globalen Welt in den Vordergrund stellt. Wir haben Ihnen Zustimmung in schwierigen Zeiten gewährt, als Ihnen die eigenen Freundinnen und Freunde die Gefolgschaft verweigert haben. Auch wissen wir noch, dass Sie selbstverständliche Bündnispflichten nur mit einem Misstrauensvotum durchsetzen konnten. Deswegen bekennen wir uns ausdrücklich zur Verantwortung Deutschlands in der Welt. Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie diese Verantwortung endlich wahr und nehmen Sie sie ernst! Die UN-Resolution einschließlich der Androhung militärischer Gewalt gegen den Irak wurde im Sicherheitsrat immerhin einstimmig angenommen. Deswegen ist es an der Zeit, dass Sie die wahltaktisch begründete Eiszeit mit unseren Freunden in den Vereinigten Staaten wieder beenden. Sie ist zum Schaden unseres Landes und der freien Welt. ({28}) Ich meine, wir brauchen endlich wieder einen Schulterschluss mit all unseren NATO-Verbündeten, insbesondere mit den wichtigsten. Deswegen hat es keinen Sinn, in Deutschland auf antiamerikanische Stimmung zu setzen. Man kann zwar offensichtlich während des Wahlkampfs in bestimmten Teilen unseres Landes kurzfristig damit Punkte machen, aber wie Sie den jüngsten Umfragen entnehmen können, ist auch dort die Stimmung mächtig abgestürzt. Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung kann Deutschland bei der Bewältigung weltweiter Krisen nicht die Rolle des unbeteiligten Fernsehzuschauers übernehmen. Herr Bundeskanzler, Ihr Canossa liegt nicht am Tiber, sondern Ihr Canossa liegt am Potomac. Je eher Sie sich zu Ihrem Canossagang nach Washington aufmachen, desto günstiger wird es für unser Land. Jeder Tag, den Sie länger warten, macht das Ganze teurer. ({29}) Wir diskutieren heute auch über einen Antrag, den die CDU/CSU-Fraktion vorgelegt hat und in dem wir beschreiben, wie wir uns das Verhältnis zur Türkei künftig vorstellen. Wir sind der Meinung - darin sind wir uns sicherlich einig -, dass eine stärkere Verankerung der Türkei in der westlichen Wertegemeinschaft wichtig und richtig ist. Aber die Ausstellung eines Blankoschecks für den Beitritt der Türkei als Vollmitglied in die EU lehnen wir ab, Herr Bundeskanzler. ({30}) Wir wissen, dass die EU in jeder Hinsicht damit überfordert wäre. Wir dürfen auch die Position unseres Landes als größter Nettozahler nicht außer Acht lassen; denn das würde uns ungeheuer teuer zu stehen kommen. Die Türkei ist weder ökonomisch noch politisch reif für den Beitritt zur Europäischen Union. Wir sind auch der festen Überzeugung, dass sich Europa auf ein gemeinsames kulturelles und auch religiöses Erbe gründet. Die Türkei gehört nicht dem europäischen Kulturkreis an. Die Eröffnung einer echten Beitrittsperspektive für die Türkei hätte eine Präzedenzwirkung zur Folge und könnte eine unabsehbare Lawine von weiteren Beitrittsersuchen von Marokko bis zur Ukraine nach sich ziehen. Das wäre die logische Folge. Eine geographisch grenzenlose Europäische Union würde das Projekt Europa, in das gerade die Union so viel Herzblut gelegt hat, für immer zerstören. ({31}) Herr Bundeskanzler, Sie haben hohe Erwartungen in Ihre Rede hineinprojizieren lassen. Deshalb sollten Sie auch zu einem Argument Stellung nehmen, das immer wieder vorgebracht wird. Kommen Sie nicht mit den billigen Ausflüchten, das sei alles vor 40 Jahren in die Wege geleitet worden! Der Hinweis auf die Zollunion mit der Türkei in den 60er-Jahren geht fehl. Damals gab es lediglich eine Wirtschaftsgemeinschaft und niemand hat sich den Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in eine echte Europäische Union mit einem staatenähnlichen Charakter vorstellen können. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Die geostrategische Bedeutung der Türkei ist allgemein bekannt. Wir wissen, dass sich viele Menschen in der Türkei zu Europa hinwenden wollen. Wir wissen aber auch, dass deren Stimmungen nicht davon abhängig sind, ob gerade Beitrittsverhandlungen geführt werden oder nicht. Wichtig ist, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei ausgebaut werden. Es ist vor allen Dingen wichtig, dass eine Assoziierung im außen- und sicherheitspolitischen Bereich erfolgt. Genau darauf legen unsere amerikanische Freunde Wert. ({32}) - Herr Bundesaußenminister, Sie lachen wieder überheblich. Lassen Sie doch Ihre Überheblichkeit! ({33}) Sie sind zwar Außenminister der Bundesrepublik Deutschland; aber Sie sind Gott sei Dank und gottlob nicht der einzige Vertreter unseres Landes, der Gespräche mit den Vereinigten Staaten von Amerika führt. Auch wir sind nicht auf die Pförtner angewiesen, wenn wir in Amerika etwas erfahren wollen. Vielmehr habe ich unlängst eine Reihe von interessanten Gesprächen mit führenden Senatoren, darunter auch dem Mehrheitsführer im Senat, geführt. Es hat sich nämlich anders entwickelt, als Sie es sich gewünscht haben. Ich erinnere mich an die Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden, in der es hieß: Warten Sie erst einmal den Dienstag ab! An dem besagten Dienstag haben die Wahlen in den USA zu dem bekannten Ergebnis geführt, das vielleicht ein bisschen anders ausgefallen ist, als Sie es erwartet haben. Man kann zwar mit unseren amerikanischen Freunden diskutieren, aber man muss dabei Verständnis für den deutschen Standpunkt suchen. Wenn man einfach nur das, was man vorher im Wahlkampf zerstört hat, wieder gutmachen will, ist der Preis zu hoch. Den Preis der Vollmitgliedschaft der Türkei, den Sie zu zahlen bereit sind, damit Sie sich in den USA wieder sehen lassen können, ist uns zu hoch. Wir lehnen - damit das ganz klar ist - diesen Preis ab. ({34}) Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Man zweifelt in den Vereinigten Staaten und in anderen führenden Industrieländern - von dort aus wird ja internationales Kapital entweder zur Verfügung gestellt oder abgezogen - an den wirtschaftlichen Fähigkeiten der Deutschen, die Wirtschaft wieder nach vorne zu bringen. Deutschlands Wirtschaft ist gelähmt. Man glaubt sich an Heinrich Heine erinnert, der in seinem „Wintermärchen“ schreibt: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, werd ich um den Schlaf gebracht.“ Die Stimmung bei Investoren und Verbrauchern ist so eisig wie die deutsch-amerikanischen Regierungsbeziehungen. Jede Woche wird eine neue steuer- und abgabenpolitische Sau durchs Dorf getrieben - darüber ist ja gestern ausführlich debattiert worden -, von der ominösen Mindeststeuer über eine Wertzuwachssteuer bis hin zur Wiederauferstehung der Vermögensteuer. Ich bin ganz sicher, dass „Nachbessern“ das Unwort des Jahres werden wird. Sie werden als einer der größten Kapitalvernichter in die Geschichte unseres Landes eingehen. ({35}) Sie haben nämlich nicht nur das Geldkapital und das Kapital der kleinen Aktienbesitzer zerstört, sondern - das ist noch schlimmer - Vertrauenskapital in der Wirtschaft vernichtet. Dieses Kapital lässt sich sehr viel schwerer wieder aufbauen als Geldkapital. Jeder weiß, dass nach der nächsten Steuerschätzung den Menschen weitere Belastungen drohen, die dem Stopfen immer neuer, selbst gebaggerter Löcher dienen. Hans Eichel ist vom Hans im Glück zum Herrn der Löcher geworden. Das ist ein beispielloser Absturz und zeigt im Grunde den ganzen Niedergang von Rot-Grün. ({36}) Deswegen kann ich verstehen, wenn Herr Müntefering als Fraktionsvorsitzender sehr allergisch auf unsere Absicht reagiert, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der sich mit Hintergründen und Fakten beschäftigt, der offen legt, wer zu welcher Zeit was über die katastrophale Haushaltssituation und die Tatsache wusste, dass die im Maastrichter Vertrag festgelegte Defizitgrenze nicht eingehalten werden kann und dass die Sozialversicherungssysteme schon Mitte dieses Jahres pleite gewesen sind, und wer dafür verantwortlich ist, dass dies der Öffentlichkeit anders dargestellt worden ist. Besonders schlimm ist: Sie misstrauen dem Handeln einzelner Personen. Deswegen sagen Sie, Herr Müntefering - das ist das alte linke, sozialistische Staatsverständnis -: Gebt euer Geld doch dem Staat; denn dort ist es gut aufgehoben. - In Wirklichkeit denken Sie, dass alles, was der Staat nicht zu 100 Prozent bekommt, ein ganz besonderer Gunstbeweis sei. Ich sage Ihnen: Lassen Sie mehr Geld bei den Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere wenn es um die Finanzierung des Konsums geht! Die Menschen sollen zumindest über ihren Konsum entscheiden können. ({37}) Wenn Sie, Herr Müntefering, mehr Geld fordern, dann dient das nur dem Staatskonsum. Unsere Wirtschaft kommt nicht auf die Beine, wenn Verbraucher und Investoren auf Dauer verunsichert sind. ({38}) Karl Schiller hat einmal gesagt: Genossen, lasst die Tassen im Schrank! ({39}) Ich glaube, das muss man Ihnen wieder zurufen; denn das, was Sie jetzt machen, ist eigentlich ein Rückfall in die alte linke Ideologie der 70er-Jahre. Es ist eigentlich nicht zu fassen, dass zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus wieder eine solch furchtbare Staatsgläubigkeit in Deutschland herrscht. ({40}) - Genauso ist es. Es ist nicht zu fassen. In seinem „Zeit“-Interview verband der Bundeskanzler seinen Tritt gegen Eichel, den er ihm aus Hamburg hat geben lassen, gleichzeitig mit einer Klage über die Wirtschaft. Er hat die Presse und die Wirtschaft beschuldigt, ein Zerrbild von der ökonomischen Lage unseres Landes zu zeichnen. Die Tatsachen sehen anders aus. Der Absturz des „Handelsblatt“-Frühindikators zum sechsten Mal in Folge und das Zwischenzeugnis, das die „Financial Times Deutschland“ ausgestellt hat, besagen alles. Mir liegen die entsprechenden Passagen vor. Wenn es gewünscht wird, kann ich sie vorlesen. Jedenfalls dominiert in diesem Zeugnis die Note „mangelhaft“. Sie kommt öfter vor als „ausreichend“. Die beste Note - sie gibt es nur einmal - ist „befriedigend“. Es besteht die reale Gefahr, dass die aktuelle Stagnation erneut in eine Rezession einmündet. Ursache hierfür ist die beispiellose Verunsicherung - ich habe es bereits angesprochen - insbesondere der Verbraucher und der Investoren. Ich bin sehr gespannt, Herr Bundeskanzler, ob heute Ihr Auftritt als selbst ernannter Staatsschauspieler daran etwas ändern wird. ({41}) Ich glaube nicht, dass man mit einer Rede irgend etwas herumreißen kann. Wenn, dann kann man es nur mit entsprechenden Taten tun und diese Taten fehlen. ({42}) Diese Taten sind allerdings auch sehr schwer zu verwirklichen, wenn man einen Verein hinter oder vor sich hat, wie er hier sitzt. Deswegen lassen Sie Ihr Geschrei und Ihre Pfui-Rufe! ({43}) Wenn inzwischen vom kranken Mann Europas die Rede ist, dann sind die Deutschen gemeint. Früher haben wir uns als Deutsche immer umgedreht, wenn irgendwo von einem kranken Mann Europas die Rede war, und haben geschaut, wer es denn sein könnte. Heute müssen wir in den Spiegel schauen, wenn vom kranken Mann Europas die Rede ist. Diesen Zustand sollten Sie beenden. ({44}) Der gebetsmühlenartige Verweis auf die Weltkonjunktur ist nichts als Ablenkungs- und Täuschungsmanöver. Die Europäische Union hat uns mitgeteilt, dass das konjunkturbereinigte, das heißt das strukturelle Defizit in Deutschland von 1,4 Prozent am Ende der 90erJahre auf mehr als 3 Prozent angestiegen ist. Das zeigt, unsere Probleme sind hauptsächlich hausgemacht, und sie müssen bei uns zu Hause in Deutschland gelöst werden. Deswegen werden wir nicht ruhen, bis die Wahrheit ans Licht gebracht ist. Ich finde, man kann einen Neuanfang nur auf der Basis von Wahrheit und Klarheit machen. ({45}) Es bringt auch nichts, wenn Sie die Forschungsinstitute und die Wirtschaftsverbände beschimpfen, die sich um die Arbeitsplätze und die Existenz ihrer Firmen Sorgen machen. Das bringt überhaupt nichts. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Allerletztes: ({46}) - Herr Poß, Sie haben soeben das Wort „Heuchler“ in den Mund genommen. Dies sei Ihnen völlig unbenommen. Die schlimmste und schärfste Kritik kommt doch aus Ihren eigenen Reihen. Das, was Lafontaine ({47}) sagt, hat keinen Oscar der Fairness verdient. Wir haben Gerhard Schröder nicht mit Hitler verglichen. Aber Lafontaine ist an den Rand gegangen, dieses zu tun. Der Vergleich mit Brüning ist allerdings nicht so abwegig. Er hat mit Notverordnungen regiert und Sie sprechen heute von Notgesetzen, die Sie machen. Wo liegt da der große Unterschied? ({48}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundeskanzler verzichtet laut Presse angeblich darauf, eine Blutund Tränenrede à la Churchill zu halten. Er hätte es auch nicht so gut gekonnt wie Churchill. Er kann nicht einmal so gut Zigarren rauchen wie Churchill. ({49}) Wir sind leider in einer Situation, in der Politik ein ganzes Stück in Peinlichkeit ausartet. ({50}) - Ich weiß überhaupt nicht, was Sie wollen. Ich habe mein Hemd noch nicht ans Bundeskanzleramt geschickt. Es sind doch die Bürgerinnen und Bürger, die massenweise ihre Hemden dorthin schicken, um zu protestieren. Es waren auch nicht wir, die den so genannten Schröder-Song finanziert haben. Das mit den bezahlten Songs war Herr Eichel. Herr Eichel hat - aus Steuergeldern finanziert - einen Song zum Tag der offenen Tür des Bundesfinanzministeriums erstellen lassen. Dort heißt es: Er steht nicht auf hohe Schuldenberge, die soll’n runter, dafür steht er ein, er will nicht, dass unsere Kinder sie erben und deshalb will er sparsam sein. Verspricht nichts, was er nicht halten kann, er senkt die Steuern, wo er kann, er bringt die Wirtschaft schon auf Trab, damit die Jugend eine Zukunft hat. ({51}) Was ist denn davon übrig geblieben? Ich kann Ihnen nur eines sagen: Dieser Song ist nicht in die Charts gekommen und er wird nie in die Charts kommen. ({52}) Dafür ist jedoch der Schröder-Song in die Charts gekommen und er ist der Hit an sich. Das ist der Weg, Herr Bundeskanzler, vom Champagner zum Leitungswasser oder von Brioni zu Hennes & Mauritz, den Sie inzwischen gegangen sind. ({53}) Es ist einfach alles nur noch billig und die Menschen spüren das. Beim Schröder-Song heißt es: Was du heute kannst versprechen, darfst du morgen wieder brechen und drum hol‘ ich mir jetzt jeden einzel‘nen Geldschein, euer Pulver, eure Kohle, euer Sparschwein! Herr Bundeskanzler, jetzt haben Sie Gelegenheit, endlich die Wende herbeizuführen, die wir in unserem Land brauchen. Ich sage noch einmal: Das wird allerdings nicht mit einer Rede geschehen können, sondern nur mit kalkulierbarem richtigen Handeln, verbunden mit der Beendigung der Kakophonie und mit sehr viel Klarheit. Herzlichen Dank. ({54})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({0})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, das, was wir eben gehört haben, ist charakteristisch für die Lage der deutschen Konservativen unter Frau Merkel und Herrn Stoiber ({0}) ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das an Inhaltsleere und Bodenlosigkeit nicht mehr zu überbieten ist, ({1}) ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das über Inhalte gar nichts mehr weiß und auch nichts mehr wissen will, sondern nur noch zum Instrument der persönlichen Diffamierung greift. Das haben Sie, Herr Glos, heute hier bewiesen. ({2}) Exakt dieses Niveau erleben wir seit einiger Zeit. Ich fordere Sie auf, Frau Merkel, davon Abstand zu nehmen. Das schadet unserem Land, das schadet dem demokratischen Prozess und das schadet letztlich uns allen. ({3}) Es ist Ihre Verantwortung, diese Scharfmacher zurückzupfeifen, und zwar gründlich. ({4}) Wir werden über dieses Muster der inhaltslosen politischen Auseinandersetzung noch zu reden haben. Zunächst aber: kein Wort des Hauptredners der CDU/ CSU zur realen Lage im Land. ({5}) Außer dümmlichen Sprüchen hat er nichts, aber auch gar nichts vorgebracht. ({6}) Das Niveau zeigt in seltener Deutlichkeit, dass Sie zu keiner einzigen der Fragen, die bei uns anstehen - gewiss sind die schwierig genug -, auch nur den Hauch einer Antwort haben. ({7}) Das ist doch der Grund, warum Sie nur zur persönlichen Diffamierung und zu jeder Form von Klamauk in der politischen Auseinandersetzung greifen, ({8}) weil Sie mehr nicht anzubieten haben. Das ist der Tatbestand, über den man hier einmal reden muss. ({9}) Es kann kein Zweifel sein: Die ökonomische Situation im Land ist, was die Wachstumserwartungen angeht, nicht so, wie sich die internationalen Organisationen, wie sich die wissenschaftlichen Institute und wie sich auch die Bundesregierung das zu Beginn dieses Jahres vorgestellt und auf der Basis von wissenschaftlichen Untersuchungen prognostiziert haben. ({10}) Wir haben gerade gestern alle miteinander den Ifo-Index für die Weltwirtschaft zur Kenntnis nehmen müssen. Weltweit - mit einem Schwerpunkt in Westeuropa und keineswegs allein in Deutschland - gibt es einen Rückgang um 17 Prozentpunkte. Das hat Ursachen, meine Damen und Herren. ({11}) - Ich wende mich doch gar nicht mehr an Sie; denn was Sie inhaltlich anzubieten haben, hat Herr Glos doch gerade unter Beweis gestellt. ({12}) Ich wende mich an diejenigen, die politisch seriös argumentieren wollen, und an diejenigen, die uns heute zuschauen. ({13}) Die Ursachen für die Fehlprognosen und für die nicht erfüllten Wachstumserwartungen liegen auf dem Tisch. Erstens: massive Einschnitte im Neuen Markt, und zwar weltweit. Zweitens: unseriöse Geschäftspraktiken, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern inzwischen auch in Deutschland, was das Frisieren von Bilanzen und Ähnlichem angeht. ({14}) Drittens. Niemand kann sich doch Illusionen darüber machen, dass das weltwirtschaftliche Klima durch die Krise in und um den Irak aufs Schwerste geschädigt ist. Das sind die zentralen Ursachen für die ökonomischen Schwierigkeiten, mit denen natürlich auch unser Land zu kämpfen hat. Anstelle von diffamierenden Reden und anstelle des Klamauks, zu dem Sie greifen, sollten Sie diskutable, ernst zu nehmende Vorschläge zur Bewältigung der Schwierigkeiten machen. Diese Vorschläge fehlen bei Ihnen indessen doch völlig. Das ist doch das Strukturproblem, mit dem Sie zu kämpfen haben. ({15}) Als Folge dieser ökonomischen Schwierigkeiten haben wir es in den Jahren 2002 und 2003 mit erheblichen Einnahmedefiziten zu tun, ({16}) sowohl in den öffentlichen Haushalten, und zwar keineswegs nur in denen des Bundes, als auch in den sozialen Sicherungssystemen. Die Folge dieser Einbrüche aufgrund nachlassender Konjunktur, die so von niemandem prognostiziert worden ist, ist natürlich, dass insbesondere in den sozialen Sicherungssystemen die strukturellen Probleme und die durch die - Gott sei Dank - zu finanzierende Einheit verursachten Probleme offenbarer denn je geworden sind. Dafür schaffen wir kurz- und mittelfristige Lösungen. Über die gilt es hier, in diesem Parlament, zu reden und zu streiten. Der Ausweg, den Sie wählen - persönliche Diffamierungen, unsinnigste Vergleiche -, hilft doch niemandem in Deutschland. Das verunsichert doch mehr, als Sie wahrhaben wollen. ({17}) Kein Zweifel: Über die ökonomischen Probleme ist zu reden. Aber die Situation im Land hat auch eine andere Seite. In den letzten Jahren sind die Löhne der abhängig Beschäftigten anders als in den frühen 90er-Jahren, als Sie am Ruder waren, real um 7 Prozent gestiegen. Ich frage mich gelegentlich: Über welches Land reden Sie eigentlich? ({18}) Anders, als Sie wahrhaben wollen, sind in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre und insbesondere in den letzten vier Jahren die außenwirtschaftlichen Zahlen das, was mit den Ausfuhren zusammenhängt, nicht zurückgegangen, sondern gestiegen, und das inmitten einer weltwirtschaftlichen Krise, in der wir ohne Zweifel sind. Die Ursachen sind bezeichnet. Der Marktanteil Deutschlands ist von 9 Prozent auf 10 Prozent gestiegen. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und sagen Sie es auch! Denn dahinter stehen Leistungen von Menschen in unserem Land. Diese Menschen haben es doch nicht verdient, von Ihnen diffamiert zu werden. ({19}) Kein Zweifel: Es gibt ökonomische Probleme. Den Willen der Menschen voranzukommen - das macht die Kraft dieses Landes aus - zu verschweigen und zu diffamieren ist falsch, selbst wenn man in der Opposition ist. Opposition heißt doch nicht, in der Weise, wie Sie, Herr Glos, es heute gemacht haben, vorzugehen, nämlich ehrabschneidend. Opposition heißt doch, real und ehrlich andere Vorschläge zu machen, wenn man sie denn hat. Tun Sie doch endlich Ihre Pflicht als Opposition! ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glos?

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Ich werde meine Rede zu Ende bringen. ({0}) - Das ist das Einzige, was Sie können: rumbrüllen und stören, ohne einen einzigen sachlichen Vorschlag zu machen. Das ist die Opposition, wie sie sich heute darstellt! Nichts anderes! ({1}) Aber glauben Sie nur nicht, dass Sie mit dieser Art, Ersatzpolitik zu betreiben - denn zu Politik sind Sie nicht fähig -, bei den Menschen auf Dauer ankommen. ({2}) Kurzfristig mag Ihnen das helfen, mittel- und langfristig werden Sie mit dieser Art von Politik dort bleiben, wo Sie hingehören, nämlich in der Opposition. ({3}) Ich denke, angesichts dessen, was wir an lösbaren Problemen haben - viele unserer Nachbarn und viele Länder in der Welt würden uns um die Dimension der Probleme, mit denen wir es zu tun haben, nun wahrlich beneiden, obwohl ich diese Probleme keineswegs leicht nehmen will -, seit Wochen ein Zerrbild dieses Landes zu zeichnen, egal mit wessen Unterstützung, und diese Republik allen Ernstes mit der Situation von Weimar zu vergleichen, wie das immer wieder getan worden ist und getan wird, ist falsch. ({4}) - Sie haben sich doch an diese Form von Verzeichnung angehängt. Nichts anderes haben Sie getan. Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen: Gleichgültig, wer das macht, gleichgültig, wer den Eindruck zu erwecken sucht, in dieser Republik hätten wir eine Situation, die auch nur annähernd mit dem, was wir in Weimar leider erleben mussten, vergleichbar ist, der handelt geschichtslos und neben der Sache. Das gilt für alle, ob sie nun Glos oder Lafontaine heißen. ({5}) Ich füge hinzu: Wer wie Sie und andere, die Ihnen helfen, den demokratischen politischen Prozess als eine Art Auseinandersetzung nicht zwischen Gegnern, sondern zwischen Feinden betrachtet, wer dabei ist, statt öffentlicher und offener, auch harter Auseinandersetzung innerstaatliche Feinderklärungen zu formulieren, der arbeitet gegen einen dauerhaften politischen Prozess und nicht für ihn. Das ist das Problem, in dem Sie gegenwärtig gefangen sind, ({6}) mit dem Sie sich auseinander setzen müssen, weil es in der Republik sonst schief geht. Niemand kritisiert harte und härteste Opposition, die gelegentlich auch nicht vor persönlicher Herannahme Halt machen kann; das weiß ich sehr wohl. ({7}) Aber was wir in den letzten Wochen erleben, meine Damen und Herren, ist ein Zerrbild unseres Landes, gezeichnet aus politischem Opportunismus. Das ist Ihr Problem. ({8}) Ich sagte: Es besteht kein Zweifel, dass wir ökonomische und als Folge dessen auch politische Probleme haben. ({9}) Es besteht aber auch kein Zweifel, dass dieses Land auf der anderen Seite nach wie vor Wachstum hat und sich nach wie vor in Europa sehen lassen kann. Sie sollten einmal mithelfen, in Europa klar zu machen, was uns in Deutschland von allen anderen europäischen Ländern, auch was die ökonomische Situation, die ökonomischen Probleme angeht, unterscheidet. Sie sollten mit uns zusammen darauf hinweisen, dass wir allein durch Überkapazitäten in der Bauwirtschaft, deren Abbau notwendig ist, jährlich 0,6 Prozent Wachstum real verlieren. Mit dieser Situation, meine Damen und Herren, hat kein anderes Land in Europa und in der Welt fertig zu werden. Es ist ein Zeichen für die Kraft und die Stärke der deutschen Volkswirtschaft, dass das trotz allem in einer achtbaren Weise gelingt. Auch das gehört in eine solche Debatte. ({10}) Ein Zweites. Der Finanzminister hat gestern zu Recht darauf hingewiesen, was die Tatsache, dass wir die Einheit ökonomisch zu bewältigen haben - politisch haben wir sie ja Gott sei Dank bewältigt -, für die sozialen Sicherungssysteme und für die Ökonomie insgesamt bedeutet. Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lohnnebenkosten, die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme, etwa bei der Rente, um rund 2 Prozent niedriger sein könnten, wenn wir nicht als einzige Nation der Welt diese gewaltige, aber natürlich auch wunderbare Aufgabe zu schultern hätten, die wir mit dem Glück der Einheit bekommen haben. Auch das gehört doch in eine seriöse ökonomische Debatte. ({11}) Ich denke, vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass deutlich wird, wie die Abfolge dessen ist, was wir kurzfristig und was wir mittel- und langfristig zu tun haben. Worum geht es dabei? Es geht zunächst einmal darum, ({12}) dass der Haushalt, den wir heute samt Nachtragshaushalt beraten, so betrachtet und beschlossen wird, wie es den Notwendigkeiten des Landes entspricht. Wir haben deutlich zu machen, dass wir aufgrund ja nicht nur in Deutschland bestehender Wachstumsschwäche, ja nicht nur in Deutschland zurückgehender Steuereinnahmen für 2002 einen Fehlbetrag von rund 14 Milliarden Euro ausgleichen müssen und dass wir für 2003 mit einem solchen von 18,5 Milliarden Euro fertig werden müssen. Das ist die Aufgabe, über die hier zu reden ist, über die bislang ja nicht geredet worden ist. ({13}) Die Defizite, die sich da aufgetan haben, haben doch nichts zu tun mit der Politik des einen oder anderen, sondern haben etwas zu tun mit einer europäischen, mit einer weltweiten Wachstumsschwäche, ({14}) die natürlich Auswirkungen auf die Steuereinnahmen hat. ({15}) Meine Damen und Herren, wir sind darangegangen und haben gefragt: Wie wird man mit dieser Situation fertig? Der Finanzminister hat das gestern deutlich gemacht. ({16}) Es wäre bezogen auf den Haushalt 2002 doch falsch gewesen, den Fehlbetrag, der aufgrund der Wachstumsschwäche deutlich geworden ist, allein durch Streichungen, wo auch immer, auszugleichen. In dieser Situation im Jahr 2002 hätte man, wenn man es nur über Streichungen versucht hätte, nirgendwo anders streichen können als bei den Investitionen. Dass das aber konjunkturell das Verkehrteste gewesen wäre, was wir hätten tun können, liegt, denke ich, doch auf der Hand. ({17}) Also ging es für den Haushalt 2002 zunächst einmal darum, kurzfristig und auf Zeit ein Defizit von über 3 Prozent hinaus in Kauf zu nehmen, um nicht dort kürzen zu müssen, wo es konjunkturschädlich geworden wäre. Ich denke, das entspricht auch der Auffassung aller hier im Hohen Hause. Das ist der Grund dafür, dass wir es in Kauf genommen haben, auch in dieser Situation die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen und ein Defizit zwischen 3,7 und 3,8 Prozent in Kauf zu nehmen und dies auch gegenüber der Europäischen Kommission zu vertreten. Bezogen auf den Haushalt 2003 haben wir durch die Maßnahmen, die Ihnen bekannt sind, dafür gesorgt, dass das Defizitziel, das wir in Europa vereinbart haben, wieder eingehalten werden kann. Ich bin ja sehr gespannt darauf, welche Alternativen, bezogen auf dieses Problem, es von der Union gibt, ({18}) wie Sie mit den Problemen fertig werden wollen, die aufgrund der Wachstumsschwäche für den Finanzminister und für die Regierung aufgetreten sind. Ich glaube nicht, dass es zu dieser Politik eine vernünftige, eine konjunkturgerechte Alternative gibt. ({19}) Die Wachstumsschwäche, mit der wir es zu tun haben - sie wurde übrigens von keinem wissenschaftlichen Institut und keiner internationalen Institution prognostiziert -, hat natürlich auch Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Das ist doch gar keine Frage. Wir haben das analysiert und haben gehandelt. Das ist der Grund, warum wir gefragt haben: Was machen wir denn zur Stabilisierung des Rentensystems, das durch die Konjunkturschwäche natürlich in Unordnung gebracht worden war? ({20}) Wir haben gesagt - das ist Gegenstand unserer Gesetzgebung -: Wir können es verantworten, die Schwankungsreserve zu reduzieren, und wir können es verantworten, ({21}) die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, weil wir nur auf diese Weise sicherstellen konnten, die Möglichkeit zu gewinnen, durchgreifende Veränderungen auf den Weg zu bringen. Es geht bei den Maßnahmen, die jetzt auf den Weg gebracht worden sind, um die Stabilisierung des Systems; nicht, um es so zu lassen, wie es ist, sondern um die Chance zu haben, ohne Verunsicherung der Betroffenen - das sind sehr, sehr viele - die notwendigen Reformmaßnahmen einzuleiten. ({22}) Bezogen auf all diejenigen, die über die Beiträge diskutieren, will ich nur sagen: Ohne die Maßnahmen, die Ihnen jetzt vorliegen und über die zu diskutieren ist, müsste zum Beispiel der Rentenbeitrag auf knapp unter 20 Prozent, auf exakt 19,9 Prozent, steigen. Mit diesen Maßnahmen muss er das nicht. Das sage ich nur ganz nebenbei. Ich weiß noch um die Zeit, in der wir über Rentenbeiträge von über 21 Prozent - jetzt reden Sie von zu hohen Lohnnebenkosten; die müssen runter, keine Frage reden mussten. ({23}) Wir konnten sie nur senken, weil wir unsere Mehrheit im Bundesrat seinerzeit nicht zur Blockade von Maßnahmen benutzt, sondern der Mehrwertsteuererhöhung zugestimmt haben. Das war doch der Tatbestand. ({24}) Das Gleiche gilt für die Gesundheitssicherungssysteme. Auch dabei geht es angesichts der Einnahmeausfälle, die mit der konjunkturellen Entwicklung zu tun haben, zunächst einmal darum, dafür zu sorgen, dass die weiter gehenden Reformmaßnahmen - sie müssen weiter gehen - auf einer gesicherten Basis, die den Menschen Vertrauen gibt, stattfinden können. Mit dem Paket, das jetzt auf den Weg gebracht ist, wird der Grund bereitet. Das ist die kurzfristige Aufgabe, vor der wir stehen und die wir miteinander lösen werden. ({25}) Es geht - darauf kommt es mir an - bei diesen Gesetzen, die wir in aller Schnelle, in hohem Tempo, auf den Weg bringen mussten, um die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme, nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen, wie es ist, sondern mit dem Ziel, eine Basis für weiter führende Reformen zu gewinnen. Ich werde darauf noch zurückkommen. ({26}) - Nun warten Sie es doch einmal ab. Sie können es ja kaum erwarten. Sie sind nun wirklich einer der größten Schreihälse, die in dieses Parlament Einzug gehalten haben, Herr Kauder. ({27}) Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass die Gesetze, die wir jetzt im Gesundheitswesen, bei der Rente und bei der Konsolidierung des Haushalts auf den Weg bringen, die Basis dafür bilden, die strukturellen Schwierigkeiten, die sich in der konjunkturellen Krise besonders offenbart haben, in Angriff zu nehmen. Ich beginne einmal bei dem, was wir bei der Rente wollen und wollen müssen. Ich erinnere noch die Zeit, in der hier über die Sicherheit der Renten geredet worden ist: Die einen hatten Untertunnelungsvorschläge, die anderen sprachen von demographischen Faktoren. Niemand in der damaligen Zeit hat das eigentlich Notwendige getan - außer uns. ({28}) - Sie hatten doch 16 Jahre Zeit, um neben der umlagefinanzierten Rente das Prinzip der Kapitaldeckung aufzubauen. Sie haben das doch nie in Angriff genommen. ({29}) Sie wollen uns jetzt Belehrungen erteilen. ({30}) Ich habe noch im Ohr, was Nobbi Blüm immer zur Rente gesagt hat - und das zu einem Zeitpunkt, als absehbar war, dass eine Umlagefinanzierung allein nicht reichen würde. Wir sind es doch gewesen, die neben die Säule Umlagefinanzierung die Säule Kapitaldeckung gesetzt haben. Das sind doch nicht Sie gewesen. Wollen Sie das alles vergessen machen? ({31}) Nur um deutlich zu machen, was mit diesem Reformschritt geleistet worden ist: Mit diesem Reformschritt ist geleistet worden, dass zum Beispiel über die betriebliche Altersversorgung inzwischen 18 Millionen Beschäftigte zusammen mit ihren Tarifpartnern von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. ({32}) 18 Millionen Beschäftigte haben über diesen Weg ein zusätzliches Alterseinkommen zu erwarten. Das ist ein Riesenerfolg, der zu Ihrer Zeit nie möglich gewesen ist. Unsere Mehrheit hat diesen Schritt gemacht. ({33}) Die Versicherungswirtschaft sagt uns, in der zweiten Säule seien bislang zwischen 2,5 und 3 Millionen Individualverträge abgeschlossen worden. Man geht davon aus, dass es bis Ende dieses Jahres 4 Millionen werden. Angesichts der Tatsache, dass diese zweite Säule seit zwei Jahren existiert, und angesichts der Tatsache, dass in 18 Millionen Fällen auf betrieblicher Ebene davon Gebrauch gemacht worden ist und bis zum Jahresende nach den Erwartungen der Versicherer in 4 Millionen Fällen individuell davon Gebrauch gemacht wird, wird deutlich, dass das ein wirklich stabilisierendes Element ist. Das ist eine Erfolgsstory und nicht das Gegenteil dessen. ({34}) Ich rate nun wirklich dazu, sich das in Ruhe anzuschauen und die Entwicklung abzuwarten. Sie können doch nicht erwarten, dass ein die umlagefinanzierte Rente ergänzendes System schon in zwei Jahren seine volle Wirksamkeit erlangt. Das können Sie doch nicht in zwei Jahren erwarten. Angesichts dessen ist das, was erreicht wurde, ein großartiger Fortschritt, der aufgrund eines veränderten Altersaufbaus in unserer Gesellschaft dazu beitragen wird, Alterssicherung wirklich zu machen und nicht nur darüber zu reden. ({35}) Natürlich wird es Aufgabe der Kommission von Herrn Rürup und anderen sein, ({36}) zu schauen: Wo muss man nachjustieren, was muss sowohl bei der kapitalgedeckten als auch bei der umlagefinanzierten Seite der Rente verändert werden? ({37}) Es ist doch keine Frage, dass das sein muss. Dafür gibt es diese Kommission. Vor einem aber will ich warnen - das sage ich auch an den einen oder anderen in den eigenen Reihen gerichtet -: ({38}) Es ist manchmal sinnvoll, sich mit den Zahlen auseinander zu setzen. Die Hälfte der Rentenempfänger, insbesondere die Rentnerinnen, leben von einer Rente, die aus der gesetzlichen Versicherung folgt. Die Zahlbeträge, also das, was cash auf den Tisch kommt, liegen bei Männern im Durchschnitt bei etwas weniger als 1 000 Euro und bei Frauen bei etwas mehr als 500 Euro. ({39}) Folgendes sage ich an alle, die es angeht: Bezogen auf diese Zahlbeträge und diese Gruppe, die Hälfte der 17 bzw. 18 Millionen Rentnerinnen und Rentner, unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ darüber zu sprechen, dass man hier noch kürzen müsste, das - das sage ich ganz ehrlich - sollte man sich dreimal überlegen. ({40}) Natürlich wird die Kommission über Veränderungsnotwendigkeiten in den übrigen Bereichen nachdenken müssen - gar keine Frage. Aber ich bitte sehr darum, bei allen Debatten darauf zu achten, dass dieser Kreis der Betroffenen ernst genommen wird. Es sind nämlich nicht diejenigen, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren sind. Sie haben sich auch keinen erwerben können. Die Gründe dafür liegen nicht in ihrem individuellen Schicksal. Das gilt es zu berücksichtigen. ({41}) Wir sollten uns daher darauf verständigen - und zwar sowohl bei der Kapitaldeckung als auch bei der Umlagefinanzierung -, das besser zu machen, was verbessert werden muss. Ich nenne einen konkreten Punkt: Einige Unternehmen kritisieren, dass die Leute mit knapp über 55 Jahren in Rente gehen. Sie sagen, das ginge nicht mehr. Das stimmt auch, meine Damen und Herren. ({42}) Aber diejenigen, die zum Beispiel schon mit 60 Jahren in Rente gehen - wenn man die Invalidenrenten einbezieht, ist das das reale Renteneintrittsalter -, haben, genau gerechnet, bis zu 30 Prozent an Abschlägen hinzunehmen. Über die Frage, ob man hier wirklich noch mehr, zum Beispiel über die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, machen kann, muss man sehr sorgfältig und ernsthaft diskutieren. ({43}) Eines muss aber klar sein: Mit den Betrieben, die ihre Personalprobleme über die Frühverrentung gelöst haben und sich jetzt über das System beklagen und es als falsch apostrophieren, muss man ein ernsthaftes Wort reden. ({44}) Im Bereich der Rente brauchen wir kurzfristig eine Stabilisierung des Systems, damit wir auf der Basis des Vertrauens in das System - das betrifft die Kapitaldeckung weitermachen können. Wo es nötig ist, müssen wir bürokratischen Aufwand beseitigen. Wenn nötig, müssen wir im Bereich der Umlagefinanzierung das auf den Weg bringen, was uns von der Rürup-Kommission im Herbst des nächsten Jahres vorgelegt wird. Diese Debatte in der Sache zu führen ist vernünftig; die Menschen im Voraus zu verunsichern ist unvernünftig, egal, wen es angeht. ({45}) Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt aufbrechen müssen. Wir alle haben viel zu lange damit gewartet; das ist keine Frage. Das will ich durchaus selbstkritisch eingestehen. Aber die Umsetzung des Hartz-Konzeptes gibt uns die einmalige Chance, eine Regelung auf dem Arbeitsmarkt zu finden, die den sozialen Sicherungsbedürfnissen auf der einen Seite und den Erfordernissen einer globalisierten Wirtschaft auf der anderen Seite Rechnung trägt. Meine Damen und Herren, ich will ein paar Punkte herausgreifen, die deutlich machen, worum es dabei geht. Kernaufgabe ist es, Flexibilität bei der Zeit- und Leiharbeit zu erreichen. Wenn es richtig ist - es ist richtig -, dass die niedrigere Arbeitslosigkeit in anderen Ländern, etwa in den Niederlanden, aber auch in Großbritannien, nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass dieses Instrument dort sehr viel besser als bei uns genutzt wird, dann ist folgerichtig, dass wir es besser nutzen müssen. ({46}) Es stellt sich also nicht die Frage, ob wir es besser nutzen müssen, sondern wie wir es nutzen. Ich bin der Auffassung, dass das, was mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes eingeleitet worden ist, richtig ist. Wir sollten darauf vertrauen, aber auch drängen, dass die Tarifparteien, die Zeitarbeitsverbände - es gibt einige, die zusammengefasst werden - und die Gewerkschaften, die sich bereits als Tarifgemeinschaft konstituiert haben, wie vorgesehen am 18. Dezember beginnen -, vernünftige tarifliche Regelungen, die flexibel sein müssen, für diesen Bereich auszuarbeiten. Ich lege wirklich Wert darauf, dass erkannt wird, dass zum Beispiel die Gewerkschaften bereit sind, insbesondere für die Problemgruppen am Arbeitsmarkt - die Langzeitarbeitslosen, die Älteren und die geringer Qualifizierten - Tarife auszuhandeln, die deutlich unter den normalen Flächentarifen liegen und auch liegen müssen. Lassen Sie uns doch diese Chance ergreifen! Lassen Sie uns Druck ausüben, damit das geschieht! Die Betroffenen sind dazu bereit. Die Gewerkschaften wissen auch, dass wir bei den Tarifverträgen - abhängig davon, wie lang die Leihzeit ist und wie speziell die Aufgaben sind - auch über eine Einarbeitungszeit über sechs Wochen hinaus reden müssen. Ich hoffe, das wissen die Unternehmen auf der anderen Seite auch. Ich habe nicht nur die Hoffnung, sondern ich glaube, es kann klappen, dass wir auf diese Weise einen Anteil an Zeitund Leiharbeit wie in anderen europäischen Ländern erreichen. Er liegt bei uns unter 1 Prozent, in den Niederlanden bei mehr als 4 Prozent. Ich denke, dass wir alle miteinander ein Interesse daran haben müssten, diese Chance nicht verstreichen zu lassen, sondern sie offensiv zu nutzen. ({47}) Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem sagen, was insbesondere den Mittelstand drückt. Darüber ist im Wahlkampf viel gestritten worden. Wir haben schon in dieser Auseinandersetzung deutlich gemacht, was wir steuerpolitisch auf den Weg gebracht haben. Die faktische Abschaffung der Gewerbeertragsteuer durch ihre Anrechenbarkeit auf die von den Personengesellschaften zu zahlende Einkommensteuer hat sich der Mittelstand immer gewünscht. Seine Verbände haben dies jedoch nie gewürdigt, obwohl es wirklich zu einer Besserstellung des Mittelstands im System geführt hat. ({48}) Ich finde, dass die Politik einen Fehler macht, wenn sie sich das, was sie auf den Weg gebracht hat und was Deutschlands Wirtschaft wettbewerbsfähiger gemacht hat, immer klein reden oder auch klein schreiben lässt. Darüber hinaus ist klar: Es gibt ein zentrales Problem des deutschen Mittelstands, der so wichtig ist für unser Land. Das ist die Refinanzierung seiner wirtschaftlichen Aufgaben in den Unternehmen. ({49}) Wir haben in diesem Zusammenhang eine lange Debatte über Basel II geführt. All diejenigen in den Banken und Sparkassen, die mit Hinweis auf Basel II eine restriktive Kreditvergabe ausüben, täuschen. Sie täuschen in der Tat. ({50}) Wer sich die Ergebnisse von Basel II im Einzelnen anschaut, der wird finden, dass, bezogen auf die Refinanzierung des deutschen Mittelstands, Basel II hilfreicher ist als Basel I. Denn der deutsche Mittelstand refinanziert sich im Unterschied zu dem in angelsächsischen Ländern nicht in erster Linie über Eigenkapital, sondern über langfristige Kredite -, das ist eine Besonderheit des deutschen Mittelstands. Darüber lässt sich ernsthaft nicht streiten. Das ist so. Im Übrigen kann die aktuelle Krise im Mittelstand und dessen Finanzierung gar nichts mit Basel II zu tun haben; denn diese Neuregelung tritt erst 2006 in Kraft. ({51}) Auch an dieser Stelle erweist sich, dass Politik gelegentlich benutzt wird, um falsche Geschäftspolitik zu kaschieren. Das sollten wir auch deutlich sagen. ({52}) Was werden wir tun? Ich denke, zunächst einmal sind die steuerlichen Maßnahmen, insbesondere die, die wir im Zusammenhang mit der Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer und mit der Wiedereinführung der Investitionszulage durchgeführt haben, auf der Habenseite zu buchen. Dort werden sie von denen, die fair mit dem, was geleistet worden ist, umgehen, auch gebucht. Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Wir müssen miteinander deutlich machen, dass sowohl die großen Geschäftsbanken als auch die für diesen Zweck ehemals gegründeten Sparkassen und sonstigen Selbsthilfeorganisationen des Mittelstands ihre Geschäftspolitik so ändern müssen, dass der Mittelstand ausreichend mit Kapital versorgt werden kann. Dies zu verdeutlichen ist eine Aufgabe, die wir miteinander haben. ({53}) Das muss in erster Linie die Aufgabe der beteiligten Banken und anderen Kapitalsammelstellen bleiben, insbesondere und nicht zuletzt der Sparkassen, die zu diesem Zweck gegründet worden sind und mit diesem Zweck im Übrigen auch massiv Werbung betreiben. Um das zu unterstützen, werden wir noch in diesem Jahr die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit der Ausgleichsbank zusammenlegen, um auf diese Weise für die Mittelstandsfinanzierung ein Rückgrat zu schaffen, das ebenso effizient wie zureichend mit Kapital ausgestattet ist. Ich halte das für notwendig. ({54}) Aber ich sage hier genauso klar: Das ist nicht der Ersatz für die Aufgaben, die den Banken und den Sparkassen gestellt werden, nämlich auch in Zukunft Geld auszu882 leihen, damit wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet werden kann. Das ist die Aufgabe, die die Verantwortlichen in den Sparkassen und Banken haben und die nicht auf die Politik abgewälzt werden darf. ({55}) Das dritte große Thema, das wir behandeln müssen, betrifft die Entwicklung des Gesundheitssystems. Dazu möchte ich einige wenige Bemerkungen machen. Ich glaube, dass das, was wir zum Beispiel mit der Regelung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern begonnen haben, mehr Effizienz und mehr sorgsamen Umgang mit dem zur Verfügung gestellten Geld bedeutet. Ich glaube, dass das, was auf den Weg gebracht worden ist, nämlich die Leistungserbringer zur sinnvollen Finanzierung und zum sinnvollen Umgang mit den Ressourcen im System anzuhalten, richtig ist und Unterstützung verdient. ({56}) Ich glaube, dass wir in Zukunft miteinander dafür sorgen müssen, dass in dieses System mehr Markt einkehrt und dass sich diejenigen, die sonst so sehr für mehr Markt sind, als Leistungserbringer nicht hinter Institutionen verschanzen dürfen, wenn es zum Beispiel darum geht, dass auch Krankenkassen Verträge mit denen aushandeln können und sollen, die es besser und preiswerter machen als andere. ({57}) Wer hat denn etwas dagegen, wenn über Patientenquittungen transparent wird, was geleistet wurde und abgerechnet wird, was mehr und was weniger nötig ist? ({58}) Wo steht eigentlich geschrieben, dass es in Deutschland ehernes Gesetz sein muss, dass es Wettbewerb, wie es ihn in den Drogerien gibt, bei den Apotheken mit Vorteilen für die Konsumenten nicht geben darf? Nach meiner Kenntnis steht es geschrieben, aber nicht für die Ewigkeit. Deswegen kann und muss es geändert werden. Wir sind auf dem Weg dorthin. ({59}) Ein Gesundheitssystem mit mehr Transparenz, mit mehr Markt zu schaffen, auch dann, wenn die Leistungserbringer nicht alles an Vorteilen wie bisher realisieren können und deswegen ganz lautstark schreien, ist notwendig. Wir werden das tun. Seien Sie dessen sicher. Eines ist klar: Wir werden auch auf der Seite derer, die die Leistungen bekommen, das, was möglich ist, auf das medizinisch Notwendige - aber dann für alle und nicht nur für Teile der Gesellschaft - reduzieren müssen. ({60}) Auch das werden wir in Angriff nehmen. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich meine, es wird deutlich, dass wir kurzfristig für die Stabilisierung der Systeme mithilfe der Gesetzgebungsmaßnahmen sorgen müssen, die wir auf den Weg gebracht haben und von denen wir hoffen, dass sie nicht aus parteipolitischen Egoismen heraus von der jeweiligen Mehrheit im Bundesrat angehalten werden. Das wäre fatal für unser Land. ({61}) Ich hoffe, es ist allen deutlich geworden - nicht zuletzt denen, die uns zuschauen -, dass das die Basis für weiterführendes Handeln und nicht der Ersatz für weitergehende Reformen ist. So herum wird die Abfolge vernünftig: Erst muss man die Grundlage dafür schaffen, dass man Reformen und Veränderungen ohne Angst für die Betroffenen durchführen kann. Das ist die Abfolge, die in den Gesetzen auf der einen Seite und den Strukturmaßnahmen auf der anderen Seite sichtbar werden sollte. Vielleicht ist es noch nicht ausreichend deutlich geworden. Das will ich gern zugeben. ({62}) In dieser Auseinandersetzung hier und heute soll auch nicht in Vergessenheit geraten, was wir über die Neujustierung von Haushalt und sozialen Sicherungssystemen hinaus in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen wollen, angefangen mit diesem Haushalt. Es ist nämlich die zentrale Aufgabe, unser Bildungssystem so einzurichten, dass es internationalen Anforderungen wieder gerechter wird, als das gegenwärtig der Fall ist. Ich weiß sehr wohl um die Zuständigkeiten. Niemand von uns will sie über Gebühr strapazieren. Dies ginge auch nicht; das wissen wir. Aber es muss doch klar sein, dass das, was wir gegenwärtig anbieten, nämlich in Zusammenarbeit mit den Ländern für ein massives Ausweiten der Ganztagsbetreuung von Kindern zu sorgen - nach unserer Vorstellung zunächst in Schulen, aber dann auch in den Krippen und Horten -, ein vernünftiger Weg ist, und zwar einer, der darüber hinaus die Defizite im Bildungssystem beseitigen kann. Es gibt doch die Korrelation zwischen mangelnder Betreuung insbesondere der Kinder aus sozial schwachen Schichten einerseits und Bildungsversagen andererseits. ({63}) Was wir machen, ist bildungspolitisch vernünftig. Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen Leben sowie an der Erwerbsarbeit ebenso wie an der Nichterwerbsarbeit ist es allemal vernünftig. ({64}) Deswegen möchte ich, dass dieses Projekt in fairer Zusammenarbeit mit den Ländern, die die Zuständigkeit besitzen, so umgesetzt wird, dass sichtbar bleibt, dass hier nicht Geld vom Bund für den Haushaltsausgleich gegeben wird, sondern für die zentrale gesellschaftliche Aufgabe dieses Jahrzehnts, die notwendigen Betreuungseinrichtungen zu schaffen, dass auch Frauen die Chance haben, sich auf dem Arbeitsmarkt oder in anderen Bereichen betätigen zu können. ({65}) Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem Thema machen, das vorhin angesprochen worden ist und auch Gegenstand des eingebrachten Antrages ist. Es geht um das, was wir in Kopenhagen zu beschließen haben werden. Ich denke, es besteht Einigkeit in diesem Hohen Hause darüber, dass gerade wir Deutschen die Aufgabe haben, in Kopenhagen dafür zu sorgen - zu erträglichen materiellen Bedingungen, das ist keine Frage -, dass ein historischer Beschluss über die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten zustande kommt. Dies ist unser fester Wille. Dafür werden wir hart arbeiten, dessen können Sie sicher sein. Ich denke, darüber besteht in diesem Hohen Hause auch kein Streit. ({66}) Über die Bedingungen im Einzelnen wird noch zu reden sein. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die dänische Präsidentschaft - wenn auch noch nicht in allen Punkten generell auf einem richtigen Weg ist und wir in Kopenhagen einen Erweiterungsbeschluss fassen können, der erstens der historischen Bedeutung dieser Aufgabe gerecht wird und zweitens die materiellen Ressourcen eines Nettozahlers wie Deutschland nicht über Gebühr beansprucht. Zum Nulltarif - ich denke, das wissen wir alle - wird dies nicht zu haben sein. Das muss auch nicht sein; denn wir, die Deutschen, werden diejenigen sein, die in erster Linie sowohl politisch als auch ökonomisch davon profitieren werden. Wenn Sie sich die Präsenz deutscher Unternehmen auf den Märkten, um die es dabei geht, ansehen, stellen Sie fest, dass wir überall die Nummer eins oder die Nummer zwei sind. Diese Situation wird nicht schlechter, sondern besser werden, wenn die Integration dieser Länder in die Europäische Union fortgeschrittener ist. ({67}) Deswegen sage ich den Beschäftigten, auch denjenigen jenseits der Grenzen, die Angst haben: Es ist nicht nötig, Angst zu haben, weil in der Erweiterung der Europäischen Union sowohl ökonomisch als auch für die Menschen auf den Arbeitsmärkten mehr Chancen als Risiken liegen. Wir werden die Chancen maximieren und die Risiken minimieren. Das begreifen wir als unsere Aufgabe. ({68}) Es ist wahr: Wir werden in Kopenhagen auch über die Frage der Aufnahme der Türkei reden müssen. Dies ist hier angeklungen und wurde auch in dem Antrag, der eingebracht worden ist, thematisiert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rate dringend, dieses Problem nicht als ein Problem zu betrachten, mit dem man einem Kollegen in einem Bundesland - in diesem Fall in Hessen - ein billiges Wahlkampfthema gibt. ({69}) - Sie kriegen es gleich. Warten Sie einmal ab! Ich bin gefragt worden, wie die deutsche Bundesregierung in Kopenhagen mit diesem Problem umgehen wird. Natürlich haben Sie Anspruch darauf, das zu erfahren. Deswegen sage ich Ihnen das auch gern. Zwei Punkte sind zu nennen: Erstens. Natürlich werden wir in Kopenhagen eine sehr eng abgestimmte Haltung, möglichst eine gemeinsame Position mit Frankreich, vertreten. Ich habe das Vergnügen, heute Abend den französischen Staatspräsidenten in Berlin zu Gast zu haben. Ich habe viel mit Jacques Chirac darüber geredet. Wir sind uns eigentlich einig darüber, dass es Sinn macht, in Kopenhagen eine gemeinsame französisch-deutsche Position zu vertreten. Ich will nichts vorwegnehmen, was heute Abend mit dem Gast zu besprechen sein wird. Aber ich denke schon, es gibt in diesem Haus keinen Streit darüber, dass es Sinn macht, in dieser so wichtigen Frage eine gemeinsame Position von Frankreich und Deutschland zu erarbeiten. ({70}) - Auch nicht? Na gut, dann schauen wir mal weiter. Herr Glos meint, keine gemeinsame Position von Deutschland und Frankreich. ({71}) - Es wird jetzt langsam klar, was Sie eigentlich wollen. Sie wollen nämlich nicht ein Problem lösen, sondern - das scheint mir wirklich so zu sein, Herr Glos; das wird immer deutlicher - ein Feuerchen anmachen. ({72}) Ich will die anderen Außenpolitiker über die Haltung der deutschen Bundesregierung wenigstens informieren. Ich bleibe dabei: Es macht Sinn, - die CDU/CSU-Fraktion kann das durch Frau Merkel nachher richtig stellen -, eine abgestimmte Position zwischen Frankreich und Deutschland zu erarbeiten. Herr Glos meint: nein; ich meine: ja. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. ({73}) - Ich habe das verstanden. Sie können sich noch dazu äußern. ({74}) Zweitens. Es sollte Einigkeit darüber bestehen, dass wir ein großes, ein gemeinsames - ich sage: ein nationales - deutsches Interesse daran haben, dass in der Türkei die Kräfte unterstützt werden, die eine säkularisierte Türkei im Sinne ihres Staatsgründers Atatürk wollen und dafür auch einstehen, und dass diese Türkei nicht in den islamischen Fundamentalismus abdriftet. ({75}) Es gibt auch keinen Streit darüber, dass wir ein nationales Interesse daran haben, dass die Türkei eine immer enger werdende Bindung an den Westen erfährt ({76}) und dass wir vor diesem Hintergrund auch ein gemeinsames Interesse daran haben, in der Politik gegenüber der Türkei Kontinuität zu wahren. Dementsprechend werde ich in Kopenhagen handeln. Jetzt lese ich Ihnen einmal vor, auf welcher Basis ich das tun werde. Ich zitiere - ich sage Ihnen gleich, wen -: Ich habe in der Debatte auf zweierlei hingewiesen, nämlich erstens darauf, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, sehr damit einverstanden sind, dass die Türkei in der Perspektive der Zukunft eine Chance hat, der Europäischen Union beizutreten. So Helmut Kohl in einer Pressekonferenz nach der Sondertagung des Europäischen Rats vom 20. und 21. November - nicht 1963, sondern 1997. ({77}) Das ist die Kontinuität, um die es geht. Die werde ich wahren. Sie können sie verletzen, wenn Sie wollen. ({78}) - Herr Glos, derjenige, der das gesagt hat, war ein großer Europäer. Er hat wohl gewusst, worüber er redet. Jetzt zitiere ich einen nicht ganz so großen Europäer: Bei der derzeit überaus lebhaften Debatte über die Türkei sollten zwei Punkte nicht übersehen werden. Erstens: Das Land strebt unverändert nach Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union ... Was aber soll uns Deutsche veranlassen, die Türkei auf diesem Weg an vorderster Stelle zu unterstützen? Vieles spricht dafür, nur wenig dagegen. So Michael Glos am 23. Oktober 1997 in der „Welt“. ({79}) Das war damals in der „Welt“. Herr Glos, mir scheint, Sie sind jetzt aus der Welt. Das ist das Problem, das Sie haben. ({80}) Damit wir sehen, auf welch löchrigem Boden Sie sich mit Ihrem Antrag bewegen, zitiere ich einen noch „größeren“ Außenpolitiker aus der CSU: Es geht nicht an, dass ein wichtiges Brückenland zwischen Europa und dem Nahen Osten und Zentralasien an den Rand gedrückt und wie ein Aussätziger behandelt wird. Das ist noch Communis Opinio. Weiter heißt es: Im EG-Assoziierungsabkommen vor nunmehr 30 Jahren war der Türkei bereits die volle EG-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden. Diese zumindest moralische, wenn nicht eigentlich sogar rechtliche Verpflichtung sollten die Kollegen des Europäischen Parlaments ... in ihrem Abstimmungsverhalten im Auge behalten. Diese Ausführungen in einer Presseerklärung der CSU-Landesgruppe vom 17. März 1995 stammen von Christian Schmidt, einem der großen Außenpolitiker Ihrer Fraktion. ({81}) Meine Damen und Herren, ich rate Ihnen dringend, diesen Antrag, mit dem Sie die Bundesregierung auffordern, etwas anderes zu tun, als Sie immer getan haben, sang- und klanglos zurückzuziehen. Ich möchte Ihnen die Blamage gerne ersparen. ({82}) Wenn Sie das nicht tun, besteht nicht mehr nur der Verdacht, sondern die Gewissheit, dass Sie die Kontinuität in der Außenpolitik nicht mehr wollen und dass Sie das Verhältnis zur Türkei benutzen wollen, um Herrn Koch ein billiges Wahlkampfmanöver zu erlauben. Sie müssen verantworten, ob Sie sich auch dieses Mal wieder zwingen lassen wollen wie damals mit dem Ausschuss unseligen Angedenkens. ({83}) Darüber müssen Sie Auskunft geben. Es wird Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht leicht gemacht werden, mir nichts, dir nichts die Politik einfach wegzuschieben, die nicht in Ihr Wahlkampfmanöver passt. So leicht nicht, meine Damen und Herren von der Opposition! ({84}) - So ist das, wenn man mit den Tatsachen allzu unhistorisch umgeht. Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Deutschland hat - das habe ich schon mehrfach deutlich gemacht - hinsichtlich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Maßnahmen, die damit zusammenhängen, nun wirklich nicht den geringsten Grund, sein Licht in irgendeiner Weise unter den Scheffel zu stellen. ({85}) Der Außenminister und ich haben auf dem Petersberg deutlich gemacht, dass wir alleine in diesem Jahr für den Einsatz in Afghanistan und den Wiederaufbau dieses Landes 650 Millionen Euro ausgeben. Ich kenne nicht viele Länder, die sich in ähnlicher Weise engagieren. Deswegen hat Deutschland keinen Grund, sich Vorwürfe machen zu lassen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten nicht die Stichworte liefern, dass uns Vorwürfe gemacht werden können. ({86}) Wir sind auf dem Balkan präsent. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das unser gemeinsamer Wille war. Ich betone: Sie haben Enduring Freedom nicht zugestimmt, aber aus anderen Gründen als dem Inhalt. Darüber besteht kein Streit. Diesen Willen haben Sie, wie ich denke, dadurch bewiesen, dass Sie, als es um die Verlängerung ging, mit an Bord waren. Was wir auf dem Balkan und in Afghanistan im Rahmen von Enduring Freedom tun, kostet uns im Jahr 2 Milliarden Euro. Das ist mehr, als jede andere Bundesregierung bisher aufwenden musste und aufgewendet hat. Niemand in der internationalen Politik, mit Ausnahme der Opposition im deutschen Parlament, macht Deutschland den Vorwurf mangelnden Engagements bei der Wahrnehmung seiner internationalen Pflichten. Sie sollten das sein lassen. Sie zerstören auf diese Weise den wohl verdienten Ruf dieses Landes. ({87}) Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Irak-Resolution 1441 etwas anders interpretieren als Sie, nämlich als die Chance, durch die Inspektoren zu erfahren, was in dem Land wirklich ist. Daraus werden wir die Konsequenzen ziehen, und zwar friedlich und ohne Krieg. ({88}) Das steht im Mittelpunkt unserer Politik. Darauf wollen wir hinarbeiten. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, was jetzt im Irak vor sich geht, welche Bewegungsmöglichkeiten die Inspektoren haben und welche nicht. Wir sollten es in dieser Frage mit Kofi Annan halten, der als Erster informiert wird und die Informationen an diejenigen, die sie angehen, weitergibt. Gegenwärtig jedenfalls - ich äußere mich sehr zurückhaltend - sieht es Gott sei Dank so aus, als könnte es gelingen, das Ziel einer Entwaffnung und der Vernichtung von Massenvernichtungswaffen - das sage ich ganz bewusst - friedlich zu erreichen. Das hoffe ich jedenfalls sehr. Ich führe keine theoretischen Debatten darüber, was passiert, wenn dies nicht der Fall sein wird; denn vor Self-fulfilling Prophecy habe ich doch ausdrücklich zu warnen. ({89}) Wir haben deutlich gemacht, wo wir stehen und was wir zu leisten imstande und bereit sind. Das habe ich den Fraktionsvorsitzenden und auch öffentlich gesagt. Das habe ich hier in aller Deutlichkeit zu unterstreichen. Dabei bleibt es; dem ist nichts hinzuzufügen. Dass wir im Einklang mit unseren Gesetzen und unseren materiellen Möglichkeiten alles tun, um die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, gehört im Übrigen zu den guten Kontinuitäten deutscher Außenpolitik. ({90}) Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir schnell handeln mussten, um zur Stabilisierung des Haushalts - dazu hat der Finanzminister gestern Richtiges und Wichtiges gesagt - und der sozialen Sicherungssysteme beizutragen, nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen, wie es ist, sondern mit dem Ziel, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und bei der Rente dort einzugreifen, wo es nötig ist, aber mit der gebotenen Vorsicht und der sozialen Sensibilität, weil es um Menschen geht, die eine Lebensleistung erbracht haben. Sie darf man nicht ungestraft irgendwelchen Debatten aussetzen. ({91}) Bei diesen Gesetzen geht es um die kurzfristige Stabilisierung mit dem Ziel, mittel- und langfristig jene strukturellen Probleme zu lösen, die nicht nur mit der Konjunktur zu tun haben, sondern auch mit der damals nicht von allen kritisierten Finanzierung der deutschen Einheit über die sozialen Sicherungssysteme. In der Krise und bei Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesellschaft werden diese strukturellen Mängel besonders deutlich. Sie müssen nun angegangen werden, und zwar auf einer Basis, die den Menschen keine Angst macht, sondern ihnen Hoffnung gibt. Wir werden diese Aufgabe bewältigen. Seien Sie dessen sicher! ({92}) Weil wir sehr genau die Tatsache kennen, dass wir in der zweiten Kammer, im Bundesrat, auf die Zusammenarbeit mit der Opposition angewiesen sind, möchten wir die Opposition auffordern, in den Punkten, in denen es keinen politischen Streit gibt oder wo man ihn überwinden kann, im Interesse des Landes und im Sinne einer Koalition der Vernünftigen sachlich und fair mitzuarbeiten. Wir erwarten nicht, dass nun harte Kritik von der Tagesordnung verschwindet, bitten aber darum, dass jede Form der persönlichen Diffamierung in den Hintergrund tritt. Im Übrigen glauben wir daran, dass wir unsere Aufgabe, die uns am 22. September 2002 übertragen wurde, mit aller Kraft ausfüllen werden, dass aber ebenso die Opposition nicht nur die Pflicht zur Kritik, sondern auch die Pflicht zur Verantwortung hat. Auch diese haben Sie wahrzunehmen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({93})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle das Wort. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war ein bemerkenswerter Schlussapplaus. Vier Abgeordnete der SPD sind sogar aufgestanden. Die müssen Sie sich merken! Es ist schon bemerkenswert: Normalerweise kann man an der Länge des Beifalls die Qualität einer Rede ablesen. Ist der Beifall lang, war die Rede gut. Bei Ihnen ist es aber genau umgekehrt. Seit Monaten ist zu beobachten: Je schlechter Ihre Reden sind, desto länger applaudieren Ihre Genossen, ({0}) so, als wollten sie Ihnen ein bisschen Mut machen. Denn nachdem der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland etwas mehr als eine Stunde gesprochen hat, ist festzuhalten, dass Sie, Herr Bundeskanzler, zwei Drittel Ihrer Redezeit darauf verwandt haben, sich mit der Opposition auseinander zu setzen und sie zu beschimpfen. In der verbleibenden Zeit haben Sie nichts anderes gebracht als ein paar Allgemeinplätze. In Wahrheit ist diese Rede, die doch von Ihren Emissären als historische Rede angekündigt worden ist, sogar noch hinter Ihrer Regierungserklärung zurückgeblieben, die Sie hier vor wenigen Wochen abgegeben haben. ({1}) Sie haben eine Sammelsuriumrede gehalten. Ihre Rede zeigt, dass Sie ausgebrannt sind und dass es Ihnen an Saft und Kraft fehlt. ({2}) Sie haben am Anfang mit einer Heftigkeit auf die Opposition eingeprügelt, die mich prompt an ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe erinnert hat: Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt. Das, was Sie heute gebracht haben, war sehr heftig, Herr Bundeskanzler. ({3}) Was die Wahrheit angeht, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass uns während Ihrer Rede eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa von 9.51 Uhr erreichte: Die Zahl der Arbeitslosen ist im November wieder über die Vier-Millionen-Marke gestiegen. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit waren 4 025 800 Menschen ohne Arbeit, 96 100 mehr als im Oktober und 236 900 mehr als vor einem Jahr. Von einem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland erwarte ich, dass er hier eine Konzeption vorträgt und uns mitteilt, wie das Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Strukturreformen vorangebracht werden kann. Dazu sagen Sie aber nichts, Herr Bundeskanzler. ({4}) Sie reden sich mit der Weltwirtschaft heraus. ({5}) Diese Regierung hat keinen Faden; sie hat noch nicht einmal einen roten Faden. Das Problem ist, dass Sie keine Struktur und keine Konzeption haben. Sie erzählen uns etwas über Ihre Sicht zu Drogerien und Apotheken. Das ist zwar außerordentlich wichtig, aber das kann doch nicht allen Ernstes Ihre Antwort darauf sein, wie die demokratiegefährdende Massenarbeitslosigkeit wieder reduziert werden kann. Sie reden an den Menschen vorbei. Ihr Problem ist, Herr Bundeskanzler, dass Sie jetzt von Ihren Zitaten eingeholt werden. Sie haben zur Erheiterung des Hauses fünf Jahre alte Zitate von Herrn Glos vorgetragen. Bei Ihnen reicht es, fünf Wochen alte Zitate vorzutragen, um Sie in der Wirtschaftspolitik als Umfaller zu entlarven. ({6}) Was haben Sie nicht alles versprochen! Sie wollten - mit dieser Aussage sind Sie in den Wahlkampf gegangen - die Steuern und die Schulden nicht erhöhen und die Abgabenbelastung auf einem stabilen Niveau halten. Nichts davon ist erfüllt worden. Es ist ja bemerkenswert, mit welcher Wortakrobatik Sie uns mittlerweile die Erhöhung der Abgaben schmackhaft machen wollen, ausgerechnet Sie, der noch im Sommer dieses Jahres gesagt hat, dass eine solche Politik in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig sei und deshalb nicht in Betracht gezogen werde. Nein, Sie können sich mit dem Hinweis auf die Lage der Weltwirtschaft nicht beliebig herausreden. Das Problem in Deutschland ist nicht irgendeine konjunkturelle Krise. Sie hoffen und vertrauen darauf - das ist in Wahrheit das Problem der Regierung -, dass die Weltkonjunktur anspringt, indem die Vereinigten Staaten von Amerika strukturelle Maßnahmen beschließen und durchführen, die Sie in Deutschland ausdrücklich verweigern. Das ist Ihr großes Problem, Herr Bundeskanzler. ({7}) Sie hoffen darauf, dass die Weltwirtschaft durch Wachstum in den USA in die Gänge kommt. Aber Sie sind nicht bereit, Ihren Beitrag zu leisten und auf die strukturellen Prozesse in Deutschland entsprechend zu reagieren. Wir haben in Deutschland nicht irgendeine Konjunkturkrise, sondern eine Krise der Strukturen. Wenn diese Wahrheit nicht von Ihnen und von der Regierung angenommen wird, dann wird es in diesem Winter 4,5 Millionen Arbeitslose geben. Arbeitslosigkeit ist ein schlimmes Schicksal für die Betroffenen und deren Familien. Dazu sagen Sie aber nichts. Sie sprechen stattdessen stundenlang über Herrn Glos und seine Zwischenrufe. Sie gehen auf das Problem der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht ein. ({8}) Sie sind angeschlagen und ausgebrannt. So war auch Ihre Rede. Sie haben keine Ziele formuliert. Das ist das Problem Deutschlands. ({9}) Wenn an der schlechten Situation in Deutschland allein die Weltwirtschaft bzw. die Weltkonjunktur schuld wäre, dann wäre es schlechterdings nicht erklärbar, warum Deutschland unter Ihrer Regierung - das war früher nicht der Fall - bei nahezu allen ökonomischen Daten zum Schlusslicht in Europa geworden ist. Das wird auch in diesem Jahr wieder so sein: Nach den Prognosen wird das Wirtschaftswachstum in Deutschland bei 0,4 Prozent, in Frankreich bei 1,1 Prozent, in Großbritannien bei 1,4 Prozent, in Griechenland bei 2,5 Prozent und in Irland bei 3,5 Prozent liegen. Das heißt, Deutschland ist das Schlusslicht beim Wachstum in Europa. Wenn an der schlechten Situation in Deutschland nur die Weltwirtschaft bzw. die Weltkonjunktur oder die „böse“ Globalisierung schuld wäre, dann müssten doch die anderen europäischen Länder zumindest in vergleichbaren Schwierigkeiten stecken. Aber in Wahrheit machen diese, ausdrücklich auch die sozialdemokratisch regierten, eine andere Politik. Ich möchte aus der Rede zitieren, die der britische Schatzkanzler am 5. November 2002 - das ist also nur wenige Wochen her - gehalten hat: Heute erläutere ich die radikalen Maßnahmen für mehr Wettbewerb, für weniger Bürokratie und für die Senkung der Unternehmensteuern zur Förderung von Entrepreneurship, um die Unternehmenskultur in der britischen Wirtschaft zu erweitern und zu vertiefen. Sozialdemokratische Führer in Europa gehen also den Weg der ordnungspolitischen und marktwirtschaftlichen Erneuerung. Sie gehen dagegen den Weg der bürokratischen Staatswirtschaft. Das ist das Grundproblem unserer Republik. ({10}) Mit was kommen Sie jetzt an? Sie kommen mit einer Steuererhöhung nach der anderen an. ({11}) Es ist ja bemerkenswert, für welche Sprachverwirrung Sie in der laufenden Debatte sorgen. Das, was Sie vorgelegt haben, nennt sich Sparpaket. Seit wann handelt es sich um ein Sparpaket, wenn die Steuern, die Abgaben und die Schulden erhöht werden? Die Einzigen, die nach Ihren Vorstellungen sparen müssen, sind die Bürger. ({12}) Herr Kollege Müntefering, Sie haben wörtlich gesagt - das ist eigentlich eine freudsche Fehlleistung, die Ihre wahre Geisteshaltung ausdrückt -: Weniger für den privaten Konsum - und dem Staat Geld geben, damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik: Sie wollen Volkseigentum, wir wollen ein Volk von Eigentümern. ({13}) Sie führen den Klassenkampf fort. Sie können nicht einmal mehr kaschieren, wie sehr Sie sich den Reformen entziehen, wie strukturunfähig die Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen ist. Das kann man den jüngsten Äußerungen von Herrn Stiegler, die uns gestern wieder beglückt haben, entnehmen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich so etwas zitieren darf. ({14}) Darf ich das zitieren, Herr Präsident?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das ist schon zitiert worden.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann darf ich es zitieren. Ich bin beruhigt. Da setzt die Bundesregierung eine Kommission zur Reform der Rentensysteme ein ({0}) und Herr Stiegler sagt dazu: Ich erwarte, dass die Professoren wie Herr Rürup uns nicht länger mit ihrer Ejaculatio praecox beglücken. ({1}) - Ich möchte das jetzt nicht übersetzen, Frau Kollegin. Das wäre mir zu peinlich, Ihnen offensichtlich nicht. ({2}) Weiter heißt es: Ich habe die Schnauze voll davon, dass wir vor unseren Mitgliedern und Wählern täglich den Kopf hinhalten müssen für dieses Professoren-Geschwätz. Damit entlarven Sie, warum Sie die Rürup-Kommission eingesetzt haben. Diese Kommission soll in einer Zeit das Richtige denken, damit Sie in derselben Zeit die Möglichkeit haben, weiter das Falsche zu machen. ({3}) Sie müssten diesem Land eine ordnungspolitische Antwort geben, eine Antwort, die in der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft liegt. Es ist nämlich Unfug zu glauben - das ist Ihr typisches Denken -, man müsse die Steuern erhöhen, damit mehr Geld in die Staatskassen kommt. Senken Sie die Steuern! Dann kommt mehr Geld in die Staatskassen. Ein Problem des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist die zu hohe Steuer- und Abgabenlast. ({4}) Steuersenkung ist das beste Beschäftigungsprogramm und nur über mehr Beschäftigung bekommen wir wieder gesunde Staatsfinanzen. So einfach ist das. Das machen uns die anderen Länder vor. ({5}) Vereinfachen Sie das Steuersystem! Anstatt einen Vorschlag für ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem vorzulegen, fügen Sie lauter neue Steuern hinzu. Jahrelang hat die deutsche Politik überparteilich den Bürgerinnen und Bürgern gesagt: Wir brauchen mehr private Zusatzvorsorge für das Alter. ({6}) Baut mehr für eure Zukunft vor! - Was passiert jetzt? Sie führen eine Steuer für diejenigen ein, die im Laufe ihres Lebens fleißig gewesen sind, die vorgesorgt, Wohneigentum geschaffen oder in Fonds angespart haben. ({7}) Die Menschen haben das Geld, das sie für das Alter anlegen können, schon x-mal versteuert. Deshalb ist es unge888 recht, eine weitere Steuer in Höhe der hier diskutierten 15 Prozent draufzusetzen, die Sie uns als Wohltat weismachen wollen. ({8}) Lassen Sie mich auch noch auf die anderen Steuern zu sprechen kommen, zum Beispiel die Vermögensteuer. Das wird insbesondere für den Wahlkampf in Niedersachsen das entscheidende Thema werden. Was die Menschen vergessen und Sie ihnen vormachen, ist Folgendes: Als die Vermögensteuer seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht für unzulässig erklärt worden ist, gab es in vollem Umfang eine Kompensation für die Länder. Jetzt will man die Kompensation vergessen und die Vermögensteuer wieder einführen. ({9}) Ihnen fällt nichts anderes ein als eine neue Steuer, eine neue Subvention, ein neuer Paragraph. Das ist der falsche Weg. Die Vermögensteuer ist in Wahrheit keine Steuer gegen die Reichen. In zwei Dritteln der Fälle war es eine betriebliche Vermögensteuer. Wie wollen Sie einem Handwerker, der über seinem kleinen Geschäft wohnt, erklären, das eine sei betriebliches und das andere privates Vermögen? Das ist an der Realität vorbeigedacht, Herr Eichel. So kann nur jemand reden, der noch nie eine Mark eigenständig erwirtschaften musste. ({10}) Die Zusammensetzung Ihrer Fraktion - 75 Prozent Gewerkschaftsfunktionäre - spiegelt sich in Ihrer Politik wider. Sie ist ohne marktwirtschaftliche Vernunft, ohne wirtschaftlichen Sachverstand. ({11}) Wir brauchen aber eine Politik, die sich bezüglich der sozialen Sicherungssysteme auf die Herausforderungen unserer Zeit einlässt. Wir haben gesehen, wie mit Kommissionsergebnissen umgegangen wird. Einen ganzen Wahlkampf lang durfte Herr Hartz für Sie reden. Einen ganzen Wahlkampf lang haben Sie das Hartz-Konzept als die Wunderwaffe zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angeführt. Mittlerweile aber - das ist noch nicht einmal eine Woche her - verabschiedet sich Herr Hartz von dem, was Sie hier unter seinem Namen als Politik reklamieren. Von Hartz und den kostbaren Ansätzen im Sommer ist außer dem Namen nichts übrig geblieben. ({12}) - Wenn auf irgendjemanden das Wort „Strukturkonservativer“ zutrifft, dann mit Sicherheit auf Sie, Herr Kollege Mölle -({13}) - Herr Kollege „Münte-Möllemann“. ({14}) - Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Ihnen dazu etwas sagen: Sie haben völlig Recht, wenn Sie dazu Zwischenrufe machen. Aber wenn ausgerechnet Sie dazwischenrufen, ist das wirklich ein starkes Stück. Wissen Sie, worin der Unterschied zwischen uns besteht? Bei Ihnen werden diejenigen, die eine Affäre haben, wie Herr Schlauch bei den Meilen oder wie manche bei der SPD im Rheinland, auch noch in die Regierung befördert. Wir ziehen die Konsequenzen. ({15}) Das ist der Unterschied zu Ihnen und Ihrer Scheinheiligkeit in diesem Hause. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müntefering?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja sicher.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Westerwelle, haben Sie inzwischen von Ihrem Schatzmeister auch die Kassen Ihrer Partei in den anderen Bundesländern untersuchen lassen oder nur die in Nordrhein-Westfalen oder sind Sie bereit, das zu tun?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich beantworte Ihre Frage damit: Wie weit sind Sie mit Ihrem Gespräch mit Frau Wettig-Danielmeier? ({0}) Lassen Sie doch solche Mätzchen! ({1}) Wir haben alle unsere Probleme zu schultern, das ist wohl wahr. Meine sehr geehrten Damen und Herren, hier geht es um die Frage, wie dieses Land vorangebracht werden soll. Daran merkt man übrigens auch, wie die Situation ist. Wenn Sie bei einer Debatte über die Zukunft unseres Landes mir als Gegner aus der Opposition nichts anderes entgegenzubringen haben als die innerparteilichen Klärungsprozesse, die wir in der Tat zu bewältigen haben, dann zeigt das, dass Sie nichts mehr im Köcher haben, was dieses Land voranbringen könnte. 0,0 ist bei Ihnen an Substanz zu hören. ({2}) Ich möchte noch einmal auf den entscheidenden Punkt, die sozialen Sicherungssysteme, eingehen. Wir werden erleben, dass mit der Rürup-Kommission genau dasselbe wie mit der Hartz-Kommission passiert. Es wird das Richtige gedacht, es wird mit Sicherheit auch Hervorragendes aufgeschrieben, aber wie bei Hartz wird nichts davon übrig bleiben. Der Generalsekretär der Sozialdemokraten sagt mittlerweile, bei der Rente müsse gar nichts passieren, es könne alles so bleiben. ({3}) Die Worte „die Rente ist sicher“ sind bekannt. Diese Aussage ist demjenigen, der sie gemacht hat, oft genug bitter aufgestoßen. ({4}) Die Herausforderung unserer Zeit besteht aber darin, die Themen Beitragsstabilität, Rentensicherheit und Generationengerechtigkeit anzugehen. Keines dieser Ziele erreichen Sie mit Ihrer Politik, weil Sie sich bis heute vor wesentlichen Strukturfragen drücken. Das gilt zum Beispiel für die Frage der Lebensarbeitszeit. In Wahrheit geht es doch nicht um die Frage des gesetzlichen Renteneintrittsalters, sondern um die Frage des durchschnittlichen beruflichen Eintrittsalters. Wenn wir es schafften, die junge Generation, die bei uns im Schnitt vier bis fünf Jahre später als in vielen unserer europäischen Nachbarländer in den Beruf kommt, ein Jahr früher in den Beruf zu bringen, wären wir in der Lage, die Beiträge um 1 Prozent zu senken. Dazu hören wir von Ihnen kein Wort. Sie reden hier zwar über die Zukunft unseres Landes, aber Sie nennen keine Rezepte, wie man Arbeitslosigkeit bekämpft. Sie sagen auch nichts zur Bildungspolitik als der wichtigsten Zukunftsfrage unseres Landes. Sie gehen nicht auf die Strukturreform bei der Rente oder bei den sozialen Sicherungssystemen insgesamt ein. Sie eröffnen dazu nur ein paar Nebenkriegsschauplätze. Was uns die Regierung bietet, das ist konzeptionslos. Diese Konzeptionslosigkeit muss beendet werden. Sie werden in den nächsten Wochen eine noch größere Ablehnung Ihrer Politik in der Bevölkerung erleben. In Wahrheit fürchten Sie sich vor einer Revanche am 2. Februar 2003. Ein gegen Sie gerichteter Untersuchungsausschuss ist notwendig, damit die Wähler vor den Landtagswahlen sehen können, dass Sie vor einer Wahl abermals die Unwahrheit sagen - das ist der entscheidende Punkt -; denn die Mehrwertsteuererhöhung haben Sie längst beschlossen. Genauso waren die jetzt stattfindenden Steuererhöhungen vor der Bundestagswahl längst beschlossen. ({5}) Ich komme auf die Außenpolitik zu sprechen. Was das ausländische Engagement unserer Bundeswehr angeht, versuchen Sie, eine überparteiliche Politik zu betreiben. Das ist richtig und soll an dieser Stelle in gar keiner Weise geschmälert werden, ganz im Gegenteil. In dieser Hinsicht haben Sie auch im letzten Jahr eine richtige Politik betrieben, Herr Bundeskanzler. Ich darf allerdings daran erinnern, dass Sie für diese richtige Politik stets mehr Unterstützung durch die Opposition in diesem Hause als durch die Mitglieder der Koalitionsfraktionen erfahren haben. ({6}) Es ist eben nicht so, dass dieser Wahlkampf an unseren außenpolitischen Beziehungen spurlos vorbeigegangen ist. Zu den peinlichsten Momenten in der Außenpolitik zählte der Moment, als Sie beim NATO-Gipfel in Prag geradezu flehentlich um ein Lächeln und um einen freundlichen Händedruck von Herrn Bush vor den Kameras gebeten haben. ({7}) Das wurde von Ihren Sprechern schon als Durchbruch zu gesunden deutsch-amerikanischen Beziehungen gefeiert. Wenn man einen mit einem Lächeln verbundenen Händedruck schon als Ausdruck der Funktionsfähigkeit der deutsch-amerikanischen Verhältnisse hochstilisiert, dann ist es um die Beziehungen zwischen der US-amerikanischen und der deutschen Regierung ganz schön schlecht bestellt. ({8}) Auf diesem Feld ist eine andere Politik notwendig. Die Außen- und auch die Innenpolitik müssen mehr Linie haben. Ich glaube, dass viele Menschen erkennen können, dass Sie als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit Ihrem Finanzminister vor der Wahl bewusst die Unwahrheit gesagt haben und dass Sie dabei sind - das bestätigen immer wieder sämtliche Ausrutscher aus Ihren eigenen Reihen -, vor den Landtagswahlen Selbiges noch einmal zu tun. Die „Financial Times“ schreibt zur Wahrhaftigkeit in der Politik heute Folgendes: Als Helmut Kohl seinerzeit „blühende Landschaften“ versprach, hat er sich geirrt; aber er hat nicht gelogen. Als Gerhard Schröder sich im Sommer dieses Jahres kategorisch gegen Steuererhöhungen aussprach, hat er sich nicht geirrt, er hat gelogen. Damit ist der Unterschied auf den Punkt gebracht. Man kann vor einer Wahl unterschiedliche Einschätzungen über die Entwicklung nach einer Wahl haben. Aber wenn man amtlich weiß, dass man zum Beispiel die Defizitkriterien nicht erfüllen wird, dann darf man vor der Wahl nicht amtlich die Unwahrheit sagen. Dass Sie das dennoch getan haben, kann nicht ohne Folgen bleiben. Dabei mitzuhelfen ist auch ein Beitrag zur demokratischen parlamentarischen Kultur. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Westerwelle, Sie haben dem Bundeskanzler gerade vorgeworfen, er sei zu heftig gewesen. Ich muss sagen: Ihnen hat es wieder einmal nicht an Heftigkeit gefehlt; in Ihrer Rede hat es nur an Substanz gefehlt. Aber das sind wir schon gewohnt, Stichwort „18 Prozent“. ({0}) Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland - sie ist in der Tat ein großes Problem, das wir mit allen Mitteln angehen - sei demokratiegefährdend. Ich will Ihnen sagen, was ich für demokratiegefährdend halte: Ich halte es für demokratiegefährdend, dass Sie, Herr Westerwelle, dabei zusehen, wie in Ihrer eigenen Partei mit antisemitischen Ressentiments Wahlkampf gemacht wird. ({1}) Es ist in der Tat sehr bemerkenswert - der Bundeskanzler hat zu Recht darauf hingewiesen -, was wir hier in den letzten Wochen von der Opposition und von Teilen der politischen Rechten im Land erleben, alles getarnt als politische demokratische Auseinandersetzung. Das, meine Damen und Herren, ist wirklich beispiellos in der Geschichte. Was Sie veranstalten, Frau Merkel, ist heuchlerisch, es ist eine unredliche Kampagne ohnegleichen, nur nach hinten, ohne Inhalt. ({2}) Wir - damit meine ich Rot und Grün - werden diese Art von Kampagne und diese Art von Schauspiel nicht hinnehmen. Das erleben Sie heute hier in diesem Hause. ({3}) Liebe Frau Merkel, ich frage Sie allen Ernstes: Woher nehmen Sie eigentlich die Unverfrorenheit zu dieser maßlosen Inszenierung? Sie haben heute schon wieder Michel Glos auf die Bühne geschickt, um genau das weiterzutreiben, was Sie seit Wochen hier veranstalten. ({4}) Ausgerechnet Sie, die im Bundestagswahlkampf wie eine Drückerkolonne von Haus zu Haus gelaufen sind, mit unverfrorenen Versprechungen, bei denen Sie das BlauWeiße vom Himmel versprochen haben, ({5}) stellen sich heute hier hin und wollen über Wahrheit reden. ({6}) Sie haben ein Sofortprogramm für 20 Milliarden Euro auf den Tisch gelegt und die ganzen Verheißungen kosten über 70 Milliarden Euro. Glauben Sie denn allen Ernstes, dass die Menschen in Deutschland das schon vergessen haben? ({7}) Da fragt man sich schon, was Sie geritten hat, sich von Herrn Koch den Untersuchungsausschuss aufschwatzen zu lassen. Vielleicht hatten Sie heute Morgen schon Gelegenheit zur Zeitungslektüre. Die Attribute übertreffen sich von Blatt zu Blatt. „Irrwitzig“ ist noch eines der harmloseren. Herr Westerwelle, auch Sie haben sich gerade dafür ausgesprochen. Herr Döring, Ihr Parteikollege, hat das als größten politischen Schwachsinn bezeichnet. Ich kann dem Mann nur zustimmen. ({8}) Frau Merkel, Sie lassen sich ausgerechnet von einem Herrn Koch instrumentalisieren, in dessen Verantwortungsbereich CDU-Schwarzgelder in jüdische Vermächtnisse umgelogen werden. Haben Sie denn keine Möglichkeit mehr, die Realität in diesem Lande wahrzunehmen? ({9}) Ausgerechnet der „brutalstmögliche Aufklärer“, der seinerzeit erklärt hat, dass sein einziger Fehler gewesen sei, die Öffentlichkeit falsch informiert zu haben! Frau Merkel, kehren Sie zurück zur politischen Kultur und zum gesunden Menschenverstand in diesem Lande! ({10}) Jetzt kommt er also, der Untersuchungsausschuss, der „große konzeptionelle Renner der Opposition“, so hat es die „Neue Zürcher Zeitung“ genannt. Mehr ist es nicht. ({11}) Herr Glos, ich habe auch schon eine Idee, womit sich der Untersuchungsausschuss beschäftigen kann. Sie haben vorhin in der Debatte schon deutlich gemacht, was Sie eigentlich wollen. Sie haben hier nämlich in Richtung Regierungsbank gesagt, einer Mehrwertsteuererhöhung würden Sie zustimmen. Das haben wir alle gehört ({12}) und werden es im Protokoll nachlesen können. Das ist doch eine gute Aufgabe für den Untersuchungsausschuss, was Michel Glos hier zum Thema Mehrwertsteuererhöhung sagt. Vielen Dank! Dabei werden Sie Herrn Westerwelle wahrscheinlich an Ihrer Seite haben. ({13}) Ich wüsste gerne, wo Ihre Vorschläge zur Reform der Rentensysteme in Deutschland, zur Reform des Gesundheitssystems, Ihre Alternativen zur Haushaltssanierung bleiben. Vielleicht haben Sie, Frau Merkel, heute noch Gelegenheit, deutlich zu sagen, worum es Ihnen eigentlich geht. ({14}) Wir haben Sozialsysteme, die in der Tat auf den Prüfstand gehören. Die Sozialsysteme müssen der Altersentwicklung der Gesellschaft gerecht werden. Das müssen wir nicht nur in Bezug auf heute und auf das Rentenniveau, das wir heute erreichen können, überlegen, sondern auch mit Blick darauf, wie es in 20, 25 oder 30 Jahren aussieht. Genau darauf kommt es an. Deswegen brauchen wir weitere Reformen. ({15}) Bisher hören wir von Ihnen nichts weiter als Klamauk und Tamtam. Ich bin wirklich erschüttert: Was ist nur aus der bürgerlichen Volkspartei CDU geworden? ({16}) Sie können noch nicht einmal ordentlich Opposition betreiben; man stelle sich vor, Sie hätten regieren müssen. Gute Nacht, Deutschland, kann ich da nur sagen. ({17}) Wenn wir heute über den Haushalt debattieren, meine Damen und Herren, dann tun wir das vor dem Hintergrund einer wirklich schwierigen wirtschaftlichen Situation. Nicht nur im Bundeshaushalt muss gespart werden. Auch in den Ländern muss gespart werden, ebenso in vielen Unternehmen im Land, von den großen Verlagen bis zu den kleinen mittelständischen Unternehmungen. Diese Lage ist nicht schönzureden - das tut hier auch niemand -, sondern damit muss man umgehen, und zwar mit zwei Dingen: mit vernünftigem Sparen und mit intelligenten Reformen, die wir auf den Weg bringen. ({18}) Aber es macht keinen Sinn, Herr Glos und Herr Merz, die Situation schlechter zu reden, als sie ist. Sie scheinen ja Ihre Berufung genau darin gefunden zu haben. Herr Merz sprach gestern hier von der Psychologie des Schlechtredens. Wer ist es denn hier im Hause, der tut, als sei Deutschland bereits ein Entwicklungsland? - Das sind Sie. ({19}) Wer ist es denn, der behauptet, Deutschland stünde am Abgrund? - Das sind wiederum Sie. Und wer ist es, verdammt noch mal, der versucht, das Ansehen dieses Landes international zu beschädigen? ({20}) Es gelingt Ihnen nicht, aber Sie versuchen es. Das sind wiederum Sie. ({21}) Tatsache ist doch: Es geht uns in diesem Land nicht mehr so gut wie vor Jahren ({22}) - im Osten wusste man das übrigens schon etwas länger -, aber viele klagen auf relativ hohem Niveau. Und was fiel Ihnen, Herr Merz, gestern in Ihrer Rede ein? - Nicht die Arbeitslosenhilfeempfänger, nein, Ihnen fallen die Dienstwagen- und Hausbesitzer ein. Das ist der Unterschied zwischen uns. ({23}) Wir sagen: „Alle müssen anpacken“ und Sie machen kleinkarierte Klientelpolitik. Das werden die Menschen in diesem Land wissen. ({24}) Wir können uns ja einmal vorstellen, wie es wäre, wenn Stoiber nun unser Kanzler wäre. Dann hätten wir nämlich statt des Steuersongs den Stoibersong und Frau Merkel spielte wahrscheinlich die Schalmei dazu. ({25}) Dann hätten wir jetzt den „Jetzt habt ihr mich gewählt“Song für Stoiber. Ich sage Ihnen: Dann hätten wir wirklich den Salat. ({26}) Erstens. Die Kassen wären leer, in Bayern, in Hessen und im Bund. Die Maastricht-Kriterien würden nicht eingehalten, weil die Steuereinnahmen mehr als gedacht zurückgegangen sind, in Bayern, in Hessen und im Bund. Hätte die Union auch noch ihr Sofortprogramm umgesetzt, dann lägen wir bei den Maastricht-Kriterien nicht bei über 3 Prozent, sondern bei fast 5 Prozent. Das ist die Realität. ({27}) Zweitens. Der hessische Ministerpräsident müsste einen Lügenausschuss einrichten, weil die Wahlversprechen der Union in keinem einzigen Punkt realisiert worden wären. Familiengeld? - Fehlanzeige. Kinderbetreuung? - Wollten Sie gar nicht machen; machen wir dafür. Reform am Arbeitsmarkt? - Gequatsche; wieder Fehlanzeige. Mittelstand? - Steuern runter bestimmt nicht, da kein Geld vorhanden. Ihre 40-40-40-Nummer schließlich würde 170 Milliarden Euro kosten. Das wäre das Ende jeglicher Ausgaben des Bundes in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Damit würde sich der Lügenausschuss dann beschäftigen, meine Damen und Herren. ({28}) Ich verstehe schon, dass Edmund Stoiber sich ein bisschen ärgert; denn wäre er Kanzler geworden, egal wie, hätte er jetzt wenigstens ein Lied für sich. Nun hat nur noch die leichte Sonnenbräune und einen Beraterkreis um sich herum, der ihm das Gefühl gibt, er hätte doch noch irgendwie gewonnen. ({29}) Das ist wie in dem Märchen vom Kaiser mit den neuen Kleidern. Irgendjemand muss es ihm einmal sagen. ({30}) Frau Merkel, vielleicht können Sie es einmal tun. Sagen Sie ihm: erstens, der Kaiser ist nackt, und zweitens, Stoiber ist nicht Bundeskanzler. Das ist die Lage im Land. ({31}) Wenn ich mir die Lage in Hessen ansehe - 2 Milliarden Neuverschuldung statt 800 Millionen -, muss ich sagen: Das ist eine reife Leistung. Man braucht Ausschüsse im Bund, um davon abzulenken: Wann hat Koch eigentlich was genau gewusst? ({32}) Der Typ kommt mir vor wie ein volltrunkener Piratenkapitän, der auf einem halb abgesoffenen Kahn steht und blind vor Gier noch ein viel größeres Schiff rammen will. ({33}) Ich sage Ihnen: Dieses große Schiff, der rot-grüne Kahn, ist verdammt in Ordnung und weiß vor allen Dingen, wohin es fahren will. ({34}) Im Gegensatz zu Ihrem Steuersenkungsfundamentalismus haben wir ein ausgewogenes Paket vorgelegt. Herr Westerwelle, es stimmt eben nicht, dass nicht beim Staat gespart wird, sondern nur bei den Bürgerinnen und Bürgern. Zwei Drittel der Sparmaßnahmen liegen beim Staat und ein Drittel liegt bei den Bürgerinnen und Bürgern. Das die Wahrheit; mit der sollten Sie sich einfach einmal auseinander setzen. Ja, wir erhöhen die Staatsverschuldung maßvoll. Ja, wir beseitigen Steuervergünstigungen. Wir haben auch Maßnahmen zur Sicherung der Sozialsysteme ergriffen. Man muss nicht mit jeder Maßnahme einverstanden sein. Es ist richtig, dass man in der Koalition darüber diskutiert. Wer aber etwas anderes will, der muss auch einmal ehrlich sagen, was er will. Meine Damen und Herren von der Union, allein die Aussetzung der Ökosteuer würde die Rentenbeiträge flott auf über 20 Prozent ansteigen lassen. Wenn es das ist, was Sie wollen, dann sagen Sie das hier bitte. ({35}) Machen Sie Ihre Steuersenkungsversprechungen auf Kosten höherer Schulden? Sagen Sie uns bitte, wie Sie das umsetzen wollen. ({36}) Sagen Sie uns endlich einmal, welche Reformen Sie auf den Weg bringen wollen und welche Sie wenigstens einmal durchgerechnet haben. ({37}) Es stimmt, dass wir es in Deutschland mit einer sehr speziellen Psychologie zu tun haben, wenn es um große und wichtige Reformen geht: Den einen ist schon die kleinste Reparatur am Haus Deutschland zu viel, die anderen wollen das Haus am liebsten gleich ganz abreißen und neu aufbauen. Was beide Akteure nicht merken, ist, dass sie beide Teil jener Reformblockade sind, die sich gerade anbahnt. In aller Freundschaft zu den Gewerkschaften und mit aller Freundlichkeit zu den Verbänden sage ich: Reform heißt immer auch, bei sich selbst anzufangen, auch und gerade wenn es um Einschränkungen geht. ({38}) Ich sage das aber auch in Ihre Richtung, Frau Merkel. Der Maximalismus der Union - Sie stellen Forderungen und setzen immer noch eins drauf - ist in Wahrheit die größte Reformblockade, mit der wir in Deutschland zu kämpfen haben. Meine Damen und Herren von der Opposition, Frau Merkel, auch die Opposition trägt eine Verantwortung für das Land und ist nicht nur dafür da, möglichst viel Krawall zu schlagen. Sie reden Deutschland schlecht und ziehen Deutschland herunter. In Deutschland gab es noch nie eine Opposition, die die demokratischen Institutionen der Republik derart schlechtgeredet hat und so mit Dreck beworfen hat, wie Sie das machen: ({39}) Erst war es der Bundespräsident, dann der Bundestagspräsident, dann gab es zwischendurch Klamauk im Bundesrat und jetzt ist es der deutsche Bundeskanzler. ({40}) Dabei reden Sie von Patriotismus. Wer sind denn die wahren vaterlandslosen Gesellen in diesem Land? ({41}) Sie sind nicht nur schlechte Verlierer, sondern auch eine miserable Opposition. Wie würden Sie die Komplettblockade bezeichnen? Was nicht alles blockiert werden soll: Wir haben die Rentenblockade, die Ökosteuerblockade, die Arbeitsmarktblockade usw. Ich kann Sie nur auffordern, mitzumachen und sich an der Debatte konstruktiv zu beteiligen. ({42}) Vielleicht kriegt sich ja sogar Herr Koch noch ein. Die Hartz-Vorschläge sind nach wie vor eine wirklich große Herausforderung an Politik und Gesellschaft. So viel Reformgeist hat es auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland noch nie gegeben: Personal-Service-Agenturen, Ichund Familien-AGs, Minijobs. All diese Maßnahmen bringen Bewegung in den Arbeitsmarkt. Sie wollen dabei außen vor bleiben? Ich kann Sie im Interesse der Menschen, die ohne Arbeit sind, nur bitten: Machen Sie mit! ({43}) Es gibt aber noch mehr Bereiche, bei denen es auf gemeinsames Handeln und gemeinsame Verantwortung ankommt. Wer den Sozialstaat erhalten will, der muss jetzt handeln. In Deutschland befinden wir uns zum ersten Mal in einer Situation, in der alles nicht einfach nur immer mehr wird. Frau Merkel, das war auch der zentrale Fehler in Ihrem Wahlkampf. Die Leute haben Ihnen nicht geglaubt, dass man immer weiter auf Wachstum setzen kann. Jetzt kommt es darauf an, die Sozialsysteme zukunftsfest zu machen. Das heißt auch, dass wir den Menschen wieder mehr Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit zurückgeben müssen. ({44}) Darauf wird es ankommen. Für den sozialen Schutz der Menschen kann es in Zukunft nicht mehr so wichtig sein, ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig ist. Die modernen Berufsbiografien sind nicht mehr so eindeutig. Einmal ist man in einem Unternehmen beschäftigt, einmal ist man selbstständig und einmal in Erziehungszeit. Der Sozialstaat hat nicht allein die Aufgabe, zu versorgen und zu betreuen. Er muss die Menschen in die Lage versetzen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen und sich selbst helfen zu können. Darum geht es bei der Reform des Sozialstaates. Gerade weil wir eine Gesellschaft wollen, die denen zur Seite steht, die in existenzielle Nöte geraten sind, müssen wir das Anspruchsdenken des Versorgungsstaates überwinden. Deswegen brauchen wir langfristig angelegte Reformen der sozialen Systeme und keine, die nur bis morgen oder übermorgen reichen. ({45}) Gerade in schwierigen Situationen wissen wir, dass wir eine Gesellschaft von sehr verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern sind. Darauf muss die Politik bauen. Um die Freiheit der Entscheidung und um Eigenverantwortung geht es auch in der Wirtschaft. Trotz der Probleme in der Konjunktur kann man auch positive Beispiele nennen: Nordex, Windkrafthersteller, zum Beispiel verkündet in diesen Tagen einen Gewinnanstieg um 26 Prozent. Dies ist ein Unternehmen von vielen, das in die Zukunft investiert und Zukunft hat. Wenn die Grünen auch oft belächelt worden sind, bleibt dennoch richtig: Öko schafft Arbeitsplätze und schreibt schwarze Zahlen in dieser Republik. Das sollten Sie sich einmal anschauen. ({46}) Wichtig ist, dass wir bei den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht reglementieren, sondern reformieren. Dafür ist die Arbeitsmarktreform ein wirklich gutes Beispiel. Das betrifft solche Dinge wie den Ladenschluss, der - jenseits des Sonntags natürlich - gelockert werden muss. Das betrifft die Entbürokratisierung der Wirtschaft. Der Bundeskanzler hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sie mit großen Schritten vorangehen muss. Der Arbeitsmarkt muss durchlässiger werden. Mit den Möglichkeiten der Wahl zwischen Minijobs und Zeitarbeit, Selbstständigkeit und Weiterbildung, die wir schaffen, machen wir endlich die Mauer zwischen dem überregulierten Markt der Arbeitsplatzbesitzer, den riskanten Selbstständigen und den Arbeitslosen durchlässig. Dafür wurde es höchste Zeit. Die Lohnnebenkosten müssen ohne Wenn und Aber herunter, damit in Deutschland wieder in Arbeit investiert wird. ({47}) Entscheidungsfreiheit ist aber auch ein Thema in der Familienpolitik. Das war allen hier im Hause vor den Wahlen relativ wichtig; ich erinnere mich gut. Was wir machen, ist, Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder und Ganztagsschulen auf den Weg zu bringen und damit gerade für Frauen Entscheidungsfreiheit herzustellen, wirklich zwischen Beruf und Familienarbeit wählen zu können. Eines aber muss auch klar sein: Eltern müssen in diesem Land selbst entscheiden können, wie sie ihre Kinder betreuen lassen. Hier ist jetzt die Innovationsfreude der Länder sehr gefragt. Ob das zum Beispiel in Form von Gutscheinen oder anderem geschieht, ob man sich für eine Tagesmutter, für die Kinderkrippe, für einen Waldkindergarten oder die Betreuung zu Hause entscheidet, das muss dem Staat in Deutschland egal sein. ({48}) Das gilt auch für die Schulen. Eine Verbesserung der Qualität erreicht man nun einmal nicht zentralistisch und von oben herab, sondern indem jede Schule Entscheidungsfreiheit hat und in den Wettbewerb mit anderen tritt. Wie wichtig es ist, dass wir in Deutschland ein Bildungssystem haben, das innovativ ist, und wie sehr das eine Frage der sozialen Verantwortung ist, das wissen wir. Gerade deswegen muss es vielfältige Angebote und die Eigeninitiative von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und natürlich von den Schülern selbst geben. Die Reformbereitschaft ist so groß wie der Reformbedarf in unserem Land. Wir brauchen den Mut dazu. RotGrün hat ihn. Das gilt auch für die Außenpolitik. Im Gegensatz zu Ihnen von der Opposition haben wir da eine sehr klare Haltung. Was heißt denn, wir hätten mit Kriegsangst Wahlkampf gemacht? Immer noch hoffen wir - die Bundesregierung hat wirklich alles dazu getan -, dass es keinen Angriff auf den Irak gibt. Wollen Sie denn wirklich jemandem weismachen, dass es sich dabei nicht um eine reale Gefahr handelt? Wo leben Sie denn? ({49}) In Wahrheit sind Sie es doch, die in dieser Frage seit Monaten einen politischen Eiertanz vorführen: Mal sollen wir aus Solidarität zum Angriff bereit sein und dann will Stoiber die Überflugrechte nicht einräumen. ({50}) Was wir wollen und tun, das ist klar: keine Beteiligung an einer Intervention im Irak; denn wir halten sie für falsch. Was Sie wollen und tun, ist offensichtlich nicht klar. Bei Ihnen geht es je nachdem, wie es gerade kommt und wie es einem einfällt. ({51}) Herr Glos, dass wir unseren Verpflichtungen nachkommen, das ist ja wohl selbstverständlich. Dabei handelt es sich um keine indirekte Beteiligung, sondern um Vertragstreue. ({52}) Dass man Ihnen das hier erklären muss, das ist bizarr und peinlich; aber ich tue es trotzdem. ({53}) Nun zu Ihrer Haltung zum EU-Beitritt der Türkei; dazu ist heute Morgen schon einiges gesagt worden. Es geht Ihnen doch gar nicht um die Türkei oder die EU. In Wahrheit geht es um eine Neuauflage des ausländerfeindlichen Wahlkampfes in Hessen. ({54}) Sie halten an dem Bild der undemokratischen und unreformierbaren Türkei bzw. an dem des bäuerlich rückständigen Türken fest. Schon wieder bauen Sie ein Schreckensszenario auf, mit dem Sie dem Land und der europäischen Einigung schaden. Das ist bizarr und das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({55}) Natürlich hat die Türkei noch einen langen Weg zurückzulegen, aber wir können doch nicht die positiven Prozesse, die gerade jetzt angestoßen worden sind, im Ansatz zerstören, indem wir einen Rückzieher in der Frage des EU-Beitritts machen. Ich kann nur davor warnen, schon wieder in Ihrer üblichen Spaltermanier Wahlkampf auf Kosten von Minderheiten zu betreiben. Die Menschen wollen die Hetze gegen Ausländer und Minderheiten in diesem Land nicht. Sie erinnern sich noch gut an die Schmutzkampagne zur letzten Landtagswahl in Hessen und so etwas wollen sie nicht wieder erleben. Hören Sie endlich auf, immer dann, wenn es Probleme in der Wirtschaft und im Land gibt, diese auf die Schwachen oder die Minderheiten, im Zweifelsfall sogar auf die Ökologie zu schieben. ({56}) Das ist billig und das wissen Sie auch. Die wirtschaftliche Lage im Land und das gesellschaftliche Klima hängen eng zusammen. Die Stammtischparolen Ihres Herrn Koch sind beides: gefährlich für die Schwachen und gefährlich für die Wirtschaft, die alles andere braucht als ein Klima von Angst und Repression. ({57}) An dieser Stelle lassen Sie mich eines sagen, was mich in den letzten Monaten sehr umgetrieben hat. Paul Spiegel ist als Vorsitzender des Zentralrates der Juden wieder gewählt worden. Ich gratuliere ihm von dieser Stelle aus sehr herzlich. ({58}) Kurz vor seiner Wahl hat er wiederholt, dass sich die Juden allein gelassen fühlen in ihrem Kampf gegen den Antisemitismus in Deutschland. Meine Damen und Herren, wenn das trotz aller Beteuerungen und Versuche so ist, dann müssen wir uns tiefe Gedanken um die Situation in unserem Land machen. Dann müssen wir energisch und sehr, sehr klar sein! Darauf kommt es an - in der Politik, aber vor allem bei den Kindern und Jugendlichen in den Schulen. Immer mehr Jüdinnen und Juden entscheiden sich, in Deutschland zu leben. Ich bin unendlich froh darüber und deswegen ist es nur folgerichtig, dieser Entwicklung mit einem Staatsvertrag Rechnung zu tragen, wie das der Bundeskanzler getan hat. Wir alle müssen aber dafür sorgen, dass diejenigen, die sich für ein Leben in Deutschland entschieden haben, diese Entscheidung niemals bereuen. Das ist eine Aufgabe für uns alle. ({59}) Deswegen meine dringende Bitte: Es darf keinen Wahlkampf geben auf Kosten von Minderheiten in diesem Land. ({60}) Frau Merkel weiß das im Grunde auch längst. Sie hat die Müller-Kommission zur Zuwanderung unterstützt und ist dann leider eingeknickt. ({61}) Sie hat eine innerparteiliche Programmdebatte angestoßen und sofort wieder einkassiert. Die Programmdebatte liegt wahrscheinlich in der Kammer des Schreckens der Union, gut bewacht vom starken Roland. Nun wird viel über die Stimmung in der Koalition geredet und geschrieben. Ich sage Ihnen: Die Stimmung ist gut. ({62}) Das sage ich Ihnen allen Ernstes. ({63}) Wir haben große Probleme in diesem Land zu schultern und wir diskutieren über den richtigen Weg. Die Diskussion über den richtigen Weg ist genau das, was Ihnen fehlt. Das schweißt diese Koalition zusammen und darauf kommt es in diesem Land an. ({64}) Noch nie gab es in einer wirtschaftlich angespannten Situation derart klares Handeln im Sinne der Schwachen, der Familien und der künftigen Generationen. Sie, Frau Merkel, wissen noch nicht einmal, wohin die Reise gehen soll, geschweige denn wie man am besten ankommt. Stattdessen haben Sie zwei echte Revolutionäre an Ihrer Seite, den bekannten Frankfurter Straßenkämpfer Frank Schirrmacher und den Altrevoluzzer Arnulf Baring. Jetzt höre ich, da will sich auch Edmund Stoiber einreihen. Ich stelle mir das lustig vor, wenn der Edmund vor der Bayerischen Staatskanzlei im schwarzen Block neuen Typs mitmarschiert. Vielleicht kriegt er dann doch noch ein Lied oder wenigstens einen coolen Spruch nach dem Motto: Stoiber läßt’s Regieren sein, kommt herunter, reiht sich ein. ({65}) Wolfgang Gerhardt hilft auch mit. Die Lahmlegung eines Finanzamtes ist der schönste zivile Protest, sagte er. ({66}) Meine Güte, jetzt verstehe ich das endlich. Dass Sie Ihre Parteikasse an den Regeln des Steuerrechts vorbei gefüllt haben, ist in Wirklichkeit ein Akt zivilen Ungehorsams in der Republik. ({67}) Ganze Finanzämter und Staatsanwaltschaften werden so lahm gelegt und von der Arbeit abgehalten. Ich stelle mir das jetzt einmal praktisch vor, Herr Gerhardt. Da lassen Sie sich im zugegebenermaßen steuerfinanzierten Dienstwagen vorfahren und ketten sich am Finanzamt in der Heimatstadt an. Diese Vorstellung ist einfach wunderbar. ({68}) Aber wahrscheinlich ist es richtig: Die FDP muss sich irgendwie auf die außerparlamentarische Opposition vorbereiten. Da braucht man so etwas. Da macht man so etwas. Tun Sie es bitte. ({69}) Im Land allerdings geht es um andere Dinge. Im Kern geht es um Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Im Kern geht es um gerechte Teilhabe an Arbeit und Bildung. Im Kern geht es um gerechte Globalisierung. Es geht um Chancen. Es geht um Freiheit und es geht um Verantwortung. Dafür wird diese Regierung arbeiten, vier Jahre lang erfolgreich und mit dem notwendigen Mut für Reformen. ({70}) Sie, Frau Merkel, sollten endlich aus der Schmuddelecke kochscher Politik kommen. Beenden Sie den privaten Nachwahlkampf und kehren Sie zur Sachpolitik zurück. Angesichts der Lage im Land ist das bitter nötig. Wir handeln. Die Politik von Rot-Grün ist Politik mit Verantwortung. Sie haben die Chance, mitzumachen oder zu bleiben, wo Sie sind. Vielen Dank. ({71})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Angela Merkel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tagelang war Berlin angesichts der für heute erwarteten Rede in eine größere Aufregung versetzt. ({0}) Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe für die Menschen im Lande gehofft, dass die für heute angekündigte große Rede auch wirklich eine große Rede werden würde, ({1}) eine Rede, bei der die Menschen bei allem Streit, den wir haben müssen, eine Linie und ein wenig Licht am Ende des Tunnels hätten erkennen können. Was Sie uns dann aber geboten haben - besonders beeindruckend in den Passagen, bei denen Sie geradezu gebrüllt haben -, war im Grunde der Eindruck, dass da ein Mann mit dem Rücken an der Wand steht und nichts weiter kann, als die Opposition zu verdächtigen, zu verleumden und in ein schlechtes Licht zu rücken. ({2}) Deutschland hat in diesen Tagen eine Sehnsucht nach Führung, nach Verlässlichkeit und vor allem - das wäre erst einmal ein Beginn - nach Wahrnehmung der realen Situation, wie sie in unserem Lande besteht. ({3}) Bei Ihnen haben die heute verkündeten Arbeitslosenzahlen überhaupt keine Rolle gespielt. Ich weiß nicht, ob die 4 Millionen Menschen Sie interessieren. Ich weiß nicht, was in Ihnen vorgeht - das muss ich Sie ganz ehrlich fragen -, wenn es heute über 200 000 mehr sind als vor einem Jahr. Ich weiß nicht, ob Sie sich innerlich damit auseinander setzen, dass der Anstieg gegenüber Oktober dreimal so hoch war wie sonst im Durchschnitt der letzten zehn oder 20 Jahre. Das interessiert aber die Menschen. Damit hier nun nicht wieder gesagt wird, wir würden das Land schlechtreden, ({4}) darf ich einmal zitieren. Sie haben ja langsam einen Tunnelblick in Bezug auf das, was die Realität in diesem Lande ausmacht. ({5}) Herr Schrempp, immerhin einer Ihrer geschätzten Gesprächspartner - ich habe nichts dagegen, der Mann hat für viele Arbeitsplätze in diesem Land gesorgt -, ist angesichts der Lage sprachlos. Herr Scholl von Merck, einem Unternehmen im MDax, kann sich nicht erinnern - und das sind nicht meine Worte -, dass es je „eine solche Perversion von Wahlversprechen“ gegeben habe. Herr Haupt von Tengelmann sagt, Deutschland sei führungslos. ({6}) - Hören Sie genau zu; Sie müssen sich schon mit der Realität in diesem Land auseinander setzen. ({7}) Der Vorstandsvorsitzende von Merck sagt: Wir sind bestraft, dass wir so lange am Standort Deutschland festgehalten haben. - Der Chef von Infineon sagt: Wir werden uns schwer tun, in Deutschland noch zu investieren. - Tausende und Abertausende andere sagen gar nichts mehr, sie handeln einfach und lassen ihr Kapital außer Landes wandern. Das ist die Wahrheit über Deutschland in diesen Tagen. ({8}) Herr Bundeskanzler, hinter dem steht, was in den letzten Jahren passiert ist: ({9}) Die Menschen haben Sie inzwischen durchschaut. Sie glauben Ihnen nicht mehr, weil sie wissen, dass alles, was Sie einmal sagen, kaum berechenbare Halbwertzeiten hat, dass dies manchmal nicht einmal die Dauer einer Unterrichtung überlebt - ich erinnere nur an die Sache mit dem Fuchs: Spürpanzer oder Transportpanzer? -, dass sich die Autoren Ihrer Vorschläge schneller von allem verabschiedet haben, als Sie gucken können, weil sie sehen, dass Sie das alles nicht richtig umsetzen. Ihre eigene Glaubwürdigkeit ist verloren gegangen. Das ist für die Führung eines Landes einer der größten Verluste, die passieren können. ({10}) Nun gibt es in dieser ganzen Sache eine neue Platte, die da heißt: „Zerstörung meiner sozialen Integrität“. Diese Platte spielen Sie dann gleich als Ehepaar; ich möchte mich dazu nicht weiter äußern. ({11}) Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, können Sie sich eigentlich noch erinnern, was Sie den Menschen in diesem Lande schon alles zugemutet haben? Von 1998 bis 2000 waren Sie stolz, „Genosse der Bosse“ genannt zu werden. Danach hatten wir einen Sommer der „ruhigen Hand“. Im Wahlkampf dann haben Sie begonnen, die Wirtschaft in diesem Lande zu beschimpfen, und sie als „fünfte Kolonne der Opposition“ bezeichnet. Diejenigen, welche die Arbeitsplätze in diesem Lande schaffen, sind in den Augen des Herrn Bundeskanzlers die „fünfte Kolonne der Opposition“; Sie haben in diesem Zusammenhang auch noch von „Kettenhunden“ und „Helfershelfern“ gesprochen. Und, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, als Sie gerade etwas Oberwasser im Wahlkampf hatten, ({12}) waren Sie es, der - ich hätte mir eine solche Aussage zweimal überlegt - dem Wettbewerber im Wahlkampf die Führungsfähigkeit für dieses Land abgesprochen hat. ({13}) Sie haben damit eine Schärfe in die Debatte gebracht, die es bisher im Wahlkampf nicht gegeben hat. Deshalb: Beklagen Sie sich bitte nicht über die Zerstörung Ihrer sozialen Integrität. Sie haben die Stimmung angeheizt. ({14}) Schon nach der Wahlniederlage in Sachsen-Anhalt sind Sie zu unser aller großem Erstaunen aus einer Präsidiumssitzung der SPD gekommen mit den Worten: „Er oder ich!“ - Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht: Sie oder wir, Stillstand oder Fortschritt, ({15}) Staat oder Freiheit, Belastung oder Entlastung, Täuschung oder Verlässlichkeit, das sind die Alternativen in diesem Lande. ({16}) Um diese Alternativen geht es. ({17}) - Wissen Sie, was die Leute besonders gut leiden können? Das ist Ihr dauerndes Grinsen und Lachen auf der Regierungsbank. ({18}) Natürlich leben wir in einer Zeit, in der sich alles verändert. Ich glaube, in einem sind wir uns einig: Diese Veränderung beschreiben wir gemeinsam mit Globalisierung. Nur bezüglich der Frage, was wir denn angesichts dieser Globalisierung machen, gibt es einen grundsätzlichen Unterschied. ({19}) Für Sie ist das so etwas wie höhere Gewalt. Für Sie ist das die Grundlage für Ausreden nach dem Motto, dass es nicht anders sein kann. Für uns ist es eine Chance, eine Hoffnung auf die richtigen Veränderungen mit den richtigen Wirkungen für die Menschen im Lande. ({20}) Sie spüren, dass die Menschen Ihnen das mit der höheren Gewalt und der Globalisierung nicht abnehmen, weil sie sehen, dass sich die Dinge in anderen Ländern besser entwickeln. Herr Bundeskanzler, wann hat es das eigentlich gegeben, dass man in einem Nachbarland von Deutschland eine Wahl deutlich gewinnt, weil man sagt: So wie in Deutschland soll es bei uns nicht werden? Das ist doch nun wirklich Ausdruck der Tatsache, dass andere Länder wissen, sie können es anders machen als Deutschland. Dies ist der Unterschied zwischen uns und den anderen: Dort weiß man um die Gestaltungsmöglichkeiten und handelt. Sie gestalten Politik eben nicht. ({21}) Herr Bundeskanzler, nun haben Sie in den letzten Tagen viele Interviews gegeben und sich mit dem Gemeinwohl befasst. Sie haben einen Gegensatz zwischen den Partikularinteressen, den Einzelinteressen und dem Gemeinwohl beschrieben. Sie haben gesagt: Ich muss mir den Freiraum dafür erkämpfen, dass ich das Gemeinwohl gegen die Einzelinteressen durchsetzen kann. ({22}) Ich möchte Sie als Erstes bitten, dass Sie von dieser Pauschaldiffamierung aller Verbände in diesem Land ein Stück Abstand nehmen. Es gibt viel ehrenamtliches Engagement, ohne das wir in diesem Land nicht auskommen würden. ({23}) Ich frage Sie: Was tritt denn eigentlich an die Stelle der von Ihnen so verfemten Verbände? Wer soll denn, bitte schön, das Gemeinwohl definieren? ({24}) Ich gewinne hier den Eindruck, dass an die Stelle aller Verbände nur noch einer tritt, der die Definitionshoheit, also sozusagen den Alleinvertretungsanspruch hinsichtlich des Gemeinwohls hat, und das ist der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Das hielte ich nun wirklich für fatal. Hierbei machen wir mit Sicherheit nicht mit. ({25}) Herr Müntefering leitet ein: Weniger für den privaten Konsum ausgeben und dem Staat das Geld geben, damit die Kasse stimmt! - Herr Gabriel in Niedersachsen tönt dazu: Die Menschen verballern immer noch Millionen zu Silvester. Auch dies könnte dem Staat zufließen. - Ich werde jetzt meine überschüssigen Wunderkerzen abgeben, die ich noch zu Hause in der Schublade habe. Vielleicht hilft es ja. ({26}) Ministerpräsident Beck möchte natürlich auch dabei sein. Zitat: „Beinahe würde ich mit Asterix sagen: Die spinnen nicht die Römer, sondern in dem Fall die Deutschen.“ Wir sind ganz kurz davor, dass wir mit Bertolt Brecht fragen müssen: Wäre es nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes? Das sind Ihre Maxime und wohl Ihre Hoffnung, Herr Bundeskanzler. ({27}) Nun weiß auch ich, dass wir uns natürlich um das Gemeinwohl kümmern müssen. ({28}) Die Definition des Gemeinwohls steht im Übrigen - das sage ich auch - keiner Person zu, ({29}) sondern das Gemeinwohl entsteht in einer Demokratie, wenn Parteien in einem fairen Wettstreit um die beste politische Lösung ringen. ({30}) Genau an diesem fairen Wettstreit werden wir uns beteiligen. ({31}) Deshalb müssen wir einmal überlegen: Was sind eigentlich unsere Maßstäbe dafür, wie wir vorgehen wollen? Herr Bundeskanzler, ich habe mir viel Mühe gegeben, vor dieser Rede einmal zu überlegen: Was könnte denn ein Maßstab oder eine verlässliche Grundlage sein, auf der wir hier miteinander darum ringen können: Tun wir das Richtige? Tun wir das Falsche? Wie sind unsere Ideen zu bewerten? Ich habe gedacht, ein Fundament könnte doch sein: Wenn sich eine Bundesregierung einen Sachverständigenrat beruft - das tut sie selbst und gibt eine Menge Geld dafür aus -, ({32}) dann könnten wir uns in diesem Haus doch einfach einmal über die Ratschläge der Sachverständigen unterhalten ({33}) und fragen: Wie steht welche Partei zu dem Ratschlag der Sachverständigen? ({34}) Nun bin ich gestern Abend natürlich wieder in leichte Depression verfallen; ({35}) denn der Herr Stiegler, der heute gar nicht mehr richtig auf Deck darf, ({36}) hat uns gesagt, dass alles das, was von Leuten mit Professorentitel kommt, irgendwie Geschwätz ist. Sie haben sich diese Meinung nicht zu Eigen gemacht, Sie haben das aber auch nicht zurückgenommen. Ich vertraue weiterhin darauf, dass die von Ihnen berufenen Sachverständigenräte hinreichend Neutralität haben - drei der Professoren sind übrigens in der SPD -, sodass wir uns darüber unterhalten können. Der Sachverständigenrat setzt sich gleich im ersten Punkt damit auseinander, wie es weitergehen muss, und mit der Frage, warum wir eine Wachstumskrise haben. Ich unterstelle jetzt einmal den Fall: Wir können uns noch darauf verständigen - da bin ich mir bei den Grünen leider nicht so sicher -, dass Wachstum ein Schlüssel für eine gute Entwicklung dieser Gesellschaft ist. Dazu sagt der Sachverständigenrat, dass nur ein konsequenter Steuersenkungskurs die Not in diesem Land wenden kann. ({37}) Dieser Steuersenkungskurs müsse sicherlich mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, aber gleichzeitig auch ({38}) mit einer Senkung der Steuersätze verbunden sein. Sie verbreitern die Bemessungsgrundlage, aber Sie erhöhen die Steuern, statt sie zu senken - glatte Fehlentscheidung gegenüber der Empfehlung des Sachverständigenrats! ({39}) All die Steuererhöhungen, die Sie vorhaben, erschließen sich ohnehin kaum noch - für Hundefutter bleibt die Mehrwertsteuer bei 7 Prozent; kriegt die Kuh Futter, gilt ein höherer Mehrwertsteuersatz -; ich weiß nicht, ob Sie das alles besser verstehen. Ich bin Physikerin; mir ist das zu hoch. Es scheint aber auch in den Reihen der SPD schwer verständlich zu sein; denn unsere schleswig-holsteinischen CDU-Kollegen haben einen flehenden Brief der Landwirtschaftsministerin aus Schleswig-Holstein bekommen, nach dem sie sich doch dafür einsetzen möchten, dass die Erhöhung der Besteuerung von Baumschulen in Schleswig-Holstein verhindert wird. Die Opposition sozusagen als tatkräftiger Helfer gegenüber dem Unsinn der Regierung - diese Rolle nehmen wir gern an, Herr Bundeskanzler. ({40}) Nun kommen wir mal zu der im Augenblick ja in aller Munde befindlichen Vermögensteuer. ({41}) Unbeschadet dessen, dass eine Kompensation dafür, dass die Vermögensteuer nicht mehr erhoben wird, bereits erfolgt ist, gibt es jetzt den Vorschlag, die Vermögensteuer wieder einzuführen. ({42}) Ganz vornweg sind dabei Herr Gabriel und Herr Bökel, die ja unter besonderem Druck stehen. Jetzt sage ich Ihnen ganz einfach: Das können wir tun. Wir werden das so machen, dass wir Gesetzentwürfe mit dem Ziel der Außerkraftsetzung des Torsos der bundesweiten Grundlage zur Erhebung der Vermögensteuer einbringen - das werden wir im Bundesrat tun, damit sich Herr Gabriel auch gleich dazu äußern kann -, und darin werden wir ausdrücklich regeln, dass der Bund auf seine Kompetenz, diese Steuer zu erheben, verzichtet. Dann können die Länder zuschlagen, wo immer sie wollen. ({43}) Herr Bundeskanzler, als Herr Gabriel, der Ministerpräsident in Niedersachsen, davon gehört hat, hat er gleich gesagt, so gehe das nicht; ({44}) denn wenn das gemacht werde und Niedersachsen die Steuer erhöbe, führte das dazu, dass sich das Kapital aus Niedersachsen in andere Bundesländer verflüchtige, was er nicht wolle. ({45}) Herr Bundeskanzler, was für das Verhältnis von Niedersachsen zu Nordrhein-Westfalen oder Bayern gilt, das gilt auch für das Verhältnis von Deutschland zu Österreich und Holland. Bei der Globalisierung geht so etwas eben nicht. ({46}) Es ist abenteuerlicher Unsinn, eine Steuer zur Finanzierung der Bildung erheben zu wollen. Ich sage Ihnen: Die niedersächsischen Schüler hätten mehr davon, wenn Sie die Tausenden von Beamten, die Sie zur Erhebung der Vermögensteuer brauchen, als Lehrer in Niedersachsen anstellen würden. Dann hätten sie in den nächsten zwei Jahren wenigstens vollen Unterricht. ({47}) Das eigentlich Gravierende, das an all Ihren Maßnahmen deutlich wird, ist, dass Sie nicht an Wachstum glauben. Sie glauben nicht daran, dass man auch auf anderem Weg mehr Geld in die Kasse bekommen kann als dadurch, unentwegt an der Steuerschraube zu drehen. Und das tun Sie auch noch in einer Art und Weise, die all diejenigen bestraft, die versuchen, für die Risiken ihres Lebens Vorsorge zu tragen. Es kommt derjenige gut durch, der auf den Bahamas alles verjubelt hat oder der sein Geld jeden Abend in der Kneipe verprasst. ({48}) Schlecht weg kommen hingegen diejenigen, die Anteile kaufen, die in Fonds anlegen, die Aktien kaufen oder Lebensversicherungen abschließen. Sie alle werden geschröpft. Das ist der falsche Weg, wenn Sie, wie Frau Göring-Eckardt beteuert, mehr Eigenverantwortung wollen. ({49}) Ich hätte erwartet, von Ihnen heute wenigstens eine mittelfristige Vision dazu zu hören, wie man aus diesem Steuerkuddelmuddel wieder herauskommt. Es gibt in unserer Gesellschaft vielerlei Versuche, zum Beispiel von Herrn Professor Kirchhof, mit einer durchschlagenden Steuerreform die Akzeptanz der Bürger für das, was in Deutschland passiert, zu erhöhen. Wir haben uns davon nicht verabschiedet. Wir werden dranbleiben und werden eine Steuerreform ausarbeiten, die einfach, transparent und für die Bürger verständlich ist. Wenn Sie nicht mitmachen, dann legen wir alleine einen Vorschlag dazu vor. ({50}) Ein weiterer großer Komplex über den Sie heute gesprochen haben und der auch im Sachverständigengutachten behandelt wird, ist der Arbeitsmarkt. ({51}) Deutschland hat nicht nur weniger Wachstum als die meisten Länder um uns herum, unser Land braucht auch ein besonders hohes Wachstum, bevor hier neue Arbeitsplätze entstehen. Es wäre ein ganz ehrenwertes Ziel, wir würden es schaffen, dass wie in anderen Ländern auch bereits bei einem Wachstum von 1,5 Prozent neue Arbeitsplätze entstehen und nicht erst bei einem Wachstum von 2,5 Prozent. ({52}) Wie ist das zu schaffen? Sie versuchen das mit dem Hartz-Konzept. ({53}) Wenn Sie den Vorschlag von Hartz wenigstens eins zu eins umsetzen würden! Aber Sie müssen ja sogar aufpassen, dass Ihnen Herr Hartz nicht das Gebrauchsrecht für den Namen entzieht, weil er selber so unzufrieden ist. ({54}) Ich sage Ihnen: ({55}) Wir müssen die Selbstständigkeit fördern. ({56}) Dazu reicht es aber nicht aus, durch die Zusammenlegung von zwei schon bestehenden Banken eine neue Bank zu gründen. Dazu müssen vor allen Dingen die Sparkassen beitragen, von denen ich, wie Sie, der Meinung bin, dass sie ihre Arbeit machen müssen. Man braucht auch nicht die Ausrede Basel II heranzuziehen. Aber da die konjunkturelle Lage in unserem Land im Moment so ist, dass es 40 000 Insolvenzen gibt, ist offentsichtlich auch die Berechenbarkeit für die Vergabe von Krediten für die deutschen Bankinstitute schlechter geworden. Sorgen Sie deshalb dafür, dass es nicht so viele Insolvenzen gibt; dann können die Banken auch wieder bessere Kredite vergeben. Das ist die Wahrheit, Herr Bundeskanzler. ({57}) Sie werden mit der verquasten Ich-AG keine neuen Arbeitsplätze und keine Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt schaffen. Das deutsche Handwerk ist froh, dass seine Berufe endlich aus der Definition herausgenommen wurden, und der Bundesfinanzminister ist bis heute noch nicht in der Lage, einen Steuersatz dafür festzulegen. Was soll das also für eine Institution sein? Deshalb fordern wir - auch Friedrich Merz hat das gestern gesagt -: Wir brauchen eine richtige Förderung aller Selbstständigen durch weniger Bürokratie und durch die Abschaffung des Scheinselbstständigkeitsgesetzes. ({58}) Das wäre heute ein offenes Wort von Ihnen wert gewesen. Unsere Zustimmung wäre Ihnen sicher. ({59}) - Hören Sie zu, Herr Poß, bevor Sie wieder schreien: Nichts, nichts, nichts! Ich komme auf die Entlastung im Dienstleistungsbereich in Zeiten der Globalisierung zu sprechen. Sie schlagen uns Folgendes vor: Wenn Sie die Tür von innen wischen, gibt es 500 Euro. Das ist die eine Sorte der Beschäftigung. ({60}) Eine andere Sorte von Beschäftigung ist: Wenn Sie die Tür von außen streichen, wird nach dem alten 630-DM-Gesetz bezahlt. Eine dritte Sorte von Beschäftigung ist: Wenn Sie das Schloss an der Tür durch jemanden von der Personal900 Service-Agentur reparieren lassen, wird nach Verdi-Tarif und möglichst noch nach BAT bezahlt. - Das ist die Wahrheit Ihrer Entbürokratisierung. Dazu haben wir wirklich bessere Vorschläge. ({61}) Wagen Sie doch den mutigen Sprung im Bundesrat! Die Türen sind doch gar nicht verschlossen; ich weiß gar nicht, wovon Sie da die ganze Zeit geredet haben. Im Bundesrat ist alles an den Vermittlungsausschuss überwiesen worden. ({62}) Nichts ist blockiert oder abgelehnt worden. Morgen findet die Sitzung statt. Dann überlegen wir einmal, was gut für Deutschland ist. Herr Bundeskanzler, Sie legen sich ja derzeit mit jedem in Deutschland an, aber in der „Zeit“ haben Sie als Erstes erklärt, dass dies mit den Gewerkschaften nicht nötig ist. Nun haben Sie uns heute umfänglich das Konzept bei der Leih- und Zeitarbeit erläutert: ein Riesenpaket von Tarifverhandlungen mit allen möglichen Abstufungen nach oben und unten. Können Sie mir einmal erklären, warum es in Deutschland nicht möglich ist, für eine begrenzte Zeit, maximal zwölf Monate, einfach den Betrieben, den Entleihern und den Leihern zuzutrauen, sich ohne ein riesiges Paket von abgestuften Tarifverträgen und Regelungen einigen zu können? Das muss doch in diesem Land möglich sein. ({63}) All diese umständlichen Regelungen, die uns jetzt beim Kampf zwischen den Branchengewerkschaften wieder ereilen werden, ob hier Verdi, die IG Chemie oder die IG Metall tätig werden darf, beschließen Sie doch nicht, weil Sie sie für richtig halten. Das wissen wir doch: Nicht einmal Herr Clement hält sie für richtig; bei den anderen weiß ich das nicht. - Das ist schlicht Ihr Dankeschön für die Unterstützung der Gewerkschaften, die von ihrer Parteiunabhängigkeit abgewichen sind und die Sozialdemokraten in diesem Wahlkampf unterstützt haben. Das ist die reine Wahrheit. Es geht nicht um die Menschen, sondern um ein einfaches Dankeschön. ({64}) Jetzt kommt wieder unsere Alternative. Globalisierung bedeutet, dass die betriebliche Realität viel vielfältiger wird, als das in der Industriegesellschaft der Fall war. ({65}) Weil das so ist, sagen wir: Wenn es um die Sicherung von Beschäftigung geht, ({66}) dann sollten wir im Betriebsverfassungsgesetz den Betriebsräten die Möglichkeit eröffnen, mit den Arbeitgebern betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen, ({67}) gegen die die Tarifpartner bei einem begründeten Widerspruch Einspruch erheben können. Ich frage Sie: Warum trauen Sie das den Menschen nicht zu? Sie haben es im Übrigen dort, wo Sie als Helfer tätig waren, nämlich bei Holzmann, durchgedrückt. Aber wenn es der normale kleine Mittelständler haben will, ({68}) dann sperren Sie sich, weil Sie eben nicht bereit sind, Flexibilisierung zuzulassen und Vertrauen in die Menschen vor Ort zu setzen. Das ist die Wahrheit: Regulierung durch den Staat ist auf alles Ihre Antwort. ({69}) Dies ist übrigens ein Vorschlag des Sachverständigenrates, den Sie nicht umsetzen. Genauso fordert der Sachverständigenrat: Wir müssen schnellstens dahin kommen, dass sich Arbeit lohnt. Wer arbeitet, muss mehr bekommen, als wenn er nicht arbeitet. Dazu brauchen wir flexible Regelungen. Die hessische Landesregierung hat dazu eine entsprechende Initiative in Form des OFFENSIV-Gesetzes im Bundesrat eingebracht. Damit könnte experimentiert werden. Sie haben es aufgehalten, weil Sie im Bundestag dagegen gestimmt haben, sonst wäre Deutschland weiter. ({70}) Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie diesem Gesetz zu! Dann kann es morgen in Kraft treten und wir gewinnen endlich Spielräume in Deutschland. ({71}) Darüber hinaus hat sich der Sachverständigenrat richtigerweise mit den sozialen Sicherungssystemen auseinander gesetzt, insbesondere mit dem Gesundheitssystem. Die grundsätzlichen Empfehlungen, die auch ich nicht alle im Detail teile - das sage ich ganz ausdrücklich -, gehen in eine Richtung: mehr Wettbewerb. ({72}) Was Sie in der Bundesregierung machen, hat mit Wettbewerb im Allgemeinen wirklich nichts zu tun. Sie haben über die Apotheken gesprochen. Sagen Sie doch bitte einmal die Wahrheit darüber, was Sie bei den Apotheken vorhaben! Haben Sie mit dem Apothekerverband gesprochen und sich das aktuelle Verfahren erklären lassen? Dass sie den Krankenkassen einen Rabatt gewähren müssen, sind die Apotheker bereits gewöhnt. Darüber hinaus sind aber auch Rabatte für den Großhandel und den Arzneimittelhersteller vorgesehen. ({73}) Abgesehen davon, dass Sie gegenüber der pharmazeutischen Industrie wortbrüchig geworden sind, ({74}) bleibt es jetzt dem Apotheker überlassen, die unterschiedlichen Rabatte vom Hersteller bis zum Großhändler wieder einzutreiben. Das heißt, Sie schaffen mehr Bürokratie, statt sie abzubauen. Deshalb sind wir dagegen, Herr Bundeskanzler. ({75}) Ich weiß nicht, was das Gerede der Frau Bundesgesundheitsministerin über die Vielzahl von Krankenkassen soll. Schließlich hat sich der Markt in diesem Bereich schon ein Stück weit entwickelt. Statt der einst 600 Krankenkassen gibt es nur noch etwas mehr als 300. ({76}) Das ewige Gerede über die große Zahl der Krankenkassen mit dem Hintergedanken, die AOK werde am besten zu einer Allgemeinen Zentralen Krankenkasse umgestaltet, werden wir nicht mittragen, weil der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ein Element des Wettbewerbs im Gesundheitswesen darstellen wird. ({77}) Mit all unseren Vorstellungen, ob Gesundheit, Arbeitsmarkt oder Steuern, stehen wir - das kann ich sicherlich weitgehend unwidersprochen feststellen ({78}) dem von Ihnen einberufenen Sachverständigenrat wohl näher als Sie. Ich wundere mich schon darüber, dass Sie in einem solchen Umfang Steuermittel einsetzen, ohne sich auch nur einmal auf Ihren eigenen Sachverständigenrat zu berufen. Sie könnten zumindest erläutern, warum Sie die Ratschläge nicht annehmen. So aber kann es nicht weitergehen. Dann berufen Sie lieber keine Sachverständigenräte mehr ein, sondern sagen gleich, dass Sie sich selbst genug sind. Das wäre schließlich auch eine Erkenntnis für das deutsche Volk. ({79}) Zum Thema Rente. Auch wir haben - das gebe ich wieder ehrlich zu ({80}) zu lange gesagt, die Rente sei sicher. Wir haben dann aber 1998 als ersten wichtigen Schritt den demographischen Faktor eingeführt. Wir haben heute bereits über den politischen Umgang miteinander gesprochen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang feststellen: Seinerzeit war das Verhetzungspotenzial gegen die Einführung des demographischen Faktors wider besseres Wissen so groß, dass Sie sich, als Sie die Wahl gewonnen hatten, selbst nicht mehr getraut haben, den demographischen Faktor beizubehalten. Anschließend mussten Sie sogar Herrn Riester entlassen, weil er den blümschen demographischen Faktor nicht erhalten durfte und deshalb so viel Murks machen musste. Das ist die Wahrheit! ({81}) Als wir seinerzeit den demographischen Faktor eingeführt haben, haben wir darauf hingewiesen, dass dies nur ein erster Schritt sein kann. Deshalb war es vom Grundsatz her richtig, dass Sie eine freiwillige private kapitalgedeckte Vorsorge eingeführt haben. Jetzt wollen Sie sie zu einer zweiten Säule der Rentenversicherung weiterentwickeln. Eine zweite Säule der Rentenversicherung haben Sie bereits, nämlich die Zapfsäule. Die funktioniert gut. ({82}) Aber wenn die private kapitalgedeckte Vorsorge wirklich zu einer zweiten Säule weiterentwickelt werden soll, darf man nicht, wie Sie es heute ausgeführt haben - ich habe es genau mitgeschrieben -, sagen: „Vereinfachung, wo notwendig!“. Sie regieren schließlich jetzt und stellen nicht irgendwelche Vorhaben für die Zeit in zehn Jahren vor. Schmeißen Sie doch den gesamten bürokratischen Schrott heraus und beschränken Sie sie auf wenige Kriterien; dann wird die private Vorsorge auch wirklich eine zweite Säule! Wir beteiligen uns, Herr Bundeskanzler. ({83}) Ich habe im Interesse der Menschen, vor allem der älteren Menschen, eine Bitte. Ich halte das, was die Grünen erreicht haben, zwar für richtig, nämlich dass eine Kommission zur Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme eingesetzt wird. Als beschwerlich empfinde ich es aber, dass Sie den Chef dieser Kommission nicht davon abhalten können, jedes Wochenende irgendein Interview abzusondern. Noch schlimmer erscheint mir, dass sich nun auch noch jemand aus Ihren Reihen über das „Professorengeschwätz“ und Sonstiges beschwert. Ich möchte mich dazu an dieser Stelle nicht weiter äußern. Sie müssen schon zum Ausdruck bringen, was Sie wollen, Herr Bundeskanzler. Hat diese Kommission Ihre Unterstützung oder ist sie nur eine Beruhigungspille für die Grünen? Ist es Ihnen eigentlich völlig egal, was bei dieser Kommission herauskommt? Soll in den nächsten zehn Jahren überhaupt etwas passieren oder wollen Sie weiterhin von Tag zu Tag abwarten? Auf diese Fragen haben Sie heute keine Antwort gegeben. Sie haben nichts, aber auch gar nichts dazu gesagt. ({84}) Wir werden Vorschläge auch für eine langfristige Sicherung der Sozialsysteme vorlegen. ({85}) Die Wahrheit ist: Sachverstand in Deutschland liegt vor. Der von Ihnen eingesetzte Sachverstand ist von mir zitiert worden. Ich sage Ihnen aber: Mit der jetzigen Koalition und insbesondere mit der jetzigen SPD-Truppe können Sie, Herr Bundeskanzler, die notwendigen Reformen in Deutschland nicht auf den Weg bringen. Deshalb sind Sie führungsschwach und den Aufgaben, die heute in Deutschland zur Erledigung anstehen, nicht gewachsen. Das ist die Wahrheit. ({86}) Soziale Marktwirtschaft bedeutet auch heute auf der einen Seite wirtschaftliche Effizienz - darüber, dass diese mit Ihnen nicht zustande kommt, habe ich eben gesprochen - und auf der anderen Seite moralische Qualität. Da902 mit komme ich auf gesellschaftspolitische Fragen zu sprechen. Ich möchte ganz klar sagen: Wo immer Frauen und Männer, Väter und Mütter erwerbstätig sein wollen, werden wir sie unterstützen und die Grundlagen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern; das ist keine Frage. Aber wir wollen eine Politik, die die Kommunen vor Ort - um deren Zustimmung müssen auch Sie jetzt buhlen - finanziell in die Lage versetzt, die entsprechenden Aufgaben durchzuführen. Deshalb fordere ich Sie auf: Machen Sie eine ordentliche Steuerreform und beteiligen Sie die Kommunen angemessen am Steueraufkommen! Dann wird sich auch das Kinderbetreuungsangebot verbessern. Machen Sie nicht den Umweg über die Ganztagsbetreuung von oben! Das ist Reichszentralismus und entspricht nicht dem, was wir unter Subsidiarität in Deutschland verstehen. ({87}) Sie haben einen neuen Generalsekretär, der auch uns ab und an überrascht. Er hat für die Sozialdemokratie wegweisende Äußerungen - diesen ist bis heute nicht widersprochen worden - über die Notwendigkeit einer kulturellen Revolution gemacht und will die Lufthoheit über den Kinderbetten erobern. Glauben Sie - ich frage das vor allen Dingen die Grünen - eigentlich ernsthaft, dass deutsche Eltern sehnlichst darauf warten, dass der Generalsekretär Olaf Scholz als Vertreter der deutschen Avantgarde an ihrer Haustür klingelt, das Kind aus dem Laufställchen reißt, der Mutter am besten noch ein rotes Stirnband von Che Guevara umbindet und anschließend erklärt, dass es eine Besuchserlaubnis für die Eltern nur noch jeden letzten Montag im Monat gebe, aber auch nur dann, wenn sie vorher auf das Ehegattensplitting verzichteten und nach 20 Uhr aus dem Büro kämen? ({88}) Solange die Union in Deutschland etwas zu sagen hat, werden wir dafür sorgen, dass sich über deutsche Kinderbetten die deutschen Eltern und sonst niemand beugt. Das ist unser Ansinnen. ({89}) In Zeiten der Globalisierung ist es wichtig und notwendig, dass ein Land nicht nur im Innern erfolgreich ist, sondern auch Verlässlichkeit nach außen ausstrahlt. Es ist schon relativ absurd - das ist noch freundlich formuliert -, dass Sie, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der in schamloser Weise Wahlkampf mit der Kriegsangst der Menschen gemacht hat, ({90}) es wagen, uns vorzuwerfen, die Diskussion über die Mitgliedschaft der Türkei in der EU werde deshalb geführt, weil wir Wahlkämpfe gewinnen wollten. Das ist absurd und fern der Realität, Herr Bundeskanzler. ({91}) Ich finde es bemerkenswert, dass Sie heute nur aufgrund unseres Antrages zu diesem wichtigen Thema etwas sagen. ({92}) Der Rat in Helsinki - ich habe es mir inzwischen von Leuten erzählen lassen, die dabei waren - hat in einer Art Überfallaktion und in wenigen Minuten darüber befunden, dass man der Türkei eine Vollmitgliedschaft in Aussicht stellen will. Es gab keine Debatte dort über den jetzigen Zustand, es gab keine Debatte in der Bevölkerung und in diesem Parlament. Heute heißt es: Weil es Helsinki gab, müssen wir natürlich in Kopenhagen weitermachen. ({93}) Herr Bundeskanzler, das Thema ist in jeder Hinsicht - ich hoffe, Frau Roth ist noch anwesend, damit sie nachher nicht wieder falsches Zeug erzählt - zu ernst. Die Türkei ist in einem komplizierten außenpolitischen und innenpolitischen Prozess. Es darf nicht sein, dass ein großes Land wie Deutschland und die Europäische Union Signale aussenden, die für die Türkei innenpolitisch so verstanden werden können, dass wir sie zurückweisen und ihnen falsche Versprechungen machen. Deshalb sage ich Ihnen: Es war ein Fehler, dass in Europa über Jahre zu wenig Ehrlichkeit in der Frage der Türkei geherrscht hat. ({94}) - Auf das Kohl-Zitat komme ich gleich zu sprechen. Ich wünschte mir, Helmut Kohl wäre immer so oft Ihr Kronzeuge, wie er es heute ist. Dann wären wir in Deutschland weiter, meine Damen und Herren. ({95}) Die Türkei ist in einem ausgesprochen schwierigen Prozess. Der Internationale Währungsfonds hat massiv stützen müssen, damit die wirtschaftlichen Daten so sind, wie sie sind. Die Türkei hat heute 60 Millionen Einwohner - sie wird in zehn Jahren vielleicht mehr Einwohner haben als wir -, ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 22 Prozent des europäischen Durchschnitts, in diesem Jahr eine Inflationsrate von 40 Prozent und ein Staatsdefizit von 15 Prozent, ({96}) sodass alleine schon die ökonomischen Grundlagen dafür sprechen, dass man außerordentlich vorsichtig sein muss. ({97}) Derzeit - das wissen auch die Grünen - gibt es in der Türkei ein Strafverfahren gegen die Mitarbeiter der politischen Stiftungen. Der Bundespräsident hat sich dankenswerterweise der Sache angenommen. ({98}) Gegen die Mitarbeiter unserer Stiftungen gibt es massive Gefängnisandrohungen für ganz normale politische Betätigungen. Glauben Sie wirklich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, der Türkei zu sagen, ab 2004 können wir vielleicht Beitrittsverhandlungen führen? ({99}) Sie begeben sich doch in einen unglaublichen Beschleunigungsprozess. Sie stehen doch am Ende unter einem großen Druck. Mit der Begründung, wenn wir es jetzt nicht machen, dann geht in der Türkei die Entwicklung nicht richtig voran, begeben Sie sich in eine Zwangslage, die ich mir für die Europäische Union niemals vorstellen konnte und die ich nicht für richtig halte, meine Damen und Herren. Darüber muss in diesem Hause gesprochen werden. ({100}) Herr Bundeskanzler, 1963 ging es um eine Zollunion. 1997 hatten sich die Dinge weiterentwickelt. Die Perspektiven, die Helmut Kohl damals genannt hat, halte ich persönlich immer noch für optimistisch. Damals schienen sie jedoch erreichbarer als heute. Heute sprechen wir jedoch nicht über Mittelfristigkeit, über irgendwann und irgendwo, sondern beim Rat in Kopenhagen - wir sind gespannt, was Sie heute Abend mit Jacques Chirac besprechen - wahrscheinlich über den 1. Januar 2004. Die Türken werden natürlich Erwartungen mit diesem Tag verbinden. Wenn man so meilenweit in der politischen Struktur von dem entfernt ist, was man in Europa - auch im Verfassungskonvent - unter dem politischen gemeinsamen Europa versteht, dann darf und kann man solche Angebote nicht machen. Ich halte das für unverantwortlich. Das hat mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun. ({101}) Über die Grünen wundere ich mich wirklich. Sehen Sie sich das doch einmal an. Bauen Sie doch einmal eine Kirche in der Türkei. Sehen Sie sich einmal den Umgang mit Minderheiten und das Frauenbild an. ({102}) Glauben Sie, in den nächsten zwölf Monaten wird sich dort etwas verändern? Meine Damen und Herren, wir nehmen gerade zehn neue Länder in die Europäische Union auf. Die Menschen müssen der Politik folgen können. Es hilft der Türkei nicht, wenn wir sagen: Nur weil ihr nicht das richtige Angebot bekommt, haben wir Verständnis dafür, wenn euer politischer Prozess nicht vernünftig läuft. ({103}) Es kann nicht zum Prinzip der Europäischen Union werden - das sage ich noch einmal in allem Ernst -, dass ein Land, wenn man ihm einen Gefallen nicht tut, sich falsch entwickelt. ({104}) Ein Land muss seinen Demokratisierungsprozess einzig und allein aus sich selbst heraus schaffen. Ansonsten ist das Fundament auf Sand gebaut. Davon bin ich zutiefst überzeugt, Herr Bundeskanzler. ({105}) Die außenpolitischen Probleme mit Amerika sind natürlich überhaupt nicht geglättet. ({106}) Sie schmücken sich jetzt mit der UN-Resolution, Sie schmücken sich mit Kofi Annan. Kofi Annan war beim amerikanischen Präsidenten und hat das Vorgehen besprochen. Es wäre kein einziger Inspekteur heute im Irak, wenn man nach deutschem Gusto verfahren wäre. Diese Entwicklung ist Amerika zu verdanken und sonst niemandem. ({107}) Was die Verlässlichkeit im Verhältnis zu Amerika angeht, gibt es erhebliche Zweifel. Alle spannenden Fragen sind offen. Ich hoffe genauso wie Sie, dass es im Irak zu keinem Krieg kommt. Aber wenn es dazu kommt, ist doch überhaupt nicht klar, wie in der Bundesregierung bei den einzelnen Fragen vorgegangen wird. Wie wird es denn mit den Spürpanzern werden - Anruf in Deutschland, Warnung über Amerika: biologischer Alarm oder chemischer Alarm? Was macht dann der deutsche Spürpanzer? Darf der Soldat darin seinem amerikanischen Kameraden helfen oder darf er es nicht? Wen muss er fragen? Wer entscheidet? Sagen Sie uns beizeiten, wie Sie sich das alles vorstellen. Es besteht ein großes Wirrwarr, weil Sie Ihre falschen Wahlversprechungen aufrechterhalten wollen und falsche Brandmauern ziehen. Zumindest die Meinung der Union ist: Wir werden amerikanischen Soldaten immer helfen. ({108}) Überlegen Sie sich einmal, wie es sich mit der Verlässlichkeit bei einem ganz einfachen, aber entscheidenden Projekt verhält. Wenn wir möchten, dass Europa im Verhältnis zu Amerika auch eigene Interessen vertreten kann, dann brauchen wir in Europa eine eigenständige militärische Rüstungsentwicklung. Jetzt sehen Sie sich einmal die Geschichte - fast hätte ich gesagt: die Skandalgeschichte - zur Beschaffung des Transportflugzeuges A400M an, geschmückt mit unseren Gängen zum Bundesverfassungsgericht. Ganz Europa wird danken, wenn sich endlich nach Monaten die deutsche Regierung dazu durchringt, eine abschließende Zahl für diese Transportflugzeuge zu nennen. Wir haben die Nerven und die Bereitschaft der europäischen Rüstungsindustrie bei diesem einen öffentlich bekannt gewordenen Punkt bis aufs Äußerste gespannt. Ich will nicht wissen, bei wie vielen Projekten wir europäische Initiativen versäumen, weil Deutschland eben keine Steigerung beim Verteidigungsetat hat. Eine solche Steigerung muss es in Deutschland geben, damit dieses Land in Europa und in der Welt mitspielen kann. ({109}) Deshalb ist Verlässlichkeit innenpolitisch und außenpolitisch so wichtig. Roman Herzog hat nicht ohne Bedacht gesagt, wir hätten in Deutschland eine handfeste Vertrauenskrise. Wir haben nicht nur Politikverdrossenheit, sondern wir haben eine Krise des Vertrauens in Deutschland. ({110}) - Hören Sie zu und schreien Sie nicht immer so viel, Herr Poß. Ohne das Vertrauen der Bürger werden Sie keinen einzigen Bürger davon überzeugen, dass Veränderungen in unserem Land notwendig sind. ({111}) Wenn Sie wirklich ein einsichtiger und großer Bundeskanzler hätten werden wollen, dann hätten Sie sich heute hier hingestellt, hätten sich bei den Deutschen für Ihren Wahlbetrug entschuldigt und hätten gesagt, Sie beriefen sich auf den Sachverstand und Sie seien bereit, mit der Opposition jedes Jahr einmal zu messen, wie weit Deutschland vorangekommen sei. Dann hätten wir es nicht nötig gehabt, noch einmal das auf die Tagesordnung zu bringen, was wir im Untersuchungsausschuss auf die Tagesordnung bringen müssen. ({112}) Ich sage ganz klar: Wir kämpfen mit diesem Untersuchungsausschuss dafür, ({113}) dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einen Wahlkampf, wie sie ihn zuletzt erlebt haben, und solche Momente gespielter Überraschung am Tag nach der Wahl nicht wieder erleben müssen. Das ist unser Ansinnen. Wir müssen Ihnen mit diesem Untersuchungsausschuss auf den Zahn fühlen und herausbekommen, was Sie gewusst haben, ob Sie gelogen, betrogen oder Wahrheiten verschwiegen haben. ({114}) Wir werden dort ohne Schaum vorm Mund, ganz sachlich und auf die Zukunft ausgerichtet reden. ({115}) Lassen Sie mich mit einem Zitat von Gerhard Schröder enden. Er hat in einer bemerkenswerten Rede gesagt: Demokratie ... braucht starke Charaktere, starke Persönlichkeiten. Nicht Stärke, sondern Schwäche kommt zum Vorschein, wenn Politiker dem Bürger, dem Wähler nicht zutrauen, dass er die Wahrheit verträgt. ... Ein derartiges Verhalten greift die Wurzeln der Demokratie an, ({116}) es ruiniert Glaubwürdigkeit und Vertrauen, ohne die die Demokratie nicht leben und funktionieren kann. ({117}) Ich hätte mir gewünscht, Gerhard Schröder wäre wie dieser Gerhard Schröder. Aber leider sagte dies der von der CDU gestellte Außenminister Gerhard Schröder vergangener Jahre. Dem heutigen Bundeskanzler Gerhard Schröder kämen solche Aussagen nicht über die Lippen. Er ist heute nicht jener Gerhard Schröder, sondern der Bundeskanzler, der von einer ziemlich unfähigen Fraktion getragen wird. Herzlichen Dank. ({118})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Franz Müntefering von der SPD-Fraktion. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte gilt als die Stunde der Opposition. In dieser Debatte kann sich die Opposition nämlich mit der Politik der Bundesregierung insgesamt auseinander setzen. Dass das geschieht, haben wir erwartet. Aber Frau Merkel, die die Oppositionsführerin sein will, hat heute Morgen gekniffen und den Gassenhauer Glos vorgeschickt. Das zum Thema „Führung der Opposition“, sehr geehrte Frau Merkel. ({0}) Gestern erlebten wir einen schwächelnden Merz - er verhedderte sich im Zahlengestrüpp - und heute einen pöbelnden Glos. Im Vergleich zu der Art und Weise, wie sich Frau Merkel soeben ausdrückte, ist - da haben einige schon Recht -, die Sprache der „Bild“-Zeitung Literatur. ({1}) Die Ausreißer, die Sie sich leisten, gehen über das hinaus, was in der Demokratie und insbesondere in diesem Parlament üblich sein sollte. ({2}) Von Verantwortung gegenüber diesem Land und gegenüber diesem Staat war wenig zu hören. In Ihrer Rede haben Sie vor allen Dingen viel agitiert und diffamiert. Sie haben versucht, Menschen persönlich anzugreifen. Frau Merkel, ich sage Ihnen: Es ist Zeit, dass wir uns in diesem Land besinnen. Es ist Zeit, dass Sie endlich verstehen: Mit der Art, wie Sie Opposition machen, muss Schluss sein. Das, was Sie machen, hat wenig mit Opposition zu tun. Sie versuchen, jenseits der demokratischen Regeln Menschen in diesem Lande und auch die Bundesregierung zu diffamieren. Hören Sie damit auf und besinnen Sie sich! ({3}) Sie haben angekündigt, im Vermittlungsausschuss morgen Abend solle alles offen sein. Das ist eine interessante Mitteilung. Ich bin sehr gespannt, ob Herr Koch das gewusst hat. Bei dem, was Sie dann gesagt haben, habe ich allerdings Zweifel bekommen, dass Sie es wirklich ernst meinen. Sie haben die Hartz-Vorschläge angesprochen und die Regelung, die wir im Gesetz verankern wollen, als etwas herunterzureden versucht, was nicht funktionsfähig sein könne. ({4}) Wir beschließen, dass es für gleiche Arbeit gleichen Lohn gibt. Vielleicht können wir uns auch in diesem Parlament darauf einigen, dass das in dieser Republik das Normale sein sollte. ({5}) Wir beschließen darüber hinaus, dass in Tarifverträgen vereinbart werden kann, dass es davon Ausnahmen gibt. Herr Sommer vom DGB und andere, auch Arbeitgeber, haben in der Anhörung des Deutschen Bundestages deutlich gemacht: Sie sind damit einverstanden, dass an dieser Stelle sehr flexibel dafür gesorgt wird, dass dieses Instrument funktioniert. Mein Eindruck war, Frau Merkel, dass Sie das entweder nicht verstehen wollen oder es nicht verstanden haben. Meine Bitte an Sie ist: Wenn Sie in den Vermittlungsausschuss gehen, lesen Sie sich das vorher noch einmal durch, damit Sie wissen, worüber Sie reden. ({6}) Das, was wir vorschlagen und was Wolfgang Clement erkämpft hat, ist eine vernünftige Regelung, die dazu beitragen wird, dass im Bereich der Leiharbeit unter geordneten Bedingungen mehr Menschen in Arbeit kommen als bisher. Dafür werden wir sorgen. ({7}) Aber es geht eigentlich um etwas ganz anderes. Es geht darum, dass Sie es schon schlimm finden, dass es in Deutschland überhaupt noch Gewerkschaften gibt. Sozialdemokraten werden dafür beschimpft, dass sie in der Gewerkschaft sind. Ich finde das verwunderlich, aber das kommt in Ihren Worten zum Ausdruck. Das kommt auch zum Ausdruck, wenn Sie über das Bündnis fürArbeit im Betrieb sprechen. Auch in diesem Bereich wissen Sie nicht Bescheid. Es gibt Bündnisse für Arbeit im Betrieb, die mit den Gewerkschaften vereinbart worden sind. Aber darum geht es Ihnen ja gar nicht. Sie wollen, dass es Bündnisse für Arbeit im Betrieb gibt, aber keine Flächentarifverträge mehr, in denen so etwas vereinbart werden kann. Sie wollen den Gewerkschaften das Kreuz brechen. Das ist Ihre Politik und das werden wir Sozialdemokraten nicht mitmachen. ({8}) Das wäre im Übrigen auch leichtfertig. Die großen Organisationen, die wir in diesem Lande haben, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Gewerkschaften, Zentralverband des Deutschen Handwerks und BDA, bilden eine der Grundlagen dafür, dass wir in Deutschland wohlstandsfähig geworden sind. Da sitzen Leute miteinander am Tisch, die verhandeln und etwas durchsetzen können. Die haben nämlich etwas im Kreuz. Die Ideologie der totalen Privatisierung der Lebensrisiken, die Sie vertreten, führt in die Irre. Das werden wir nicht mitmachen. Zum Sozialstaat gehört, dass die großen Interessen gebündelt und geschlossen vertreten werden können. Das ist unsere Position. ({9}) Dann haben Sie etwas zur Riester-Rente gesagt. Auch da muss ich Ihnen sagen, verehrte Frau Oppositionsführerin: Sie haben nicht verstanden, um was es da geht. Sie haben kritisiert, dass die Riester-Rente angeblich bürokratisch sei. Wenn man einen Vertrag zur Riester-Rente abschließen will, muss man zwei Dinge tun: erstens ein Formular ausfüllen, auf dem der Name, das Geburtsdatum, der Familienstand und das Einkommen stehen, und zweitens seinem Arbeitgeber sagen, dass man diesen Vertrag abschließen will. Das hat mit Bürokratie wenig zu tun. Dass es diese Koalition - und nicht Sie - in der vergangenen Legislaturperiode hinbekommen hat, diese zusätzliche private, kapitalgedeckte Vorsorge einzuführen, ist eine große, historische Leistung. Darauf werden wir aufbauen bei allem, was wir in Zukunft im Sinne der Alterssicherung tun werden. Das funktioniert, keine Sorge. ({10}) Jetzt ist es 1 Prozent, im Jahre 2008 sind es dann 4 Prozent. Herr Rürup wird mit seiner Kommission im Verlauf dieses Jahres und des nächsten Jahres ein Konzept für die nachhaltige Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung insgesamt entwickeln. Sie werden dabei die demographische Entwicklung in diesem Lande beachten. Auf dieser Grundlage werden sie uns Vorschläge machen. Mit dem Blick auf die lange Linie der Alterssicherung wird das ein wichtiges Ergebnis sein, mit dem wir uns auseinander zu setzen haben. Wir alle werden es im Bundestag wiederfinden. Beim Thema Alterssicherung geht es nicht nur um die nächsten fünf oder zehn Jahre, sondern es muss bis in die nächsten Generationen hinein geplant werden. Auch die, die heute 20, 25 und 30 Jahre alt sind, wollen von uns wissen, wie das eigentlich in Zukunft läuft. Deshalb sagen wir: Die Riester-Rente, die gut und richtig ist, wird über eine ganze Reihe von Jahren tragen, aber wir wissen angesichts unserer demographischen Entwicklung, dass wir auch darüber hinaus denken müssen. Das werden wir tun und deshalb wird die Kommission, die Herr Rürup leitet, uns wichtige Erkenntnisse an die Hand geben. Unabhängig davon werden wir schon im Verlauf des kommenden Jahres im Rahmen der Gesundheitsreform viele Dinge mit der Zielsetzung auf den Weg bringen, nicht zusätzliches Geld ins System zu holen, sondern den Wettbewerb im System zu verbessern. Wir werden dafür sorgen, dass wir mit dem vielen Geld, das im System vorhanden ist, die Qualität der medizinischen Versorgung gegenüber heute verbessern. ({11}) Sie haben den EU-Beitritt der Türkei angesprochen. Ich hatte den Eindruck, dass Sie von den Zitaten ziemlich kalt erwischt worden sind. Ich konnte Ihre Begeisterung sehen, so wie sie Ihnen auch jetzt gerade wieder ins Gesicht geschrieben steht. ({12}) Auf dem CSU-Parteitag gab es dazu eine Diskussion. Wir sehen natürlich die begleitenden Dinge, wenn solche Sachen im Bundestag auftauchen. Ich frage Sie, ob es falsch ist, dass Herr Beckstein den Auftrag hat, bei seinen Auftritten im hessischen Wahlkampf primär über die EU-Erweiterung um die Türkei zu sprechen. Ich frage Sie, ob der Antrag, den Sie heute hier vorlegen und der nicht ein Versuch der differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema ist, nicht die eindeutige Linie verfolgt, die Türkei definitiv von einem Beitritt zur EU auszuschließen. Dazu sage ich Ihnen: Das, was Sie machen, kann man nur tun, wenn man so tief in der Opposition ist, wie Sie es sind. Sie können keine Hoffnung haben, jemals wieder in der Regierung zu sein. Wenn Sie heute da säßen, würden Sie einen solchen Antrag nicht stellen. ({13}) Ich sage Ihnen: Es ist zu vermeiden, dass die Türkei in ihrer strategischen Bedeutung an den Rand und zurück in die islamische Region gedrückt wird. Es muss mit ihr über die Bedingungen gesprochen werden, unter denen sie Mitglied der EU werden kann. Das muss jede verantwortungsvolle Regierung der Bundesrepublik Deutschland tun. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({14}) In Ihrer Rede, Frau Merkel, sind die wichtigsten Dinge, um die es in diesem Lande geht, Erneuerung und Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, nicht vorgekommen. ({15}) Wir haben die Riester-Rente in der letzten Legislaturperiode durchgesetzt, wir haben erneuerbare Energien vorangebracht, wir haben die LKW-Maut eingeführt, ({16}) wir haben gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften ermöglicht, ({17}) wir haben die Mitbestimmung erweitert und wir haben die Haushaltskonsolidierung vorangebracht. Und wir haben Hartz auf den Weg gebracht. Diese Linie der Erneuerung werden wir auch in dieser Legislaturperiode weiter verfolgen. Wir werden das mit dem sozialdemokratischen Anspruch und dem Anspruch dieser Koalition tun, eine Politik der Gerechtigkeit zu machen. ({18}) Nur ganz Starke können sich einen schwachen Staat leisten. Wir stehen auf der Seite der Menschen, die auf die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen sind. Gemeinwohl ist kein Spruch, Gemeinwohl ist uns wichtig. Das bleibt auch so. Man kann auch auf Gemeinwohldenken verzichten, aber ich sage Ihnen ganz klar: Wir wollen so nicht sein. Gemeinwohl und Solidarität sollen auch in Zukunft in dieser Gesellschaft eine Rolle spielen. ({19}) Wenn Herr Westerwelle oder Herr Merz mir entgegenhalten, eine solche Haltung sei altmodisch, ({20}) das sei Beton, sage ich: Sei’s drum. Beton ist ein dankbarer Stoff, mit dem man viel machen kann. Mir ist davor nicht bange. Ich sage Ihnen: Gemeinwohldenken, Solidarität in dieser Gesellschaft und auch Sozialstaat sind moderner, als Sie es sich überhaupt vorstellen können. Wir werden in dieser Gesellschaft nicht darauf verzichten können und wollen. ({21}) Wir haben genug Probleme in diesem Land, die zu bewältigen sind, das ist unbestritten, leider auch durch eine Opposition, die vor allen Dingen destruktiv ist. Wir lassen uns auf das Niveau nicht ein, Frau Merkel. Ich will Ihnen noch sagen: Wir werden auch die Tinte nicht saufen, in die Sie uns hineinzuziehen versuchen. ({22}) Die Heuchelei im Zusammenhang mit dem Wahlkampf und dem Verhalten der Regierung in dieser Zeit ist schon außerordentlich. Im August dieses Jahres, als der Bundesfinanzminister eine Haushaltssperre verhängte - wir alle wissen, was das bedeutet -, hat der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Herr Stoiber, ein 100-Tage-Programm verabschiedet und zusammen mit Frau Merkel und Herrn Merz und natürlich mit Herrn Glos verkündet. Nach diesem 100-Tage-Programm sollten im nächsten Jahr 22 Milliarden Euro ausgegeben werden. Was ist das denn für eine Heuchelei? Wie kann jemand den Menschen im August - der Bundesfinanzminister hat eine Haushaltssperre verhängt - 22 Milliarden für das kommende Jahr versprechen, obwohl er, weil er die Verantwortung in einer Landesregierung trägt, über die Situation mindestens so gut Bescheid weiß wie die Bundesregierung? Das ist der eigentliche Skandal in diesem Wahlkampf gewesen. Sie können ganz sicher sein, dass das auf den Tisch kommen wird. ({23}) Weil es sich um einen kochschen Diffamierungsausschuss handelt, sage ich auch ein Wort zu Herrn Koch. Er übertrifft in seinem Haushalt alles. Ursprünglich hat er 650 Millionen Euro Nettoneuverschuldung vorgesehen; dann hat er sie auf 818 Millionen Euro erhöht und jetzt sind es 2 Milliarden Euro in Hessen. ({24}) Auf Bundesebene überschreiten wir das, was wir uns vorgenommen haben, um 65 Prozent. ({25}) Herr Koch überschreitet das, was er sich in Hessen vorgenommen hat, um 140 Prozent. ({26}) So viel zum Können und zur Wahrheit dieses Herrn Koch. ({27}) Frau Merkel, mit Ihrer Sprache und Ihren Anwürfen verlassen Sie den Boden demokratischer Argumentation. ({28}) Es lohnt sich, die Äußerungen der letzten Wochen zu verfolgen. Laut Laurenz Meyer - ich sehe ihn gerade vor mir taumelt Deutschland in eine Katastrophe. Aber auch andere können zitiert werden: „Lügenausschuss“ und „Flächenbombardement an Steuern“. Frau Merkel lacht noch wohlwollend dazu. Wenn ich Flächenbombardement höre, ist mir immer ein wenig gruselig zu Mute. ({29}) Es wäre gut, wenn Sie Ihre Äußerungen ein wenig kontrollieren würden. Das gilt übrigens auch für „Steuerterror“ und andere Begriffe kriegerischer Art, die Sie gebrauchen. ({30}) Der „Barrikadenkampf“ wird verkündet, der „Abgrund“ wird aufgetan, es wird vom „Sanierungsfall“ und von der „Katastrophe“ gesprochen. Sie sind der schweren Hysterie offensichtlich in hohem Maße verfallen. Bei uns zu Hause - Herr Merz ist nicht anwesend - sagt man: Gehen Sie einmal zum Klapsdoktor. Bei Ihnen ist inzwischen ein Stadium erreicht, bei dem man dringend etwas tun müsste. Ich sage Ihnen: Das geht so nicht weiter. ({31}) Zur Opposition gehört aber auch die FDP. Insbesondere nach dem Auftritt, den Herr Westerwelle hier eben hingelegt hat, will ich sie gerne ansprechen. ({32}) Herr Westerwelle, als ich das Stichwort Möllemann dazwischengerufen habe, haben Sie in Ihrer Reaktion auf die finanzielle Dimension dieser Veranstaltung hingewiesen. Ich habe diesbezüglich nachgefragt. Ich frage Sie noch einmal: Haben Sie die Kasse Ihrer Partei nur in Nordrhein-Westfalen oder auch in den anderen Bundesländern auf die Frage hin geprüft, ob Herr Möllemann auch in diesen Bundesländern unterwegs war und vielleicht gegen Sie - das kann ja sein - Truppen gesammelt hat? ({33}) Das eigentlich Schlimme an dieser Situation ist aber, dass Sie das Geld und nicht das eigentlich Wichtige ansprechen. Am 5. Juni dieses Jahres fand vor der FDP-Zentrale in der Reinhardtstraße in Berlin eine Demonstration von FDP-Mitgliedern und jüdischen Mitbürgern gegen die antisemitischen Aktionen von Herrn Möllemann und seinen Freunden statt. Hunderte aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger nahmen an dieser Demonstration teil. Der Parteivorsitzende Guido Westerwelle hat sie beruhigt und gesagt: Das hat mit der FDP und meinem Vize nichts zu tun. ({34}) Herr Westerwelle, zu diesem Punkt müssen Sie sich noch bekennen. ({35}) Die Sache Möllemann hat aufgrund des Verstoßes gegen das Parteiengesetz eine finanzpolitische Dimension. Das Schlimme an dieser Sache ist aber, dass Sie monatelang zugelassen und akzeptiert haben, dass in Deutschland in einer ungeheuerlichen Weise, hart am Rande antisemitischer Vorbehalte, Wahlkampf gemacht worden ist. Dazu werden Sie sich als Parteivorsitzender der FDP noch äußern müssen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müntefering, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müntefering, ich habe zwei Fragen an Sie. Erstens. Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass ich bei ebendieser Demonstration nicht anwesend war, sondern - nach meiner Erinnerung - zur selben Zeit in diesem Hause eine Debatte zu bestreiten hatte, und unserer früherer Vorsitzender Klaus Kinkel bei dieser Demonstration war, es ihm aber nicht gestattet wurde, das Wort zu ergreifen? Zweitens. Sind Sie bereit, mir zu sagen, in welchen Landesverbänden, Bezirks- und Unterbezirksverbänden Sie weitere Untersuchungen finanzieller Art - neben denen in Wuppertal, Saarbrücken und Köln - vorgenommen haben? Ich habe den Eindruck, so umfassend wie bei uns hat bei Ihnen kein Einziger hinschauen wollen. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

All diejenigen, die klatschen, scheinen Bescheid zu wissen. Das ist ja interessant. Zum ersten Teil Ihrer Frage. Sie haben sich in der FDP in den Tagen nach dieser Demonstration sehr wohl dazu geäußert. ({0}) Sie haben Möllemann die ganzen Wochen und Monate hinweg den Rücken gestärkt. ({1}) Ich sage Ihnen: Der Hehler ist so schlimm wie der Stehler. Herr Westerwelle, Sie haben das, was da stattgefunden hat - im Letzten auch das Flugblatt -, zu verantworten. Stehen Sie endlich dazu und machen Sie an dieser Stelle klar Schiff! ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wollen Sie auch die zweite Frage beantworten oder nicht? ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir kontrollieren all unsere Bezirke und Landesverbände regelmäßig; da können Sie ganz sicher sein. ({0}) - Sie reagieren in Unkenntnis der Realitäten. Das zeigt, dass Sie keine Ahnung davon haben, wie die Geschäfte eigentlich laufen. Fragen Sie noch einmal in Ihren Landesverbänden nach, damit Sie erfahren, wo Möllemann überall gewesen ist! ({1}) Frau Merkel, was Sie heute praktizieren, erinnert an etwas, was vor vielen Jahren schon einmal aufgeschrieben worden ist. Einige Zitate daraus sollte man sich noch einmal zu Gemüte führen: Zur Taktik jetzt: Nur anklagen und warnen, aber keine konkreten Rezepte etwa nennen ... Auf keinen Fall sollten wir ... der Regierung irgendwelche Hilfe bei Steuererhöhungen zusagen. Also eine politische Mitverantwortung bei Steuererhöhungen zusagen, das auf keinen Fall ... ({2}) Es muss wesentlich tiefer sinken, bis wir Aussicht haben, politisch mit unseren Vorstellungen, Warnungen, Vorschlägen gehört zu werden. Es muss also eine Art Offenbarungseid und ein Schock im öffentlichen Bewusstsein erfolgen. Wir können uns gar nicht wünschen, dass dies jetzt aufgefangen wird ... Das war Sonthofen I. Diese Melodie ist damals gescheitert. Sie machen jetzt Sonthofen II. Auch diese Melodie wird scheitern; das sage ich Ihnen voraus. ({3}) Wir wollen, dass der Staat handlungsfähig ist und handlungsfähig bleibt. Das machen wir dadurch, dass wir die Schulden erhöhen, die Nettokreditaufnahme weniger schnell abbauen, als wir es vorgesehen hatten. Das machen wir dadurch, dass wir Ausgaben reduzieren. Das machen wir dadurch, dass wir zusätzliches Geld einnehmen, indem wir Steuerschlupflöcher schließen. Das, was wir tun, hilft Bund, Ländern und Gemeinden. Es hilft den Gemeinden mit 9,4 Milliarden Euro und den Ländern mit 18 Milliarden Euro im Verlauf der Legislaturperiode. Weil wir dies tun, können wir unsere Investitionen auch im kommenden Jahr erhöhen. Die Ausgaben für Bildung und Forschung betrugen 1998 unter der Regierung Kohl 7,26 Milliarden Euro. 2003 sind es 9,12 Milliarden Euro, also ein Plus von 25,6 Prozent. Das ist die Politik dieser Koalition. ({4}) Im Ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen betrug der Investitionsanteil 1998 45 Prozent. 2003 sind es 50,4 Prozent, also ein Plus von 5,4 Prozentpunkten. Wir investieren mehr in die Verkehrsinfrastruktur. 1998 waren es 9,49 Milliarden Euro. 2003 sind es 11,49 Milliarden Euro, also ein Plus von 21 Prozent. Das JUMP-Plus-Programm, eine Hilfe für junge Menschen, die Ausbildungs- und Arbeitsplätze suchen, umfasst 100 Millionen Euro. Im Laufe der Legislaturperiode werden Ganztagsschulen mit 4 Milliarden Euro und Krippenplätze mit 1,5 Milliarden Euro gefördert. Wir wünschen uns, dass sich bis Ende dieser Legislaturperiode 40 Prozent der jungen Menschen im Studium befinden. Wir brauchen in Deutschland mehr Studentinnen und Studenten, als wir derzeit haben. In den Studiengängen für Informations- und Kommunikationstechnologien sollten sich zu 40 Prozent Frauen befinden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird durch Maßnahmen, die bereits angesprochen worden sind, verbessert. Deutschland muss mehr in Bildung und Forschung investieren, um seine Zukunftsfähigkeit zu sichern. Die „Bild“ zu konsumieren reicht nicht. Bildung und Forschung sowie Schulen kosten Geld. Nicht jeder hat das Geld vom Papa. Deshalb muss der Staat in der Lage sein, einen Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in die Köpfe und Herzen der jungen Menschen zu investieren: in Kindergärten, in Schulen, in Hochschulen, in Forschung, in Technologie, in neue Unternehmen, in den ÖPNV, in die Polizei, in Krankenhäuser, in all das, was uns wichtig ist. ({5}) Wir müssen als Staat in der Lage sein, diese Aufgabe auch in Zukunft zu übernehmen. Dafür streiten die Sozialdemokraten in dieser Koalition - ich hoffe, sie tun das erfolgreich. ({6}) Deutschland hat die beste Infrastruktur weltweit. Deutschland hat qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Deutschland ist ein Hochtechnologieland und Vizeweltmeister im Export. Deutschland hat alle Voraussetzungen, um in eine gute Zukunft zu gehen. Wir sorgen dafür, dass dies auch möglich wird - sozial, tolerant, solidarisch und souverän. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An einer Stelle der Rede des Genossen Müntefering hat es mich richtig umgehauen: als der für den Wahlkampf der Sozialdemokratischen Partei verantwortliche Generalsekretär die Sprache der politischen Auseinandersetzung kritisierte. Wenn es jemanden in Deutschland gibt, der für Brutalität und Verrohung der politischen Sprache steht, dann ist es Müntefering und sonst keiner. ({0}) Von Ihnen Ratschläge entgegennehmen zu müssen, was die politische Kultur angeht, ist schwer erträglich. Das gilt auch für Ihre Anwürfe gegenüber anderen Parteien bezüglich ihrer Parteispenden und Finanzsituation. Müntefering ist derjenige, der in Nordrhein-Westfalen lange Verantwortung in der Sozialdemokratischen Partei getragen hat, die von einer Korruption in eine andere Spendenaffäre hineintrudelt. ({1}) Gestern hat der Staatsanwalt für den Oberbürgermeister von Wuppertal Kremendahl 18 Monate Bestrafung gefordert. Herr Müntefering, an Ihrer Stelle würde ich den Mund nicht so voll nehmen; denn Sie tragen mit Verantwortung für all die Skandale, die unter Ihrer Regentschaft in Nordrhein-Westfalen stattgefunden haben. ({2}) Ich will mich mit einigen Argumenten auseinander setzen, die Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben. Es ist schon einigermaßen erstaunlich: Deutschland befindet sich in einer großen Wachstumskrise, während andere vergleichbare Volkswirtschaften sehr viel schneller wachsen. ({3}) Wenn andere Volkswirtschaften schneller als die eigene wachsen, bedeutet das den Export von Arbeitsplätzen und Wohlstand dorthin. Es gab kein Wort, weder vom Bundeskanzler noch vom Fraktionsvorsitzenden der SPD, dazu, wie wir Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland fördern und Bürokratie beseitigen wollen. Stattdessen wird ausschließlich über die Verteilung dessen schwadroniert, was noch gar nicht erwirtschaftet worden ist. Dies kann keine verlässliche wirtschaftspolitische Handlungsanweisung sein. ({4}) Es wird sehr viel von Gemeinwohlorientierung geredet. Herr Müntefering, in der Koalitionsvereinbarung haben Sie beispielsweise etwas über das Gemeinnützigkeitsrecht für Kultur, Sport und anderes geschrieben. Der SPD-Parteitag hat das einstimmig abgesegnet. Wenn Sie das Gemeinwohl in Deutschland tatsächlich fördern wollen - wie Sie es hier deklamiert haben - dann dürfen Sie Vorschläge, die die gesamte Kulturförderung in Deutschland auf den Kopf stellen würden, nicht machen. Derjenige, der auch im Geiste für die Kultur- und Gemeinwohlförderung ist, muss so etwas zurückweisen. Sie aber haben das einstimmig auf Ihrem Parteitag beschlossen. ({5}) Hanebüchen war auch Ihre Argumentation bezüglich der Investitionen in Bildung und Forschung. ({6}) Die Investitionen in Bildung und Forschung stiegen, hieß es. Die Kollegin Bulmahn ist gerade draußen, trotzdem sage ich: Wenn Sie die Etats für Bildung und Forschung sowie Wirtschaft zusammenfassen würden, würden Sie sehen, dass die Etats stagnieren und der Investitionsanteil für Bildung und Forschung zurückgeht. Sie liefern ein absolutes Zerrbild nicht nur von der Wirklichkeit, sondern vor allen Dingen von den angeblichen Erfolgen Ihrer Regierungsarbeit. Sie haben in Ihrer Rede jedweden Bezug zur Wirklichkeit vermissen lassen. ({7}) Das gilt im Übrigen auch für die Verkehrsinvestitionen. Deutschland steht im Stau und der Generalsekretär a. D. und jetzige Fraktionsvorsitzende, der Genosse Müntefering, versucht, uns zu erklären, noch nie sei so viel in den Verkehr investiert worden. Die Wahrheit ist: Trotz der Abkassiererei durch die Verkehrsmaut werden die Verkehrsinvestitionen in Deutschland sinken. Im gesamten Haushalt haben wir die historisch niedrigste Investitionsquote seit Beginn der Finanzrechnung. Das ist die bittere Wahrheit, die Herr Münterfering hier zu verschleiern versucht. ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird immer wieder die Frage gestellt: Wo sind die Alternativen der Opposition? ({9}) Ich frage mich, ob nicht zugehört wird. Ich will einige Elemente dessen, was wir heute schon zweimal vorgetragen haben, hervorheben. An erster Stelle steht eine Steuerreform, nach der sich Leistung in Deutschland wieder lohnt. Bei dem, was Sie jetzt in das Parlament eingebracht haben, handelt es sich ausschließlich um Steuererhöhungen mit einem Gesamtvolumen von etwa 40 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode. Wir aber brauchen Leistungsanreize für die Menschen draußen, die sich regelrecht abkassiert und nicht in ihrem Anliegen wahrgenommen fühlen, dass sie für unsere Volkswirtschaft auch etwas leisten wollen. Nur wer eine Steuerreform in dem von mir genannten Sinne angeht, wird auch bei den Bürgern wieder Leistung ernten. Das ist der erste Punkt, den wir hier heute angesprochen haben. ({10}) Der zweite Punkt ist die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Es ist in dieser Woche bereits darauf hingewiesen worden, dass wir kurzfristig unser Minijobgesetz gemeinsam mit allen Fraktionen in diesem Haus verabschieden und in Kraft setzen könnten. Es ist deutlich gemacht worden, dass die Initiativen für betriebliche Bündnisse für Arbeit, die Sie - entgegen Ihrer Rede, Herr Müntefering - mit den geltenden Regelungen blockieren, ermöglicht werden müssen. Es wäre doch ein kleiner Akt für mehr Selbstständigkeit in Deutschland, dieses krankhafte Scheinselbstständigengesetz zum Jahresende auslaufen zu lassen. ({11}) Die Liberalisierung der Teilzeitarbeit ist ein weiterer wichtiger Schritt, der - ebenso wie die Umsetzung des OFFENSIV-Gesetzes - schon mehrfach vorgeschlagen worden ist. Herr Müntefering, Sie haben heute behauptet, die Opposition habe keine klaren Konturen erkennen lassen. Das ist genauso ein Zerrbild der Wirklichkeit wie vieles andere, was Sie hier heute vorgetragen haben. ({12}) Auch von neutraler Seite ist das Urteil über die derzeitige Haushaltssituation in Deutschland eindeutig. Der sozialistische EU-Kommissar Solbes, der für Haushaltsfragen zuständig ist, stellt fest, das hohe Haushaltsdefizit resultiere nicht nur aus einem außergewöhnlichen Ereignis, das sich der Kontrolle entziehe. Grund seien, so Solbes, die zum Teil selbst verschuldeten Haushaltslücken und die Einnahmeausfälle aufgrund einer verfehlten Steuerpolitik. Wenn Sie nicht bereit sind, die Ursachenanalyse zu akzeptieren, die es weltweit in Bezug auf Deutschland gibt, werden auch alle Ihre Rezepte und Instrumente, die Sie aufgrund Ihrer falschen Ursachenanalyse entwickelt haben, nicht wirken. Sie werden unsere Volkswirtschaft aus der Stagnation in die Rezession führen. Das muss dringend verhindert werden. ({13}) Was das Rentensystem angeht, Herr Kollege Müntefering, so ist zu sagen, dass wir über dieses Thema bereits in verschiedenen Bundestagswahlkämpfen, an denen Sie höchstpersönlich beteiligt waren, streitig diskutiert haben. Ich kann mich an Plakate in meinem Wahlkreis erinnern, auf denen es hieß: Wenn ihr CDU oder CSU wählt, steigt der Rentenversicherungsbeitrag, wenn ihr SPD wählt, bleibt er stabil. ({14}) Tatsache ist, dass Sie offensichtlich schon damals, als Sie als Generalsekretär das Plakat verantwortet haben - denn Sie sitzen auch in den politischen Entscheidungsgremien Ihrer Partei, sind also wesentlich beteiligt -, wussten, dass der Rentenbeitragssatz erheblich steigen würde, und zwar - wie wir heute wissen - auf den Höchststand von 19,9 Prozent. Das war Ihnen damals bekannt. Wenn Sie eine solche Ignoranz gegenüber den Tatsachen walten lassen - dabei interessieren Sie als Generalsekretär uns weniger; uns interessieren mehr die durch Diensteid verpflichteten Mitglieder der Bundesregierung - und die Öffentlichkeit in die Irre führen, dann müssen wir darauf hinweisen, dass das nicht geht, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Zukunft. Lügen und unvollständige Wahrheiten dürfen sich nicht auszahlen. Dem dient der von uns ausschließlich zum Zwecke der Wahrheitsfindung eingerichtete Untersuchungsauschuss. ({15}) Deswegen werden wir die politische Auseinandersetzung in aller Sachlichkeit, aber auch mit der gebotenen Schärfe führen. Er ist notwendig, damit die politische Kultur in Deutschland nicht unter Unwahrheiten und Verdrehungen leidet. ({16}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden bei den Haushaltsberatungen unsere Alternativen deutlich machen. Aber eines ist wichtig: Es geht nicht nur um Haushaltspositionen. Was dringend notwendig ist, ist ein Stimmungswechsel in diesem Land. Dieser Stimmungswechsel wird nur dann eintreten, wenn sich diese falsche Politik grundlegend ändert. Sonst wird es mit Deutschland nicht aufwärts gehen. Wir wollen aber, dass sich die Leistung der Menschen in Deutschland wieder lohnt. Deswegen werden wir auch unsere Alternativen in den einzelnen Etats darlegen. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Hermenau vom Bündnis 90/Die Grünen.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kampeter, ich hätte mir schon ein bisschen mehr intellektuelle Herausforderung gewünscht. Aber es hat nicht sollen sein. Wenn Sie hier wieder mit derselben Idee wie in den letzten Jahren kommen - Wachstum setze sich so fort, wie es sich in den 70er-Jahren in Westdeutschland einmal etabliert habe, und dann sei alles in Ordnung -, sage ich Ihnen - übrigens Zitat Lambsdorff, der unverdächtig ist, was Sympathien mit grüner Politik betrifft -: Die fetten Jahre, Herr Kampeter, sind vorbei. Das heißt, Politik wird in Zukunft in Deutschland nur derjenige machen können, der in der Lage ist, bei geringeren Wachstumsmargen trotzdem noch Staat zu machen, und zwar nicht auf Pump. ({0}) Sie werden sich jetzt überlegen, wie das mit den Wachstumsmargen sein kann. Es ist ganz einfach. Eigentlich müssten Sie mitbekommen haben, dass die Industriegesellschaft - wenn nicht gänzlich, so doch zum größeren Teil - jedes Jahr ein Stückchen mehr in eine Gesellschaft übergeht, die vor allen Dingen auf Informationstechniken und Dienstleistungen beruht, auch personennahen Dienstleistungen, zum Beispiel Pflege, auch auf solchen Berufen, in denen keine Wertschöpfung in dem Sinne stattfindet, die aber trotzdem bezahlt werden müssen. Wenn Sie sich diese Berufe einmal vor Augen führen, erkennen Sie zwei Tatsachen. Die eine ist: Die Wachstumsmargen in diesen Branchen sind geringer, weil man mit Menschen arbeitet und nicht mit Maschinenparks, die man erneuern kann, um Produktionssprünge zu schaffen. Das zweite Problem, das Sie erkennen, ist: Die Rolle der Lohnnebenkosten nimmt deutlich zu, weil wir viel mehr darauf angewiesen sind, Menschen in diesen Berufen zu haben, die gut ausgebildet sind und die ihr Geld wert sein wollen. Das heißt, es gibt große Veränderungen in diesem Land, die sich genau in diesen beiden Bereichen abspielen: auf der einen Seite weniger Wachstum, mit dem wir auskommen und gut Staat machen müssen, und auf der anderen Seite die wachsende Bedeutung der Lohnnebenkosten. ({1}) Diesen neuen Herausforderungen stellen wir uns. Wir stellen uns ihnen im Haushalt 2003 und stellen uns ihnen mit unseren Entscheidungen. Dass Sie die Notoperation 2002 jetzt ständig als Kurswechsel zu diffamieren versuchen, ist eigentlich nur Ihrer fehlgeleiteten Betrachtung geschuldet; denn Sie sind nicht in der Lage, diese neuen Tatsachen einzuordnen. Das Brechen mit althergebrachten Gewohnheiten ist ein zäher Prozess. Ich erlebe die CDU/CSU im Moment ständig in einem Kulturkampf, bei dem Versuch, das Althergebrachte zu bewahren, weil Sie glauben, dazu seien Sie verpflichtet, ohne zu sehen, wo die Zukunftschancen liegen. Für mich sind Sie eine ganz altmodische Partei. ({2}) Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das bemerken. Frau Merkel hat ja versucht, die CDU/CSU ein bisschen auf Reformtempo zu bringen. Sie ist sofort von all den älteren Herren ihrer Partei „eingesammelt“ worden. Sie bemerken es wahrscheinlich nicht - weder Herr Kampeter noch Frau Merkel noch sonst jemand -, aber die CDU/CSU verpasst gerade den Anschluss. Sie halten sich mit Ihrem inszenierten Oppositionstheater auf und verpassen den Anschluss, was die Regelung für unsere Zukunft anbelangt. So einfach ist das. ({3}) Wir haben in den letzten vier Jahren versucht, Reformen in sehr vielen Bereichen zu machen, und haben festgestellt, wie schwer und kompliziert es ist, neue Werte zu prägen. Es geht nicht immer darum, einen Werteverfall zu bejammern, wie Sie es immer tun. Es kann ja auch sein, dass manche Werte aus gutem Grund nicht mehr so hoch gehalten werden wie früher. Das ist kein Werteverfall, das ist ein Wertewandel. Ich finde, dass uns in Deutschland einige Wertewandel zum Guten gereichen. ({4}) Dies zu unterstützen, diese Werteprägung vorzunehmen, das haben wir in den letzten vier Jahren versucht und, wie ich finde, auch in vielen Lebensbereichen geschafft. Dass Ihnen das nicht passt, bemerke ich an Ihrem Rumgezicke. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Politik falsch ist. ({5}) Herr Solbes hat vor kurzem gesagt, den Deutschen fehle es nicht an Geld, sie wollten es nur nicht ausgeben, denn sie fürchteten sich vor der Zukunft. Und darin haben Sie Ihre Aktie. Sie sprechen ständig davon, dass die Hälfte der Wirtschaft Psychologie sei. Damit gebe ich Ihnen Recht. Aber wer verbreitet seit Wochen immer nur Getöse und irgendwelche Untergangsstimmung? Lassen Sie sich das einmal von einer Partei sagen, die auch ihre Erfahrungen damit gemacht hat, was geschieht, wenn man ein Anliegen übertreibt. In den 80er-Jahren haben wir in unseren Reihen einige Leute gehabt, die die ökologische Bedrohung zum Katastrophismus hochstilisiert haben. So etwas Ähnliches pas912 siert Ihnen gerade. Sie verstehen den Wertewandel nicht und halten ihn für Werteverfall. Sie predigen die zivilisatorische Katastrophe, die außer in Ihren Köpfen aber überhaupt nicht stattfindet. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Otto von der FDP-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die dankbare Aufgabe, in zwei Minuten als Vorband für die Kulturstaatsministerin zu sprechen. Da die Zeit so knapp ist, komme ich gleich zu einer Feststellung und einer Empfehlung. Die Feststellung ist: Die nach mir sprechende Christina Weiss ist nach meiner tiefen Überzeugung bisher das wohl erfolgreichste Mitglied dieser Bundesregierung. Sie hat es immerhin - das muss man ganz deutlich und mit Respekt sagen - geschafft, dass die von der Bundesregierung geplante unsägliche Anhebung der Mehrwertsteuer auf Kulturgüter unterbleibt. ({0}) Sie hat es auch geschafft, dass die Spendenabzugsfähigkeit für Körperschaften erhalten bleibt. ({1}) Indem Sie, Frau Weiss, zwei von der Bundesregierung intendierte Verschlechterungen unter Aufbietung Ihrer gesamten Kraft haben verhindern können, werden Sie schon zum besten Mitglied dieser Bundesregierung. Sie haben also den Status quo gerade so halten können. Aber dies ist schon ein großer Erfolg und nötigt mir Respekt ab. ({2}) In zwei Minuten kann ich Ihnen nur eine Empfehlung geben: Hüten Sie sich ({3}) vor allzu großspurigen Ankündigungen, die Sie später nicht umsetzen können. Dazu nenne ich zwei Beispiele aus der Koalitionsvereinbarung. Darin heißt es vollmundig: ... wird der Bund sein kulturelles Engagement für seine Hauptstadt erhalten und ausbauen. Ich habe mir natürlich den Haushaltsentwurf angeschaut. Ich stelle nüchtern fest: Dieser Haushaltentwurf gibt hierfür überhaupt nichts her, insbesondere sind keinerlei belastbare Ansätze für die Umsetzung der großspurigen Ankündigung enthalten, man werde die Investitionen für die Museumsinsel in Berlin übernehmen. Ich möchte einmal sehen, wer das bei dieser Haushaltslage finanzieren soll. ({4}) Das zweite Beispiel: In der Koalitionsvereinbarung steht ebenfalls vollmundig: Das Kulturförderprogramm für die neuen Länder wird mit 30 Millionen Euro p. a. fortgeschrieben, ... Im Haushalt sieht dies anders aus: Das Kulturförderprogramm für die neuen Bundesländer wird um ein sattes Drittel von 30,7 Millionen Euro auf 20,5 Millionen Euro heruntergefahren. Frau Weiss, wenn Sie bei dieser Bundesregierung für die Kultur finanziell mal eben den Statuts quo erhalten können, dann verdienen Sie unseren Respekt. Versprechen Sie aber den Kulturschaffenden nichts, was Sie nicht halten können. Wo das Geld fehlt, sind Kreativität und Ideen gefordert. ({5}) Die Opposition hat keine Haushaltsmittel zu verteilen. Wir haben aber kreative Ideen und werden Ihnen diese unterbreiten. ({6}) Wir unterbreiten Ihnen zum wiederholten Male ein Kooperationsangebot. Es liegt an Ihnen, ob Sie die Ideen der Opposition aufgreifen. Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung in Zeiten knapper Kassen darauf vertraut, dass man hier gemeinsam etwas schaffen kann. Wir stehen dazu bereit. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt die Staatsministerin Christina Weiss. ({0})

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erfahrungen mit dem vor vier Jahren neu geschaffenen Amt der Kultur- und Medienbeauftragten der Bundesregierung und nicht zuletzt auch die Erfolge belegen, dass die Übernahme der nationalen Verantwortung des Bundes für die Kulturentwicklung in Deutschland und die Schaffung des Amtes der Staatsministerin für Kultur und Medien nicht mehr gerechtfertigt werden müssen. Im Gegenteil: Zu lange fehlte den Kulturschaffenden ein Ansprechpartner auf Bundesebene, ein Ideengeber, ein Interessenvertreter der Kultur und Medien, der in Deutschland und in Europa anerkannt wird. Diese Funktion - da bin ich mir sicher - wird sich auch in der kommenden Legislaturperiode festigen. Lassen Sie mich die Grundideen einer nachhaltigen Kulturpolitik an wenigen prominenten Beispielen erläutern, allen voran an der Kulturstiftung des Bundes, die die Regierung Anfang dieses Jahres ins Leben rief. Mit dieser Stiftung haben wir eine Institution geschaffen, die dabei ist, zu einem geistigen Zentrum der Bundesrepublik zu werden, und die sich viel mehr der Initiative als der Alimentation verpflichtet fühlt, ({0}) eine Institution, die Debatten anstoßen kann, die Debatten organisieren kann und die allen Unkenrufen zum Trotz die Vorteile föderaler Verfasstheit mit der Aufwertung zentraler Vorhaben durch den Bund auch vereinen kann. Die KSB wird das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für die Belange von Kunst und Kultur fördern, die Kraftzentren kreativer und geistiger Entwicklung stärken und nicht zuletzt auf der europäischen Ebene sichtbar agieren. Zur Stärkung dieser Zukunftsaufgabe sieht der vorliegende Haushaltsentwurf vor, die Mittel für die Bundeskulturstiftung auf 25,6 Millionen Euro zu verdoppeln, ({1}) womit die Stiftung in ihre zweite Entwicklungsstufe eintreten kann. Ab dem Jahr 2004 sind dann in der Endstufe 38,3 Millionen Euro jährlich geplant. ({2}) Doch wir haben noch eine weitere Stiftung, die wie die KSB prädestiniert ist, das Miteinander von Bund und Ländern in der Frage von Kunst und Kultur zu repräsentieren, nämlich die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. ({3}) Noch vor einem Jahr wollten die Länder die SPK gern verlassen. Jetzt wollen sie sich weiter an der Finanzierung der SPK beteiligen. Das ist eine gute Entwicklung, für die mein Haus lange gekämpft hat. ({4}) Diese Entwicklung ist zugleich ein gutes Zeichen für den Fortgang der Gespräche zur Systematisierung der Kulturförderung, in denen wir inzwischen auch weit vorangekommen sind. Eines der wichtigsten Projekte der SPK, vielleicht das wichtigste Projekt, ist die Sanierung der Berliner Museumsinsel. Sie haben Recht: Der Bund hat die Finanzierung dieser symbolträchtigen Aufgabe übernommen; denn sie besitzt wie kaum eine zweite wirklich nationalen Rang. Die Museumsinsel lässt sich nur noch mit dem Louvre oder dem British Museum vergleichen. ({5}) Deshalb stellt der Bund auch 100 Millionen Euro zur Erhaltung dieses Weltkulturerbes zur Verfügung. Gerade in Zeiten, in denen, wie wir es heute wieder gehört haben, immer wieder von Abschwung, von Krise, gar von Depression die Rede ist, in Zeiten, in denen Menschen glauben, die Orientierung zu verlieren, brauchen wir eine große Vision wie dieses Museumsbauprojekt, das die Kraft der Kultur versinnbildlicht. Es ist nur die kulturelle Identität, die uns aufrichten kann. ({6}) Ohne sie ist das geistige, seelische und soziale Überleben in unserer Gesellschaft immanent gefährdet. Die Größe und Vielfalt der Kunst gibt uns Richtung und Maßstab vor. Sie hilft dem Einzelnen, sich zu orientieren und zu positionieren. Sie hilft der Gesellschaft, die Gegenwart auch als Chance zu begreifen, um die Ecke zu denken, flexibel und kreativ zu sein. ({7}) Wie in einem Brennspiegel konzentrieren sich diese Aufgaben und Chancen von Kunst und Kultur auf der Berliner Museumsinsel. Im vergangenen Jahr hat der Bund mit dem Land Berlin einen Vertrag zur Kulturfinanzierung in der Bundeshauptstadt geschlossen. Das bis dahin gültige System der pauschalen Förderung von Berliner Kultureinrichtungen wurde abgeschafft. Eindeutige Zuständigkeiten wurden definiert. Dieses Prinzip hat sich bewährt. Wir führen mit dem Land Berlin auch bereits die ersten Gespräche zur Fortsetzung unserer Förderung nach dem Jahr 2004. Dabei kann und will sich der Bund nicht als Retter des Berliner Haushalts etablieren, im Gegenteil: Mein Haus versteht sich gegenüber Berlin, wie gegenüber allen anderen Bundesländern, als Vermittler und Moderator, der davon überzeugt ist, dass eine Hilfe zur Selbsthilfe noch immer die beste Unterstützung ist. ({8}) Ganz anders ist dieses Selbstverständnis dagegen mit Blick auf die verheerende Flut, die uns, besonders Sachsen und Sachsen-Anhalt, letzten Sommer heimgesucht hat, eine Flut, die für uns alle ein großer Schock war, ein Kulturschock. Jedem sind die Bilder von den überfluteten Kulturstätten in Dresden oder Dessau oder Wörlitz noch vor Augen. Es ist wichtig, dass für die Wiederherstellung der schwer getroffenen Kulturstätten auf Initiative meines Hauses das „Kulturelle Fluthilfeprogramm“ eingerichtet wurde. Dafür stehen insgesamt 100 Millionen Euro zur Verfügung. Ich bin stolz darauf, dass darüber hinaus aus dem Budget meines Hauses kurzfristig 3 Millionen Euro und von der KSB 2 Millionen Euro an Soforthilfe zur Verfügung gestellt werden konnten. ({9}) Außerdem hat vor wenigen Tagen eine Auktion 3,4 Millionen Euro für die Gemäldesammlung in Dresden erbracht. ({10}) Erlauben Sie mir noch ein Wort zum Investitionsprogramm „Kultur in den Neuen Ländern“. Zukünftig werden wir uns nicht nur darum bemühen, die vielen kleinen und großen kulturellen Leuchttürme in den neuen Ländern baulich zu erhalten; vielmehr wollen wir dazu übergehen, ihre Strahlkraft zu erhöhen, und wir wollen sie in eine Kulturlandschaft einbetten, die Ost und West verbindet. Ganz kurz zur Medienpolitik. Zu diesem Bereich werde ich Ihnen in dieser Legislaturperiode zwei Gesetzentwürfe zur Beratung vorlegen. Uns werden hier die Reorganisation der Deutschen Welle und die Novellierung der Filmförderung beschäftigen. ({11}) Ich gehe davon aus, dass wir in diesem Hause eine gute Kooperation haben werden. Ich würde mich freuen, wenn der Ausschuss für Kultur und Medien dieses Hauses ein ähnlich gestärktes Mitspracherecht erhielte, wie ich es durch das Kulturverträglichkeitsvorhaben der Bundesregierung erhalten habe. ({12}) In diesem Sinne: Wagen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, gemeinsam mit mir und mit dieser Regierung mehr Kultur, eine Kultur jenseits elitärer Hinterzimmer, eine Kultur für unser Land: parteiübergreifend, länderübergreifend und nicht zuletzt - das richtet sich besonders an den Kollegen Gauweiler - stämmeübergreifend. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktionslos.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz der Erfolgsmeldungen und Ankündigungen meiner Vorrednerinnen und Vorredner muss ich festhalten: Es steht nicht gut um Rot-Grün. Herr Clement spricht von Start- und Kommunikationsschwierigkeiten. Heide Simonis erwartete heute gar eine Blut- und Tränenrede des Kanzlers. ({0}) Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Ihr Problem ist weniger mangelnde Kommunikation; Ihr Problem ist die Inkonsequenz, die Widersprüchlichkeit und die Gegenläufigkeit Ihrer Politik. Ich will Ihnen das an drei Beispielen illustrieren, die sich übrigens klar von denen der Opposition zu meiner Rechten unterscheiden werden. Mein erstes Beispiel betrifft den Sozialstaat. Ihre erste Prämisse dazu heißt, der Sozialstaat sei gerade in Zeiten der Globalisierung unverzichtbar. Ihre zweite Prämisse dazu lautet, die Wirtschaft müsse gerade in Zeiten der Globalisierung von Kosten für den Sozialstaat entlastet werden. Das Problem ist: Beides passt nicht zusammen. Wer die Wirtschaft von Kosten für den Sozialstaat entlastet, treibt den Sozialstaat in die Krise. Wer das zulässt, kann sich nicht als Anwalt des Sozialstaates aufspielen. Nun wurde Franz Müntefering ob seines Zitats, die Bürger sollten weniger konsumieren und mehr dem Staat geben, gescholten. Politisch ist das, was Franz Müntefering geäußert hat, Harakiri; es hat aber sehr wohl seine Logik. Der Sozialstaat wird immer mehr von denjenigen finanziert, die bedürftig sind, und immer weniger von denjenigen, die dazu in der Lage sind. Eine Putzfrau oder ein sich selbst ausbeutender Computerexperte müssen kräftig für den Sozialstaat zahlen. Große Konzerne mit Gewinnen brauchen das nicht. Im Gegenteil: Sie werden sogar noch alimentiert. Das ist hierzulande Usus, auch unter Rot-Grün. Weil das so ist und weil die Kassen klamm sind, hat Müntefering logischerweise nicht an die Vermögenden, an die eigentlich Zahlungspflichtigen appelliert; es sind dummerweise die Bedürftigen, die er zur Kasse bitten will. Eigentlich hätte er dafür heftigen Beifall von der CDU/CSU und allemal von der FDP verdient. Denn das entspricht genau Ihrer Politik, die Sie auch heute wieder hier vorgestellt haben. ({1}) Ich will nur anmerken: Mit Solidarität hat das alles nichts zu tun. Und das ist der eigentliche Bruch mit einst sozialdemokratischen Grundsätzen. Zweites Beispiel: Krieg oder Frieden? Rot-Grün lehnt eine Beteiligung an einem Krieg gegen den Irak ab. Ich nehme Ihnen sogar ab, dass Sie dafür gute Gründe haben und dass dies nicht nur kurzfristige Wahlkampfmotive sind. Aber wieder sind Sie inkonsequent. Ein Krieg gegen den Irak wäre ein Angriffskrieg. Er wäre nicht durch die UN-Charta gedeckt. Kein NATO-Vertrag nimmt Sie in die Pflicht. Das Grundgesetz verbietet sogar eine deutsche Beteiligung. Und doch steckt Rot-Grün mittendrin und damit natürlich auch wir alle. Sie bewilligen Überflugrechte, falls die USA auch von deutschem Boden aus einen Angriffskrieg gegen den Irak führen wollen. Sie halten Spürpanzer und Marineeinheiten im Aufmarschgebiet vor. Sie wollen Militärmaterial in erweiterte Krisengebiete liefern. Das Problem: Auch das ist eine typische Jein-Politik. Aber es gibt kein Jein zum Krieg. Es gibt nur ja, ja oder nein, nein. Die PDS bleibt beim Nein, Nein zum Krieg. Ich komme zum dritten versprochenen Beispiel: Steuerpolitik. Wir werden keine Steuern erhöhen, hieß es bei Rot-Grün vor der Wahl. Wir schließen lediglich Schlupflöcher, hieß es danach. Die Opposition zur Rechten schreit Zeter und Mordio. Das Problem: Rot-Grün geht in der gesamten Steuerdebatte in die neoliberale Falle. CDU/CSU und FDP predigen landauf, landab, Steuern seien Teufelswerk. Die Frage ist aber nicht, ob Steuern genehm sind. Die eigentliche Frage ist, ob Steuern gerecht sind. Bei der Antwort auf diese Frage kneift Rot-Grün. Sie gehen nicht wirklich an das spekulierende und unproduktive Kapital heran. Anderenfalls müssten Sie sich endlich der Tobinsteuer nähern. Sie nehmen den vorhandenen Reichtum nicht in die grundgesetzliche Pflicht. Anderenfalls würden Sie aktiv für eine wirkliche Vermögensteuer streiten. Sie machen nichts, um die überschuldeten Länder und Kommunen zu entlasten. Anderenfalls würden Sie zu wirklichen Reformen schreiten. Sie kleben weiter an den Modellen des vergangenen Jahrhunderts. Anderenfalls würden Sie sich wirklichen Neuerungen, etwa einer Wertschöpfungsabgabe, öffnen. So aber bleibt Rot-Grün ein Muster ohne Wert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte meine grundsätzliche Kritik an zwei aktuellen Beispielen illustrieren. Sie brüsten sich damit, dass der Bund 4 Milliarden Euro für eine bessere Bildungspolitik in den Ländern bereitstellt. Das klingt allemal angesichts der viel zitierten PISA-Studie unglaublich gut. Bundesministerin Bulmahn sprach gestern sogar von einer „rot-grünen Initialzündung“. Was Sie dabei aber verschweigen, ist, dass Ihre letzte Steuerreform die Länder das Dreifache, nämlich 12 Milliarden Euro, an Mindereinnahmen gekostet hat, die somit auch für die Bildungspolitik fehlen. Jede Klofrau, der Sie 10 Cent auf den Teller legen und zugleich 30 Cent klauen, würde sich zu Recht betrogen fühlen. Das zweite aktuelle Beispiel: Bundeskanzler Schröder hat verkündet, keinem Opfer der jüngsten Hochwasserkatastrophe solle es hernach schlechter gehen als vordem. Wir, die Vertreterinnen der PDS im Bundestag, waren erst jüngst vor Ort. Unsere Eindrücke sind ernüchternd und bedrückend. Das Hochwasser ist weg, die Kameras sind weg und die Bundesregierung ebenso. ({2}) Zurück bleiben vielfach Zweifel und Verzweiflung. Es geht also nicht um Reförmchen. Gefragt ist nach wie vor ein Politikwechsel: hin zu sozialer Gerechtigkeit, zu mehr Demokratie und natürlich zu einer konsequenteren Friedens- und Entwicklungspolitik. Ich komme zum Schluss. Da in vermeintlich großen Debatten gern große Geister angerufen werden, ({3}) will ich dem nicht nachstehen. CDU/CSU und FDP fordern einen Lügenausschuss des Bundestages. ({4}) Würde der legendäre Baron von Münchhausen das noch erleben, würde er sich ob dieser Aufführung endgültig totlachen. Danke schön.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Nach einer Debatte über das Grundsätzliche und über die Lage der Nation ist es immer etwas schwierig, zum kulturellen Teil überzugehen und versöhnliche Töne anzustimmen. Das könnte aber auch unseren nicht ganz so kostspieligen Beitrag zur Kultur in diesem Hause darstellen. Insofern kann ich es, Frau Staatsministerin, nur begrüßen, dass Sie sich heute Ihren Redeplatz erkämpft haben und noch zu Wort gekommen sind. Das ist ein gutes Zeichen. Wir reden heute im Plenum nicht zum ersten Mal über Kultur. Da wir schon zum zweiten Mal darüber reden, habe ich den Eindruck, dass hier öfter darüber diskutiert wird als im Bundeskabinett. Aber dass sich der Bundestag öfter damit beschäftigt, als es die Bundesregierung vielleicht tut, muss - auch im Sinne des Kulturföderalismus - ebenfalls kein schlechtes Zeichen sein. ({0}) Sie haben gerade im Gegensatz zu Ihrer ersten Rede zumindest den Versuch gemacht, auch einige Schwerpunkte der Kulturpolitik zu nennen, statt nur relativ unkonkret und philosophisch zu sprechen. Solche Äußerungen gab es auch. Ich will nicht verhehlen, dass auch uns das, was Sie angesprochen haben, wichtig ist. Aber wir wollen auch deutlich machen, dass es noch andere Themen gibt, die mindestens genauso wichtig sind und die wir ebenfalls zur Sprache bringen wollen. Da wir uns in einer Haushaltsdebatte befinden, gehört es auch zur Realität, festzustellen, dass die Haushaltsansätze den Eindruck erwecken, als ob bei den Haushaltsberatungen im Kabinett nicht über den Kulturetat geredet wurde. Das lag vielleicht daran, dass der vorherige Staatsminister nicht mehr im Amt war und die neue Staatsministerin noch nicht anwesend war. Der Kulturetat ist jedenfalls gemessen am Gesamtetat nicht nur prozentual stärker zurückgefahren worden, sondern auch real gegenüber dem Etatentwurf vom Juni 2002. Die reale Kürzung beträgt insgesamt 4 Prozent bei unverändert laufendem Betrieb. Das ist neu und das kann nicht gut gehen. Denn es stehen im Haushalt 2003 weniger Mittel für Kultur zur Verfügung, und zwar trotz eines angekündigten größeren Engagements nicht nur bei den Stätten des Weltkulturerbes und in Berlin. Neben alldem hat die allgemeine Verunsicherung durch die irrlichternden Sparvorschläge aus dem Hause des Finanzministers auch zu einer „Ersten Allgemeinen Verunsicherung“ bei den Kulturschaffenden geführt. Ich erinnere daran: Erst stand die Spendenabzugsfähigkeit zur Disposition und dann der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Ich bin - wie es auch Herr Otto ausgeführt hat - der Staatsministerin für ihre beharrlichen Interventionen und ihr wiederholtes Veto bei ihren Ministerkollegen dankbar. Mit diesem Einsatz für die Kulturschaffenden und gegen die Pläne der Bundesregierung und insbesondere des Bundesfinanzministers haben Sie sich für die Oppositionsarbeit qualifiziert, Frau Staatsministerin. Wir können in der Oppositionsarbeit auch die Gemeinsamkeiten pflegen. Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen zum Haushalt zum ersten Mal gemeinsame Anträge werden formulieren können. ({1}) Parteiübergreifend, regierungs- und koalitionsübergreifend - das reicht sicherlich vorerst an Gemeinsamkeiten. Lassen Sie mich jetzt noch auf die Frage eingehen, was zu tun ist. ({2}) Im Zusammenhang mit der Museumsinsel zum Beispiel haben Sie Zahlen genannt; aber im Grunde hat sich Verunsicherung dadurch ergeben, dass Sie angekündigt haben, dass die Investitionen dort gestreckt werden müssen und dass die Fertigstellung nicht so schnell erfolgt, wie gewünscht. Sie haben inzwischen Zahlen vorgelegt. Von außen betrachtet stellt sich das manchmal so dar, als würden die Baumaßnahmen zügiger umgesetzt. Aber leider ist das Gegenteil der Fall. ({3}) Auch eine andere Äußerung, nämlich die fröhliche Feststellung, für den Palast der Republik könne man gut ein paar Kulturveranstaltungen für die nächsten Jahre erfinden, weil das Schloss ja sowieso nicht so bald gebaut werde, stößt bei uns auf Kritik. Ich habe es oft gesagt und wiederhole es heute noch einmal: Der Deutsche Bundestag hat vor nicht einmal einem halben Jahr beschlossen, und zwar mit überwältigender, parteiübergreifender Mehrheit, das Schloss wieder zu errichten. Die Bundesregierung hat diesen Beschluss zügig umzusetzen und sich nicht Gedanken über Probleme zu machen, die sie gar nicht hat. Sehr verehrte Frau Staatsministerin, Verlässlichkeit bedeutet, sich wenigstens an die Spielregeln bzw. an die demokratische Kultur in diesem Hause zu halten. Ein weiteres Thema, das konzeptionell und finanziell auf unsicheren Füßen steht, ist die Gedenkstätten- und Erinnerungskultur bezogen auf die NS- und die SED-Diktatur. Der Bund muss sich nicht nur der NS-Zeit annehmen, sondern auch der SED-Diktatur. Es darf nicht der Eindruck entstehen, Frau Staatsministerin, die NS-Zeit sei „geschichtspolitisch“ für die Koalition wichtig und insofern Bundesangelegenheit, während die SED-Zeit nicht zur gesamtdeutschen Geschichte gehöre und deshalb in den neuen Bundesländern abgehandelt werden könne. Eine konkrete Frage im Zusammenhang mit der Debatte über den Haushalt 2003 lautet folglich: Wo ist eigentlich der Mittelansatz für das besondere Gedenken an den 50. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953? ({4}) Der Ruf nach mehr „kultureller Bildung“, um Zivilcourage und Toleranz zu fördern, die Betonung der Kultur als „konfliktpräventive Kraft“ im „Dialog der Kulturen“ - das alles haben Sie schriftlich niedergelegt -, die wiederholte Mahnung, dass das Sparen an der Kultur schon in naher Zukunft den Verlust unwiederbringlicher Güter bedeutet, und die Einsicht, dass die Kultur für den Zusammenhalt der Gesellschaft notwendig ist, sind richtig und unstreitig. Aber das alles ist angesichts des Kulturetats leider nur ein Wunschbild. Ich kann Sie vor diesem Hintergrund nur auffordern, gemeinsam mit der Opposition Ihre Situation im Bundeskabinett zu verbessern. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion. ({0})

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatsministerin, Sie sind zweimal gelobt worden. ({0}) Ich schließe mich dem Lob an. Ich freue mich, dass auch Sie, Herr Otto, ein Lob ausgesprochen haben. Sie haben allerdings dem Lob gleich eine Drohung hinterhergeschickt, nämlich dass Sie sich mit kreativen Ideen einbringen wollen. Nach den Erfahrungen der letzten vier Jahre mache ich mir ein paar Sorgen. Deshalb möchte ich diesem Lob eine Warnung vor dem, was da kommen wird, anschließen, Frau Staatsministerin. Ich freue mich darüber - ich teile das, was Herr Nooke gesagt hat -, dass die Kultur auch ein Thema in der laufenden Haushaltsdebatte ist. Dass Sie nur zwei Minuten Redezeit bekommen haben, Herr Otto, tut mir Leid. Aber das ist ein Problem Ihrer Fraktion. Wichtig ist doch nur, dass wir auch bei der Haushaltsberatung kulturelle Themen ansprechen können. Ich freue mich auch deshalb über die Debatte, weil die Regierungskoalition dadurch die Möglichkeit hat, eine kurze Bewertung der letzten vier Jahre rot-grüner Kulturpolitik vorzunehmen. ({1}) - Darauf komme ich gleich zu sprechen. - Wenn ich vor allen Dingen daran denke, wie die Kulturszene selbst unsere Politik bewertet, dann sage ich für meine Fraktion ganz selbstbewusst: Die letzten vier Jahre rot-grüner Kulturpolitik waren ({2}) eine Erfolgsgeschichte, die wir fortschreiben werden. ({3}) Weil in der laufenden Debatte, aber auch bei der Diskussion über andere Themen viel von Versprechen die Rede war, möchte ich Folgendes sagen: Wir hatten damals versprochen, dass wir der Kulturpolitik einen höheren Stellenwert beimessen werden. Ich glaube, auch dieses Versprechen ist eingelöst worden. Das wird uns auch bestätigt, wobei wir die Bestätigung nicht als Ruhekissen, sondern als Auftrag verstehen, in dieser Richtung weiterzumachen. Das werden wir auch tun. ({4}) Es wäre ein enormer Lustgewinn für mich, wenn ich alles durchdeklinieren dürfte, was wir in den letzten vier Jahren im Bereich der Kultur- und Medienpolitik gemacht haben. Ich nenne nur die Stichwörter Stiftungsrecht, Urheberrecht, Hauptstadtkulturförderung und Künstlersozialkasse. Ich muss zwar leider auf eine vollständige Aufzählung verzichten. Aber ich möchte auf einen Punkt näher eingehen. Eckhardt Barthel ({5}) Sie haben die Kulturministerin zu Recht dafür gelobt - ich meine, dass das auch an der guten Kollektivarbeit gelegen hat; aber das lasse ich jetzt einmal weg -, dass der halbe Mehrwertsteuersatz für Kulturgüter bestehen bleibt. Trotzdem behaupten Sie immer, dass wir die Steuern erhöhten. Ich möchte Ihnen vor dem Hintergrund dessen, was wir alles erreicht haben, ein Beispiel nennen, das zeigt, wie Sie früher die Steuern erhöht haben. Es geht um die Besteuerung der Einnahmen ausländischer Künstler. ({6}) Sie haben im Jahre 1996 die Steuern für diese Gruppe auf 25 Prozent erhöht. Wie sah das Ergebnis dieser Steuererhöhung aus? - Ergebnis war, dass ein Drittel weniger ausländische Künstler nach Deutschland gekommen ist. ({7}) Das mussten wir korrigieren und das haben wir korrigiert. Ich sage denjenigen, die uns immer Steuererhöhungen vorwerfen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht bei Tage baden. ({8}) - Herr Lammert, das gilt für Ihre Unterstützung. Ich freue mich, dass ich Sie wieder einmal vor mir als Abgeordneter sitzen sehe. Ansonsten sitzen Sie ja als Präsident hinter mir. In der Tat - das war positiv - hatten wir ein gutes Klima. Ich hoffe - ich bin diesbezüglich nicht allzu pessimistisch -, dass das auch so bleibt und dass einige nicht ihr fundamentalistisches Potenzial - das hat sich leider schon angedeutet - nutzen werden. Das wäre schlimm, denn wir haben trotz Unterschieden vieles erreicht. Lassen Sie mich einmal einen generellen Unterschied zwischen einer konservativen Kulturpolitik und einer sozialdemokratischen Kulturpolitik aufzeigen. Die Unterschiede sind auch bei den Beispielen, die Herr Nooke gebracht hat und die im übrigen alle richtig sind, deutlich geworden. Ihre Position liegt vorwiegend im Bereich des zu Bewahrenden. Auch wir sind dafür, dass wir das zu Bewahrende bewahren. Aber wir legen gleichzeitig eine starke Betonung auf das Innovative, Kreative und Neue. Darin unterscheidet sich unser Gesamtansatz in der Kulturpolitik. ({9}) Das soll uns aber nicht davon abhalten, in Zukunft weiterhin gemeinsam im Sinne von Fortschritten in der Kulturpolitik in diesem unserem Lande zusammenzuarbeiten. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der letzte Redner in dieser Debatte ist Bernhard Kaster von der CDU/CSU-Fraktion.

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn der Abschlussrede in der Haushaltsdebatte zum Kanzleretat möchte ich eine kleine Vorbemerkung machen. Es ist erst wenige Wochen her, da oblag es mir als Bürgermeister, selber einen Haushaltsplanentwurf einzubringen und zu beraten. Nach Sichtung des heute vorliegenden Zahlenwerkes des Haushaltsplanentwurfes 2003 des Bundes - ich beziehe das aber auch auf den Nachtragshaushalt 2002 - und nachdem ich die finanzund wirtschaftspolitischen Debatten der letzten Wochen erlebt habe, stelle ich ernüchtert fest, dass ein solch unseriöser, geschönter und im Hinblick auf die Investitionsquote und die Nettoneuverschuldung gesetzwidriger Haushalt auf einer kommunalen Ebene unmöglich wäre. ({0}) Meine Damen und Herren, ein solches Zahlenwerk und vor allem die Vorgehensweise würde man keinem Bürgermeister, auch keinem sozialdemokratischen Bürgermeister, im Lande durchgehen lassen. ({1}) In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein paar stilistische Dinge verweisen, die ich in den letzten Wochen hier erlebt habe. Am 13. November trat der Bundesfinanzminister vor die Presse und leistete dort mit der Erklärung über das gestörte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Prinzip den finanzpolitischen Offenbarungseid für unser Land. ({2}) Und womit mussten wir uns zur gleichen Zeit im Haushaltsausschuss auseinander setzen? - Mit zusätzlichen Staatssekretärsstellen. Auch das sollte einmal gesagt werden. Es steht ja auch schon im Internet. ({3}) Angesichts der gesamten Haushaltsdiskussion fand ich das unglaublich. Lassen Sie mich Folgendes noch bemerken: Eine Staatssekretärsstelle wurde mit der Begründung „Ganztagsschule“ eingebracht. Die Ganztagsschule muss in der Diskussion inzwischen wirklich für alles herhalten. ({4}) Meine Damen und Herren, ich möchte auch auf ein paar Formulierungskünste im Finanzbericht eingehen, die sich auf den Nachtragshaushalt 2002 und den Haushaltsplan 2003 beziehen. Dass wir am Rande einer Rezession stehen, formulieren Sie mit den Worten „konjunkturelle Schwächephase“. Meine Damen und Herren, ich kenne aus meinem Wahlkreisbüro viele Arbeitnehmer, die von den 40 000 Pleiten, die wir in diesem Jahr haben, betroffen sind. Die Formulierung „konjunkturelle Schwächephase“ müssen diese Menschen als eine Verhöhnung verstehen. ({5}) Eine weitere Formulierung betrifft die Ausgangslage des Bundeshaushaltes 2003, und zwar die Aussage, dass erwartet wird, dass die Binnennachfrage an Dynamik gewinnt. So gut, so schön. Das wünschen wir uns ja. Anschließend folgt der begründende Satz: Vor allem dürfte sich der Privatverbrauch auf Grund der im Vergleich zu den Vorjahren etwas höheren Lohnsteigerungen wieder verstärken. Meine Damen und Herren, wo bleibt hier die Seriosität? Wie viele Tarifrunden sind eigentlich notwendig, um die zusätzlichen Belastungen der Arbeitnehmer durch erhöhte Steuern und Abgaben zu kompensieren, damit sie mehr Mittel in ihren Händen haben, um auch mehr zu konsumieren? ({6}) Meine Damen und Herren, es geht hier nicht um Schwarzmalerei oder, wie Sie uns immer vorwerfen, um Miesmacherei, nein, es geht darum, dass wir wieder über die Lebenswirklichkeit in unserem Land sprechen müssen. In den vergangenen Wochen waren die meisten von uns in ihren Wahlkreisen. Mancher Debattenbeitrag heute und auch gestern aus den Reihen der Regierungskoalition lässt mich allerdings daran zweifeln. Sprechen Sie bitte nicht nur mit Konzernmanagern und Gewerkschaftsvorsitzenden, sprechen Sie bitte auch mit den Einzelhändlern in Ihrer Stadt, mit den Bauhandwerkern in Ihrer Gemeinde, sprechen Sie mit den Arbeitnehmern und den Betriebsräten vor Ort, sprechen Sie mit den Familien, sprechen Sie mit Landwirten und Winzern. Fragen muss man dann, wie zum Beispiel die Konsumbereitschaft bei über 40 Steuererhöhungen noch gefördert werden soll. Sprechen Sie mit dem Einzelhändler, der jetzt zwingend auf ein gutes Weihnachtsgeschäft angewiesen ist, um überhaupt noch zu überleben. Fragen Sie in Handwerksbetrieben oder auch Ingenieurbüros und Architekten, was sie von der Kürzung der Eigenheimzulage halten. Ich habe einen mittelständischen Unternehmer mit etwa 500 Beschäftigten gefragt, was er sich am meisten von der Politik wünscht. Seine Antwort war schlicht: „Lasst mich bitte in Ruhe. Lasst mich Unternehmer sein. ({7}) Lasst nicht zu, dass immer weitere bürokratische Strangulierungen und steuerliche Erschwernisse hinzukommen.“ Die Antwort der Regierungskoalition kennen wir. Die neueste besteht in dem so genannten Steuervergünstigungsabbaugesetz, ein Sammelsurium steuerlicher Mehrbelastungen, von den anderen Regelungen, die bereits in den vergangenen Wochen beschlossen worden sind, ganz zu schweigen. ({8}) Lebenswirklichkeit vor Ort - darüber muss gerade in der Generaldebatte über den Etat des Bundeskanzlers gesprochen werden -, das ist das Leben der Menschen in unseren Städten und Gemeinden. Wir können den Bundeshaushalt nicht isoliert als eine eigene Ebene betrachten. Wir müssen die Auswirkungen auf allen Ebenen in Betracht ziehen. ({9}) Die rot-grüne Finanz- und Haushaltspolitik hat unsere Städte und Gemeinden in die schlimmste Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik geführt. Das ist so nach den Aussagen aller kommunalen Spitzenverbände. Das ist nicht nur eine Aussage der Opposition. ({10}) Der Arbeitskreis „Steuerschätzung“ musste für das vergangene Jahr bereits ein Minus von 5,4 Milliarden Euro bei den kommunalen Steuereinnahmen verzeichnen. In diesem Jahr kamen weitere 4,1 Milliarden Euro Steuermindereinnahmen hinzu. Das heißt, die wahren Verlierer der Steuereinbrüche sind unsere Gemeinden. Damit trifft es auch die Bürger unmittelbar. Wir sprechen sehr oft über die Betroffenheit der Bürger durch manches Gesetz und manche Abgabe aufgrund der Beschlüsse in den letzten Wochen. Auch diese Seiten muss man bei den Auswirkungen vor Ort sehen. Besonders dramatisch ist dabei die Situation in unseren Städten. Das ist von München bis Flensburg und von Trier bis Chemnitz so. Das spüren die Menschen unmittelbar. Berührt sind unsere Schulen, unsere Kindergärten, Kultur- und Bildungseinrichtungen, Sport-, Vereins- und Ehrenamtsförderung, die Feuerwehren, freiwillige Jugendpolitik und Seniorenarbeit. Das werden Ihnen alle, die in der kommunalen Politik vor Ort tätig sind, bestätigen können. Diese Auswirkungen haben sehr wohl etwas mit Bundespolitik zu tun. ({11}) Sie haben sich, um ein Beispiel zu nennen, durch die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage um 10 Prozent auf jetzt fast 30 Prozent zugunsten von Bund und Ländern zu Unrecht bei den Kommunen bedient. Sie haben uns heute und gestern oft nach den Alternativen gefragt. Wir haben eine Alternative angeboten. Bitte folgen Sie unserer Gesetzesinitiative und machen Sie diesen unsinnigen Schritt rückgängig. Dann würden den Kommunen wieder 2,3 Milliarden Euro für Investitionstätigkeit, die dringend notwendig ist, zur Verfügung stehen. ({12}) Wir brauchen eine Gemeindefinanzreform, die diesen Namen wirklich verdient. Dass die mehrfach angekündigte Gemeindefinanzreform im Bundesfinanzministerium gestrickt werden soll, muss von den Kommunen wirklich als Bedrohung empfunden werden. Dass Bundesminister Eichel gestern in diesem Haus gesagt hat, es dürfe in keinem Fall zu Verschiebungen bei den Lasten kommen, bestätigt diese Befürchtung. Lassen Sie mich als Haushälter noch ganz kurz einen Blick auf den Etat des Bundeskanzlers werfen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie dürfen nicht mehr ganz kurz einen Blick werfen; denn Ihre Redezeit ist bereits weit überschritten.

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann will ich das gerne abschließen. - Mir ist aufgefallen, dass die Ansätze für Staatsbesuche und Auslandsreisen im Etat des Bundeskanzleramtes um 10 Prozent erhöht worden sind. ({0}) Das kritisieren wir nicht. Wir wünschen uns aber mit Blick auf die zusätzlich bereitgestellten Mittel, dass die dringend notwendigen Staatsbesuche in den Vereinigten Staaten endlich nachgeholt werden. ({1}) Damit schließe ich. Das, was sich hier abzeichnet, kann von der CDU/CSU-Fraktion nicht mitgetragen werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kaster, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Parlament recht herzlich. Ich wünsche Ihnen für Ihre politische Zukunft hier alles Gute. ({0}) Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für ein glaubwür- diges Angebot der EU an die Türkei“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/126? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abgelehnt. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik - Drucksache 15/136 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht vergessen - Drucksache 15/64 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss ({4}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte diejenigen, die an der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen und ihre Gespräche draußen weiterzuführen. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war gerade eine wichtige Abstimmung. Sie stand im Zusammenhang mit einem zentralen Thema, das wir in Kopenhagen, wo der Gipfel der Europäischen Union sehr bald stattfinden wird, weiter erörtern werden. Ich hoffe, dass wir in Kopenhagen zu einer sehr vernünftigen Abschlusserklärung kommen werden. Ich komme darauf noch zu sprechen. In der Debatte über den Einzelplan des Auswärtigen Amtes sprechen wir über Deutschlands internationale Rolle, also über einen Teil unserer Außenpolitik. Diese Politik gründet auf den langen Linien der bundesrepublikanischen Außenpolitik. Es ist unsere Verpflichtung, für Gewaltfreiheit und für Menschenrechte einzutreten. Dies ist unsere Verpflichtung gegenüber der europäischen Integration und gegenüber dem transatlantischen Verhältnis. Dieses Eintreten liegt auch in unserem Interesse. Unser Sonderverhältnis zu Israel bestimmt diese langen Linien. Auf dieser Grundlage hat auch diese Bundesregierung ihre Politik entwickelt. ({0}) Herr Glos hat bereits heute Morgen in einem wirklich zukunftsweisenden Beitrag darauf hingewiesen, dass er die Außenpolitik der Bundesregierung im Wesentlichen von außenpolitischem Dilettantismus bestimmt sieht. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Unsere Partner sehen das völlig anders. ({1}) - Doch. Selbst der Abgeordnete Pflüger sieht das insgeheim völlig anders, auch wenn er das hier nicht so darstellt. ({2}) Wir nehmen unsere Verpflichtungen in einem umfassenden Sinne wahr. Dies gilt umso mehr seit dem 11. September letzten Jahres. Der internationale Terrorismus ist eine Bedrohung für uns alle. Der internationale Terrorismus ist eine Bedrohung, der wir auf zwei Ebenen entgegentreten müssen. Wir haben zuletzt in Mombasa wieder erlebt, mit welcher Menschenverachtung dieser Terrorismus zuschlägt. Er gibt vor, gegen Israel zu kämpfen, und er mordet unschuldige Menschen israelischer Staatsbürgerschaft, aber genauso unschuldige Menschen kenianischer Staatsbürgerschaft. Das zeigt das ganze Maß an Verachtung gegenüber den Grundsätzen von Menschlichkeit. Mit einer Politik - es fällt mir schwer, hier den Begriff „Politik“ zu verwenden -, die sich dieser Instrumente bedient, wird man nicht verhandeln können. Eine solche Politik wird man in internationaler Solidarität niederkämpfen müssen; man wird dem Terrorismus ent920 schlossen entgegentreten und die Strukturen zerstören müssen. ({3}) Die Bundesrepublik Deutschland leistet dazu ihren Beitrag. Wir - Kollege Pflüger, Kollege Nachtwei und andere waren dabei - konnten uns in Kabul davon überzeugen, dass wir unseren Beitrag leisten. Das geschieht nicht nur auf der Ebene des direkten Kampfes gegen den Terrorismus, gegen die al-Qaida- und die Taliban-Strukturen, sondern auch - da komme ich zum zweiten Punkt -, indem den Menschen im Rahmen der UN-Friedensmission wieder eine Perspektive gegeben wird. Die Terrorismusbekämpfung spielt auch in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle. Überall, wo terroristischer Nährboden existiert, muss dieser trockengelegt werden. Das setzt ein langfristiges Engagement beim Wiederaufbau zerbrochener Strukturen, bei der Hilfe für Staaten wie etwa Afghanistan voraus, wo sich eine Gefahr für internationalen Frieden und internationale Sicherheit entwickeln konnte. Darüber haben wir lange hinweggeschaut. Ich sage das auch mit einer gewissen Selbstkritik. Wir haben in diesem Hause über Jahre hinweg - ich meine das nicht auf diese Bundesregierung bezogen, sondern mehr auf die Zeit, als wir in der Opposition waren und Sie in der Regierung - schlicht und einfach unterschätzt, welche Gefahren darin liegen, dass relevante Gruppen, relevante Teile der Bevölkerung keine Zukunft mehr sehen. Bei der Frage der Zukunftsperspektive geht es nicht nur um eine Armutsperspektive - damit ich hier nicht missverstanden werde -, sondern es geht dabei oft auch um Modernisierungsblockaden, um ideologische Verblendung. Wir alle kennen das auch von dem einen oder anderen Punkt aus der europäischen Geschichte. Deswegen gilt: Wer den Kampf gegen den Terrorismus ernst meint, der darf nicht dazu beitragen, dass mehr Gründe entstehen, auf die terroristische Propaganda hereinzufallen, sondern muss dafür sorgen, dass es weniger solcher Gründe gibt und dass Strukturen geschaffen werden, die möglichst vielen Völkern und Staaten wieder eine Perspektive geben. ({4}) Ich sehe mit einer gewissen Sorge das Übergreifen des Terrorismus auf andere Regionen, vor allen Dingen in Ost- und Westafrika. Man kann nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass die afrikanische Krise, die hier schon oft besprochen wurde, nicht von völlig unverantwortlichen terroristischen Kräften und Strukturen genutzt wird. Das macht klar, dass Globalisierung nicht nur und vor allen Dingen eine Frage der Wirtschaft ist - das ist sie auch -, sondern ebenso eine Frage der Gerechtigkeit, eine Frage des Zugangs zu Bildung und Ausbildung, eine Frage der sozialen Sicherheit, der Berufsperspektive für die jungen Menschen. Das sind ganz entscheidende Fragen. Auch die Frage der Menschenrechte ist seit dem 11. September vergangenen Jahres anders zu sehen. Es handelt sich dabei zwar nach wie vor um eine zutiefst moralische und rechtliche Frage; aber die Durchsetzung der Menschenrechte ist einer der ganz entscheidenden Punkte im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, weil das essenziell zur Zukunftsgestaltung gehört. ({5}) Herr Schäuble, ich schätze die Kontroverse mit Ihnen sehr, aber dass Sie uns Antiamerikanismus vorwerfen, ist mir unverständlich. Der nächste Schritt wird sein, dass Sie „Freiheit oder Sozialismus“ wieder aus der Mottenkiste holen. Ich möchte ja gar nicht zitieren, was Ihr Herr Stoiber im Wahlkampf alles verkündet hat. ({6}) - Das will ich gerne tun. Es war Herr Stoiber, der sich gegen die Überflugrechte der USA ausgesprochen hat, noch in der letzten Woche. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glos?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ja.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, nachdem Sie Stoiber zitiert haben, wissen Sie doch sicher auch - denn es war öffentlich -, dass er das, was in n-tv gesagt worden ist, anschließend dementiert hat; er hat gesagt, das sei ein Versehen gewesen. ({0}) - Entschuldigung! Man wird etwas Gesagtes doch sofort zurücknehmen können! Dann darf die falsche Position auch nicht weiterhin ständig zitiert werden. Darf ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, Stoiber in Zukunft nicht mehr falsch zu zitieren?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ich bin gern bereit, in Zukunft hinzuzufügen: Es war eines der Stoiber-üblichen Versehen. Wenn Sie das wollen, mache ich das gern. Ich nehme aber an, er wusste wieder einmal nicht, wovon er gesprochen hat. Das wird es wahrscheinlich gewesen sein. ({0}) Sie lachen. ({1}) Sie sehen das ja genauso. Das ist ja noch viel schlimmer. Er wusste nicht, wovon er redet, und deswegen hat Herr Spreng, der für den Wahlkampf zuständig war, das wieder eingesammelt. Und dieser Herr Stoiber wollte Bundeskanzler werden. Wie gut, dass er bayrischer Ministerpräsident geblieben ist. Es ist doch einfach abwegig. Wir haben in der Irak-Frage eine andere Auffassung - bis heute konnten Sie mir nicht erklären, was wirklich Ihre Position ist - als Teile der amerikanischen Regierung und des amerikanischen Kongresses. Ich habe Ihnen die Begründung dafür schon oft genannt. Entscheidend ist die Frage: Sind die USA wirklich zu Militäraktionen gegen Saddam Hussein bereit? Unsere Position ist eindeutig. Wir haben vor den Wahlen gesagt: Wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen, wir werden uns nicht mit Soldaten beteiligen. - Wir sagen das auch nach den Wahlen. Die Gründe haben sich für mich nicht geändert - das habe ich sowohl in Washington als auch amerikanischen Besuchern hier in Berlin immer wieder gesagt -, weil für mich das regionale Risiko das entscheidende Problem ist und bleibt. Die entscheidende Frage ist, ob eine solche Aktion uns tatsächlich im Kampf gegen den internationalen Terrorismus - den sehe ich als die Hauptherausforderung und als die Hauptgefahr an - stärken oder schwächen wird. Unsere große Sorge ist, dass sie uns schwächt, und das macht unsere Ablehnung aus. Mir muss einmal einer sagen, was daran antiamerikanisch ist. ({2}) Das ist auch vor dem Hintergrund unserer Entscheidungen zum Kampf gegen den Terrorismus nach dem 11. September zu sehen, wo wir nichts, aber auch wirklich nichts zurückzunehmen haben, wo wir aufgrund unserer Leistungen auf dem Balkan voll in der Solidarität und zu unserer Verpflichtung stehen. Nein, wir haben offensichtlich eine andere Vorstellung von Bündnis, so wie das gestern auch schon Jean-Claude Juncker in einer Diskussion in Brüssel gesagt hat. Ein Bündnis bedeutet nicht, dass man immer Ja und Amen sagt, sondern wenn man unterschiedlicher Meinung ist, muss man diese unterschiedliche Meinung unter Demokraten und Demokratien offen austragen, ({3}) auch wenn das bisweilen unbequemer ist, als immer Ja und Amen zu sagen. Aber ich unterstelle Ihnen nicht einmal, dass Sie das wirklich meinen, sondern Sie versuchen, wider besseres Wissen mit „Antiamerikanismus“ einen innenpolitischen Kampfbegriff zu setzen. Das ist doch die eigentliche Intention. ({4}) Dazu sage ich Ihnen, meine Damen und Herren: bedauerlicherweise. Nehmen Sie das Beispiel Türkei. Es ist doch nicht wahr, dass wir hier Entscheidungen treffen, um irgendjemandem einen Gefallen zu tun. Herr Glos hat sich heute Morgen aufgeregt, als ich angeblich wieder arrogant gelacht habe, weil er sagte, die Amerikaner würden mit uns nicht sprechen. Gestern Nacht habe ich noch mit Colin Powell über diese Frage gesprochen. Ich habe ihm noch einmal gesagt: Zur Türkei wird es keine Entscheidung geben, die nicht unserer Interessenlage und der Interessenlage der europäischen Integration entspricht. Ich habe das in den USA genauso gesagt. Es wird keine Entscheidung geben unter dem Gesichtspunkt: Beim Irak sind wir euch auf die Füße getreten, deswegen wollen wir wieder schönes Wetter machen. Nein, das wird es mit uns nicht geben. Ich kann Ihnen als überzeugter Europäer auch sagen, warum: Weil das nicht tragen würde. Eine Entscheidung über ein Zusammengehen in der Union lässt sich nicht mit einem Gefallen gegenüber einem Dritten begründen, sondern eine solche Entscheidung muss aus sich selbst heraus begründet werden. Allerdings sage ich Ihnen: Seit dem 11. September ist die Frage der Ostgrenze der Europäischen Union anders zu betrachten als vorher - das müssen wir doch realisieren und die strategische Bedrohung unserer Sicherheit wird im Wesentlichen aus diesem Raum kommen. Das heißt aber auch: Wir Europäer werden uns dort in einem ganz anderen Maße zu engagieren haben, und zwar nicht vor allen Dingen militärisch, denn diese Gefahren sind nicht vornehmlich mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Die entscheidende Frage wird sein, Kollege Schäuble: Gibt es ein großes islamisches Land, das den Weg zu einer erfolgreichen Modernisierung unter rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Bedingungen gehen kann, ja oder nein? ({5}) Wenn das der Türkei gelingt, wird das der wichtigste Erfolg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus sein, wichtiger als das, was wir im Zusammenhang mit dem Militäretat und mit anderen Dingen diskutieren. ({6}) Ich kann Ihnen heute nicht sagen, ob die Türkei jemals diesen Weg erfolgreich zu Ende geht. Ich kann Ihnen aber sagen: Wenn wir Ihren Antrag heute beschließen würden, wäre dies ein Beitrag zu einer weiteren Stärkung der Unsicherheit, weil das hieße, der Türkei die Tür, die Sie aufgemacht haben - ich meine nicht Sie persönlich, sondern den politischen Hintergrund -, vor der Nase zuzuschlagen. In internen Gesprächen fragen türkische Gesprächspartner immer eines: Wenn wir nicht zu Europa gehören, wohin gehören wir denn dann? Sie wissen doch so gut wie ich, dass die Nationalisten und die radikalen Islamisten mit einer ablehnenden Haltung rechnen. Damit ich nicht missverstanden werde, weise ich darauf hin, dass all das keine zureichenden Gründe für eine Vollmitgliedschaft sind. Deswegen müssen wir auf der Grundlage der Kontinuität eine vernünftige Politik machen. Als Sie noch in der Regierung waren, waren auch Sie für Kontinuität. Damit komme ich auf den Untersuchungsausschuss zu sprechen. Er wird ein weites Feld zu bearbeiten haben und jahrelang tagen müssen. Mit der Wahrheit in der Politik und der Union ist es wie mit dem Hund und der Wurst; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. ({7}) Herr Koch ist doch die Fleisch gewordene Glaubwürdigkeit dieser Politik. ({8}) Es gibt das Beispiel von Pinocchio, dessen Nase wächst, wenn er lügt. Manch einem von uns, insbesondere Ihnen, Herr Glos, wäre die Nase da schon sehr lang geworden. Herr Koch würde aber aussehen wie Laokoon; so lang wäre seine Nase mittlerweile. ({9}) Das wissen auch Sie. Ich bedaure, dass ich als Außenminister nicht in diesen Ausschuss kann. Er verspricht nämlich sehr viel Heiterkeit, ist dem Ernst der Lage allerdings nicht angemessen. Als Sie die Regierung gestellt haben, waren Ihre Äußerungen überaus vernünftig: Wir müssen die Tür für die Türkei offen halten. Wenn die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllt - das wollen wir erreichen, weil das Modernisierung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Europäisierung hieße -, haben wir einen großen Schritt nach vorne gemacht. Der Prozess kann jetzt nicht abgebrochen werden. Ich hoffe, dass wir hier eine richtige und weise Entscheidung treffen werden. Auf dem Gipfel von Kopenhagen stehen wir vor einer historischen Entscheidung, nämlich der Entscheidung, dass sich die Europäische Union von einer westeuropäischen Union zu einer gesamteuropäischen Union entwickelt. Das werden wir nur leisten können, wenn wir die Verfassung zu einer wirklichen Grundlage für ein politisches Europa weiterentwickeln. Diesem Ziel fühlt sich die Bundesregierung verpflichtet. Wir arbeiten aufs Engste mit unseren französischen und anderen Partnern in der Europäischen Union und im transatlantischen Verhältnis zusammen. Herr Schäuble, ich kann Ihnen nur sagen: Ein Besuch in Kabul kann zu neuen Erkenntnissen führen, obwohl wir noch gar nicht die Lead Nation sind. Aber zu meinen, wir wären isoliert und würden unseren Beitrag nicht leisten - unsere Soldaten leisten dort eine hervorragende, risikoreiche und gefahrvolle Arbeit -, ist falsch. ({10}) Ich hoffe, dass wir alle den Soldaten bei der Verlängerung des ISAF-Mandats den Rücken stärken. Ich kann nur darauf hinweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland zum Gelingen ganz entscheidend beiträgt. Vieles ruht bereits auf unseren Schultern. Hier von Isolierung oder Antiamerikanismus zu sprechen ist Wahlkampf in Hessen und Niedersachsen, hat mit der Sache aber nichts zu tun. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, es ist traurig, dass der Außenminister in der ersten Lesung des Bundeshaushaltes zur Einführung der Beratungen über die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr, nichts anderes und nichts Konkreteres zu sagen hat als das, was wir von Herrn Fischer gehört haben. ({0}) Jeder in Deutschland weiß, dass der Bundeskanzler antiamerikanische Gefühle und Ressentiments in diesem Wahlkampf geschürt und ausgebeutet hat. Deshalb will ich die Debatte darüber gar nicht aufmachen. Mit Äußerungen, dass das jetzt alles nur ein Missverständnis der dummen Opposition gewesen sei, machen Sie sich noch nicht einmal mehr lächerlich. Diese Debatte können Sie sein lassen. ({1}) Das Problem ist ein völlig anderes. Ich will Ihnen ein Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. November, nach dem NATO-Gipfel in Prag, vorlesen: Es geht vielmehr darum, dass die Bundesregierung in einer Falle sitzt, die sie selbst konstruiert hat: Denn nach der Abstimmung von Prag muss sie sich entscheiden zwischen ihrem im Wahlkampf abgegebenen Versprechen, sich an keinen „Abenteuern“ im Morgenland zu beteiligen, und ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber der Nato. Kurz ausgedrückt: Sie wird ihr Wort brechen müssen, aber sie kann es sich aussuchen, wen sie betrügen will - die Wähler oder die Partner. Das ist die Wahrheit. ({2}) Jetzt wollen wir uns einmal einen Moment lang anschauen, wie Sie das gegenüber den eigenen Anhängern - das erklärt ja manche tollen Redereien der letzten Wochen - im Einzelnen tun. Der Bundeskanzler hat tagelang davon gesprochen, dass wir schon deswegen Überflugrechte gewähren müssten, weil dies im NATO-Vertrag stehe. ({3}) Ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland muss, bitte schön, wissen, dass der NATO-Vertrag greift, wenn der NATO-Fall gegeben ist. Davon ist im Zusammenhang mit dem Irak wirklich keine Rede. Der Verteidigungsminister hat am 24. November im ZDF die Frage „Hat die USA Abwehrraketen erbeten?“ mit Nein beantwortet. ({4}) - Das ist aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. November; ich habe diesen Bericht hier. Das können wir prüfen. Darin wird der Dialog zwischen Ihnen und dem Interviewer des ZDF wörtlich dargestellt. Herr Kollege Struck, Sie können es nachher richtig stellen. Im Übrigen, selbst wenn er nach Patriots gefragt hätte, war dies eine ziemlich plumpe Täuschung. Denn dass die Amerikaner nicht unsere relativ alten Hawk-Systeme anfragen, sondern - wenn überhaupt - unsere Patriots, weiß jedes Kind, selbst der deutsche Verteidigungsminister. Machen Sie keine Ausflüchte! Ich nenne noch ein Beispiel dafür, wie Sie versuchen, Ihre Anhänger von Ihren Wahlversprechen langsam zur Wirklichkeit zurückzuführen. Die Fuchs-Spürpanzer - ich meine die ABC-Spürpanzer; um hier keine Verwechslung entstehen zu lassen - werden inzwischen in fahrbare Laboratorien umdefiniert. Das sind immer noch gepanzerte Fahrzeuge mit bestimmten Einrichtungen. Laboratorien sind etwas anderes. Viel schlimmer ist die Frage - um auch dies zu erwähnen -: Was machen eigentlich die Soldaten der Bundeswehr einschließlich der Fuchspanzer in Kuwait, wenn es - was wir alle nicht hoffen und wünschen - zu einer militärischen Verwicklung mit dem Irak kommen sollte? Die Antwort, die Sie uns - auch in der fabelhaften Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden - gegeben haben, nämlich dass sie nur im Rahmen des Mandats Enduring Freedom tätig seien, ist sehr verantwortungslos. Denn wenn es zu einer solchen Entwicklung kommen sollte, können Sie die einzelnen Geschehnisse nicht mehr abgrenzen. ({5}) Im Übrigen hätten Sie gleich dazusagen sollen: Um sie einzusetzen, müssen erst einmal 250 weitere Soldaten aus der Reserve von Deutschland nach Kuwait transportiert werden. Sie weichen der Verantwortung aus und lasten sie im Ernstfall den Soldaten auf. Das ist unverantwortlich und die Folge Ihrer Politik. ({6}) Herr Außenminister, wenn Sie hier schon eine Rede halten, hätte ich von Ihnen gerne ein Wort dazu gehört, welche Haltung die Bundesregierung hat, wenn am kommenden Sonntag, am 8. Dezember, die Frist abläuft, bis zu der der Irak seinen vollständigen Bericht über Massenvernichtungswaffen an die Vereinten Nationen liefern muss. Was wird in der nächsten Woche geschehen, wenn dieser Bericht so oder so ausfällt, wenn er möglicherweise mit den Geheimdiensterkenntnissen anderer nicht übereinstimmt? Dazu haben Sie kein Wort gesagt. ({7}) Überhaupt ist bemerkenswert, Herr Bundesaußenminister: Sie haben am Montag dieser Woche eine publizistisch sehr aufwendig begleitete Konferenz zu Afghanistan, Petersberg II, abgehalten. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Diese Konferenz haben Sie viel gefeiert. ({8}) - Das ärgert mich überhaupt nicht. Es ärgert mich, dass Sie nichts dazu gesagt haben, was in Afghanistan das Problem ist. Im Zusammenhang mit dem ISAF-Mandat werden wir darüber zu sprechen haben. Sie sagen, es solle in diesem Zusammenhang keine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes über Kabul hinaus geben. Vor kurzem hat diese Regierung übrigens noch gesagt: Die Bundeswehr kann die Führung des ISAF-Mandats in Afghanistan nicht übernehmen. - Jetzt können wir dies auf einmal. Über die Frage, warum, kann man diskutieren. Ich hätte gerne von Ihnen gehört, wie Sie zu den Verabredungen stehen. Wir haben lesen können, dass die Amerikaner und andere auch in den Provinzen außerhalb Kabuls Sicherheitspräsenz zeigen wollen. Was ist die Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage? - Die Petersberg-Konferenz ohne die Territorialfürsten aus Afghanistan nützt uns gar nichts, wenn zu der Frage der Sicherheitsentwicklung in Afghanistan vom Außenminister kein Wort gesagt wird. Das zeigt, Sie nehmen Ihre Verantwortung nicht wahr. Das ist der eigentliche Punkt. ({9}) Sie schüren und nutzen antiamerikanische Ressentiments aus. Es geht weiter: Herr Struck hat dieser Tage im Zuammenhang mit dem NATO-Gipfel in Prag davon gesprochen, dass die NATO-Response-Force nicht eine Fremdenlegion werden dürfe. Wer solche Begriffe als amtierender Minister einer Bundesregierung benutzt, weiß doch, welche Ressentiments er damit schürt. Darin kommt die ganze Verantwortungslosigkeit zum Ausdruck. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Peter Struck?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte sehr.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schäuble, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich gesagt habe, der Vorwurf, die NATOResponse-Force sei eine Fremdenlegion der Amerikaner, ist ein falscher Vorwurf, und das ich ihn zurückweise? Verfälschen Sie bitte solche Zitate nicht, Herr Schäuble! Es ist eine Unverschämtheit, was Sie hier machen! Sie verfälschen das Zitat. ({0}))

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Struck, ich habe das Zitat vor mir liegen. ({0}) Ich kann es Ihnen nachher geben. ({1}) Sie haben das Wort Fremdenlegion im Zusammenhang mit der NATO-Response-Force gebraucht. ({2}) - Wen haben Sie denn zitiert? ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Struck, zur Beantwortung der Zwischenfrage müssen Sie bitte an Ihrem Platz bleiben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gehen Sie noch einmal zurück, Herr Kollege Struck. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Schäuble möchte noch weiter antworten. Herr Kollege Struck, bitte gehen Sie noch einmal zurück an Ihren Platz. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Struck, um Ihre Frage zu beantworten: Mir liegt ein Zitat vor, in dem Sie das Wort Fremdenlegion verwendet haben. Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie sagen, Sie hätten damit Kritik anderer, die ich nicht kenne, zurückgewiesen. Das nehme ich gern zur Kenntnis, möchte aber gleich die Vermutung hinzufügen: Dieser Begriff ist sicher eher aus den Reihen der Koalition als aus den Reihen der CDU/CSU gekommen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Peter Struck?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, gern.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst einmal, Frau Präsidentin, bitte ich um Entschuldigung. Ich dachte, Herr Schäuble hätte meine Frage schon beantwortet. Es ist nicht meine Art, einfach wegzugehen. Jetzt zur Sache, Herr Schäuble, damit das ganz klar ist: Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass mich ein Journalist am Rande des Prager Gipfels dazu befragt hat, dass es Stimmen in Europa gibt, die gesagt haben, die NATOResponse-Force sei eine Fremdenlegion der Amerikaner. Ich habe erklärt: Dieser Vorwurf ist falsch. Sie ist keine Fremdenlegion der Amerikaner, es ist eine von uns mitgetragene schnelle Eingreiftruppe. Können wir das jetzt endlich klarstellen? Es geht nicht um Stimmen aus der Koalition, sondern es geht um einige Stimmen aus dem europäischen Umfeld. Können Sie das bitte zur Kenntnis nehmen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme es zur Kenntnis und füge gleich hinzu: Wenn es auf diese Weise klargestellt ist, bin ich froh. ({0}) - Das ist doch der Sinn. Ich habe ein Zitat vorliegen, das ich aber nicht mit ans Rednerpult genommen habe. ({1}) Herr Kollege Struck, ich nehme das zur Kenntnis und bin froh, wenn Sie klarstellen, dass Sie wie ich der Meinung sind, dass die Verwendung dieses Begriffs im Zusammenhang mit der NATO-Response-Force falsch ist. Wenn Sie sagen, Sie haben ihn nicht verwendet, sondern zurückgewiesen, ist das in Ordnung. ({2}) - Er hat mich aber gefragt, ob ich es zur Kenntnis nehme. Ob ich es begrüße, ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass die Art, in der Sie in der Diskussion über die Irak-Politik die Vereinigten Staaten von Amerika zum eigentlichen Risiko für eine friedliche Entwicklung machen, in Wahrheit dazu führen wird - das kann ich Ihnen lange und ausführlich erläutern -, dass wir eine echte Bedrohungsanalyse in Deutschland nicht vornehmen. Als Folge davon treffen wir nicht hinreichend Vorsorge. Ich sage Ihnen voraus: Wenn eines Tages in unserem Land wirklich eine Katastrophe ausbrechen würde, wäre unsere Bevölkerung weniger vorbereitet als die Bevölkerung in anderen Ländern. Die panikartige Reaktion wäre dadurch größer. Wer rechtzeitig eine realistische Bedrohungsanalyse vornimmt und Vorsorge leistet - hundertprozentige Sicherheit kann nie gewährleistet werden -, wirkt der Panik eher entgegen und wird seiner Verantwortung gerecht. Darum geht es. Das ist der entscheidende Punkt. Davon lenken Sie ab. Sie machen ein Zweites. Der britische Außenminister Straw hat dieser Tage von einer Zwillingsbedrohung gesprochen. Wir haben eben nicht nur den internationalen Terrorismus, von dem der Außenminister immer gerne redet, sondern wir haben genauso die Gefahr, die aus der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen resultiert. Die Verbindung beider Risiken, internationaler Terrorismus und Massenvernichtungswaffen, ist die eigentliche Bedrohung im Jahre 2002 und vermutlich in absehbarer Zukunft. Sie erfordert unseren Einsatz und unsere Beteiligung. Um diesen Punkt geht es. ({3}) Dazu müssen wir die entsprechenden Fähigkeiten entwickeln. Die Bundeswehr bzw. die Bundesrepublik Deutschland muss auch in der Lage sein, sich an Maßnahmen zu beteiligen. Darum geht es. Das ist der entscheidende Punkt. Von dem lenken Sie ab; dem weichen Sie aus. ({4}) Hinzu kommt das andere. Natürlich versuchen Sie inzwischen nahezu verzweifelt, gegenüber Ihren Partnern in Europa, bei den Vereinten Nationen und bei der NATO aus der Isolierung, in die Sie nach Auffassung aller geraten sind und in die Sie Deutschland selbst hineingeführt haben, herauszukommen. Dieser Weg wird für uns teuer. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. Dolmetscher hin oder her: Der schnelle deutsch-französische Agrarkompromiss war in Wahrheit kein Kompromiss, sondern die Übernahme der französischen Position in dieser Frage. Als das bekannt geworden ist, war der Dolmetscher schuld, obwohl es der Bundeskanzler war, der es nicht begriffen hat. Der Grund, aus dem Sie es gemacht haben, ist völlig einsichtig: Sie wollten wenigstens in einer anderen Frage aus der Isolierung herauskommen. ({5}) Zu der Panzerpanne im Zusammenhang mit der israelischen Anfrage haben Sie in Ihrer Rede eben auch kein Wort gesagt. Es ist doch kein Zufall, dass man - weil man nun gar nicht genug Anfragen positiv bescheinigen kann, um zu zeigen, dass man gar nicht so unzuverlässig ist, wie man den Eindruck erweckt hat - aufgrund eines Fax, von dem es hinterher hieß, es sei nicht einmal leserlich gewesen, in der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden und in der Pressekonferenz gesagt hat, die Anfrage sei positiv beschieden und den ABC-Spürpanzer „Fuchs“ liefere man auch nach Israel. Hinterher hat man festgestellt, dass die Israelis gar keine ABC-Spürpanzer, sondern Transportpanzer haben wollen. Die Entscheidungen über Waffen- und Rüstungsgüterexporte werden von der Bundesregierung normalerweise etwas sorgfältiger vorbereitet, und man verkündet nicht aufgrund von Faxen, von denen man hinterher sagt, sie seien nicht einmal leserlich gewesen, eine positive Entscheidung . Jetzt wird die Sache aber noch schlimmer. ({6}) - Wir überhaupt nicht. Ich sage Ihnen gleich unsere Position dazu. Sie haben kein Wort dazu gesagt, obwohl Sie als Außenminister eine Grundsatzerklärung zur Außenpolitik hätten abgeben sollen. ({7}) Unsere Position ist völlig klar. Wir haben eine besondere Verantwortung für Israel. Darin haben wir die Politik der Bundesregierung immer unterstützt. Wir haben ein besonderes Interesse daran, Frieden und Stabilität im Nahen Osten wie und wo immer möglich zu fördern. Wir haben die Politik der Bundesregierung unterstützt, in der Quartettlösung - Europäische Union, Vereinte Nationen, Amerika und Russland - gemeinsam dafür zu wirken, dass Frieden und Stabilität zwischen den Konfliktparteien Israel und Palästina eintreten. Ich sage Ihnen: Die Frage des Exports von Transportpanzern nach Israel kann man nicht losgelöst von den politischen Bemühungen um die Stabilität im Raum Israel und Palästina beantworten. Deswegen ist es verantwortungslos, dass Sie uns in Deutschland durch eine wirklich abenteuerlich oberflächliche Politik eine solche Debatte eingebracht haben, anstatt als Außenminister zu sagen, die Politik der Europäischen Union und die Politik der Bundesregierung in Bezug auf Israel und Palästina ist so und so und in diesen Rahmen fügt sich die Entscheidung für die Lieferung von Transportpanzern „Fuchs“ an Israel ein. Das wäre eine verantwortliche Politik. Das andere ist Larifari und wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. Das ist der Unterschied. ({8}) Wie ich schon sagte, haben Sie zu Afghanistan kein Wort gesagt. ({9}) - Entschuldigung, die eigentlich anstehende Frage ist: Was ist mit der Ausdehnung der Sicherheitspräsenz in Regionen außerhalb Kabuls? ({10}) - Gut. Über das andere haben Sie nicht gesprochen. ({11}) Herr Kollege Fischer, es ist ja ein bemerkenswertes Eingeständnis, dass man dem Außenminister vorher die Fragen sagen muss, auf die er, wenn er eine Grundsatzerklärung zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland abgibt, antworten will. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass Sie dazu nichts gesagt haben; denn das sind die Fragen, die anstehen. Ich frage noch einmal: Welches wird die Haltung der Bundesregierung nach dem 8. Dezember sein, wenn der Bericht des Irak an die Vereinten Nationen über die Massenvernichtungswaffen, die er hat aber nicht haben darf - wie vollständig und wahrheitsgemäß er auch immer sein mag - vorliegt? Sie haben - daran besteht doch überhaupt kein Zweifel - Ihre Position in der Türkeifrage, was den europäischen Gipfel betrifft, auf amerikanisches Drängen als Folge dieser unseligen Entwicklung in den letzten Monaten verändert bzw. weiterentwickelt. Sie haben unseren Antrag offensichtlich gar nicht gelesen. ({12}) Sie haben ihn abgelehnt, ohne ihn gelesen zu haben. Unsere Meinung ist völlig klar. Ich glaube, sie ist auch die richtige. Ich hatte die Hoffnung, auch die Bundesregierung könnte diesen Weg gehen. Es geht um die Frage, ob die Türkei bei dem, was wir uns als Ziel unter der EU vorstellen, Vollmitglied der Europäischen Union werden soll. Gelegentlich haben Sie Reden über die Finalität der Europäischen Union gehalten. Das alles ist gerade in Fluss. Es nützt gar nichts, darauf hinzuweisen - das habe ich selber schon gesagt -, dass seit den 60er-Jahren die Europäer der Türkei die Perspektive einer Vollmitgliedschaft angeboten haben. Dieser Prozess darf auch nicht einseitig sein. Das alles ist wahr. Die Frage ist: Welche politische Identität soll die Europäische Union - daran arbeitet gerade der Europäische Konvent - haben? Passt das überhaupt zu einer vollen Mitgliedschaft der Türkei? Passt dazu überhaupt die Mitgliedschaft von Ländern, die teilweise zu Europa gehören, teilweise aber auch nicht, zum Beispiel Länder wie Russland? Wäre es nicht klüger, für solche Länder eine eigene Form institutioneller Zugehörigkeit zu Europa zu entwickeln? Das sind doch nicht Fragen, die man zu Wahlkampfzwecken entwickelt. Es geht um die Grundfrage, ob die Europäische Union überhaupt eine politische Union mit einer eigenen politischen Identität werden kann oder ob dieser Prozess scheitert. Diese Frage stellen viele - bis hin zum Präsidenten der Europäischen Kommission. Im Übrigen habe ich hier ein Zitat über Herrn Verheugen, dem für die Erweiterungsverhandlungen zuständigen Kommissar, der sich auf einer Konferenz übereinstimmend mit dem von Ihnen so geschätzten Herrn Koch geäußert hat: Herr Verheugen schlug die Begründung eines besonderen Nachbarschaftsverhältnisses zu den Türken vor, einen Vertrag, der auch für andere Nachbarn der EU bedeutsam werden könnte, beispielsweise die Ukraine und Russland. Das genau ist unsere Position, wobei wir in unserem Antrag, den sie gerade abgelehnt haben, sagen: Lasst uns dies doch mit der Türkei offen und freundschaftlich bereden. Wir haben jedes Interesse an einer positiven Entwicklung der Türkei. Das ist überhaupt keine Frage, wir unterstützen das. Lasst uns gemeinsam darüber reden! Lasst uns deswegen beim Europäischen Rat - jetzt in Kopenhagen, später oder wann immer ein neuer Schritt gegenüber der Türkei getan wird - diesen Schritt nicht auf die Perspektive der vollen Mitgliedschaft in der EU beschränken! Man könnte alternativ auch eine privilegierte Partnerschaft oder einen Nachbarschaftsvertrag mit der Türkei einvernehmlich verhandeln, damit wir jetzt nicht Entscheidungen treffen, die wir in der Europäischen Union wie in der Türkei besser erst dann treffen, wenn wir wissen, wohin die Reise auch im Europäischen Konvent geht. Es ist übrigens in Europa hoch spannend: In der europäischen Debatte sind alle diejenigen für eine uneingeschränkte Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union, die gegen ein politisch integriertes Europa sind. Diejenigen, die für ein starkes, politisch integriertes Europa sind, haben in fast allen Ländern Bedenken gegen eine grenzenlose Europäische Union. Das eine und das andere vertragen sich nicht miteinander. Eine verantwortliche Politik würde uns nicht weiter auf dem Weg in die Isolierung, in eine Falle führen und Erwartungen schüren, die man hinterher nicht erfüllen kann. Das ist keine ehrliche Politik. Darum geht es. Deswegen noch die eine Bemerkung zu den institutionellen Debatten. Das ist nicht das Thema von Kopenhagen. Wir haben gestern im Europaausschuss kurz darüber gesprochen. Herr Bundesaußenminister, ich rate Ihnen sehr, auch in den Gesprächen heute Abend mit dem französischen Staatspräsidenten und dem Außenminister neben all den anderen Punkten, um die es am Rande von Kopenhagen und im Europäischen Konvent geht, in der institutionellen Frage den Vorschlag, den wir in der Europäischen Volkspartei entwickelt haben, sehr intensiv zu beraten. Es geht darum, dass wir für den Kommissionspräsidenten und den Ratspräsidenten - wenn es denn einen Ratspräsidenten mit einer längerfristigen Amtszeit geben soll - eine gemeinsame Lösung entwickeln. Dieser gemeinsame Präsident - in der Sprache der Diplomaten wird der Begriff „Doppelhut“ verwandt - wird von Parlament und Rat gemeinsam gewählt. Genauer: Der Rat schlägt vor und das Parlament muss ihn wählen. Jedenfalls müssen beide bei der Wahl des Präsidenten mitwirken. Wir hätten so - bei Schaffung des Amtes eines ständigen Präsidenten - nicht nur eine Schwächung der Kommission vermieden, sondern wir hätten auch institutionell eine stärkere Verknüpfung der beiden Bereiche geschaffen, aus denen europäische Politik noch lange besteht, nämlich der Zusammenarbeit von Regierungen, der so genannten intergouvernementalen Zusammenarbeit, und der kommunitären Zusammenarbeit in den institutionellen Bereichen von Parlament, Kommission und Rat. Deswegen werbe ich dafür, dass man diesen Vorschlag macht und dass man sich dafür einsetzt. Man darf es nicht auf diesen Showdown hinauslaufen lassen, der dann folgendermaßen aussieht: Im Konvent gibt es eine Mehrheit für einen Kommissionspräsidenten. Im Rat gibt es am Ende eine Mehrheit für einen Ratspräsidenten. Am Schluss schließt man den Kompromiss, dass man das eine und das andere macht, und wir bekommen wieder keine klare institutionelle Entscheidung. Das eine hängt mit dem anderen - auch mit der Türkei-Debatte - entscheidend zusammen. Letzten Endes geht es darum: Wenn wir in diesem Jahrhundert voller Chancen, aber auch voller Veränderungen und Gefahren, unserer außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht werden wollen, brauchen wir ein starkes, handlungsfähiges, politisch einiges Europa, ein von den Menschen getragenes Europa. Deswegen ist es so entscheidend, dass sich die Menschen diesem Europa zugehörig fühlen und dass sie eine europäische Identität haben. Wenn wir ein starkes und politisch handlungsfähiges Europa wollen, brauchen wir ein verlässliches Deutschland. Ohne ein verlässliches und berechenbares Deutschland geht es nicht. Wir brauchen kein Deutschland, das eine Politik betreibt wie in den letzten Monaten, wodurch Europa gelähmt wird. Sie haben mit diesem Wahlkampf nicht nur das deutsch-amerikanische Verhältnis geschädigt, sondern Sie haben Europa in zentralen Fragen der Weltpolitik handlungsunfähig gemacht. ({13}) Ein verlässliches Deutschland braucht eine Regierung, die einen klaren Kurs fährt ({14}) und die wieder zu Wahrheit und Klarheit zurückfindet. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Gernot Erler, SPDFraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 15 Monate nach dem 11. September 2001 wird immer deutlicher: Noch nie war internationale Kooperation zwischen Ländern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen, mit unterschiedlicher ethnischer Zusammensetzung und unterschiedlicher kultureller Prägung so wichtig wie heute. Noch nie war diese Kooperation die einzige Möglichkeit, um auf die global agierenden Terroristen erfolgreich zu reagieren. Kooperationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft bis hin zum Dialog der Kulturen sind die wichtigste Antwort auf den 11. September 2001. ({0}) Dieser zielte auf die Spaltung der Welt, auf einen Kampf der Kulturen. Insoweit haben die Attentäter des 11. September 2001 bisher keinen Erfolg gehabt. Bisher ist es aber auch nicht gelungen, die terroristische Herausforderung unter Kontrolle zu bringen. Wir sehen diese schreckliche Blutspur von Djerba über Bali, über den Anschlag auf den Tanker „Limburg“ bis zu den Attentaten in Kenia. Dies bedeutet, dass die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, ja der Zwang dazu, unverändert bestehen bleibt. Zusammenarbeit und Diskussion schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Es ist sogar notwendig, über die richtigen Antworten und die richtigen Prioritätensetzungen zu streiten und zu ringen. Natürlich gibt es unterschiedliche Auffassungen - auch in diesem Hause - darüber, welches die Prioritäten sind, wie wichtig die politische Allianz gegen den Terrorismus ist, wie wichtig es ist, regionale Konflikte anders als früher zu behandeln, wie wichtig es ist, in diesem Testfall Afghanistan tatsächlich einen Erfolg zu erringen, und schließlich auch, wie wichtig das Engagement für eine gerechtere und fairere Weltordnung ist, um die Rekrutierungsströme des Terrorismus durch eine globale strukturelle Prävention zu unterbinden. Die Frage ist auch, welche Funktion militärische Maßnahmen haben, ob sie im Kampf gegen den Terrorismus helfen oder ob sie da kontraproduktiv sind. Das ist, kurz gesprochen, die entscheidende internationale Agenda. Über diese Fragen müssen wir in unserem Land, in Europa und im transatlantischen Dialog ringen, aber dann auch Entscheidungen treffen. Dazu sind wir von dieser Regierungskoalition bereit. Aber die Frage ist, ob auch Sie von der CDU/CSU dazu bereit sind. In dem Zusammenhang muss ich einmal feststellen, Herr Kollege Schäuble, dass das, was Sie jetzt eben wiederholt haben, was Sie zum Beispiel auch gestern in einem Grundsatzartikel in der „Frankfurter Rundschau“ unter dem Titel „Bewusst geschürter Antiamerikanismus“ vorgetragen haben, eine Art von verbaler Aufrüstung ist, die schon fast nicht mehr zu überbieten ist. Das kann nur als eine Totalabsage an jede Zusammenarbeit mit uns verstanden werden. Sie wollen offenbar, dass diese Wirkung entsteht. Sie wissen natürlich in Wirklichkeit ganz genau, dass dieser Vorwurf eines organisierten Antiamerikanismus völlig unhaltbar ist. Entsprechend erbärmlich sind auch die Belege, die Sie dafür anführen. Sie konzentrieren sich auf zwei Punkte. Sie beziehen sich auf einen Artikel von Herrn Naumann in der „Zeit“, den Sie offenbar nicht gelesen haben - der Artikel ist nämlich in Wirklichkeit differenziert und nicht amerikakritischer als die amerikanischen Belege, die er heranzieht -, und Sie ziehen zum wiederholten Mal den Begriff des Abenteuers heran. Dabei wissen Sie, Herr Schäuble, ganz genau, dass dieser Begriff nie personalisiert angewandt worden ist, schon gar nicht vom Bundeskanzler, und dass dieser Begriff wie ein Zwilling zu einem anderen gehörte, den der Bundeskanzler schon am 12. September 2001 geprägt hat, nämlich dem der uneingeschränkten Solidarität mit dem angegriffenen Amerika. Das war das proamerikanischste Bekenntnis, das je ein deutscher Regierungschef zum Ausdruck gebracht hat. Im Übrigen war die Abgrenzung von Abenteuern lange Zeit gemeinsames politisches Gedankengut in Deutschland, weit über Rot-Grün hinaus. ({1}) Ein heute hier schon einmal zitierter bedeutender deutscher Politiker hat am 16. August dieses Jahres in der ARD wörtlich gesagt - ich zitiere -: Es besteht bei uns keinerlei Absicht, das kann ich auch für den Kanzlerkandidaten sagen, sich an einem militärischen Abenteuer irgendwo in der Welt zu beteiligen - schon gerade nicht in Irak. Das war der Kollege Michael Glos, seines Zeichens CSUFraktionsvorsitzender. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Polenz? - Bitte.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich habe jetzt nicht alle Zitate zur Hand, auf die man sich beziehen könnte. Aber würden Sie mir darin zustimmen, dass der Vergleich, den der damalige stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Stiegler gezogen hat - er hat den amerikanischen Botschafter Coats mit Herrn Abrassimow, der sowjetischer Botschafter in der DDR war, verglichen -, kein Zeichen von Proamerikanismus gewesen ist?

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich bleibe dabei, dass der Begriff des Abenteuers von Vertretern der Bundesregierung nie personalisiert benutzt worden ist. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Erler, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Glos? - Bitte.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Erler, da Sie mich zitiert haben, gehe ich davon aus, dass Sie entweder die Sendung in Gänze angeschaut haben oder dass Ihnen ein entsprechendes Protokoll vorliegt. Würden Sie mir bestätigen, dass ich im nächsten Satz gesagt habe, eine Demokratie wie die Vereinigten Staaten, in der demokratisch darüber entschieden werde, ob man irgendwo in einen Krieg zieht, gehe keine Abenteuer ein, sondern werde erst dann Maßnahmen ergreifen, wenn auch klar sei, was nachher im Irak geschehe? Der Ausgangspunkt war nämlich der Vorwurf, dass eine Intervention im Irak ein Abenteuer ist.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Glos, mir ist Ihre Neigung zu komplexen Aussagen durchaus bewusst. ({0}) Ich nehme sie zur Kenntnis. Aber es ist doch eine Tatsache, dass es lange Zeit einen Konsens darüber gegeben hat - diesen Konsens habe ich angesprochen; auch Sie haben ihn genutzt -, dass es durchaus eine Abgrenzung zwischen der uneingeschränkten Solidarität auf der einen Seite und dem Abenteuer, das Sie ausdrücklich mit dem Irak in Verbindung gebracht haben, auf der anderen Seite gibt. Dafür haben Sie einen Beleg geliefert. ({1}) Herr Kollege Schäuble, Sie rechnen mit dem kurzen Gedächtnis der Menschen in diesem Lande. Dabei verrechnen Sie sich. Die Menschen haben noch nicht vergessen, wie Ihr Kanzlerkandidat, Herr Stoiber, in der Schlussphase des Wahlkampfes versucht hat, sich immer mehr an die Neinposition des Bundeskanzlers zum Irak-Krieg heranzurobben und sie in populistischer Weise zu wiederholen; wir haben vorhin hier darüber gesprochen. Die Menschen haben auch nicht vergessen, dass dabei antiamerikanische Töne zu hören waren. Ich erinnere an seine Aussage zu den Überflugrechten. Und Sie wollen uns organisierten Antiamerikanismus unterstellen? Herr Schäuble, erklären Sie der Öffentlichkeit, wie Ihre Wahlversprechen hinsichtlich Irak und Außenpolitik gelautet haben. Die Stimmen waren noch nicht ausgezählt, da haben Sie sich schon von dem, was Ihr Kanzlerkandidat bis dahin gesagt hat, distanziert ({2}) und haben mit der Treibjagd auf das Nein der Bundesregierung zu einem militärischen Vorgehen im Irak begonnen. Sie, Herr Schäuble, benutzen selbst einen geradezu verräterischen Begriff: Schon einige Male haben Sie, allerdings vergeblich, über das Umfallen des Bundeskanzlers „in die richtige Richtung“ frohlockt. Das wird nicht passieren. Jeder weiß: Die „richtige Richtung“ ist für Sie - das haben Sie immer vertreten - die Beteiligung an einem solchen Krieg. Sie werden bei uns ein solches Umfallen nicht erleben. Aber wir wissen jetzt, was Sie unter der „richtigen Richtung“ verstehen. ({3}) Auch das ist ein interessantes Thema für den Untersuchungsausschuss über nicht gehaltene Wahlversprechen, den Sie herbeizwingen wollen. ({4}) Herr Schäuble, es reicht Ihnen offensichtlich nicht, den falschen Vorwurf des organisierten Antiamerikanismus zu verbreiten. Sie setzen noch eins drauf und versteigen sich weiter in Ihrer verbalen Aufrüstungsspirale gegen die Bundesregierung. Bisheriger Höhepunkt ist aus meiner Sicht ein Satz aus dem schon erwähnten Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ von gestern, den ich Ihnen gerne vorlesen möchte. Er lautet: Mit populistischen Attacken und der Unterstützung mehr oder weniger aggressiver und krimineller Aktionen gegen angeblich US-geführte weltwirtschaftliche Verschwörungen verspielt Rot-Grün allerdings auch in dieser Frage jede Glaubwürdigkeit. ({5}) Sie erheben hier den Vorwurf, Herr Schäuble, RotGrün unterstütze kriminelle Aktionen. Das ist ungeheuerlich, umso mehr, als Sie nicht den Hauch eines Beleges hierfür anführen. ({6}) Herr Kollege Schäuble, ich fordere Sie in aller Ruhe, aber auch in aller Entschiedenheit auf: Belegen Sie diesen unerhörten und ungeheuerlichen Vorwurf der Unterstützung krimineller Akte oder schaffen Sie ihn aus der Welt! So kann man nicht miteinander umgehen. ({7}) Ich sage noch einmal: Wir sind zur Diskussion, zur Zusammenarbeit wie auch zum Streit über die richtigen politischen Strategien in dieser außerordentlich gefährlichen Nachseptemberwelt bereit. Diese zwingt uns zur Vernunft und zur Kooperation, verbietet uns aber, unsere Ressourcen und unsere Kräfte am falschen Platz zu vergeuden. Genau das tun Sie aber, wenn Sie mit Ihrer faktenleeren Aggression und Ihrer verantwortungsvergessenen Destruktivität gegenüber allem, was diese Bundesregierung auch in der Außen- und Sicherheitspolitik macht, fortfahren. Wir sind - das kann ich Ihnen versichern - bei diesem Thema sehr selbstbewusst. Deutschland hat weltweit noch nie so viele internationale Verpflichtungen übernommen wie heute. Darunter sind mehrere militärische Verpflichtungen, aber noch mehr zivile. Wir werden an einem europäischen Modell für die globale Politik in der Nachseptemberwelt weiterarbeiten - mit Ihnen, wenn Sie wollen, aber auch ohne Sie, wenn Sie sich weiter so verweigern wie bisher. Wir sind stolz auf einen Bundeskanzler und auf einen Außenminister, die es geschafft haben, für diesen Kurs, für den es in diesem Land in vielen Punkten in den vergangenen Jahren keine Mehrheit gegeben hätte, eine Zustimmung um mehr als 80 Prozent der Bevölkerung zu erhalten. Das ist eine solide Grundlage für die Arbeit, die wir in den nächsten vier Jahren vorhaben. Auf dieser Grundlage werden wir weiterarbeiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Geschichte unseres Landes zeigt uns, dass es nach den großen außenpolitischen Debatten, die hinter uns liegen, in der Außenpolitik unseres Landes bei den großen Grundlinien viele Gemeinsamkeiten gibt. Aber es gibt doch ein paar Punkte, die der Präzisierung bedürfen und die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Wenn der Bundeskanzler heute vorgetragen hat, dass die Osterweiterung der Europäischen Union, die auf dem Gipfel in Kopenhagen ansteht, ein Stück Wiedervereinigung Europas ist und dass sie viel mehr Chancen als Risiken bietet, dann will ich für die FDP nicht unerwähnt lassen, dass wir diese Position schon immer vertreten haben und der Bundeskanzler erst in jüngster Zeit zu dieser Erkenntnis gekommen ist. Das muss hier einmal ausgesprochen werden. ({0}) Als er noch niedersächsischer Ministerpräsident war, klang das noch ganz anders. Deshalb können wir es nicht zulassen, dass sich jetzt diejenigen als Befürworter hinstellen, die früher eher Gegner waren. ({1}) Erster Punkt. Der Bundeskanzler hat bei der Wiedervereinigung Europas eine Diskussion über Übergangsfristen begonnen, die bei den Deutschen den Eindruck hinterlassen hat, wir müssten uns vor diesen friedlichen Menschen fürchten, mit denen wir schon länger Handel treiben. Wir stimmen in manchen Teilen der Europapolitik überein, aber beim Tempo und bei den Ambitionen gibt es Unterschiede. Unser Engagement bei der Europapolitik war größer, als es beim Bundeskanzler je gewesen ist. Zweiter Punkt. Herr Bundesaußenminister, Sie haben wieder die Menschenrechtspolitik angesprochen, in der ich mit Ihnen übereinstimme. Ich sage Ihnen: Ohne Menschenrechte, ohne die Öffnung von Grenzen und die Freiheit für alle Menschen kann die Marktwirtschaft kein Erfolg werden. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird der Kampf gegen den Terrorismus nicht erfolgreich sein können. Warum haben Sie nicht die Courage, zu erklären, dass Putins Tschetschenienpolitik keinen Anlass für Lob bietet? ({2}) Viele internationale Organisationen weisen auf Folter, Vergewaltigung und Säuberungsaktionen in tschetschenischen Dörfern hin. Wieso gibt dann der Bundeskanzler eine Erklärung ab - das ist im Pressetext nachzulesen -, in der er Putins Tschetschenienpolitik lobt? Ich weiß noch genau, wie der frühere Bundeskanzler Kohl China besucht hat und von Soldaten der chinesischen Armee empfangen wurde. Sie haben ihm damals Missachtung der Menschenrechtspolitik vorgehalten. Sie haben als Oppositionspolitiker früher anders als heute als Außenminister geredet. Wenn sich Außenpolitik in Grundlinien bewegen und glaubwürdig sein soll, dann gehört auch ein klares Wort an den russischen Präsidenten zur Tschetschenienpolitik dazu. Mit Säuberungen kann man den Terrorismus nicht bekämpfen. ({3}) Dritter Punkt. Herr Bundesaußenminister, Herr Struck und Herr Kollege Erler, bei der Irak-Politik lege ich Wert auf Klarheit. Ich sage Ihnen auch gleich, worin sich unsere Haltung unterscheidet. Niemand will einen Krieg. ({4}) Niemand würde ihn gutheißen. Aber es gibt einen Unterschied. Wir glauben nicht, dass Sie dem deutschen Volk die volle Wahrheit sagen. Wenn die Inspektoren Kofi Annan und den Mitgliedern des Sicherheitsrates raten, einzuschreiten, weil Saddam Hussein bestimmte Waffensysteme entwickelt hat, können Sie im Fall einer Mandatierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht mehr an der Linie des Bundeskanzlers festhalten, sich nicht zu beteiligen. Sie haben schon jetzt ein Hintertürchen geöffnet. ({5}) Deshalb können Sie offen erklären, was Sie wollen. Ich sage Ihnen, was dann passieren wird. Sie werden logistische Hilfe für die Völkergemeinschaft anbieten, die Sie im Übrigen schon jetzt andeuten. Falls sich etwas ereignet, werden Sie öffentlich erklären, dass Sie die Fuchs930 Panzer, die in Kuwait stationiert sind, allein aus humanitären Erwägungen einsetzen müssen, um die Menschen und die Soldaten zu schützen. Das ist die Wahrheit. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, ob sich dann die ganze Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika und ihrem Präsidenten in der Art, wie sie geführt worden ist, überhaupt gelohnt hat. ({6}) Dass wir keine Soldaten entsenden können, war jedem klar, weil sonst die Bundeswehr überfordert wäre. Aber dass wir das tun, was in strikter Anlehnung an das Völkerrecht vernünftig ist, ist doch ebenso klar. Was sollte also diese Begleitmusik im Wahlkampf? Sie hat auch mit dem Wahlkampf nicht aufgehört. Ich erinnere noch einmal kurz an die Vasallendiskussion und den Vergleich mit Abrassimow. Dann kam die unsägliche Debatte um die frühere Bundesjustizministerin und ihren Ausrutscher, wie ich es einmal nennen möchte, weil ich noch gut mit ihr umgehe; er ist aber kaum zu entschuldigen. ({7}) Jetzt lese ich, das alles sei nicht antiamerikanisch. Aber angesichts der Situation im Irak und der Möglichkeit, dass die Völkergemeinschaft letztlich ein Eingreifen beschließen könnte - was wir nicht hoffen und wünschen -, frage ich Sie, warum über Frau Wieczorek-Zeul in der „Bild“-Zeitung zu lesen ist ({8}) - dann soll sie es richtig stellen -, sie habe die Politik des US-Präsidenten Bush als „blanken Zynismus“ bezeichnet. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, es gibt eine bestimmte Form der Auseinandersetzung, in der der Ton die Musik macht. ({9}) Auch in Kontroversen, wie es sie schon früher mit den Vereinigten Staaten von Amerika gab, gehört es dazu, eine Wortwahl zu treffen, die der außen- und sicherheitspolitischen Lage gerecht wird. Was soll denn diese Veranstaltung vor der deutschen Öffentlichkeit, wenn die Bundesregierung weiß, dass sie im Falle eines Falles logischerweise bestimmte Beteiligungsformen anbieten muss, wenn sie glaubwürdig sein will? Im Grunde genommen geht es nicht nur in dem Fall, dass der Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss fasst, um das Bild von Gefolgsleuten oder Vasallen der Vereinigten Staaten, das ein großer Teil der deutschen Öffentlichkeit von uns hat. Wir sollten auch einmal die Kernfrage erörtern, dass wir es mit dem Irak mit einem Regime zu tun haben, das zweifellos eher danach trachtet, das Leben derjenigen zu bedrohen, die nicht seiner Meinung sind, als sich mit ihnen auf eine Aussprache einzulassen. ({10}) Der Charakter dieses Mannes ist doch weltweit bekannt. Ich möchte betonen, dass es in dieser Frage eine abweichende Haltung gibt. Es wäre besser, wenn Sie Ihre Haltung öffentlich darstellen würden, Herr Bundesaußenminister und Herr Erler. Denn wenn es zu einer schwierigen Situation kommt, werden auch Sie letztlich diese Haltung einnehmen müssen. Dann werden Sie um den Einsatz der Fuchs-Spürpanzer nicht umhinkommen, die nach Angaben von Herrn Struck gegenwärtig noch nicht einmal einsetzbar wären. Ich frage mich übrigens, wofür sie bei dem Mandat Enduring Freedom gut sein sollen, für das sie bereits zur Verfügung gestellt worden sind. Wenn sie nicht einsatzfähig sind, ist das doch sinnlos. Wenn sie im Falle eines Falles mit Ihren humanitären Begründungen, die Sie dann sicherlich vorbringen werden - das sage ich Ihnen voraus -, benötigt würden, müssten sich auch deutsche Soldaten im Einsatzgebiet aufhalten und mit ihnen umgehen können. Das ist aber nicht der Fall. Das alles widerspricht sich. Dabei handelt es sich auch nicht um eine konsistente Irak-Politik. Diese Begründung führen Sie nur an, um den Koalitionspartner zu beschwichtigen, sodass die Mehrheit gesichert ist. Aber ein klares Mandat wollen Sie nicht offen diskutieren, weil Sie dann einräumen müssten, dass Sie im Wahlkampf einen Fehler gemacht haben und dass Sie nun doch so handeln müssen, wie es möglicherweise von Ihnen erwartet wird. Sie haben in der Öffentlichkeit einen falschen Eindruck erweckt. Das ist Ihr Glaubwürdigkeitsfehler. Dieser Fehler wiegt schwer, weil es nicht darum geht, wie Sie mit Hunde- und Katzenfutter und mit Blumengebinden verfahren, sondern weil er eine wichtige außenpolitische Frage betrifft. Zu diesem Thema ist eine Aussprache unverzichtbar. ({11}) Ich komme zu einem vierten Punkt, Herr Bundesaußenminister, zur Türkeipolitik. Richtig ist, dass wir zusammen mit den anderen europäischen Freunden auch eine große nationale Verantwortung tragen und mit an einer Brücke bauen, über die Stabilität exportiert werden soll. Das ergibt sich im Übrigen aus der engen geschichtlichen Bindung Deutschlands nicht nur an die Türkei, sondern auch an andere Länder. So kann die Stabilitätspolitik in Zukunft auch mittel- und osteuropäische Staaten und Länder umfassen, die bisher im Barcelona-Prozess eingebunden sind. Das ist unbestritten. Es gibt wahrscheinlich keinen Königsweg, Herr Bundesaußenminister. Deshalb lege ich namens meiner Fraktion auch auf Zwischentöne Wert. Wer behauptet, wir würden einen großen außen- und europapolitischen Fehler machen, wenn wir der Türkei nicht die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit einem Verhandlungstermin in Kopenhagen anbieten würden, weil das auch den Verzicht auf eine Stabilitätspolitik bedeuten würde - obwohl wir ein massives Interesse daran haben, dort Stabilität zu schaffen - , hat nur grundsätzlich Recht. Aber ich weise Sie auf eine Gefahr hin. Das ist kein Königsweg; denn ein einziges negatives Referendum - ich betone: ein einziges - in einem Mitgliedsland der Europäischen Union zerstört diesen Weg. Dann müssen Sie der Türkei erklären, dass es nun doch nichts mit der Mitgliedschaft wird. Deshalb bitte ich Sie, unter Berücksichtigung der bisherigen strategischen Grundsatzerwägungen darüber nachzudenken - man kann ja beides parallel verfolgen -, ob ein privilegiertes Partnerschaftsverhältnis - die G-10-Staaten und die EU nennen das so; ich habe schon einmal in einer Debatte über eine besondere Form eines Partnerschaftsvertrages gesprochen, der durchaus zu einem Verhältnis führen kann, wie es Russland jetzt zur NATO hat; das könnte ein Angebot auch an andere Länder sein - nicht auch ein Weg sein kann. Mit einem solchen Weg lässt sich möglicherweise das vermeiden, was ich eben geschildert habe. Streiten wir bitte nicht darüber, wer der weitsichtigere, geostrategisch klügere Kopf ist! Debattieren wir stattdessen darüber, ob nicht auch eine Alternative, die man parallel verfolgen kann, etwas bringen kann! Ich möchte noch auf eines aufmerksam machen. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die 1963 einen Assoziierungsvertrag mit der Türkei abgeschlossen hatte, entspricht ja nicht einmal der Europäischen Union von heute, ({12}) geschweige denn der Europäischen Union von morgen, und zwar weder in Größe und Umfang noch dann, wenn der Konvent zu einem Ergebnis kommt, das die von uns gewünschte Vertiefung Europas bedeutet. ({13}) - Ich komme gleich auf das Zollabkommen zu sprechen. Auch die EU des Jahres 2004 wird nach der Europawahl ganz anders sein als die heutige Europäische Union, die sich noch im Entwicklungsstadium befindet. Deshalb sage ich: Vorsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und lieber Außenminister, wer wie Sie in der innenpolitischen Auseinandersetzung behauptet, dass er die größere Weitsicht habe, der wird möglicherweise eines Tages unseren türkischen Freunden erklären müssen, dass von einer Mitgliedschaft doch nicht die Rede sein könne, ({14}) weil die Referenden in den europäischen Ländern negativ ausgefallen seien. Wer hat dann den größeren Fehler in der Türkeipolitik gemacht? Durch Zwischentöne etwas anzudeuten, strategisch parallel zu denken und Partnerschaftsverträge zu entwerfen kann letztendlich ein stabilerer Weg sein als der jetzige. Meine Fraktion hat heute darüber bewusst nicht abschließend entschieden. Wir sind der Meinung, dass eine strategische Entscheidung erst auf einem europäischen Gipfel gefällt werden sollte, nachdem der Konvent und die Mitgliedstaaten über den Verfassungsentwurf beraten haben. Erst dann wissen wir selbst, wie die neue Gestalt Europas aussehen soll, und erst dann sollten wir erneut Gespräche mit anderen Ländern beginnen. Das ist alles, was ich dazu bemerken wollte. Abschließend möchte ich noch sagen: Zu einer klugen Außenpolitik hat immer gehört, dass man zwar die Traditionslinien einhält, dass man sich aber auch strategische Alternativen und Optionen offen hält. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In diesem Hause, aber auch außerhalb streiten die demokratischen Parteien über das Verhältnis der Demokratie zum Krieg. Ich glaube, dass dieser Diskurs dem deutschen Parlament gut ansteht, gerade auch in Berlin, einer ehemals preußischen Stadt. Selbstbewusste Außenpolitik muss auf das Gute in der Geschichte eines Landes stolz sein. Wenn ich über das Gute in der Geschichte Deutschlands spreche, dann spreche ich über Immanuel Kant. Er hat - bis heute unübertroffen - den Erhalt des Friedens in der Welt davon abhängig gemacht, dass sich demokratische Republiken im Diskurs über den Frieden befinden. Das ist die bleibende Voraussetzung für die Vermeidung von Krieg. Es gibt weitere Gründe, warum es dem deutschen Parlament gut ansteht, über das Verhältnis der Demokratie zum Krieg zu sprechen. In Europa hat kein anderes Land so viel Verantwortung für Kriegsverbrechen. Bis heute gehen wir damit um, das Leid und die Folgen von Krieg weiter bewältigen zu müssen. Der deutsch-tschechische Dialog ist - nicht einseitig - immer noch bestimmt von den Folgen des Zweiten Weltkrieges. Wenn in diesen Tagen ein deutscher Historiker die Frage aufwirft, mit wie viel Berechtigung es Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg gab, so halte ich das für einen guten Beitrag zur Aufarbeitung von Kriegsfolgen. Wenn das alles so ist, ist es ein Gebot für Demokratien, aus den Gründen, die ich dargelegt habe, in diesem Fall von Deutschland ausgehend, über Krieg zu sprechen. Mein Verständnis von Wahlen - auch wenn man manchmal Zweifel haben kann, ob wir damit richtig umgehen - ist Folgendes: Welch bessere Zeit gibt es in der Demokratie, über die Kernfragen zu sprechen, als die Zeit vor Wahlen? Vor dem 22. September gab es diese Notwendigkeit. Es war eine konsequente Linie der deutschen Außenpolitik, nachdem die Frage der Massenvernichtungswaffen im Irak nach dem 11. September wieder aufgeworfen worden ist, einen Kurs zu fahren, der mit friedlichen und diplomatischen Mitteln, mit Mitteln der Vereinten Nationen auf eine Vermeidung der weiteren Rüstung im Irak setzt. Bis weit in dieses Jahr hinein erfolgten in dieser Richtung Gespräche mit Vertretern der amerikanischen Regierung. Vor allem mit den arabischen Staaten und der Arabischen Liga gab es vielfältige Bemühungen - diese waren notwendig -, alles zu tun, um dem Diktator im Irak diplomatisch ein Verhalten aufzunötigen, das eine militärische Lösung vermeidet. Im Spätsommer dieses Jahres war der Eindruck entstanden, als gäbe es in den Vereinigten Staaten innerhalb der Regierung und in der wissenschaftlichen Diskussion Positionen, die so etwas wie die Unvermeidbarkeit militärischer Aktionen gegenüber dem Irak aufschallen ließen. In dieser Situation war es meiner Meinung nach ein demokratisches Erfordernis, und zwar auch zwischen Regierungen, den Diskurs über die Notwendigkeit und vor allem über die Vermeidbarkeit von Krieg zu führen. ({0}) Das, was die deutsche Regierung und der deutsche Bundeskanzler getan haben, war für mich nie etwas anderes als ein Diskurs im Sinne von Kant über den Krieg und die problematischen Folgen von Krieg, die niemand besser kennt als wir Deutschen, und damit über unsere Position, dass, wenn es irgend geht, Krieg vermieden werden muss, auch im Irak. ({1}) Ich glaube, diese Position war erfolgreich. Denn zu dem, was seitdem geschieht, was in den Vereinten Nationen, im Sicherheitsrat, in Debatten und schließlich in Entschließungen erreicht wurde, hat diese Regierung beigetragen. ({2}) Davon bin ich überzeugt. Wer das Verhältnis und das diplomatische Spiel zwischen Frankreich und Deutschland betrachtet, muss wissen, dass die französische Position ohne die deutsche kaum möglich geworden wäre. ({3}) Es ist doch schön, wenn ein konservativer französischer Präsident in der Frage von Krieg und Frieden eine europäische Position durchsetzt, die logischerweise etwas weniger radikal-pazifistisch im guten Sinne ist als die sozialdemokratische deutsche Position. Das ist meine Vorstellung von Europa. ({4}) Ich komme nun zu dem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Zu einem Verständnis des Verhältnisses der Völker zueinander, wie es Kant als eine Gemeinschaft von Republiken formuliert hat, gehört auch, dass Regierungen miteinander in einen diplomatischen und öffentlichen Diskurs treten können. Ich verstehe eine öffentliche Debatte zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und dem deutschen Bundeskanzler als Teil eines demokratisch notwendigen Diskurses. Es ist mit dem Grundverständnis von Demokratie für mich nicht vereinbar, dass über Schicksalsfragen im Verhältnis der Länder nur in geheimer Diplomatie gesprochen werden kann. ({5}) Wenn ein solcher Diskurs zwischen Regierungen geführt wird, dann ist er, selbst wenn es unterschiedliche Auffassungen zwischen diesen Regierungen gibt, in keiner Weise gegen das andere Land gerichtet. Ich spreche Sie jetzt als Opposition an: Ich fand es sehr gut, dass der frühere amerikanische Präsident Bill Clinton direkt nach den deutschen Wahlen hierher kam und ein hohes Maß an Einverständnis mit der deutschen Regierung gezeigt hat. Darüber sollten Sie sich freuen, wenn Sie als deutsche Opposition, die in dieser Frage eine etwas andere Meinung hat als die derzeitige Regierung, international ernst genommen werden wollen. Der Dialog zwischen Demokratien kann beinhalten, dass Regierungen unterschiedlicher Meinung sind und quer dazu wieder die Opposition. Das ist mein Verständnis von internationaler Politik zwischen Demokratien. Deshalb halte ich den Vorwurf des Antiamerikanismus, selbst wenn der deutsche Bundeskanzler und der amerikanische Präsident in einer wichtigen Frage unterschiedlicher Meinung sind, für abwegig. ({6}) - Ich kann nicht feststellen, dass der deutsche Bundeskanzler den amerikanischen Präsidenten in irgendeiner Weise beschimpft hat. ({7}) Die Zahl von verunglückten Formulierungen im demokratischen Diskurs innerhalb der Länder und zwischen den Ländern ist unzählig. ({8}) Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, dass Sozialdemokraten so gute Menschen sein könnten, dass sie keine Fehler machten. Die Fähigkeit, Fehler einzugestehen, ist geradezu die Voraussetzung für Demokratie. Lassen Sie uns darum wetteifern, Fehler einzugestehen, Herr Pflüger! ({9}) - Ja, Herr Glos, das fällt Ihnen schwer. Das müssen wir nicht fortsetzen. Ich glaube, das demokratische Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland ist gut. Es ist die Basis, für friedliche Lösungen auf dieser Welt zu ringen. Das halte ich für die außenpolitische Hauptverpflichtung Deutschlands. Ich schließe mit einer Bemerkung zum weiteren Kampf gegen den Terrorismus: Unstreitig werden Menschen bedroht durch die Anschläge von Verbrechern, die ihr Tun politisch motivieren. Die Anschläge geschehen an vielen Orten dieser Welt. Betroffen sind Amerikaner, Europäer und Israeli. Vom Terrorismus sind aber auch viele andere Menschen betroffen. Ich finde es gut, dass eine Debatte darüber begonnen hat, warum bei dem Anschlag in Kenia so unverhältnismäßig viel über die tragischen Opfer der Israeli und so unverhältnismäßig wenig über die tragischen Opfer der Kenianer geschrieben wird. ({10}) Wir sprechen auch mit der arabischen Welt darüber, was wir gemeinsam gegenüber Saddam Hussein tun müssen. Dann gehört in unsere Debatte, dass wir die Opfer des Terrorismus in den Vereinigten Staaten, in Europa, in Israel und in arabischen Staaten gleich behandeln. Lassen Sie mich mit dem lapidaren Satz schließen: Dem islamischen Terrorismus sind bisher mehr Algerier als Amerikaner zum Opfer gefallen. Nur wenn wir das bedenken, in den Vereinigten Staaten und in Europa, werden wir zusammen mit den arabischen Staaten den Terrorismus bekämpfen können. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die internationale Ordnung hat sich in der vergangenen Dekade dramatisch verändert. Wir befinden uns hier in einer Grundsatzdebatte; es schauen auch viele junge Menschen zu. In den letzten zwölf Jahren hat sich viel Positives bewegt: die deutsche Wiedervereinigung, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Osterweiterung, die Freundschaft zu Russland. Das ist die eine Seite, die nicht zuletzt durch die Politik von Helmut Kohl, der Union in Deutschland und in Europa ein Stück weit befördert wurde. Die andere Seite, das sind natürlich der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, neue Atommächte sowie die Bedrohung durch Saddam Hussein und internationale Terroristen. In der Vergangenheit gab es Grundpfeiler deutscher Außenpolitik, die zwischen den Parteien unstrittig waren. Ich erinnere mich daran, dass ich als junger Mensch gern Debatten über dieses Thema im Fernsehen angeschaut habe. Da kam ein Stück Konsens zum Tragen, der in außenpolitischen Fragen dringend notwendig ist. Die Integration Europas, die Freundschaft zu den Amerikanern, die besondere Beziehung zu Frankreich, unsere verlässliche Rolle in der NATO und die besondere Verantwortung gegenüber Israel, das sind Grundpfeiler. Es gilt, immer wieder herauszustellen, dass auf diesem Gebiet ein Konsens über die Parteigrenzen hinaus notwendig ist. ({0}) Es gibt kaum einen europäischen Staat, in dem es einen Dissens über grundlegende außenpolitische Positionen gibt. Wir haben es an dieser Stelle mit einen wirklichen Knackpunkt in der Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland zu tun. Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister haben diesen Grundkonsens aus niederen innenpolitischen Motiven - sie wollten eine Wahl gewinnen - verlassen. ({1}) Der eingeschlagene deutsche Sonderweg - Deutschland bewegt sich außerhalb der Vereinten Nationen, es agiert ohne die EU-Partner und ohne den Konsens mit den Franzosen - bedeutet in der Irak-Debatte einen Weg der Unberechenbarkeit. Mit diesem Weg wurde die Verlässlichkeit Deutschlands in Europa und in der UN infrage gestellt. Es ist schon etwas anmutend, wenn ich zum Thema Irak nur kurz reflektiere. Sie sagen jetzt, es sei ein Riesenerfolg, dass Saddam Hussein, der Massenvernichtungswaffen besitzt, bereit ist, die Inspektoren ins Land zu lassen. Sie behaupten, man habe sehr viel bewegt. Wer hat dies letztendlich bewegt? - Die Weltvölkergemeinschaft, gestützt von der unnachgiebigen Haltung der UN, und alle, die diese Drohkulisse aufgebaut haben! Wir alle hoffen, dass dies zum Frieden beiträgt. Sie haben sich außerhalb der Weltvölkergemeinschaft gestellt. Herr Fischer, es war schon ein Stück weit peinlich, dass im irakischen Fernsehen auf die Freundschaft zwischen Schröder und Saddam Hussein reflektiert wurde. ({2}) Saddam Hussein nahm auf die deutsche Rolle, auf den deutschen Sonderweg Bezug. ({3}) - Die Argumente treffen offensichtlich. Ich frage an dieser Stelle den deutschen Bundesaußenminister: Was ist aus Ihrer Initiative im Europäischen Rat, die Entwicklung einer gemeinsamen Position zur UN-Resolution voranzutreiben, geworden? Herr Bundesaußenminister, wo sind Sie geblieben, als es darum ging, vor der Abstimmung über diese lebenswichtige Frage den Konsens mit Frankreich zu suchen? ({4}) Ab dem kommenden Jahr, wenn Deutschland Mitglied des Sicherheitsrates ist, stellt sich die Frage, welche Rolle Deutschland dort zukünftig spielen wird. Ich knüpfe an das an, was Herr Gerhardt gesagt hat: Herr Bundesaußenminister, was passiert nach dem 8. Dezember? Welchen Beitrag wird Deutschland zur Durchsetzung der UN-Resolutionen leisten? Darauf sind Sie uns eine Antwort schuldig. Sie bieten, was Afghanistan angeht, die Führungsrolle Deutschlands an. Wir werden darüber noch gesondert diskutieren. Man hat den Eindruck, dass es wegen der feh934 lenden Bündnissolidarität in der Irak-Frage zu einem Kompensationsgeschäft kommen soll. Sie bieten diese Führungsrolle in einer schwierigen Sicherheitslage an. Wir haben dazu eine Vielzahl von Fragen gestellt, gerade was den Verteidigungsbereich angeht, die Sie nicht beantwortet haben: Gibt es eine Exit-Strategie? Wie sollen im Ernstfall 2 000 bis 5 000 Mann herausgeholt werden? Wo ist das Gesamtkonzept für Afghanistan? Herr Bundesaußenminister, Sie lassen sich feiern. Ihre Devise lautet: Wir gehen überall rein: Mazedonien, Bosnien, Afghanistan. ({5}) Sagen Sie der deutschen Öffentlichkeit doch einmal, wann wir wieder herausgehen. Welche politischen Initiativen planen Sie, um politische Befriedung in diesen Regionen herbeizuführen? ({6}) Jetzt komme ich auf die Türkei zu sprechen. Die Türkei ist unser Freund und Partner in der NATO und in Europa. Dennoch lehnen wir einen Beitritt der Türkei zur EU ab. Michael Glos wurde heute früh vom Bundeskanzler zitiert. Ich zitiere ihn aus demselben Artikel. Die Linie, die Kontinuität unserer Argumentation ist klar: ({7}) Die Türkei hat noch einen langen Weg nach Europa. Ich zitiere Michael Glos aus der „Welt“ vom 23. Oktober 1997: Mit fast 70 Millionen Einwohnern in der Türkei kann angesichts des Entwicklungsabstands niemand heute daran denken, zwischen Europa und Ankara Freizügigkeit zu verwirklichen. Dies darf aber nicht bedeuten, der Türkei ... die Tür ... zuzuschlagen. ({8}) Die Türkei muss als privilegierter Partner der Europäischen Union behandelt werden. Die Zollunion zwischen der EU und der Türkei seit dem 1. Januar 1996 weist hier den Weg. Da hatte er 1997 Recht: Natürlich ist das der Weg. Wir stellen uns in die Kontinuität, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir wollen den weiteren Ausbau privilegierter Sonderbeziehungen zur Türkei. ({9}) Wir müssen uns auch - lassen Sie mich das mit Blick auf die Innenpolitik einflechten - um einen neuen Zugang, um andere Wege der Integration und der Ansprache der türkischen Bevölkerung hier in Deutschland bemühen. Wir dürfen nicht das Signal senden, die türkischen Bürger in Deutschland stünden abseits. Nein, wir wollen Sonderbeziehungen zur Türkei und wir wollen den weiteren Ausbau. ({10}) Die Wirtschaftsleistung der Türkei liegt bei 22 Prozent des EU-Durchschnitts, die Inflation beträgt 40 Prozent. ({11}) Es gibt dort 12 Millionen Bauern. Die EU-Kommission hat gerade die Berechnung vorgelegt: Die Einbeziehung der Türkei in die Strukturfonds und den Kohäsionsfonds des jetzigen Systems würde 30 Milliarden Euro im Jahr kosten. Sehr geehrter Herr Außenminister, Sie haben in Nizza und in Berlin ja nicht einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen, die zehn mittel- und osteuropäischen Staaten zu integrieren. ({12}) Wie wollen wir unter diesen Voraussetzungen die Integration der Türkei schaffen? Das ist im Augenblick nicht möglich. Neue Strukturen der Zusammenarbeit sind notwendig; ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort EWR Osteuropa. Ich frage an dieser Stelle den Außenminister: Könnte das nicht auch auf dem Balkan der zukünftige Weg sein? Auch dort müssen wir doch entsprechende Überlegungen anstellen. Wo ist Ihr Balkankonzept? Soldaten und Geld ja, aber wo bleibt die politische Perspektive? Auch in Serbien, Bosnien, Mazedonien und Albanien bieten Sie als Perspektive nur die EU-Mitgliedschaft, wohl wissend, dass der Weg dorthin so nicht möglich ist. ({13}) Auch hier brauchen wir neben der Perspektive einer Vollmitgliedschaft neue Denkansätze und neue Strukturen. Fragen über Fragen, Herr Bundesaußenminister. In Ihrer bekannten Überheblichkeit interessiert Sie das nicht. ({14}) Keine Antworten, keine Strategien, ein angeknackstes deutsch-französisches Verhältnis, die Infragestellung der Vereinten Nationen, die Verunsicherung in Israel - eine verheerende Bilanz, ein hoher Preis für vier Jahre rotgrüne Außenpolitik. Danke schön. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, es geht nicht nur um Einzelfragen, etwa um den Irak oder um Afghanistan, es geht um die Frage einer neuen Weltordnung. Diese Frage stellt sich seit mindestens zwölf Jahren, seit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung. Bei der Suche nach der neuen Weltordnung gibt es Dispute, auch zwischen demokratischen Staaten. Wir haben in Europa einen intensiven Dialog darüber, wie die europäische Integration aussehen soll. Also ist es folgerichtig, wenn zwischen anderen Staaten ein Disput über die globale Integration stattfindet. Es ist völlig normal, dass die Europäer an diesem Punkt manchmal andere Auffassungen haben als die amerikanischen Freunde. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Ich möchte Ihnen eine kleine Episode erzählen. Ich denke sehr gerne zurück an den Kollegen Karl Lamers von der CDU, der hier oft vermisst wird. Karl Lamers sprach mich vor zwei oder drei Jahren einmal an und sagte: Ihr als rot-grüne Regierung müsstet doch das Format haben, einen begrenzten Disput mit den Vereinigten Staaten auch offen auszutragen, und zwar mutiger, als das unsere Kohl/Kinkel-Regierung getan hat. Richtig, Herr Lamers, sagte ich, aber ich prophezeie Ihnen eines: Sie und die Union werden die Ersten sein, die uns dann öffentlich in den Rücken fallen. ({0}) Genau das haben wir durch die Rede von Herrn Schäuble jetzt erlebt. ({1}) Wenn es nicht einmal mehr möglich sein darf, in einer präzise beschreibbaren sicherheitspolitischen Frage anderer Meinung zu sein als bestimmte Sicherheitskreise in den Vereinigten Staaten, dann frage ich Sie: Wo ist denn die europäische Freiheit gegenüber den amerikanischen Partnern? Können wir uns dann überhaupt noch als Partner empfinden oder müssten wir uns nicht selbstkritisch als Vasallen bezeichnen? Einen solchen Status gegenüber den Vereinigten Staaten wollen wir nicht. Wir wollen Freundschaft, wir wollen Partnerschaft als Konstante der deutschen und der europäischen Außenpolitik. Aber diese Partnerschaft muss auch dazu dienen, sich solidarisch darüber zu verständigen, wie denn die neue Weltordnung aussehen soll, ob sie - das ist der europäische Vorschlag und das entspricht auch den Grundlinien rot-grüner Außenpolitik - auf Multilateralismus setzen soll, hauptsächlich organisiert durch die Vereinten Nationen und die anderen Regionalorganisationen, ob sie bestehen soll aus einer internationalen Strukturpolitik, aus einer globalen Ordnungspolitik, aus Global Governnance oder ob sie bestehen soll aus der Hegemonie der verbleibenden Supermacht. ({2}) Dass diese Supermacht Interessen hat, die man sogar nachvollziehen kann, wenn man sich in ihre Position begibt, räumen wir ein. Deshalb ist das auch kein gegnerischer Diskurs, sondern ein freundschaftlicher. Wir werden nicht Weisungsempfänger sein, von wo auch immer die Weisungen kommen sollten. In diesem Sinne werden wir weiterhin eine selbstbewusste Politik mit Augenmaß betreiben. Das betrifft den Irak, das betrifft Afghanistan, das betrifft die Türkei. Sorry, Herr Pflüger, ich habe heute nur vier Minuten Redezeit. Deshalb gern ein anderes Mal. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu einem Thema kommen, das auch die Außenpolitik, obgleich es gar nicht mehr dazu gehört, maßgeblich mitbestimmt hat, nämlich zu Europa. Europa ist auf einem guten Weg. Wir haben große Fortschritte erzielt. Wir kommen voran mit einer europäischen Verfassung, ({0}) voran mit der Erweiterung, voran auch mit der deutschfranzösischen Partnerschaft. Daran haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die Grünen, und die Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt. ({1}) CDU/CSU sind hier jedoch, wie auch in der Innenpolitik, auf dem Holzweg. Ihnen geht es in diesen Tagen nicht um Tatsachen; sie betreiben billige Polemik, sie polarisieren. Sie gefallen sich in Populismus. Das Schlimmste daran ist, dass Sie Ihre eigene Reputation und Ihre eigene Seriosität in der Europapolitik auf dem Altar des Opportunismus opfern. ({2}) Sie sind in dieser Frage in die Regionalliga abgestiegen. Sie schaden damit nicht nur sich selbst - das könnte mir ja noch egal sein -, Sie schaden vor allem dem Ansehen unseres Landes. Ich will mich auf Ihren Umgang mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei konzentrieren. Sie betreiben hier primitive Stimmungsmache. Es ist schon von der Kontinuität gesprochen worden. Seit 1963 ist der Türkei eine Perspektive aufgezeigt worden. Natürlich steht ein Interesse dahinter, das Interesse, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Durchsetzung von Menschenrechten, dem Laizismus in diesem Land zum Durchbruch zu verhelfen und die demokratischen Strukturen zu stabilisieren. In dieser Kontinuität stehen wir, dieser Kontinuität fühlen wir uns auch verpflichtet. Sie sollten uns alle auch einmal hinter die Fassade blicken lassen, die Sie mit Ihrem Antrag, dem schäubleschen Antrag, aufgebaut haben und hinter der Sie sich verstecken. Dann wird klar, dass Sie nicht Frieden geschlossen haben mit dem Verständnis Europas und der Europäischen Union, wie es sich jetzt darstellt. Die Europä936 ische Union ist eben keine Konfessionsgemeinschaft, sondern eine Wertegemeinschaft, die auf Pluralität und auf kultureller Vielfalt beruht: Sie hat christliche Wurzeln, sie hat jüdische Wurzeln, sie hat aber eben auch islamische Wurzeln. Sie betreiben im Hinblick auf die Wahlen in Hessen und Niedersachsen billigen Wahlkampf. Das muss auch in dieser Debatte einmal deutlich angesprochen werden. ({3}) Natürlich ist uns bewusst, dass Beitrittsverhandlungen erst dann geführt werden können, wenn klar ist, dass die Kopenhagener Kriterien und die wirtschaftlichen Kriterien erfüllt werden. Dann kann der Weg in die Europäische Union vollendet werden. Wenn wir diesen Weg aber jetzt abschneiden würden, würden wir damit zur Destabilisierung in dieser Region maßgeblich beitragen. Ich komme jetzt auf die deutsch-französischen Beziehungen, auf die der Herr Kollege Müller - wenn er von Konsens spricht, dann kann irgendetwas nicht stimmen vorhin bereits hingewiesen hat, zu sprechen. Ich kann mich noch an die wohlfeilen Worte des ansonsten geschätzten Kollegen Pflüger sowie der Kollegen Altmaier und Hintze erinnern. Alle haben in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder gesagt, wir würden die deutsch-französischen Beziehungen sturmreif schießen. Ich erinnere daran, dass der deutsch-französische Motor läuft: Es gibt eine Vielzahl von Initiativen in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Verteidigungspolitik, der Justiz- und Innenpolitik. Demnächst stehen gemeinsame Vorschläge zur institutionellen Reform an. All das sind massive Fortschritte. Ich will Sie an etwas erinnern, an das Sie wahrscheinlich gar nicht mehr erinnert werden wollen, nämlich an die unsägliche Debatte über die Festivitäten anlässlich des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrages, die einzigartige gemeinsame Versammlung des Deutschen Bundestages und der Assemblée Nationale am 22. Januar nächsten Jahres. Was ist nicht alles an Geschichtsklitterung durch Herrn Glos und andere betrieben worden! Wenn das nur der Herr Glos gemacht hätte, müsste man es ja nicht ernst nehmen; aber in dieser sensiblen Angelegenheit mithilfe der „Bild“-Zeitung Stimmungsmache zu betreiben ist unverantwortlich. ({4}) Glücklicherweise gibt es in allen Fraktionen Menschen, die von der französischen Sensibilität in dieser Frage ein wenig Ahnung haben. Wer die Franzosen ein wenig kennt und weiß, welche Bedeutung Repräsentation und Symbolik in diesen Fragen für sie haben, der weiß oder kann erahnen, welcher Schaden in der deutsch-französischen Partnerschaft angerichtet worden ist, weil Sie, Frau Merkel, und alle anderen Verantwortungsträger geschwiegen haben und nicht deutlich und klar Stellung zu den Vereinbarungen, die zwischen den Europapolitikern getroffen wurden, bezogen haben. In der vergangenen Legislaturperiode haben wir dieses Thema in der Besprechung der Obleute intensiv beraten. All das hat für Sie auf einmal überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Ich will auf den Konvent zu sprechen kommen, der durch die noch engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich neuen Schwung erhalten hat. Nicht nur der Außenminister der Bundesrepublik, sondern auch der Kollege und Staatsminister für Europa Martin Bury und der französische Außenminister de Villepin gehören dem Konvent an. Ich denke, dass uns auch in Zukunft weitere zukunftsweisende Empfehlungen unterbreitet werden. Ich möchte aber auf die Frage hinweisen, wo das Parlament bleibt und wie wir mit dem Konvent umgehen. Wenn wir den Konvent als eine kreative europäische Zukunftswerkstatt begreifen, dann sollten wir - bei aller Wertschätzung für den Außenminister - nicht nur alles an die Regierung delegieren, sondern als Bundestag eigenständig Vorschläge entwickeln, die wir an unsere Delegierten, sowohl der Regierung als auch des Deutschen Bundestages, weiterleiten. ({5}) Deswegen schlage ich vor, dass wir nicht nur Debatten über den Verfassungskonvent und die europäischen Verfassung führen, sondern uns möglichst auch interfraktionell auf einige wesentliche Punkte festlegen, entsprechende Anträge beschließen und sie dann in das Handgepäck von Joschka Fischer, Martin Bury, Professor Meyer, Peter Altmaier und all den anderen, die für und mit uns Verantwortung bei diesem wichtigen Prozess tragen, legen. ({6}) Meine Fraktion lädt alle Kolleginnen und Kollegen herzlich zur Mitarbeit ein. Es würde mich sehr freuen, wenn die Opposition, vor allem die Union, ihre Strategie des „Oppositionismus“ um jeden Preis in europapolitischen Angelegenheiten beenden würde. ({7}) Sie sind damit gescheitert. Wir laden Sie herzlich dazu ein, den europäischen Weg der Vernunft wieder einzuschlagen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/ CSU-Fraktion.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Zöpel hat uns eben mit kräftigen Worten aufgefordert, zu akzeptieren, dass im Wahlkampf alle wichtigen Fragen zur Sprache kommen müssen. Ich kann dazu nur sagen: Darüber gibt es im Parlament eine breite Übereinkunft. Die Differenz besteht darin, dass wir der Auffassung sind, dass im Wahlkampf alle wichtigen Fragen wahrheitsgemäß ({0}) und sachgemäß beantwortet werden sollten. Dagegen hat Rot-Grün in schändlicher Weise verstoßen. ({1}) Lieber Herr Fischer, wir erleben jetzt, dass die Regierung kleinlaut versucht, den Preis für den Anti-USAWahlkampf zu zahlen, in den sie sich selber hineinbugsiert hat. Das ist sehr kritisch zu sehen. Deswegen muss heute über einige Fragen vom Grundsatz her diskutiert werden. Denn unsere Politik muss sich am Interesse und am Wohle Deutschlands ausrichten und nicht an den Fehlern, die Rot-Grün im Wahlkampf gemacht hat. ({2}) Was mich betroffen macht - das will ich vorab sagen -, ist, dass uns die Regierung heute, vor einem der vielleicht wichtigsten Gipfel der letzten Jahrzehnte, in zentralen Fragen der europäischen und internationalen Politik eine Auskunft schuldig bleibt. ({3}) Natürlich finden wir es gut, dass Sie endlich wieder zur deutsch-französischen Zusammenarbeit finden. Aber der Verweis auf ein Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten ist doch keine Rechtfertigung dafür, dem Souverän, dem Deutschen Bundestag, vor einem der wichtigsten europäischen Gipfel dieses Jahrzehnts, möglicherweise dieses Jahrhunderts, in zentralen Fragen die Auskunft zu verweigern. ({4}) Nun möchte ich zu einem zentralen Thema kommen, zur Debatte über die Türkei. Eine der wesentlichen Fragen der europäischen Politik lautet: Wie können wir den Wunsch der Türkei, zu Europa zu gehören, konstruktiv aufgreifen, ohne dabei heute Vorfestlegungen zu treffen, die morgen vielleicht mit unserem Selbstverständnis in der Europäischen Union kollidieren? Es wäre schön, wenn man über diese Frage sachlich sprechen könnte. Ich finde es schon merkwürdig, dass heute Redner derjenigen Parteien stolz auf die Zollunion als einen der wichtigen Schritte im Verhältnis Europas zur Türkei verweisen, die seinerzeit diejenigen politischen Gruppierungen darstellten, die im Europäischen Parlament just gegen diese Zollunion gestimmt haben. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir haben immer gesagt: Wir müssen darauf achten, dass es eine gute Partnerschaft und ein privilegiertes Verhältnis zwischen der Türkei und der EU gibt. Hier war die Zollunion in der Tat ein wichtiger Schritt. Das hat Michael Glos in der Erklärung deutlich gemacht, die heute wieder - wie das oft auch in anderen Zusammenhängen geschieht - verkürzt zitiert worden ist. ({5}) Damals waren es die Sozialdemokraten und die Grünen, die sich dieser Zollunion unter dem Aspekt der Menschenrechte - dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt - verweigert haben. ({6}) Wenn wir uns heute mit Blick auf die Stellung des Militärs im Verfassungsgefüge der Türkei, mit Blick auf die Rechte bzw. das Nichtvorhandensein von Rechten der Frauen, die Pressefreiheit und die kurdischen Bevölkerungsgruppen in der Türkei sowie mit Blick auf den Umgang mit christlichen Kirchen in der Türkei unmöglich festlegen können und deswegen einen Automatismus, der zu einer Vollmitgliedschaft führt, ablehnen, dann sollte das Ihre Unterstützung finden und nicht Ihren Widerstand herausfordern. ({7}) Wenn man derart mit Zitaten umgeht, ist auch zu fragen: Wie ist die jeweilige Situation? Herr Fischer, es gibt im Vergleich zu damals zwei wesentliche Unterschiede. Erstens gab es den Verfassungskonvent, der jetzt erstmalig die Chance eröffnet, dass aus der Europäischen Union tatsächlich eine politische Gemeinschaft, eine echte Wertegemeinschaft entsteht, noch nicht. Zweitens gab es in der Türkei keine islamistische Regierung. Wir können nur hoffen, dass die türkische Regierung den radikalen Worten ihrer politischen Führer in der Vergangenheit nicht entsprechende Taten folgen lässt, sondern dass sie tatsächlich den Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit findet. Das wollen wir mit all unseren Kräften unterstützen. Keiner hier im Hause kann heute allerdings sagen, ob das tatsächlich gelingt. Es wäre doch fatal, wenn wir einen Automatismus in Gang setzten, der die Europäische Union später in ihrem Kern träfe und das, was wir mit unserer Verfassung vornehmen, konterkarierte. ({8}) Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht - er wurde leider von der unverständigen Mehrheit des Hauses abgelehnt -, mit dem wir fordern, bei den Gesprächen mit der Türkei den Gedanken mit zu erwägen, ob nicht eine Form der privilegierten Partnerschaft eine Alternative sein könnte, die weder die Türkei noch die Europäische Union überfordert. Wer das von vornherein ausschließt, schadet den Interessen des europäischen Integrationsprozesses, dem wir uns alle verpflichtet fühlen. Diese Unterscheidung halte ich für bedeutsam. Ich möchte noch einmal die Bundesregierung auffordern, zu diesem Weg zurückzukehren. Wochen- und monatelang hat der Außenminister intern und öffentlich erklärt, es gebe keinen Kuhhandel mit der Türkei, der besagt, dass sie ihr Veto bei der ESVP, also bei der Nutzung der NATO-Fazilitäten für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zurücknimmt und es dafür ein Zugeständnis in Form der Absenkung der Kriterien bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gibt. Das war immer ihre Position. Seit kurzem klingt es zumindest aus dem Munde des Bundeskanzlers ganz anders: Wenn sich bei der ESVP und der Zypern-Frage etwas tut, ist das mit den Kriterien nicht mehr so wichtig. Meine Damen und Herren, die Demokratiekriterien, aber auch die Wirtschaftskriterien sind deshalb so wichtig, weil die Europäische Union eine Schicksalsgemeinschaft ist, die nur dann eine gute Zukunft hat, wenn sie auf gemeinsamen Werten beruht und feste Regeln gelten. Wenn diese verletzt werden, verletzen wir uns damit ein Stück weit selbst. ({9}) Weil alle konkreten Fragen von der Regierung systematisch ausgelassen wurden, will ich zum Gipfel von Kopenhagen noch einen Punkt, ein „ceterum censeo“, ansprechen, den wir hier im Plenum schon des öfteren erörtert haben. Ich finde es sehr bedenklich, dass über die große historische Wirkung der Erweiterung der Europäischen Union um die jungen Reformdemokratien in Mittel- und Osteuropa gar nicht mehr gesprochen wird. ({10}) Wie muss sich eigentlich ein polnischer, ein ungarischer, ein slowakischer oder ein slowenischer Kollege fühlen, wenn er den Eindruck gewinnt, dass sich unsere Regierung, der Partner, auf den sie Hoffnungen setzen, nicht mehr für sie interessiert? Wir aber interessieren uns noch für sie. Deswegen möchte ich Sie, Herr Bundesaußenminister, von dieser Stelle aus noch einmal auffordern, die Ungerechtigkeit des Vertrages von Nizza, nämlich den Ungarn und Tschechen weniger EP-Sitze einzuräumen, als ihnen nach ihrer Bevölkerungszahl zusteht, in den Beitrittsverträgen zu korrigieren. Das ist eine Frage der Fairness und der Partnerschaft mit den Staaten, die Demokratie und Freiheit erstritten haben und sich auf unser Wort verlassen müssen. ({11}) Wir müssen ferner in Kopenhagen sicherstellen, dass die Staaten, die zu uns stoßen und wirtschaftliche Hilfe für ihren Entwicklungsprozess brauchen, durch die Finanzregeln, die wir in der Europäischen Union haben, nicht von Anfang an in die Nettozahlerposition geraten. Wir erwarten, dass die Staats- und Regierungschefs in fairer Weise einen Ausgleichsmechanismus vereinbaren, damit dieser Start auch wirklich klappt und die Sache gut wird. Wir lassen uns auf eine jahrzehntelange Partnerschaft, auf eine Schicksalsgemeinschaft ein. Dazu gehört, dass wir fair miteinander umgehen und gemeinsam die Chancen nutzen, aus der Erweiterung der Europäischen Union ein wirklich großes, historisches und gutes Projekt zu machen. Das ist die Aufgabe, der wir uns politisch stellen müssen. Es hätte mich sehr gefreut, wenn ich dazu heute etwas von der Regierung gehört hätte. Es ist nicht die Aufgabe der Regierung, die Opposition zu beschimpfen, sondern eine ordentliche Politik zu betreiben und sich für die eigenen Fehler zu rechtfertigen. Dahin sollten Sie langsam zurückkehren, verehrte Mitglieder der Regierung, ob Sie nun auf den Abgeordnetenbänken oder vorne sitzen. ({12}) Ich will diese Debatte aber auch nutzen, um ein Wort zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Auswärtigen Amt zu sagen. Wir haben Jahre höchster politischer Brisanz erlebt. Die Europapolitik, die Außenpolitik und die internationale Politik haben höchste Anforderungen gestellt. Ich kann auf jeden Fall sagen - ich glaube, das gilt auch für viele Kollegen -, dass wir sowohl in der Ständigen Vertretung in Brüssel, in Berlin, aber auch in den anderen Botschaften erlebt haben, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes über die Maßen hinaus eine sehr gute Arbeit leisten. Ich möchte ihnen im Namen der Kollegen, die in der internationalen Politik arbeiten, dafür an dieser Stelle, beim Einzelplan 05, einmal ausdrücklich danken. ({13}) Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschenrechte zur Leitlinie deutscher Politik zu machen ist ein riesengroßer Anspruch und auch eine riesengroße Herausforderung. Das macht sich nicht an schönen Festreden oder an aufgeregt geführten Fernsehdebatten und auch nicht an Debatten fest, die ein Stück weit Stammtisch- oder Karnevalsniveau haben; vielmehr zeigt sich die Ernsthaftigkeit dieses Anspruchs im Alltag dieses Parlaments, in der ganz konkreten Alltagsarbeit. ({0}) Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass wir mitten in der gedrängten Haushaltswoche Gelegenheit bekommen, und zwar zum ersten Mal überhaupt - ich bin zum fünften Mal in diesem Parlament, ({1}) ich bin gern zum fünften Mal in diesem Parlament -, die Tradition der Debatte zum Tag der Menschenrechte fortzuführen und dass wir das endlich einmal nicht zur Geisterstunde nachts um zwölf tun müssen, sondern es jetzt mitten in der Debatte über Außenpolitik tun können, wohin die Menschenrechte gehören. Ich bin auch sehr froh darüber, dass wir außerhalb des üblichen Prozedere einen umfangreichen Menschenrechtsantrag, der die gesamte Bandbreite der innen- und außenpolitischen Rahmensetzungen behandelt, in erster Lesung mitberaten. Ich hoffe, dass er nach gründlicher Beratung in den Fachausschüssen für uns alle ein Stück weit verbindliches Arbeitsprogramm für die Menschenrechte in dieser Legislaturperiode sein kann. Es ist schon viel von der Notwendigkeit des Antiterrorkampfes die Rede gewesen. Ich stimme den Rednern ausdrücklich zu, die quer durch alle Fraktionen darauf hingewiesen haben, dass der Kampf gegen den Terrorismus sehr ungewöhnliche, neue und auch sehr zukunftsträchtige Allianzen ermöglicht hat. Aber ich muss auch ein Stück weit beklagen, dass im Rahmen der Allianz gegen den Terrorismus der berechtigte Kampf gegen den Terrorismus auch dazu missbraucht oder instrumentalisiert worden ist, den Menschenrechten weltweit großen Schaden zuzufügen. Auch wenn die Bundesregierung peinlich genau darauf achtet, den Schutz der Menschenrechte im Antiterrorkampf zu wahren, gibt es doch ganz aktuelle Nagelproben, die wir zu bestehen haben. Ich will drei nennen. Zum einen ist es die Menschenrechtssituation in Tschetschenien, die sich seit dem 11. September immer mehr verschärft hat. ({2}) Seit dem schrecklichen Anschlag im Musical-Theater in Moskau kommt es nicht nur zu dem berechtigten Kampf gegen die Terroristen, sondern auch zu einem unterschiedslosen Kampf gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien. ({3}) Die Binnenflüchtlinge und die Flüchtlinge in der Russischen Föderation haben mittlerweile den Status von fast Vogelfreien. Das ist nicht zu ertragen. Es ist schrecklich. ({4}) Darum bin ich froh, dass der Innenminister seine Länderkollegen vor Wochen aufgefordert hat, den tschetschenischen Flüchtlingen jetzt den notwendigen Schutz zu gewähren. Allerdings muss es in einem nächsten Schritt auf der morgen beginnenden Innenministerkonferenz, bei der Innenminister aller Länderkoalitionen, Herr Gerhardt, dabei sind, dazu kommen, den längst überfälligen Abschiebestopp für die Tschetschenen zu beschließen. Auch die EU darf ihre Außengrenzen gerade jetzt nicht für Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion dicht machen. Wir brauchen ganz im Gegenteil eine konzertierte Aktion der europäischen Regierungschefs, um Präsident Putin im Tschetschenienkonflikt endlich zu einer politischen Lösung zu drängen. ({5}) Der Kampf gegen den Terrorismus wird in vielen Staaten der Erde dazu benutzt und missbraucht, unliebsame Minderheiten zu bekämpfen ({6}) und Kritiker mundtot zu machen. Die Einforderung von Minderheits- und Beteiligungsrechten, kritische Pressearbeit oder das Engagement von Demokratie- und Menschenrechtsbewegungen werden allzu oft als Förderung des Terrorismus denunziert. Gerade gestern habe ich mit der Vorsitzenden einer algerischen Menschenrechtsorganisation gesprochen, die sich um die Verschwundenenproblematik kümmert. Sie gehört zu einer Gruppe von Müttern, die die Belange von 7 000 Betroffenen vertritt und jeden Mittwoch für ihre verschwundenen Angehörigen demonstriert. Erst vor wenigen Wochen, am 4. November, musste sich diese Frau zusammen mit den anderen Müttern wegen angeblicher terroristischer Gesinnung zusammenschlagen lassen. Das ist ein sehr schlimmes Beispiel dafür, wie der berechtigte Kampf gegen den internationalen Terrorismus benutzt wird, die Opfer zu Tätern zu denunzieren und mundtot zu machen. ({7}) Ich warne dringend davor und stimme Irene Khan, der Generalsekretärin von Amnesty International, zu, die forderte, es dürfe keine Instrumentalisierung der Menschenrechte zu fragwürdigen Zwecken und keine selektive Umgehensweise mit Menschenrechten geben. Frau Khan verlangt zu Recht, es dürfe keine kalkulierte Manipulation der Arbeit von Menschenrechtsaktivisten geben. Zum Schluss, da ich nur noch sehr wenig Redezeit habe, möchte ich auf das hinweisen, was wir auch bei Petersberg II angesprochen haben: Der Kampf gegen den Terrorismus hat gerade in Afghanistan für viele Frauen, die jahrzehntelang in unwürdigsten Zuständen leben mussten, neue Chancen eröffnet. Aber wenn man weiß, dass die Lage dieser Frauen jahrzehntelang kaum jemanden außerhalb der so genannten Gutmenschfraktion, der Menschenrechtsaktivisten, interessiert hat, und wenn man jetzt wieder hört, dass Mitglieder der afghanischen Verfassungskommission unwidersprochen die Einführung der islamischen Scharia in das neue Rechtssystem fordern dürfen, ist einem klar, dass die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert ist, die Vergabe der Mittel für den Wiederaufbau in Afghanistan jetzt an die Garantie der grundlegenden Freiheits- und Menschenrechte zu knüpfen, damit nicht Chancen vertan werden und damit die berechtigte Hoffnung der afghanischen Bevölkerung, vor allen Dingen der Frauen dort, nicht erneut enttäuscht wird. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Bindig, SPDFraktion.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die bisherige außenpolitische Debatte hat gezeigt, wie komplex sich internationale Beziehungen entwickeln, wenn Konflikte virulent geworden sind, und lässt erken940 nen, welchen politischen und diplomatischen Aufwand und welche finanziellen Mittel sie erfordern. Aus menschenrechtlicher Sicht stehen Fragen der menschlichen und humanitären „Kosten“ solcher Konflikte im Vordergrund. Das heißt im Klartext: Wie sieht die Situation der betroffenen Menschen aus? Mit welchen Mitteln kann ihnen geholfen werden? Wie sind die Konflikte oder auch ihre Lösungsansätze aus menschenrechtlicher Sicht zu bewerten? Mit welchen Risiken ist zu rechnen? Politische Spannungen und Konflikte sowie militärische Operationen bergen die Gefahr in sich, dass menschenrechtliche und humanitäre Standards sowie völkerrechtliche Grundsätze verletzt werden. Gerade wenn es darauf ankommt, dass humanitäres Völkerrecht und elementare Menschenrechte respektiert werden müssen und ihre Bewährungsprobe bestehen sollen, sind sie am häufigsten gefährdet. Diese Gefahr ist nicht nur in vielen innenpolitischen Auseinandersetzungen von Ländern erkennbar - sei es in Kolumbien, Algerien oder Vietnam -, sie zeigt sich auch international im Antiterrorkampf. Hier müssen wir wachsam sein. Sosehr sich pragmatische Politik durch Kompromissbereitschaft auszeichnet, so wenig nachgiebig dürfen wir sein, wenn es um die Einhaltung menschenrechtlicher Standards in schwierigen Situationen geht. ({0}) Um zu verhindern, dass in konfliktiven und besonders in gewaltsamen Situationen der Zweck die Mittel heiligt, braucht die Politik Grundprinzipien und Leitlinien. Dies müssen die Menschenrechte sein. Daran dürfen wir uns nicht nur am Internationalen Tag der Menschenrechte, am 10. Dezember, erinnern; dies muss übers Jahr unser politisches Handeln bestimmen. ({1}) Deshalb ist es nur konsequent, wenn im Koalitionsvertrag als Richtschnur der Außenpolitik die Beachtung des Völkerrechts, Dialogbereitschaft, Krisenprävention, Gewaltverzicht, Vertrauensbildung sowie das konsequente Eintreten für die Menschenrechte genannt sind. Menschenrechte müssen gerade in Konfliktsituationen eine Leitlinie unserer Politik sein.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vaatz? - Bitte.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bindig, können Sie mir ein Beispiel aus dem letzten halben Jahr nennen, an dem sich die Unnachgiebigkeit des Herrn Bundeskanzlers gegenüber Menschenrechtsverletzungen von Staaten gezeigt hat, mit denen gleichzeitig eine politische Zusammenarbeit angestrebt war?

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Unnachgiebigkeit ist die Grundlage der Politik, wie sie von der Bundesregierung durch den Außenminister und den Bundeskanzler vertreten wird. Ich wüsste kein umgekehrtes Beispiel zu nennen. ({0}) - Was zu Tschetschenien zu sagen ist, habe ich für die sozialdemokratische Fraktion in der letzten außenpolitischen Debatte am 29. Oktober hinreichend differenziert formuliert. ({1}) Wir verbinden heute gerne die menschenrechtliche mit der außenpolitischen Debatte. Viele Menschenrechtsverletzungen, die uns beschäftigen, finden im Ausland statt und erfordern außenpolitische Reaktionen: bilateral, auf EU-Ebene sowie multilateral. Tschetschenien ist hierfür ein gutes Beispiel. Hier kann unser außenpolitisches Interesse nicht losgelöst von menschenrechtlichen und humanitären Überlegungen definiert werden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, hat in seinem Bericht zur Verhütung bewaffneter Konflikte auf die Notwendigkeit hingewiesen, von einer Kultur des Reagierens zu einer Kultur der Prävention überzugehen. Um bewaffnete Konflikte auf Dauer zu verhüten - so heißt es in seinem Bericht -, muss gezielt die Achtung der Menschenrechte gefördert werden, nicht nur die Achtung der bürgerlichen und politischen Rechte, sondern auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte einschließlich des Rechts auf Entwicklung. Kofi Annan betont auch die wichtige Rolle des Internationalen Strafgerichtshofes bei der Durchsetzung des Grundsatzes der internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Er empfiehlt außerdem, das Amt des Hochkommissars der Vereinten Nationen für die Menschenrechte zu stärken. An dieser Stelle möchte ich zu Beginn der neuen Legislaturperiode - und sicher nicht nur im Namen meiner Fraktion - dem neuen Hochkommissar Sergio Mello viel Kraft für seine schwierige Aufgabe wünschen. ({2}) Die Forderungen des UN-Generalsekretärs korrespondieren voll mit den Planungen der Bundesregierung und den Forderungen der Koalitionsfraktionen, die internationalen Beziehungen weiter zu verrechtlichen und den Prozess der Einrichtung und Konsolidierung des Internationalen Strafgerichtshofes zu fördern. Kofi Annan hat den Mitgliedstaaten eindringlich nahe gelegt, die Menschenrechtsverträge und das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes zu ratifizieren. Deutschland ist mit seiner völkerrechtsfreundlichen Politik für viele Länder beispielhaft vorangegangen. Wir sind zahlreichen internationalen Abkommen und Zusatzprotokollen beigetreten und haben in der letzen Legislaturperiode einige Vorbehalte zurückgenommen. Wir sollten diese Politik der Abrundung unserer internationalen Verpflichtungen fortsetzen und die im Antrag aufgelisteten Konventionen und Zusatzprotokolle zeichnen bzw. ratifizieren. Ganz besonders am Herzen liegen mir die Zusatzprotokolle zur Kinderrechtskonvention, die Kindersoldaten und Menschenhandel betreffen, sowie die Rücknahme des Vorbehaltes zu Art. 22 dieser Konvention. Die wachsende Vernetzung der Welt in einem internationalen Normensystem ist eine Chance, für die es sich einzusetzen lohnt. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten. In keinem Fall dürfen wir zulassen, dass Völkerrechtsverträge reines Papierwerk bleiben. Es kommt auf die Umsetzung an. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen weist in seinem Bericht zur Verhütung bewaffneter Konflikte immer wieder darauf hin, dass neben den Vereinten Nationen vor allem die nationalen Regierungen selbst die Hauptverantwortung für die Konfliktprävention tragen müssen, und zwar sowohl im Inneren ihrer Staaten als auch in anderen Staaten. Hierfür müssten sie Kapazitäten aufbauen. Es ist deshalb richtig und wichtig, dass die Bundesregierung beschlossen hat, das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze zu einer vollwertigen Entsendeorganisation auszubauen. Auch der weitere Ausbau des erfolgreich gestarteten Zivilen Friedensdienstes und des im Jahre 2000 gegründeten Förderungsprogramms zur Krisenprävention in Konfliktregionen ist ein wichtiger Baustein präventiver Menschenrechtspolitik. ({3}) Unser Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ enthält neben menschenrechtlichen Aspekten der internationalen Politik auch viele Bezüge zu anderen Politikfeldern - zur Wirtschaftspolitik, zur Entwicklungszusammenarbeit, zur Innen- und Justizpolitik sowie zu einer zielgruppenorientierten Menschenrechtspolitik. Auch wenn es im politischen Betrieb manchmal unbequem ist: Menschenrechtspolitik ist eben eine Querschnittsaufgabe und mischt sich in unterschiedlichen Bereichen ein. Bei allem Sinn für das politisch Machbare wollen wir uns in dieser Legislaturperiode einem breiten Spektrum von Aufgaben widmen, um die Menschenrechte in anderen Ländern, aber auch bei uns im Innern voranzubringen. Eine aktive Menschenrechtspolitik nach Innen bleibt nämlich ein gutes Fundament für glaubwürdige auslandsbezogene Initiativen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Rainer Eppelmann, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch wir finden es - gerade angesichts der zeitlichen Nähe zum Tag der Menschenrechte - gut, dass im Rahmen der Haushaltsberatungen erstmals eine Menschenrechtsdebatte möglich ist. Das zeigt, dass die Menschenrechtspolitik bei uns eigentlich mitten in der Politik steht. Dafür ein Dankeschön uns allen. ({0}) Dennoch besteht kein Anlass zur Selbstzufriedenheit. Gerade in der Menschenrechtspolitik ist Glaubwürdigkeit entscheidend. Ich gebe ehrlich zu: Mich beschleicht immer wieder der Verdacht, dass das Thema Menschenrechte bei uns immer dann in die zweite Reihe gestellt wird, sobald sich lukrative oder attraktive wirtschaftliche Projekte abzeichnen oder sobald es übergeordnete politische Interessen gibt. Um an dieser Stelle nicht falsch verstanden zu werden, ist es mir wichtig, ausdrücklich zu sagen: Das geht nicht in Richtung einer Partei, sondern aller Parteien. Nur ein Beispiel - es gäbe so manche Beispiele -: Kritik an der katastrophalen Situation der Menschenrechte in der Volksrepublik China wird nur in wohlfeilen Worten geäußert. Der viel beschworene Rechtsstaatsdialog als solcher hat nach meiner Kenntnis noch keine richtigen Früchte getragen. Hier ist endlich Klartext geboten. Immerhin hat Amnesty International für das Jahr 2001 mindestens 4 015 Todesurteile und 2 468 Hinrichtungen festgestellt. Die Administrativhaft, das heißt Inhaftierung bis zu drei Jahren ohne Gerichtsverfahren, wird beispielsweise im 6. Menschenrechtsbericht der Bundesrepublik nicht einmal erwähnt. ({1}) An politischer Glaubwürdigkeit mangelt es auch im Fall des Bürgerkriegs in Tschetschenien. An demselben Tag, an dem der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe festgestellt hat, dass Abschiebungen von Tschetschenen nach Russland aufgrund der dortigen Situation nicht möglich und verantwortbar sind, machte der Bundeskanzler dem russischen Präsidenten Komplimente für dessen Tschetschenienpolitik. ({2}) Die nach den Worten des Kanzlers guten Ansätze in der russischen Tschetschenienpolitik kommentierte Oleg Orlow von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial mit den Worten - ich zitiere -: Entweder ist Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkompetenz aus. ({3}) Selbstverständlich hat die Russische Föderation das Recht, Terrorismus mit rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen, und auch einen Anspruch auf unsere Solidarität nach der verbrecherischen Geiselnahme Ende Oktober. Dennoch muss meiner Meinung nach alles vermieden werden, was von Russland nur allzu gern als Blankoscheck für das militärische Vorgehen in der Kaukasusrepublik verstanden wird. Noch immer gehören zum russischen Vorgehen in Tschetschenien - es ist vorhin schon erwähnt worden 942 Morde, Folter, Erpressung, Vergewaltigung und eine plündernde Soldateska. Dies ist völlig unakzeptabel und verlangt unser aller klaren Widerspruch; ({4}) denn der Weg von der Leisetreterei zur Komplizenschaft ist nicht weit. ({5}) Erst am vergangenen Wochenende wurde die Leiterin einer örtlichen Verwaltung, die Menschenrechtsverletzungen durch russische Streitkräfte kritisiert hatte, in ihrem Haus überfallen und erschossen. Schon lange ist bekannt, dass maskierte Sondereinsatztruppen nachts in Häuser eindringen und Männer, Frauen und Kinder verprügeln. Junge Männer werden verschleppt und kurze Zeit später mit Foltermalen tot aufgefunden. Damit mich keiner falsch versteht: Auch die tschetschenischen Rebellen sind für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Eine Talibanisierung Tschetscheniens, für die es bereits nach dem ersten Tschetschenienkrieg zahlreiche Anzeichen gab, dient aber nicht der Freiheit und der Selbstbestimmung des tschetschenischen Volkes. Islamische Terroristen können keine politischen Partner sein. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob angesichts der derzeitigen Zuspitzung des Konfliktes eine politische Lösung ohne internationale Hilfe überhaupt möglich ist. Auch Deutschland, Herr Außenminister, sollte Russland sehr dazu drängen, Hilfe vonseiten des Europarates, der OSZE und der Vereinten Nationen zu akzeptieren. Der Antrag der FDP beschreibt die Lage in dem Bürgerkriegsgebiet sehr anschaulich. Der Antrag, der heute an die Ausschüsse überwiesen wird, findet daher unsere volle Unterstützung. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, seit Jahren verfolgen wir die Situation bei den Menschenrechten in Kuba mit großer Besorgnis. Grundlegende Bürger- und Menschenrechte wie Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit werden durch das Regime Fidel Castros massiv unterdrückt. In den kubanischen Gefängnissen herrschen katastrophale Zustände. Vor allem politische Gefangene haben unter diesen Verhältnissen sehr zu leiden. Dem blinden Bürgerrechtler Juan Carlos Gonzalez Leyva, Präsident der kubanischen Menschenrechtsstiftung, droht eine mehrjährige Haftstrafe. Anderen Berichten zufolge soll er über das beantragte Strafmaß der Staatsanwaltschaft hinaus bereits zu neun Jahren Haft verurteilt worden sein. Im Gefängnis wurde er von einem Beamten der Staatssicherheit mit dem Tode bedroht. Einem anderen politischen Gefangenen, Leonardo Bruzon Avila, Vorsitzender der Bewegung 24. Februar, geht es nach einem inzwischen zweimonatigen Hungerstreik im Gefängnis äußerst schlecht. Es kursierten sogar Gerüchte, er sei an den Folgen inzwischen gestorben. Er beteiligte sich an dem Hungerstreik, um gegen seine andauernde Verhaftung ohne Gerichtsverfahren zu protestieren. Doch vor den Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes werden im Ausland, leider auch immer wieder bei uns, die Augen vielfach verschlossen. Ich verstehe das nicht. Das intellektuelle Verhätscheln des Maximo Lider hat offensichtlich Vorrang. ({7}) Heute hat meine Fraktion auch einen Antrag zur Türkei eingebracht. Einiges ist dazu bereits gesagt worden. Ich möchte jedoch vor allem noch anfügen, dass die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte in der Türkei auch weiterhin eingefordert werden muss. Der neue türkische Ministerpräsident Gül hat Mitte November angekündigt, Ankara werde die Europäer in nächster Zeit mit mutigen Reformschritten schocken. Einen solchen Schock, vermute ich, erleiden wir gerne, wenn darunter zum Beispiel folgende Sachverhalte fallen: dass die Türkei das Zusatzprotokoll Nr. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe unterschreibt; dass die türkische Regierung dafür sorgt, dass christliche und andere religiöse Minderheiten nicht länger diskriminiert und schikaniert werden, was einschließt, dass ihnen ihr Eigentum zurückgegeben wird; dass Ankara der Verleumdungskampagne gegen die deutschen politischen Stiftungen, die seit August 2001 anhält, Einhalt gebietet und das Verfahren des Staatssicherheitsgerichtes eingestellt wird. Die Vorwürfe der Spionage und Geheimbündelei sowie der Untergrabung des türkischen Nationalstaates gegen die Vertreter der Stiftungen sind absurd und entbehren jeglicher Grundlage. ({8}) Aus Veranstaltungen zu kurdischen Minderheitenrechten den Vorwurf separatistischer Umtriebe zu konstruieren ist grotesk. Die Anklage enthält keine Beweise. Die türkische Regierung ist aufgerufen, die Ankündigung Erdogans von der Nulltoleranz gegenüber Folter tatsächlich auch umzusetzen und das Problem der Straflosigkeit zu beseitigen. ({9}) Wir hätten uns sehr viel eindeutigere Bekenntnisse zur Menschenrechtspolitik der neuen Bundesregierung gewünscht. Die Aussagen des Koalitionsvertrages geben jedenfalls in dieser Hinsicht außer einigen Allgemeinplätzen wenig her. ({10}) Wer sein politisches Programm so defensiv beschreibt, von dem ist eigentlich kein prägnantes Handeln zu erwarten. Die Forderung, den Europäischen Gerichtshof zu stärken und hierfür laut dem heute eingebrachten Antrag der Koalitionsfraktionen „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ die Finanzmittel zu erhöhen, deckt sich keineswegs mit dem Haushaltsplan, ({11}) in dem der freiwillige Beitrag im Rahmen des Pflichtbeitrages eben nicht erhöht, sondern auf dem Stand der Jahre 2001 und 2002 belassen wird. ({12}) Als Zielsetzung zu formulieren - ich zitiere -, ein „besonderes Augenmerk auf die Durchsetzung von Frauenrechten“ zu legen, ist ebenso vage wie die Ankündigung, auf die „ausstehende Ratifizierung von menschenrechtlich relevanten Konventionen und Zusatzprotokollen sowie die Rücknahme von Vorbehalten in diesem Bereich hinzuwirken“.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einen Augenblick! Diese allgemeinen Aussagen bedürfen einer Präzisierung. Aus dem heute eingebrachten Antrag der Koalitionsfraktionen ist dies meiner Meinung nach noch nicht hinreichend ersichtlich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Eppelmann, würden Sie nach Ihrer abgelaufenen Redezeit eine Zwischenfrage des Kollegen Bindig zulassen wollen?

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er ist so nett, dass ich gar nicht Nein sagen kann.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Eppelmann, ist Ihnen bekannt, dass zur Finanzierung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf Initiative von Deutschland mit allen Ländern gerade vereinbart worden ist, die Mittel in den nächsten drei Jahren in einem gestuften Verfahren zu erhöhen, und dass das, was Sie eben kritisiert haben, im Gegenteil schon umgesetzt ist?

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sollte dies Wirklichkeit werden, dann bin ich richtig erfreut. Sie haben meine Zweifel aber hoffentlich gehört. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dass die Redner nach Überschreitung ihrer Redezeit freiwillig das Mikrofon räumen, nimmt das Präsidium mit besonderer Dankbarkeit zur Kenntnis. Nun hat als letzte Rednerin in der Aussprache zum Einzelplan des Auswärtigen Amtes die Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion, das Wort.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Rudolf Bindig hat, wie ich meine, die Intentionen des Antrags „Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Politik“ sehr gut vorgestellt. Ich möchte mich mit einem Teilaspekt dieses Antrags befassen und von den Opfern von Menschenrechtsverletzungen sprechen. Wir finden sie insbesondere bei den gesellschaftlich Schwachen, die überall auf dieser Welt oft durch die Maschen der sozialen Netze fallen. Es sind Behinderte, alte Menschen, Kinder, Jugendliche und meistens auch Frauen. In den letzten drei Tagen hat im Haus der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, in Berlin eine sehr interessante internationale Konferenz mit dem Titel stattgefunden: „Gewalt gegen Frauen und Mädchen beenden - Menschenrechte stärken“. An ihr nahmen 178 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einer Unzahl von Ländern - genauer gesagt: 38 - teil. Sie kamen auch aus den Niederlanden, dem Jemen, Jordanien und Kirgisien. Diese Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. Was verdeutlicht uns das? Die Menschenrechtsverletzungen an Frauen sind ein weltweites Problem. Man findet sie in vielfältigen Formen in jedem Land, in jeder kulturellen Umgebung, bei Arm und Reich, bei Analphabeten und bei Hochgebildeten. Sie sind leider ein Querschnittsthema, welches in viele politische Themenbereiche hineinreicht. Die Misshandlung von Frauen und ihre systematische Vergewaltigung wird oft als Kriegsmittel eingesetzt. Man geht davon aus, dass 80 Prozent aller Flüchtlinge weltweit Frauen sind. Zwischen 20 und 50 Prozent aller Frauen sind Opfer häuslicher Gewalt. Millionen von ihnen tragen ernste psychische und physische Schäden davon. Darüber gibt es eine sehr interessante Untersuchung der Inter-American Development Bank, die den daraus entstehenden weltweiten sozioökonomischen Schaden zu beziffern versucht. Ich meine, dass dies ein ganz besonders interessanter Aspekt ist. Besonders augenfällig wurden die schlimmen Menschenrechtsverletzungen an Frauen in der Diskussion über Afghanistan im vergangenen Jahr. Ich freue mich, dass die Bundesregierung auch weiterhin der wichtigen Frage der Teilhabe der afghanischen Frauen in allen Bereichen des Lebens dadurch gerecht wird, dass seit einem Jahr eine weibliche Diplomatin speziell für die Umsetzung frauenpolitischer Belange nach Kabul entsandt wird. Das ist auch dringend notwendig. ({0}) Ich habe am vergangenen Sonntag an der NGO-Begleitkonferenz auf dem Petersberg teilgenommen. Dort wurde allzu deutlich, dass die Afghaninnen eine starke Lobby brauchen, um die Verankerung ihrer Rechte in der neuen Verfassung zu gewährleisten. Frau Nickels hat das auch schon angesprochen. Ich bin sicher, dass die Bundesregierung hierauf entsprechend Einfluss nehmen wird. ({1}) Afghanistan ist aber nur ein Punkt. Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat in den vergangenen vier Jahren viele Menschenrechtsverletzungen an Frauen in den Blickwinkel der Öffentlichkeit gerückt. Einige Schwerpunkte der Arbeit sind in dem Antrag bereits angesprochen worden. Er ist insofern nicht so unkonkret, wie Sie es dargestellt haben, Herr Kollege Eppelmann. Dennoch möchte ich zwei dieser Schwerpunkte vertiefen. Ich erinnere zum Beispiel an die Debatten, die wir in den beiden vorigen Legislaturperioden zum Thema Genitalverstümmelung geführt haben. 130 Millionen Frauen - interessanterweise aus nahezu allen Religionsgemeinschaften - sind, vorwiegend in Afrika, davon betroffen. Jährlich sind 2 Millionen Mädchen zwischen dem Kleinkindalter und einem Alter von 20 bis 30 Jahren von der Genitalverstümmelung bedroht. Zum einen muss - das geschieht auch relativ konkret - über den Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Hilfe und Aufklärung geleistet werden. Zum anderen muss gewährleistet sein, dass eine Migrantin, die sich dagegen wehrt oder ihre Tochter vor diesem Schicksal bewahren und deshalb nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren will und kann, bei uns Schutz findet. ({2}) Ebenfalls unseres Schutzes und unserer Hilfe bedürfen Frauen, die von skrupellosen Menschenhändlern vorwiegend zum Zweck der sexuellen Ausbeutung verschleppt werden. Schätzungen sprechen von circa 500 000 Frauen jährlich, die aus diesem Grund vorwiegend aus den verarmten und politisch instabilen Ländern des ehemaligen Ostblocks nach Westeuropa verbracht werden. Mit dem Grenzübertritt nehmen ihnen die Schlepper die Pässe ab und machen sie damit rechtlos. In diesem Geschäft wird in Europa mehr Geld verdient als im Drogenhandel. La Strada, eine unter anderem in Polen tätige Hilfsorganisation, berichtet, dass die jungen Frauen in Auktionen regelrecht verkauft werden. Deutschland ist Ziel und Transitland dieses Handels. Insbesondere vor dem Hintergrund der Osterweiterung der EU ist es sehr begrüßenswert, dass die EU ein einheitliches Vorgehen der EU-Länder gegenüber den Opfern und Tätern anstrebt. Ich begrüße es - auch das sage ich an Herrn Eppelmann gerichtet -, dass es mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Deutschland seit einigen Jahren den bundesweiten Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess gibt, der die Legislative aus Bund und Ländern, die Exekutive und die NGOs an einen Tisch bringt, um wirksame Strategien gegen diese moderne Form der Sklaverei zu entwickeln. ({3}) Der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Es ist schon mehrfach betont worden, dass wir uns sehr darüber freuen, dass diese Debatte nicht wie früher irgendwann in der Nacht stattfindet und dass wir die Möglichkeit haben, im Verlauf der Diskussion über den Einzelplan des Auswärtigen Amtes diese wichtigen Punkte vorzutragen. Ich halte dies für sehr wichtig und richtig. Denn wir machen damit deutlich, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen den Menschenrechten einen politischen Schwerpunkt widmen. Herr Außenminister Fischer hat dies bei der Vorstellung des Einzelplans meiner Meinung nach sehr eindrucksvoll unterstrichen. ({4}) Denn die beste Politik gegen Menschenrechtsverletzungen ist die, die sozusagen präventiv darauf drängt, dass wir in den Ländern, die unsere Partner sind oder es werden wollen, in Bildung und Ausbildung, in freie Meinungsäußerung und Teilhabe an politischen Entscheidungsfindungen investieren. ({5}) Wir müssen außerdem daran arbeiten - auch dies ist nach meiner Meinung ein wichtiger Punkt -, dass niemand, der Menschenrechtsverletzungen begeht, straffrei ausgeht. Bei all diesen Punkten erwarten wir Ihre Unterstützung, sehr verehrte Damen und Herren von der Opposition. Ich hoffe, dass wir uns darauf verlassen können. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Geschäftsbereich nicht vor. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/136 und 15/64 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darf ich Einverständnis dazu feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Ich erteile als Erstem das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem NATO-Gipfel in Prag sind folgende Linien deutlich geworden: Deutschland stellt sich zusammen mit seinen Verbündeten den neuen Herausforderungen für die gemeinsame Sicherheit. Es handelt in Solidarität mit seinen Partnern und wird seiner gewachsenen Verantwortung gerecht. Deutschland ist gegenwärtig der zweitgrößte Truppensteller in internationalen Einsätzen. Es liegt in unserem ureigenen nationalen Interesse - das hat Angelika Graf ({0}) der Kanzler in Prag noch einmal unterstrichen -, dass sich Deutschland an internationalen Einsätzen beteiligt; denn nur im internationalen Zusammenwirken kann heutzutage erfolgreich Risikovorsorge betrieben werden. Die NATO muss sich anpassen und das hat sie auf dem Gipfel in Prag auch getan. Das Gleiche gilt auch für die Bundeswehr. Vorweg möchte ich noch ein Wort zu der Verwechslung von Fuchs-Spürpanzern und Fuchs-Transportpanzern in meinem Ministerium sagen. Ich kann die Häme darüber teilweise nachvollziehen. Vielleicht würde ich auch so handeln, wenn ich in der Opposition wäre. Ich glaube es aber nicht; denn ich wäre zu anständig. Aber ich möchte auch hier noch einmal deutlich erklären: Wenn eine solche Panne in meinem Haus geschieht - sie hatte ja entsprechende internationale Auswirkungen bzw. Diskussionen zur Folge -, dann übernehme ich als zuständiger Minister die Verantwortung dafür. ({1}) - Natürlich ist das meine Aufgabe. - Ich entscheide in einem solchen Fall, ob Konsequenzen zu ziehen sind. Ich habe im jetzigen Fall entschieden, dass keine Konsequenzen zu ziehen sind. Ich kann nur sagen, dass mir dieser Vorfall Leid tut. Damit ist die Sache für mich erledigt. Man braucht nicht weiter auf den betroffenen Mitarbeitern herumzuhacken. ({2}) Die NATO hat sich, wie gesagt, angepasst und auch die Bundeswehr muss sich anpassen. Dazu möchte ich Ihnen ein paar Worte sagen. Nach Art. 87 a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Eine Gefährdung deutschen Staatsgebiets durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit nicht und wird es auch auf absehbare Zeit nicht geben. Die Verteidigung an den Grenzen unseres Landes ist daher zu einer unwahrscheinlichen Option geworden. Wir müssen unsere Streitkräfte nicht länger an der Annahme ausrichten, der Feind könne morgen mit seinen Panzerarmeen an den Grenzen unseres Landes stehen. Der 11. September 2001 hat schlaglichtartig die veränderte Sicherheitslage deutlich gemacht. Die gewandelten sicherheitspolitischen Realitäten erfordern Diskussion und Antwort auf folgende Fragen: Wie sind angesichts einer grundlegend veränderten Sicherheitslage in Deutschland und auf dem europäischen Kontinent die künftigen Aufgaben der Bundeswehr zu gewichten? In welchem Umfang muss sich die Bundeswehr noch strukturell und materiell auf die Verteidigung gegen einen konventionellen Angriff auf deutsches Territorium vorbereiten? Welches sind also ihre künftigen und welches ihre wichtigsten Aufgaben? Das sind Fragen, deren Beantwortung möglicherweise weit reichende Konsequenzen hat. Wir sollten sie nach einer seriösen und eingehenden sicherheitspolitischen Diskussion sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit beantworten. Schon jetzt scheint aber klar zu sein: Das wahrscheinlichste Einsatzspektrum muss angesichts begrenzter Ressourcen konsequenter als bisher Rolle und Ausstattung der Bundeswehr bestimmen. Die Realität der Einsätze der Bundeswehr muss sich in Strukturen, Umfängen, Fähigkeiten und Ausrüstung der Streitkräfte niederschlagen. Deshalb ist in der Koalitionsvereinbarung festgehalten worden: Die Modernisierung der Bundeswehr erfordert eine fortlaufende Anpassung von Beschaffungsplanung, Ausstattung und Personalumfang an die sicherheitspolitische Entwicklung. In den verteidigungspolitischen Richtlinien, die ich im Frühjahr 2003 erlassen werde, wird dies seinen Niederschlag finden. Dies bedeutet - um dies gleich klarzustellen, meine Damen und Herren - keine Aufgabe der Wehrpflicht. Die Wehrpflicht ist und bleibt nach meiner Einschätzung für Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr ohne Alternative. ({3}) - Herr Koppelin, es gibt den einen oder anderen Sozialdemokraten in dem einen oder anderen Landesverband, der eine andere Auffassung zu dem, was ich hier vorgetragen habe, hat. ({4}) - Der hat aber genauso wie ich für die Beibehaltung der Wehrpflicht plädiert. In Parteien gibt es immer abweichende Meinungen. Es sind ja demokratische Organisationen. ({5}) - Die Wehrpflicht bleibt. Die Frage der Ausgestaltung der Wehrpflicht wird in die noch ausstehende Überprüfung der Wehrverfassung eingehen. Änderungen in den Strukturen und in der Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung sind jedoch bereits absehbar. Sie müssen noch stringenter an einem fähigkeitsorientierten und alle Teilstreitkräfte übergreifenden Gesamtansatz ausgerichtet werden. Ferner müssen sie noch klarer die Erfordernisse multinationaler Einsätze in einem breiten Spektrum von Operationen außerhalb Deutschlands berücksichtigen. Die Bundeswehr braucht die Fähigkeiten, die das sicherheitspolitische Umfeld zu Beginn dieses Jahrhunderts erfordert. Nur wenn sie diese Fähigkeiten - nämlich Führungsfähigkeit, Aufklärungsfähigkeit, Mobilität, Fähigkeit zum Durchhalten auch über große Entfernungen, um nur einige zu nennen - weiter verbessert, wird sie künftig schnell und wirksam zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen für die gemeinsame Sicherheit eingesetzt werden können. Dabei sind wir auf einem guten Wege, meine Damen und Herren. Vieles ist schon erreicht worden. Die Strukturen der Bundeswehr sind gestrafft. Die Führungsorganisation ist für den Einsatz optimiert. An erster Stelle steht hier die Erhöhung der Einsatzkräfte, und zwar zunächst von 50 000 auf 65 000 Soldaten. Nur sie hat es möglich gemacht, dass heute rund 10 000 deutsche Soldaten den Frieden an vielen Stellen in der Welt sicherer machen können. In den kommenden Jahren wird die Zahl der Einsatzkräfte kontinuierlich auf circa 150 000 Soldaten steigen. Die Aufstellung der Streitkräftebasis, des Einsatzführungskommandos, der Division Spezielle Operationen, der Division Luftbewegliche Operationen, des Kommandos Operative Führung Luftstreitkräfte und des Kommandos Strategische Aufklärung sind Beispiele für die neue Führungsstruktur der Bundeswehr. Die Umgliederung der Truppe als Kernelement der Reform hat begonnen und wird bis zum Jahre 2005/2006 weitgehend abgeschlossen sein. Der Haushaltsentwurf für das Jahr 2003, den wir heute in erster Lesung beraten, geht für den Einzelplan 14 vor diesem Hintergrund von vier Voraussetzungen aus. Erstens. Das Primat der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gilt weiterhin uneingeschränkt. Jedes Ressort leistet dazu seinen Beitrag, auch das Bundesministerium der Verteidigung. Zweitens. Die Reform der Bundeswehr wird konsequent fortgesetzt. Es gibt keine Reform der Reform. Wir werden sie allerdings - dies ist wegen des gewandelten sicherheitspolitischen Umfelds erforderlich - weiterentwickeln. An dem Ziel, Aufgaben, Struktur, Ausrüstung und Mittel in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, wird natürlich weiter gearbeitet. Deshalb haben wir eine Überprüfung und Neupriorisierung der gesamten Beschaffungs- und Ausrüstungplanung beschlossen, die unter Berücksichtigung der neuen verteidigungspolitischen Richtlinien erfolgen wird. Der bis zum Frühjahr 2003 zu erarbeitende Bundeswehrplan 2004 wird diese Weichenstellungen bereits widerspiegeln. Drittens. Die Anforderungen an die Bundeswehr durch die internationalen Einsätze werden weiterhin hoch sein. Die Realität der Bundeswehr sieht für jedermann ersichtlich so aus, dass wir durch die enorme Zunahme der im Ausland eingesetzten Soldaten an materielle Grenzen stoßen. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus hat zusätzliche Aufgaben mit sich gebracht. Die Grenzen der Belastbarkeit der Bundeswehr sind keine leere Formel, sondern Realität. Künftige Ausrichtung und materielle Ausstattung der Bundeswehr müssen dies berücksichtigen. Viertens. Wir werden wie bisher unseren Beitrag leisten, damit sich NATO und Europäische Union in ihren Fähigkeiten an die neuen Herausforderungen für unsere Sicherheit anpassen können. ({6}) Allerdings gilt, was ich bereits vor dem Gipfel in Prag gesagt habe. ({7}) - Immer mit der Ruhe, Herr Kollege. Angesichts der eingeschränkten Finanzlage sollte niemand unverantwortliche Luftschlösser versprechen. Es geht um Bündelung, Konzentration, um intelligente Zusammenarbeit und um vernünftige Arbeitsteilung. Meine Damen und Herren, nicht jedes Land der NATO muss alles können. Im Einzelnen heißt dies für den Einzelplan 14: Grundlage für die Planungen der Bundeswehr ist und bleibt die mittelfristige Finanzplanung. Das Volumen beträgt 2003 wie für die folgenden Finanzjahre 2004 bis 2006 rund 24,4 Milliarden Euro. Dies schafft Planungssicherheit. Für Operationen zur Terrorbekämpfung sowie für sonstige Auslandseinsätze sind in dem gleichen Zeitraum pro Jahr insgesamt 1,153 Milliarden Euro veranschlagt. Der Bundesminister der Verteidigung trägt über den Einzelplan 14 zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes dadurch bei, dass wir im Haushaltsvollzug 2003 rund 100 Millionen Euro erwirtschaften werden. Im Zusammenhang mit der geplanten Übernahme der Führungsrolle bei ISAF wird die zur Finanzierung der internationalen Einsätze vorgesehene Verstärkungsmöglichkeit aus dem gesamten Bundeshaushalt in Höhe von 51 Millionen Euro in Anspruch genommen. Wir setzen mit diesem Haushalt den Modernisierungskurs fort. Ich habe hierzu in einem ersten Schritt einen Finanzstatus erarbeiten lassen. Durch den Generalinspekteur wurden mir erste Vorschläge für die Priorisierung von militärischen Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben vorgelegt. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln ist es möglich, die laufenden Rüstungsvorhaben fortzusetzen und alle eingegangenen vertraglichen Bindungen zu erfüllen. Der Haushalt 2003 und die mittelfristige Finanzplanung sichern den Einstieg in wichtige Vorhaben und deren Finanzierbarkeit. Der Eurofighter 2000 wird grundsätzlich wie geplant weiter verfolgt. Er wird selbstverständlich auch die erforderliche Bewaffnung erhalten. Die parlamentarische Beschaffungsentscheidung für den Luft-Luft-Flugkörper kurzer Reichweite für das System Eurofighter - „Iris-T“ genannt - ist für Frühjahr 2003 vorgesehen. Wir haben den Bedarf allerdings bereits von 1 812 auf 1 250 Flugkörper reduziert. Bei Meteor beabsichtigen wir gemeinsam mit fünf weiteren Nationen möglichst noch 2002 eine endgültige Entscheidung für einen deutschen Einstieg in die Entwicklung. Wir streben aber angesichts einer veränderten Bedrohungslage in Europa eine deutliche Reduzierung der Stückzahl von ursprünglich 1 488 auf 600 Flugkörper an. Dies reicht für die wahrscheinlichste Einsatzoption im Rahmen von Krisenoperationen aus. Für die dringend benötigte Fähigkeit zum strategischen Lufttransport - auch für Evakuierungsoperationen - steht der Kauf des Airbus A400M völlig außer Frage. In Abstimmung mit unseren Partnern werden wir allerdings die ursprüngliche deutsche Bestellmenge auf 60 Flugzeuge absenken. Diese Absenkung ist verantwortbar, da es nach meiner Auffassung nicht erforderlich ist, Flugzeuge für mehrere zeitlich parallel laufende Operationen und den gleichzeitigen Friedensflugbetrieb in bisher geplantem Umfang bereitzuhalten. Sie wissen, meine Damen und Herren, dass wir gegenwärtig in der NATO eine Interimslösung für strategische Lufttransportkapazitäten bis zum Zulauf des A400M - voraussichtlich im Jahre 2008 - prüfen. Wir sind auf demWeg einer Nationen übergreifenden Initiative bis zur ausreichenden Verfügbarkeit des A400M einen großen Schritt vorangekommen. Elf Länder haben sich unserer, meiner Initiative angeschlossen. Wir verbessern die Selbstschutzausrüstung der Transall, „Eloka“ genannt. Wir sichern den Einstieg in die Serienvorbereitung des Torpedo DM 2A4, eines Schwergewichtstorpedos für den Einsatz auf dem U-Boot Klasse 212A. Er erfüllt als einziger Torpedo die militärischen Forderungen. Wir entwickeln eine „Combat Search and Rescue“-Fähigkeit für den NH 90. Wir sichern die Beschaffung des neuen Schützenpanzers. Die notwendigen Vorkehrungen dafür sind noch vor der Bundestagswahl im Haushaltsausschuss getroffen worden. Die Reduzierungen beim A400M und bei Meteor werden nicht einfach umzusetzen sein. Sie sind aber, wie ich ausgeführt habe, militärpolitisch zu verantworten und sie sind finanzpolitisch notwendig. Der Haushaltsentwurf 2003 ist eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung und für die Fortentwicklung der Reform der Bundeswehr. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen: Der Schlüssel für eine zukunftsfähige Bundeswehr sind nicht Stückzahlen und ist nicht in erster Linie mehr Geld; der Schlüssel ist vielmehr mehr Zusammenarbeit mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern. ({8}) Was wir zum Beispiel mit unseren französischen Freunden anstreben, zeigt, wie es gehen muss und wie es gehen kann: Wir unterstützen ein europäisches Lufttransportkommando auf der Grundlage der bestehenden Europäischen Lufttransport-Koordinierungszelle. Wir erörtern Möglichkeiten gemeinsamer Aus- und Fortbildung der fliegenden Besatzungen, des technischen und des sonstigen Personals für den A400M. Wir wollen die DeutschFranzösische Brigade für Anfangsoperationen im Rahmen europäischer Kriseneinsätze nutzen. Das sind nur drei Beispiele, wie wir Kräfte und Mittel konzentrieren. Zusammengefasst heißt das im Klartext: Wenn wir die eingeleitete Reform weiterhin konsequent umsetzen und weiterentwickeln und unsere Ressourcen in enger Zusammenarbeit mit unseren Partnern intelligent investieren, dann erreichen wir die beiden wesentlichen Ziele: Erstens. Wir halten die Transformation der Bundeswehr weiterhin im Einklang mit der Transformation der NATO und der sicherheits- und verteidigungspolitischen Ausrichtung der Europäischen Union. Zweitens. Wir halten die Bundeswehr leistungsfähig und Deutschland damit außenpolitisch handlungsfähig. Ich setze dabei auf die Unterstützung aller demokratischen Parteien in diesem Parlament; denn die Bundeswehr ist und bleibt ein Parlamentsheer. Das heißt für mich auch: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben einen Anspruch darauf, dass sie von diesem Hause die größtmögliche Unterstützung für die Erfüllung ihrer schwieriger gewordenen Aufgaben erhalten. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme die letzte Äußerung des Verteidigungsministers gern auf. Er appellierte an die größtmögliche Unterstützung der Bundeswehr. Ich möchte an die Situation vor der Bundestagswahl erinnern. Herr Minister, ich gehe davon aus, dass die Sozialdemokratisierung der Führung der Bundeswehr aufhört. Ich gehe davon aus, dass Appelle nach dem Motto „Sozialdemokraten für Schröder“, das Aussuchen des Personals nach Parteizugehörigkeit und anderes ein Ende haben. ({0}) Wir sollten uns miteinander bemühen, gemeinsam Politik zu machen. Sie haben gesagt, die Bundeswehr müsse ihren Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts leisten. Sie haben dann aufgezählt, was aus Ihrer Sicht zurzeit verteidigungspolitisch zu finanzieren ist. Sie wollen morgen eine Pressekonferenz geben, auf der Sie das vorstellen, wovon Sie glauben, dass es sich die Bundeswehr leisten kann. Ich hoffe, dass da nichts anderes, nicht mehr als hier gesagt wird; sonst müsste ich das als Affront gegen das Parlament betrachten, das dann wieder einmal nicht vollständig unterrichtet worden wäre. ({1}) Wenn man sich die finanzielle Situation der Bundeswehr anschaut, dann kann es eigentlich nicht überraschend sein, was Sie morgen sagen. Ich will das Chaos an der Spitze der Bundeswehr in den letzten vier Jahren - es war insbesondere mit einem Namen verbunden - gar nicht ins Gedächtnis rufen. Ich möchte vielmehr einfach nur an die Tatsache erinnern, dass man seit Jahren sagt: Der Verteidigungsetat ist ein Not- oder Übergangsetat. Es fehlt an allen Ecken und Enden, um das zu tun, was erforderlich ist. Herr Minister, in Ihrer heutigen Rede hat mir ein Hinweis darauf gefehlt, dass wir nach dem 11. September - man kann es gar nicht oft genug zitieren - eine andere Bedrohungslage haben. Wir nennen das asymmetrische Bedrohung. Das bedingt eine asymmetrische Kampfführung. Das bedeutet natürlich, dass es in bestimmten Fähigkeitsbereichen - personelle Struktur, Führungsfähigkeit, Transport und Logistik, Reaktionszeit, aber auch Schutz der Heimat - Veränderungen in der Bundeswehr gibt. Das heißt, wir brauchen eine Reform der Reform aus dem Jahre 2001, die noch von Scharping in Gang gesetzt worden ist, eine Reform, die die neuen Bedingungen berücksichtigt. Dass Sie schon im Jahr 2001 nicht in der Lage waren, im Haushalt befindliche Rüstungsprojekte zeitgerecht zu realisieren, macht deutlich, dass es noch schwerer wird, neue Aufgaben zu übernehmen, wenn man nicht bereit ist, bei den alten Aufgaben eindeutig zu sagen, welche wegfallen sollen. Ein Trauerspiel ist in diesem Zusammenhang das Thema A400M. Wenn über Verteidigungspolitik gesprochen wird, wird weniger über den mutigen, tapferen Ein948 satz der Soldaten, über ihre Motivation und Ähnliches gesprochen, sondern über dieses oder jenes herausragende Rüstungsprojekt. Wie war das beim A400M? Seit anderthalb Jahren wird darüber diskutiert. Bevor der Etat nicht rechtskräftig ist - das wird im Mai nächsten Jahres der Fall sein -, können keine vertraglichen Bedingungen geschaffen werden, die aber ausschlaggebend dafür sind, ob 1 Flugzeug, 40, 60 oder 73 Flugzeuge gekauft werden. Das heißt, die ganze Hängepartie allein bei diesem Projekt hat sich dann über zwei Jahre hingezogen. Auch bei anderen Projekten ist noch keine Entscheidung gefallen. Wir bekommen heute von Ihnen einen Finanzstatus vorgelegt, der im Grunde genommen Folgendes aussagt: Wir haben bis einschließlich 2006 keinen Spielraum für irgendein neues Projekt. Mittel dafür müssten an anderer Stelle gestrichen werden, das heißt, wir müssten strecken, kürzen oder bereits abgeschlossene Verträge ändern. Das mag in manchen Fällen sinnvoll sein, insbesondere bei dem einen oder anderen Projekt, das immer noch nicht abgeschlossen wird. Was macht es eigentlich für einen Sinn, für die Entwicklung von Tornados Geld auszugeben, wenn der Eurofighter offensichtlich nicht in Gang kommt? Es wird mehr Geld für die Entwicklung von Tornados als für die Fertigstellung des Eurofighters ausgegeben. Auch bei anderen Projekten muss man sich fragen, ob eigentlich eine Kontrolle hinsichtlich der Realisierung der Projekte stattfindet. Ich könnte als Beispiele die Drohne Taifun und die Drohne KZO nennen, ich habe das Thema A400M angesprochen, der Eurofighter flattert; auch bei dem Unterstützungshubschrauber Tiger gibt es offensichtlich Probleme bei der Fertigstellung. Aber es sollen ständig neue Aufgaben angegangen werden. Die Frage nach der neuen Struktur angesichts der veränderten Sicherheitslage ist in Ihrer Rede meines Erachtens nur unzureichend beantwortet; das Gleiche gilt für die Finanzierung der Reform. Der Gesamtetat, der heute auf dem Papier 24,4 Milliarden Euro ausmacht, wird im Verlauf der nächsten Jahre durch Gehaltssteigerungen, durch die Inflationsrate, durch andere Anforderungen und vor allen Dingen durch eine neue globale Minderausgabe des Finanzministers reduziert werden. Im Haushalt steht eine globale Minderausgabe von 1,5 Milliarden Euro. Davon sind 200 Millionen Euro - der Finanzminister mag das bestreiten, aber in internen Papieren heißt das so - Kürzung des Weihnachtsgelds - das betrifft auch die Berufssoldaten - und 1,3 Milliarden Euro weitere Kürzungen. Das Finanzministerium hat vor, Ihnen eine weitere Kürzung von 360 Millionen Euro aufzuerlegen. Diese weitere Kürzung soll dadurch erbracht werden, dass die Zahl der Wehrpflichtigen im nächsten Jahr um 30 000 reduziert wird. Da aber für das erste halbe Jahr inzwischen alle einberufen sind, heißt das, sie müsste um 60 000 reduziert werden, um den Beitrag von 360 Millionen Euro zu erbringen. Das ist ganz eindeutig nicht zu schaffen. Der Verteidigungsetat schrumpft dann unter 24 Milliarden Euro, und das offensichtlich auf nicht absehbare Zeit. Nein, mit dem vorgelegten Regierungsentwurf und dem, was zwischen den Zeilen steht, werden Sie Ihre Aufgaben nicht erledigen können. Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der heute immer wieder eine Rolle gespielt hat. Die Auftragslage, die für die Bundeswehr von Bedeutung ist, spiegelt sich bei den wehrtechnischen Betrieben wider. Wenn keine Aufträge erteilt werden, haben sie keine Arbeit. Nun kommen viele von den Betrieben zu uns und sagen: Wenn ihr wenigstens die Exportrichtlinien so harmonisieren würdet, dass wir den Franzosen, Engländern und anderen Staaten innerhalb Europas gleichgestellt wären! Das erinnert mich an das Thema Türkei, das wir heute Morgen hier angesprochen haben. Die Grünen haben sich ja wegen der Menschenrechte dagegen gewendet, dass man den Leo II in die Türkei liefert. ({2}) Wenn Sie jetzt die Türkei in die EU aufnehmen, wird es keine Gründe mehr geben, so etwas zu sagen. Sie verweigern ja heute bereits die Lieferung von Nachtsichtgeräten und Ersatzteilen für alles Mögliche, was bisher geliefert worden ist. Überlegen Sie sich also, ob Ihre Position in Bezug auf die Türkei wirklich in Ordnung ist. Ich will als weiteren Punkt das Thema Privatisierungserlöse ansprechen. Unter Scharping wurde unter der Überschrift GEBB ein gewaltiger Popanz aufgebaut. Das waren Luftblasen, Täuschungsmanöver. ({3}) Die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb hat bisher nur Geld gekostet - 65 Milliarden DM oder rund 35 Milliarden Euro -, ohne dass etwas daraus geworden ist. ({4}) - Bisher ist daraus nichts geworden. Die GEBB hat bisher nur Geld gekostet. Was macht denn die Informationstechnologie „Herkules“? Die liegt doch neben der Spur. Da haben Sie Geld verbrannt. Bis heute ist nichts passiert. Für die Informationstechnik der Bundeswehr sind Notansätze erforderlich. Was ist denn aus dem Bekleidungsmanagement geworden? Was ist denn aus dem Liegenschaftsmanagement geworden? Was ist denn aus den anderen Geschichten geworden? Wenn man sich überlegt, dass diese Instrumente nur eingesetzt worden sind, um zusätzliches Geld für die Beschaffung hereinzuspielen, das heute fehlt, dann muss man sich die Frage stellen: Wie soll die Bundeswehr mit dem Etat überhaupt zurechtkommen?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, eine Kollegin hat eine dringende Frage.

Verena Wohlleben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, die Frage ist wirklich dringend. - Herr Austermann, Sie sagten, die GEBB habe bisher 35 Milliarden gekostet. Würden Sie die Zahl bitte wiederholen?

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe mich versprochen - vielen Dank für den Hinweis -: 35 Millionen.

Verena Wohlleben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr. Nicht, dass Sie in Zukunft auch unseren Haushalt so betrachten. Das würde wirklich fatale Folgen haben. Herzlichen Dank. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will Ihnen gern helfen, wenn Sie beim Haushalt oder bei einzelnen Zahlen Probleme haben. Ich glaube, Versprecher passieren jedem einmal. Ich habe das Thema „Herkules“ erwähnt. Ich habe darauf hingewiesen, dass das Vorhaben seit Jahren nicht vorankommt und dass es deswegen auch an Einsparungen fehlt. Offensichtlich streben Sie an, sich im Bereich dieser GmbHs außerhalb der Bundeswehr von tariflichen Regelungen und von der Verpflichtung, Umsatzsteuer zu zahlen, zu verabschieden. Würde man das auf andere Bereiche übertragen oder würden andere das machen, würden Sie es mit Recht als Skandal bezeichnen. Ich möchte darauf hinweisen, dass der fortgeschriebene Haushalt natürlich künftig unter den Preissteigerungen und unter den Tarifabschlüssen leiden wird, real also sinkt. Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Die Schließung von Fähigkeitslücken ist für eine Armee im Einsatz eine elementare Bedingung. Mit realen Kürzungen der Rüstungsinvestitionen nimmt man ihr aber die hierfür notwendigen Mittel. Mit ständigen Übergangshaushalten nimmt man ihr schließlich die Luft zum Atmen. Die Bundeswehr braucht einen Modernisierungsschub. Aber dafür ist nach dem von uns erzwungenen Finanzstatus kein Geld da. Bis 2006 kann kein neues Projekt angeschoben werden. Abgeschlossene Projekte müssen gestreckt und gekürzt werden. ({0}) Wir sehen mit großer Sorge, wie viele Projekte zurzeit stottern. Ich habe auf die globale Minderausgabe hingewiesen. Dieser Verteidigungsetat widerspricht dem Grundsatz von Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit. Heute bereits bekannte Deckungslücken im kommenden Jahr sind ein Risiko für die Zukunft. Wir stellen fest, dass der Sparknebel hier genauso schädlich wirkt wie in anderen Bereichen, weil die Verteidigungsaufgabe sicher eine unserer wichtigsten Aufgaben ist. Der Bundesminister der Finanzen manifestiert im Haushaltsentwurf ein Defizit, von dem er weiß, dass er es derzeit nicht decken kann. Meine Damen und Herren, der Haushalt in dieser Form hat unsere Unterstützung nicht, wenn es nicht gelingt, Ausnahmen und Einnahmen miteinander in Einklang zu bringen. ({1}) Ich greife ein Zitat auf und hoffe, Herr Struck, Sie distanzieren sich nachher nicht auch wieder davon. Sie haben gesagt: Der Verteidigungsminister, die Verteidigungsarmee braucht Geld, um ihren Auftrag zu erfüllen. Wenn nicht, muss sie ihren Auftrag ändern. Ich sehe eine völlig andere Notwendigkeit: Der Auftrag hat sich geändert und dafür sind die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Wir sind bereit, das dafür Erforderliche zu tun. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Bonde, Bündnis 90/Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Austermann, ich hatte - vermutlich aufgrund meines jugendlichen Idealismus - von Ihnen einen konstruktiven Vorschlag zur Modernisierung der Bundeswehr erwartet. Stattdessen haben Sie wieder die gleiche Leier von der Unterfinanzierung präsentiert. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren haben Sie sich dieses Mal zwar nicht auf Milliarden festlegen lassen, aber unter dem Strich steht doch die Milliardenforderung. Insofern kann man von Glück sagen, dass Roland Koch heute nicht da ist; denn sonst wäre ratzfatz der nächste Untersuchungsausschuss fällig gewesen. Bündnis 90/Die Grünen haben die gute Tradition, den Einsatz militärischer Mittel sehr genau abzuwägen und kritisch zu begleiten. Wir unterstützen den gemeinsamen Kurs der Koalition und Minister Struck in der Verteidigungspolitik. Wenn die Opposition eine chronische Unterfinanzierung und - das wurde in einzelnen Beiträgen geäußert - einen angehäuften Investitionsstau beklagt, dann stellen sich einige Fragen: Welche dieser Investitionen sind wirklich notwendig? Wer hat mit dem Anhäufen angefangen? Ich kann es Ihnen nicht ersparen, daran zu erinnern, dass gerade im Laufe Ihrer Regierungszeit das Volumen des Verteidigungshaushaltes kräftig gesenkt wurde. ({0}) Man muss das zwar nicht unbedingt schlimm finden, aber Sie haben das ohne eine Änderung der Zielbeschreibung und ohne ein tragfähiges Konzept gemacht. ({1}) An vielen Punkten reden wir nicht von einem Investitionsstau, sondern von Fehlinvestitionen: Aus einer falschen Orientierung an alten Bedrohungsbildern wurden Investitionen abgeleitet, die haushaltspolitisch in die falsche Richtung gingen. Kommen wir zu etwas Erfreulicherem. Die Bundeswehr leistet bei ihren Einsätzen in unserem Auftrag hervorragende und wichtige Arbeit. Ich möchte den Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle ausdrücklich danken. ({2}) Die im Einzelplan 14 vorgesehene Finanzierung bietet eine ausreichende Grundlage für die weitere Reform und Modernisierung der Streitkräfte. Auch bei der Finanzierung der Bundeswehr darf man die derzeitig schwierige wirtschaftliche Situation und die Haushaltslage nicht außer Acht lassen. Wer vorhat, der Bundeswehr mehr Geld zu geben - Herr Austermann, de facto haben Sie das gefordert -, muss auch sagen, woher er es nimmt und mit welchem Ziel diese Mittel eingesetzt werden sollen. Mit Spannung warten wir auch an dieser Stelle auf einen Finanzierungsvorschlag der Opposition. Während der letzten Tage wurden zwar viele Forderungen gestellt, aber sehr wenige Vorschläge gemacht, wo das Geld herkommen soll. Wenn man sich anschaut, wie wackelig die Opposition an bestimmten Stellen steht, dann ist das schon sehr interessant. Ich nenne ein Beispiel: Die „FAZ“ berichtet in einem Artikel vom 26. November 2002 von der Überprüfung der Rüstungsprojekte im Verteidigungsministerium. Der verteidigungspolitische Sprecher, Kollege Schmidt, CSU, erklärt, durch diese Überlegungen sei „das sicherheits- und verteidigungspolitische Ansehen beschädigt“. Der Kollege Austermann, haushaltspolitischer Sprecher, CDU, fordert im gleichen Artikel zwei Zeilen später das Gegenteil und hält die Überprüfung für „überfällig“. Ich frage mich: Wo ist Roland Koch, wenn man ihn braucht? ({3}) Herr Koch, übernehmen Sie! Das ist wieder ein klassischer Fall für einen Untersuchungsausschuss. ({4}) - Da bin ich aber gespannt. ({5}) Im Gegensatz zur Opposition haben Minister Struck und Generalinspekteur Schneiderhan Vorschläge erarbeitet, wie man die Bundeswehr mit den bestehenden Mitteln an die modernen Herausforderungen anpassen kann. Für diese Vorschläge sind wir sehr dankbar. Im Gegensatz zu Ihnen haben die Streitkräfte erkannt, dass die Struktur nicht an einem Wunschzettel, sondern an der realen Sicherheitslage und den realen Möglichkeiten ausgerichtet werden muss. Eine weitere Anpassung an die gegebene Situation wird es auch geben, wenn im Frühjahr des nächsten Jahres die verteidigungspolitischen Richtlinien neu festgelegt werden. Die Bundeswehr hat ihre Strukturen und Anschaffungen aufgrund alter verteidigungspolitischer Richtlinien überprüft. Jetzt ist die Politik an der Reihe. Die rot-grüne Koalition wird sich dieser Aufgabe verantwortungsbewusst und konstruktiv stellen. ({6}) Die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien müssen den Spielraum schaffen, um die Anforderungen an eine moderne Bundeswehr kritisch überprüfen zu können. So gewinnen wir Spielraum für eine sinnvolle Modernisierung. Mit den freigesetzten Mitteln kann, bei gleich bleibendem Etat, der Investitionsanteil erhöht und die Modernisierung beschleunigt werden. Als dringendste Herausforderung besteht heute nicht mehr das Szenario der Bündnisverteidigung. Wir sind uns doch alle einig, dass ein klassischer Angriff auf NATOGebiet im nächsten Jahrzehnt nicht zu befürchten ist. Von der reinen Landesverteidigung will ich hier gar nicht mehr reden. Es stellt sich doch vielmehr die Frage, wie wir effizient gemeinsam mit unseren europäischen und transatlantischen Verbündeten, allen voran den Amerikanern, den Bedrohungen unserer Sicherheit begegnen können. Die Antwort darauf kann nicht einfach heißen: mehr Geld rein und die moderne Armee auf unsere Struktur obendrauf. Aber genau das ist es, was viele Diskussionen der Opposition prägt. Für so ein Modell hätte aber auch Stoiber Kanzler werden können und hätte es nicht hinbekommen - da hätten Sie den Weihnachtsmann persönlich zum Regierungschef machen müssen. ({7}) Die Antwort auf diese Frage lautet: internationale Aufgabenteilung und Kooperation. Wir benötigen eine kleinere, spezialisierte und technisch überlegene Armee. Die strukturellen Reste des Kalten Krieges mit Panzerarmeen und starken Reserveverbänden entsprechen nicht mehr der heutigen Bedrohungslage. Übergroße Aufwuchsfähigkeiten sind nicht mehr zeitgemäß, sie blockieren Personal und Geld. Die Bundeswehr muss nicht mehr und soll nicht mehr alles alleine bewältigen können. Einsätze der Bundeswehr ohne unsere europäischen Partner und ohne unsere transatlantischen Partner sind heute undenkbar. Diese Idee konsequent zu denken heißt, die europäischen integrierten Fähigkeiten in der NATO und in der EU zu stärken. Wir halten eine Spezialisierung der deutschen Verteidigungskapazitäten für sinnvoll. Gerade die von der Regierung gewählten Bereiche Lufttransport, Führungskapazität und Aufklärung sind eine sinnvolle Gewichtung. Die Bundeswehr wurde in den letzten Jahren oft reformiert. Entscheidend ist aber nicht die Anzahl der Reformen, sondern ob die Struktur den Bedürfnissen entspricht. Wir Grünen sind gegen die Wehrpflicht und für eine Freiwilligenarmee. ({8}) Auch bei unserem Koalitionspartner mehren sich die Stimmen, die diese Auffassung teilen. ({9}) - SPD-Politiker aus dem Saarland und auch aus anderen Bundesländern. - Deswegen haben wir im Koalitionsvertrag auch vereinbart, die Frage der Wehrpflicht auf Grundlage der Ergebnisse der Weizsäcker-Kommission zu überprüfen. Eine moderne Armee gewinnt ihre Schlagkraft durch gut ausgebildete militärische Spezialisten und technische Stärke, nicht durch zahlenmäßige Überlegenheit. Wir Grünen sehen dabei für Wehrpflichtige keine Aufgabe mehr in einer zukünftigen Bundeswehr, schon gar nicht im bisherigen Umfang. Die neuen Anforderungen zeigen sich zurzeit bei unseren internationalen Einsätzen. Die Bundeswehr leistet einen wichtigen Auftrag bei der Terrorbekämpfung und beim Nation Building. Das erfordert eine andere Armee und eine andere Ausbildung als die klassische Landesverteidigung. Selbstverständlich sind den Soldaten Grenzen gesetzt. Sie können keine Polizei, keine Justiz und keine Diplomatie ersetzen. Deswegen orientiert sich die rot-grüne Außenpolitik auch an dem Prinzip der Gewaltvermeidung und dem Krisenmanagement mit zivilen Mitteln. ({10}) Wir sind auf einem guten Weg und wir stellen uns den beschriebenen Herausforderungen. Unser Verteidigungsminister und wir unterstützen die Bundeswehr auch in Zukunft. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihre Arbeit professionell, deeskalierend, konstruktiv und mit hohem Verantwortungsbewusstsein. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: professionell, deeskalierend, konstruktiv und mit hohem Verantwortungsbewusstsein - daran können Sie sich nach der heutigen Debatte ruhig ein Beispiel nehmen! Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Bonde, ich darf Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren, insbesondere auch zu der Treffergenauigkeit, was die Einhaltung der Redezeit betrifft. ({0}) Nun hat das Wort der Kollege Jürgen Koppelin, FDPFraktion.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorgelegte Verteidigungsetat ist - ich kann es nicht anders beschreiben - ein einziges Armutszeugnis, ({0}) weil die Bundeswehr - davon ist schon gesprochen worden -, die unsere Anerkennung für ihren schweren Einsatz und Dienst verdient, nicht das bekommt, was sie für ihre Aufgaben braucht. Die Bundeswehr leidet unter der rot-grünen Bundesregierung. Diese Bundesregierung will auf der einen Seite außenpolitisch in der ersten Reihe sitzen, ist aber nicht bereit, der Bundeswehr die Mittel zu geben, die ihr zur Verfügung gestellt werden müssten. ({1}) Herr Bundesverteidigungsminister, so einsam, wie Sie jetzt auf der Regierungsbank sitzen, so einsam sitzen Sie anscheinend auch im Kabinett; das ist jedenfalls mein Eindruck. Die Bundeswehr und ihre Angehörigen leiden darunter, dass die rot-grüne Bundesregierung das politische Verhältnis zum größten NATO-Partner, den USA, in einer Weise belastet hat, wie es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorgekommen ist. ({2}) Noch vor vier Jahren schrieb die Koalition in ihre Koalitionsvereinbarung wörtlich: Die USA sind der wichtigste außereuropäische Partner Deutschlands. Die enge und freundschaftliche Beziehung zu den USA beruht auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Interessen. Das ist richtig und so in Ordnung. Nur, dann frage ich mich: Warum handeln Sie nicht danach? Mein Fraktionsvorsitzender Wolfgang Gerhardt hat in der heutigen Debatte schon einmal die Ministerin Wieczorek-Zeul zitiert. Ich will noch etwas hinzufügen: Was, glauben Sie, halten deutsche Soldaten, die mit Amerikanern zusammen im Ausland sind, davon, dass Frau Wieczorek-Zeul in einem Fernsehinterview erklärt, die USA-Regierung öffne die Büchse der Pandora. - Falls Sie nicht wissen, was es mit der Büchse der Pandora auf sich hat, will ich es Ihnen erklären. Pandora ist eine Frau in der griechischen Mythologie, die alles Unheil dieser Welt in einem Gefäß trägt, um es auf Anweisung von Zeus aufzumachen. Ich sehe, dass nun gar kein Minister mehr auf der Regierungsbank sitzt. ({3}) - Sie sind als Abgeordneter da, Kollege Struck. Ich kann nur sagen: Wer solche Äußerungen gegenüber unseren amerikanischen Partnern macht, muss aus dem Kabinett rausgeschmissen werden. ({4}) Das ist ein Niveau, das nicht dazu beiträgt, das deutschamerikanische Verhältnis zu verbessern. Das ist ein Niveau, das vielleicht gerade noch für den Vorsitzenden eines Ortsvereins irgendwo in Hessen-Süd reicht. ({5}) In der neuen Koalitionsvereinbarung heißt es nun, dass sich die Bundeswehr im Wandel zu einer Armee im Einsatz befinde. - Das habe ich mit großem Interesse gelesen, weil dem auch die Grünen zugestimmt haben. Es heißt weiter - das ist natürlich auch richtig -: „Dafür sind moderne, gut ausgerüstete und schnell verfügbare Einsatzkräfte erforderlich.“ Ich frage mich, warum Sie das nicht im Haushalt umsetzen, wenn Sie es in die Koalitionsvereinbarung hineinschreiben. Warum machen Sie das nicht? Das haben Sie uns, Herr Minister, bisher noch nicht vorgetragen. Der Bundeswehr fehlt es an allen Ecken und Enden. Die Liegenschaften sind in einem katastrophalen Zustand und die Besoldung unserer Soldaten, vor allem in den unteren Dienstgraden, ist kaum noch zu verantworten. In vielen Bereichen ist das Material älter als die Wehrpflichtigen. Wohin man in der Bundeswehr auch schaut, überall herrscht Planwirtschaft über Planwirtschaft. Das Heer soll nun weniger Kampfhubschrauber bekommen. Die Luftwaffe soll bei der Beschaffung des Transporthelikopters NH 90 strecken und bei der Marine sollen starke Abstriche gemacht werden usw. Herr Minister, der Haushalt, den Sie uns heute vorlegen, ist zum ersten Mal Ihr Haushalt. Wir als FDP können weder in der Koalitionsvereinbarung noch im Etat die Handschrift des Verteidigungsministers Struck erkennen. Wir erkennen einzig und allein die Handschrift des Bundesfinanzministers Eichel. Sie, Herr Bundesverteidigungsminister, sind nicht Gestalter, sondern im Auftrag von Herrn Eichel Konkursverwalter des Etats. Das Motto dieser Regierung lautet: mehr Einsätze der Bundeswehr für weniger Geld. Der Kollege Austermann hat das Transportflugzeug A400M bereits angesprochen. Ihr Vorgänger, Herr Minister Struck, hat in der Debatte über das Transportflugzeug A400M am 24. Januar dieses Jahres für die Koalitionsfraktionen erklärt, die Beschaffung von 73 Transportflugzeugen bewege sich eher an der unteren Grenze des Erforderlichen. Da Sie jetzt reduzieren, frage ich Sie: War die Aussage von damals falsch oder richtig? Ist Ihre Aussage richtig? Sie, Herr Bundesverteidigungsminister, erklären uns jetzt, wahrscheinlich werden nur 60 Transportflugzeuge beschafft, Sie müssen reduzieren. Herr Minister, ich will Sie nur der Ordnung halber darauf aufmerksam machen, dass die Koalition - es waren nicht die Oppositionsparteien, die waren schon rausgegangen - einen Antrag über die Beschaffung von 73 Transportflugzeugen eingebracht hat. Diesen Antrag - das ist die Drucksache 14/8024 vom 22. Januar 2002 - hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Koalition beschlossen. Heben Sie diesen Beschluss erst einmal auf! Übrigens ist eines ganz interessant: Der Antrag trägt die Unterschrift des Fraktionsvorsitzenden Dr. Peter Struck. ({6}) Vielleicht lernt er noch dazu. Dass er noch etwas dazulernen muss, ist nichts Schlimmes. Einen Lernerfolg hat er ja schon gehabt. Inzwischen kann er einen Spürpanzer Fuchs von einem Transportpanzer Fuchs unterscheiden. Nur, Herr Minister - deswegen spreche ich das an; ansonsten finde ich es sympathisch, dass Sie sich vor Ihre Leute stellen -, wir wüssten gern, wie Sie und die Bundesregierung zu den israelischen Anforderungen nach Ausstattung mit einem Transportpanzer Fuchs stehen. Ich weiß natürlich, dass das eine geheime Entscheidung des Bundessicherheitsrates ist. Wenn aber der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, der von mir sehr geschätzte Kollege Robbe, sagt, das müsse man machen, und die Grünen einstimmig im Chor sagen, das kommt überhaupt nicht in Frage, dann haben wir eine öffentliche Diskussion. Dann können Sie das nicht mehr in einem geheimen Zirkel lassen. Dann müssen Sie uns einmal sagen, wie die Bundesregierung dazu steht, wenn der eine hü und der andere hott sagt. ({7}) Herr Bundesverteidigungsminister, Sie persönlich haben vor der Bundestagswahl wörtlich versprochen: Auftrag und Mittel der Bundeswehr werden in Einklang gebracht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte denken Sie an die Redezeit, Herr Kollege.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Wir von der FDP fordern Sie auf, dass Sie das unverzüglich in die Tat umsetzen. Wir wollen - das muss das politische Ziel sein - eine Bundeswehr, die gut ausgerüstet, gut ausgebildet und motiviert ist. In diesem Sinne werden wir den Einzelplan 14 beraten. Vielen Dank für Ihre Geduld. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Arnold, SPD-Fraktion.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Koppelin, gestatten Sie mir zu Beginn ein Wort zu dem von Ihnen immer wieder neu aufgerollten Thema „Fuchs für Israel“. ({0}) - Lassen Sie mich erst einmal einen Gedanken zu Ende führen, bevor Sie dazwischengehen! - Wenn Sie es wirklich gut meinen mit dem Sicherheitsbedürfnis unserer israelischen Freunde, dann kritisieren Sie den Minister einmal für ein Versäumnis, das es gegeben hat - das ist okay -, aber hören Sie auf, die Frage von Rüstungskooperation mit dem Staat Israel tage-, möglicherweise wochenlang immer weiter in die Öffentlichkeit zu ziehen, am Köcheln zu halten. ({1}) Dies wird die Möglichkeiten, die das zuständige Gremium hat - nur dies ist zuständig und es tagt geheim -, auch bei anderen Fragen nicht erweitern, sondern eher erschweren. Nehmen Sie einfach einmal zur Kenntnis, dass in den letzten Jahren unter rot-grüner Verantwortung mit den mehr als 70 Anfragen der israelischen Freunde sehr verantwortungsbewusst umgegangen wurde. Sie kennen die Zahlen im Rüstungsexportbericht. Lassen Sie uns bei dieser Frage wenigstens zum notwendigen Fingerspitzengefühl zurückkehren. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting zu?

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gern.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Arnold, wie stehen Sie denn zu den Äußerungen der Grünen, die eine Lieferung der „Füchse“ nach Israel grundsätzlich abgelehnt haben?

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gab viele Äußerungen, nicht nur vom grünen Koalitionspartner, sondern aus den unterschiedlichsten Lagern mit den unterschiedlichsten Forderungen. ({0}) - Ich sage Ihnen, was ich generell zu diesen Äußerungen zu sagen habe. - Sie alle sind - von wem auch immer sie stammen, auch von den grünen Freunden und möglicherweise auch von unserer Bank; ich sage das ausdrücklich nicht unbedingt hilfreich. Ich nehme das Ziel, den Menschen in Israel in großer Not beizustehen, immer sehr ernst. Deswegen möchte ich es einfach dabei bewenden lassen. Tun Sie es bitte auch! Dann kommen wir da wieder voran. ({1}) Nun aber zu unserem heutigen Thema. Ich denke, der vorgelegte Verteidigungsetat ist ein grundsolider - ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich entnehme den bilateralen spontanen Vereinbarungen, dass die Zwischenfrage offenkundig zugelassen wird. Damit, Herr Kollege Schäuble, haben Sie das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Arnold, da Sie damit argumentieren, dass es sich bei diesen Fragen generell um Entscheidungen handelt, die von einem geheim tagenden Gremium, dem Bundessicherheitsrat, getroffen werden, möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie diese Interpretation auch auf die Äußerung des Bundeskanzlers beziehen, der ja sowohl in der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden als auch in der anschließenden Pressekonferenz öffentlich gesagt hat, er beabsichtige, dem Ersuchen Israels, was diese Fuchspanzer anbetrifft, zu entsprechen. Zwar hat er damals eine andere Version der Fuchspanzer zugrunde gelegt. Aber bei der prinzipiellen Frage, ob das nun geheimhaltungsbedürftig ist und nicht öffentlich diskutiert werden kann, kann ja der Irrtum des Bundeskanzlers keine ausschlaggebende Rolle haben.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beide wissen, dass diese Anfrage des israelischen Heeres nicht unbedingt auf dem üblichen, korrekten diplomatischen Weg auf den richtigen Schreibtischen gelandet ist. Das ist nicht nur unsere Verantwortung, sondern möglicherweise auch die Verantwortung derer, die Fragen an die falsche Adresse schicken. Das ist die eine Seite. ({0}) Die andere Seite ist: Der Bundeskanzler hätte es in der Situation, in der er Ihnen zugesagt hat, Sie insgesamt über vorliegende Anfragen zu informieren, aus Ihrer Sicht immer nur falsch machen können. Hat er Sie und die Öffentlichkeit informiert - das hat er getan -, kritisieren Sie es jetzt. Hätte er nicht darüber informiert, würden Sie heute sagen: Der Bundeskanzler hat uns wieder einmal nur halb informiert. Er konnte also tun, was er wollte, bei Ihrer Absicht, dies parteipolitisch zu instrumentalisieren, finden Sie immer einen Ansatz, Kritik zu üben. ({1}) Ich bleibe dabei: Lassen Sie das bitte bei diesem Thema! Um alles andere lassen Sie uns miteinander hart ringen und streiten. ({2}) - seien Sie mir nicht böse, aber ich möchte etwas Rücksicht auf die Kollegen nehmen, die nach uns noch reden möchten, und würde jetzt gern zu meinem eigentlichen Thema, zum Bundeshaushalt, kommen. Ich nehme das Thema nämlich ernst. Ich möchte das Thema „Lieferungen an Israel“ nicht unnötigerweise weitere vier Wochen in der öffentlichen Debatte halten und höre deshalb mit dem heutigen Tag damit auf. ({3}) Der vorgelegte Verteidigungsetat ist ein grundsolider Entwurf. Er zeigt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen nachhaltig angelegter Haushaltskonsolidierung und gestaltender Politik auch im Einzelplan 14. Die Bundeswehr bekommt das, was sie braucht. Die Menschen, die bei der Bundeswehr arbeiten, können sich darauf verlassen: Sie haben einen sicheren, einen attraktiven Arbeitsplatz. Es ist nicht in Ordnung, wenn der Kollege Austermann heute wieder versucht, ihnen einzureden, sie hätten mit großen Risiken, Gefährdungen usw. zu rechnen. Nein, die Menschen können sich auf die Zusage der Arbeitsplatzsicherheit verlassen. Das ist etwas ganz Wichtiges. ({4}) Wir setzen mit dem Einzelplan 14 unseren finanzpolitischen Weg konsequent fort. Das Gesamtziel bleibt die Sanierung unserer Staatsfinanzen. Ich will gar nicht jammern über die Erblast, über das, was Sie uns hinterlassen haben. Wir stehen dazu: Wir wollten Verantwortung in diesem Land tragen; wir haben sie übertragen bekommen. Deshalb sind es heute unsere Probleme und unsere Schulden. Aber eines lassen wir trotzdem nicht zu: dass Sie auf beiden Oppositionsbänken, die Sie uns die Kassen leer geräumt und den Investitionsstau im Verteidigungsetat verursacht haben, sich heute hier hinstellen und „Haltet den Dieb!“ rufen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen; das ist alles andere als seriös. ({5}) Der Verteidigungsetat wird seinen Beitrag zur Konsolidierung leisten müssen. Denn wir wissen, ein Staat wird nur handlungsfähig bleiben, wenn wir jetzt die notwendigen Freiräume für Investitionen in der Zukunft schaffen. Eines muss uns doch auch klar sein: Wir würden der Bundeswehr keinen Gefallen tun, wenn wir jetzt diese Spielräume völlig vervespern würden. Die Zuläufe an teurem, aufwändigem Gerät wird es Ende des Jahrzehnts geben. Das, was wir jetzt notwendigerweise an nicht immer einfachen Operationen vornehmen, hat das Ziel, diese notwendigen Beschaffungen in den nächsten zehn bis 15 Jahren überhaupt erst zu ermöglichen. Das steckt hinter den strikten Sparkonzepten. Unter Berücksichtigung des Antiterrorpakets beträgt der Verteidigungsetat unverändert, also nicht gekürzt, 24,4 Milliarden Euro. Durch die Verstetigung bis zum Jahr 2006 ist es möglich, die Bundeswehr an die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen anzupassen und gleichzeitig - das ist das Schwierige an diesem Prozess die Streitkräfte zu modernisieren und zu reformieren. Wir sind uns schon bewusst, dass der Plafond durchaus knapp bemessen ist. Deshalb ist es ganz wichtig, dass zusätzliche Flexibilisierungsinstrumente eingebaut wurden, die es ermöglichen, auf unvorhergesehene Risiken und Ereignisse angemessen zu reagieren und gleichzeitig die Bundeswehr mit dem auszustatten, was sie braucht. So wurde zum Beispiel für die internationalen Einsätze mit insgesamt 1,3 Milliarden Euro Vorsorge getroffen. Mit diesem Betrag ist es doch möglich - und das ist es schon in den letzten Jahren gewesen -, das Schutzkonzept, das uns sehr am Herzen liegt, für die Soldaten, zum Beispiel im Bereich des Minenschutzes, zu verbessern. Die Soldaten haben modernes Gerät erhalten. Der „Dingo“ steht als Beispiel für ein mobiles, gut geschütztes Fahrzeug. Sie haben doch auf diesem Gebiet jahrelang gar nichts auf die Reihe bekommen. Mit diesen 1,3 Milliarden Euro ist es möglich, die erschwerten Einsatzbedingungen unserer Einsatzkräfte in Afghanistan zu mildern und sie zu schützen, indem wir ihnen bessere, feste Unterkünfte bauen. Ich denke, unsere Soldatinnen und Soldaten wissen dies in Wirklichkeit auch. Sie sind in allen Einsatzgebieten gut ausgerüstet. Daran wird sich nichts ändern, auch wenn Sie - wie übrigens auch in anderen Politikfeldern - die materielle Ausstattung der Bundeswehr ständig schlecht reden. Ich frage Sie: Nehmen Sie eigentlich nicht wahr, dass die Soldaten selbst sagen, sie seien gut ausgestattet, ({6}) dass aber vor allen Dingen unsere internationalen Partner allergrößten Respekt vor den Leistungen der deutschen Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen haben? ({7}) Wie passt denn dies zusammen? Wenn das Gerät und die Motivation so schlecht wären, wie Sie dauernd behaupten, könnten sie doch nicht diese gute Leistung erbringen. Dies passt alles nicht zusammen. Die Soldaten sind davon überzeugt, dass ihre Aufgabe wichtig und sinnhaft ist. ({8}) Sie wissen auch, dass sie sich auf die Bereitstellung der notwendigen Ausstattung und die gute Ausbildung verlassen können. Ich bin der Meinung, es ist ein wichtiges Steuerungsinstrument, dass die Einsparungen, die in Zukunft auch bei diesen internationalen Einsätzen ein Stück weit möglich sein werden, dem Einzelplan 14 an anderer Stelle zugute kommen. Eines ist doch klar: Die anfänglich hohen Kosten für den Transport nach Afghanistan werden geringer. In Mazedonien - wir haben den Antrag vorliegen und werden ihn beschließen - wird das Personal reduziert. Auch dort werden Mittel frei. Die Marineeinheiten am Horn von Afrika werden reduziert. Dies alles führt unter dem Strich natürlich zu einer nachhaltigen finanziellen Entlastung anderer Etatposten im Einzelplan 14. Die Personalausgaben sind auf 12,4 Milliarden Euro plafondiert. Dadurch sind aber weiterhin alle zugesagten und bereits eingeleiteten Maßnahmen möglich. Diese waren überfällig. Die Ungleichgewichte bei der Personalund Besoldungsstruktur sind bereits weitgehend abgebaut. Die gestartete Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive macht den Dienst wirklich attraktiver. Es ist auch ein Märchen - das Sie die ganze Zeit erzählen -, dass wir keinen Nachwuchs mehr finden. Das stimmt nicht. Die Bewerber- und Nachwuchslage ist gut, weil die Menschen sehen, dass die Bundeswehr ihnen eine solide Chance gibt und es vor allen Dingen hervorragende berufliche Ausbildungslehrgänge gibt. ({9}) Wir haben den Beförderungsstau - Herr Austermann, Sie haben viele Jahre nur darüber geredet - drastisch abgebaut. Wir haben die Besoldung gerade für die unteren Besoldungsgruppen endlich angehoben. In den letzten Monaten ist vieles bewegt worden. ({10}) Diese Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität kosten viel Geld. Deshalb ist es kein Wunder, wenn der Anteil des Personaletats am Gesamtetat weiterhin bei 51 Prozent liegt. Aber Ihre Krokodilstränen sind wirklich nicht glaubwürdig. Sie sind noch nicht einmal in der Lage, sich von Ihrem alten Konzept, dass wir angeblich eine Bundeswehr mit 300 000 Mann - die CSU will noch mehr - bräuchten, zu lösen. Ihr Modell ist sicherheitspolitisch falsch und überhaupt nicht finanzierbar. Würden wir Ihrer Politik in diesem Bereich folgen und ein solches Modell verwirklichen, würde den Soldaten die materielle Grundlage, aber auch die Chance auf eine bessere Ausrüstung genommen. ({11}) Es bleibt ein Grundproblem: Die Investitionsmittel müssten steigen. Sie sind noch zu gering. Aber auch hier haben wir etwas erreicht. Im Vorjahr befand sich der Anteil der investiven Mittel im Verteidigungsetat mit 24,5 Prozent auf dem höchsten Stand seit 1991. In diesem Jahr wird er zur Verbesserung der materiellen Ausstattung noch um 900 Millionen Euro auf insgesamt 6,1 Milliarden Euro erhöht. Damit steigt der prozentuale Anteil auf über 25 Prozent. Wir bewegen uns wenigstens auf das 30-Prozent-Ziel zu. Sie haben sich viele Jahre davon wegbewegt. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. ({12}) Außerdem - der Minister hat es heute schon angekündigt und wir als Parlamentarier sind begleitend dabei - werden die Bundeswehrplanung und die Finanzplanung wieder in Einklang gebracht. Deshalb ist es richtig, heute alte Rüstungsvorhaben, die zum Teil Sie vor 15 Jahren aufs Gleis gesetzt haben - aufgrund anderer sicherheitspolitischer Notwendigkeiten; das akzeptieren wir durchaus - zu korrigieren und anzupassen. Die Stückzahlen müssen logischerweise auf das operativ notwendige Mindestmaß reduziert werden, auch wenn dies für die Rüstungswirtschaft manchmal schmerzhaft ist. Eines ist klar: Wir können es uns doch nicht mehr leisten, Überbestände jahrelang in teuren Depots unterzustellen, zu warten und die Kosten dafür zu tragen. Das ist auch nicht mehr notwendig. Heute wurde schon gesagt: Wir sehen viele gute Chancen bei einer besseren Kooperation der europäischen Rüstungsindustrie. Herr Austermann, Sie reden hier die GEBB so schlecht. Es war nie das ausschließliche Ziel der GEBB, einfach Geld zu sparen. ({13}) - Lassen Sie mich doch einmal ausreden. ({14}) - Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. Ich muss auch nicht alles loben; da haben Sie durchaus Recht. Wenn es darum geht, eine öffentliche Verwaltung mit 135000 Zivilbeschäftigten zu modernisieren - das ist ein schwieriger Prozess -, kann man nicht einfach top-down sagen: Dort geht es lang. Vielmehr - das sehe ich schon so - muss man tastend vorgehen. Eines sollten Sie also zur Kenntnis nehmen: Die GEBB ist nicht nur dazu da gewesen, Geld zu sparen. Die GEBB soll diesen Modernisierungsprozess anstoßen. ({15}) Es ist doch auch gelungen. Ich nenne zum Beispiel das Flottenmanagement, das in seiner Einführungsphase ist. Es geht darum, in den nächsten Jahren die alten Fahrzeuge, die wir von Ihnen geerbt haben, vom Hof zu kriegen und durch neue, moderne Fahrzeuge zu ersetzen. ({16}) Es ist ein Bekleidungsmanagement gelungen. ({17}) Ob Sie es sich vorstellen können oder nicht: Über das ganz schwierige zentrale Thema „Verbesserung der Kommunikationstechnik bei der Bundeswehr“ ({18}) gibt es - Sie wissen das genau ({19}) sehr tief greifende Verhandlungen mit großen und guten industriellen Partnern. Dieses Projekt gelingt umso schneller, Herr Austermann - das ist die Erfahrung, die wir in den letzten Monaten gemacht haben -, je weniger Sie in Ihrer Funktion im Haushaltsausschuss aus parteitaktischen Gründen immer wieder Sand in solche Projekte streuen. ({20}) Sie haben das übrigens auch beim Transportflugzeug A400M getan. ({21}) Das Hickhack, das dabei entstanden ist, hat doch nicht nur etwas mit der Schwierigkeit der Entscheidung zu tun, sondern auch damit, dass Sie in diesem Bereich ein Jahr lang Nebelkerzen gezündet haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Arnold, Sie müssen zum Schluss kommen.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Die jetzige Situation straft Sie Lügen. ({0}) „Herkules“ wird kommen. „Meteor“ wird in den nächsten Monaten kommen. ({1}) Der A400M ist organisatorisch und finanzierungsmäßig auf einem grundsoliden Gleis. ({2}) - Sie werden das sehen. Wenn ich zum Schluss jenseits dieser kleinkarierten Debatten, die wir manchmal führen und die wir auch im Augenblick wieder mit Ihnen führen - solche Debatten sind nicht hilfreich - einen Strich unter die Umgestaltung der Bundeswehr ziehe, bleibt das eine entscheidend: Die Modernisierung der Streitkräfte wird nur dann gelingen, wenn wir die Soldaten und Zivilbeschäftigten mitnehmen, wenn ihre Motivation bestehen bleibt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Arnold, Sie müssen zum Schluss kommen.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin mir sicher, dass es die Union nicht schaffen wird, das großartige Engagement der Soldatinnen und Soldaten zu beschädigen. Wir werden das alles hinkriegen; wenn es sein muss, auch gegen Sie. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Christian Schmidt, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dem Kollegen Bonde möchte ich noch einen formalen Glückwunsch zu seiner Jungfernrede sagen. Zum Inhaltlichen diesen Beitrags - „verhinderte Regierungserklärung der Grünen“ will ich nicht sagen ({0}) will ich mich jetzt nicht weiter äußern. Nur so viel: Allen Respekt vor Ihrer Rede! Sie haben die Linien aufgezeigt. Kollege Arnold, wir sind ja jetzt im Verteidigungsausschuss in der Verantwortung. Verteidigungspolitischer Sprecher Ihrer Fraktion zu sein, Herr Arnold, heißt aber nicht, dass Sie die Vergangenheit verteidigen müssen. Sie müssen nicht die Verteidigungspolitik von Herrn Scharping vertreten. ({1}) Die Zeiten sind vorbei. Ich habe fast den Eindruck: Sie schlagen die Schlachten von gestern. Weil Sie sich so sehr an die GEBB hängen, rate ich Ihnen: Fragen Sie einmal vertrauensvoll Herrn Struck danach, was er von der GEBB und von den Ergebnissen der GEBB hält. Vielleicht können wir uns ja dann später ein paar Minuten Diskussion sparen. Es hat doch auch keinen Sinn, hier einen Investitionsanteil von 24,5 Prozent zu nennen, wenn der Verteidigungsminister ein paar Minuten vorher gesagt hat: Ich stelle eine große Sparliste auf. - Zwischen „schön reden“ und „schönreden“ - ich weiß nicht, wie das jetzt nach der neuen Rechtschreibung geschrieben wird - ist dem Sinne nach sicherlich immer noch ein Unterschied. Man kann zwar schön reden, soll aber nicht schönreden. Darum bitte ich doch recht herzlich. ({2}) Sie haben gesagt, dass die Soldaten eine gute Leistung erbringen. Da treffen wir uns. Da sind wir uns einig. Kompliment an unsere Soldaten für das, was sie vor allem im Einsatz, aber auch in der Heimat unter erheblichen Belastungen leisten! ({3}) Mir fallen aber sofort Diskussionen zum Beispiel über den Aufenthalt mit einer Dauer von sechs Monaten, über Stehzeiten und die Flexibilisierung ein. Dabei geht es immer auch um Kosten, über die geredet werden muss. Aber die Aussage, das Gerät könne so schlecht nicht sein, da unsere Soldaten gute Leistungen erbringen, erinnert mich ein klein wenig an den Satz von Christian Morgenstern: „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Trotz teilweise mangelhaften Geräts oder mangelhafter Ausstattung werden gute Leistungen erbracht. Wenn Wirtschaftsgebäude aus hygienischen Gründen geschlossen werden müssen, weil sie den Bestimmungen nicht mehr entsprechen, dann können sie vorher nicht den besten Glanz und die beste Sauberkeit aufgewiesen haben. ({4}) Auf das Thema der Nachwuchskräfte, das Sie, Herr Verteidigungsminister, bereits angesprochen haben, wird sicherlich der Kollege Kossendey später noch eingehen. Ich will hierzu nur positiv anmerken, dass wir Ihre Aussage zur Wehrpflicht mittragen und unterstützen. Jeder weiß, dass es notwendig ist, qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen. Jenseits der Fragen, die die Landesverteidigung betreffen, müssen wir deswegen eine breit angelegte Werbung für die Bundeswehr machen - Wehrpflicht ist Werbung für die Bundeswehr -, um qualifiziertes Personal zu bekommen. ({5}) Ich will auf die von Ihnen so beschwörend vorgetragenen Formeln hinsichtlich der Fuchs-Spürpanzer, der Transportpanzer und anderer Panzer eingehen. Ich habe heute bereits bei anderer Gelegenheit gesagt: Ich bin durchaus bereit - das sage ich auch für meine Fraktion -, bei anständiger Information in aller Ernsthaftigkeit und in vollem Verantwortungsbewusstsein die Verpflichtungen und Möglichkeiten gegenüber Israel mitzutragen. Die Informationen, die einen bestimmten Status hatten, waren - das wurde bereits angesprochen - überraschenderweise öffentlich. Das hat dazu geführt, dass sich der Verteidigungsminister wegen einer Panne entschuldigen musste. Man habe nicht gewusst, dass das Fax auf dem falschen Schreibtisch gelandet ist; außerdem sei die falsche Form gewählt worden. Ich stelle mir vor, dass auf einem Fax der Adressat und zum Beispiel folgender Satz stehen: „Sehr geehrter Herr X, Bezug nehmend auf unser Gespräch von vor einigen Wochen möchte ich noch einmal festhalten, dass ...“ Ich habe das Fax nicht gelesen, kann mir aber vorstellen, dass es so ausgesehen hat. Wenn es so war - das ist rein hypothetisch gedacht und man den Gedanken weiterspinnt, dann kommt man Christian Schmidt ({6}) von der Annahme einer lokalen Panne ab und es stellt sich eine wesentlich problematischere Frage: Was will man damit erreichen, wenn man dies in einer solchen Situation öffentlich macht? Man kommt zu den vermeintlichen Spürpanzern bzw. Transportpanzern und auf die PatriotRaketen, bei denen die Regierung durchaus einen Erfolg erzielt hat. Ein Journalist hat mich gefragt, ob auch die Amerikaner Patriot-Raketen angefordert hätten oder nur die Israelis. Ich konnte Aufklärung verschaffen. Auch der Verteidigungsminister hat seine ursprünglich rabulistischfalsche Aussage in dieser Frage korrigiert. ({7}) - Sie haben das korrigiert. ({8}) Es entsteht also der Eindruck, dass etwas ganz anderes dahinter steckt, wenn eine zwei Jahre alte Anfrage der Israelis nach einer zusätzlichen Ausrüstung mit Patriot-Systemen - sie haben selbst zwischenzeitlich ein Luftverteidigungssystem in Form des Arrow-Systems entwickelt -, von denen wir wissen, dass sie in der Ausführung, in der sie in Deutschland vorhanden sind, nur beschränkt zur Raketenverteidigung fähig sind, hervorgeholt wird. Mit der schnellen Bekanntgabe des Themas der Fuchs-Spürpanzer in der Öffentlichkeit und der bekannten Panne - oder was auch immer dahinter steckt - wollte man doch etwas ganz anderes erreichen: Man wollte den Eindruck einer sicherheitspolitischen Geschäftigkeit erwecken. Man wollte damit vertuschen, dass man die amerikanischen Anfragen nicht zu beantworten gedenkt. ({9}) Das ist der wahre Hintergrund, wieso sich der Herr Bundeskanzler mit einer ungeahnten Auskunftsfreudigkeit geäußert hat. Das will ich unterstreichen. ({10}) Heute wurde schon eine ganze Reihe von Zitaten und Stellungnahmen vorgetragen. Ich will mich dem gerne anschließen und komme danach noch auf die Türkei zu sprechen. ({11}) - Ich empfehle Ihnen zuzuhören. - Im Frühjahr dieses Jahres gab es eine Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden. Unser damaliger Fraktionsvorsitzender und der der FDP haben sich damals öffentlich darüber geärgert, dass sie sehr wenig Informationen bekommen haben. Dann wurde - von wem auch immer - ein Protokoll dieser Veranstaltung in der „FAZ“ abgedruckt. Es gab Vermutungen, diese Informationen kämen aus dem Kanzleramt. Ich zitiere - mit Genehmigung des Präsidenten - aus der „Welt“ vom 20. März dieses Jahres: Wie die „FAZ“ ferner berichtete, sagte Schröder seinen Gesprächspartnern, er sei entschlossen, die deutschen Spürpanzer vom Typ Fuchs auch dann in Kuwait zu lassen, wenn die Amerikaner „unilateral“ - das heißt ohne Mandat der Vereinten Nationen gegen den Irak vorgingen. - Auf Nachfragen beim Kanzleramt wurde diese Wiedergabe als korrekt dargestellt. In dem Protokoll laute die Äußerung Schröders: „Niemand könne die Konsequenzen für das deutschamerikanische Verhältnis der nächsten 30 bis 50 Jahre verantworten, falls die Spürpanzer abgezogen würden und es dann tatsächlich zum Einsatz von ABCWaffen käme.“ ({12}) - Ich zitiere den Bundeskanzler. Vor der Wahl gab es eine Schriftstellersoiree. ({13}) - Hören Sie einmal zu. - Er erklärte vor Schriftstellern, es gebe keine deutsche Beteiligung an einem Irak-Feldzug der USA. Nur die in Kuwait stationierten ABC-Spürpanzer würden mitmachen. Ich zitiere aus der „Welt am Sonntag“: Die Zuhörer - von Haus aus weder Logiker noch Logistiker - nickten den Kanzler-Roman ab. ({14}) - Das hat sehr wohl mit dem Thema zu tun. Es geht darum, wie man die Bundeswehr sieht. Ist sie Werkzeug der Vertuschung verfehlter Außenpolitik oder ist sie ein verantwortungsbewusstes und dem Parlament gegenüber offen eingesetztes Instrument, das dort zum Tragen kommt, wo man es politisch für notwendig und geboten hält? ({15}) Ich will Ihnen dazu sagen, dass wir über diese Frage deutlich reden werden. Wenn der Herr Bundeskanzler nicht den Mumm aufbringt, diese Dinge vor dem GrünenParteitag zu sagen, sondern sich hinter der vermeintlich rettenden Anfrage seitens Israels nach Fuchs-Spürpanzern zu verstecken versucht, dann zeigt das nur, wie weit wir bei der Parlamentsbeteiligung im Rahmen der Entscheidung über Einsätze gekommen sind. ({16}) Wenn der Bundeskanzler dieser Ansicht ist, dann soll er, mit einem entsprechenden Mandat vorbereitet, dies dem Parlament darlegen. Er soll es nicht so machen, wie es Herr Ströbele bereits ausgeplaudert hat. Der Rettungsanker wäre dann: Wenn Not am Mann ist, dann bleiben wir doch vor Ort, obwohl wir dafür kein Mandat haben. Die Grünen werden dann in eine Situation kommen, in der sie von ihrer eigenen Bundesregierung nicht einmal gefragt werden, ob sie bereit sind, das zu akzeptieren. Das ist der Skandal, den ich bereits jetzt ankündige. Ich warne die Bundesregierung dringend davor, so vorzugehen. ({17}) Das Parlamentsrecht muss gewährleistet sein. Darüber hinaus muss das Parlament in solchen Fällen wie bei ISAF - darüber werden wir in zwei Wochen zu diskutieren haben - ausführlich über die Umstände des Mandats informiert werden. Ich sage ganz deutlich: Wir sind nicht die Feldherren, wir sind der Aufsichtsrat. Die Details haben uns nicht in dem Sinne zu interessieren, dass wir über sie beschließen. Wir haben sie anzuhören und Erwartungen auszudrücken. Wenn die Sache einigermaßen in Ordnung ist, dann kann man sie akzeptieren. Herr Verteidigungsminister, die Entsendung von 2 500 Soldaten nach Afghanistan wird - das ist ein Stück Holz - hohe Kosten und großen Aufwand verursachen sowie ein hohes Maß an Sicherheit voraussetzen. Wir haben von verschiedener Seite gehört, dass im Verteidigungshaushalt kaum noch Bewegung möglich ist. Sie haben dargelegt, wie Sie das finanzieren. Sie haben von 51 Milliarden DM gesprochen. Sie meinten sicherlich: Euro, also 100 Milliarden DM. ({18}) - Wir sind uns also einig, dass es 100 Millionen DM sind. Bei diesen Zahlen stellt sich die Frage, ob das bei dem Umfang dieses Mandats ausreichen wird. Es wird nur dann ausreichen, wenn Sie jemanden finden, der nach sechs Monaten die Führung übernimmt. Ich wünsche es uns ebenso wie Ihnen und der Bundeswehr. Allerdings wird allein der Wunsch das Problem nicht lösen. Ich bitte Sie, viel Energie auf die Klärung dieser Frage zu verwenden. Sie können sicher sein, dass die Opposition Sie dabei konstruktiv unterstützen wird. Die Frage der Exit-Strategie - der Kollege Müller hat es in der außenpolitischen Debatte bereits angesprochen steht zur Diskussion. Eine weitere Frage ist, welche Auswirkungen die sich in Afghanistan offensichtlich verstärkende Reorganisation von Taliban und al-Qaida-Kämpfern mit sich bringt. Erst kürzlich ist es im Zusammenhang mit amerikanischen Soldaten zu Zwischenfällen gekommen, die uns zu denken geben. Dies ist aber nicht der richtige Zeitpunkt, um vertieft darüber zu sprechen. Sie haben uns gegenüber eine Liste von Veränderungen bei Rüstungsprojekten angedeutet. Wenn ich Sie richtig verstehe, war das nicht die Liste, über die insgesamt zu diskutieren ist, und es wird die Presse nicht anders informiert werden. Ich wiederhole an dieser Stelle, dass wir Informationen angemahnt haben. Wir haben die gewünschten Informationen jetzt andeutungsweise hier im Plenum bekommen. Wir werden es aber nicht akzeptieren, dass die Öffentlichkeit durch die Medien informiert wird und wir das dann aus der Zeitung erfahren. In diesem Fall dürfen Sie keinerlei Unterstützung von uns erwarten. ({19}) Hinsichtlich der verteidigungspolitischen Richtlinien müssen wir über Inhalte diskutieren. Dass Sie verteidigungspolitische Richtlinien vorlegen, ist notwendig und richtig. Fast möchte ich sagen: Sie haben eine Chance, den von Herrn Scharping begangenen Fehler wenigstens im Verfahren zu korrigieren. Ich unterstütze nicht alle Ergebnisse der Weizsäcker-Kommission. Aber diese Kommission hat im analytischen Teil ihres Berichts eine Chance für eine breite sicherheitspolitische Debatte in der Gesellschaft unseres Landes über die Frage, welche Reformmaßnahmen notwendig sind, geboten. Auch wenn der Verteidigungsminister hin und wieder relativ allein dasteht, muss er versuchen, gerade in der Frage der inneren und äußeren Sicherheit eine breite Zustimmung zu finden. Ich spreche ausdrücklich von der inneren und äußeren Sicherheit, weil diese eigentlich getrennten Bereiche durch den Terrorismus und die asymmetrische Kriegsführung der Taliban, der al-Qaida und der anderen potenziellen Beteiligten verschwimmen und wir mit einem Strukturkonzept für Sicherheit und Verteidigung reagieren müssen. Das beinhaltet mehr Implikationen als die wenigen Einblicke in die verteidigungspolitischen Richtlinien erkennen lassen, die Sie uns bisher gewährt haben. Ich schlage vor: Legen Sie die Richtlinien auf den Tisch! Lassen Sie eine Diskussion darüber zu und wenden Sie sich dann der Frage zu, wie Sie das strukturell und materiell umsetzen wollen! Machen Sie es nicht umgekehrt, sonst zäumen Sie das Pferd vom Schwanz her auf! ({20}) Bei dieser VPR-Diskussion werden Sie einen zwar kritischen, aber konstruktiven Dialog mit uns erwarten können. Uns liegt an der Sicherheit unseres Landes. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade in der Sicherheitspolitik sind nüchterne Lagebilder ohne Verharmlosung und Verdrängung auf der einen Seite und ohne Dramatisierung auf der anderen Seite von zentraler Bedeutung. Die bürgerliche Opposition bekommt das Kunststück hin, beide Extreme gleichzeitig darzustellen. Einerseits verdrängen Sie im Hinblick auf einen etwaigen und hoffentlich noch zu verhindernden Irak-Krieg die möglichen Folgen und diffamieren geradezu die Diskussion darüber. Andererseits, wenn es um den Zustand der Bundeswehr geht, malen Sie schwarz - schwärzer geht es nicht mehr - und behaupten schriftlich und mündlich in der Öffentlichkeit, die Bundeswehr habe ihre Einsatz- und Bündnisfähigkeit verloren. Das behaupten Sie wider besseres Wissen. ({0}) Bei Friedenseinsätzen auf dem Balkan und in Kabul sowie bei der Unterstützung der Terrorismusbekämpfung zeigt sich eine Einsatz- und Bündnisfähigkeit der Bundeswehr, die allseits anerkannt wird. Vergleichen Sie die Bundeswehr im Einsatz mit anderen Partnerarmeen und überprüfen Sie, wie verlässlich diese einen Beitrag zur Bewältigung der verschiedenen Herausforderungen leisten, dann stellen Sie fest, dass sich die Bundesrepublik in keiner Weise verstecken muss. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass Sie zur gleichen Zeit, in der Sie über die Christian Schmidt ({1}) fehlende Einsatzbereitschaft der Bundeswehr klagen, zum Beispiel in Gestalt des Bremer Innensenators Böse fordern, dass die Bundeswehr auch im Innern, zum Beispiel beim Objektschutz, eingesetzt werden soll. Darüber, wie das alles zusammenpassen soll, müssen Sie selbst nachdenken. Unbestreitbar ist aber, dass die Bundeswehr die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht hat und dass deshalb schon seit geraumer Zeit eine grundlegende Bundeswehrreform notwendig ist, die sie in die Lage versetzt, neue Aufgaben zu bewältigen. Mit einer solch grundlegenden Bundeswehrreform hat Rot-Grün im Jahr 2000 begonnen. Wir setzen sie nicht nur fort, sondern versuchen, sie weiterzuentwickeln. Die Eckdaten des Entwurfs des Einzelplans 14 belegen den Reformwillen der Koalition. Der Gesamtansatz wird verstetigt und bleibt damit verlässlich. Des Weiteren steigt die Investitionsquote - das ist für die Modernisierung der Bundeswehr von elementarer Bedeutung - von 22,2 Prozent auf 24,7 Prozent. Wir begrüßen ausdrücklich, dass es die politische und militärische Leitung der Bundeswehr schafft, mit begrenzten Mitteln mehr Output zu erzielen. ({2}) Vor sechs Wochen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrer Koalitionsvereinbarung versprochen: Die Aufgabenstruktur, die Ausrüstung und die Mittel für die Bundeswehr werden wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. Dieses Verhältnis war in den gesamten 90erJahren aus nachvollziehbaren Gründen aus dem Lot geraten. Wir haben des Weiteren versprochen, unter Einhaltung der mittelfristigen Finanzplanung die Bundeswehr effizient zu modernisieren sowie die Beschaffungsplanung, die materielle Ausstattung und den Personalumfang der Bundeswehr fortlaufend den künftigen Herausforderungen anzupassen. Der erste Schritt zur Anpassung der Beschaffungsplanung steht nun unmittelbar bevor. Mit ihm nehmen wir von einer Planung Abschied, die teilweise mehr an Wünschen als an der Realität orientiert war. Wir kommen also jetzt bei der Beschaffungsplanung auf den Boden der Tatsachen zurück. Um dies durchzusetzen und durchzuhalten, bedarf es wohl erheblicher politischer Kraftanstrengungen. Ich möchte schon zum jetzigen Zeitpunkt der politischen und militärischen Spitze der Bundeswehr ausdrücklich gratulieren; denn nach aller Erfahrung muss man sich hier gegen einige Einzelinteressen durchsetzen. ({3}) Des Weiteren sind Aufgabenstruktur und Personalumfang anzupassen. Dabei werden Vorschläge der Weizsäcker-Kommission die Richtschnur bilden. Diese Kommission hatte bekanntlich einen militärischen Personalumfang von 240 000 Soldaten empfohlen. Bei der Senkung des Personalumfangs wird es nicht nur um militärische Zweckmäßigkeit, sondern auch darum gehen, die Zahl der Eingriffe in die Lebensplanung und die Grundrechte junger Männer so weit wie möglich zu verringern. Wenn wir im Laufe der Legislaturperiode die Wehrverfassung überprüfen, dann steht selbstverständlich auch die Wehrform zur Diskussion. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Koalition in der laufenden Legislaturperiode kann ich sagen, dass wir diese Diskussion sehr sachbezogen und ohne Beachtung früherer Dogmen führen werden. ({4}) Herr Minister Struck, Sie haben zu Recht die Erarbeitung neuer verteidigungspolitischer Richtlinien angekündigt. Wir brauchen eine differenzierte und nüchterne Analyse der Risiken, der Bedrohungen und der Chancen. Wir brauchen in Zeiten entgrenzter und unsichtbarer Bedrohungen, des transnationalen Terrorismus, privatisierter Gewalt und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen eine Verständigung über die Bedeutung der Selbstverteidigung. Wir brauchen eine Verständigung über die Gewichtung von Verteidigung, Krisenbewältigung und Terrorismusbekämpfung. Darauf müssen wir im Rahmen unserer Grundwerte, wie sie im Völkerrecht fixiert sind, und im Rahmen unseres Verständnisses von umfassender gemeinsamer und vorbeugender Sicherheit sorgfältigere und genauere Antworten finden. Hier wirkt es für mich allerdings sehr irritierend, dass Kollege Schäuble zwar die richtigen Fragen stellt - einiges von ihm habe ich ja zitiert -, dass er aber bei diesen richtigen Fragen den Werte- und Normenrahmen der Antworten beschweigt. Damit setzen Sie sich einem Verdacht aus, den ich so äußern muss ({5}) und der hoffentlich von Ihnen widerlegt wird, nämlich einer Art offensiver Selbstverteidigung das Wort zu reden, die mit dem internationalen Gewaltverbot nicht mehr vereinbar wäre. ({6}) Wir befinden uns in einem tief greifenden sicherheitspolitischen Umbruch. Diesen werden wir politisch nur bewältigen, wenn wir darüber nicht nur hier und in sicherheitspolitischen Zirkeln, sondern auch in der Gesellschaft möglichst breit diskutieren. Die Chance einer solchen breiten gesellschaftlichen Debatte und Verständigung bestand vor zwei Jahren im Kontext der Weizsäcker-Kommission, aber sie wurde damals leider nicht genutzt. Jetzt besteht erneut die Chance. Wir müssen sie deshalb nutzen, weil eine solche breite gesellschaftliche Debatte für den neuen sicherheitspolitischen Konsens, den wir brauchen, unverzichtbar ist. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Helga Daub, FDPFraktion.

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Dass es die rot-grüne Regierung mit der Umsetzung ihrer Versprechen nicht so genau nimmt, wird uns Tag für Tag eindrucksvoll bewiesen. Das lässt auch die Belange der Bundeswehr nicht außen vor. Mein Kollege Jürgen Koppelin ({0}) hat bereits die Diskrepanz zwischen den Anforderungen der Bundeswehr und ihrer Ausstattung geschildert. Das ist eine Diskrepanz, die weit über die Diskussion betreffend die Anschaffung neuen Geräts für die Truppe hinausgeht. Natürlich kennen wir die schwierige finanzielle Lage in unserem Land. Aber wir schulden es unseren Soldaten - Bürgern in Uniform -, dass sie gerade in dieser unbefriedigenden Situation auf klare Strukturen und auf das Wort des Verteidigungsministers bauen können. ({1}) Das muss - mit Verlaub - im Moment bezweifelt werden. ({2}) Einige Minuten reichen bei weitem nicht aus, um die Missstände aufzuzählen, die es zu beheben gilt. Ich möchte daher nur einige Beispiele nennen. Unsere Soldaten leisten hervorragende Arbeit in Auslandseinsätzen. Sie gehen physisch und psychisch bis an ihre Grenzen. ({3}) Das wird gewürdigt, aber nicht honoriert. Wie erklärt es sich zum Beispiel die Bundesregierung, dass die in Kuwait stationierten deutschen Soldaten nur den zweitniedrigsten Auslandsverwendungszuschlag erhalten? Sie sind im Camp Doha stationiert, demselben Stützpunkt wie unter anderem die Amerikaner. Es sind aber Letztere, die für die Festlegung der Sicherheitsstufe zuständig sind. Für Camp Doha wurde vor vier Wochen die höchste Sicherheitsstufe festgelegt. Das bedeutet: Das Risiko für die dort stationierten Soldaten wird so hoch eingeschätzt, dass zum Beispiel eine Ausgangssperre verhängt wird oder dass das Camp nur in Begleitung von Militärpolizei verlassen werden darf. Bei der deutschen Regierung herrscht offensichtlich eine völlig andere Einschätzung der Gefahren vor. Denn sonst würden die Soldaten für die Risiken, die sie eingehen müssen, angemessener entschädigt. ({4}) Es geht aber in dieser Debatte nicht nur um Geld. Was die Soldaten zu Recht vermissen, ist Planungssicherheit. Die Belastung bei Auslandseinsätzen ist sehr hoch und dazu gehört auch der sechsmonatige Einsatz in immer kürzeren Abständen. ({5}) Das ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu verstehen. Familie findet bei den Soldaten nicht mehr statt. Die Zahl der Ehescheidungen wird immer höher. Sie kennen das sicherlich auch aus den Berichten der Presse. Die FDP fordert deshalb 160 000 für Auslandseinsätze verwendbare Soldaten, das heißt natürlich, auch für Auslandseinsätze ausgebildete Soldaten. So würden die Bundeswehrsoldaten nur etwa alle vier Jahre zu einem viermonatigen Einsatz herangezogen werden müssen. Nun wissen die Soldaten natürlich, dass sie in der Bundeswehr und im Auslandseinsatz sind und nicht in der Heilsarmee. Dafür wurden sie ausgebildet. Ausbildung ist auch ein Thema, über das man sich demnächst noch wird unterhalten müssen. Die Soldaten brauchen Sicherheit - ich habe das schon angesprochen -, und zwar Planungssicherheit. Diese dürfen sie von ihrer Regierung und ihrem Minister erwarten. ({6}) Andernfalls muss sich die Regierung demnächst mit dem Frust der Truppe auseinander setzen. Niedrige Bezahlung und willkürliche Versetzungspolitik tragen zu diesem Frust bei. Ein Beispiel: Die Sozialversicherungsbeiträge und Fürsorgemaßnahmen für Soldaten sollen im Jahr 2003 um fast 70 Millionen Euro gekürzt werden. Ihre Regierung ist doch angetreten, um angebliche Gerechtigkeitslücken zu schließen; Sie reißen neue auf. ({7}) Anspruch und Wirklichkeit klaffen dabei sehr weit auseinander. Das haben Menschen, die für uns alle ihr Leben riskieren, nicht verdient. ({8}) Sie betonen zu Recht, dass wir eine Fürsorgepflicht gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten und deren Familien haben. Mit den Familienbetreuungszentren wird die Betreuung der zurückbleibenden Familien während des Auslandseinsatzes wahrgenommen. Ihre Absicht, diese Zentren mit hauptamtlichem Personal auszustatten, ist lobenswert und richtig. Leider ist die Absicht bislang nicht verwirklicht worden. Der Wehrbeauftragte bemängelt zu Recht, dass zunächst für die Dauer von zwei Jahren in einigen Zentren ein Probelauf durchgeführt werden soll und anschließend aufgrund der Erfahrungswerte nach dem Motto: „Na, schauen wir mal!“ entschieden werden soll, wie es weitergeht. Das sollte angesichts der schwierigen Situation der Familien etwas konkreter sein.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Werte Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Wir haben keine Zeit mehr für Probeläufe. Die Soldaten sind jetzt im Einsatz und fast jede Woche beschließen wir hier die Verlängerung eines Mandats. Die Familien brauchen professionelle, vertrauensvolle und kontinuierliche Betreuung. Sie brauchen auch die konstruktive Zusammenarbeit von Regierung und Opposition. Die FDP ist dazu bereit, Herr Minister. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kollegin Daub, ich darf auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede herzlich gratulieren. ({0}) Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Hans-Peter Bartels, SPD-Fraktion.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der Opposition, es ist immer wieder ein kostbares Gefühl, in älteren Protokollen zu blättern und zu sehen, wie sich Ihre Argumentation seit damals verändert hat. Da lesen wir im Stenografischen Bericht über die Haushaltsberatungen 1997 in der Rede von Herrn Kollegen Austermann: Die notwendige Modernisierung der Bundeswehr muss wegen der veränderten Finanzsituation gestreckt werden. ({0}) Kollege Rühe sagte: Das, was eingespart werden muss, muss bei den Beschaffungen eingespart werden. Einige Sachen müssen gestrichen werden und andere Sachen müssen gestreckt werden. So war das mit den Sachen 1997. Streichen, Strecken und Deckeln, das war Ihre Politik nach 1990. Ohne Strukturkonzept! Bundeswehrpolitik nach Kassenlage! Damit haben wir Schluss gemacht. ({1}) Noch einmal ein Zitat von Volker Rühe, diesmal zur Rechtfertigung des Haushalts 1998: Welche Größenordnung eine Armee auch immer hat, sie wird immer knapp bei Kasse sein, und - das wird Sie vielleicht wundern - in einem gewissen Umfang ist es auch notwendig. Ich kenne keine Armee auf der ganzen Welt, die finanziell üppig versorgt wäre. Wo er Recht hat, hat er Recht. Üppig war es nicht, üppig ist es nicht und üppig wird es auch in Zukunft nicht sein. Diese Realität sollten auch Sie heute anerkennen. Wenn Sie für die Bundeswehr mehr verlangen, dann sollten Sie sagen, wo Sie das heute bei veränderter Kassenlage - sie verändert sich immer; das war so in Ihrer Zeit und ist zu unserer natürlich auch so hernehmen wollen. Sagen Sie, wie Sie Mehrausgaben für die Bundeswehr finanzieren wollen! Es nur zu fordern ist einfach und billig. ({2}) - Für Kiel immer. Wir haben für die Jahre 2003 bis 2006, also für die nächsten Jahre, eine verlässliche, stabile Haushaltslinie: 24,4 Milliarden Euro. Stabil viermal dieselbe Summe! Damit steigt der Anteil des Verteidigungsetats am Gesamthaushalt wieder; denn die Gesamtausgaben des Bundes werden sinken. Sie müssen sinken, weil wir die Einkommensteuersätze und die Nettoneuverschuldung weiter senken. Gegenüber 2002 gehen die Gesamtausgaben des Bundes 2003 um 1,5 Prozent zurück. Wenn man den Nachtragshaushalt berücksichtigt, den wir in dieser Woche beschließen, dann wird der Rückgang von 2002 auf 2003 sogar bei 1,8 Prozent liegen. Der Bundeswehretat bleibt dagegen stabil. Die Bundeswehr bleibt ganz solide finanziert, wenn wir jetzt die Strukturreform und insbesondere die Beschaffungen langfristig nachjustieren. Die Bundeswehr braucht an ihrer finanziellen Basis Verlässlichkeit und Planbarkeit. Genau das garantiert die Politik, die wir jetzt machen. ({3}) Uns allen miteinander muss klar sein, dass die Bundeswehr keine Universalarmee werden kann. Sie war nie eine Universalarmee, sie ist keine und sie muss es auch in Zukunft nicht sein. Natürlich gibt es hier und da - in der Politik und auch in den Streitkräften - noch das absolute Souveränitätsdenken, wonach deutsches Militär alles selbst können muss. Nach diesem Ideal streben wir nicht. Wir müssen uns nicht entschuldigen, wenn wir es nicht erreichen; denn es ist nicht die regulative Idee unserer Sicherheitspolitik. Wir Deutsche waren, als es vor allem um unsere eigene Sicherheit ging, auf starke Bündnispartner angewiesen, auf Bündnispartner, die über die Mittel verfügten, die Seewege über den Atlantik und den Himmel über Deutschland offen zu halten. Wir konnten, wollten und mussten uns im Kalten Krieg nicht allein auf uns selbst verlassen. Warum sollten wir dann jetzt, da wir vor allem ein Partner für andere sind, den Anspruch erheben, ganz allein handeln zu können? Die Bundeswehr muss nicht alles können. Klar ist aber auch: Sie muss heute anderes können. Sie muss verlegefähiger, durchhaltefähiger und zusammenarbeitsfähiger sein. Deshalb war die Bundeswehrreform 2000 ein Aufbruch zu neuen Ufern. Ich glaube, im Grundsatz bestreitet niemand in diesem Hause, dass die Richtung stimmt. Über die Frage der Mittel, der finanziellen und der militärischen, lohnt es sich immer wieder nachzudenken. Als Konsequenz des Denkens lohnt es sich außerdem, nachzusteuern. Wenn wir eine gewisse Arbeitsteilung in Europa und in der NATO - beide werden in absehbarer Zeit größer sein - wollen, dann müssen wir etwas tun, was Soldaten gewiss ungern tun: erklären, was wirklich unsere Stärken sind, was wir in Bündnisse und Koalitionen besonders einbringen wollen und wo wir uns stärker auf die Fähigkeiten anderer verlassen wollen. Ich glaube, dass es uns dabei gut ansteht, bei der Bewältigung der besonders komplexen, der besonders anspruchsvollen Aufgaben voranzugehen, gemeinsam mit Frankreich, Großbritannien oder Italien. Marinefliegerei, Sanitätsversorgung, Aufklärung oder auch moderne, mobile bodengebundene Luftabwehr werden für andere europäische Bündnispartner noch schwerer bereitzustellen sein als für uns. Deshalb sind das vor allem unsere Aufgaben. Also: Der Mut zur Erweiterung der NATO wird nur dann praktisch, wenn wir uns auch zutrauen, zu differenzieren, das heißt, die Fähigkeiten der einzelnen Partner innerhalb des neuen Ganzen zu spezialisieren. Das hat Grenzen; das ist völlig klar. Es muss Redundanzen geben. Aber dies ist die Richtung: Integration und Differenzierung. Das - nicht die einsame deutsche Universalarmee soll die regulative Idee unserer Sicherheitspolitik auf lange Sicht sein. Einige Worte zu unseren amerikanischen Freunden. Manchmal, wenn man die Verlautbarungen der europäischen wehrtechnischen Industrie zur Kenntnis nimmt oder manche politische Stimme diesseits des Atlantiks hört, könnte man meinen, wir stünden kurz vor dem Beginn eines neuen Wettrüstens mit unserem größten Verbündeten, wir Europäer müssten alles, was die Amerikaner haben, auch haben - um ernst genommen zu werden, heißt es dann. Dieses transatlantische Konkurrenzdenken geht meines Erachtens in die Irre. Wir brauchen gewiss manch neue, andere und zusätzliche Fähigkeit in den europäischen Streitkräften, aber nicht immer mehr von genau dem, was der amerikanischen Politik zur Verfügung steht. Niemand sollte sich teuren Illusionen hingeben: Die wirklich großen Konflikte dieser Welt sind ohne oder gegen die USA nicht lösbar. Sie sind aus unserer Sicht auch kaum in erster Linie militärisch lösbar. Wenn aber doch, dann werden es kaum die Europäer sein, die ohne amerikanische Beteiligung oder gar gegen den Rat der USA selbst militärisch intervenieren. Deshalb gilt im Verhältnis zu den USA: mehr Selbstständigkeit ja, gerechtere Lastenverteilung - Burden Sharing - ja, aber keine Verdopplung oder Verdreifachung von Kapazitäten aus Prinzip, keine ehrpusselige Konkurrenz. Der Historiker Heinrich August Winkler schreibt in einem Zeitschriftenbeitrag über die neue NATO: Amerika militärisch einzuholen und selbst Supermacht zu werden: Niemand käme auf den Gedanken, der EU ein derart unrealistisches Ziel anzusinnen. Aber nötig sei ein Mindestmaß gemeinsamer militärischer Kapazitäten, um in Fragen der eigenen Sicherheit nicht nur auf die USA angewiesen zu sein. Zu diesem Minimum gehören ohne Zweifel das neue europäische Transportflugzeug A400M, der NH90, der Tiger, wenn auch vielleicht - der Panzerbedrohung hier und anderswo entsprechend - in verringerter Stückzahl, der Eurofighter mit der entsprechenden Bewaffnung Meteor und Iris-T, der Schützenpanzer 3, die neuen U-Boote und Korvetten, Seefernaufklärer und Aufklärungssatelliten - immer der Maßgabe des Vorvorgängers Rühe folgend: Es ist nie genug, aber nicht alles ist finanzierbar. Ich bin dankbar dafür, dass dies auch innerhalb der Bundeswehr so gesehen wird. Unsere Soldaten sind Realisten. Vor einigen Wochen habe ich das deutsche Marinekontingent in Dschibuti besucht. Das ist keine schöne Gegend, der Dienst dort ist nicht leicht, aber die Einstellung vieler Soldaten ist erstaunlich. Sie sind auch an diesem Ende der Welt neben ihrem eigentlichen Auftrag, dem Antiterrorkampf, gute Botschafter unseres Landes. Sie helfen bei der medizinischen Versorgung, sammeln Geld für das örtliche Waisenhaus, lassen sich, auch wenn das nicht ganz ungefährlich ist, in der Stadt sehen und arbeiten mit vielen lokalen Institutionen zusammen. Sie sind auch in der Fremde Staatsbürger in Uniform, dank innerer Führung frei zum Kontakt mit der Außenwelt. Ich will damit sagen, dass bei allen Fähigkeiten, die von der Ausrüstung und der Struktur der Bundeswehr abhängen, eine Fähigkeit ganz kostengünstig ist bzw. gar nicht zu bezahlen wäre: Das ist das Selbstbewusstsein unserer Soldaten. Darauf baut alles andere auf. Dafür sollten wir hier gemeinsam sorgen. Schönen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Kossendey, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist der erste Haushalt, den Minister Struck als verantwortlicher Verteidigungsminister dem Parlament vorlegt. Lieber Herr Minister, jetzt beginnt auch für Sie der Weg durch die Höhen und Tiefen, weil es darum geht, in Euro und Cent auszuweisen, was uns die Sicherheit unseres Landes wirklich wert ist. Wir wünschen Ihnen von ganzem Herzen, auch im Interesse unseres Landes, unserer Bündnispartner, aber ebenso der Soldaten und der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr, dass Sie dieser wichtigen Aufgabe wirklich gerecht werden können, vor allem, dass Sie das Hauptproblem der nächsten Jahre in den Griff bekommen: Bewältigen Sie bitte die Erblast aus den letzten vier Jahren, die Ihnen von Ihrem Vorgänger hinterlassen worden ist. ({0}) Werden Sie wieder ein verlässlicher Partner nach innen und außen und machen Sie vor allen Dingen Deutschland wieder zu einem verlässlichen Partner im Bündnis. Nach innen sollen Sie verlässlich werden, weil viele Soldaten und die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den letzten Jahren ihre Motivation verloren haben und weil sie dringend wieder eine Perspektive brauchen, nach außen, weil das Ansehen Deutschlands als Bündnispartner mindestens ebenso dringend einer Verbesserung bedarf. Allerdings wird Ihnen dieser Haushaltsentwurf, den Sie uns heute vorlegen, dabei keine Hilfe sein. Er weist keine Perspektive auf, sondern er ist letztendlich der untaugliche Versuch, mit einem Wust von Zahlen zu verdecken, was die Hauptaussage ist: Es gibt weniger Geld für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, als wirklich notwendig ist. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit lässt dieser Entwurf vermissen. Als wir vor noch gar nicht so langer Zeit die Finanzierung einiger Großprogramme angezweifelt haben, wurden wir von Ihnen und Ihrem Vorgänger als Schwarzmaler angeprangert. Heute ist Streichen, Schieben und Strecken zur Leitlinie Ihres Haushaltsgebarens geworden. Der Kollege Bartels hat auf die Vergangenheit verwiesen und Minister Rühe zitiert. Lieber Herr Bartels, Sie sind angetreten mit der Perspektive: Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen. ({1}) Wie sehr haben Sie sich davon verabschiedet, wenn jetzt der Rückgriff auf Rühe als Maßstab für Ihre Leistungen herhalten muss. ({2}) Lassen Sich mich eines deutlich sagen. Als Rühe das von Ihnen Zitierte 1997 gesagt hat, hatten wir 48 Milliarden DM im Verteidigungshaushalt und zusätzlich das Geld, das wir für internationale Einsätze brauchten. Sie bezeichnen schon viermal 24,4 Milliarden Euro als Fortschritt. Viermal 24,4 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren heißt: weniger Geld. Sie müssen die Inflation berücksichtigen, Sie müssen die jährlichen Gehaltssteigerungen der Soldaten und der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon abziehen. Wir werden in den nächsten vier Jahren mit weniger Geld auskommen müssen, als eigentlich notwendig ist. Herr Minister, Sie haben sich in diesen Tagen - es ist hier erwähnt worden - noblerweise für einen Faxfehler beim Kanzler entschuldigt. Wann wollen Sie sich eigentlich für die Täuschungsversuche in Haushaltsfragen Ihrer Regierung, Ihrer Koalition gegenüber den Soldaten und dem Parlament einmal entschuldigen? Ich glaube, dafür wäre es an der Zeit. ({3}) Was waren das für optimistische Sätze, die Sie noch am 27. August, vor gerade drei Monaten, in Hamburg bei der Führungsakademie gepredigt haben? Sie haben für das Transportflugzeug eine Stückzahl von 73 Flugzeugen noch einmal ausdrücklich bestätigt und versichert, im Haushaltsentwurf 2003 sei die Finanzierung dafür geklärt. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie beim Haushaltsentwurf 2003 Anpassungsbedarf nach oben nicht ausschließen wollten. Sie haben wörtlich gesagt: Ich habe hervorragende Beziehungen zu den Haushältern der Koalitionsfraktionen. Da können auch noch kleine Verbesserungen für den Verteidigungsminister herausspringen. Was ist daraus geworden? Wo sind Ihre guten Beziehungen zu den Haushältern? Funktionieren diese alten Seilschaften überhaupt noch? Der Kollege Wagner ist aufgestiegen, der Kollege Kröning ist umgestiegen, der Kollege Metzger ist ausgestiegen. Nichts von dem, was Sie damals erwartet haben, hat sich wirklich in die Tat umsetzen lassen. ({4}) Ganz nebenbei, lieber Herr Kollege Nachtwei: Was ist das eigentlich für eine Bundesregierung, die für die Umsetzung ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Haushaltsausschuss auf persönliche Beziehungen des Ministers zu den Abgeordneten angewiesen ist? Wo ist denn eigentlich in diesem Zusammenhang der Bundeskanzler? Er ist es doch in erster Linie, der auf den internationalen Tagungen auf europäischer Ebene deutsche Beiträge zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik verspricht und der seinem Finanzminister eben nicht in den Arm fällt, wenn dieser ihm wieder das Geld aus der Kasse nimmt. Was ist aus der Defense Capabilities Initiative geworden? Was ist aus den European Headline Goals geworden? Alles mit deutscher Unterschrift, die Umsetzung lässt auf sich warten. Das Ergebnis ist: Sie passen den Umfang und die Ausrüstung nicht der Auftragslage an, sondern Sie formen eine Bundeswehr nach den Vorgaben des Finanzministers. Deswegen werden wir den Haushalt in dieser Form ablehnen. ({5}) Auch die für morgen angekündigte Streichorgie wird Ihnen nicht helfen, die Probleme in den Griff zu bekommen. Damit mögen Sie vielleicht die nicht ganz informierten Kollegen Ihrer Koalition vorübergehend mit etwas Sand in den Augen beruhigen können, vielleicht werden Sie sogar bei einigen Altpazifisten Freudentränen erzeugen, eine seriöse Planung für die mittlere Zukunft ist das auf jeden Fall nicht. Vor allen Dingen: Wo bleibt eigentlich das Parlament? Vor zwei Wochen haben wir hier noch die Parlamentsarmee Bundeswehr beschworen und heute sind wir froh, wenn wir übermorgen aus der Zeitung erfahren dürfen, was Sie mit der Ausrüstung dieser Parlamentsarmee vorhaben. Wenn wir wirklich erst übermorgen in der Zeitung lesen, was Sie uns heute im Parlament, heute Morgen im Ausschuss und morgen früh in der Obleuterunde eben nicht sagen wollen, dann wird das Konsequenzen haben. Das werden wir als Parlamentarier nicht hinnehmen. ({6}) Es mag sein, dass Sie im Jahre 2003 noch die Restposten aus der so genannten 25-Millionen-Liste von 2001 abarbeiten können. Ab 2004 sieht es aber rabenschwarz aus. Neubeginner werden nicht mehr möglich sein, weil die Spielräume dafür längst ausgenutzt und mit beschlossenen Vorhaben belegt sind. Auch die Streichliste, die Sie morgen vorlegen werden, wird Ihnen nicht helfen, da sie, was die nächsten Jahre angeht, im Wesentlichen aus Luftbuchungen besteht. Wenn Sie zum Beispiel die Stückzahl der A400M reduzieren wollen, wird das frühestens im Jahre 2008 haushaltswirksam, weil vorher sowieso kein Geld dafür eingeplant ist. Wenn Sie die Stückzahl des Systems Meteor reduzieren wollen, wird das frühestens ab 2010 haushaltswirksam, weil für die Beschaffung vorher kein Geld im Haushalt vorgesehen ist. Natürlich kann man über die Stückzahlen diskutieren - das biete ich Ihnen ausdrücklich an -; aber man sollte zwei Denkfehler dabei vermeiden, Herr Minister. Ich halte es für wichtig, dass man sich, bevor über Stückzahlen entschieden wird, zunächst auf eine Struktur festlegt. Nur dann macht eine Anpassung der Stückzahlen überhaupt Sinn. Zweitens darf man nicht vergessen, dass eine Reduzierung der Stückzahl sehr viel später haushaltsmäßig wirksam wird und darum bei den aktuellen Problemen nicht helfen kann. Diese Umstände haben Sie - ich möchte sagen: fahrlässig - außer Acht gelassen. Wenn Sie die nächsten vier Jahre mit gesunden Haushalten überleben wollen, bleiben Ihnen eigentlich nur noch andere Entlastungsmöglichkeiten. Wenn man darüber nachdenkt, stellt man fest, dass es nur noch zwei Stellschrauben gibt, an denen Sie drehen können: die sonstigen Investitionen und der Bereich des Betriebs. Bei den sonstigen Investitionen werden Sie kaum Ansatzmöglichkeiten finden. Bei Eingriffen in den Betrieb muss man wissen, dass die Bundeswehr schon heute an der Untergrenze des Möglichen arbeitet. Hier gilt, was Richard von Weizsäcker uns so vortrefflich aufgeschrieben hat: Wer sparen will, muss investieren. - Wer zum Beispiel die maroden Heizungsanlagen in den Kasernen sanieren und auf einen ökologisch sinnvollen Stand bringen will, der muss neue beschaffen. Dafür ist aber kein Geld da. Das alte Material ist mit steigenden Kosten verbunden; man müsste in neues Gerät investieren. Aber auch dafür werden Sie kaum das Geld finden. Ich glaube, dass Sie auch das im Haushalt 2003 gar nicht eingeplant haben. Es gibt eine weitere Stellschraube, an der gedreht werden soll: der Soldat als Kostenfaktor. Man hört, Sie wollen Schnellboote früher außer Dienst stellen und ein Marine-Tornado-Geschwader stilllegen. Neben dem Umstand, dass die dabei eingesparten Mittel erst sehr viel später kassenwirksam werden, sollten Sie bitte auch an die Menschen denken, die Sie mit diesen Vorhaben überziehen: Die Menschen können Sie nicht stilllegen. Für die Motivation der Soldatinnen und Soldaten, aber auch der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist nichts schlimmer, als wenn sie ohne Material und konkreten Auftrag, gewissermaßen arbeitslos im Dienst der Bundeswehr, an der Pier stehen und keine Perspektive haben. ({7}) Für die Nachwuchslage ist es geradezu verheerend, wenn junge Menschen feststellen müssen, dass ihre berufliche Karrierechance nur aus der Perspektive des Finanzministers betrachtet wird. Um Menschen geht es auch bei der letzten möglichen Stellschraube: die Grundwehrdienstleistenden. Ein kluger Mann hat ausgerechnet, dass, wenn Sie 1 000 Wehrpflichtige einsparen, 12 Millionen Euro weniger Kosten im Haushalt haben. Manch ein Planer wird verleitet sein, zu sagen: Dann ziehen wir doch einfach genauso viel weniger Wehrpflichtige ein, wie uns Geld im Investivanteil fehlt. Das ist eine einfache Rechnung, aber ein absolut falscher Ansatz, weil Sie den Bestand der Wehrpflicht damit letztendlich vom Wohlwollen des Finanzministers abhängig machen. Wenn Ihnen am Bestand der Wehrpflicht wirklich so viel liegt, wie Sie es uns heute wieder vorgetragen haben, sollten Sie die Finger von dieser Stellschraube lassen. ({8}) Wie immer man es drehen und wenden mag: Im Einzelplan 14 fehlt es nicht nur an Geld, sondern vor allen Dingen an Perspektive. Es wäre gut, wenn das Weißbuch, das Ihr Vorgänger angekündigt hat, und die verteidigungspolitischen Richtlinien irgendwann einmal zu Papier gebracht würden. Das Papier soll Herr Scharping ja schon gekauft haben; Sie müssten es eigentlich nur noch bedrucken. Wenn Sie die Zeit bis zur endgültigen Verabschiedung des Haushalts im März nächsten Jahres nutzen, uns bis dahin eine Struktur vorlegen und eine Perspektive für die Bundeswehr aufzeigen, dann können wir auch über Umfang und Ausrüstung reden und die dafür erforderlichen Mittel bereitstellen. Nur, bitte gehen Sie den Weg in diese Richtung und nicht andersherum. Wer sich, ausgehend von den immer geringer werdenden Mitteln, eine immer kleinere Bundeswehr zurechtschnippelt, wird den sicherheitspolitischen Interessen unseres Landes nicht gerecht, der hat das Vertrauen der Bündnispartner, der Soldaten, der zivilen Mitarbeiter und vor allem dieses Parlaments nicht verdient. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das Wort hat die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der neuen Koalitionsvereinbarung haben wir mit dem Leitbild der globalen Gerechtigkeit den Gedanken einer umfassenden Verantwortung für nachhaltige weltweite Entwicklung vertieft und bekräftigt. Dem tragen wir in diesem Bundeshaushalt Rechnung. Entwicklungspolitik ist heute weit mehr als die Maßnahmen, die über den Einzelplan 23 finanziert werden, so wichtig dieser Einzelplan 23 ist. Wenn wir in der Entwicklungspolitik mehr Verantwortung für die Gestaltung globaler Strukturen übernehmen, dann müssen wir auch die Auswirkungen der Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer, die im Gesamthaushalt zu Buche schlagen, sowie Initiativen und Beiträge anderer Ressorts einbeziehen. Das ist globale Verantwortung. Bei manchen ist das aber vielleicht noch nicht so deutlich angekommen. ({0}) Das bedeutet - das sage ich gleich zu Beginn dieser Debatte -: Der weltweit festgelegte Maßstab für erfolgte entwicklungspolitische Leistungen ist - so hat es die OECD festgelegt - die Official Development Assistance. Sie ist seit dem Regierungswechsel vor vier Jahren um rund eine halbe Milliarde Euro gestiegen, von 5,02 Milliarden Euro im Jahre 1998 auf 5,57 Milliarden Euro im Jahre 2001. Das bedeutet - trotz Haushaltskonsolidierung - eine Steigerung um 11 Prozent. ({1}) Das ist eine Leistung, die sehr deutlich anerkannt werden muss. In den letzten vier Jahren der konservativen Regierung Kohl sind die Leistungen der ODA um 11 Prozent gesunken und im Übrigen von 1982, zu Beginn der Regierung Kohl, bis 1998 von 0,48 Prozent auf 0,26 Prozent reduziert worden. Das wollte ich zu Beginn noch einmal sagen. Ich möchte aber auch mit Stolz sagen, dass selbst der Einzelplan 23 um 2,3 Prozent gestiegen ist, und das vor dem Hintergrund eines um 1,8 Prozent gesunkenen Haushaltsplanes. Damit setzen wir ein deutliches Signal zugunsten der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist bei diesen Haushaltsberatungen ein ganz wichtiges Signal. ({2}) Vor allen Dingen haben wir unseren zukünftigen Handlungsspielraum durch Ausweitung der Verpflichtungsermächtigungen um 8 Prozent ausgeweitet. Es wird zu unseren Zielen gehören, die Entwicklungspolitik in dieser Legislaturperiode noch wirkungsvoller zu machen, indem wir die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit noch mehr koordinieren und verzahnen, als wir das bisher getan haben, um auch mehr Effizienz zu erreichen. Lassen Sie mich anhand der Leitlinien unserer Entwicklungspolitik, nämlich „Frieden sichern, Armut bekämpfen, Globalisierung gestalten“, wichtige Schwerpunkte im Folgenden nennen. In der kommenden Woche, am 10. Dezember, erhält Jimmy Carter in Oslo den Friedensnobelpreis. Ich möchte ihm an dieser Stelle - ich denke, in Ihrer aller Namen herzlich gratulieren zu diesem Preis, den er wahrlich verdient hat. ({3}) Er hat formuliert: Als Mitmenschen ist es unsere Pflicht, zu handeln und dabei zu helfen, die Konflikte beizulegen, die das Leben der Betroffenen zerstören. Mit Jimmy Carter möchte ich hier betonen, dass es das vorrangige Ziel sein muss - das sage ich aus dieser entwicklungspolitischen Verantwortung -, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern und zivile Konfliktlösungen zu suchen. Krieg darf nie wieder zur Fortsetzung der Politik oder der Ökonomie mit anderen Mitteln werden. ({4}) Das ist eine wichtige entwicklungspolitische Entscheidung. Ich möchte, dass diejenigen, die eine andere Position haben, diese hier auch vertreten. Im Übrigen will ich meine aus entwicklungspolitischen Gründen fundierte Kritik an der so genannten Preemptive-Strike-Strategie anmelden. Diese Strategie ignoriert die Notwendigkeit einer zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen unter Einbindung aller Mächte in verbindlich handelnde multilaterale Institutionen. Beides sind aber unerlässliche Voraussetzungen, die global notwendig sind, um der privatisierten Gewalt entgegenwirken und ihr das Handwerk legen zu können. Das ist doch der tiefere Grund, warum es hier anzusprechen ist. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen in diesem Haushalt unsere Verpflichtung zur Hilfe zum Wiederaufbau in Afghanistan deutlich. Neben all dem, was wir schon in anderen Debatten ausgeführt haben, will ich an dieser Stelle noch einmal sagen: Wir werden 7,1 Millionen Euro zusätzlich für ein Notprogramm zur Verfügung stellen, das dazu beitragen soll, den Menschen in Afghanistan bei der Bewältigung der Belastungen, die der Winter bringen wird, zu helfen. Das gehört zu unserer Verpflichtung, die ich aus Anlass dieser Haushaltsdebatte noch einmal ansprechen wollte. ({6}) Zur Erinnerung: Wir werden über die Friedenseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan und in Mazedonien entscheiden. Das sind essenzielle Beiträge zur Stabilisierung in diesen Regionen. Aber es muss uns auch klar sein: Ohne den entwicklungspolitischen Wiederaufbau, ohne das Handeln der Geber nach dem Konflikt wird eine langfristige Friedenssicherung nicht möglich sein. Deshalb gehören dieser militärische Einsatz und das entwicklungspolitische Stabilisieren untrennbar zusammen. Das ist das Konzept der Bundesregierung. ({7}) Ich möchte den besonderen Schwerpunkt, den wir bei der Armutsbekämpfung in Afrika setzen, deutlich machen. Wir werden 800 Millionen Euro bei der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit für Afrika aufbringen, dabei aber besonders die neue Partnerschaft für Afrika - die NeEPAD, die Initiative der Länder, die sich von Korruption abwenden und einer verantwortlichen Regierung zuwenden wollen - entsprechend unterstützen. Wir beharren darauf, dass diese Länder korruptive Strukturen bekämpfen und beseitigen; denn Korruption heißt, von den Armen stehlen. Wenn wir wollen, dass Armut bekämpft wird, müssen wir auch der Korruption in diesen Ländern entgegenwirken. ({8}) Zu den Initiativen für Afrika gehört der Kampf gegen HIV/Aids.Allein in Subsahara-Afrika leben 30 Millionen infizierte Menschen. Wir finanzieren nicht nur den globalen Anti-Aids-Fonds und das Aidsbekämpfungsprogramm der Weltbank, sondern wir engagieren uns auch in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Weltweit geben wir jährlich rund 300 Millionen Euro für die Aidsbekämpfung aus. Ein Großteil dieser Mittel geht nach Afrika, weil dort die Probleme der Bevölkerung so dramatisch sind. Lassen Sie mich zum Schluss noch ansprechen, dass unser Augenmerk auch der Bekämpfung der aktuellen Hunger- und Ernährungskrise in Afrika gilt. Wir haben für Nothilfemaßnahmen und Nahrungsmittelhilfen in diesem Jahr 10,7 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt. Bislang haben wir für die Region 55 Millionen Euro neben den Ausgaben für die reguläre Entwicklungszusammenarbeit aufgebracht. Unterschiedliche Länder sind davon betroffen. Ich will in Übereinstimmung mit Karl-Heinz Böhm, mit dem ich in diesem Bereich in engem Kontakt stehe, sagen, dass die äthiopische Regierung versucht hat, durch Landreformen Konsequenzen aus den Hungerkatastrophen früherer Jahre zu ziehen. Trotzdem ist Äthiopien von einer dramatischen Dürrekatastrophe betroffen. Die Regierung in Simbabwe hingegen lässt die Menschen verhungern und trägt dazu bei, dass die Katastrophe im Land noch wächst. Da gibt es also Unterschiede. Wir unterstützen die Regierungen, die sich besonders bemühen. Aber wir leisten über das Welternährungsprogramm natürlich auch Hilfe für die hungernde Bevölkerung in Ländern, in denen die Regierung schrecklich ist, wo wir die Menschen aber nicht dafür bestrafen dürfen, dass sie - wie in Simbabwe - eine grauenhafte Regierung haben. Auch das ist für uns eine klare Orientierung. ({9}) Ich habe die heutige Debatte sehr genau verfolgt; wir haben schon über den Terroranschlag in Kenia gesprochen. Wenn wir Armut, Hunger und Ausgrenzung in Afrika bekämpfen - das ist ein langfristiger Prozess -, dann können wir hoffentlich dazu beitragen, zu verhindern, dass der afrikanische Kontinent von terroristischen Gruppen als Basis für ihre widerwärtigen Anschläge benutzt wird. Das langfristige Denken - auch dies betone ich - ist hierbei wichtig. Wir setzen den Konsens der Konferenz von Monterrey um, bei der es um die finanziellen Steigerungen der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit geht. Mit dem Einzelplan 23 und diesem Haushaltsplan insgesamt leisten wir unseren Beitrag, der ein Einstieg in diese Finanzierung ist. Zugleich haben wir aber auch in der mittelfristigen Finanzplanung bis 2006 Vorsorge dafür getroffen, dass wir das Zwischenziel zu 0,7 Prozent, nämlich 0,33 Prozent, erreichen. Wir sind die erste Bundesregierung, die sich auf ein solches Zwischenziel verpflichtet hat. Alle anderen haben zwar das hehre Ziel vertreten, aber ohne ein Datum zu nennen. Wir werden das Ziel erreichen. Das sind wir den Entwicklungsländern und den Menschen, die ihre Hoffnung auf uns setzen, schuldig. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politik für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Schatten von Wirtschaftsflauten und internationalem Terrorismus ist schwieriger, weil internationale Wachstumsspielräume eingeengt und politische Fronten verhärtet sind, aber auch notwendiger denn je. Wir alle wissen, dass wir vor einer neuen Dimension von Globalisierung stehen. Konflikte und Gewalt, Flüchtlingsströme, Hunger, Armut und Umweltkatastrophen finden vor unserer Haustür statt. Auch wir reichen Industrieländer können uns dem nicht entziehen und müssen entschlossen die Ursachen der negativen Erscheinungen dieser Globalisierung bekämpfen. Dazu gehört die Änderung von wirtschaftlichen Strukturen, von politischen Rahmenbedingungen sowohl bei uns als auch in den Ländern des Südens. Wenn Deutschland dazu einen spürbaren Beitrag leisten soll, muss unsere Entwicklungszusammenarbeit drei Voraussetzungen erfüllen: Sie braucht eine überzeugende Konzeption und eine effiziente Umsetzung. Sie braucht ferner politische Glaubwürdigkeit, vor allem was die Mittelausstattung angeht. In allen drei Bereichen gibt es für uns Anlass zu massiver Kritik an der rot-grünen Politik der letzten vier Jahre, ({0}) aber auch an dem, was Sie an Perspektiven zum Beispiel im vorliegenden Haushaltsentwurf präsentiert haben. ({1}) Stichwort: Konzeption. Es ist schade, Frau Ministerin, dass Sie konzeptionell kaum etwas gesagt haben. Die von Ihnen vorgenommene Schwerpunktsetzung hat schwere Mängel. Sie hat große Personalressourcen verschlungen und diplomatisches Porzellan zerschlagen. Auch wenn höfliche Partner es nicht offen auf dem politischen Marktplatz verkünden: Unsere typische Neigung zur Kategorisierung von Qualität der Zusammenarbeit in Schwerpunkt- oder eben nur in Partnerländer ist für unsere Partner schwer verständlich. Die Schwerpunktsetzung hat zu wesentlich weniger Flexibilität geführt, vor allem durch die rigide bürokratische Umsetzung. Eine innere Logik ist auch nicht erkennbar. Sollen die Mittel dorthin gehen, wo sie am dringendsten gebraucht werden oder wo sie den größten Erfolg versprechen? Soll man Good Governance unterstützen oder Bad Governance korrigieren? ({2}) Unverständlich ist für mich auch ein Rückzug aus der für uns strategisch so wichtigen Region Osteuropa. Oder welche Begründung sollte es sonst für eine Kürzung der dafür vorgesehenen Sondermittel in Höhe von 53 Millionen Euro geben? Und schließlich: Eine regionale Schwerpunktsetzung, die die Zahl der Empfängerländer wieder auf über 100 erhöht, ist eben keine Schwerpunktsetzung. Sektoral sind unter rot-grüner Regierung nach wie vor wichtige Themen im Hintertreffen. Der Schlüsselsektor für Entwicklung ist der Bereich Bildung und Ausbildung. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe in Reinkultur. Ausgerechnet dieser Bereich hat die meisten Regierungsverhandlungen in den letzten Jahren nicht überlebt. Von 2001 auf 2002 sind die Ausgaben aus dem Haushalt Ihres Hauses für die bilaterale finanzielle und technische Zusammenarbeit in diesem Bereich um glatte 42 Prozent gefallen. Dies wurde auch erst kürzlich von Welthungerhilfe und terre des hommes in ihrer Bestandsaufnahme heftig kritisiert. Beide Organisationen monierten völlig zu Recht, dass die meisten Entwicklungsziele eben nicht erreicht werden könnten, wenn die Mittel insbesondere für die Grundbildung nicht aufgestockt würden. ({3}) Denn Kinder ohne Bildung werden besonders häufig Opfer von Ausbeutung und Armut. Wir werden uns als Union nicht nur gegen weitere Kürzungen in diesem wichtigen Bereich wehren, sondern für deren künftig bessere finanzielle Ausstattung kämpfen. Ein anderes Markenzeichen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist der Umwelt- und Ressourcenschutz. Obwohl die Probleme ständig zunehmen, rudert ausgerechnet Rot-Grün zurück, von 2000 auf 2002 um immerhin 12 Prozent. Das sind annähernd 50 Millionen Euro. Frau Ministerin, auch das Konzept der HIPC-Initiative, die wir im Grundsatz immer unterstützt haben, hat offensichtliche Schwächen. Nach mehreren Jahren konnten bisher nur sechs Entwicklungsländer konkret entschuldet werden. Auch dies muss man hinterfragen: Kann man bei Uganda zum Beispiel wirklich von guter Regierungsführung reden angesichts der nicht erledigten Entwicklungsaufgaben zu Hause, der tiefen Verwicklung Ugandas in die Kriegseinsätze und der Ausplünderung im Nachbarstaat Kongo? Aber es gibt weitere eigentlich richtige Ansätze, die von Ihnen nur mangelhaft angepackt wurden. So ist zum Beispiel Ihr Krisenpräventionskonzept von seiner Grundidee her richtig - ohne die Bekämpfung von Krisen und Kriegen sind Entwicklungshilfe und Aufbauhilfe sinnlos -; aber Ihre Werkzeuge sind völlig unzureichend. Der von Ihnen so hoch gelobte Zivile Friedensdienst mit 100 engagierten Leuten ist nicht in der Lage, der Konflikte in den Entwicklungsländern Herr zu werden. Viel wichtiger wäre es hier, den regionalen und internationalen Mandaten mehr Biss zu verleihen oder auch eine viel engere Verknüpfung zwischen Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik herzustellen. Das ist genau das, was wir auch auf dem Balkan oder in Afghanistan bisher vermissen. ({4}) Dass sich die Bundesregierung einen zweiten, beim Auswärtigen Amt angesiedelten Friedensdienst leistet, ist eine wirklich unnötige Doppelstruktur und ein Symbol in die falsche Richtung. Für wichtige neue Themenstellungen, zum Beispiel eine effiziente Entwicklungszusammenarbeit mit islamischen Ländern, haben Sie überhaupt kein erkennbares Konzept. Wir begrüßen zwar Ihren Versuch, alle Sondertöpfe und Sonderaufgaben wieder in die eigentlichen Titel einzugliedern, aber wir kritisieren nach wie vor, dass Sie immer noch auf zu viele Überschriften aufspringen, sich und unsere entwicklungspolitischen Institutionen damit verzetteln und damit auch unserer Entwicklungspolitik die Schlagkraft nehmen. Damit bin ich beim zweiten Stichwort: Schlagkraft und effiziente Umsetzung. Natürlich ist es schwierig, mangelhafte Konzepte überhaupt umzusetzen. Aber die entwicklungspolitische Effizienz Ihrer Regierung hat auch mit anderen hausgemachten Schwierigkeiten zu kämpfen: In die notwendige Reform der deutschen Entwicklungsstrukturen ist mit der Zusammenführung von DSE und Carl-Duisberg-Gesellschaft zwar Bewegung gekommen; wir hoffen auf einen positiven Ausgang. Aber wie soll es weitergehen? Wo soll der Weg hinführen? Ist etwa die Halbierung der Zahl der Institutionen schon ein Selbstzweck? Oder muss nicht vielmehr die Frage im Vordergrund stehen, wie sich das BMZ selbst in einem international veränderten Umfeld strukturieren soll? Dazu gehört zum Beispiel auch das Stichwort Außenstruktur, ein seit Jahren wiederholter Kritikpunkt der OECD-Prüfberichte. Wir alle wissen: Deutsche Entwicklungspolitik muss heute stärker als früher vor Ort gestaltet und auch entschieden werden. Aber es gibt bisher kein einziges deutsches Haus in der Entwicklungszusammenarbeit, das vom BMZ geleitet wird und die Vertretungen der Durchführungsorganisationen unter einem Dach zusammenführt. Stattdessen belastet sich das viel zu geringe und überlastete Personal des BMZ mit Detailfragen. ({5}) Wen wundert es, wenn dann dem BMZ bei der äußerst angespannten Personalsituation die Kapazität für die wirklich notwendigen Koordinierungs- und Führungsaufgaben fehlt? Wen wundert es, dass Sie, Frau Ministerin, bei den ungelösten Strukturfragen in Ihrem eigenen Haus das Heil im Multilateralismus suchen und dabei das deutsche Markenzeichen der weltweit anerkannten bilateralen Zusammenarbeit verkümmern lassen? Wir jedenfalls tragen Ihre Tendenz nicht mit, das Entwicklungsbudget immer mehr weg von den bilateralen deutschen hin zu den multilateralen Entwicklungsinstitutionen zu verschieben, ohne dass damit die entsprechende politische Einflussnahme erfolgt. Unsere Devise lautet: Geld für die multilateralen Entwicklungsinstitutionen nur bei entsprechender Qualität und garantierter deutscher Einflussnahme auf Mittelverwendung und Zielsetzung. ({6}) Dies gilt vor allem und insbesondere für die EU. Wir begrüßen es, dass dem europäischen Entwicklungsfonds erst einmal für 35 Millionen Euro der Hahn abgedreht wurde. Dies ist aber natürlich keine Dauerlösung. Wir brauchen gerade auch im Verhältnis zur Europäischen Entwicklungszusammenarbeit, wo fast jede dritte Mark aus Deutschland kommt, effizientes Management, schlüssige Konzeptionen, die unsere Handschrift tragen, und eine übersichtliche und klare Aufgabenabgrenzung vom bilateralen und internationalen Bereich. Hier, Frau Ministerin, haben Sie bisher keine Fortschritte erzielt. Was auf gar keinen Fall passieren darf, ist der Aufbau einer neuen europäischen Durchführungsbürokratie, wenn wir im eigenen Land auch für die Erfüllung europäischer Aufgaben ausgezeichnete Organisationen haben. Auch hier sind Sie gefordert, Frau Ministerin. Besonders stark leidet die Effizienz der rot-grünen Entwicklungspolitik jedoch an der fehlenden Kohärenz der Regierungspolitik, namentlich bei der Unterstützung durch den Außenminister. Kohärenz ist schon immer ein schwieriges Thema gewesen, gegenüber der Landwirtschaft und der Außenwirtschaft. Das Auswärtige Amt verweigert dem BMZ in wichtigen entwicklungspolitischen Vorhaben die Unterstützung, ja sogar das Interesse. Wenn das Entwicklungsministerium zum Beispiel in Fragen von Good Governance oder der Zielabstimmung mit wichtigen anderen Ländern allein dasteht, ist es mit der politischen Effizienz der deutschen Entwicklungspolitik vorbei. Dies sieht man gerade auch in Afrika. Dabei bin ich bei meinem dritten Stichwort, der Glaubwürdigkeit der Entwicklungspolitik. Diese Glaubwürdigkeit leidet, wenn man sich in Aktionismus verzettelt und wenn man ambitiöse Ankündigungen für die Zukunft macht, ohne sie mit konkreten Zahlen im Haushalt zu unterfüttern. Sie leidet auch, wenn man die Unwahrheit sagt. Vor wenigen Tagen wurde aus Ihrem Ministerium, Frau Ministerin, verlautbart - ich zitiere -: Der dramatische Abwärtstrend ... bei den Entwicklungsmitteln ... ist von der SPD-geführten Bundesregierung inzwischen gestoppt und umgekehrt worden. Auch Sie haben eben an dieser Stelle von einer Erhöhung der Mittel gesprochen. Das aber ist reine Täuschung. Man kann dies schnell erkennen, wenn man die Zahlen des BMZ-Haushalts - also Ihre eigenen Zahlen - von 1998 und 2003 miteinander vergleicht: 1998 waren es 4,05 Milliarden Euro, 2003 sind es 3,784 Milliarden Euro. Davon gehen laut Kabinettsbeschluss auch noch 30 Millionen Euro an das Auswärtige Amt. Dies bedeutet ein Minus von 97 Millionen Euro gegenüber dem Haushalt 2002 und von sage und schreibe 300 Millionen Euro gegenüber dem letzten Entwicklungshaushalt unter Unionsverantwortung. ({7}) - Schütteln Sie ruhig den Kopf. - Entsprechend fällt das Fazit von Welthungerhilfe und terre des hommes aus, die von „einem enttäuschenden Stand der deutschen Beiträge zur Entwicklungsfinanzierung“ sprechen. Ich fordere Sie auf, Frau Ministerin, zu Ihren eigenen Zahlen zu stehen und nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Sie können auch ganz ungeniert den Grund für die schlechte Haushaltssituation nennen, nämlich die beispiellos schlechte Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik Ihres Kanzlers und Ihrer Ministerkollegen. Dies zieht natürlich auch den Entwicklungshaushalt in Mitleidenschaft. ({8}) Ich fordere Sie auf, klar und deutlich zu dem Beschluss zu stehen, die ODA-Quote bis zum Jahre 2006 auf 0,33 Prozent zu erhöhen. ({9}) Im bisherigen Haushaltsentwurf kann ich dies jedenfalls auch nicht ansatzweise erkennen. Auch die mittelfristige Finanzplanung deutet keine entscheidende Verbesserung an. Denn bis zum Jahre 2006 soll der BMZ-Etat schrittweise lediglich auf 3,96 Milliarden Euro steigen. Er liegt damit immer noch unter dem Ansatz von 1998. So wird Deutschland das seinen internationalen Partnern gegebene Versprechen nicht einlösen können. Ich möchte ausdrücklich auch davor warnen, bei der ODA-Quote herumzutricksen. Es würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Entwicklungspolitik im Inland beschädigen, sondern es würde auch unsere internationale Glaubwürdigkeit ruinieren, wenn wir das gegenüber der EU, der internationalen Staatengemeinschaft und den Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern gegebene Versprechen brechen oder durch plumpe Tricks umgehen. Es wäre auch ein Betrug an den Tausenden idealistischen freiwilligen und beruflichen Entwicklungsexperten, die den guten Ruf der deutschen Entwicklungspolitik in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Wieczorek-Zeul?

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Deswegen habe ich betont: der Abgeordneten.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jetzt sitze ich einmal auf der linken Seite und schon haben Sie mich nicht gesehen.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Links sehe ich ganz schlecht. Das stimmt. ({0})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich frage Sie, Herr Kollege, ob Ihnen präsent ist, dass während der Regierungszeit der CDU/CSU der Bau der U-Bahn von Schanghai und der U-Bahn von Kanton im Umfang von mehr als 1 Milliarde Euro als Official Development Assistance gerechnet worden ist, und ob Sie das nicht auch als eine Manipulation bezeichnen würden. Solche Dinge kommen unter meiner Amtsführung nicht vor. Deshalb weise ich ausdrücklich zurück, wenn gesagt wird, bei uns würde bei der ODA-Quote getrickst. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich war an den Diskussionen über diese Entscheidungen zum Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, nicht nur in China, aber auch da, beteiligt. Ich kann nach wie vor nichts Schlechtes daran finden, dass man Infrastrukturprojekte in den Ländern, mit denen man das vereinbart hat, ganz wesentlich fördert. ({0}) - Entschuldigung, Sie müssen sich schon bitte genau mit dem Thema befassen. Es waren nur zu einem kleinen Teil Entwicklungshilfemittel; es war keine Vollfinanzierung. Ich bitte Sie wirklich, sich das noch einmal genau anzuschauen. Dann können wir uns noch einmal unterhalten. Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie Verkehrsinfrastrukturprojekte fördern. Die können in Ihrer Amtszeit genauso gut sein, wie sie in unserer Amtszeit waren. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie in der mittelfristigen Finanzplanung keine Mittel für den Aufwuchs vorgesehen haben und dass nicht erkennbar ist, wie Sie mit neuem Geld die ODAQuote erfüllen wollen. Sie haben uns im Ausschuss vorgetragen, wie Sie sich die Erfüllung der ODA-Quote vorstellen: mit Entschuldung, mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr usw. ({1}) Frau Ministerin, wir wollen, dass Sie sich klar und deutlich dazu bekennen, dass wir einen Aufwuchs an frischem Geld bis 2006 brauchen. Die Mittel müssen Sie rechtzeitig in Ihren Haushalt einstellen. Da ist aber überhaupt nichts drin. ({2}) - Wahrscheinlich war die Frage so unlogisch, dass ich sie gar nicht verstehen konnte. Uns geht es in den nächsten Jahren um mehr Flexibilität und größere Wirksamkeit unserer Instrumente, eine bessere Arbeits- und Kompetenzverteilung, national wie international, eine durchgreifende Reform der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit, eine bessere Verzahnung von Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, die Förderung des Konzepts der internationalen Marktwirtschaft und eine gleichwertige Integration wirtschaftlicher und technologischer Kooperationselemente in die EZ. Damit können wir drei Ziele am besten verfolgen: erstens die weltweite Armut und die sozialen Sprengsätze wirksam zu bekämpfen, zweitens die globalen Probleme, zum Beispiel im Umwelt-, Wasser-, aber auch im Gesundheitsbereich, zu lösen und drittens auch die Stellung und das Ansehen unseres Landes in der Welt zu fördern. Uns ist es ein Anliegen, dass sich wenigstens die Entwicklungspolitik positiv von dem ansonsten tief traurigen Bild rot-grüner Regierungspolitik abhebt. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Thilo Hoppe, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf den Einzelplan 23 eingehe, erlauben Sie mir einen Kommentar zu der gesamten Haushaltsdebatte und all ihren Begleiterscheinungen hier im Haus und auch vor dem Haus. Ich habe versucht, mich in die Situation eines Durchschnittsweltbürgers hineinzuversetzen, sagen wir, in die Situation eines Campesinos aus Lateinamerika, einer Blumenpflückerin aus Afrika oder eines Teppichknüpfers aus Indien. Stellen Sie sich vor, ein Gast aus einem dieser Länder säße hier auf der Tribüne, würde sich die Argumente anhören und draußen vielleicht in eine dieser vielen Demonstrationen geraten, die zurzeit stattfinden. Wenn er fragen würde: Worum geht es? Wofür demonstriert ihr? Wogegen wehrt ihr euch?, bekäme er die Antwort: gegen die Reduzierung der Eigenheimzulage oder gegen die Dienstwagenbesteuerung. Ich glaube, unser Gast würde antworten: Eure Sorgen möchte ich haben. ({0}) Ganz gewiss soll darüber konstruktiv gestritten werden, wie der Haushalt am besten konsolidiert werden kann, welche Sparmaßnahmen vertretbar sind und welche nicht. Aber wer mit offenen Augen auf den gesamten Globus schaut und von den Lebensumständen weiß, unter denen die Mehrheit der Weltbevölkerung leben muss, der wird nicht mehr davon sprechen können, dass unserem Land bald der Untergang droht oder dass den Bürgerinnen und Bürgern das letzte Hemd genommen werden soll. Wir jammern auf einem sehr hohen Niveau. Mich stört dabei, dass die Relation und die Realität völlig aus dem Blick geraten. ({1}) Dazu gehört, dass nach wie vor 800 Millionen Menschen dieser Erde nicht wissen, wie sie satt werden sollen. Sie sind vom Hungertod bedroht. Dabei wird auf dieser Erde genug Nahrung produziert, um doppelt so viele Menschen zu ernähren. Die Herausforderung ist enorm: Frieden kann es auf dieser Welt nicht geben, solange die Schere zwischen den extrem Armen und den Wohlhabenden so weit auseinander klafft. Doch Hunger auf der einen und Überfluss auf der anderen Seite stellen nicht nur ein Missverhältnis dar, sondern stehen oft auch in einem ursächlichen Zusammenhang. Es geht also nicht nur darum, von unserem Reichtum abzugeben und zum Teilen bereit zu sein, sondern es geht in erster Linie um Gerechtigkeit. Die aktuelle Krise auf dem Kaffeemarkt belegt - wir wurden erst gestern im AWZ darüber informiert -, dass die Einkünfte der Kaffeebauern in den Anbauländern rapide sinken. ({2}) - Das war bei einem Gespräch der Obleute mit Oxfam im AWZ zur Kaffeekampagne. - Während die Kaffeeproduzenten immer weniger verdienen und von den Erlösen gar nicht mehr leben können, klettern die Gewinne der fünf marktbeherrschenden Kaffeekonzerne immer höher. Auch wir Endverbraucher profitieren von diesem billigen Kaffee. Wir können ihn zu völlig unrealistischen und ungerechten Preisen genießen. Die Menschen, die diesen Kaffee für uns anbauen, können noch nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Nachhaltige Entwicklungspolitik beschränkt sich deshalb nicht auf die klassische Entwicklungshilfe, sondern hat Gerechtigkeit zum Ziel, nämlich die gerechte soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung. Das bedeutet mehr Fairness im Welthandel und im internationalen Finanzsystem. Das bedeutet auch eine Global Gouvernance, die von der Maxime ausgeht, dass jeder Mensch gleich viel wert ist und die Chance haben muss, sich ausreichend ernähren und in Würde leben zu können. Die Bundesregierung hat in den letzten vier Jahren Entwicklungspolitik immer auch als internationale Strukturpolitik verstanden, als Engagement für gerechtere Strukturen in der Weltwirtschaft. Dieser Kurs soll verstärkt fortgesetzt werden. Entwicklungspolitik als Engagement für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung spiegelt sich nicht nur im Einzelplan 23 wider, sondern ist eine Querschnittsaufgabe. Ich erwähne in diesem Zusammenhang die Aktivitäten des Auswärtigen Amtes, und zwar besonders in Afghanistan, die Aktivitäten des Umweltministeriums und ganz besonders das beharrliche Engagement von Renate Künast für ein weltweites Recht auf Nahrung und gegen die für die Entwicklungsländer katastrophalen EUSubventionen für Agrarexporte. Denn es ist ein Skandal, dass zurzeit jede Kuh in Europa noch mit 2 Dollar pro Tag subventioniert wird, während 1,2 Milliarden Menschen dieser Welt mit noch nicht einmal 1 Dollar pro Tag zurechtkommen müssen. ({3}) Eine vernünftige, zukunftsweisende Entwicklungspolitik braucht beide Komponenten: Engagement für Gerechtigkeit und Kooperation mit Ländern des Südens, die zu Eigenanstrengungen und Reformen bereit sind. Entwicklungspolitik, wie sie von Heidemarie WieczorekZeul und Uschi Eid betrieben wird, verfügt über diese beiden Komponenten. Dies wird durch couragiertes Engagement auf den internationalen Konferenzen deutlich und ist auch im Haushaltsentwurf ablesbar. ({4}) Wir alle wissen um die äußerst angespannte Haushaltslage. Ich bin sehr froh, dass die Mittel im Einzelplan 23 gegen den allgemeinen Haushaltstrend trotzdem um 2,3 Prozent erhöht werden. ({5}) Es soll in den kommenden Jahren weitere Steigerungen geben. Die Mittel für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit, die ODA, die von der Kohl-Regierung in den 90er-Jahren kräftig gekürzt wurden, konnten wieder leicht angehoben werden. Der Trend ist umgekehrt. Bis 2006 wird Deutschland als Zwischenschritt zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels mindestens 0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungsaufgaben zur Verfügung stellen. Bei der ersten AwZ-Sitzung habe ich gedacht, dass sich dieser Ausschuss von allen anderen unterscheidet, weil alle an einem Strang ziehen und es überraschend viele Gemeinsamkeiten gibt. Nun war ich erstaunt, dass hier im Plenum eigenartige Rechenbeispiele vorgeführt werden. ({6}) Ganz verschiedene Töpfe werden miteinander vermischt und Äpfel mit Birnen verglichen. Fakt ist, dass die Mittel im Einzelplan 23 um 2,3 Prozent steigen. ({7}) Besonders freue ich mich, dass in diesem Einzelplan 23 die Ansätze für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit deutlich angehoben werden. ({8}) Denn entwickeln müssen sich nicht nur die Länder im Süden. Ändern und entwickeln muss sich auch viel im Bewusstsein und im Konsumverhalten der Menschen hierzulande. ({9}) Gerade die kirchlichen Hilfswerke „Brot für die Welt“ und Misereor und Organisationen wie FIAN, Oxfam, Terre des Hommes und die Transfair-Stiftung machen in diesen Tagen mit Aufklärungskampagnen darauf aufmerksam. Sie werden darin noch stärker als bisher von der Bundesregierung unterstützt. Sosehr ich mich auch darüber freue, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit angehoben werden: Angesichts der großen Herausforderungen - da muss ich Herrn Ruck Recht geben - reichen diese Mittel nicht aus. ({10}) Zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungsaufgaben muss nach zusätzlichen Wegen der Finanzierung gesucht werden. Meine Fraktion setzt sich sowohl für die international koordinierte Einführung von Entgelten für die Nutzung von Luftraum und Weltmeeren als auch für eine Devisenumsatzsteuer ein, die so genannte TobinTax. Hier hat es durch die Spahn-Studie bereits lobenswerte Vorstöße des BMZ gegeben. Ich hoffe für die Zukunft, dass auch der Bundesfinanzminister diese Bemühungen unterstützen wird. ({11}) Wir sind in der Adventszeit, also in einer Zeit, in der Wunschzettel geschrieben werden. Ich habe einen konkreten Wunsch, der an uns alle - an mich und an Sie in diesem Haus gerichtet ist. Alle im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der FDP haben in ihrem Wahlprogramm das 0,7-Prozent-Ziel festgeschrieben. Wir wissen, dass bis 2006 nur ein Zwischenschritt erreicht werden kann. Aber mittel- und langfristig sollte dieses Ziel im Auge behalten werden. Ich habe einen ganz konkreten Vorschlag, eine Bitte, wie jeder von uns dazu beitragen kann, dass wir dieses Ziel schneller erreichen. ({12}) Wenn jetzt der Lohnsteuerjahresausgleich vorbereitet wird, kann jeder von uns, der dieses Ziel politisch verfolgt, diesen Maßstab an sich selbst anlegen und darauf achten, dass neben den Parteiabgaben und Spenden im Wahlkreis 0,7 Prozent seines Jahreseinkommens für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben werden. ({13}) Lassen Sie uns selber mit gutem Beispiel vorangehen! Dann wird es auch leichter sein, in der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass noch größere Anstrengungen nötig sind, um der gerechten Gestaltung der Globalisierung näher zu kommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Hoppe, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede. ({0}) Nun hat Kollege Markus Löning, FDP-Fraktion, das Wort.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicher legitim, wenn sich die Ministerin um eine gute Darstellung ihrer Politik bemüht. Man könnte schon fast von einer rosigen Darstellung sprechen. Frau Ministerin, ich denke, es ist nötig, dass Sie das machen; denn in der Sache ist das nicht berechtigt. ({0}) Ich komme aus der Werbung. ({1}) In der Werbung sagt man: Ein gutes Produkt verkauft sich von selbst. Für ein weniger gutes Produkt braucht man zumindest gute Werbung. ({2}) Ein wenig von dieser Werbung haben wir heute gehört. Das fängt schon bei den Zahlen an, Frau Ministerin. Herr Hoppe, Sie haben auf die Mittelerhöhung im Einzelplan verwiesen. Dennoch haben Sie nicht den Mittelansatz in Höhe von 4 Milliarden Euro erreicht, der im Haushaltsplan für das Jahr 1998 enthalten war; der Kollege Ruck hat bereits darauf verwiesen. Sie müssen auf andere Einzelpläne Rekurs nehmen, um darstellen zu können, dass die Mittel im Einzelplan 23 erhöht worden sind. Das ist nämlich de facto nicht der Fall. Sie sollten meiner Ansicht nach so ehrlich sein, das zuzugeben. ({3}) Woher stammen denn die Mittel, die bereits erwähnten 2,3 Prozent, um die die Ansätze im Einzelplan erhöht worden sind? Dabei handelt es sich doch im Wesentlichen um Mittel aus dem Antiterrorpaket, die bereits im letzten Haushaltsplan aufgeführt waren, nur unter einem anderen Titel. De facto findet also keine Erhöhung der Mittel im Einzelplan 23 statt. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, wie Sie von einer Erhöhung reden können und wie Sie es schaffen wollen, dass 0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungsaufgaben aufgebracht werden. ({4}) Lassen Sie mich etwas zu den Entschuldungsstrategien anmerken. Es ist zu begrüßen, wenn den ärmsten Ländern bei der Entschuldung unter die Arme gegriffen werden soll. Das ist insbesondere dann richtig, wenn es mit vernünftigen Auflagen verbunden wird, sodass die Länder anschließend nicht wieder in eine ähnliche Situation geraten. Es gibt aber zwei Punkte, zu denen ich an dieser Stelle gerne etwas von Ihnen gehört hätte. Zum einen ist allen einschlägigen Untersuchungen zufolge bekannt, dass die in den entschuldeten Ländern frei werdenden Mittel nicht bei den Ärmsten der Armen ankommen. Sie landen eben nicht bei denen, die sie wirklich brauchen und die auf unsere Hilfe angewiesen sind. ({5}) Zum anderen hätte ich gern etwas von Ihnen darüber gehört - der Kollege Ruck hat sich bereits dazu geäußert -, was mit Ländern wie Uganda geschehen soll, die schon ein gutes Stück auf dem Entschuldungspfad zurückgelegt hatten, die aber nach Auskunft des IWF plötzlich wieder die Entschuldungsgrenzen erreichen oder überschreiten. Wie gehen Sie mit diesen Problemen um? Meiner Meinung nach gibt es in dem Programm Strukturprobleme, die geprüft werden müssen. Ich hätte mir gewünscht, an dieser Stelle etwas zu diesen Fragen zu hören. ({6}) Zum Thema Grundbildung: Der Bundeskanzler hat im Vorfeld des G-8-Gipfels in Kanada einen langen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht, in dem er völlig zu Recht auf die Bedeutung der Bildung, vor allem der Grundbildung, für die Entwicklung Afrikas hingewiesen hat. Er hat in diesem Zusammenhang angekündigt, dass die Bundesregierung in den nächsten fünf Jahren die Mittel für die Grundbildung erhöhen wird, und zwar will sie die Mittel verdoppeln. Das begrüßt die FDP selbstverständlich. Bildung, vor allem Grundbildung, ist ein Schlüsselbegriff für die Entwicklung nicht nur in Afrika, sondern auch in anderen Entwicklungsländern. Die Alphabetisierung ist eine wichtige Voraussetzung, um Entwicklungshemmnisse zu beseitigen, um eine wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen und den Menschen die Möglichkeit zu bieten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Ein Blick in den Haushaltsplanentwurf zeigt aber, dass von den Versprechen des Bundeskanzlers nichts übrig geblieben ist. ({7}) In der Grundbildung tut sich gar nichts. Der Kanzler verspricht die Verdoppelung der Ausgaben in fünf Jahren, aber der entsprechende Ansatz verändert sich nicht. Wie wollen Sie denn die Entwicklung fördern und die Armut bekämpfen, wenn Sie diesen Schlüssel zur Beseitigung der Entwicklungshemmnisse nicht einsetzen und in diesem Bereich untätig bleiben? Sehr geehrte Frau Ministerin, ich wünsche mir, dass Sie bei der Darstellung Ihrer Politik auf die rosa Brille verzichten und genauer auf die kritischen Punkte achten, auch auf diejenigen, die Ihnen vielleicht nicht so gefallen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Löning, auch Ihnen gratuliere ich herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Nun erteile ich der Kollegin Karin Kortmann, SPDFraktion, das Wort.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich habe gestern Nachmittag zu Herrn Ruck gesagt, dass mir sein Beitrag in der neuen Ausgabe von „E+Z“ gefalle. Daraufhin hat er gesagt, dass er wohl etwas falsch gemacht habe, wenn ich ihn lobe. Heute würde ich Sie nicht loben, Herr Ruck. Ich habe Sie in der Zusammenarbeit als einen fairen Verhandlungspartner kennen gelernt, der es eigentlich nicht nötig hat, wortgewaltig die Dinge so darzustellen, wie Sie es vorhin getan haben. Wir haben bisher eigentlich gut zusammengearbeitet, wenn es um die Entwicklungszusammenarbeit ging. Herr Löning, Sie sind zwar nur ein Jahr jünger als ich. Aber Ihnen fehlt noch ein bisschen die Erfahrung im AwZ; denn sonst wüssten Sie, dass das Geld dort ankommt, wohin es gehört. Im Gegensatz zur Wirtschaft oder zu dem Bereich, in dem Sie gearbeitet haben, stimmen bei uns Inhalt und Verpackung überein. Es kommt das heraus, was draufsteht. ({0}) Wir alle wissen, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit bzw. die Entwicklungszusammenarbeit - die Ministerin und Thilo Hoppe haben schon darauf hingewiesen einen zentralen Beitrag zur globalen Zukunfts- und Friedenssicherung leistet. In den letzten vier Jahren ist es uns unter der Verantwortung der Regierung, der Ministerin und der Fraktion gemeinsam gelungen, die Entwicklungspolitik aus ihrem Nischendasein herauszuholen, das Gießkannenprinzip bei den Hilfeleistungen zu beenden und vor allen Dingen dazu beizutragen, dass die Entwicklungspolitik ein eigenständiges Feld der Außenpolitik geworden ist. Das war zu Zeiten von Minister Spranger nicht immer der Fall. Ich kann mich noch sehr gut an das Bundestagswahljahr 1998 erinnern. Damals haben einige Organisationen aus dem Bereich der Kirchen der CDU/ CSU-FDP-Bundesregierung ein so genanntes Armutszeugnis für das ausgestellt, was Sie in der Entwicklungszusammenarbeit verbrochen und was Sie nicht eingelöst haben. Diese verfehlte Entwicklungspolitik ist beendet. Diese Zeiten sind längst vorbei. Es gibt heute sehr viel wohlwollende Unterstützung für den Kurs, den die Ministerin eingeschlagen hat. Um das zu belegen, möchte ich - wir müssen uns nicht allein auf die Berichte der Welthungerhilfe und von Terre des hommes stützen, die in ihrer Analyse falsch liegen - Reinhard Hermle zitieren, der Vorsitzender von Venro und gleichzeitig Mitarbeiter des katholischen Hilfswerks Misereor ist. Er sagt zur Koalitionsvereinbarung: Der Text weist in die richtige Richtung, schreibt fort, was bewährte entwicklungspolitische Praxis ist bzw. in der vergangenen Leigslaturperiode begonnen wurde. Er sagt außerdem: In den vergangenen vier Jahren hat die Koalition viele positive Anstöße für die Entwicklungspolitik gegeben. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang noch auf Folgendes aufmerksam machen: Während des Bundestagswahlkampfes gab es eine Veranstaltung zu 40 Jahren Entwicklungszusammenarbeit der Kirchen. Auf ihr wurde gesagt, dass man Kerzen anzünde und bete, dass die rotgrüne Regierung im Amt bleibe, weil sie die richtigen Schritte in der Entwicklungszusammenarbeit eingeleitet habe. ({1}) - Nicht alles im Advent ist besinnlich. Es muss auch ein kleiner Verweis gestattet sein. Wenn wir heute über die Gründe reden, warum die Weichen in der Entwicklungspolitik neu gestellt worden sind, dann dürfen wir nicht vergessen, dass das auch etwas damit zu tun hat, was vor 25 Jahren - exakt: im September 1977 - eingeleitet worden ist. Damals kam zum ersten Mal die Nord-Süd-Kommission unter Leitung von Willy Brandt zusammen. Er hat bereits sehr früh erkannt, dass der Globalisierung der Probleme nur mit gemeinsamem globalen Handeln und mit einer Globalisierung der Politik, einer so genannten Weltinnenpolitik, begegnet werden kann. Ich erwähne das, weil heute Morgen ständig von großen, schwergewichtigen Bundeskanzlern die Rede war. Willy Brandt mahnte schon damals eine Neuordnung der internationalen Beziehungen an und bezeichnete das Interesse der Industrieländer an der wirtschaftlichen Entwicklung des Südens als gesundes Eigeninteresse. Heute sprechen wir nicht mehr von einem gesunden Eigeninteresse, sondern von einem wohlverstandenen Eigeninteresse. Ich bin stolz darauf, dass es diesen großen sozialdemokratischen Weltpolitiker gegeben hat, der entwicklungspolitische Weichen gestellt hat. Wir sind ihm nach wie vor verpflichtet. Wir werden die WTO deshalb sozial und ökologisch ausrichten. Wir werden die internationale Finanzarchitektur, wie angekündigt und beschlossen, reformieren. Wir werden eine globale Umweltordnung schaffen und an einer Weltfriedensordnung mitarbeiten, die die Teilhabe aller ermöglicht. Wir werden des Weiteren die sozialdemokratischen Leitlinien zu Innovation, Solidarität und Gerechtigkeit in den Erneuerungskurs von IWF und Weltbank einbringen. Wir werden uns auch unseren bilateralen, europäischen und internationalen Verpflichtungen weiterhin so verantwortungsvoll stellen wie in den letzten vier Jahren. Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hat diese Weichenstellungen bei der UN-Konferenz fortgesetzt. Sie hat nämlich mit dazu beigetragen, dass sich die internationale Staatengemeinschaft dem 0,7-Prozent-Ziel verpflichtet hat und es jetzt schrittweise umsetzt. Wenn wir mit dazu beitragen können, bis zum Jahre 2006 einen 0,33-Prozent-Anteil zu erreichen, dann haben wir einen Riesenschritt gemacht. Die Ministerin hat bereits darauf hingewiesen - ich finde, es ist gut, dies zu wiederholen -, dass die ODAQuote zum Zeitpunkt der Wahl 1972 - ich nenne Willy Brandt - bei 0,32 Prozent lag. Bis zu den Bundestagswahlen im Jahre 1982 gab es einen Aufwärtstrend; die Quote erreichte 0,48 Prozent. Das ist ein Traumziel, das wir heute gerne erreicht hätten. Dann begann der 16 Jahre währende Abwärtstrend durch die Union. Als wir vor vier Jahren die Regierungsverantwortung übernommen haben, lag die Quote wieder bei 0,26 Prozent. Trotz der schwierigen Haushaltslage sind wir jetzt dabei, diesen Trend umzukehren. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung am 29. Oktober dieses Jahres Folgendes dazu gesagt: Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben wir festgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006 das Ziel einer Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungsarbeit umsetzen. Dieses Ziel wollen wir erreichen. Dazu gehört aber noch ein wenig mehr: Dazu gehört zunächst die Würdigung, dass der Einzelplan 23 für das Jahr 2003 um 2,3 Prozent auf 3,784 Milliarden Euro erhöht wird. Dazu gehört aber auch, dass wir stabile Ausgaben für die europäische Entwicklungszusammenarbeit vorsehen, dass wir die Schuldenerlasse im Rahmen der HIPC-Entschuldungsinitiative der G-7-Länder fortsetzen, dass wir an der Einführung einer Devisenumsatzsteuer weiterarbeiten und dass wir uns bei der Überwindung einer nicht tragbaren Verschuldung für ein faires und transparentes Verfahren, für ein so genanntes internationales Insolvenzverfahren einsetzen. Sie könnten jetzt fragen, was die ganze HIPC-Entschuldungsinitiative gebracht hat. Herr Weiß wird mir gleich in seinem Redebeitrag sicherlich bei folgendem Verfahren zustimmen: Wir waren vor zwei Jahren in Bolivien und haben uns angeschaut, was in diesem so genannten Musterländle der Entwicklungszusammenarbeit und der Entschuldung vonstatten geht. Dort gibt es ein Höchstmaß an Zusammenarbeit von Staat und internationalen Gebergemeinschaften wie Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Europäischer Kommission und Weltbank, um in diesem Land zu einem fortschrittlichen Entwicklungskonzept beizutragen. Ich möchte dies nicht kleinreden, aber ich bin bereit, darüber nachzudenken, ob alle unsere Instrumente tatsächlich greifen. Wir brauchen jedoch einen multilateralen Ansatz, Herr Ruck, und keinen bilateralen, um in diesen Bereichen dazu beitragen zu können, dass Entwicklung möglich ist. ({2}) Ich möchte ein zweites Beispiel nennen, an dem deutlich wird, dass wir mit bilateraler Arbeit allein nicht weiterkommen. Vor knapp einem Jahr haben wir in diesem Parlament darüber beraten, wie wir dem Plan Colombia, den die US-Regierung beschlossen hat, ein anderes Konzept entgegensetzen, um in Kolumbien dazu beizutragen, dass die Friedensansätze, die die Pastrana-Regierung begonnen hat, umgesetzt werden können. Das können wir nicht, wenn wir bilateral in Regierungsverhandlungen stecken bleiben. Umso wichtiger war es - dieses Parlament hat einen Riesenbeitrag dazu geleistet -, dass wir gesagt haben: Wir lehnen den Plan Colombia mit seinem militärischen Ansatz ab und unterstützen soziale und wirtschaftliche Aufbauprojekte. Wir wollen in Kolumbien zu einem Anbau kommen, der es den Menschen ermöglicht, vom Koka-Anbau wegzukommen. - Wir haben festgestellt, dass das der richtige Ansatz ist. Herr Ruck, Sie müssen zugeben, dass dies eine Weichenstellung ist, die Sie nicht vorgenommen haben. Das Konzept der Ministerin ist erfolgreich. Sie brauchen nicht neidisch zu sein. Sie müssen uns nur gut unterstützen, dann kommen wir alle weiter. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Kortmann, Sie haben davon gesprochen, dass die Kirchen der Entwicklungspolitik des Kollegen Spranger ein Armutszeugnis ausgestellt hätten. Ich möchte Sie fragen, ob Sie prüfen können, ob Sie in dieser Frage nicht in einem Glashaus sitzen. Es sollte unstreitig sein, dass sich Entwicklungspolitik nicht ausschließlich auf die materielle Hilfe beschränken kann. Sie kann nur dann Erfolg haben, wenn sie sich auch die Autorität erwirbt, mit dem Adressaten der Hilfe in einen partnerschaftlichen Dialog über demokratische Werte einzutreten. Wir stellen beispielsweise in Afrika eine Entwicklung fest, die in die entgegengesetzte Richtung geht. Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, was sich gegenwärtig in Simbabwe ereignet. Vor einigen Tagen stand ein skandalöses Interview des Präsidenten von Namibia in der „Welt“. Ich vermisse bis heute eine Stellungnahme der Regierung Schröder zu diesen Aussagen. Ich vermisse auch eine Querverbindung zwischen solchen Entwicklungen und der Entwicklungshilfepolitik dieser Regierung. Dieser Wertediskussion ist Carl-Dieter Spranger in seiner Amtszeit nie ausgewichen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Kortmann, Sie haben Gelegenheit zur Erwiderung.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, was 1998 von einem wichtigen Bereich der Nichtregierungsorganisationen, den Kirchen, zur Entwicklungszusammenarbeit der Kohl-Regierung gesagt wurde. Ich kann Ihnen gern das entsprechende Armutszeugnis zur Verfügung stellen. Ich kann Ihnen auch das Protokoll aus dem damaligen Spranger-Ministerium zur Verfügung stellen, in dem steht, wie damals die Abteilungsleiter versucht haben, darauf zu erwidern, was sie nicht konnten. Ich habe Ihnen auch gesagt, welche Unterstützung die jetzige Bundesregierung gerade aus diesem Bereich, der sehr genau und sehr skeptisch überprüft, ob die Hilfe ankommt, hat, wenn es darum geht, präventive Friedenssicherung zu unterstützen, Beteiligungschancen für die Länder des Südens zu schaffen, Handelsbarrieren abzubauen und eine neue Finanzarchitektur zu entwerfen. Wir haben im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in dem „Glashaus“, in dem wir auch hier im Parlament sitzen, dazu beigetragen, dass es eine Schwerpunktsetzung zum einen in thematischer Hinsicht gibt. Der Aktionsplan 2015, den die Ministerin nannte, ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie kohärente Politik aussehen kann, indem sich eine gesamte Bundesregierung dazu verpflichtet, zur Halbierung der Armut beizutragen. Es war der Kanzler, der auf UN-Ebene den Anstoß zu diesem Aktionsplan gegeben hat; dessen sollten Sie sich noch einmal vergewissern. Zweitens haben wir dazu beigetragen, die Schwerpunktsetzung auch auf die Länder zu konzentrieren; denn dann kommt unter dem Strich mehr dabei heraus. Mich wundert in der gesamten Debatte heute die Schärfe und Unsachlichkeit, wie Sie manche Dinge vortragen. Die Ministerin hat in der vorletzten Sitzung des AwZ die Inhalte der Koalitionsvereinbarung vorgestellt. Ich habe aus Ihren Reihen keine kritische Frage gehört, die dem entspricht, was heute vorgetragen worden ist. Wenn Sie diese Bühne für Fragen brauchen, dann kann ich das verstehen. Ich wünsche mir aber weiterhin eine gute Sacharbeit im Ausschuss. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte auf das angesprochene Interview eingehen und sagen, dass auch ich dieses Interview mit Entsetzen gelesen habe. Ich finde die dort genannten Vorwürfe wirklich skandalös. Offensichtlich hat dieses Interview auch in Namibia selbst blankes Entsetzen ausgelöst; das ist gut. Für die Bundesregierung sage ich: Wir sind uns unserer Verpflichtung gegenüber den Menschen in Namibia bewusst. Ich werde dieses Interview zum Anlass nehmen, um den Botschafter zu einem Gespräch zu bestellen. Denn ich finde, da muss Klarheit geschaffen werden. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sowohl in den Reden der Frau Ministerin als auch in der Rede, die Frau Kollegin Kortmann soeben gehalten hat, fällt auf, wie sehr die Vertreter der Koalition nach vier Jahren Rot-Grün noch immer versuchen, Ihre rückwärts gewandte Politik zu verteidigen und in diesem Sinne zu argumentieren. Irgendetwas im BMZ-Haushalt scheinen Sie verstecken zu wollen; sonst müssten Sie nicht so argumentieren, wie Sie es getan haben. ({0}) Wenn man in einer solchen Haushaltsdebatte, Herr Kollege Hoppe, gegenüber den Menschen, zum Beispiel in den Entwicklungsländern, wirklich ehrlich sein will, dann sollte man eigentlich nicht weiterhin die Mär verbreiten, der Entwicklungshilfehaushalt wachse von 2002 auf 2003 um 2,3 Prozent an; denn das stimmt schlichtweg nicht. Frau Ministerin, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, bitte lesen Sie doch die Zahlen, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit selbst publiziert hat. Im Jahre 2002 verfügt das BMZ insgesamt über etwas mehr als 3,851 Milliarden Euro. Um es genau zu sagen: Es verfügt über 3,699 Milliarden Euro aus dem Einzelplan 23 und über 152,258 Millionen Euro, die ihm aus dem so genannten Antiterrorpaket und aus dem so genannten Afghanistan-Paket im Einzelplan 60 zur Bewirtschaftung zugewiesen worden sind. Was hier vorgetragen wird, ist übrigens nicht die „Zählweise Peter Weiß“, sondern die offizielle Zählweise des BMZ, publiziert in diesem wunderschönen, bunten Heft. Am Anfang dieses Heftes sind ein schönes Bild der Frau Ministerin und ein Vorwort. Im hinteren Teil dieses Heftes ist der Haushalt des Ministeriums aufgeführt. Da heißt es auf Seite 43: Der Haushalt des BMZ 2002 hat einen Gesamtumfang von 3 851 238 000 Euro. Peter Weiß ({1}) Im Haushaltsentwurf 2003 sind - das ist auch richtig die so genannten Antiterror- und Afghanistan-Mittel in die Einzelpläne integriert. Das ist auch beim Einzelplan 23, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Fall. Allerdings tauchen in diesem Einzelplan nur noch 3,784 Milliarden Euro auf. Damit das im Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2003 nicht so auffällt, hat das Bundeskabinett am 20. November beschlossen, dass das BMZ 30 Millionen Euro aus seinem Haushalt für Afghanistan an das Auswärtige Amt abzutreten hat. Dies ist übrigens kein einmaliger Vorgang, sondern das soll auch in den Folgejahren geschehen. So bleiben dem BMZ im Jahre 2003 noch 3,754 Milliarden Euro; das bedeutet ein Minus von über 97 Millionen Euro. Der Umfang des Haushalts des BMZ steigt nicht, sondern sinkt. Das ist die Realität, die sich in Ihren Zahlen widerspiegelt. ({2}) Ich finde es überhaupt nicht lustig, dass Sie das jetzt ständig bezweifeln und trotz der Korrektheit der Zahlen Gegenteiliges erzählen. Das hat nämlich nur eines zur Folge: Die Glaubwürdigkeit Ihrer Entwicklungspolitik sinkt noch mehr. Wenn man so lügt, wie Sie es hier tun, dann geht der letzte Rest an Glaubwürdigkeit verloren. Sie haben sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt - dieses Ziel haben Sie hier bestätigt; es wurde auch in der Regierungserklärung des Kanzlers formuliert -: Im Jahre 2006 sollen 0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungshilfe ausgegeben werden. Allerdings steht schon heute fest, dass Sie dieses Ziel mit dem BMZ-Haushalt, den wir hier beraten, und mit der ebenfalls vom Kabinett beschlossenen mittelfristigen Finanzplanung bis zum Jahr 2006 überhaupt nicht erreichen können. Der BMZ-Haushalt hat heute einen Anteil von rund 70 Prozent an der so genannten ODA-Quote, also an dem 0,33-Prozent-Ziel. Ein nur geringes Wachstum des Bruttonationaleinkommens unterstellt - zu mehr wird es angesichts der katastrophalen Wirtschaftspolitik von Rot-Grün nicht reichen -, ({3}) müsste der BMZ-Etat bis zum Jahr 2006 auf 4,5 Milliarden Euro anwachsen, damit das 0,33-Prozent-Ziel erreicht wird. Die mittelfristige Finanzplanung weist aber nur 3,96 Milliarden Euro aus. Natürlich könnte man das 0,33-Prozent-Ziel auch erreichen, indem man andere Etatansätze, die für die Berechnung der ODA-Quote ebenfalls relevant sind, steigert, zum Beispiel den deutschen Beitrag zum Entwicklungshilfehaushalt der Europäischen Union. Nur: Der EU-Entwicklungshilfehaushalt 2001 ist kleiner als der EU-Entwicklungshilfehaushalt 2000. In der Finanzplanung der EU bis 2006, die uns ebenfalls vorliegt, werden die Finanzmittel für externe Politikbereiche gerade einmal um 0,86 Prozent gesteigert, ({4}) also auch da ist nichts, mit dem man die ODA-Quote von 0,33 Prozent erreichen kann. Meine Damen und Herren, erfolgreiche Entwicklungspolitik ist auch, ja vielleicht sogar in erster Linie eine Frage der Verlässlichkeit. Unsere Partnerländer, die Menschen in diesen Partnerländern wie auch die nationalen und internationalen entwicklungspolitischen Akteure sollten sich auf ein international aktionsfähiges Deutschland verlassen können. Bei einer Regierung wie dieser, bei der Worte und Taten so weit auseinander klaffen, ist jedoch nur auf eines Verlass: auf die Unzuverlässigkeit. ({5}) In der enumerativen Aufzählung vieler guter Absichten, Frau Ministerin, geht meines Erachtens völlig verloren, was das eigentliche strategische Ziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist. Mit der Elfenbeinküste zum Beispiel bricht in diesen Tagen ein weiteres afrikanisches Land auseinander. ({6}) Angesichts des zunehmenden Staatenzerfalls in einigen Regionen der Welt, angesichts immer neuer Enttäuschungen, weil Regime sich als korrupt und unfähig erweisen oder beispielsweise Herr Nujoma solche Interviews gibt, wie er sie gegeben hat, stellt sich die Frage: Fehlen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit, die ja zuallererst auf Verabredungen zwischen zwei Regierungen basiert, zunehmend die geeigneten Partner? Zu dieser Frage, die die Aktionsfähigkeit staatlicher Entwicklungszusammenarbeit fundamental betrifft, fehlt jegliche konzeptionelle Antwort der Bundesregierung. ({7}) Eine Antwort könnte und sollte meines Erachtens sein, die Zivilgesellschaft als Motor einer nachhaltigen Entwicklung zu stärken. ({8}) Das geschieht verbal, auch heute, aber nicht im Bundeshaushalt 2003. ({9}) Die nominalen Steigerungen für Kirchen, Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen basieren einzig und allein darauf, dass, wie von mir vorhin dargestellt, Mittel aus dem Stabilitätspakt Südosteuropa, für Afghanistan und aus dem Antiterrorpaket auf die normalen Haushaltsmittel draufgerechnet werden. Unter dem Strich sind es exakt 0 Euro, ({10}) das heißt, es gibt keine Stärkung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit im Bundeshaushalt 2003. ({11}) Wenn nun schon eine Bundesregierung finanziell nicht viel für die Entwicklungszusammenarbeit anbietet, ({12}) gibt es dann wenigstens ein stringentes Konzept zur Stärkung dieser Politikfelder, wie Sie immer vortragen? ({13}) Ich meine, das Thema, das die Entwicklungspolitik endlich aus ihrem Schattendasein herausholen und ins Zentrum nationaler wie internationaler Politik rücken müsste, ist die Globalisierung. Das BMZ wäre prädestiniert für ein erweitertes politisches Aufgabenverständnis als Globalisierungsministerium. In einem BMZ als Globalisierungsministerium würden nicht nur alle die Globalisierung betreffenden Fragen unter einem Dach vereint, sondern endlich auch globale Kontexte aus der Einzelsichtweise von Fachressorts herausgeholt und übergreifend sichtbar gemacht werden. Um das zu leisten, bedarf es aber zuallererst eines überzeugenden politischen Leitbildes für den Globalisierungsprozess. Wir glauben, dass die Idee einer internationalen sozialen Marktwirtschaft das Grundgerüst für ein System internationaler Kooperation, zur Nutzung der Globalisierungschancen und zur Bewältigung von Globalisierungsproblemen liefert. Aber wie soll eine Bundesregierung international eine solche Leitidee voranbringen, die sich nicht einmal zu Hause auf die Politik der sozialen Marktwirtschaft versteht? ({14}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine bescheidene Bitte ist: Unterlassen Sie erstens die Falschmeldungen bezüglich des Entwicklungshaushalts und bekennen Sie sich zu Ihren eigenen Zahlen. Stellen Sie zweitens einen realistischen und finanzierbaren Plan vor, wie Sie bis zum Jahr 2006 das Ziel von 0,33 Prozent tatsächlich erreichen wollen. Dann haben wir auch eine gemeinsame Basis, auf der wir eine Politik für die Menschen in den Entwicklungsländern formulieren und durchsetzen können. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki, SPDFraktion.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren über keinen der ganz großen Haushalte, obwohl man nach dem Gestus des Kollegen Weiß annehmen könnte, wir hätten jetzt die Generaldebatte über all die Fragen, über die wir insgesamt im Rahmen der Haushaltsberatungen gestern und heute diskutiert haben und morgen noch diskutieren werden. ({0}) Der Einzelplan 23 macht gerade einmal 1,5 Prozent des bundesdeutschen Gesamthaushalts aus und in diesen 1,5 Prozent liegt schon eine Steigerung; denn im Vorjahr waren es weniger. Dennoch ist die Arbeit, die in diesem Bereich geleistet wird, zu einem wesentlichen Teil verantwortlich für das hohe Ansehen, welches die Bundesrepublik in weiten Teilen der Welt genießt. Würden Personen aus den Ländern des Südens, aus Ländern, mit denen wir partnerschaftlich zusammenarbeiten, bei uns zu Gast sein oder sich zu Gesprächen hier aufhalten und dieser Debatte folgen, würden sie die Köpfe schütteln über gewisse Diskussionsbeiträge, zum Beispiel über den zuletzt gehörten von Herrn Weiß. Ich will an dieser Stelle, weil das heute noch nicht geschehen ist, nicht nur der Ministerin und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern insgesamt den vielen Menschen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Entwicklungsprojekten, und im Entwicklungsbereich herzlich danken. ({1}) Sie sind diejenigen, die den guten Ruf der Bundesrepublik mit vertreten und nach draußen tragen. Wenn beispielsweise von afghanischer Seite seit Monaten darauf gedrängt wird, dass wir dort eine stärkere, ja eine Führungsrolle übernehmen, dann ist das auch darauf zurückzuführen, dass die afghanische Regierung die Erfahrung gemacht hat, dass wir verlässliche Partner sind, dass man sich auf die Zusammenarbeit mit uns einstellen kann und dass wir dort tatsächlich konkrete Hilfe geleistet haben und weiter leisten werden. Nun gehört es - wem in diesem Raum sage ich es? zur Natur einer Mediendemokratie, dass unterschiedliche Positionen in der Öffentlichkeit überspitzter und plakativer dargestellt werden - wir haben es eben erlebt -, als das beispielsweise in unseren Fachausschüssen geschieht. Frau Kollegin Kortmann hat bedauernd angesprochen, dass all das Fachliche, was hier möglicherweise bei einigen noch nicht abrufbar war, durchaus hätte abgerufen werden können. Vielleicht wird das bei konstruktiver Arbeit in den Fachausschüssen möglich. Lieber Kollege Ruck, wenn ich Ihren Zeigefinger sehe, möchte ich sagen: Im Grunde wissen es ja alle von Ihnen viel besser, als sie es hier vortragen. Sie wissen, wie geschätzt und geachtet unsere Arbeit in diesem Bereich ist. Ich hatte überhaupt nichts dagegen, dass Sie das Haar in der Suppe als Schwerpunkt der heutigen Auseinandersetzung sahen, aber es wäre schon besser, wenn Sie zu einer konstruktiven, differenzierten und kritischen Oppositionsarbeit kämen. Ich weiß nicht, ob das schädlich für Sie ist, Herr Kollege Ruck: Sie haben es ja ein bisschen versucht. Vielleicht lässt sich daraus Hoffnung schöpfen. Auf jeden Fall kann ich sagen, dass die SPD-Fraktion sich der Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit sehr wohl bewusst ist, übrigens nicht erst nach dem 11. September des vergangenen Jahres, sondern auch schon vorher. Natürlich gehört auch die Bekämpfung der Ursachen des Terrors zum Themenbereich unserer Entwicklungszuammenarbeit. Die Bundesregierung hat einen Haushalt vorgelegt, der entgegen dem durch die Sparzwänge gesetzten generellen Trend einen beachtlichen Aufwuchs aufweist. Sie können ja lange diskutieren, lieber Kollege Weiß, aber wenn Sie Peter Weiß ({2}) die Entwurfszahlen und die tatsächlichen Zahlen vergleichen, werden Sie eine Steigerung feststellen. ({3}) Es ist doch Haarspalterei, wenn wir nun anfangen, Terrorismusbekämpfungsmittel und Stabilitätspaktmittel hinzu- oder herauszurechnen. Es sind Mittel, ({4}) die wir - Sie wissen, dass das die Konzeption des Hauses ist - zum Aufbau der Zivilgesellschaft einsetzen, um gemäß dem präventiven Charakter unserer Arbeit aggressive Entwicklungen zu verhindern, um dafür Chancen zu bieten, dass Menschen ihre Konflikte friedlich miteinander lösen und es nicht zu Krieg und Spannungen bzw. zur Zerstörung ihres Landes kommt. Wir haben in Afghanistan - Sie haben den Stabilitätspakt angesprochen - bewiesen, dass durch das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit nicht nur Chancen eröffnet worden sind, sondern Wesentliches erreicht wurde. Gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung in Mazedonien können wir ein Stück weit zufrieden damit sein, dass diese Instrumente gegriffen und wir so eine schlimme Entwicklung verhindert haben. Im Haushaltsplan sehen wir einen guten Mix von multilateraler und bilateraler Zusammenarbeit vor. Herr Kollege Ruck, ich stimme Ihnen zu, dass wir bei verschiedenen internationalen Organisationen und Strukturen schauen müssen, ob dort noch stärker als bei uns Bürokratie abgebaut werden muss. Es ist richtig - Sie haben das angesprochen -, dass zum Beispiel das Volumen des Europäischen Entwicklungsfonds im Entwurf ein wenig reduziert wurde, weil wir wissen, dass die Mittel aus dieser Pipeline nicht so fließen, wie wir uns das wünschen. Hier sind die richtigen Konsequenzen gezogen worden. Wir sollten aber nicht in den Fehler verfallen, multilaterale und bilaterale Zusammenarbeit gegeneinander auszuspielen. ({5}) Vielmehr sollten wir sehen, dass beide Instrumente für uns von Bedeutung sind und genutzt werden müssen. Das liegt in unserem Interesse. In der außenpolitischen Debatte haben Sie vorhin gefordert, dass gerade von deutscher Seite aus die multilaterale Zusammenarbeit angegangen werden müsse; in dieser Debatte fordern Sie jetzt, dass das nicht in der gleichen Weise verfolgt werden solle. Sie müssen sich schon entscheiden, wofür Sie sich hier aussprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mir die Haushaltsdebatte des letzten Jahres anschaue, stelle ich fest, dass der Herr Kollege von Schmude - er war damals Berichterstatter für den Haushalt - in seiner Rede kritisiert hat, dass die Mittel im Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nicht in gleichem Maße erhöht wurden wie andere. In diesem Jahr haben wir eine entgegengesetzte Entwicklung: Trotz einer Reduzierung des gesamten Haushalts verzeichnen wir für den Etat des Entwicklungshilfeministeriums einen Anstieg der Baransätze und einen wesentlichen Anstieg der Verpflichtungsermächtigungen. All das, was damals gefordert wurde, wird mit diesem Haushaltsplan umgesetzt. Ich hätte es als angenehm empfunden, wenn das von Ihrer Seite konstruktiv-kritisch begleitet worden wäre. Im Haushaltsplan haben wir - ich denke, das ist ein wichtiger Hinweis - insbesondere die Vorhaben der zivilgesellschaftlichen Gruppen, der Nichtregierungsorganisationen, der kirchlichen Träger, der politischen Stiftungen und des zivilen Friedensdienstes bei den Baransätzen und bei den Verpflichtungsermächtigungen berücksichtigt. Die hervorragende Arbeit, die gerade von diesen Organisationen und Institutionen geleistet wird, verdient unseren Dank und unsere Unterstützung. Bei dem von Ihnen angeführten Zitat des Vorsitzenden von Venro hat sich gezeigt, dass diese Organisationen wissen, dass sie in uns einen verlässlichen Partner haben. ({6}) Die von uns vorgenommene Steigerung bei der politischen Bildungsarbeit ist ebenfalls wichtig für uns alle. Auch in Zukunft wird es darauf ankommen, dass wir in unserer Bevölkerung ein Verständnis für die Notwendigkeit dieser internationalen Zusammenarbeit wecken. Wir müssen dafür sorgen, dass die Steigerung im Bereich der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts, die wir gemeinsam wollen, in der Bevölkerung verstanden wird. Die politische Bildungsarbeit ist eine wesentliche Voraussetzung dafür. Von dieser Stelle aus möchte ich der evangelischen und der katholischen Kirche Dank sagen, dass sie in Schwerin bzw. Trier die großen Aktionen „Brot für die Welt“ und „Adveniat“ gestartet haben. Diese Arbeit ist sehr wichtig, weil sie in die Breite geht und weil dort nicht nur nach öffentlichen Geldern gerufen wird, sondern weil mit den Spenden der Bevölkerung ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet wird, dass internationale Solidarität wahrgenommen werden kann. ({7}) Ich finde es interessant - auch wenn wir vier Jahre Regierungszeit hinter uns haben, werde ich Sie aus der Verantwortung nicht entlassen -, dass Sie, Herr Löning, und auch die Kollegen Ruck und Weiß sich über die finanziell offensichtlich katastrophale Situation in Uganda Gedanken machen. Die finanzielle Situation, die Sie uns hinterlassen haben, trägt eben nach wie vor dazu bei, dass wir uns hinsichtlich der ODA-Quote der sozialdemokratischen Zielmarke nur schrittweise annähern können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das werden Sie nicht ändern können. ({0}) - Nein, in zehn Jahren werden wir das erreicht haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Dzembritzki, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich will meine Rede beenden und will meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir in Zukunft nicht nur über Geld diskutieren, sondern dass wir auch unsere Politik infrage stellen werden - insbesondere in den Industrieländern. Denn wenn ich sehe, dass wir zum Beispiel für Schutzzölle und für Subventionen für die Agrarwirtschaft mehr Geld ausgeben, als wir für die Entwicklungshilfe aufbringen, dann muss ich feststellen: Auch hier muss ein Umdenken stattfinden; auch hier sollten wir gemeinsam einen Schub vornehmen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Laufe der heutigen Bundestagssitzung sind viele Gegensätze erkennbar geworden. Deshalb will ich zum Beginn meiner Ausführungen einen Punkt herausstellen, von dem ich annehme, dass wir darin einig sind, nämlich dass die Gewährleistung der inneren Sicherheit zu den Kernaufgaben des Staates gehört. Weil das so ist, ist der Staat auch darauf angewiesen, dass ihm die dafür notwendige finanzielle Ausstattung zur Verfügung steht. Seiner Aufgabe in diesem Bereich kann der Staat nur gerecht werden, wenn er - das ist eine Selbstverständlichkeit; man muss manchmal aber auch Selbstverständlichkeiten wiederholen - über eine verlässliche Einnahmebasis verfügt. Der Ansatz für den Einzelplan 06 im kommenden Haushaltsjahr beläuft sich auf 4,023 Milliarden Euro. Gegenüber dem im Bundeshaushalt ausgewiesenen Soll des laufenden Haushaltsjahres beträgt der Aufwuchs also 9,8 Prozent. Damit weist der Einzelplan des Bundesministeriums des Innern im Ressortvergleich den stärksten Aufwuchs auf. An dieser Zahl können Sie erkennen, welchen Rang die Innenpolitik, insbesondere die Gewährleistung der inneren Sicherheit, im Handeln der Bundesregierung einnimmt. ({0}) Der Aufwuchs ist auf die zusätzlichen Haushaltsmittel insbesondere zur Stärkung der inneren Sicherheit und zur Bekämpfung des Terrorismus zurückzuführen. Wenn Sie die einzelnen Ansätze vergleichen, dann sehen Sie, dass wir beim Bundesamt für Verfassungsschutz einen Aufwuchs von 22,13 Prozent, beim Bundeskriminalamt von 20 Prozent, beim Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik von rund 30 Prozent, beim Bundesgrenzschutz von über 12 Prozent, beim Bevölkerungsschutz und bei der Katastrophenschutzhilfe, deren Bedeutung wir angesichts der Jahrhundertflut nicht aus dem Gedächtnis verloren haben, einen Aufwuchs von knapp 38 Prozent und beim Technischen Hilfswerk von über 9 Prozent haben. Dieses finanzielle Engagement kann natürlich nur zustande kommen auf der Grundlage einer soliden Finanzund Haushaltspolitik. Deshalb steht es in einem engen Zusammenhang mit der soliden Finanz- und Haushaltspolitik von meinem Kollegen, dem Bundesfinanzminister Hans Eichel, dem ich dafür meinen ausdrücklichen Dank ausspreche. ({1}) Ich glaube, es besteht auch Anlass, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Hauses, die bei diesen schwierigen Verhandlungen wichtige Arbeit haben leisten müssen, meinen besonderen Dank dafür auszusprechen. ({2}) Eine wichtige Institution bei der Gewährleistung der inneren Sicherheit ist der Bundesgrenzschutz. Ich hoffe, dass es gelingt, ihm im Laufe dieser Legislaturperiode den ihm entsprechend seinen Aufgaben zukommenden Namen, nämlich Bundespolizei, zu geben. Diese Institution hat sich großes Ansehen im Innern und im Ausland erworben. Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesgrenzschutzes will ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. ({3}) Natürlich kann der Bundesgrenzschutz diese Arbeit nur leisten, wenn er mit den notwendigen modernen Einsatzmitteln ausgestattet ist, über das notwendige Personal verfügt und - das will ich hinzufügen - seine Personalstruktur so gestaltet wird, dass die Mitarbeiter ihrer Aufgabe mit der nötigen Motivation nachgehen können. Deshalb war es mir wichtig und ich bin sehr froh und dankbar darüber - ich weiß, dass es immer eine schwierige Auseinandersetzung mit dem Bundesfinanzministerium gegeben hat -, dass wir wie in den vergangenen Jahren auch in diesem Haushaltsjahr das Hebungsprogramm beim Bundesgrenzschutz fortsetzen können. Wir haben dafür knapp 5,9 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Ich glaube, dieser Aspekt spielt für die Leistungsfähigkeit des Bundesgrenzschutzes eine große Rolle. Wenn Sie sich das Aufgabenspektrum des Bundesgrenzschutzes anschauen - dazu gehören die Sicherung unserer Flughäfen und unseres Flugverkehrs, worüber es ja jüngst eine Debatte gab; der Schutz der Auslandsvertretungen und der Einsatz von Entschärfergruppen auf Flughäfen; daneben wird er in ganz speziellen Fällen angefordert, die ich jetzt nicht näher bezeichnen will -, dann werden Sie Verständnis dafür haben, dass ich mich im Bundesrat dafür einsetze, dass es eine Erschwerniszulage für die GSG 9 gibt. Ich hoffe, dass der Bundesrat seinen Widerstand gegen diesen Vorschlag aufgeben wird. ({4}) Selbstverständlich braucht der Bundesgrenzschutz ebenso wie andere Behörden, die für Ordnung und Sicherheit zuständig sind, ein modernes Funksystem. Ich bemühe mich seit ziemlich langer Zeit darum, eine Einigung darüber herbeizuführen. Ich wäre dankbar, wenn auf allen Seiten des Hauses dafür Unterstützung zustande käme, dass wir den Analogfunk durch einen modernen Digitalfunk ablösen. Denn der Analogfunk verfällt technisch und wir haben die Möglichkeit, einen modernen Digitalfunk aufzubauen. Die Kosten dafür, soweit wir es im Moment beurteilen können, fallen geringer aus, als die, die wir für eine Fortsetzung des Analogfunks aufwenden müssten. Wir wären gut beraten, uns dafür zu entscheiden. Ich hoffe, dass dies morgen auf der Innenministerkonferenz - ich bin dem jetzigen Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, dem Kollegen Dr. Böse, dankbar, dass er mich darin nachhaltig unterstützt - endlich vorankommt. Es muss gelingen, den Digitalfunk bis zur Fußballweltmeisterschaft 2006 funktionsfähig zu machen, damit wir uns bei einem solchen Weltereignis des Sports nicht blamieren, weil wir an der Stelle Defizite haben. ({5}) In der Kürze der Zeit - ich habe noch etwas über fünf Minuten Redezeit - kann ich nicht alles vor Ihnen ansprechen. Ich will Ihnen aber vor Augen führen, dass sich die Aufgaben des Bundeskriminalamtes, so wichtig sie sind, nicht auf das Inland beschränken, sondern dass das Bundeskriminalamt in vielfältiger Weise auch in europäische und internationale Institutionen eingebettet ist. Wenn ich über die Bitten und Anforderungen nachdenke, die im Laufe der Jahre auf mich zugekommen sind, zuletzt im Gespräch mit dem serbischen Ministerpräsidenten Djindjic, muss ich sagen: Allein die Anzahl der diesbezüglichen Bitten und Anforderungen von Regierungen in- und außerhalb Europas an die Bundesregierung und die Landesregierungen ist ein wirklicher Ausweis für die höchste Leistungsfähigkeit unserer Sicherheitsinstitutionen. Deshalb sollten wir - bei aller notwendigen Kritik an der einen oder anderen Stelle - darauf achten, dass wir dieses Ansehen nicht in irgendeiner Weise infrage stellen. Ich glaube, wir haben wirklich Anlass, auf diese Institutionen stolz zu sein. ({6}) Ich will darauf besonders im Zusammenhang mit dem hinweisen, was unsere Polizei in Afghanistan unter außerordentlich gefahrvollen Bedingungen leistet. Ich möchte diese Leistung mit einem Ausdruck belegen, der sonst nur für Doktorarbeiten angewandt wird: Das, was dort beim Aufbau einer eigenständigen Polizei geleistet wird, verdient die Note summa cum laude. Ich finde, das sollten wir hier einmal aussprechen. ({7}) Ich kann noch Weiteres anführen. Ich habe großen Respekt davor - ich habe das seinerzeit vermittelt -, dass der frühere Inspekteur des Bundesgrenzschutzes heute der Berater der rumänischen Regierung, meines rumänischen Innenministerkollegen, beim Aufbau einer rechtsstaatlichen Grenzpolizei in Rumänien ist, mit der dort Kriminalität bekämpft werden soll. Ministerpräsident Djindjic - ich habe ihn schon erwähnt -, der in seinem Land vor großen Problemen steht, deren Ausmaß wir uns gar nicht vorstellen können, ist an uns herangetreten mit der Bitte, dass wir ihn unmittelbar beraten. Zu den Institutionen, die für die Sicherheit auf Bundesebene zuständig sind, gehört ferner das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, eine Institution, um die uns viele Länder beneiden. Ich bin froh darüber, dass wir deren Leistungsvermögen immer weiter haben stärken können. In einer modernen Welt, die sich weitgehend moderner Informations- und Kommunikationstechniken bedient, ist dieses Amt von großem Wert. Ich kann alle Aufgaben, die dort geleistet werden, nicht im Einzelnen aufführen. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir dieses Amt weiter stärken. Stärker ins Bewusstsein ist die Tatsache getreten, dass wir uns auch auf Bundesebene mehr um Bevölkerungsschutz, um Katastrophenschutzhilfe kümmern müssen. Ich sage das ganz selbstkritisch. Ich glaube, Selbstkritik wird an der Stelle dankenswerterweise auch von der Opposition geleistet. Alle waren der Meinung: Mit Ende des Kalten Krieges ist die Zivilschutzaufgabe obsolet geworden. Sie haben das abgebaut, wir haben das eine Weile fortgesetzt. Ich sage das ganz selbstkritisch. Ich glaube, wir brauchen uns da gegenseitig nichts vorzuwerfen. Aber wir müssen das ändern. Deshalb ist es richtig, dass sich Bund und Länder auf ein neues Rahmenkonzept geeinigt haben. Wir haben uns nicht in akademische Diskussionen darüber verstrickt, wer für was zuständig ist, und auch keine lange Verfassungsdiskussion begonnen. Vielmehr versuchen wir, die praktischen Aufgaben anzugehen und unsere jeweiligen Kapazitäten und Möglichkeiten miteinander zu vernetzen. Das ist der richtige Ansatz. Ich habe Wert auf die Feststellung gelegt, dass wir die organisatorische Veränderung, die wir dadurch vorgenommen haben, dass wir den Zivilschutz in das Bundesverwaltungsamt eingegliedert haben, nicht zurücknehmen; denn dadurch gewinnen wir Effizienzvorteile, weil die Overheadkosten auf diese Weise geringer sind. Wir haben auf diese Weise nicht zwei Zentralabteilungen, für jede Institution eine. Wir werden eine Verwaltungsgemeinschaft gründen und ein neues Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenschutzhilfe einrichten, in dem wir neue Dienstleistungsangebote zur Verwirklichung dessen, was wir in dem Rahmenkonzept angelegt haben, schaffen. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, einiges über den Sport zu sagen. Aber ich nehme an, aus meiner Fraktion wird dazu Stellung genommen. Deshalb will ich zum Schluss noch auf einen Punkt kurz eingehen, wenn mir die Zeit bleibt, Frau Präsidentin. Ich sehe, der Sekundenzeiger Ihrer Uhr geht so rasch voran, dass ich in der Zeit nicht alle meine Stichworte ansprechen kann. Alle Seiten dieses Hauses - die Opposition mahnt das an und wir haben uns das vorgenommen - sind bestrebt, die Bürokratie abzubauen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Ich bin auf der Seite aller, die sich in diesem Sinne engagieren wollen. Wir haben - hier besteht ja ein Zusammenhang - auf dem Gebiet der Modernisierung der Bundesverwaltung durchaus beachtliche Fortschritte erzielt. Ich möchte Ihnen, was den Bürokratieabbau auf Bundesebene angeht, einige Zahlen nennen: Wir haben 92 Behörden geschlossen. Die Zahl der Behörden wurde von 654 auf 562 reduziert. Natürlich können Sie sagen, 562 seien immer noch zu viel. Wir haben nahezu 18 000 Stellen gestrichen. Die Zahl sank von rund 309 000 auf etwa 291 000. Das sind circa 6 000 weniger als vor der Wiedervereinigung. Der Personalbestand im Geschäftsbereich des BMI ist um 14,6 Prozent reduziert worden. Im Rahmen des Projekts „Bund Online“ haben wir enorme Effizienzgewinne erzielen können. Es gibt eine enge Verbindung zwischen Bürokratieabbau, Modernisierung der Verwaltung und Nutzung der modernen Kommunikations- und Informationstechnik. Aber an einem Punkt, nämlich in der Frage der Normenüberflutung - das ist ein Vorwurf, mit dem wir umgehen müssen; auch die Opposition hat dies in der Aussprache über die Regierungserklärung kürzlich angesprochen -, sind weder Bund noch Länder, noch Kommunen, noch die Europäische Union sehr deutliche Schritte vorangekommen. Wir müssen uns einfach auch einmal vom Grundsätzlichen her darauf besinnen, woher diese Produktivität an Normen rührt. An dieser Stelle sollten wir tatkräftig ansetzen. Wir werden uns dieser Aufgabe ressortübergreifend - zusammen mit dem Bundesfinanzministerium, mit dem Bundeswirtschaftsministerium, insbesondere auch mit dem Bundesjustizministerium - annehmen; denn ein Ressort alleine kann das gar nicht leisten. Ich hoffe auf Unterstützung aller, die sich dort engagieren wollen. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich hoffe, dass dieser Einzelplan, so wie er im Entwurf vorliegt, die Zustimmung der Haushälterinnen und Haushälter findet; sie haben die eigentliche Entscheidung darüber zu fällen. Deshalb appelliere ich an Sie alle, die gute Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch in den nachgeordneten Institutionen des Bundesministeriums des Innern, dadurch zu bestätigen und anzuerkennen, dass Sie diese Haushaltsansätze billigen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Strobl, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Ihre Rede von heute Abend, Herr Bundesinnenminister, passt hervorragend zu einer Aussage, mit der Sie in der „Bild“-Zeitung zitiert wurden, als Sie bezüglich der rot-grünen Regierungspolitik auf Probleme angesprochen worden sind. Sie sagten: „Probleme? - Es gibt doch keine Probleme.“ Auch in der Innenpolitik scheint sich RotGrün inzwischen auf Stillstand festgelegt zu haben. Zugegeben, angesichts der katastrophalen Auswirkungen Ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik kann es immer noch besser sein, Sie tun nichts, als dass Sie sich in blindem und ziellosem Aktionismus ergehen. Zustimmen, Herr Bundesinnenminister, möchte ich Ihnen ausdrücklich, was den Dank an Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angeht. Ich glaube, diese verdienen ihn besonders. ({0}) Insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes, des BKA, des BfV und des BND verdienen Respekt, Anerkennung und Dank dafür, dass sie die Aufgaben im Bereich der inneren Sicherheit für uns alle wahrnehmen. Allerdings ist, Herr Bundesinnenminister, die Sicherheitslage in Deutschland, insbesondere was die Bedrohung durch terroristische Anschläge angeht, viel zu ernst, als dass man einfach zur Tagesordnung übergehen könnte. ({1}) „Deutschland ist in großer Gefahr“, so der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Hanning, vor drei Wochen in der „Welt am Sonntag“. Der Stellvertreter Osama Bin Ladens droht in einem Video Deutschland mit direkten Anschlägen. Dies ist die Situation in Deutschland. Ich zitiere den BND-Präsidenten Hanning weiter: Aus Sicht der al-Qaida beteiligt sich Deutschland in besonderer Weise an dem Kreuzzug, wie sie es nennen, und das wiederum hat die Konsequenz gehabt, dass Deutschland von Bin Ladens Stellvertreter ... in einer Video-Botschaft am 8. Oktober als potenzielles Angriffsziel genannt worden ist. Djerba, Riad, Bali, Mombasa und der Anschlag auf den französischen Tanker „Limburg“ belegen, dass auch die Verbündeten der USA, also auch die Bundesrepublik Deutschland, im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus stehen. Wir stehen durch den internationalen Terrorismus vor einer neuen, noch nicht da gewesenen Bedrohung auch in der Bundesrepublik Deutschland. Daraus folgt für uns als für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in besonderem Maße verantwortliche Politiker, dass wir darauf reagieren. Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen und eine Politik machen, mit der wir konsequent vor allem ein Ziel verfolgen: die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. ({2}) Natürlich wissen auch wir: Eine absolute Sicherheit wird es in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht geben können. Aber wir haben zumindest die Aufgabe, alles dafür zu tun, um ein möglichst hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten. Das, was Rot-Grün - teilweise mit unserer Unterstützung - in der vergangenen Legislaturperiode beschlossen hat, reicht dafür nicht aus. Dies war Thomas Strobl ({3}) unsere Meinung und dies ist unsere Meinung. Deswegen müssen wir uns heute sehr grundsätzliche Gedanken über eine neue und sehr umfassende Sicherheitsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland machen. ({4}) - Warten Sie es doch ab. Wenn wir von einer neuen Sicherheitsarchitektur in Deutschland sprechen, müssen wir in einigen zentralen Punkten neu nachdenken und auch umdenken. Mögliche extremistische Gewalttäter beispielsweise dürfen möglichst erst gar nicht in unser Land einreisen. Wenn wir aber schon die Einreise nicht verhindern können, müssen wir in Deutschland wenigstens dafür sorgen, dass solche Elemente so früh wie möglich entdeckt, erkannt und unschädlich gemacht werden, jedenfalls mindestens außer Landes gewiesen werden können. ({5}) Schon aus diesem Grunde brauchen wir ein Sicherheitspaket III. Ein solches Sicherheitspaket III wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hier im Deutschen Bundestag mit zahlreichen umfangreichen und weitreichenden Gesetzesänderungen einbringen. Dies wird übrigens - nach „Otto I“ und „Otto II“ - kein von den Fraktionen von SPD und Grünen entwerteter Minimalkompromiss sein, sondern echte Qualitätsware zur Verbesserung der inneren Sicherheit in unserem Land. ({6}) Einige konkrete Vorschläge will ich hier anreißen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Veit?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr, Kollege. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Dann der Kollegin Sonntag-Wolgast?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, Entschuldigung, wir hatten uns in etwa zeitgleich von unseren Plätzen erhoben. Der Kollege Veit ist so freundlich, mir den Vortritt zu lassen. Ich fasse mich auch relativ kurz. Herr Kollege, vor dem Hintergrund Ihrer Forderungen an das dritte Sicherheitspaket möchte ich Sie an das Gespräch heute Mittag mit einem amerikanischen Kongressabgeordneten, einem Vertreter der Republikaner, erinnern. Er hat uns auf solche Fragen hin ausdrücklich gesagt, die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den USAbei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus könne überhaupt nicht besser sein. Weitere gesetzliche Maßnahmen halte er im Moment nicht für notwendig. ({0}) Sie waren dabei, Herr Kollege. Sie erinnern sich sicher.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich war bei dem Gespräch zugegen, Frau SonntagWolgast. Die Amerikaner sind höfliche Menschen. ({0}) Jeder hier im Raum und auch in der deutschen Öffentlichkeit weiß, dass das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere ihres Bundeskanzlers zu den Amerikanern, namentlich zum amerikanischen Präsidenten, so gut ist, dass es besser nicht sein könnte. ({1}) Ich glaube, hieran haben Sie noch zu arbeiten. ({2}) - Wenn Sie zugehört hätten, Herr Kollege, hätten Sie sie gehört. Wir haben einige spannende Fragen erörtert. Sie haben sicher davon gelesen: In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es ein neues Ministerium, ein Heimatschutzministerium, welchem eine wichtige Bündelungsfunktion Konzentration und Koordination - für den Bereich der inneren Sicherheit in diesem Land zukommt. Es hat ein Budget von 40 Milliarden US-Dollar und 170 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn ich mir ansehe, was in den USA seit dem 11. September gegangen ist, und überlege, was gerade die Fraktionen von Rot und Grün seit dem 11. September an Notwendigem in diesem Land blockiert haben, ({3}) dann komme ich zu dem Schluss, dass es große Unterschiede zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland gibt: ({4}) Dazu gehört erstens die falsch verstandene Toleranz von Rot-Grün gegenüber extremistischen Ausländern in Deutschland. ({5}) Daraus resultiert eine zu laxe Haltung in den Fragen des Aufenthaltsstatus, der Bleiberechte, der Einbürgerung und der Ausweisung. Eine Katze mit Handschuhen fängt keine Mäuse. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Veit?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nachdem der Kollege Veit seine Meldung zu einer Zwischenfrage eben zurückgezogen hat, ({0}) würde ich jetzt gern meine Gedanken zu Ende führen. Vielleicht beantwortet sich das eine oder andere dann auch von selbst, Herr Kollege. ({1}) Wir wollen nicht, dass Terroristen bei uns ungehindert einreisen können. ({2}) Wir wollen, dass diejenigen, die bereits bei uns sind und dem religiösen Fanatismus zuzurechnen sind, außer Landes verwiesen werden können. Sie haben hier nichts verloren. ({3}) Zweitens. Das von der rot-grünen Bundesregierung reformierte Staatsangehörigkeitsrecht steht der Ausweisung von gewaltbereiten Extremisten natürlich diametral entgegen. ({4}) Es ist kein Geheimnis, dass gewaltbereite Islamisten vermehrt unter dem Deckmantel der deutschen Staatsangehörigkeit agieren. Rot-Grün hat dies durch das neue Staatsangehörigkeitsrecht in großem Maß ermöglicht. ({5}) Es ist eine Tatsache, dass wir all die nun Eingebürgerten, selbst dann, wenn es sich um Terroristen handeln sollte, nie wieder loswerden. Die Straftat mag noch so groß sein, sie bleiben dieser Republik auf ewig als Staatsbürger erhalten. Wir sollten einmal ganz vorbehaltlos prüfen, meine ich, ob der Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft ({6}) für hier eingebürgerte Doppelstaatler, die eine terroristische Vereinigung im In- oder Ausland unterstützen, eine Rechtsfolge sein kann. ({7}) Wir wollen jedenfalls nicht, dass Terroristen unter dem Deckmantel deutscher Staatsangehörigkeit gegen diesen Staat oder gegen andere Staaten der freien Welt agieren können. Deswegen müssen wir auch eine Debatte über den Verlust der Staatsangehörigkeit für terroristische Doppelstaatler führen. Drittens. Ein Trauerspiel gibt es beim Thema fälschungssichere Ausweis- und Visapapiere. ({8}) Wann endlich lassen SPD und Grüne zu, dass biometrische Daten in Ausweispapieren und Visumsverfahren aufgenommen werden, so wie es die Sicherheitsexperten händeringend wünschen und andere Länder im Übrigen machen? Außer Ankündigungen im Sicherheitspaket II ist nichts geschehen. ({9}) Ich sage Ihnen mit einem bekannten Berliner, mit Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes - außer: Man tut es. ({10}) Ganz duster, um nicht zu sagen: zappenduster, sieht es diesbezüglich im Haushalt aus. Mindestens 13 Millionen Euro wollte das BMI eigentlich für die Biometrie etatisieren. Schily ist jedoch bei Eichel eingeknickt. Für das nächste Jahr sollen gerade mal 1,5 Millionen Euro veranschlagt werden. Das ist zu wenig. ({11}) Das heißt: Im nächsten Jahr wird die rot-grüne Bundesregierung weiter dulden, dass mit gefälschten Ausweispapieren und falschen Visapapieren in Deutschland großer Schaden und größte Gefahr im Bereich der inneren Sicherheit bestehen bleiben und entstehen werden. ({12}) Viertens. Zu einer neuen umfassenden Sicherheitsarchitektur gehört freilich, dass wir zu einer stärkeren Bündelung, Integration und Konzentration auch bei den Sicherheits- und Katastrophenschutzbehörden kommen. Auch hierzu werden wir Vorschläge machen. Fünftens. Für die Rolle der Bundeswehr in unserem Staat gilt auch: Wir werden neu darüber nachdenken. ({13}) Wenn Bremens Innensenator Böse - der Bundesinnenminister hat ihn bereits erwähnt - bei der morgen tagenden Innenministerkonferenz den Einsatz der Bundeswehr im Innern zum Schutz vor Terroranschlägen vorschlagen will, dann hat er doch nur Recht. Als Polizeisenator weiß er, dass seit dem 11. September, gerade was den Polizeiobjektschutz angeht, eine völlig neue Situation da ist. Deswegen brauchen wir auch eine Neuorientierung der zivilmilitärischen Zusammenarbeit. Wer es, wie offensichtlich Thomas Strobl ({14}) Thomas Strobl ({15}) der bremische Innensenator, mit der Sicherheit der Menschen in diesem Land ernst meint, der weiß, dass an einem Einsatz der Bundeswehr im Innern bei entsprechenden Gefahrenlagen kein Weg vorbei führt. Auch der Zivil- und Katastrophenschutz ist von eminent wichtiger Bedeutung. ({16}) Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir einem Anschlag wie beispielsweise auf Bali oder in Mombasa gewachsen wären. Experten auf diesem Gebiet sagen mir, dass der Katastrophenschutz insgesamt zu schlecht ausgestattet ist und dass wir, insbesondere für die Ausrüstung, dringend mehr Mittel etatisieren müssten. ({17}) Noch schlimmer ist - dies haben mir Experten auf meine Frage, was passiert, wenn bei uns etwas passiert, wenn der Terror zuschlägt, geantwortet -, dass in einem solchen Fall nichts geschehen würde, außer dass erst einmal 48 Stunden um Kompetenzen gerangelt würde. ({18}) Deswegen brauchen wir eine neue Sicherheitsarchitektur. Wir brauchen eine Reorganisation, eine Reform und eine Optimierung im Zivil- und Katastrophenschutz. ({19}) Ich mache Ihnen das an einem Beispiel deutlich. Bei einem Angriff mit Pockenviren müsste der Bundesinnenminister erst mit Ministerin Schmidt - das ist die Dame, die mit großer Sach- und Fachkunde die Gesundheitspolitik in diesem Lande verwaltet ({20}) die Kompetenzen klären. Besser wäre es übrigens, man würde schon jetzt, wie andere Länder auch, zum Schutz der Bevölkerung vorsorgen. Die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Kollegen Koschyk zeigt, dass davon in keiner Weise die Rede sein kann.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reichenbach?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte, auch aufgrund der fortgeschrittenen Redezeit, zum Ende kommen. ({0}) Aber nicht nur in der horizontalen Kompetenzverteilung gibt es Probleme, auch hinsichtlich der vertikalen Kompetenz der Länder für den Katastrophenschutz müssen wir umdenken. Der Bund braucht bei einer Bedrohung aus terroristischen Angriffen eindeutig mehr Mitverantwortung. Er muss verstärkt Verantwortung übernehmen, und zwar auch in den Fällen, die nicht eindeutig als Verteidigungsfall im herkömmlichen Sinne einzustufen sind. Die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen muss bei großflächigen Gefahren oder Gefahren von nationaler Bedeutung optimiert werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Strobl, Ihre Redezeit ist nun wirklich überschritten.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Bedrohungssituation stellt, so schlimm sie auch sein mag, eine Chance dar, um überkommene Strukturen zu hinterfragen und um eine neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung, der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, durchzusetzen. Herr Bundesinnenminister, es ist höchste Zeit: Nutzen Sie diese Chance! ({0}) Reden Sie nicht nur, handeln Sie! Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an den Kollegen Otto Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Strobl, von Montesquieu gibt es den schönen Satz, dass manche Menschen ihre Vorurteile mehr lieben als die Wirklichkeit. So ist das auch bei Ihnen. ({0}) Ich muss feststellen, dass Sie das, was Sie eben gesagt haben, aus dem Plattenschrank geholt haben. Was Sie hier zu bieten hatten, war nicht sehr kurzweilig. Zum Thema Office of Homeland Security. Ich habe mich mehrfach mit Tom Ridge getroffen. Er bestätigt das, was Ihnen Herr Sensenbrenner heute gesagt hat, dass nämlich die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland nicht besser, enger und vertrauensvoller sein könnte. Nehmen Sie das zur Kenntnis und lassen Sie das dumme Geschwätz, das Sie uns bei diesem Punkt eben am Pult geboten haben! ({1}) - Das muss ich hier in aller Klarheit sagen. Sie sind auf die 170 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sprechen gekommen, die dieses Ministerium hat. Das Bundesministerium des Innern, das, wie Sie richtig erkannt haben, wahrlich nicht allein für die Gewährleistung der inneren Sicherheit zuständig ist, verfügt allein über 60 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dabei sind wir ein wesentlich kleineres Land als die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie haben über Einbürgerung gesprochen. Kennen Sie eigentlich die Fälle, um die es sich handelt? Das sind Einbürgerungsverfahren, die zu Ihrer Regierungszeit zustande gekommen sind. ({2}) Wir haben das Einbürgerungsrecht so verändert, dass Personen, die eine Gefahr für die innere Sicherheit unseres Landes darstellen, nicht mehr eingebürgert werden können. Sie haben dieses Einbürgerungsgesetz abgelehnt. Das ist der Sachverhalt. Sie reden über Biometrie und machen dazu allgemeine Ausführungen, wissen aber offenbar gar nicht, was vor sich geht. Die deutsche Bundesregierung ist es, die auf der europäischen Ebene vorangeht und entsprechende Vorschläge macht. Allerdings haben wir in Europa nicht allein zu bestimmen. ({3}) - Druck machen wir, das können Sie mir glauben. Aber es ist nicht so, dass man nur mit den Fingern zu schnippen braucht und schon geht es in Europa voran. Aber immerhin haben wir schon durchgesetzt, dass in ein Visum ein Lichtbild integriert wird. Wenn Sie die Zeitung lesen würden, dann hätten Sie gewusst, dass, wie ich kürzlich vorgestellt habe, wir als erstes Land diese europäische Regelung durchsetzen. Das ist ein großer Fortschritt, zu dem uns Herr Sensenbrenner - Sie haben ihn gerade kennen gelernt - gratuliert hat. Verwechseln Sie doch bitte nicht wie Ihr Kollege Bosbach dauernd Fälschungssicherheit und Identifizierungssicherheit. Das sind zwei Paar Schuhe. Fälschungssichere Papiere im optimalen Standard stellen wir schon heute her. Besuchen Sie doch einmal die Bundesdruckerei! Es kann nicht schaden, sich das einmal anzusehen; sie ist hier in der Nähe. Sie werden feststellen, dass wir auf dem Gebiet der Fälschungssicherheit den höchsten Standard in der Welt haben. Wir müssen allerdings durchsetzen, dass dieser Standard auch anderswo gilt. Über dieses Thema habe ich mich mit Herrn Sensenbrenner und anderen unterhalten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schily, die drei Minuten für Ihre Kurzintervention sind abgelaufen.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verwechseln Sie nicht Ihre Vorurteile mit der Wirklichkeit. Dann kommen Sie auch in der Innenpolitik besser zurecht, Herr Kollege Strobl. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Strobl, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesinnenminister, ich verstehe Ihre Aufregung nicht. Aber ich sage ganz klar: Der Dank an Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war ernst gemeint. Erstens, zur Zusammenarbeit mit den USA. Die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden beider Länder bzw. den politisch Verantwortlichen in den USA und Ihnen kritisieren wir überhaupt nicht. Ich habe lediglich die Mängel ganz konkret angesprochen. Insofern haben Sie hier einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet, über den wir eigentlich keinen Streit haben. ({0}) Zweitens, zur Biometrie. Wir finden, dass das Ganze ein bisschen langsam geht. Herr Bundesinnenminister, wir wissen - ich vermute, Ihre Erregung rührt daher -, dass Sie ursprünglich etwas anderes wollten, aber dass insbesondere die Kolleginnen und Kollegen um den Kollegen Ströbele das verhindert haben, was Sie richtigerweise durchsetzen wollten. ({1}) Dass gerade in diesem entscheidenden Punkt die Mittel - wir sind in der Haushaltsberatung - auf einen Bruchteil dessen, was Sie ursprünglich in den Haushalt für 2003 einstellen wollten, zusammengekürzt worden sind, spricht wirklich Bände. Drittens, zum Staatsangehörigkeitsrecht. Herr Bundesinnenminister, es kann doch nicht ernsthaft ein Streit darüber bestehen, dass das neue Staatsangehörigkeitsrecht in großem Maße die Möglichkeit bietet, Doppelstaatsbürgerschaften zu erwerben. ({2}) - Aber natürlich ist das so. Die Zahlen sind doch eindeutig. Sie sind von ungefähr 13 Prozent auf jetzt über 40 Prozent angestiegen. Man muss sich nur einmal die Zahlen anschauen. ({3}) Dabei ist es das erklärte Ziel des neuen Staatsangehörigkeitsrechts - das kann man ja durchaus haben -, dass der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert werden soll. Dass Sie dadurch natürlich auch denjenigen, die dem terroristischen Umfeld angehören, eine solche Möglichkeit eröffnen, ist klar. ({4}) Dort, wo die SPD in den Ländern Regierungsverantwortung trägt - beispielsweise in Berlin -, haben Sie eine Thomas Strobl ({5}) Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden nicht hinbekommen. ({6}) Sie haben es bis heute bundesweit nicht durchsetzen können, dass bei jedem Staatseinbürgerungsverfahren eine Regelanfrage bei den entsprechenden Diensten gemacht wird. Das Problem ist, dass die entsprechenden Maßnahmen aus reiner Ideologie nicht ergriffen werden. Ich möchte Ihnen persönlich schon zugestehen, dass Sie es gerne sähen, wenn diese Regelung bundesweit praktiziert würde und wir bei Einbürgerungsverfahren wenigstens die Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden hätten. Leider ist es bei Rot-Grün so, dass Ihnen hier wie auch in anderen Punkten die notwendige Unterstützung versagt bleibt. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin in der Debatte ist Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde versuchen, wieder etwas Ruhe und Sachlichkeit in diese aufgeregte Debatte zu bringen. Beginnen wir damit: Die Gewährleistung der Sicherheit ist eine elementare Staatsaufgabe. - Diesem Satz kann sicherlich jedes Mitglied dieses Hauses und jede Fraktion zustimmen. Meine Damen und Herren von der CDU, Sie versuchen zwar immer wieder, es so darzustellen, aber es trifft trotzdem nicht zu, dass Sie sozusagen den Kampf gegen den internationalen Terrorismus gepachtet haben, während wir, die Fraktion der Grünen, die Blockierer sind und die SPD deswegen ihre Aufgaben nicht wahrnehmen kann. Wir haben damals, als es um das Sicherheitspaket ging, auch in den Expertengesprächen sehr genau abgewogen, ob die von den politischen Parteien und von Experten vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich geeignet waren, einen Beitrag zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu liefern. Diese Arbeit werden wir in aller Ruhe fortsetzen. Meine Damen und Herren, Sie wissen doch genau, dass die Vorschläge, die Sie jetzt wiederholen, einen langen Bart haben. Mir sind Ihre Vorschläge seit Beginn dieser Auseinandersetzung bekannt. ({0}) - Ich erläutere Ihnen gleich, weswegen sie falsch sind. Teilweise ist Ihnen bereits nachgewiesen worden, dass Ihre Vorschläge verfassungswidrig sind. Ich höre gern zu und bin auch bereit, Vorschläge aus einer konservativen Innenpolitik aufzugreifen. Ich habe aber immer mit konservativer Innenpolitik in Verbindung gebracht, dass Sie ein Gefühl dafür haben, dass in einem demokratischen Rechtsstaat nicht alle Mittel erlaubt sind. Sie waren in den 70er-Jahren diejenigen, die uns vorgeworfen haben, wir hätten uns verfassungswidrig verhalten. Heute sitzt auf Ihrer Seite eine Fraktion von Verfassungsfeinden; denn Ihre Vorschläge verstoßen in jedem einzelnen Punkt gegen die Grundwerte, von denen Sie selbst ausgehen. ({1}) Das haben wir auch heute wieder gehört: Sie fordern die Türken auf, sich an die deutsche Kultur und an die deutsche Verfassung zu halten. Dabei stellen Ihre eigenen Vorschläge elementare Verfassungsverstöße dar. ({2}) Ich bin nicht bereit, mich weiter damit auseinander zu setzen. ({3}) Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen in einem anderen Punkt durchaus Recht. Im Bereich der inneren Sicherheit gibt es tatsächlich noch Reformbedarf. Ich merke zu diesem Haushaltsplanentwurf kritisch an: Aus den Aufwüchsen, die hier eindrucksvoll geschildert worden sind, können im Laufe dieser Legislaturperiode wirklich keine Auswüchse werden. Deshalb setzen wir Grüne einen deutlichen Schwerpunkt darauf, im Bereich der gesamten Sicherheitsbehörden zu prüfen, an welchen Stellen die Strukturen - auch in der internationalen Zusammenarbeit - nicht mehr sachgerecht sind und wo es zu Reibungsverlusten durch Zersplitterung oder doppelte Aufgabenwahrnehmung kommt. Mir geht es nicht darum, über das zu diskutieren, was wir schon vor dem Bundestagswahlkampf vorgeschlagen haben. Vielmehr würde ich gern über die zukünftigen Aufgaben diskutieren. Ich würde gern die Frage erörtern, was der Beschluss hinsichtlich des Aufbaus einer europäischen Grenzpolizei für den BGS konkret bedeutet. Auch die Konzepte zu den Krisenreaktionskräften und den Aufbau einer europäischen Polizei würde ich gern diskutieren. Dabei handelt es sich um Beschlüsse des Europäischen Parlaments, aus denen sich Zukunftsaufgaben ergeben, zu denen Sie aber keine Vorschläge einbringen. ({4}) Sie wollen das auch gar nicht. Ihre Vorschläge, zum Beispiel hinsichtlich des Einsatzes der Bundeswehr im Innern, stammen aus den 80er-Jahren. Ich überlasse die Diskussion über die Bundeswehr gern dem Verteidigungsausschuss. Wir brauchen einen solchen Einsatz der Bundeswehr in Deutschland nicht. Das wäre nur ein weiteres Vorhaben, das gegen die Verfassung verstößt. ({5}) Da ich nicht bereit bin, meine ganze Redezeit damit zu verschwenden, mich über Ihre absurden Vorschläge auszulassen, möchte ich einen weiteren Punkt ansprechen, der uns besonders wichtig ist. Wir haben in dem vorliegenden Haushaltsentwurf 169 Millionen Euro für Maßnahmen der Integration und der Sprachförderung eingestellt. Genau darum und nicht um die alten Fragen des Staatsbürgerschaftsrechts - ich nenne nur das Stichwort „Doppelpass“ - geht es jetzt. Lassen Sie uns doch die Zukunftsaufgaben gemeinsam bewältigen. Wir befinden uns schließlich in einer Situation, in der wir einige Punkte tatsächlich gemeinsam angehen müssen. Die Zukunftsaufgabe lautet: Wie können wir die bereits in Deutschland lebenden Zugewanderten und diejenigen, die noch zu uns kommen werden, integrieren und wie können wir ihnen durch mehr Sprachförderung eine soziale Perspektive in unserem Land bieten? ({6}) Ihre Politik der Stigmatisierung und Ausgrenzung vergrößert letztendlich die Risiken für die innere Sicherheit. ({7}) Sie leisten keinen Beitrag zu mehr Sicherheit. Sie leisten vielmehr einen Beitrag zu einer unsicheren und in sich gespaltenen Gesellschaft. Ich bedauere es, dass in manchen Bereichen des vorliegenden Haushaltsentwurfs so viele Mittel bereitgestellt werden müssen. Ich möchte zwei Bereiche ansprechen. Es ist nach wie vor erforderlich, jüdische Einrichtungen in Deutschland zu schützen. Ich habe es ganz besonders bedauert, dass die FDP, deren Fraktion nur noch spärlich vertreten ist, weil sich ihre Mitglieder kaum noch in den Plenarsaal trauen, und die einst eine liberale Bürgerrechtspartei war, heute durch die Folgen eines skandalösen antisemitischen Wahlkampfes gelähmt ist. ({8}) Eine solche Politik ist kein Beitrag zu mehr innerer Sicherheit. Sie führt vielmehr dazu, dass wir den Objektschutz von jüdischen Einrichtungen sicherstellen müssen. Ich finde es unerträglich, dass jüdische Kinder in Deutschland in Kindergärten gehen müssen, die von der Polizei geschützt werden. Nicht darüber, wie wir ein solch Klima verschärfen können, sondern darüber, wie wir es entschärfen können, möchte ich mir Gedanken machen. ({9}) Nur wer sich der Vergangenheit stellt, kann die Zukunft bewältigen. Ich möchte damit auf ein weiteres Thema eingehen, das mir persönlich sehr am Herzen liegt. Wir wollen uns nicht der kilometerlangen Regale mit Akten voller unschöner Erinnerungen entledigen, die in der BirthlerBehörde auf weitere Aufarbeitung warten. Es darf auch keine Verschlusssache Kohl geben. Es hat ja ein paar kluge Köpfe in der CDU/CSU gegeben - schade, dass Herr Schäuble nicht anwesend ist - , die durchaus mit uns einer Meinung waren. Wir streiten für die Fortsetzung der mutigen Arbeit von Marianne Birthler. Wir werden sehr genau darauf achten, dass ihr nicht auf kaltem Weg, durch den Entzug von Haushaltsmitteln, die Arbeit weiter erschwert wird. ({10}) Das Gleiche gilt auch für die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Entschädigungsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter durch das Einstellen entsprechender Haushaltsmittel fortgesetzt werden. Ich möchte mit folgendem Hinweis enden: Vor dem Gebäude, in dem die Innenministerkonferenz tagen wird, werden wahrscheinlich sehr viele Menschen - aus guten Gründen - demonstrieren. Weil ich mich leider mit Ihrer - beinahe hätte ich gesagt: absurden - Rede auseinander setzen musste, konnte ich nicht mehr auf den vorhandenen Reformbedarf im Bereich des öffentlichen Dienstrechts und des Beamtenrechts eingehen. Ich würde mich freuen, wenn die Fraktionen ehrlich gemeinte Konzepte dazu auf den Tisch legen würden. Die Menschen, die meiner Meinung nach zu Recht demonstrieren werden - ich meine insbesondere die uniformierten Kolleginnen und Kollegen der GdP aus unserem, dem Bundesbereich -, erwarten von uns eine Antwort. Meine Antwort lautet: Wenn wir im Bereich der Sicherheitsbehörden und des Innenministeriums keine strukturellen Reformen durchführen ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Stokar von Neuforn, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Frau Präsidentin, ich bin bereits bei meinen Schlusssatz -, dann müssen wir bei den Menschen sparen. Das ist nicht gerecht. Wir wollen an den Strukturen sparen und die Menschen im öffentlichen Dienst gerecht, fair und anständig bezahlen. Ich danke Ihnen! ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Stokar, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner - Das war Ihre zweite Rede? Dann habe ich eine Fehlinformation bekommen. Trotzdem: Gratulation. ({1}) Der nächste Redner in der Debatte ist Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat habe ich schon zweimal Gelegenheit gehabt, Frau Stokar zu hören. Des Weiteren war ich vor einer Woche mit ihr bei einer Podiumsdiskussion. Ich konnte feststellen, dass sie eine Meisterin des Konjunktivs ist, weil sie sehr oft die Redewendung „Ich würde gerne über dieses oder jenes Thema reden“ gebraucht, woran sie hier niemand hindert. ({0}) Aber dazu, Frau Kollegin Stokar, wenn Sie in den Indikativ übergehen, muss ich Ihnen, soweit Sie sich mit meiner Partei, der FDP, auseinander gesetzt haben, sagen: Dies ist der Deutsche Bundestag und keine Klischeeanstalt. Bitte denken Sie daran. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Innenminister hat zu Recht gesagt, dass speziell nach dem 11. September 2001 die Gewährleistung der inneren Sicherheit das zentrale Thema der deutschen Innenpolitik ist. Aus der Sicht der FDP ergänze ich - im vermuteten Einverständnis, Herr Schily -: „die Gewährleistung der inneren Sicherheit bei Beibehaltung der inneren Liberalität“, auf die wir zu Recht stolz sind. Ich habe dazu schon oft die Grundposition der FDP dargestellt, sodass ich es bei Stichworten belassen möchte, um noch auf einige andere Punkte zu sprechen zu kommen. Die Grundposition der FDP zur inneren Sicherheit ist: Es gilt vor allem, Praxisdefizite zu beseitigen. Wir brauchen eine optimale Ausstattung der Sicherheitsbehörden. Die FDP unterstützt notwendige Gesetzesänderungen. Aber wir reichen nicht die Hand, wenn dem Haus Unverhältnismäßiges vorgeschlagen wird. Es gibt Vorschläge des bayerischen Innenministers Beckstein von gestern, und zwar sowohl im zeitlichen als auch im übertragenen Sinne. Das bayerische Kabinett hat gestern die ganze Palette dessen, was hier zu Recht schon einmal abgelehnt worden ist, wiederholt, nämlich Bundeswehreinsatz nach innen, Ausweisung bei Verdacht usw. Darüber - das haben Sie, Herr Kollege Strobl, ja schon angekündigt - werden wir uns hier wieder im Detail auseinandersetzen müssen. Ich möchte - wie gesagt - noch auf einige andere Punkte, die nach Auffassung der Liberalen auch wichtig sind, zu sprechen kommen. Erstens. Die deutsche Innenpolitik wird ja - wie andere Politikbereiche auch - zu einem großen Teil von der EU vorgegeben und bestimmt. ({2}) Jetzt liegt ein Vorschlag vor, dass zum Beispiel die Asylund Migrationspolitik der Mehrheitsentscheidung im EU-Ministerrat unterliegen soll. Umso wichtiger ist es, dass sich die deutschen Innenpolitiker im Bundestag, dass sich das Parlament in diese Diskussionen, die im EU-Ministerrat geführt werden, in geeigneter Weise einschaltet. Darum suchen wir im Innenausschuss seit langem um die geeignete Form. Ich möchte den Kollegen Koschyk von der CDU ausdrücklich dafür loben, dass er eine neue Initiative ergriffen hat, damit zum Beispiel nicht mehr das passiert, was wir noch unter der früheren Regierung bei dem Thema Europol erlebt haben. Europol ist eine begrüßenswerte Einrichtung. In der Ausgestaltung ist jedoch eine Immunitätsregelung für Polizeibeamte getroffen worden, die im Dienst Straftaten begangen haben, die dem deutschen Recht völlig fremd ist. Man war dann in der Situation, wegen dieses einen Punktes nicht das gesamte Projekt ablehnen zu können. Daher ist es ein wichtiger Beitrag zur Beseitigung des Demokratiedefizites in der EU, wenn sich das deutsche Parlament nach dem Vorschlag Koschyks stärker einschaltet. ({3}) Meine Damen und Herren, zweite Anmerkung. Die EU ist für viele Bürger weit weg. Die Entscheidungen der Kommunalpolitik spüren sie hingegen am eigenen Leibe. Aufgrund Art. 28 Abs. 3 des Grundgesetzes Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung - ist es eine Aufgabe des Bundesinnenministers und des Innenausschusses, darauf zu achten, dass die dramatische Verschlechterung der finanziellen Situation der Kommunen ein Ende findet. ({4}) Das hat Rot-Grün ja sogar erkannt. Im Koalitionsvertrag von 1998 haben Sie versprochen, tätig zu werden. Geschehen ist jedoch nichts. Erst im März 2002 haben Sie eine Reformkommission eingesetzt, die sich im Mai konstitutiert hat; dies ist viel zu spät. Sie hat jetzt die Vorgabe, bis zur Sommerpause 2003 Vorschläge vorzulegen. So lange können die Kommunen nicht warten. ({5}) Ich will eine kleine Episode einfügen. Ich komme gerade von kommunalen Haushaltsberatungen in einer mittleren Stadt. Wir konnten den Haushalt nur ausgleichen, weil wir Mittel für die neue Grundsicherung, die es ab 1. Januar 2003 geben wird und die die Kommunen in erheblichem Umfang belasten wird, ({6}) aus dem Haushaltsentwurf herausgestrichen haben. Denn der Münchner Oberbürgermeister Ude von der SPD hat Herrn Eichel geschrieben. Herr Eichel hat geantwortet: Diese Mittel würden den Kommunen vollständig ersetzt. Wir mussten also, um unseren Haushalt auszugleichen, so tun, als ob wir Herrn Eichel glauben würden. So dramatisch ist die Situation. ({7}) Frau Stokar hat im sachlichen Teil ihrer Rede kurz die Beamtenpolitik angesprochen. Ich bin der Auffassung, dass die Aufgabenkritik auf allen staatlichen Ebenen und in den Kommunen gerade bei der jetzigen Finanznot noch nicht zu Ende sein kann. Aber da, wo wir weiterhin aus guten Gründen Beamte beschäftigen, muss der öffentliche Dienst attraktiv bleiben, damit wir einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst behalten. Nehmen wir die Aktion der GdP vielleicht nicht zu ernst, aber der Kern dessen muss uns schon zu denken geben, nämlich dass von seiten der Bundesregierung laufend Vorschläge kommen, die die Beamtenschaft, etwa die Polizeibeamten, die nun wirklich staatstragend sind, verunsichern. Eine 30-prozentige Kürzung des Weihnachtsgeldes hat Herr Eichel in Aussicht gestellt. ({8}) Herr Dr. Wiefelspütz sagt, das sei unverantwortlich, das werde man auf keinen Fall mitmachen. Ich erinnere an die Debatte über die Öffnungsklausel - das ist jetzt auch eine reine Sparmaßnahme -, bei der von den Fraktionen von Rot-Grün bisher eine klare Position fehlt. Da meine Zeit beinahe abgelaufen ist, ({9}) darf ich noch eine Bitte an Sie äußern. Das wichtige Thema „direkte Demokratie“ sollte nicht wieder so verschenkt werden wie in der letzten Legislaturperiode, ({10}) als Sie sich intern nicht einigen konnten und viel zu spät einen Vorschlag vorgelegt haben. Machen Sie rechtzeitig einen vernünftigen ersten Schritt im Sinne der Volksinitiative, dem dann vermutlich alle zustimmen können. ({11}) Herr Minister Schily, Sie haben von der liberalen Opposition den Anspruch darauf, konstruktive Zusammenarbeit erwarten zu dürfen, aber auch und vor allem konstruktive Kritik. Beides werden Sie wieder bekommen. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Freitag, SPD-Fraktion.

Dagmar Freitag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002655, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Koalitionsvereinbarung steht: Die Förderung des Spitzensports wird auf hohem Niveau fortgesetzt. Das ist eine klare Aussage. Der heute vorliegende Entwurf, Herr Minister, zum Einzelplan 06 wird dieser Aussage zweifellos und deutlich gerecht. Ich stelle also fest, dass die Ausgaben in wesentlichen Bereichen gegenüber dem Haushalt 2002 steigen. Ich nenne nur die zentralen Maßnahmen, die sportwissenschaftlichen Institute und den Sportstättenbau für den Hochleistungssport. Wir konnten nachlesen, dass es der Union wieder einmal nicht gut genug ist. Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, ist aber auch bekannt, dass der Sport in genau diesem von mir gerade genannten Bereich seinen notwendigen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leistet. Dieses Vorgehen ist im Übrigen mit dem Deutschen Sportbund abgestimmt. Ich spreche eigentlich den leider nicht anwesenden Kollegen Riegert an. Er weiß es ganz genau, aber er behauptet in seinen Pressemitteilungen grundsätzlich etwas anderes. Unser Dank, meine Damen und Herren von der Union, geht ausdrücklich an den Deutschen Sportbund, der konstruktiv mitarbeitet und nicht grundlos nörgelt. ({0}) Von dieser Haltung sind Sie allerdings leider meilenweit entfernt. ({1}) Lassen Sie mich noch einige weitere Anmerkungen machen. Für die zentralen Maßnahmen - für den deutschen Sport ein ganz wichtiger Bereich - werden 2003 mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden. Diese Steigerung kommt im Übrigen auch den Olympiastützpunkten zugute. Ich empfehle wirklich dringend, in Zukunft vor Abgabe von Pressemitteilungen einfach nur in den Haushalt hineinzuschauen. Dann könnte man sich manche Peinlichkeit ersparen. ({2}) Das gilt im Übrigen auch für die Aussagen der Union über den leistungsbezogenen Behindertensport. Hier steigen auch im kommenden Jahr die Ausgaben - diese Zahlen sollten Sie sich wirklich gut anhören - um rund 500 000 Euro auf fast 4,4 Millionen Euro. Von der Zahl her ist das annähernd der Betrag, den es 1998 von der Regierung Kohl gegeben hat, allerdings in D-Mark. Da stellen Sie sich hin und erwecken den Eindruck, der Behindertensport könne sein Behindertensportkonzept nicht umsetzen. Mit solchen Sprüchen tun Sie dem DBS wahrlich keinen Gefallen. Wir werden den „Goldenen Plan Ost“ fortsetzen. Zahlreiche Projekte wurden mit dem Geld dieses Plans bereits verwirklicht. Wir werden weiterhin dazu beitragen, dass in den neuen Bundesländern entsprechende Sportstätten gefördert werden. Dazu ist der „Goldene Plan Ost“ unverzichtbar. ({3}) Die Sportförderung des BMI kann sich sehen lassen. Das weiß eigentlich jeder; nur die Opposition versteht es nicht. Das ist kein Wunder, wenn man bei den entscheidenden Debatten im Plenum nicht anwesend ist. Der deutsche Sport versteht es allerdings schon und auf dessen Urteil legen wir in diesem Fall - sehen Sie es uns nach einfach mehr Wert. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Jaffke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Freitag, ich werde auf das Thema Sport nicht zu lange eingehen. Ich möchte Sie - Sie sind schon in der dritten Wahlperiode Abgeordnete dieses Parlaments - allerdings an eines erinnern: Das, was im Etat steht, und das, was hinterher vollzogen wird, ist immer noch zweierlei. ({0}) Ich bin seit 1990 Mitglied im Haushaltsausschuss und kann davon ein Lied singen. Niemand in diesem Hohen Hause wird wohl ernsthaft in Zweifel ziehen, dass Sicherheit ihren Preis hat. So vermittelt auch der Haushalt des Bundesinnenministeriums vom äußeren Erscheinungsbild her den Eindruck einer soliden Finanzausstattung. ({1}) Er wächst um 9,8 Prozent auf. Sie werden gleich hören, warum ich das anmahne. Seit dem 11. September 2001 gibt es keine veröffentlichte Meinung, die für Sicherheit benötigte Gelder - sei es durch die Erhöhung der Tabaksteuer, der Versicherungsteuer oder welcher Steuer auch immer - infrage stellt. „Freudige Zahlungsbereitschaft“ aller Bürger begleitet unsere innere Sicherheit. Doch auch die fürchterlichen Ereignisse, die seit dem 11. September allabendlich als Hiobsbotschaften in unsere Wohnzimmer flimmern - seien es Anschläge in Djerba, in Kenia, in Afghanistan, in Israel, auf Bali oder wo auch immer -, sollten uns nicht dazu verleiten, mit der Schwerpunktsetzung im Haushalt des Bundesinnenministeriums unkritisch umzugehen. Selbstverständlich darf man nicht übersehen - jetzt komme ich darauf zurück, Herr Kollege -, dass über allen Etatansätzen eine globale Minderausgabe von 1,5 Milliarden Euro schwebt, die nicht ausgeplant ist und die auch den Bundesinnenminister treffen kann - es sei denn, die Mehrheiten, die Sie stellen, wissen das zu verhindern, was ich mir wünsche. Lassen Sie mich einige Gedanken zur Problematik der Sicherheit an der derzeitigen EU-Außengrenze ausführen, einem Gebiet, das von der Bundesregierung oft sträflich vernachlässigt wird, ({2}) obwohl es nur wenige Kilometer von hier entfernt ist. Seit wenigen Wochen ist beschlossen, dass die Republiken Polen und Tschechien, wie andere MOE-Staaten, ab 2004 zur Europäischen Union gehören werden. Sicher ist allen Beteiligten klar, dass die Grenzen damit nicht automatisch offen sein werden. Eine Freizügigkeit ohne jegliche Kontrolle wird nicht sofort stattfinden. Sicher ist allen auch klar, dass die Bedingungen des Schengener Abkommens durch die jungen Demokratien nicht sofort umsetzbar sind. Gestatten Sie hier die Frage: Warum wird dann in dem Haushaltsentwurf 2003 der Etatansatz zur Unterstützung der polizeilichen Ausbildung und Ausstattung in den MOE-Staaten zurückgeführt? Ist es nicht dringlicher, gerade jetzt die Anstrengungen zu verstärken, damit die Schengen-Standards auch in den östlichen Ländern schnell erfüllt werden können? Wie selbst Staatssekretär Körper auf eine schriftliche Anfrage bestätigt, werden in den nächsten fünf Jahren auch wesentliche Veränderungen in der Organisationsund Einsatzstruktur des BGS unausweichlich sein. Deshalb hier einige Anmerkungen. Wie konsequent wird zum Beispiel die digitale Funktechnik in den Einsatzfahrzeugen eingeführt? Der derzeitige Ausstattungszustand wird den modernen Erfordernissen nicht gerecht. ({3}) Fahndungsabfragen bzw. Überprüfungen bei Aufgriffen vor Ort an der grünen Grenze sind ohne eine solche Technik nicht möglich. Der Minister hat darauf verwiesen und bittet Sie um Unterstützung. ({4}) Selbstverständlich wird sich eine Verringerung der Personenkontrollen an der Außengrenze als stationäre Kontrolle ergeben und selbstverständlich wird das zu einer Ausweitung der so genannten räumlichen Kontrolle führen. Aber soweit ich von meinen BGS-Beamten vor Ort informiert bin - ich habe nun einmal in meinem Wahlkreis die gesamte EU-Außengrenze des Landes Mecklenburg-Vorpommern, die in zwei BGS-Bereiche aufgeteilt ist; ich habe das große Vergnügen, Bereiche der EU-Außengrenze durch den BGS Nord und durch den BGS Ost betreut zu wissen -, sind weder technische noch personell-strategische Schritte unternommen worden, um die Beamten, die vor Ort ihren Kopf und ihre Schienbeine hinhalten, auf diese neuen Herausforderungen vorzubereiten. ({5}) Im Übrigen: Eine Diskussion um Streichung, Kappung, Halbierung oder Ähnliches von Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld oder was auch immer befördert nicht die Einsatzfreude unserer Beamten, sondern eher Gleichgültigkeit gegenüber dem Dienstherrn. Lassen Sie mich an dieser Stelle auch erwähnen - vielleicht ein wenig berufsbedingt veranlasst -, dass die Ausstattung an dieser sensiblen grünen Grenze mit den sehr nützlichen vierbeinigen Helfern nicht nur zu gering ist, sondern auch nicht spezifiziert genug. Ich habe erfahren, dass Hundeführerstellen nicht korrekt im Stellenplan ausgewiesen sind. Damit kommen nicht nur zu wenig Hunde zum Einsatz, sondern auch die Aus- und Weiterbildung wird damit gefährdet. ({6}) Soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, gibt es auch nur Rauschgiftspürhunde, keine Sprengstoffspürhunde, was ich für einen Fehler halte, Herr Kollege Hacker, gerade vor dem Hintergrund der eingangs kurz erwähnten Sicherheitsrisiken und der auch von Amts wegen festgestellten Bedrohungslage für Deutschland. Im Übrigen: Wo Geld für Pferde in Berlin ist, sollte auch welches für Rauschgift- und für Sprengstoffspürhunde an der EU-Außengrenze, an dieser sensiblen grünen Grenze, gefunden werden. ({7}) Sie wissen sehr genau, dass die Ströme des unkontrollierten Gutes über diese Grenze zunehmen, vor allen Dingen beim Kinder- und Frauenschmuggel. - Wenn Sie darüber lachen können, Frau Kollegin, ich kann es nicht. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich bitte noch darauf eingehen, dass es seit dem 11. September 2001 auch in unserem Land eine neue Sensibilisierung für den direkten zivilen Schutz der Bevölkerung in unserem Land gibt. Das Technische Hilfswerk, in seiner Zuständigkeit immer nur dann gewürdigt, wenn es sehr erfolgreich im internationalen Einsatz ist bzw. wenn Sturm oder Flug im eigenen Land Katastrophen verursachen, wird nun endlich in seiner materiell-technischen Ausstattung erneuert. ({9}) Ich hoffe, dass dieses Verfahren beibehalten wird. Es ist dringend notwendig. Gleichzeitig haben die Ereignisse im August in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern durch das Jahrhunderthochwasser an Elbe und Nebenflüssen nicht nur dazu geführt, dass eine Welle ungeahnter Solidarität ausgelöst wurde - wofür allen Beteiligten Dank und Anerkennung gebührt -, sondern auch dazu, dass die Überlegungen zur Errichtung einer zentralen Koordinierungsinstanz zur Bewältigung solcher Katastrophen wieder intensiviert werden. Das ist in Ordnung. Ich hoffe, dass die Konzeption bald vorliegt - der Minister hat es versprochen - und deren Umsetzung zügig in Angriff genommen werden kann, ohne dass behördliche oder föderale Eitelkeiten blockierend wirken. Haushaltsansätze in diesem Zusammenhang zu überprüfen und zu verändern ist angesagt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, an gemeinsamen Lösungen im Interesse des Sicherheitsbedürfnisses und Schutzes unserer Bevölkerung ist der CDU/CSU gelegen. So die Vorschläge konstruktiv umsetzbar sind, arbeiten wir daran mit. Ich danke. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beratung des Haushalts des Bundesministeriums des Innern gibt insbesondere zu zwei Dingen Anlass: auf vier erfolgreiche Jahre deutscher Innenpolitik zurückzublicken ({0}) und zugleich einen Blick auf die vor uns liegende Zeit zu werfen. Dabei gilt: Reformwillig- und -fähigkeit sind ebenso Markenzeichen sozialdemokratisch geprägter Innenpolitik wie die sorgfältige Wahrnehmung der Sicherheitsinteressen unseres Landes und seiner Bevölkerung. ({1}) Markenzeichen der Union hingegen scheinen Reformblockade und, wenn man Herrn Strobl zugehört hat, Instrumentalisierung statt Lösung von Problemen zu sein. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich mir eines Tages Herrn Marschewski als Vertreter der Union herbeisehnen würde, ({2}) aber Sie haben mich in diese unvorstellbare Situation gebracht, Herr Strobl. Das muss man schon sagen. ({3}) Ich darf hier an die wichtige und zentrale Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erinnern, die sich nachhaltig positiv auf die Entwicklung unserer Gesellschaft auswirken wird, weil wir Schluss damit gemacht haben, dass die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft auf die Frage der Abstammung reduziert bleibt. Herr Strobl, Sie sollten schon darüber nachdenken, ob Sie diese wichtige Entscheidung grundsätzlich diskreditieren wollen, indem Sie hier Fälle vorführen, die durch das neue Recht weitgehend ausgeschlossen werden, in dem wir nämlich gerade die Maßnahmen zur Sicherheitsüberprüfung im Einbürgerungsverfahren eher verstärkt haben. ({4}) Aber gleichzeitig haben wir gesagt: Die Menschen, die Teil unserer Gesellschaft sind, sollen es in der Tat auch leichter haben, sich über die Einbürgerung zu dieser Gesellschaft bekennen zu können. ({5}) Auch die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes hat Maßstäbe gesetzt, nicht zuletzt, weil es gelungen ist, ein lange Zeit mit viel Ideologie befrachtetes Thema so zu behandeln, dass man mit ihm vernünftig umgehen kann. Wir sind auf das In-Kraft-Treten des neuen Gesetzes vorbereitet. Das kann man auch dem Entwurf des Bundeshaushalts für das Jahr 2003 entnehmen. Allein 169 Millionen Euro werden gemäß dem Haushaltsentwurf für Sprachfördermaßnahmen nach dem neuen Recht zur Verfügung gestellt. Für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das aus dem bisherigen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hervorgeht, sind im Haushaltsentwurf 290 Millionen Euro vorgesehen. Sie können daran sehen, meine Damen und Herren: Reden und Handeln stimmen bei dieser Regierung überein. Für die finanzielle Absicherung der Belange der deutschen Innenpolitik gilt: Auch der Haushaltsplan des Bundesinnenministeriums ist selbstverständlich vom alternativlosen Weg der Konsolidierung des Bundeshaushalts nicht ausgenommen. Aber es gilt genauso, dass gerade in diesem Haushalt in einem besonders akzentuierten Maße Schwerpunkte der Bundespolitik zum Ausdruck kommen. Das gilt insbesondere für den Bereich der inneren Sicherheit und für den Bereich des Katastrophenschutzes. Ich möchte hier ins Gedächtnis rufen, dass der Bundesinnenminister und insbesondere die heutige Bundesjustizministerin und damalige Staatssekretärin im Innenministerium, Frau Zypries, im Sommer überaus erfolgreich mit einem effektiven und unbürokratischen Krisenmanagement den Folgen der Hochwasserkatastrophe begegnet sind. ({6}) Weil es angesprochen worden ist: Die für den Zivilschutz bereitgestellten Mittel wachsen im nächsten Jahr auf 62 Millionen Euro deutlich an und es werden 10 Millionen Euro zur Anschubfinanzierung eines Programms zur Verbesserung der Einsatzfähigkeit des Technischen Hilfswerks bei Hochwasserkatastrophen bereitgestellt. Das darf man auch dann anerkennen, wenn man nicht zur Mehrheit dieses Hauses gehört, weil hier deutlich wird: Deutsche Innenpolitik zeichnet sich aus, weil sie nahe bei den Menschen ist, und vor allen Dingen, weil sie handlungsfähig ist. ({7}) Unsere Innenpolitik orientiert sich am Menschen und deshalb folgen alle Entscheidungen, die wir zum Schutz unseres Staates auf den Weg bringen, dem Leitbild des demokratischen Rechtstaates, der die Grundlage für die Freiheit und Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger ist. ({8}) Auch da kann man Herrn Strobl widersprechen. Freiheit und Sicherheit sind eben keine Gegensätze, sondern das Leben in Freiheit wird erst dann ermöglicht, wenn wir Sicherheit so definieren, dass sie eben Risiken mindert, ohne die Freiheit zu opfern. ({9}) Das ist ein Markenzeichen unserer Politik. Man kann nicht nur als Sozialdemokrat, sondern überhaupt als Demokrat froh darüber sein, dass die CDU/CSU die Bundestagswahl im September eben nicht gewonnen hat. Dem Ziel der Sicherheit dient nicht zuletzt die konsequente Bekämpfung von Extremismus, die ich abschließend ansprechen will. Dabei gilt: Die Unterstützung der politischen Bildung - wir erhöhen beispielsweise die Mittel für die politische Bildungsarbeit der Bundeszentrale für politische Bildung auf 18,2 Millionen Euro im nächsten Jahr - sowie Maßnahmen der Intervention und Prävention sind Querschnittsaufgaben, insbesondere aber Aufgaben der Innenpolitik. Wir werden - ich hoffe, über die Fraktionsgrenzen hinweg - weiterhin sicherstellen, dass in unserem Land Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus entschlossen entgegengetreten wird. ({10}) Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir die Debatte über die Herausforderungen, die sich als Folge des 11. September 2001 ergeben haben, verantwortungsbewusst geführt und deutlich gemacht haben, dass dort der Begriff der Religionsgemeinschaft für abscheuliche Taten missbraucht wurde. Das diskreditiert keine Religionsgemeinschaft, sondern nur diejenigen, die sich über jedes Recht und über die Menschenwürde hinwegsetzen. Wir tragen dem Rechnung. Ich denke, als Demokraten sollten wir das gemeinsam tun. Bundesinnenminister Otto Schily genießt aufgrund seiner hervorragenden Arbeit in der Bevölkerung zu Recht ein hohes Ansehen. ({11}) Für diese Arbeit wird er weiterhin die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion haben. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in der Debatte ist Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland ist in allen politischen Bereichen mittlerweile Schlusslicht in Europa. ({0}) In vielen Bereichen, vor allem was die Wirtschafts- und Finanzpolitik anbelangt, trifft dies leider Gottes zu. Doch in einem Punkt sind wir in Deutschland immer noch einsame Spitze: in dem perfektionistischen und geradezu manischen Streben, alles und jedes zu regeln, zu regulieren und zu klassifizieren, und zwar immer mit dem hohen Anspruch, möglichst viel Einzelfallgerechtigkeit an den Tag zu legen. Die deutschen Unternehmer, insbesondere im Handwerk und im Handel, müssen die Ankündigungen der Regierungskoalition in der Koalitionsvereinbarung, den bundesrechtlichen Normenbestand zu bereinigen und überflüssige Gesetze und Vorschriften aufzuheben, sowie die erst gestern getätigte Ankündigung des Bundesfinanzministers Eichel, der Bürokratie den Kampf anzusagen, als blanke Drohung empfunden haben. ({1}) Auch vor vier Jahren wurden diese wohlklingenden und verheißungsvollen Ankündigungen gemacht. Wie sieht die Realität aus? Bürger und Unternehmen müssen derzeit allein auf Bundesebene 2 197 Gesetze und 46 779 Einzelvorschriften befolgen. Wer sich in Deutschland rechtstreu verhalten will, muss weit über 85 000 Gesetzesbefehle befolgen. ({2}) Allein in der vergangenen Legislaturperiode wurden 396 neue Bundesgesetze und 1 379 neue Rechtsverordnungen erlassen, während in derselben Zeit nur 95 Bundesgesetze und 406 Rechtsverordnungen abgeschafft wurden. Man muss wirklich zugeben, dass der Saldo in diesem Punkt ausnahmsweise einmal positiv ist. ({3}) Gerade der Mittelstand wird durch die überbordende Bürokratie in Deutschland stranguliert. Während Großunternehmen in Deutschland im Durchschnitt lediglich 153 Euro Bürokratiekosten pro Arbeitsplatz im Jahr zu tragen haben, lasten auf dem Mittelstand pro Arbeitsplatz im Jahr durchschnittlich 3 579 Euro, das heißt, die Last ist mehr als 23-mal so hoch. ({4}) Zurzeit befinden sich viele Privathaushalte, aber vor allem viele Unternehmen in einer wirtschaftlich äußerst angespannten Phase. Dies ist in jeder Hinsicht besorgniserregend, bietet zugleich aber auch die große Chance, dass jetzt deutliche Schritte in Richtung Verwaltungsvereinfachung und in Richtung eines schlanken Staates getroffen werden und diese Maßnahmen nachvollzogen und akzeptiert werden. Die Politik darf in einem immer komplizierter und heterogener werdenden Lebensumfeld nicht dem Irrglauben verfallen, jedem Einzelnen die absolute Einzelfallgerechtigkeit angedeihen lassen zu können. Leider habe ich bei Ihrer Koalitionsvereinbarung bzw. bei dem, was davon noch übrig ist, sowie Ihren derzeitigen Gesetzgebungsvorhaben den Eindruck, dass Sie genau das Gegenteil beabsichtigen: mehr Staat, mehr Verwaltung, mehr Bürokratie. Sie sind nach wie vor der vollkommen überholten und in Europa mittlerweile einmaligen Auffassung, dass in einer ökonomischen Krise das Heil beim Staat zu suchen ist. ({5}) Dies ist - auch als Antwort an Sie, Herr Innenminister ein anachronistischer Etatismus. So kann man die mittlerweile überbordende Bürokratie in Deutschland auch begründen. ({6}) Nicht anders ist es zu erklären, dass beispielsweise die Umsatzpauschalierung für Landwirte erschwert wird und die Durchschnittsgewinnermittlung kleinerer Landwirte abgeschafft werden soll, was beispielsweise in meinem Wahlkreis Altötting zwangsläufig dazu führen wird, dass sich die Kosten eines bäuerlichen Durchschnittsbetriebes für Steuerberatung und Buchführung ungefähr verdreifachen werden. Man braucht auch kein Hellseher zu sein, um zu prognostizieren, dass die Erhöhung der Pauschalbesteuerung des privaten Gebrauchs von Dienstfahrzeugen um sage und schreibe 50 Prozent dazu führen wird, ({7}) dass PKW-Fahrer zu dem zwar sehr bekannten, aber alles andere als beliebten Fahrtenbuch werden greifen müssen. Meine Damen und Herren, dies ist der falsche Weg. Nicht die Bürger sind für den Staat da, sondern der Staat ist für die Bürger da. ({8}) Verwaltung und Normen dürfen daher kein Selbstzweck sein. Von einem Gemeinwesen, das überreguliert, übernormiert und überklassifiziert ist, verabschieden sich die Bürgerinnen und Bürger innerlich. Deshalb ist der Subsidiaritätsgedanke, der der katholischen Soziallehre entspringt und mittlerweile mehr als 100 Jahre alt ist, noch nie so modern gewesen wie heute. Verwaltungsabläufe und Verwaltungsentscheidungen müssen zum einen transparent und durchschaubar sein und müssen zum anderen auf der kleinstmöglichen Ebene möglichst bürgernah getroffen werden. ({9}) Stephan Mayer ({10}) In diesem Zusammenhang ist der von Ihnen, Herr Bundesinnenminister, initiierte Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung durchaus als positives Signal zu verstehen. Nur hat dieses Projekt sein Ziel, nämlich die Wirksamkeit und Akzeptanz von Regelungen zu erhöhen, bislang nicht erreicht. Kein einziges Gesetz wurde durch die Gesetzesfolgenabschätzung weniger geschaffen. Kein einziger Euro wurde gespart. Insofern kann man dazu nur sagen: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. ({11}) Deshalb kann ich - um auf die bereits erwähnten ehrgeizigen Ziele in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung zum Thema Verwaltungsmodernisierung zurückzukommen - nur mit der Feststellung enden: Den Schily hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Mayer, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünschen Ihnen für Ihre politische Zukunft alles Gute. ({0}) Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Das Wort hat die Ministerin Brigitte Zypries. ({1})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist uns in der vergangenen Legislaturperiode gelungen, die Justiz in entscheidenden Bereichen zu reformieren und zu modernisieren. Die Modernisierung der Justiz ist jetzt auf einem guten Weg, nicht nur weil wir das Zeitalter der gezackten Gebührenmarke beim Deutschen Patent- und Markenamt inzwischen hinter uns gelassen haben. ({0}) In den vor uns liegenden vier Jahren wird es nun darum gehen, die verbliebenen Reformvorhaben in Angriff zu nehmen und zum Abschluss zu bringen. Gleichzeitig gilt es, die Modernisierung der Justiz weiter voranzutreiben und die dort noch bestehenden Defizite weiter abzubauen. Dass wir dies alles tun wollen, spiegelt sich auch im Justizhaushalt wider. Natürlich konnte sich der Justizhaushalt den Bemühungen um die dringend erforderliche Konsolidierung der Staatsfinanzen nicht verschließen. Es ist aber gelungen, die Voraussetzungen zu schaffen, um die erfolgreiche Reform- und Modernisierungspolitik fortzusetzen. Dies ist umso beachtenswerter, als der Justizhaushalt, was sein Volumen anbelangt - wie Sie alle wissen -, als klein anzusehen ist. Nicht umsonst wurde hier immer wieder vom kleinen, aber feinen Justizhaushalt gesprochen. Der Anteil seiner Ausgaben an den Gesamtausgaben des Bundeshaushalts beträgt gerade einmal 0,14 Prozent. ({1}) In Zahlen ausgedrückt beträgt das Ausgabevolumen rund 350 Millionen Euro. Davon entfallen allein 306 Millionen Euro auf Personal- und Verwaltungsausgaben. Trotzdem gibt es im Haushalt durchaus einige wichtige Projekte - sie sind auch mit Geld unterlegt -, die nichts mit der Gesetzgebung zu tun haben. Ein Beispiel und wichtiger Posten in unserem Haushalt ist das Deutsche Forum für Kriminalprävention. In diesem Forum haben sich Bund, Länder, Kommunen, Religionsgemeinschaften, Verbände und Wirtschaft an einen Tisch gesetzt. Sie wollen die Erkenntnis, dass Kriminalprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, mit Leben füllen. Der Bundesinnenminister war im letzten Jahr der Vorsitzende des Deutschen Forums für Kriminalprävention. Letzten Samstag durfte ich ihn ablösen und den Stab von ihm übernehmen. Ich werde mich als Vorsitzende dieses Kuratoriums weiter für die Fortschreibung der von Herrn Innenminister Schily begonnenen guten Arbeit einsetzen. Dazu werde ich zwei Bereiche vorschlagen: Zum einen sollen gemeinsam mit der Wirtschaft Projekte in Angriff genommen werden, mit denen die Technik dazu genutzt wird, Kriminalprävention zu schaffen. Zum anderen will ich gemeinsam mit der Kollegin Schmidt das Thema Gewalt gegen ältere Menschen, insbesondere in Einrichtungen und der häuslichen Pflege, sowie gegen Behinderte offensiv aufgreifen, weil wir glauben, dass die Opfer von Gewalt gerade dort besonders hilflos sind, wo ihr Leid verschwiegen und unter den Teppich gekehrt wird. ({2}) Meine Damen und Herren, der Justizhaushalt hat auch die Opfer des Terrorismus nicht aus dem Blick verloren. Entsprechend dem Ziel der Bundesregierung, die Schwächeren zu schützen, haben wir bereits in diesem Jahr einen Entschädigungsfonds eingerichtet, aus dem Soforthilfen an die Opfer terroristischer Anschläge ausgezahlt werden können. Diesen Entschädigungsfonds werden wir beibehalten. ({3}) Was den Bereich des Gesetzgebungsrechts angeht, so will ich Themen ansprechen, die ich schon in der Debatte über die Regierungserklärung des Kanzlers genannt habe. Dazu gehört das Wirtschaftsrecht, das schon längst kein exotisches Feld mehr für interessierte Betriebswirte, Buchhalter und Manager ist. Wir werden deshalb in dieser Legislaturperiode unser Zehnpunkteprogramm zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes umsetzen. ({4}) Wir wollen im Aktien- und Bilanzrecht die Mitglieder von Vorständen und Aufsichtsräten stärker in die persönliche Haftung gegenüber den Aktionären nehmen ({5}) und das Wirtschaftsstrafrecht verschärfen. ({6}) Im Bilanz- und Abschlussprüfungsrecht verstärken wir die Pflicht zur Wahrheit und Klarheit und führen einen externen Überwachungsmechanismus ein, das Enforcement. ({7}) Das sind Vorhaben, bei denen wir uns in Übereinstimmung mit der Wirtschaft befinden. Sie wissen, dass eine Kommission Vorschläge vorgelegt hat, die von der Wirtschaft akzeptiert werden. Wir wollen das Versicherungsvertragsrecht modernisieren. Dort müssen wir die Behandlung von Gentests, die Überschussbeteiligung in der Lebensversicherung und die Altersrückstände in der privaten Krankenversicherung regeln. Zu einem ähnlichen Komplex gehört auch das Urheberrecht in der Informationsgesellschaft. Sie wissen, der erste Korb - wie wir es nennen - ist im Bundestag und Bundesrat anhängig. Weitere Schritte werden wir angehen; wir werden sie gemeinsam mit den Betroffenen, den Urhebern, den Verwertungsgesellschaften und den Verbrauchern erörtern. Ein Thema, das heute morgen in der Presse behandelt wurde, ist das UWG. Es steht auf dem Prüfstand. Sie wissen, dass wir die Reform mit der Einsetzung der Arbeitsgruppe „Unlauterer Wettbewerb“ im Bundesministerium der Justiz schon längst begonnen haben. In ihr sind hochrangige Mitglieder aus der Industrie, dem Handel, dem Handwerk, den Verbraucherverbänden, den Gewerkschaften und dem Bereich der Sachverständigen vertreten. Allen möchte ich an dieser Stelle für ihre Arbeit danken und ankündigen, dass wir diesen Gesetzentwurf zügig angehen werden. Dabei kann es nicht darum gehen - so wird es teilweise gefordert -, punktuelle Lösungen wie die Liberalisierung des § 7 UWG über Sonderveranstaltungen und Sonderangebote - auch „Lex C & A“ genannt vorzunehmen; denn das Wettbewerbsrecht betrifft den Kernbereich der sozialen Marktwirtschaft. Ich meine deshalb, dass wir eine stimmige Gesamtlösung brauchen und punktuelle Eingriffe vermeiden sollten. Wir werden deshalb im nächsten Jahr ein Gesamtkonzept vorlegen. ({8}) Ein Thema aus dem Wirtschaftsrecht würde ich gern noch ansprechen, das mir aus meiner Tätigkeit in den letzten vier Jahren besonders am Herzen liegt. Sie wissen, wenn Deutschland Gastgeber der Olympischen Spiele im Jahre 2012 sein will, dann müssen wir einen hinreichenden markenrechtlichen Schutz der olympischen Symbole sicherstellen. Das verlangt das IOC. Anderenfalls können die Spiele nicht nach Deutschland vergeben werden. Wir werden schnell einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen; denn ich will, dass auch das Justizministerium - ebenso wie der Rest der Bundesregierung - das Seine tut, um die Bedingungen für die deutsche Bewerbung um die Olympischen Spiele zu erfüllen. ({9}) Ich hoffe natürlich sehr, dass diese Bewerbung dann auch erfolgreich sein wird. ({10}) Ich gehe davon aus, dass auch die Kollegen von der Opposition, selbst wenn sie jetzt nicht klatschen, dieses Gesetzesvorhaben unterstützen werden. ({11}) Auch auf das Betreuungsrecht, das der Kollege Funke in der Debatte über die Regierungserklärung angesprochen hat, möchte ich kurz eingehen. Wir sind uns mit den Ländern darin einig, dass hier etwas getan werden muss. Im Interesse der Betroffenen und zum Schutz ihres Selbstbestimmungsrechts sollten Betreuungen nur dann eingerichtet werden, wenn sie wirklich notwendig sind. ({12}) Ich werbe deshalb inzwischen für das Institut der Vorsorgevollmacht und setze mich für seine Stärkung ein. Was wir wahrscheinlich auch brauchen werden, ist eine stärkere Notwendigkeitskontrolle bei den Betreuungen und auch eine stärkere Einbindung der Sozialbehörden. Es gibt eine Rechtstatsachenforschung zu diesem Thema. Das Ergebnis wird Anfang 2003 und, bearbeitet von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, Mitte 2003 vorliegen. Dann haben wir eine solide Grundlage für weitere Schritte. Dann kann dieses Haus beraten, was davon umgesetzt werden soll. Unsere Modernisierungspolitik ist aber nicht auf die Gesetzgebung beschränkt. Ein Schwerpunkt des Justizhaushalts liegt - wie in den vergangenen Jahren - beim Deutschen Patent- und Markenamt. Sie wissen, wir sind dabei, dieses Amt zu modernisieren. Nach wie vor befindet sich die Zahl der Anmeldungen im Patentbereich auf höchstem Niveau. Im Jahre 2001 sind 64 151 Anmeldungen erfolgt. Das ist für sich genommen sehr erfreulich. Die Zahlen sind auch ein handfester Beweis dafür, dass die Justiz das ihre tut, um den Wirtschaftsstandort Deutschland attraktiv zu machen; sie belegen auch die Innovationskraft Deutschlands. Der stetige Anstieg der Anmeldezahlen seit Mitte der 90er-Jahre bedeutet für uns die Verpflichtung, das Amt personell und sächlich vernünftig auszustatten, damit die Menschen, die dort arbeiten, auch in der Lage sind, diese Anträge schnell zu bearbeiten. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Die Zahl der Patentprüfer war von 1993 bis 1998 von 654 auf 554 zusammengestrichen worden. ({13}) Der Stau, der sich damals gebildet hat, muss jetzt abgearbeitet werden. Im Markenbereich hat das Amt bereits den Break-even-Point erreicht. Es kann jetzt mehr Anträge bearbeiten, als neu eingehen. Das ist, wie ich finde, ein sehr erfreuliches Ergebnis. Auch im Patentbereich sind wir von diesem Punkt nicht mehr fern. Diesen Weg werden wir entschlossen fortsetzen. Deshalb haben wir im Regierungsentwurf auch vorgesehen, dass 60 neue Planstellen für Patentprüfer geschaffen werden. ({14}) Ich glaube, dass dieser Personalzuwachs eine vernünftige Innovationsmaßnahme und - parallel mit dem Ausbau der Informationstechnik in dem Amt - auch ein unverzichtbarer Beitrag zum Standort Deutschland ist. Im Übrigen ist es so, dass sich der Haushalt des Deutschen Patent- und Markenamtes insofern „erkenntlich“ zeigt, als er die Einnahmen für den Justizhaushalt erwirtschaftet; denn der Justizhaushalt ist nicht nur klein und fein, sondern es ist auch der einzige Haushalt, der ungefähr 80 Prozent seines Volumens selbst erwirtschaftet, eben vor allem über dieses Deutsche Patent- und Markenamt. ({15}) Das wollen wir weiter unterstützen. Lassen Sie mich noch erwähnen, dass sich die erfolgreiche Tätigkeit im Patentbereich auf die Gerichte ausdehnt. Auch in der Patentgerichtsbarkeit ist Deutschland in Europa führend. Ungefähr zwei Drittel der etwa 800 anhängigen europäischen Patentstreitigkeiten werden in Deutschland geführt. Wir kämpfen im Moment im europäischen Kontext sehr stark dafür, dass diese Regelung über die Gerichtsbarkeit so bleibt. Das Gemeinschaftspatent darf die bewährte Patentgerichtsbarkeit in Deutschland nicht gefährden. Zu guter Letzt, meine Damen und Herren, noch zwei Worte zu einem Thema, das wahrscheinlich insbesondere die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte unter Ihnen interessiert, ({16}) die Anwaltsgebührenerhöhung. Ich habe eben beim parlamentarischen Abend der Bundesrechtsanwaltskammer gesagt, dass ich das Anliegen, die Gebühren nach vielen Jahren wieder einmal anzupassen, für berechtigt halte. ({17}) Wenn wir dies durchsetzen wollen - das habe ich auch gesagt -, können wir das nur gemeinsam mit den Ländern tun. Ich habe den Kollegen Gasser gebeten, zwei Minister aus den A-Ländern und zwei Minister aus den B-Ländern zu benennen, mit denen wir eine kleine Arbeitsgruppe bilden können, um das einmal vorzubesprechen. Dann müssen wir mit den Anwaltsverbänden reden. Ich wäre Ihnen dankbar, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie auch mit den von Ihnen regierten Ländern sprechen würden, insbesondere mit den Finanzministern, nicht nur mit den Justizministern; denn die Justizminister sind hier sowieso unserer Ansicht. Aber wir müssen auch die Finanzminister der Länder dazu bekommen, dieses Vorhaben mitzutragen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit zu später Stunde. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Haushaltsdebatte ist immer auch eine Generaldebatte. Deshalb möchte ich anlässlich der Beratungen des Einzelplans 07 einige rechtspolitische Schwerpunkte von CDU und CSU für diese Wahlperiode nennen. Dabei halte ich es für sinnvoll, kurz darauf einzugehen, was aus unserer Sicht überhaupt Aufgabe von Rechtspolitik ist. Das erscheint mir deshalb notwendig, weil die Erfahrungen in der vergangenen Wahlperiode gezeigt haben, dass die Vorstellungen hierüber zwischen Rot-Grün einerseits und den bürgerlichen Kräften andererseits teilweise doch sehr weit auseinander gehen. Für uns ist Rechtspolitik vor allem die Stärkung und, wo nötig, die Verbesserung des Rechtsstaats sowie die Sicherung der Freiheit der Bürger gegenüber dem Staat und auch gegenüber Dritten. ({0}) Bei Rot-Grün war jedoch in der vergangenen Wahlperiode immer deutlicher zu erkennen, dass Rechtspolitik als Mittel der Gesellschaftsveränderung betrachtet wird. Diesen Bestrebungen werden wir, sollten sie weiter verfolgt werden, auch weiterhin entschiedenen Widerstand leisten. ({1}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige grundsätzliche Bemerkungen machen. Sicherheit und Freiheit gehören untrennbar zusammen. Sicherheit ist Voraussetzung für Freiheit. Das Recht wiederum sichert diese Freiheit. Dafür brauchen wir einen starken Staat; denn nur ein starker Staat kann einen optimalen Schutz der Bürger gegen Verbrechen gewährleisten. Starker Staat und liberaler Staat sind kein Widerspruch; denn gerade ein liberaler Staat muss wehrhaft sein, da sonst die freiheitliche Demokratie den vielfältigen Bedrohungen nicht gewachsen ist. ({2}) - Ja, das sind Dinge, die man Ihnen immer wieder ins Gedächtnis rufen muss, weil Sie dagegen handeln. ({3}) Es muss Schluss sein, Herr Kollege Schmidt, mit einer als Liberalität getarnten Gleichgültigkeit gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der Bürger. ({4}) Die Menschen bei uns im Land haben ein Recht auf Sicherheit. ({5}) Deshalb gilt bei uns null Toleranz gegenüber Verbrechen. Wir handeln danach und haben danach gehandelt, solange wir Verantwortung hatten. Aber wir müssen Sie leider daran erinnern. Wer Recht bricht und sich damit gegen unsere Wertordnung stellt, muss mit konsequenter Verfolgung und Bestrafung rechnen. ({6}) Beim Schutz der Bürger darf es keine rechtsfreien Räume geben. Ich hoffe, das findet auch die Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Wir lehnen die Verharmlosung von Rechtsbruch und Gewalt durch so genannte Entkriminalisierung ab; denn sie schafft den Nährboden für Kriminalität, senkt Hemmschwellen, ermutigt Rechtsbrecher und entmutigt die gesetzestreuen Bürger. Ich möchte auch klarstellen, dass für uns jedenfalls nicht die Sorge um die Täter im Mittelpunkt steht, ({7}) sondern der Schutz der Bürger und die Not der Opfer von Straftaten, die wir lindern wollen. ({8}) Jetzt zu einigen unserer Schwerpunkte. Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen leider, gerade auch in den letzten Monaten, besonders verabscheuungswürdige Sexualverbrechen. ({9}) Der letzte Fall war jener der 16-jährigen Jennifer, die vor wenigen Wochen im schleswig-holsteinischen Neumünster einem Sexualmord zum Opfer fiel. Der mutmaßliche Täter war nur kurz zuvor aus der Strafhaft entlassen worden. ({10}) - Leider müssen wir dies immer wieder sagen. Sie schreiben zwar in Ihre Koalitionsvereinbarung, Sie wollten hier etwas tun, aber Sie handeln nicht, es folgen keine Taten. Es gibt nur leere Worte. ({11}) Nicht weniger erschreckend ist die große Zahl von Kindern, die Opfer sexuellen Missbrauchs werden. Dies sind jährlich rund 20 000 Fälle in Deutschland. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher. Die CDU/CSU-Fraktion hat deshalb einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten in den Deutschen Bundestag eingebracht, dessen erste Lesung bereits stattgefunden hat. Dieser enthält im Wesentlichen folgende Vorschläge: Wir wollen die Grundfälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern als Verbrechen einstufen und auch die Verabredung zum Kindesmissbrauch sowie den Anstiftungsversuch künftig strafbar machen. Wir wollen einen neuen Straftatbestand einführen, der solches Verhalten unter Strafe stellt, das den sexuellen Missbrauch von Kindern erst ermöglichen soll. Wir wollen Strafschärfungen im Bereich der Kinderpornographie, die Strafbarkeit der Billigung oder Belohnung schwerer Sexualstraftaten und die Möglichkeit der Überwachung des Fernmeldeverkehrs für sämtliche Fälle des Kindesmissbrauchs und der Verbreitung von Kinderpornographie. Wir wollen die konsequentere Nutzung der DNA-Analyse in Strafverfahren - auch wenn dies den Grünen nicht gefällt. Wir sind der Auffassung, dass es künftig beispielsweise auch möglich sein soll, einem Exhibitionisten den genetischen Fingerabdruck abzuverlangen, wenn zu befürchten ist, dass der Betreffende schwerwiegendere Straftaten verüben könnte. ({12}) Wir wollen - dies ist das Thema, bei dem wir uns hoffentlich einigen oder aufeinander zugehen können - die nachträgliche Sicherheitsverwahrung. Wir wollen sicherstellen, dass gegen hochgefährliche Straftäter künftig die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auch nachträglich, das heißt bis zur bevorstehenden Entlassung aus der Haft, angeordnet werden kann. ({13}) - Ja, das sind die alten Argumente, die durch Wiederholung nicht besser werden. Das Problem ist bekannt: Es besteht eine Gesetzeslücke für die Fälle, in denen sich die Gefährlichkeit des Straftäters erst nach der Rechtskraft der Verurteilung im Strafvollzug herausstellt. ({14}) CDU und CSU haben hierzu bereits in der letzen Wahlperiode im Bundestag und auch über den Bundesrat mehrere Gesetzesinitiativen eingebracht, um diese Lücke zu schließen und die Bevölkerung besser vor hochgefährlichen Straftätern zu schützen. Alle diese Vorschläge wurden von Rot-Grün abgelehnt; übrigens ebenso wie eine Initiative Bayerns, den Grundfall des sexuellen Missbrauchs von Kindern als Verbrechen einzustufen. Dies ist mir gänzlich unverständlich, denn wer sich an Kindern vergeht, ist ein Verbrecher, nichts anderes. ({15}) Die von Rot-Grün in der vergangenen Wahlperiode schließlich halbherzig beschlossene Vorbehaltslösung schließt die Lücke keineswegs. Man stelle sich vor: Hochgefährliche Straftäter, die derzeit in Haft sitzen, werden von dem Gesetz nicht erfasst. ({16}) Außerdem besteht nach der rot-grünen Vorbehaltslösung weiterhin keine Sicherungsverwahrungsmöglichkeit, wenn die Gefährlichkeit des Täters erst während des Strafvollzuges zutage tritt. Im Übrigen ist der Anwendungsbereich des Gesetzes in nicht hinnehmbarer Weise eingeschränkt. Dieses Gesetz taugt also nicht. Nur mit unserem Gesetzentwurf, den wir jüngst eingebracht haben, kann die nach wie vor bestehende unerträgliche Gesetzeslücke wirksam geschlossen werden. ({17}) Wir wollen des Weiteren, dass die Sicherungsverwahrung bereits nach der ersten Tat möglich ist, wenn diese besonders schwerwiegend gewesen ist. Wir wollen schließlich auch, dass sie auf Heranwachsende Anwendung finden kann, sofern diese nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen sind. Hier könnte die Bundesregierung endlich einmal beweisen, dass es ihr mit dem schärferen Vorgehen gegen Sexualstraftäter wirklich ernst ist. Die bekannte, ebenso vollmundige wie populistische Äußerung des Bundeskanzlers in der „Bild“-Zeitung - wegschließen, und zwar für immer - steht in eklatantem Gegensatz zu dem, was Rot-Grün tatsächlich zum besseren Schutz der Kinder vor Sexualstraftätern tut. Wir wissen alle, dass man mit Gesetzen nicht alle Verbrechen verhindern kann, schon gar nicht, wenn es sich um einen Ersttäter handelt und dieser vorher nicht auffällig gewesen ist. Hier aber handelt es sich um Täter, die bereits straffällig geworden sind und bei denen die Gefahr besteht, dass sie nach Verbüßen ihrer Straftat erneut ein Verbrechen begehen. Ein solches kann in der Tat durch die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung verhindert werden. Wir von der Union sind der Meinung, dass für den Schutz der Bevölkerung und vor allem der Kinder alles getan werden muss, was rechtsstaatlich möglich ist. Herr Kollege Stünker, wenn Sie der Meinung sind, es sei verfassungswidrig, dann sollten wir es vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen. Wir als Gesetzgeber sollten jede Möglichkeit ergreifen, die uns zum besseren Schutz der Bevölkerung vor solchen Straftaten geeignet erscheint. ({18}) Wir sind gespannt, ob sich die Bundesregierung unseren Vorschlägen weiterhin verweigert oder jetzt doch endlich bereit ist, mit uns die dringend notwendigen Verbesserungen zu beschließen. Die erste Lesung unseres Gesetzentwurfs hat gewissen Anlass zur Hoffnung - wenn auch nur in begrenztem Umfang - gegeben. Sehr verehrte Frau Ministerin, wir warten auf den angekündigten Gesetzentwurf Ihres Hauses und hoffen, dass Sie sich gegenüber Ihrem grünen Koalitionspartner durchsetzen können. Was von den Grünen zu diesem Thema zu hören ist, dient dem Täterschutz und nicht der Sicherheit der Menschen. Dafür haben wir nicht das geringste Verständnis. Sexualstraftäter dürfen nicht länger von rot-grünen Versäumnissen profitieren können. ({19}) - Ja, das ist unglaublich. Wir sollten schnellstmöglich etwas dagegen tun. Wir sollten diesen Zustand beenden. Ich komme zur strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender zwischen 18 und 21 Jahren. Wir wollen sicherstellen, dass die Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende wirklich nur im Ausnahmefall in Betracht kommt. Die gerichtliche Praxis hat sich vom gesetzgeberischen Leitbild zunehmend entfernt. Wir alle wissen, dass derzeit fast ausnahmslos Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt. Deshalb hat Bayern im Bundesrat eine Initiative gestartet mit dem Ziel, § 105 JGG neu zu fassen. Dazu besteht Veranlassung und das ist auch gut begründbar. Wer mit 18 Jahren volljährig ist, wer alle Rechte und Pflichten eines Staatsbürgers hat, der muss dementsprechend auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Es ist geboten, meine ich, die Höchststrafe für Heranwachsende, soweit auf diese das Jugendstrafrecht angewendet wird, von zehn auf 15 Jahre heraufzusetzen. Auch dazu gibt es einen bayerischen Gesetzentwurf im Bundesrat. Diese Vorschläge haben übrigens auf der letzten Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister im November dieses Jahres eine Mehrheit gefunden. Ein Wort zur Rauschgiftkriminalität. Was dazu in der Koalitionsvereinbarung steht, lässt nichts Gutes erwarten. Wir lehnen rechtsfreie Räume in der Rauschgiftbekämpfung entschieden ab. Die Legalisierung von Fixerstuben und die staatliche Abgabe von Drogen sind der falsche Weg. Die steigende Zahl der Drogentoten, und zwar unter den Erstkonsumenten von harten Drogen, erfordert eine verantwortungsbewusste Drogenpolitik, die Prävention, Hilfe zum Ausstieg für Süchtige und eine Bekämpfung der Drogenkriminalität mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verbindet. ({20}) Wir sind entschieden gegen die Verharmlosung der so genannten Alltagskriminalität. Deshalb werden wir auch nicht von unserer Forderung abrücken, beispielsweise schärfer gegen Graffitischmierereien vorzugehen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese als Sachbeschädigung bestraft werden, auch wenn Sie von der rot-grünen Seite alle unsere diesbezüglichen Gesetzesinitiativen abgeschmettert haben. ({21}) Sie sollten einmal mit offenen Augen gerade durch Berlin gehen, sich ansehen, welches Ausmaß das angenommen hat, und mit Hausbesitzern, aber auch mit Mietern sprechen. Wie die Wände und Züge hier verschmiert werden, ist unerträglich geworden. ({22}) In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung steht dazu: Die Alltagskriminalität werden wir konsequent bekämpfen. Das ist angesichts Ihres tatsächlichen Verhaltens eine der vielen hohlen Phrasen. Wir sind für eine sinnvolle Erweiterung des Katalogs der strafrechtlichen Sanktionen. Das Fahrverbot beispielsweise ist in vielen Fällen auch bei nicht verkehrsbezogenen Straftaten eine angemessene und spürbare Sanktion. Auch die Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit sollte künftig verstärkt zur Anwendung kommen. Die Erweiterung des Sanktionensystems bedeutet für uns aber keinesfalls dessen Aufweichung, zum Beispiel durch eine weitere Ausweitung der Anwendung von Bewährungsstrafen. - So weit unsere wichtigsten Schwerpunkte auf dem Gebiet des Strafrechts bzw. der inneren Sicherheit. Auf den zivilrechtlichen Bereich möchte ich heute nur ganz kurz eingehen. Die bereits erwähnte Reform der Anwaltsvergütung, Frau Ministerin, ist in der Tat überfällig. Auch dazu gab es große Ankündigungen in der letzten Wahlperiode; das betrifft jetzt natürlich nicht Sie, Frau Ministerin. ({23}) Aber es hat sich rein gar nichts getan. Die Behandlung dieses Themas wurde mit der Begründung verschoben - das haben wir im Rechtsausschuss miterlebt, Herr Kollege Funke -, es müsse eine umfassende Neuregelung des Gebührenrechts erarbeitet werden; dafür werde die Zeit nicht reichen. Das waren Ausreden. Es ist bisher nichts geschehen. Die strukturelle Neuregelung wie auch die Anhebung der seit 1994 unveränderten Gebühren müssen unverzüglich in Angriff genommen werden. ({24}) Eine Verschlechterung beim Versorgungswerk wird es mit uns aber nicht geben. Ein abschließendes Wort zum so genannten Antidiskriminierungsgesetz, wie es in der Koalitionsvereinbarung heißt. Wir werden alles dafür tun, dass nicht wild gewordene Ideologen das Zivilrecht mit seinem Grundsatz der Vertragsfreiheit aushöhlen und beispielsweise Deutsche gegenüber Ausländern in der Rechtsordnung nicht massiv benachteiligt werden. ({25}) Sehr geehrte Frau Ministerin, wir sind zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit, aber selbstverständlich auf der Grundlage unserer Wertvorstellungen und Ziele. ({26}) Die Voraussetzungen dafür sind in dieser Legislaturperiode aus hier nicht näher zu bezeichnenden Gründen besser als in der vorangegangenen. ({27}) An die Adresse der SPD-Mitglieder im Rechtsausschuss möchte ich anlässlich der Geschehnisse, die sich dort bei den Beratungen zu den Hartz-Gesetzen ereignet haben, ein klares Wort richten: Das Tempo sind wir von Ihnen aus der letzten Legislaturperiode schon gewöhnt. Dass man innerhalb einer Woche am Dienstag die Anhörung durchführt, am Mittwoch in den Ausschüssen abschließend berät, am Freitag bereits die zweite und dritte Lesung abhält und das Gesetz durchpeitscht, davon rede ich gar nicht; das haben wir schon mehrfach erlebt. Nein, Sie wollten über Änderungsanträge der Koalition abstimmen lassen, die weder dem Ausschuss noch seinen Mitgliedern vorlagen. ({28}) - Selbstverständlich wollten Sie das tun. Sie waren wohl in einer anderen Veranstaltung!

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie können den bekannten Vorgang nicht mehr im Einzelnen darstellen.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin am Schluss meiner Rede, Frau Präsidentin. Aber das musste ich den Kollegen von der SPD noch ins Stammbuch schreiben; denn in diesem Punkt haben sie dem Parlamentarismus einen schlechten Dienst erwiesen. ({0}) Ein solches Vorgehen schadet nicht nur der sachlichen Zusammenarbeit, sondern auch dem Parlamentarismus insgesamt. Das darf sich nicht wiederholen. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Je später der Abend, umso länger werden die Reden. Jetzt hat der Abgeordnete Christian Ströbele das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Götzer hat mal wieder in die Kiste gegriffen und all die Gesetzentwürfe aus der vorletzten, aus der letzten und zum Teil auch aus dieser Legislaturperiode hervorgeholt, die er hier verabschiedet haben möchte. ({0}) Ich will einen theoretischen Gedanken anführen, um einmal etwas Neues zu sagen. Das Schlimme ist nicht, dass Sie dies immer wieder hervorholen. Das Schlimme liegt meiner Meinung nach ganz woanders: Ich habe einmal gelernt, dass die parlamentarische Demokratie, also die vermittelte Demokratie, die bessere Staatsform ist im Vergleich zur direkten Demokratie, in der das Volk alle Angelegenheiten direkt regelt; das könnte man heute vielleicht schon über Computer möglich machen. Die parlamentarische Demokratie ist deshalb besser, weil sie unabhängiger von den Emotionen des Augenblicks in der Bevölkerung ist, weil in ihr sachlicher mit den Problemen umgegangen werden kann und die Gesetze und die Rechtsordnung sachlicher gestaltet werden können. ({1}) - Das habe ich gelernt. Jetzt erlebe ich aber, dass Sie von der CDU/CSU diesen richtigen Gedanken und damit das Prä der parlamentarischen Demokratie immer wieder unterlaufen, indem Sie auf Emotionen in der Bevölkerung setzen, diese Emotionen in das Parlament hineintragen und immer wieder Gesetze fordern, die überhaupt nichts von dem bringen, was Sie behaupten. ({2}) Ich will Ihnen das an zwei Beispielen deutlich machen. Fahren Sie hier in Berlin mit der U-Bahn oder der S-Bahn, dann sehen Sie verkratzte Scheiben, voll gemalte Türen usw. ({3}) Sie wissen genauso gut wie ich, dass das Zerkratzen einer Scheibe in Berlin bzw. in der Bundesrepublik Deutschland eine Straftat ist. Wenn Sie diejenigen, die das gemacht haben, erwischen, dann werden sie, wenn man ihnen das nachweisen kann, vor Gericht gestellt und verurteilt, ({4}) weil das Zerkratzen von Scheiben ganz unzweifelhaft den heutigen Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllt. Da gibt es keinen Irrtum. Kein Richter wird das anders sehen. ({5}) Genauso ist es mit dem anderen Bereich. Sie setzen auf die berechtigten Ängste und Emotionen in der Bevölkerung, wenn solche schlimmen Straftaten wie Kindesmissbrauch mit anschließender Ermordung geschehen. ({6}) Sie wissen genau, dass die Fälle, die Sie hier genannt haben, genauso passiert wären, wenn all die Gesetze, die Sie fordern, in Kraft gesetzt würden. ({7}) Auf diese Straftat steht schon heute lebenslänglich. Der Täter, von dem Sie reden, ist nicht aus der Haftanstalt entlassen worden, obwohl man wusste oder es Anhaltspunkte gegeben hat, dass er gefährlich gewesen ist. ({8}) Das heißt, Sie spielen mit diesen Emotionen, weil Sie meinen, damit in der Bevölkerung Pluspunkte zu machen. ({9}) Das ist schlimm und gefährlich, weil Sie damit die Illusion schüren, dass man in der Gesellschaft insgesamt solche Straftaten auf Dauer verhindern kann. Das ist leider nicht wahr. ({10}) Wir haben häufig darauf hingewiesen, dass die Straftaten in diesem Bereich weitgehend eingedämmt worden sind. Leider passiert immer noch die eine oder andere ganz schlimme Straftat. Jede, die passiert, ist zu viel. Aber Sie drücken sich um das Phänomen, dass die große Mehrzahl dieser Straftaten, also Kindesmissbrauch, in den Familien passiert. Ihre Rezepte für die Verhinderung dieser Straftaten sind kontraproduktiv. ({11}) Dabei geht es nämlich darum, die Opfer zu ermutigen, sich gegen den Täter zu wehren. Den Opfern muss Hilfestellung gegeben werden, damit sie den Täter anzeigen. Von dieser Seite muss dagegen angegangen werden, weil dann der Täter in der Familie oder in der nahen Bekanntschaft damit rechnen muss, dass er vor Gericht gestellt wird. Straftaten wie Kindesmissbrauch sind heute mit einem ganz geringen Risiko verbunden. Das wollen wir ändern. Deshalb wollen wir die Rechte der Opfer stärken. ({12}) Wir wollen die Behandlung der Opfer vor Gericht oder bei der Polizei so schonend ablaufen lassen, wie es irgendwie geht, um die Opfer zu ermutigen, zur Polizei, zum Staatsanwalt oder zum Gericht zu gehen. Möglicherweise müssen sie dann vor Gericht selber gar nicht mehr aussagen. Das ist der andere, der bessere Weg, den wir gehen wollen. ({13}) Jetzt lasse ich das einmal beiseite, weil dazu fast alles gesagt worden ist. Wir haben in der letzten Legislaturperiode in vielen Bereichen erst einmal unsere Pflichtaufgaben erledigt. Wir haben die ZPO überarbeitet. ({14}) Wir haben die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften endlich gesetzlich geregelt. Darauf haben viele gewartet. ({15}) Wir haben mit der Verlängerung der Fristen im Rahmen des Verwaltungsrechts die Möglichkeit von Rechtsmitteln verbessert. Darüber hinaus haben wir eine Reihe von Gesetzen gemacht, über die wenig gesprochen wird. Wir haben zum Beispiel das Untersuchungsausschussgesetz eingebracht, das es in der Bundesrepublik Deutschland bisher leider nicht gab. Sie als Opposition profitieren jetzt davon, weil wir auch den kleineren Parteien wie der CDU/CSU ({16}) und der FDP damit bessere Möglichkeiten zur Mitarbeit in Untersuchungsausschüssen eröffnet haben. Dafür sollten Sie uns loben. Sie haben damals schließlich mitgemacht. ({17}) Wir haben das Parteiengesetz geändert. Die FDP verheddert sich jetzt gerade in den Stricken, die durch dieses Gesetz gelegt worden sind, obwohl sie seinerzeit zugestimmt hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damit haben wir unsere Pflichtaufgaben gemacht. Aber wir wollen nun in der kommenden Legislaturperiode die Kür erledigen. ({0}) Zu den Pflichtaufgaben rechne ich die Verbesserung bzw. die Angleichung der Rechtsanwaltsgebühr. Zur Kür komme ich gleich. Davor kann der Kollege gerne eine Frage stellen. - Bitte.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, ist Ihnen bekannt, dass Vorschläge zum Bereich des Opferschutzes in der Schublade der Frau Bundesjustizministerin liegen, die in der letzten Legislaturperiode nicht abgearbeitet worden sind, beispielsweise zur Frage des Adhäsionsverfahrens? Ist Ihnen bekannt, dass auf europäischer Ebene Opferschutzvorschriften bestehen, die in Deutschland noch nicht umgesetzt worden sind, obwohl die Frist dafür am 22. März dieses Jahres abgelaufen ist, sodass das Bundesjustizministerium Gefahr läuft, auch in diesem Bereich einen blauen Brief zu bekommen? ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist mir natürlich bekannt, Herr Kollege. Ich habe selber an der Vorbereitung dieser Gesetze mitgewirkt und bin stolz darauf, weil wir eine ganze Reihe von fortschrittlichen Bestimmungen vorgesehen haben. ({0}) Wir haben sie leider in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr verabschieden können, weil wir sie am liebsten in eine grundsätzliche Reform der Strafprozessordnung einbetten würden, in der man das alles sehr gut regeln könnte. Wir werden das angehen und es in naher Zukunft mit Ihnen beraten und im Bundestag verabschieden. ({1}) Wie sieht unsere Kür aus? ({2}) Erstens wollen wir die Wirkung von Gesetzen, die aus früherer Zeit stammen, überprüfen. Es geht darum, dass Deutschland im Abhören von Telefonaten Weltmeister ist. Wir wollen wissen, warum das so ist, wer davon betroffen ist, wofür das erforderlich war, ob es wirklich zwingend erforderlich ist oder ob gegebenenfalls Korrekturen notwendig sind. Wir warten das Gutachten ab; dann beginnen wir mit der Überprüfung. Zweitens wollen wir ein Antidiskriminierungsgesetz, das Sie angegriffen haben. Wir meinen, dass es richtig und notwendig ist, auch im Zivilrecht zu einer Antidiskriminierungsgesetzgebung zu kommen, sodass es sich auch Arbeitgeber, Vermieter und Gastwirte aus finanziellen und rechtlichen Gründen nicht leisten können, andere etwa wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts zu diskriminieren. Ich meine, dass dies längst überfällig ist. Wir wollen beispielsweise auch verhindern, dass Akten, die in Deutschland von den Ermittlungsbehörden zusammengetragen worden sind, etwa an Länder herausgegeben werden, in denen sie dazu beitragen könnten, dass in einem gerichtlichen Verfahren die Todesstrafe verhängt und vollstreckt wird. Weil wir das nicht wollen, wollen wir Sicherungen einbauen. Lassen Sie mich abschließend eines bemerken: Zurzeit gibt es in den Charts einen Song, der etwas mit der Drogenpolitik zu tun hat und in dem ich mit dem Satz „Gebt das Hanf frei!“ zitiert werde. ({3}) Dieser Satz ist zwar aus dem Zusammenhang gerissen, trotzdem stehe ich dazu. ({4}) Diese Forderung wird zwar von der Koalition und wahrscheinlich - das ist mir nicht bekannt - auch von der Ministerin noch nicht mitgetragen. ({5}) Aber wir stehen dazu und wollen versuchen, diese Forderung in dieser Legislaturperiode umzusetzen. ({6}) Wenn das nicht möglich ist, wollen wir einer Vereinbarung zufolge zumindest erreichen, dass Hanf und Cannabis vom Arzt als Medizin verschrieben ({7}) - es gibt viele Kranke, die darauf angewiesen sind - und von den Apotheken ausgegeben werden können. ({8}) Wir wollen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vollzogen wird, derzufolge der einfache Besitz von Hanf nicht zum Verlust des Führerscheins führen kann. Wir wollen, dass der Besitz bundesweit einheitlich so geregelt wird, dass man nicht wegen ein paar Gramm Haschisch in der Tasche verhaftet, vor Gericht gezerrt und möglicherweise zu einer Strafe verurteilt werden kann. Das sind unsere Ziele für eine freiheitlichere Gesellschaft. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Fricke. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ströbele, nach Ihrer Rede ist mir eines nicht klar: Will denn die Koalition, dass das Ganze zum Verbrechen heraufgestuft wird oder nicht? Zu dieser Frage habe ich unterschiedliche Stimmen gehört. Sie werden mir bzw. dem Rechtsausschuss sicherlich eine Antwort darauf geben. Als Haushälter, lieber Herr Stünker, und nicht als Mitglied des Innenausschusses darf ich darauf hinweisen, dass das Haushaltsvolumen des Justizministeriums klein ist - darin gebe ich Ihnen Recht, Frau Ministerin - und einen sehr hohen Kostenwirkungsgrad hat. Aber auch in diesem Bereich - das müssen wir als Haushälter feststellen - wird gespart und mit dem Mittel der globalen Minderausgabe überproportional umgegangen, was ich, gelinde gesagt, nicht ganz fair finde. Wir haben in den vergangenen Wochen allerdings erfahren, dass der Justiz in der Koalition leider eine sehr geringe Bedeutung zukommt. Sie führt ein Nischendasein. Das wird im Koalitionsvertrag und auch in vielen anderen Bereichen sichtbar. Ich behaupte ja nicht, dass das bei den Rechtspolitikern oder bei Ihnen, Frau Ministerin, der Fall ist. Wenn ich mir aber die große Linie anschaue, dann muss ich feststellen, dass von Rechtspolitik herzlich wenig die Rede ist. Es gibt aber noch eine andere Gefahr. Das Justizressort wird in den Ländern und im Bund oft zur Beute gemacht. Wir haben erlebt - wenn ich mich richtig erinnere, ist das von allen Seiten kritisiert worden -, wie es beispielsweise dem Innenminister oder dem Ministerpräsidenten zugeschlagen wurde. Dass so etwas geschieht, liegt nach meiner Ansicht an der, auch fiskalisch gesehen, mangelnden Größe des Justizministeriums. Dieser Gefahr sollten wir begegnen. Das sage ich bewusst auch als Haushaltspolitiker, der den Haushalt des Justizministeriums als wichtig erachtet. Es gibt nach meiner Meinung zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen: Frau Ministerin, ich weiß, dass Sie die Bildung eines Rechtspflegeministeriums - in Rheinland-Pfalz gibt es ein solches Ministerium bereits seit langem; auch Hamburg hat ein solches Ministerium - auf Bundesebene anstreben. Hier haben Sie die Unterstützung der FDP. Einen solchen Vorschlag enthält - ich glaube: seit Jahrzehnten - auch das FDP-Programm. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit. Da der Innenminister anwesend ist, fürchte ich, dass ich ein lautes Aufstöhnen hören werde, wenn ich sie vortragen werde. ({0}) - Er hat immerhin denselben Vornamen wie ich. Es kann also durchaus sein, dass er sich darüber empört, wie jemand mit einem solchen Vornamen so etwas sagen könne. Ich persönlich bin der Ansicht, dass der Datenschutz, der, wie wir alle wissen, aus historischen Gründen beim Innenministerium angesiedelt ist, sehr gut in den Bereich des Justizministeriums einzugliedern ist. ({1}) - Sie sehen, das Stöhnen beginnt bereits. - Herr Innenminister, man muss schon feststellen - ich habe eben Ihre Rede am Fernseher verfolgt -, dass Sie, wenn man an die vielen Behörden denkt, im Bundesinnenministerium einen riesigen Bauchladen haben. Deshalb wird Ihnen der Verlust des kleinen Bereichs des Datenschutzes nicht wehtun. Bedenken Sie, was Sie damit Ihrer Kollegin im Justizministerium Gutes tun könnten. ({2}) - Das wäre eine andere Möglichkeit. Ein kurzes Wort zur allgemeinen Gesetzgebungsarbeit: Wir alle wissen, dass der Rechtsausschuss und das Justizministerium Großproduzenten sind, wenn es um das Erlassen von Gesetzen geht. Die Gesetzgebungsarbeit war in der Vergangenheit manchmal Pflicht und manchmal Kür. Daran, ob die Kür immer richtig war, habe ich meine Zweifel, Herr Ströbele. Manche Kür, die Sie eben genannt haben - ich nenne das Antidiskriminierungsgesetz als Beispiel -, ist eine Pflicht; denn sie beruht auf der Pflicht, Richtlinien umzusetzen. Eines sollten wir bei der Gesetzgebungsarbeit allerdings nicht tun - Herr Ströbele, ich hoffe, dass Sie jetzt ganz heftig klatschen werden -: Wir sollten durch gesetzgeberische Aktivitäten in keiner Weise politisches Handeln vortäuschen und schon gar nicht Sicherheit vorgaukeln. Das darf nicht passieren. ({3}) Noch eine Sache: Ich gehe davon aus, dass es angesichts der vielen Gesetze, die in der letzten Legislaturperiode im Bundestag beschlossen worden sind, viele Korrekturgesetze geben wird, durch die kleinere, aber auch größere Unstimmigkeiten beseitigt werden. Ein weiteres kleines Detail - auch das ist schon von der Ministerin angesprochen worden - ist das Bundespatentamt. Über die Notwendigkeit, den dort vorhandenen Antragsstau abzubauen, ist bereits gesprochen worden. Ich glaube, wir sind hier auf einem guten Weg. Ich muss Sie als Haushälter aber auch davor warnen, dass es gerade in diesem Bereich immer wieder Begehrlichkeiten seitens des Finanzministeriums und anderer Ministerien gibt. Ich muss sicherlich nicht darauf aufmerksam machen, dass Patente für unsere Wirtschaft wichtig sind. Ich möchte aber auf eine Sache besonders hinweisen: Für Mittelständler ist es mit Blick auf die Kreditvergabe sehr wichtig, dass Patente schnell erteilt werden; denn gerade Basel II sorgt dafür, dass es der Mittelstand in Zukunft schwerer haben wird, Kredite zu erhalten. ({4}) Als Hauptberichterstatter darf ich in der letzten Minute meiner Redezeit noch auf ein Problem im Einzelplan des Bundesverfassungsgerichts hinweisen. Wegen überlanger Verfahren haben wir alle - das betrifft den Bund, die Länder und auch das Bundesverfassungsgericht - von Straßburg kräftig eins auf die Nase bekommen. Aufgrund der entsprechenden Urteile werden sich Schadenersatzforderungen ergeben. Diese werden aus dem Haushalt des Bundesverfassungsgerichts zu decken sein. Jetzt besteht die Gefahr, dass man in einen Teufelskreis gelangt - wir müssen dieses Problem noch im Haushaltsjahr 2003 lösen -: Wenn man die Mittel, die man für die Deckung der Schadenersatzforderungen benötigt, bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern einspart, dann bedeutet das, dass sich die nächsten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wieder verzögern, dass dann erneut Klagen kommen werden und dass man wieder verurteilt wird. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Ich werde mich zusammen mit den Berichterstattern der anderen Fraktionen sehr dafür einsetzen. Ein letztes Wort: Haushälterische Sorgfalt und Weitsicht - ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung - verlangen von uns allen Voraussicht. Ich bin sicher: Das freut Herrn Götzer und die anderen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion ganz besonders; denn man kann es bereits in der Bibel im vierten Kapitel des ersten Korintherbriefes lesen, wo es heißt: Man fordert nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich an dieser Stelle vor einem Ausblick in die 15. Legislaturperiode einen kurzen Rückblick auf die 14. Legislaturperiode halten. ({0}) Ich finde, bei allem Streit, den wir hier gehabt haben, und bei allen unterschiedlichen Auffassungen, kann man eines objektiv nicht bestreiten: Durch die rot-grüne Politik in der 14. Legislaturperiode hat die Rechtspolitik als solche in diesem Hohen Hause endlich wieder das Gewicht bekommen, das ihr zusteht, Herr Götzer, ({1}) und zwar nicht nur in diesem Hohen Hause, sondern darüber hinaus auch gesamtgesellschaftlich. Es ist wieder über Rechtspolitik diskutiert worden. Rechtspolitik ist wieder wahrgenommen worden, und zwar nicht nur dann, wenn es darum ging, sozusagen in Einzelfällen im Nachhinein kriminalpräventiv in Form von Reparaturgesetzen oder Ähnlichem tätig zu werden. Das ist das, was Sie heute wieder vorgestellt haben. Für uns ist Rechtspolitik, Herr Kollege Götzer, ein bestimmendes, gestaltendes Element im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen. Dafür ist die Rechtspolitik seit 2 000 Jahren da. Am Ende der letzten Legislaturperiode, also kurz vor der Wahl, gab es in der auflagenstärksten deutschen Tageszeitung einen Leitartikel, der mit der Schlussfolgerung endete: In der Rechtspolitik von Rot-Grün ist in vier Jahren mehr bewegt worden als in 16 Jahren davor. ({2}) Dieses Lob nehmen wir gerne entgegen. Genauso ist es gewesen. ({3}) Die Reformgesetze, die wir erstellt haben, sind bereits genannt worden. Ich möchte sie nicht im Einzelnen aufzählen, sondern nur einige Punkte nennen. Die Schuldrechtsreform, die wir vorgenommen haben, haben Ihre Regierungen zehn Jahre lang liegen gelassen. Sie haben nichts gemacht. ({4}) Bezüglich der Novellierung des Mietrechts, bei der wir dafür gesorgt haben, dass sich Mieter und Vermieter wieder in gleicher Augenhöhe sozial gegenübertreten können, haben Sie 16 Jahre lang nichts gemacht. Sie haben nichts auf den Weg gebracht. Die Implementierung des Täter-Opfer-Ausgleichs in die Strafprozessordnung haben Sie 20 Jahre lang nicht geschafft, obwohl das die Praxis immer wieder gefordert hat und heute froh darüber ist, dass wir das endlich gemacht haben. Zum Gewaltschutzgesetz - Sie haben Gott sei Dank im Ergebnis mitgemacht - mussten wir den Anstoß geben. Wir mussten diesen Weg gehen. Zu guter Letzt - das ist ein kleines Bonbon -: Meine Studienzeit ist zwar 30 Jahre her, aber bereits damals diskutierten wir über die Reform der Juristenausbildung. Sie und die Vorgängerregierungen haben dies nicht hinbekommen. Wir haben es in der letzten Legislaturperiode geschafft, meine Damen und Herren, und werden damit Entscheidendes verändern. ({5}) Diese Rechtspolitik, die Auflösung des Reformstaus, werden wir in den nächsten vier Jahren, in der 15. Legislaturperiode, fortsetzen. Hierbei werden wir uns von Ihnen nicht in die Richtung treiben lassen, die Sie, Herr Götzer, wieder aufgezeigt haben, nämlich immer dann, wenn in der Gesellschaft furchtbare Straftaten geschehen, ein Reparaturgesetz zu erstellen. Lassen Sie mich die langen Linien unseres weiteren Vorgehens kurz skizzieren. Es geht für uns um die weitere Modernisierung von Verfahren und Institutionen in der Justiz. Hierbei steht im Vordergrund, die Belastung der Justiz zu mindern und dafür Qualität und Akzeptanz der richterlichen Entscheidungen durch intensivere Prozessleitung und verbesserte Kommunikation zwischen den Beteiligten weiter zu fördern. Die gut ausgebildeten nicht richterlichen Dienste können mehr Verantwortung übernehmen. Dabei werden Ressourcen frei, sodass wir die richterlichen Dienste auf ihre Kernaufgaben beschränken können. Weiterhin geht es um eine moderne Gesellschaftspolitik. Das Recht der Partnerschaften, der Ehe und der Familie, muss sich dem zeitgemäßen Verständnis von Bindung und Zusammenleben anpassen. Wir bieten den Menschen dafür belastbare Formen in einem Katalog von Rechten und Pflichten an. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die Koalition daher das Lebenspartnerschaftsgesetz überarbeiten und ergänzen. Insbesondere den rechtlichen Schutz für Menschen in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften werden wir weiter verbessern. Es geht um strafrechtliche Reformen und vor allen Dingen um Prävention. Insbesondere das strafrechtliche Sanktionensystem ist zu reformieren, ({6}) nicht im Sinne von Aufweichung, wie Sie befürchten, sondern genau in dem Sinne, den Sie angesprochen haben. Darüber waren wir uns in der letzten Legislaturperiode in einigen Bereichen schon sehr weitgehend einig. ({7}) Es geht um die sorgfältige Fortentwicklung des Sexualstrafrechts. Ich denke, wir werden uns in wenigen Wochen in einer Debatte darüber wiedersehen. Es muss aber auch darum gehen - das ist meine feste Überzeugung -, das Strafverfahrensrecht mit mehr Effizienz auszustatten, indem wir auch hier Veränderungen und Modernisierungen vornehmen. ({8}) Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, dass es auch um den Anleger- und Verbraucherschutz geht. Darauf brauche ich nicht mehr näher einzugehen. Es geht ferner um europäische Rechtspolitik. Die Kriminalitätsbekämpfung darf nicht an den nationalen Grenzen aufhören. Wir werden daher die justiz- und innenpolitische Kooperation in Europa weiterentwickeln. Der europäische Haftbefehl ist ebenso ein erster Schritt wie Eurojust oder die gemeinsamen Anstrengungen zur Terrorismusbekämpfung. Es geht weiter - Ihr Kollege aus dem Innenbereich hat, glaube ich, gerade dazu gesprochen; in diesem Bereich können wir uns auch treffen - um Rechtsbereinigung, das heißt, um den Abbau von Bürokratie. Das muss einer der Schwerpunkte der Arbeit im Rechtsausschuss in diesen vier Jahren für uns sein; das ist überhaupt keine Frage. Dort haben wir viel neu zu regeln, was sich über Jahrzehnte in unserem Land an Bürokratie angehäuft hat. Sie versuchen heute immer darzustellen, Rot-Grün sei dafür verantwortlich. ({9}) Alle Bundesregierungen seit 1945 sind für das verantwortlich, was wir heute vorfinden. Dort müssen wir in der Tat intensiv an die Arbeit gehen. Lassen Sie mich zuletzt noch etwas detaillierter einen Gesichtspunkt hervorheben, der mir sehr wichtig ist und auf den ich in den letzten vier Jahren wiederholt versucht habe Ihr Augenmerk zu lenken: die Binnenreform der Justiz. Wie Sie wissen, komme ich aus der Praxis in über 25jähriger Tätigkeit. Ich weiß - viele von Ihnen wissen das auch -, wie groß dort mittlerweile der Druck durch die Arbeitsbelastung in den Ländern, die zu vollziehen haben, ist. Ich bin davon überzeugt, dass sich die kritische Lage der öffentlichen Haushalte in absehbarer Zeit nicht wesentlich verändern wird. Diese Situation zwingt die Justiz wie auch alle anderen Ressorts dazu, sich grundsätzliche Gedanken darüber zu machen, wie sie ihren gesetzlichen Auftrag trotz reduzierter Haushaltsmittel auf gewohnt hohem Qualitätsniveau weiter erfüllen können. Die Länder müssen hierzu in die Lage versetzt werden. Hieran sind die so genannten Justizentlastungsgesetze der 90-er Jahre, die im Grunde eigentlich das gleiche Ziel zum Inhalt hatten, alle gescheitert. Alle diese Justizentlastungsgesetze haben nur dazu geführt, dass mehr Belastung erfolgt ist; sie ist von oben nach unten durchgedrückt worden. Das heißt, im Ergebnis hat die Belastung der Amtsgerichte heute ein Maß erreicht, das nicht mehr erträglich ist. Von daher meine ich, dass wir einen neuen Weg gehen müssen. Wir müssen den Weg der Aufgabenkritik gehen. Die Aufgabenkritik erweist sich gegenüber den tradierten Konsolidierungsmaßnahmen als ein überlegenes Instrument. Sie vermeidet den Weg der pauschalen Kürzung und setzt nicht bei den Ausgaben der Behörde an. Vielmehr fragt sie nach den Zielen und Aufgaben des Ressorts. Aufgabenkritik ist überdies sozialverträglicher, weil es durch sie gelingen kann, motivationshemmende pauschale Stellenkürzungen, Einstellungs- und Beförderungsstopps zu vermeiden. Nicht der Personalbestand, sondern das Arbeitsvolumen wird kritisch hinterfragt. Was meine ich damit konkret? Man kann dieses Paket in vier Bereiche untergliedern. Wir müssen die Zahl der Verfahren reduzieren. Wir müssen die Erledigung der anhängigen Verfahren mit weniger Aufwand bewerkstelligen. Wir müssen Aufgaben delegieren und wir müssen Aufgaben auslagern können. Wir, die Koalition, werden Ihnen daher eine ganze Reihe von Vorschlägen, die aus der Alltagspraxis kommen, jeweils für sich nicht neu sind und über die bereits in der Vergangenheit in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder diskutiert worden ist, bündeln und in einem Gesetz zur Modernisierung der Justiz vorlegen. Wir werden mit Ihnen in diesem Hohen Hause, mit den Ländern und natürlich mit den Verbänden darüber diskutieren. Ich sage ganz bewusst: Hier werden wir nichts regeln können, wenn wir nicht die Bundesländer mit ins Boot bekommen. Ich möchte Ihnen kurz 13 Beispiele nennen, damit Sie wissen, worauf ich hierbei hinauswill. ({10}) - Herr Gehb, entschuldigen Sie! Der Kollege Götzer hat seine Redezeit hier überzogen. Angesichts dessen darf ich im Rahmen meiner Redezeit wohl auch zu später Stunde versuchen, Ihnen ein paar Gedanken nahe zu bringen, über die Sie hinterher in Ruhe nachdenken sollten. Sie sollten hier nicht nur Krawall machen. ({11}) - Herr von Klaeden, dass Sie davon nichts verstehen, das wissen wir. Das ist wirklich nicht neu. Lassen Sie mich ein paar Punkte nennen. Durch die Förderung gesetzlicher Regelungen zum Vorrang einer mediativen Streitkultur, also durch außergerichtliche Streitbeilegung, können wir die Anzahl der Gerichtsverfahren reduzieren und damit wesentliche Entlastungen schaffen. Durch ein obligatorisches Mahnverfahren im Zivilprozess vor Erhebung einer Zahlungsklage bei Ansprüchen, die 750 Euro nicht überschreiten, werden die Prozessabteilungen der Gerichte wesentlich entlastet. Durch eine Erweiterung der Einstellungsmöglichkeiten im Bußgeldverfahren wird die Anzahl der durch Urteil zu beendenden Verfahren wesentlich reduziert. Durch die Einschränkung der Zulassung der Rechtsbeschwerde in Ordnungswidrigkeitenverfahren werden bei den Amtsgerichten, bei den Oberlandesgerichten und bei den Generalstaatsanwaltschaften wesentliche Ressourcen eingespart. Im Strafprozess setzen wir durch eine Verlängerung der Fristen zur Unterbrechung der Hauptverhandlung - § 229 StPO - erhebliche Ressourcen für Neuansetzungen und Sprungtermine frei. Bei der Protokollführung in Strafsachen in Verfahren vor dem Strafrichter kann auf den Einsatz eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle als Protokollführer verzichtet werden. Auch durch die Abschaffung der Erstellung eines Inhaltsprotokolls spart man erhebliche Ressourcen. Wir müssen materielle und formelle Änderungen des Betreuungsrechts - es ist bereits angesprochen worden - vornehmen. Ende 2001 gab es in Deutschland über 980 000 Berufsbetreuungsverfahren. Hierfür haben wir insgesamt über 650 Millionen Euro ausgegeben. Dadurch wurden die Justizhaushalte der Länder ganz wesentlich belastet. Wir werden Ihnen konkrete Vorschläge machen, wie da Abhilfe geschaffen werden kann. Die Vollstreckung in Strafsachen kann insgesamt auf den gehobenen Dienst in den Staatsanwaltschaften übertragen werden. Durch eine grundlegende Vereinfachung des Justizkostenrechts könnten sämtliche Kostensachen auf Angehörige des mittleren Dienstes übertragen werden. Wir werden eine FGG-Reform durchführen. Durch die Übertragung der Notarprüfungen auf die Notarkammern können bei den Landgerichten und bei den Oberlandesgerichten erhebliche Ressourcen freigesetzt werden. Wir sollten in Deutschland dem Gedanken gründlich nachgehen - gleich werden Sie wieder aufschreien -, durch die Übertragung einvernehmlicher Ehescheidungen auf Notare die Familiengerichte erheblich zu entlasten. ({12}) - Ja, das ist ein vernünftiger Gedanke. Ich weiß, dass viele dieser Punkte bei Ihnen sicherlich erst einmal auf Unverständnis stoßen. Das sehe ich Ihren Gesichtern an. Wir werden an diesen Reformen aber nicht vorbeikommen, wenn wir eine effektive Justiz, insbesondere eine ordentliche Gerichtsbarkeit, erhalten wollen. Von daher bin ich guten Mutes, dass wir mit diesen Vorschlägen bei den Bundesländern wieder einmal mehr Verständnis als bei Ihnen finden. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Norbert Barthle das Wort.

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Stünker, ich werde Ihre für mich etwas schwer verdaulichen Vorschläge zu dieser späten Stunde nicht mehr bewerten. Ich will als neuer Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für den Haushalt des Bundesjustizministeriums meine Rede eigentlich mit einem Lob an die neue Bundesjustizministerin Frau Zypries beginnen. ({0}) Frau Zypries, Sie haben sich anders als Ihre Kabinettskollegen - ich denke da an Herrn Clement und an Frau Bulmahn - zu Beginn der neuen Legislaturperiode keinen neuen beamteten Staatssekretär „gegönnt“. Das mag an der Qualität Ihres bisherigen liegen. Das liegt vielleicht auch an der Einsicht, dass der Staat, wenn er vom Sparen redet, das nicht nur auf die Bürgerinnen und Bürger abwälzen, sondern eigentlich zuerst bei sich ansetzen sollte. ({1}) Da ich aber weder von Ihnen noch von Ihrem Kollegen Schily einen Protest gegen die Ausweitung des Apparates der Bundesregierung gehört habe, muss ich mein Lob schon wieder ein bisschen einschränken. Diese Bundesregierung ist nämlich die teuerste, die wir je hatten. Das können wir uns in diesen Zeiten eigentlich nicht leisten. ({2}) Ich hätte Ihnen, Frau Kollegin, auch gegönnt, dass Sie etwas früher ins Amt gekommen wären. ({3}) Das war leider nicht möglich, weil der Bundeskanzler Ihre Vorgängerin nicht, was er hätte tun sollen, sofort nach ihrem Fauxpas aus dem Amt genommen hat. ({4}) Da wir schon so viel vom Sparen reden, lassen Sie mich auch noch sagen, dass für mich - man hört es vielleicht: Ich komme aus dem Schwabenland; wir gelten ja als Experten im Sparen - derzeit eine vollkommen neue Definition des Sparens stattfindet. Sparen heißt plötzlich höhere Schulden, höhere Steuern, höhere Sozialabgaben und eine weitere Verlagerung von Belastungen auf Länder und Gemeinden. Aber lassen wir das dahingestellt sein. Ich meine, wenn man schon vom Sparen redet und konstruktive Haushaltsberatungen durchführen will, dann braucht man eine Kenntnis der tatsächlichen Ist-Situation sowie belastbare und wahrhafte Prognosen hinsichtlich der künftigen Entwicklung. Daran, meine Damen und Herren, hat es diese Bundesregierung leider etwas fehlen lassen. ({5}) - Deutlich fehlen lassen! Sie ist uns, dem Parlament, und auch der Öffentlichkeit die Wahrheit schuldig geblieben. Schauen wir aber jetzt auf die Zukunft, auf den Etat des Jahres 2003. Wenn man das Sprichwort gelten lässt, dass man aus Schaden klug werde, so muss ich leider etwas an der Intelligenz der Bundesregierung zweifeln. Denn der Nachtragshaushalt 2002 ist noch nicht verabschiedet, da erliegen Sie schon wieder der Versuchung, die Zukunft durch die rosarote Brille zu sehen, mehr Einnahmen und weniger Ausgaben zugrunde zu legen, als es die Realität von Ihnen fordert. Das ist schädlich, Frau Zypries, auch für Ihren Etat; denn Ihr - wie Sie sagten so kleiner und feiner Etat ist gerade auf Seriosität angelegt. Deshalb wäre es notwendig, an dieser Stelle etwas genauer hinzuschauen. Der Bundesfinanzminister gibt in seinem Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft des Bundes eine sehr schöne Einschätzung wieder. Er sagt nämlich, die Aufwärtsentwicklung gegenüber dem Jahr 2002 werde sich voraussichtlich fortsetzen und an Breite gewinnen. Wenn ich diesen Satz den Menschen draußen sage, dann können sie noch nicht einmal mehr lachen; denen ist zum Weinen zumute. Was sagt die Bundesregierung? Sie setzt sich ab. Sie will eben gerade nicht den Einschätzungen des Sachverständigenrates folgen; denn diese Einschätzungen seien, so die Bundesregierung, viel zu pessimistisch, da der Sachverständigenrat von erheblich geringeren Wachstumsraten ausgehe. Ich meine, Sie sollten nicht weiterhin den Wunsch als Vater des politischen Handelns nehmen, sondern den Sachverständigen, die Sie selbst eingesetzt haben, mehr Vertrauen schenken. Das heißt, auch Ihr Etat, Frau Zypries, steht auf tönernen Füßen; auch Ihr Etat birgt bereits die Grundlage für einen Nachtragshaushalt im Jahre 2003 in sich. Das ist unter haushalterischen Gesichtspunkten der völlig falsche Weg. Wenn ich mir den Justizetat etwas näher anschaue, dann muss ich feststellen, Frau Ministerin: Sie haben zwar vieles erwähnt und dargelegt, was Sie machen wollen, Sie haben aber nichts darüber gesagt, wo Sie noch Einsparungen vornehmen wollen. Es sind immerhin bereits 4,2 Millionen Euro globale Minderausgaben etatisiert. Das ist immerhin doppelt so viel, wie Sie zum Beispiel für die Informationstechnik ausgeben. Hinzu kommt noch die bereits vom Finanzminister verfügte und bei ihm eingebrachte weitere globale Minderausgabe in Höhe von 1,3 bzw. 1,5 Milliarden Euro, die, heruntergebrochen auf Ihr Ministerium, roundabout 10 Millionen Euro ausmacht. Da sehe ich noch keine Perspektive, wie Sie das bewerkstelligen wollen. Im Gegenteil, ich sehe keine Einsparmöglichkeiten; denn der Justizetat ist kein Investitionsetat, kein Steinbruch, in dem man durch Verschieben oder Strecken Freiräume schaffen kann. Deshalb appelliere ich an Sie, Frau Ministerin, die Einsparungen mit Augenmaß vorzunehmen. Es findet unsere Zustimmung - das sage ich ganz deutlich -, dass Sie die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit um rund 24 Prozent kürzen. Das mag auch dem Wahlkampf geschuldet sein, aber das ist prinzipiell der richtige Weg. Wovor ich aber eindringlich warne, sind Kürzungen bei den Ihrem Ministerium nachgeordneten Behörden, zum Beispiel beim Deutschen Patent- und Markenamt. ({6}) Sie haben erwähnt, dass dort Positives geschieht. Das Maßnahmenpaket, dessen Umsetzung bereits erfolgreich angelaufen ist, darf auf keinen Fall aufgeschnürt werden. Ich begrüße es ausdrücklich, dass zu Beginn dieses Jahres 106 neue Stellen im DPMA geschaffen worden sind, davon allein 76 im Patentbereich. Da wird gute Arbeit geleistet. ({7}) Für dieses Jahr erwartet man bei den Patentanmeldungen wiederum ein Rekordergebnis. Das heißt, die Kreativität, der Erfindungsreichtum unserer Menschen, der Rohstoff Geist ist trotz PISA noch vorhanden, wird gefunden und auch erschlossen. Da ich aus Baden-Württemberg komme, darf ich sagen: Baden-Württemberg ist dank der langjährigen guten CDU-Bildungspolitik das Land, das die meisten Tüftler stellt. Seit Jahren kommt rund ein Viertel aller Patente aus Baden-Württemberg. Darauf bin ich stolz. Innerhalb Baden-Württembergs werden wiederum aus der Region Ost-Württemberg, aus der ich komme, die meisten Patente angemeldet. Wir werben mit dem Slogan „Raum für Talente und Patente“. Sie sehen, ich habe schon wegen meiner Herkunft allen Grund, dafür zu plädieren, dass Sie ein gut ausgestattetes und leistungsfähiges Patent- und Markenamt führen. Das nützt nicht nur mir und unseren Wählerinnen und Wählern in meinem Wahlkreis, das nützt vor allem der gesamten deutschen Bevölkerung, das nützt der deutschen Wirtschaft. Wir brauchen Innovationsfähigkeit, wir brauchen schnelle Abläufe, zumal diese Behörde - das wurde bereits erwähnt - regelmäßig mehr einnimmt, als sie ausgibt. Deshalb sage ich ganz deutlich: Das Patentamt ist ein Juwel innerhalb der Behördenlandschaft und das gilt es zu pflegen. Aber wir brauchen für noch schnellere Verfahren und noch schnellere Abläufe noch bessere Ausstattungen. Ich möchte einen zweiten Bereich ansprechen, bei dem ich Sie bitte, nicht zu kürzen, sondern im Gegenteil die Mittel zu erhöhen, beim Generalbundesanwalt. Der hat ganz besondere Aufgaben, die man insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender Bedrohung durch Terrorismus nicht einschränken darf, sondern eher ausweiten muss. Wo Sie ebenfalls noch besser werden könnten, hat mein Kollege Wolfgang Götzer schon angesprochen. Ich meine insbesondere die Strafrechtsreform mit dem Bereich der Sexualstraftaten. Darauf will ich nicht näher eingehen, aber ich bedauere es schon, dass gerade in diesen Tagen über einen Mann aus dem Schwarzwald verhandelt wird, der innerhalb von zehn Tagen zwölf Straftaten begangen hat. Die hätten nicht sein müssen, hätten wir die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung. ({8}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Zitat zum Schluss kommen. Wie sagte Goethe in „Dichtung und Wahrheit“? Gibt doch die Beschaffenheit der Gerichte und der Heere die genaueste Einsicht in die Beschaffenheit irgendeines Reiches. Nun leben wir zum Glück nicht mehr in einem Reich, aber Ihre Arbeit, Frau Ministerin, kann dazu beitragen, dass die Menschen einen besseren Eindruck von unserer Republik bekommen. Das ist nach meinem Eindruck gerade nach dem Schaden, den Ihr Kollege Struck bereits angerichtet hat, bitter nötig. Dazu wünsche ich Ihnen von dieser Stelle aus viel Erfolg und alles Gute. Uns allen wünsche ich noch erfolgreiche und konstruktive Haushaltsberatungen. Danke sehr. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 5. Dezember, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.