Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp,
Rainer Brüderle, Dr. Andreas Pinkwart, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Staatseingriffe minimieren - Energiegipfel nutzen
- Drucksache 15/3809 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({1})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer,
Dr. Christian Ruck, Annette Widmann-Mauz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Weltbevölkerungspolitik zehn Jahre nach Kairo
- Drucksache 15/3798 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Fototafeln zum 17. Juni 1953 erhalten
- Drucksache 15/3800 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({4})
Innenausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger,
Christian Schmidt ({5}), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für ein konsequentes Engagement in Afghanistan
- Drucksache 15/3801 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Pläne der CDU zur
Einschränkung von Arbeitnehmer- und Sozialrechten
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Nolte,
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für eine demokratische und freie Präsidentenwahl 2004 in der Ukraine
- Drucksache 15/3799 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 15/1494 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8})
- Drucksache 15/2999 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Friedrich Ostendorff
Hans-Michael Goldmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({9}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Praxisgerechte Novelle des Tierarzneimittelgesetzes ver-
bessert Tier- und Verbraucherschutz
- Drucksachen 15/1596, 15/2999 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Friedrich Ostendorff
Hans-Michael Goldmann
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Volker
Wissing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Agrarischen Veredlungsstandort Deutschland stärken Bürokratie abbauen und Rahmenbedingungen verbessern
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
- Drucksache 15/3103 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Des Weiteren sollen folgende Tagesordnungspunkte
abgesetzt werden: Punkt 13 - Gesetz zur Einführung der
Europäischen Gesellschaft -, der unter Punkt 17 aufgeführte Ukraine-Antrag der Koalition, Punkt 29 - Signaturänderungsgesetz - sowie die Punkte 31 c und 31 d,
Geltungsdauer der §§ 100 g und 100 h StPO und Änderung des Strafvollzugsgesetzes.
Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 15 - Europäische Beweisanordnung - bereits nach Tagesordnungspunkt 12 aufzurufen.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 126. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({11}), Dirk Fischer ({12}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU: Radverkehr fördern - Fortschrittsbericht vorlegen
- Drucksache 15/3708 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finanziellen Unterstützung der Innovationsoffensive
durch Abschaffung der Eigenheimzulage
- Drucksachen 15/3781, 15/3821 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Minkel, Dirk Fischer ({15}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Wohneigentumsförderung weiterhin notwendig
- Drucksache 15/3714 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Hans Eichel.
({17})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute den dritten Aspekt des
Dreiklangs, mit dem wir unser Land nach vorne bringen
wollen: Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung und
Wachstumsimpulse.
({0})
- Lachen Sie doch nicht! Der IWF hat soeben zu seiner
Jahrestagung in Washington, zu der ich mit einer Reihe
von Kollegen am Ende dieses Tages fliegen werde, seine
Wachstumsprognose für Deutschland für dieses Jahr
von 1,6 auf 2 Prozent heraufgesetzt. Das ist die Konsequenz einer solchen Politik.
({1})
Wir reden also über den dritten Teil des Dreiklangs.
Die entscheidende Frage ist: Was ist der Beitrag der Finanzpolitik und der Haushaltspolitik zu einer solchen
Wachstumsoffensive? Entscheidend ist doch, dass wir
das, was wir übrigens selber in Europa, in der LissabonStrategie, beschlossen haben, ernst nehmen.
({2})
- Für Sie ja! Sie haben die Bildungsausgaben in Ihrer
Regierungszeit in den 90er-Jahren als Steinbruch benutzt; wir haben sie wieder heraufgesetzt.
({3})
Insofern ist das für Sie neu; da haben Sie völlig Recht.
Die Lissabon-Strategie und den Stabilitäts- und
Wachstumspakt zusammenzubringen, das ist der Sinn
der gegenwärtigen Diskussion. Dabei geht es nicht nur
um die Haushaltskonsolidierung - die selbstverständlich
weiterhin eine Rolle spielt -, sondern es geht auch um
die Qualität des Budgets, um die Qualität der Ausgaben.
Künftiges Wachstum, zumal in einem rohstoffarmen
Land wie Deutschland, können wir nur dann erzielen,
wenn wir in Bildung und Forschung investieren.
({4})
Wie notwendig das ist, haben uns die verschiedenen
PISA-Studien gezeigt. Ich kann nur nachhaltig an Sie
alle appellieren, nun wirklich ernsthaft - was Frau Kollegin Bulmahn die ganze Zeit versucht - auf diese Debatte einzugehen und dieses für unsere Zukunft entscheiBundesminister Hans Eichel
dende Ziel nicht im Kompetenzgerangel untergehen zu
lassen.
({5})
Die Diskussion muss mit Blick auf die Wirtschaftsund Finanzlage geführt werden. Wir sind aus der wirtschaftlichen Stagnation heraus. Das war das Ziel, das wir
uns im vergangenen Jahr mit dem Dreiklang gesteckt
hatten. Der IWF hat gerade jetzt in seiner Beurteilung
über Deutschland gesagt, dass genau dies der richtige
Weg sei. Er hat sich deswegen - ich sage das präzise verhalten optimistisch in Bezug auf die weitere Entwicklung in Deutschland gezeigt. Mit diesem Dreiklang sind
wir, wie gesagt, aus der dreijährigen Stagnationsphase
herausgekommen.
Allerdings muss man auch Folgendes feststellen
- deswegen will ich eine kurze Information zum Nachtragshaushalt geben -: Die Wirtschaft wächst zwar;
aber die Steuereinnahmen gehen nach wie vor zurück.
Der Hintergrund ist, dass das Wirtschaftswachstum noch
fast ausschließlich vom Export getrieben wird. Zum einen bilden die Einnahmen aus der Umsatzsteuer dieses
Wachstum nicht ab. Zum anderen hat es bis zum Sommer
- jetzt ist dieser Prozess anscheinend zu einem Stillstand
gekommen - einen Abbau am Arbeitsmarkt gegeben.
Das heißt, auch die Einnahmen aus der Lohnsteuer bilden
dieses Wirtschaftswachstum vordergründig nicht ab.
Ich habe bereits bei der Steuerschätzung im Mai gesagt, dass es ein Risiko von 10 Milliarden bis 11 Milliarden Euro gegenüber dem Haushaltsplanentwurf gibt.
Aufgrund des Vergleichs der Steuerschätzung vom Mai
mit der Steuerschätzung vom November und aufgrund
der Arbeitsmarktentwicklung muss man feststellen, dass
beim Bund - auch das habe ich schon im Sommer gesagt;
das kommt ebenfalls hinzu - zwei Steuern nicht richtig
laufen: Das ist zum einen die Mineralölsteuer aufgrund
des hohen Ölpreises und zum anderen die Tabaksteuer.
Ich muss also mit weiteren Steuereinnahmeausfällen gegenüber der Mai-Steuerschätzung rechnen.
Ich werde deshalb am Mittwoch einen Nachtragshaushalt im Kabinett einbringen, der eine Nettokreditaufnahme von 43,7 Milliarden Euro, also nicht die vorgesehenen 29,3 Milliarden Euro, vorsieht.
({6})
Ich gehe davon aus, dass diese Zahl im Nachtragshaushalt stehen wird. Diesen Umfang hatten wir auch im
Nachtragshaushalt des vergangenen Jahres.
({7})
Ich gehe im Moment allerdings nicht davon aus, dass
- wie im vergangenen Jahr - das Ergebnis besser sein
wird. Das muss ich mit aller Klarheit sagen. Aber ich
rechne damit, dass diese Zahl zu halten ist. Darüber werden wir am 6. Oktober im Kabinett reden.
Wir haben im vergangenen Jahr den Nachtragshaushalt bewusst nach der November-Steuerschätzung eingebracht, um ihn in Kenntnis dieser Steuerschätzung
aufstellen zu können. Weil der Bundesrat zu einer Fristverkürzung nicht bereit war, hat das dazu geführt, dass
die Debatte erst im neuen Jahr abgeschlossen wurde. Um
das zu vermeiden, bringen wir dieses Jahr den Nachtragshaushalt früher ein.
({8})
Wir müssen aber damit rechnen, dass sich in Kenntnis
der November-Steuerschätzung ein zusätzlicher Korrekturbedarf ergeben kann. Ich gehe im Moment nicht davon aus; aber auszuschließen ist es nicht. Das ist die gegenwärtige Situation.
Ich will noch auf eines hinweisen. Wer sich über das
hohe Defizit aufregt - auch ich tue das - und wer sich
über die hohen Privatisierungserlöse aufregt - das tue
ich so nicht, weil ich inzwischen festgestellt habe, dass
zum Beispiel Hessen, Bayern und Baden-Württemberg
Privatisierungserlöse für ihre laufenden Haushalte genauso einsetzen, wie wir das tun -, der sollte sich Folgendes fragen: Könnten wir beim Abbau von Steuersubventionen nicht wesentlich weiter sein? Das ist die
entscheidende Quelle, um die öffentlichen Haushalte
besser zu stellen.
({9})
Wenn Sie das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen nicht im Wesentlichen blockiert hätten - es hätten sich Einsparungen von 17 Milliarden Euro in dem
Jahr ergeben, in dem es voll wirksam gewesen wäre; Sie
haben im Bundesrat aber nur einem Abbau in Höhe von
2,4 Milliarden Euro zugestimmt -, stünden wir heute anders da.
({10})
Ich sage Ihnen in ziemlich genauer Kenntnis der
Lage, dass ich den Eindruck habe, dass in einer Reihe
von Ländern, auch in von Ihnen regierten Ländern, ein
großer Katzenjammer über dieses Verhalten eingetreten
ist, weil die Länder die Folgen jetzt - zwei Jahre später in ihren Haushalten spüren. Selbst das reiche BadenWürttemberg hat riesige Probleme, im nächsten Jahr
noch einen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen.
Das ist die Konsequenz, wenn Parteitaktik über das
staatspolitisch Notwendige siegt. Das müssen Sie selber
vertreten.
({11})
Heute geht es um den Abbau von Steuersubventionen.
Das Ziel ist eine bessere Qualität des Budgets und nicht
die Schuldenreduzierung. Damit können wir das tun,
was dringend notwendig ist, nämlich mehr in Kinderbetreuung, Bildung, Ausbildung sowie in Forschung und
Innovation zu investieren.
({12})
Unser Vorschlag, die Eigenheimzulage endgültig abzuschaffen, findet breite Unterstützung. Ob Bundesbank,
ob Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung oder die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute: Sie alle haben die
Eigenheimzulage infrage gestellt und ihre Abschaffung
empfohlen. So schrieb zum Beispiel der Sachverständigenrat in seinem letzten Gutachten - ich zitiere -:
Die Eigenheimzulage hat sich überlebt. Die Politik
sollte sich zu einer kompletten Streichung der Eigenheimzulage durchringen.
Es gibt viele Aspekte, die für die Abschaffung der Eigenheimzulage sprechen:
Erstens. Die Wohnraumversorgung in Deutschland ist
so gut wie nie zuvor. Vielerorts in den neuen Ländern
gibt es mittlerweile sogar große Leerstände.
Zweitens. Langfristig wird der Bedarf an Wohnraum
in Deutschland sinken. Das ist eine logische Konsequenz
des demographischen Wandels.
Drittens. Die Eigenheimzulage hat große Mitnahmeeffekte und darüber hinaus wirkt sie preistreibend, obwohl sie - da gebe ich den Wohnungspolitikern Recht auch positive Aspekte gehabt hat.
Ich will überhaupt nicht bestreiten, dass all das, was
wir tun, auch Widerhaken hat. Aber in der Situation, in
der wir uns derzeit befinden, können wir keine Vorschläge machen, die allen gefallen. Wir müssen vielmehr
Vorschläge machen, die für die Zukunft dieses Landes
notwendig sind. Diese Subvention hat unter den von mir
genannten Bedingungen keine Berechtigung mehr.
An diesen Rahmenbedingungen muss sich eine verantwortungsvolle Finanz- und Wirtschaftspolitik orientieren. Zur Abschaffung dieses wohnungspolitischen Instruments gibt es deswegen keine sinnvolle Alternative.
Wir verknüpfen die Abschaffung der Eigenheimzulage
ganz bewusst mit der Innovationsoffensive; denn wir
können und wollen sie nicht über zusätzliche Schulden
finanzieren. Ein ressourcenarmes Land wie Deutschland
kann im internationalen Wettbewerb nur bestehen, wenn
es in sein Humankapital investiert. Genau dafür wollen
wir die Mittel einsetzen, die durch das Auslaufen der Eigenheimzulage frei werden.
({13})
Anders ausgedrückt: Wir müssen in die Köpfe der Menschen investieren. Das ist die zentrale Aufgabe.
Das ist auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. Wir müssen die Weichen heute so stellen, dass
künftiges Wachstum möglich ist, damit auch künftige
Generationen in Wohlstand leben können. Dazu haben
wir uns im Rahmen der Lissabon-Strategie das Ziel gesetzt, allein für den Bereich Forschung 3 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes auszugeben. In Deutschland
bedeutet das, dass etwa zwei Drittel vom Privatsektor
und ein Drittel vom öffentlichen Sektor geleistet werden
müssen; da haben wir noch eine Menge zu tun.
Denken Sie immer daran: Die Entscheidungen, die
wir heute treffen, wirken in vielen Bereichen über die
Legislaturperiode hinaus. Sie reichen weit in das vor uns
liegende Jahrhundert. Denken Sie zum Beispiel an die
Strukturreformen der Agenda 2010, an die Reformen auf
dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitsbereich oder - noch
weiter reichend - bei der Rente! All dies sind Schritte
auf dem Weg, unser Land an die Herausforderungen dieses Jahrhunderts, an den demographischen Wandel und
an die Globalisierung, anzupassen und diese Herausforderungen annehmen und bestehen zu können.
Auch die Innovationsoffensive ist ein wichtiger
Schritt, die Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu sichern.
Nicht zuletzt die Ergebnisse der PISA-Studie haben gezeigt: Wir müssen in Bildung und Forschung investieren,
wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen.
({14})
Dabei geht es übrigens nicht nur um Geld; es geht auch
um die Rahmenbedingungen. Beispielsweise die Einrichtung der Juniorprofessur im Kompetenzgerangel
zwischen Bund und Ländern zerschellen zu lassen wäre
nicht zu verantworten.
({15})
Die Abschaffung der Eigenheimzulage ist ein wesentlicher finanzpolitischer Beitrag zur nachhaltigen Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft. Sie ist ein wichtiger Beitrag zu mehr Wachstum
und mehr Beschäftigung. Dies ist wie alle Vorschläge
vorher zum Subventionsabbau ein Angebot des Bundes
an die Länder und Gemeinden. Wir wollen alle aufgrund
der Abschaffung der Eigenheimzulage frei werdenden
Mittel - das sind bis 2008 3 Milliarden Euro - in den
Bereich der Forschung investieren. Dasselbe können
auch Länder und Kommunen tun.
Die frei werdenden Mittel bauen sich ja Schritt um
Schritt auf. Das ist übrigens für Investitionen in diesem
Bereich sehr vernünftig. Denn Sie erreichen nicht sehr
viele zusätzliche Leistungen, wenn Sie den Geldhahn
plötzlich aufdrehen. Das alles muss ja organisiert und
Schritt um Schritt aufgebaut werden; ansonsten wäre es
nicht nachhaltig. Aber wenn die Eigenheimzulage nach
acht Jahren dann insgesamt ausgelaufen ist, stehen für
Bund, Länder und Gemeinden nachhaltig jährlich 6 Milliarden Euro mehr für die Bereiche Kinderbetreuung sowie Bildung und Forschung zur Verfügung:
({16})
2,5 Milliarden Euro für die Länder, 2,5 Milliarden Euro
für den Bund und knapp 1 Milliarde Euro für die Kommunen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich,
Ihre bisher ablehnende Position zu überdenken. Mein
Eindruck ist - ich weiß, wovon ich rede -, dass viele
Länder inzwischen bedauern, dass sie aus parteipolitischen Gründen den Abbau der Subventionen blockiert
haben und inzwischen neu darüber nachdenken. Ich
wage eine Prognose: Heute werden Sie den Gesetzentwurf wieder ablehnen. Aber Sie werden diese Ablehnung in diesem Jahr nicht mehr durchhalten - darauf
gebe ich Ihnen Brief und Siegel - und im Interesse der
Sache ist dies auch richtig.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Seiffert, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Eichel, Sie haben eingangs die desaströse
Finanzsituation, die Sie maßgeblich mit zu verantworten
haben, dargestellt. Ich kann Ihnen nur eines sagen: All
das, was Sie jetzt beklagen, haben wir Ihnen prophezeit.
Wir haben Ihnen prophezeit, dass Sie viel zu optimistische Wachstumsraten zugrunde legen. Wir haben Ihnen
prophezeit, dass bei weitem nicht die Steuereinnahmen
erzielt werden, mit denen Sie gerechnet haben.
({0})
- Wir sind keine Schwarzredner. Wir werden seit drei
Jahren regelmäßig durch die Wirklichkeit bestätigt, Herr
Kollege Poß.
({1})
Ihre Haushalte sind seit drei Jahren auf Sand gebaut.
Bei Ihnen gibt es eine Rekordverschuldung nach der anderen; aber immer sind die anderen schuld. Meine Damen und Herren, Sie sind schuld wegen Ihrer völlig verfehlten Finanzpolitik.
Jetzt wollen Sie einen erneuten Versuch starten, die
Eigenheimzulage abzuschaffen. Das ist ein Musterbeispiel für Ihre sprunghafte, unkalkulierbare Politik.
({2})
Mit solchen Aktionen schaffen Sie nur Verunsicherung
bei den Menschen und zerstören das Vertrauen in die
Politik.
Erst im vergangenen Dezember, Herr Minister Eichel,
haben Sie im Vermittlungsausschuss einer Reform der
Eigenheimzulage zugestimmt. Wir waren uns völlig einig, dass wir den Menschen, die im Inland leben und bis
zu 70 000 bzw. 140 000 Euro im Jahr verdienen, einen
zusätzlichen Anreiz zur Schaffung von Wohneigentum
geben müssen. Wir waren uns einig, dass man Missbrauch abbauen muss, dass man Schwarzarbeit verhindern muss. Wir haben den Förderbetrag auf 1 250 Euro
pro Jahr gekürzt und das Baukindergeld erhöht. All das
haben wir einvernehmlich beschlossen. Ich sage es noch
einmal: Das war im Dezember 2003. Damals ist die Eigenheimzulage unter bau-, familien- und haushaltspolitischen Aspekten nach Auffassung aller optimal gestaltet
worden.
Ich halte es, gelinde gesagt - das muss ich einmal
deutlich sagen -, für einen miserablen politischen Stil,
wenn man Punkte, zu denen es im Vermittlungsausschuss zu Ergebnissen gekommen ist, bei denen man
sich aber nicht durchsetzen konnte, kurze Zeit später
wieder aufgreift. So kann man nicht miteinander umgehen.
({3})
Das gilt für die Eigenheimzulage genauso wie für die
Verbilligung des Agrardiesels. Es ist an der Zeit, die Diskussion um die Eigenheimzulage nicht ständig neu zu
beleben, damit die Bauherren nicht immer aufs Neue
verunsichert werden.
Mit dem immer wieder gebetsmühlenartig erhobenen
Vorwurf, die Union verhindere den Subventionsabbau,
täuscht Rot-Grün die Menschen.
({4})
Das Volumen der Eigenheimzulage wurde nämlich im
Zuge ihrer Neustrukturierung im Dezember des vergangenen Jahres um 30 Prozent gekürzt.
Kollege Seiffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Eichel?
Nein.
({0})
Die auch heute wieder aufgestellte Behauptung, die
Union verhindere den Abbau von Subventionen, ist
blanker Unsinn. Ich will Ihnen einige Beispiele nennen:
Aus purer Wahltaktik ist von der Bundesregierung eine
langfristige Aufstockung der Kohlesubventionen um
16 Milliarden Euro vorgenommen worden. Immer wieder verweigert Rot-Grün Einsparungen bei den Zuschüssen zur Förderung des ökologischen Landbaus. Sie machen Geld locker für Zuschüsse zur Zinsverbilligung von
Krediten im Rahmen eines Bundesprogramms für artgerechte Tierhaltung und für die finanzielle Unterstützung
des Exports von Technologien im Bereich erneuerbarer
Energien. Das zählt meines Erachtens ebenfalls zu den
Subventionen.
({1})
Wenn Sie da kürzen wollen,
({2})
können Sie mit unserer Zustimmung rechnen.
Ich mache Ihnen einen weiteren Vorschlag, wie Sie zu
Geld kommen können:
({3})
Schauen Sie sich das Schwarzbuch über die Steuerverschwendung an! 30 Milliarden Euro an Steuerverschwendung hat Ihnen der Bund der Steuerzahler in der
letzten Woche aufgezeigt. Wenn es gelingt, nur 10 Prozent von diesen 30 Milliarden Euro künftig zu vermeiden, haben Sie deutlich mehr Geld in der Kasse als durch
die Abschaffung der Eigenheimzulage.
({4})
Ich finde, wir können über die Feststellung, dass auf allen Ebenen Steuergelder verschwendet werden, durchaus
auch im Bundestag reden, obwohl uns natürlich klar ist,
dass nicht alles vom Bund zu verantworten ist. Aber
10 Prozent davon könnten Sie einsparen.
Nun täuscht Rot-Grün vor, die eingesparten Mittel
sollten in den Bereich Bildung und Forschung fließen.
Das klingt tatsächlich elegant. Aber, Frau Ministerin
Bulmahn, davon bekommen Sie keinen Cent.
({5})
Wenn der Bundesfinanzminister so großen Wert auf
Innovation und Forschung legen würde, dann könnte er
Ihnen ja mehr Geld geben.
({6})
Wir haben nichts dagegen, aber nicht aus der Eigenheimzulage. Er kann andere Prioritäten setzen und Ihnen
mehr Geld geben, wenn er das für so wichtig hält.
Kollege Seiffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Poß?
Ich gestatte keine Zwischenfragen;
({0})
ich will im Zusammenhang vortragen. Sie können ja
nachher reden.
Es ist also völlig offen, ob und in welchem Umfang
die eingesparten Mittel tatsächlich für Bildungs- und
Forschungszwecke eingesetzt werden. Hier werfen Sie
mit Nebelkerzen. Sie könnten eine Zweckbindung vorsehen. Aber in der Begründung zu dem Gesetzentwurf, den
Sie vorlegen, findet sich nur ein baupolitischer Grund
für die Abschaffung der Eigenheimzulage.
({1})
Allein der Gesetzestitel enthält den Begriff „Innovationsoffensive“.
Hinter der Abschaffung der Eigenheimzulage steht
überhaupt kein Konzept. Es geht Rot-Grün einzig und
allein darum, Haushaltslöcher zu stopfen und die Rekordverschuldung etwas einzudämmen. Außerdem
könnte das Einsparvolumen aus der Eigenheimzulage
das Versagen in der Bildungspolitik, das Sie sich vorwerfen lassen müssen, überhaupt nicht annähernd ausgleichen.
({2})
Wenn man das allein mit Geld regeln könnte, dann wären andere Summen nötig.
Die Bundesregierung bemüht sich, die Menschen zu
einer besseren privaten Altersvorsorge zu animieren.
Ich unterstelle in diesem Bereich einmal Ihren guten
Willen, auch wenn die bisher beschlossenen Konzepte
überhaupt nicht funktionieren. Das gilt für die RiesterProdukte; das gilt für die staatlich geförderte Zwangsrente, die Sie im Alterseinkünftegesetz durchgesetzt haben.
({3})
Beides wird von den Menschen nicht angenommen, weil
Sie zwangsregulieren und die Menschen am goldenen
Zuschusszügel führen wollen. Nun wollen Sie das einzige bisher noch funktionierende Produkt, nämlich die
Eigenheimzulage, ersatzlos beseitigen. Welch ein widersprüchliches Verhalten! Sie haben keine Linie und keine
Konzeption in Ihrer Politik.
({4})
Es wäre logisch und sinnvoll, darüber nachzudenken,
ob und gegebenenfalls wie die Eigenheimzulage in die
staatlich geförderte Altersvorsorge integriert werden
kann. Die Berücksichtigung des Wohnungseigentums
wäre im Rahmen eines eigenständigen Altersvorsorgesystems eine wirkliche Alternative zu der staatlich geförderten Geldrente. Das würde von den Menschen angenommen und es würde Wachstum schaffen.
Meine Damen und Herren, das Vorhaben der Regierung ist durchsichtig: Sie wollen die Eigenheimzulage
abschaffen, weil Sie für Wohnungseigentum nichts übrig
haben. Sie geben nur vor, mit dem Geld Innovation zu
fördern; in Wirklichkeit ist Ihre Politik innovations- und
wachstumsfeindlich. Und Sie wollen mit dem Geld
Haushaltslöcher stopfen, weil Sie anderweitig zum Sparen nicht in der Lage sind. Eine solche Politik wird die
Union im Bundestag und im Bundesrat ganz sicher nicht
mitmachen.
({5})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Hans Eichel.
({0})
Herr Kollege, ich will nur auf Folgendes hinweisen,
da Sie eine Zwischenfrage von mir nicht zugelassen haben: Ihre Behauptung hinsichtlich der Sprunghaftigkeit
ist falsch. Sie haben nur eine sehr lange Leitung, bis Sie
zum Thema kommen.
({0})
Denn wir haben im Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen bereits die Reduzierung der Eigenheimzulage gewollt; Sie haben es komplett verhindert. Wir haben im Haushaltsbegleitgesetz im vergangenen Jahr die
Abschaffung der Eigenheimzulage im Zusammenhang
mit der Konsolidierung gewollt; Sie haben 30 Prozent
zugestanden. Wir wollen jetzt die Abschaffung der Eigenheimzulage, weil wir es angesichts der Ergebnisse
der PISA-Studie für dringend notwendig halten, dass die
Ausgaben für Forschung, Bildung und Entwicklung gesteigert werden.
({1})
Sie müssen dazu eine Alternative nennen. Das haben
Sie nicht getan.
({2})
Sie haben den Forschungsetat zurückgefahren; wir haben ihn gesteigert. Das sind die Realitäten.
({3})
Kollege Seiffert, Sie haben das Wort.
Herr Minister, jetzt bleiben Sie auch als Abgeordnetenkollege hier, wenn Sie schon von der Regierungsbank
auf einen Abgeordnetenplatz wechseln.
Bei einer Kurzintervention ist das nicht nötig, nur bei
einer Zwischenfrage.
Es ist uns völlig klar, Herr Minister, dass Ihnen die
Eigenheimzulage immer ein Dorn im Auge war.
({0})
Ich habe Ihnen auch völlig zu Recht unterstellt, dass Sie
mit Wohnungseigentumsförderung überhaupt nichts am
Hut haben.
({1})
Aber Folgendes ist ebenfalls wahr - das bezeichne ich
als Sprunghaftigkeit -: Sie haben den Verwendungszweck der Mittel, die Sie sich durch die Abschaffung der
Eigenheimzulage erhoffen, immer wieder verändert. Ursprünglich wollten Sie nur Haushaltslöcher stopfen; jetzt
wollen Sie das Geld in die Innovationsoffensive stecken.
({2})
Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass Sie mehr Geld
in Innovation und Forschung stecken. Aber Sie sollten
dafür nicht die bewährte Förderung der Schaffung von
Wohneigentum opfern.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie können sprunghaft Politik machen, wie Sie wollen; aber Sie können uns dafür
nicht mit in Haftung nehmen.
({4})
Ich erteile Kollegin Christine Scheel für die Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Seiffert, die Union hat sich, was die Tatsachen anbelangt, wahrlich nie mit Ruhm bekleckert.
({0})
In Ihren Prosatexten behaupten Sie immer, Sie wollten
Subventionen abbauen. Aber jedes Mal, wenn die Abschaffung einer Subvention auf der Tagesordnung steht,
hauen Sie sich in die Büsche. Das geht so nicht! Hier
geht es schließlich um die Wahrhaftigkeit in der Politik.
({1})
Es ist natürlich richtig, wenn behauptet wird, die
Haushaltslage sei sehr schwierig. Die Nettoneuverschuldung ist sehr hoch; das wissen wir.
({2})
Aber man muss auch sehen, dass wir im letzten Jahr Vorschläge für einen Subventionsabbau in einer Größenordnung von 17 Milliarden Euro unterbreitet haben. In den
Verhandlungen mit Ihnen sind davon knapp 3 Milliarden
Euro übrig geblieben. Wäre es nicht zu einer solchen
Differenz gekommen, hätten wir heute eine andere
Haushaltssituation. Das ist die Wahrheit, die Sie immer
verschweigen.
({3})
Auf der einen Seite verlangen Sie, wir sollten nicht so
viele Schulden machen. Wenn wir aber staatliche Ausgaben beschränken wollen, weil wir sie nicht mehr als zeitgemäß empfinden und weil sie die Zukunftsfähigkeit unseres Landes nicht mehr stärken,
({4})
sondern die Haushalte belasten, dann sind Sie jedes Mal
auf der Seite der Verweigerer zu finden.
({5})
Insgesamt betrachtet ist dies verantwortungslos. Dies
gilt nicht nur im Hinblick auf den Haushalt des Bundes,
sondern auch im Hinblick auf die Haushalte der Länder
und Kommunen.
Heute geben wir Ihnen wieder einmal die Gelegenheit, Ihre wunderbaren radikalen Forderungen nach Abbau steuerlicher Subventionen und durchgreifender Vereinfachung des Steuerrechts - auch dies hat etwas
damit zu tun - bei einer Einzelsubvention, nämlich der
Eigenheimzulage, zu verwirklichen. Sie können also den
Anspruch, den Sie draußen bei den Bürgern und Bürgerinnen immer wieder formulieren, heute ein großes
Stück einlösen, wenn Sie bereit sind, diesen Weg mitzugehen. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten folgen, indem Sie sich hier einmal vernünftig verhalten!
({6})
Immer wieder Bedenkenträgerei, immer wieder Verteidigung von Klientelinteressen, immer wieder ein Einknicken, wenn es hier darum geht, Klarheit zu schaffen
({7})
und sich zu überlegen, dass es bei der staatlichen Subventionspolitik - dies wissen mittlerweile alle Bürger
und Bürgerinnen - so nicht weitergehen kann.
Wir brauchen mehr Geld für Investitionen in die Zukunftsfähigkeit. Angesichts der knappen öffentlichen
Mittel bedeutet dies, dass wir andere Prioritäten setzen
müssen. Die Abschaffung der Eigenheimzulage bringt
langfristig 6 Milliarden Euro. Der Minister hat darauf
hingewiesen, dass es 3 Milliarden Euro für den Bund
und 3 Milliarden Euro für die Länder, davon 1 Milliarde
Euro für die Kommunen, sind, die die Gebietskörperschaften dringend brauchen, um ihre Investitionstätigkeit wieder verbessern zu können. Hier verweigern Sie
sich. Sie wollen keine zusätzlichen Mittel für Forschung
und Bildung. Dies kann und darf man so nicht stehen
lassen.
Ich weiß zwar auch, dass einmal eingeführte Subventionen ein unheimliches Beharrungsvermögen entwickeln können. Wir haben in den letzten Jahren sehr einschlägige Erfahrungen gemacht, wenn es um die Absicht
ging, Subventionen abzubauen. Ich erinnere an die Debatten im letzten Dezember, in denen die Union sagte:
Wenn im Bereich der Landwirtschaft die Subventionen
für den Agrardiesel zurückgenommen werden, dann
verweigern wir uns allen Reformen, von der Arbeitsmarktreform bis zur Steuerreform. Man muss sich einmal vorstellen, welches Druckpotenzial hier aufgebaut
wird, weil Sie zu feige sind, gegenüber bestimmten
Klientelgruppen eine klare Position zu vertreten.
({8})
- Das, was Sie an den Tag legen, nennt man Reformunfähigkeit, Herr Austermann. Sie haben bei den Haushaltsberatungen immer wieder gesagt, der Staat müsse
einsparen und solle sich nicht mehr so hoch verschulden.
({9})
- Richtig, kann ich nur sagen; aber wenn wir Vorschläge
machen, dann verweigern Sie sich diesen Vorschlägen,
während Sie nach außen so tun, als ob die Regierung allein dieses Problem habe. Aber das Problem sind Sie; es
besteht nicht in dem, was die Regierung vorschlägt.
({10})
Sie tun immer so, als seien Sie oberklasse, also hat die
CDU beschlossen, dass mehr Geld in Bildung fließen
müsse. Dann fiel Angela Merkel ein, wir könnten jetzt
endlich einmal mehr Bildungsinvestitionen tätigen und
die Ganztagsschulen besser fördern. - Guten Morgen,
meine Damen und Herren; wir haben 4 Milliarden Euro
für den Ausbau der Ganztagsschulen in den Haushalt
eingestellt. Aber was passiert? Die unionsregierten Länder rufen diese Mittel nicht vernünftig ab.
({11})
Auch das ist ein Teil der Realität. Bayern hat mittlerweile ein Stück zugelegt - das muss man wirklich sagen -; dort ist man aufgewacht und hat gemerkt, dass es
für das Land gut ist, wenn man Finanzierungen für
Ganztagsschulprogramme und vieles mehr tätigt.
Das, was wir wollen, sind strukturelle Reformen.
Auch die Union sagt, sie wolle strukturelle Reformen
und Umschichtungen. Aber Sie spielen jedes Mal wieder
das altbekannte Spiel. Wenn dann von Ihrer Seite der
Regierung vorgeworfen wird, sie sei sprunghaft,
({12})
dann kann ich wirklich nur lachen. Wir haben eine völlig
klare Linie zum Thema Eigenheimzulage gehabt;
({13})
wir werden sie beibehalten.
Wir haben immer gesagt: Wir brauchen die Mittel der
Eigenheimzulage für Zukunftsfelder. Wir haben von Anfang an gesagt, dass die Eigenheimzulage abgeschafft
werden muss, weil sie aus bestimmten Gründen nicht
mehr notwendig ist und sich die Rahmenbedingungen in
diesem Land verändert haben, angefangen vom Zinsniveau beim Bauen bis hin zur Beantwortung der Frage,
was ein Staat sich strukturell noch leisten kann und darf.
Überlegungen hierzu verweigern Sie ebenfalls. Das bedeutet, dass Sie Wohltaten, die Sie kräftig unter das Volk
zu verteilen beabsichtigen, beibehalten wollen.
Es fehlt die Bereitschaft, bestimmte Verhaltensweisen
auf diesem Gebiet zu verändern und auf bestimmte Tatbestände im heutigen Steuerrecht zu verzichten, obwohl
vor allem Sie, Friedrich Merz, nach außen immer wieder
zu suggerieren versuchen, dass Sie einen völlig anderen
politischen Ansatz hätten. Dann zeigen Sie doch, dass
dieser Ansatz wirklich in die Tat umgesetzt wird; stimmen Sie diesem Gesetzentwurf, über den wir heute noch
nicht endgültig entscheiden werden, doch zu gegebener
Zeit zu.
Natürlich muss man zugestehen, dass es in anderen
Bereichen ebenfalls steuerliche Vergünstigungen gibt.
({14})
Auch wir wissen, dass ein Problem in den bestehenden
Verzerrungen in bestimmten Bereichen liegt, das gilt
auch für den Wohnungsbau. Der Ernsthaftigkeit der
Debatte geschuldet, muss man auch einräumen, dass es
beim Mietwohnungsbau Verzerrungen zulasten des
selbst genutzten Wohneigentums gibt. Man muss sich
einmal vorstellen, dass es Negativeinkünfte gibt: Den
Einnahmen, die im Wohnungsbau auf der einen Seite
über Miet- und Pachteinkünfte entstehen, stehen auf der
anderen Seite Negativeinkünfte aufgrund der bestehenden steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten gegenüber. Das kann so nicht weitergehen. Deshalb müssen
wir uns auch hier mit den steuerlichen Subventionen beschäftigen.
Ebenfalls müssen wir uns überlegen, wie wir nach
den letzten drei schwierigen Jahren der wirtschaftlichen
Stagnation eine Konsolidierung der Finanzen erreichen. Jeder weiß: Ohne Wachstum gibt es keine Konsolidierung der Finanzen. Selbst in diesem Jahr wird der
Bund, trotz eines realen Wachstums in Höhe von 1,5 bis
2 Prozent, höhere Kredite als geplant aufnehmen müssen. Das ist traurig; das muss man so sehen.
({15})
Auf diese Frage muss man strategische Antworten
finden. Wir brauchen strategische Antworten auf finanzpolitische Herausforderungen, die für unsere Gesellschaft auch weiterhin anstehen. Strukturelle Defizite unserer sozialen Sicherungssysteme - von der Rente über
die Gesundheit bis zum Arbeitsmarkt - sind wir in dieser
Legislaturperiode mit der Agenda 2010 angegangen.
({16})
Wir haben wichtige Maßnahmen beschlossen und dadurch sehr viel zur Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland beigetragen. Dabei muss allerdings
noch stärker als bisher der Kontext der Globalisierung
und der Erweiterung des europäischen Binnenmarktes
berücksichtigt werden. Hier muss politisch noch über
viele Fragen diskutiert werden; das ist richtig. Dabei
können wir uns keine nationalstaatliche Perspektive leisten.
({17})
- Herr Thiele, wir müssen bei all diesen Fragen auch die
wettbewerbspolitische Standortkonkurrenz für Neuinvestitionen im Blick haben; das ist völlig richtig. Aber es
geht nicht, dass weiterhin falsche Prioritäten gesetzt
werden, wie Sie es in den 90er-Jahren getan haben. Die
Prioritäten, die Sie damals gesetzt haben, zeigen noch
heute ihre Wirkung.
Deswegen kann man nur sagen: So geht es nicht weiter. Geben Sie sich einen Ruck und geben Sie zu, dass es
überholte Subventionen gibt! Gehen Sie diesen Weg im
Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes mit! Wir
müssen umsteuern. Die Prioritäten müssen anders gesetzt werden. Es geht um ein Signal an die Reformfähigkeit unseres Landes. Dazu gehört auch die Abschaffung
der Eigenheimzulage.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig
Thiele, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Finanzminister Eichel,
wir stimmen Ihnen ausdrücklich zu, dass in unserem
Land mehr für Bildung getan werden muss. Die Notwendigkeit dazu stellen Sie und Ihr Finanzministerium
täglich aufs Neue unter Beweis. Denn die Art und Weise,
in der Sie die Zahlen in der Öffentlichkeit falsch darstellen
({0})
- das haben Sie gerade eingeräumt -, zeigt, dass auch die
Regierung mehr Bildung braucht. Angesichts dessen,
wie Sie die Öffentlichkeit die ganze Zeit hinter die
Fichte geführt haben, muss ich Ihnen sagen: Wenn das
nicht mit Vorsatz geschehen ist, dann scheint es Unkenntnis gewesen zu sein; wenn das aus Unkenntnis
geschehen ist, dann muss etwas dagegen getan werden.
Deshalb bitten wir um ein Bildungsprogramm für diese
Bundesregierung.
({1})
Vor drei Wochen fand in diesem Haus eine Haushaltsdebatte statt. Heute, nachdem zwischenzeitlich die Landtagswahlen in Sachsen und in Brandenburg - im Saarland war sie kurz vorher - und am letzten Sonntag die
Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen stattgefunden
haben, räumen Sie ein, dass von Ihnen ein Nachtragshaushalt vorgelegt wird, durch den die Neuverschuldung
für dieses Jahr um 50 Prozent erhöht werden soll. Warum haben Sie das nicht schon im Sommer gemacht?
Warum haben Sie der Öffentlichkeit nicht schon früher
gesagt, was passieren wird? Als diese Umstände bekannt
waren, war Ihre einzige Triebfeder, nicht schon früher zu
handeln, Wahltaktik.
Ich möchte Ihnen die entsprechenden Zahlen in Erinnerung rufen; denn dieser Haushalt ist der dritte verfassungswidrige Haushalt der Bundesrepublik Deutschland in Folge. Der Haushalt 2002 ist durch den
Nachtragshaushalt verfassungswidrig geworden; die
Neuverschuldung stieg um 64 Prozent. Auch der Haushalt 2003 ist durch den Nachtragshaushalt verfassungswidrig geworden. Man muss sich einmal vorstellen: Die
Neuverschuldung stieg um 130 Prozent bzw. um
24,5 Milliarden Euro. In diesem Jahr tritt der Finanzminister vor dem Hintergrund einer beabsichtigen Neuverschuldung von 29,3 Milliarden Euro hier an das Pult und
erklärt der Öffentlichkeit, dass wir fast 44 Milliarden
Euro neue Schulden machen werden.
({2})
Herr Finanzminister Eichel, damit brechen Sie und
die rot-grüne Koalition jeden Schuldenrekord, den der
Bund jemals zu verantworten hatte. Diese Politik halten
wir für verantwortungslos. Sie muss geändert werden. Es
müssen wieder Klarheit und Wahrheit in den Haushalt
einkehren.
({3})
Kollege Thiele, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Eichel?
Gerne.
Erster Punkt. Herr Kollege Thiele, sind Sie bereit, zu
bestätigen, dass ich bereits bei Vorlage der Steuerschätzung im Mai und nicht erst jetzt gesagt habe,
({0})
dass sich das zusätzliche Risiko für den Bundeshaushalt in diesem Jahr aufgrund der Steuerschätzung und
der Arbeitsmarktentwicklung auf 10 bis 11 Milliarden
Euro - das Gesamtrisiko beträgt insgesamt also 40 Milliarden Euro - beläuft?
({1})
Sind Sie auch bereit, zu bestätigen, dass ich alle Zahlen zur Entwicklung der Tabaksteuer und der Mineralölsteuer veröffentlicht und diesbezüglich im Sommer gesagt habe, dass hier ein zusätzliches Risiko besteht?
Sind Sie ebenfalls bereit, zu bestätigen - Sie brauchen
das nur im Protokoll nachzulesen -, dass ich bei der Einbringung des Bundeshaushaltes Anfang September ausdrücklich auf diese Risiken hingewiesen habe? Wie
kommen Sie zu der Behauptung, dass ich diese Entwicklung jetzt und nicht schon vorher benannt habe? Das
würde ich gerne von Ihnen wissen.
({2})
Zweiter Punkt. Sind Sie bereit, zu bestätigen, dass das
Defizit im Bundeshaushalt, das Sie 1996 zu verantworten
hatten, 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte,
und dass es dieses Jahr, wenn der Nachtragshaushalt verabschiedet wurde, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
ausmachen wird, sodass die Rekordverschuldung während Ihrer Regierungsverantwortung vorlag?
({3})
Sehr geehrter Herr Eichel, wenn man Fragen stellt, ist
es guter Brauch, die Antworten, die ich Ihnen gerne geben möchte, auch entgegenzunehmen.
Erster Punkt. Es ist richtig, dass Sie im Mai darauf
hingewiesen haben, dass die Neuverschuldung höher
ausfallen könnte als geplant.
({0})
Es ist allerdings auch richtig, dass Sie aus Gründen der
Haushaltsklarheit und der Haushaltswahrheit die Pflicht
haben, unverzüglich tätig zu werden.
({1})
Sie hätten den Nachtragshaushalt bereits zu einem früheren Zeitpunkt einbringen müssen.
({2})
Diesen hätten wir dann beraten können und die Öffentlichkeit wäre nicht über Monate hinweg an der Nase herumgeführt worden. Durch früheres Handeln hätte hier
Klarheit darüber geherrscht, wie sich der Etat und die
gesamtstaatliche Entwicklung in diesem Jahr darstellen.
Zweiter Punkt. Meiner Ansicht nach fangen Sie hier
mit dem Tricksen und Täuschen schon wieder an. Es
geht darum, dass Sie mit den Aussagen, die Sie heute
hier im Plenum gemacht haben, eingeräumt haben, dass
Sie den Schuldenrekord brechen werden.
Man muss sich einmal daran erinnern, dass Sie der
Finanzminister waren, der sagte, im Jahre 2006 würden
Sie die Neuverschuldung auf Null reduziert haben
({3})
Man muss feststellen, dass Sie Ihre Vorstellungen nicht
verwirklicht haben und dass Sie durch die von Ihnen betriebenen Politik in einer Form entzaubert wurden, wie
ich mir das nie hätte vorstellen können: Für 2006 haben
Sie Null Euro an Neuverschuldung in Aussicht gestellt
und in diesem Jahr haben Sie den Schuldenrekord der
Bundesrepublik Deutschland gebrochen. Stärker kann
Glaubwürdigkeit nicht beschädigt werden. Das muss ich
Ihnen hier leider sagen, Herr Eichel.
({4})
Herr Thiele, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Eichel?
Gerne, wir können das gerne fortsetzen.
Bitte schön.
({0})
- Von Kasperei verstehen Sie etwas.
Erstens. Herr Kollege Thiele, sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass Ihr Vorwurf der Täuschung der Öffentlichkeit und des Verschweigens der Tatsachen bis nach
den Landtagswahlen mit Ihrer eigenen Einräumung widerlegt ist? Ich denke, es wäre angesichts des Klimas in
diesem Hause richtig, wenn Sie das jetzt täten.
Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Abweichung im deutschen Bundeshaushalt in
den drei Jahren der Stagnation 2,6 Prozent betrug, und
zwar von minus 1,2 Prozent im Jahre 2000 bis auf minus
3,8 Prozent im vergangenen Jahr? Viele andere Länder
in Europa hatten eine größere Abweichung. In den Niederlanden betrug sie zum Beispiel insgesamt 4,4 Prozent. Dort ging es nämlich von plus 1,2 Prozent auf minus 3,2 Prozent. Sechs Länder der Eurozone liegen
inzwischen bei über 3 Prozent und die meisten Länder
haben höhere Abweichungen als Deutschland.
Mit anderen Worten: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass es sich hier um eine gesamteuropäische
Entwicklung handelt, in der die deutsche Finanzpolitik
im Vergleich mit vielen anderen Ländern zurückhaltend
gewesen ist?
({0})
Herr Finanzminister, ich finde es gut, dass Sie die Debatte als Parlamentarier nutzen, um als Parlamentarier
zur Fortführung der Debatte beizutragen.
({0})
Allerdings muss ich an dieser Stelle sagen: Aus meiner
Sicht haben Sie die Pflicht, dann, wenn Sie erkennen,
dass der Haushalt aus dem Ruder läuft - das war schon
im Mai der Fall -, unverzüglich tätig zu werden und diesem Hohen Hause einen Nachtragshaushalt vorzulegen. Es geht hier nicht um blumige Erklärungen des
Finanzministers, sondern um das Etatrecht des Parlamentes.
({1})
Der Haushalt ist doch vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden.
Wenn der Bundestag aufgrund der Politik, die Sie zu
verantworten haben, erkennen kann und muss, dass sich
die Rahmendaten geändert haben, dann ist es aus meiner
Sicht die Pflicht des Finanzministers, vor das Haus zu
treten - in diesem Fall war das im Mai - und aufgrund
der geänderten Datenlage einen Nachtragshaushalt vorzulegen. Ich kann Ihnen leider die Feststellung nicht ersparen, dass Sie aus meiner Sicht im Mai dieser Pflicht
nicht nachgekommen sind.
({2})
Mein zweiter Punkt. Seit 1998 trägt Rot-Grün im
Deutschen Bundestag die Verantwortung für die Leitlinien, die die Entwicklung unseres Landes bestimmen.
Wenn als einzige Begründung für diesen neuen Schuldenrekord von Ihnen darauf hingewiesen wird, dass auch
andere Länder Probleme haben, dann mag das zwar zutreffen, das enthebt uns und insbesondere Sie aber nicht
der Aufgabe, hier die Hausaufgaben zu machen.
({3})
Wir haben immer kritisiert, dass von Rot-Grün die
Weichen in unserem Lande fundamental falsch gestellt
werden. Wir brauchen mehr Wirtschaftswachstum. Wir
brauchen keine Politik, die auf dauernde Verunsicherung
der Bürger und der Wirtschaft ausgerichtet ist und deren
Rahmenbedingungen keine Planbarkeit und Verlässlichkeit in der Politik erkennen lassen. Dass unter diesen Aspekten die Wirtschaft nicht so in Gang kommt, wie wir
uns das alle wünschen, ist Folge der rot-grünen Politik.
In diesem Jahr haben wir den Sonderfall, dass im Gegensatz zum letzten Jahr mehrere Feiertage auf einen
Sonntag fallen. Allein dieser Umstand führt dazu, dass
das Wachstum in diesem Jahr um 0,6 Prozent höher ausfällt als im letzten Jahr. Die erwartete Wachstumsrate reduziert sich somit auf 1,4 Prozent. Auch als Opposition
arbeiten wir daran, dass es unserem Lande gut geht.
({4})
Leider müssen wir aber feststellen, dass die von
Ihnen betriebene Politik nicht in der Lage ist, das
Wirtschaftswachstum entsprechend anzukurbeln und Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen.
({5})
Gestatten Sie mir noch ein Wort zur Frau Kollegin
Scheel. Ich finde es immer erstaunlich, wenn die Grünen
anderen Klientelpolitik vorwerfen; denn ich glaube, es
gibt keine Fraktion im Deutschen Bundestag, die so ungeniert Klientelpolitik betreibt wie die Grünen.
({6})
Ich möchte hier noch einmal die Stichworte nennen:
Steinkohle, Windenergie, Solarenergie und ökologischer Landbau. Eines muss man der Bevölkerung sagen:
All diese von Ihnen auf Steuerzahlerkosten verursachten
Mehrausgaben sind von den Bürgern unseres Landes zu
zahlen. Damit werden die Bürger unseres Landes durch
Ihre Politik finanziell belastet. Das halten wir für falsch.
Das haben wir kritisiert und das werden wir weiter kritisieren.
({7})
Sehr geehrter Herr Präsident, ich komme jetzt zum
Thema, das eigentlich die Debatte bestreiten sollte, nämlich der Gesetzentwurf zur Abschaffung der Eigenheimzulage. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages fordern, dass für Familien mit Kindern in unserer
Gesellschaft mehr getan werden muss.
({8})
Gerade die Eltern mit Kindern wünschen sich einen Garten, in dem die Kinder an der frischen Luft spielen und
sich die Familien erholen können. Das sage ich auch
ausdrücklich als Vater von fünf Kindern. Fahren Sie einmal in Neubaugebiete. Dann werden Sie feststellen, dass
da im Wesentlichen Familien ihren Wunsch verwirklichen, Eigentum zu bilden, indem sie dort bauen.
Das ist der Grund, dass mehr als 60 Prozent derjenigen, die Wohneigentum bauen oder kaufen, Familien mit
Kindern sind. Der Anteil der Familien an den Haushalten beträgt nur ein Drittel. Aber über 60 Prozent von ihnen wollen Wohneigentum erwerben. Das zeigt die Bedeutung selbst genutzten Wohneigentums für Familien.
Wer jetzt die Eigenheimzulage ersatzlos streichen will,
ohne gleichzeitig das verfügbare Einkommen der Bürger
durch Steuersenkungen zu erhöhen, schadet gerade den
jungen Familien in unserem Lande.
({9})
Parteiübergreifend wird ferner gefordert, die Bevölkerung solle mehr private Altersvorsorge aufbauen.
70 Prozent unserer Bevölkerung wünscht sich Wohneigentum als entscheidenden Baustein der Altersvorsorge. Dieser Wunsch steht mit Abstand an erster Stelle
und es stimmt ja auch: Wer Eigentum erwirbt, muss im
Alter keine Miete zahlen. Man kann teilweise sogar mit
einer relativ bescheidenen Rente auskommen, wenn man
mietfrei wohnt.
Deshalb ist für uns Liberale das selbst genutzte
Wohneigentum einer der wesentlichen Bausteine der Altersvorsorge.
({10})
Entsprechende Anträge auf Einbeziehung des Wohneigentums in geförderte Altersvorsorge sind von Rot-Grün
immer abgelehnt worden. Dahinter steht der Gedanke,
dass Eigentum für Rot-Grün an sich keinen Wert hat.
({11})
Nach Auffassung der FDP ist aber gerade Eigentum die
Voraussetzung für ein gewisses Maß an Unabhängigkeit
und an individueller Entfaltungsmöglichkeit der Bürger.
({12})
Bei der ganzen Diskussion über die Riester-Rente hat
für Rot-Grün das selbst genutzte Wohneigentum keine
Rolle gespielt. Es gibt zwar die theoretische Möglichkeit
einer Entnahme von Geld aus dieser staatlich geförderten Rente.
({13})
Das Problem ist nur: Es funktioniert nicht. Es kann aber
schon deshalb nicht nennenswert funktionieren, weil die
einzige von Rot-Grün betriebene Form der Altersvorsorge, nämlich die Riester-Rente, floppt. Dass sie von
der Bevölkerung nicht angenommen wird, hat leider
auch gute Gründe: Diese Rente ist nicht vererbbar, sie ist
nicht veräußerbar und auch nicht beleihbar. Damit erfüllt
sie die entscheidenden Funktionen, die Eigentum für den
Bürger hat, nicht.
({14})
Jedes Wohneigentum ist vererbbar, es ist veräußerbar, es
ist beleihbar, es kann sogar verrentet werden. Herr
Tauss, wenn Sie das noch nicht wissen, hören Sie es sich
einfach an. Auch hierdurch kann der Eigentümer einer
Wohnimmobilie im Alter zusätzliches Geld erhalten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
kann mich auch noch gut an die damalige Diskussion erinnern, als, auch auf Drängen der FDP, § 10 e Einkommensteuergesetz abgeschafft und hier im Deutschen
Bundestag mit den Stimmen der Union, aber auch der
SPD, die Eigenheimzulage beschlossen wurde.
({15})
- Das wüsste ich aber, Herr Poß. Entschuldigung.
Diese Eigenheimzulage ist eine Erfolgsgeschichte für
unser Land.
({16})
Die Eigentumsquote ist in unserem Land um weit mehr
als 10 Prozent gestiegen, in den neuen Bundesländern
sogar seit diesem Zeitpunkt um über 30 Prozent. Das bedeutet, dass seitdem mehr als 1,5 Millionen Haushalte
zusätzlich Eigentum haben erwerben können.
Die Politik kann nicht dauernd eine verstärkte Förderung von Familien mit Kindern fordern und dann die Eigenheimzulage abschaffen, ohne die Bürger steuerlich
zu entlasten. Die Politik kann nicht dauernd die Menschen auffordern, verstärkt private Altersvorsorge zu betreiben, und dann mit der Eigenheimzulage das beliebteste und effizienteste Förderinstrument ersatzlos
abschaffen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, im
Dezember letzten Jahres - vielen kommt die Zeit sehr
lang vor, aber es ist noch gar nicht so lange her - haben
wir uns in einem langen Prozess, auch im Vermittlungsausschuss, überparteilich mit Zustimmung der SPD und
mit Zustimmung der Grünen hier im Deutschen Bundestag darauf geeinigt, die Eigentumsförderung durch die
Eigenheimzulage auf neue Füße zu stellen. Die Bemessungsgrundlage wurde verdoppelt und die Zulage wurde
halbiert mit dem Ziel, Schwarzarbeit einzudämmen und
die Eigenheimzulage zielgenauer zu gestalten. Ferner
wurde die Einkommensgrenze für den berechtigten Personenkreis deutlich gesenkt.
Nach den damaligen Berechnungen sowohl Ihres
Hauses, Herr Finanzminister Eichel, als auch der Länder
sollte durch die beschlossenen Änderungen bei dieser
Zulage ein Einspareffekt um 30 Prozent erreicht werden. Das war die mit Abstand größte Einsparung. Parallel dazu gab es die Liste der Ministerpräsidenten Koch
und Steinbrück. In den dort aufgeführten Bereichen ging
es um einen Subventionsabbau in drei Stufen von je
4 Prozent, also um insgesamt 12 Prozent.
({17})
Wir als FDP haben uns dem gestellt und wir haben zugestimmt.
Bei der Eigenheimzulage wurde um 30 Prozent reduziert, sodass man eigentlich hätte meinen können, damit
sei die Diskussion um die Eigenheimzulage beendet.
({18})
Leider war das nicht der Fall, denn jetzt greift wieder das
Markenzeichen rot-grüner Politik: Es gibt keine Planungssicherheit und keine Verlässlichkeit für die Bürger
im Steuerrecht.
({19})
Wer so planlos und so willkürlich Politik betreibt, der
muss sich nicht wundern, dass er das Vertrauen weiter
Kreise der Bevölkerung verliert.
({20})
Es waren nicht zuletzt solche Vorgänge, Frau Sager
- man muss schon auf mittlere Sicht planen können, es
darf nicht immer zu kurzfristigen Änderungen kommen -, die zu einer völligen Verunsicherung der Bürger
geführt haben. Dies führt zu Politikverdrossenheit. Das
wiederum führt leider dazu, dass viele Wähler nicht
mehr zur Wahl gehen.
Die FDP ist der Auffassung, dass es für die Eigenheimzulage keine Ewigkeitsgarantie geben kann. Wenn
sie aber abgebaut wird, dann muss parallel die Steuerbelastung der Bürger sinken. Nur so kann sichergestellt
werden, dass die Bürger, gerade junge Haushalte und
junge Familien, in die Lage versetzt werden, mit eigenem Geld den Grundstock für selbst genutztes Wohneigentum zu legen.
({21})
SPD und Grüne wollen statt des Eigentums die Bildung fördern. Beides sind wichtige Ziele. Sie können
aber nicht einfach gegeneinander ausgetauscht werden.
Für die FDP steht fest: Bildung und Eigentum, nicht Bildung statt Eigentum. Das ist aus unserer Sicht der entscheidende Punkt.
({22})
Deshalb setzen Sie ein falsches Signal. Wir fragen Sie:
Warum geben Sie eigentlich in den nächsten Jahren bis
zum Jahr 2012 16 Milliarden Euro für die Subventionierung der international nicht wettbewerbsfähigen deutschen Steinkohle aus? Warum werden gegen jede wirtschaftliche Vernunft pro Jahr Milliarden Euro für die
deutsche Steinkohle verpulvert?
({23})
Warum subventionieren Sie nicht wettbewerbsfähige
alte Strukturen, anstatt in die Zukunft zu investieren?
({24})
Mit dem Geld, das für die Steinkohle verschwendet
wird, können Sie ungeheuer Gutes für Bildung und Universitäten leisten. Das werden Ihnen sogar die Bildungspolitiker aus Ihren Reihen bestätigen.
Ich komme zum Schluss.
({25})
Aus Sicht der Liberalen müsste insbesondere an dieser
Stelle angesetzt werden. Wir brauchen weniger Kohle
für die Kohle, aber mehr Kohle für die Bildung. Hierfür
wird sich die FDP sowohl im Finanzausschuss als auch
bei den Beratungen des Haushalts 2005 einsetzen.
({26})
Herr Kollege Kauder, wenn ein Abgeordneter Zwischenfragen stellt, ist das nicht ein Anlass, ihn
Präsident Wolfgang Thierse
Parlamentskasper zu nennen. Ich ermahne Sie, das nicht
zu wiederholen.
({0})
Ich erteile nunmehr dem Kollegen Ortwin Runde,
SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde es gut, dass wir uns jetzt auch in der
breiten Öffentlichkeit über das Thema Innovation und
über die Bedeutung von Forschung, Bildung und Entwicklung unterhalten. Allerdings muss ich feststellen,
dass die Union aus meiner Sicht auch auf diesem Feld
nicht ganz gut sortiert ist.
({0})
Denn ich sehe, dass das Hauptthema einiger ihrer Ministerpräsidenten offenkundig die Frage ist, was mit der
Rechtschreibreform geschieht, ob sie zurückgenommen wird und ob wir zur alten Rechtschreibung zurückkehren. Wenn Letzteres geschähe, dann hätte ich Verständnis dafür, das öffentlich bekannt zu machen. Herr
Wulff aber, der mit seiner Meinung nicht Recht bekommt, sagt wie ein bockiges Kind: Wenn die Rechtschreibreform nicht in der Form, die ich für richtig halte,
durchgeführt wird, dann spiele ich nicht mehr mit euch
im Sandkasten. Dann ist die KMK überflüssig. Dann
kündige ich. - Das hat eine weit über diese Aktion hinausgehende Bedeutung.
({1})
Dann droht einer der Hauptakteure im Bereich Bildung,
Forschung und Innovation inhabil zu werden. Insofern
wäre es ganz gut, wenn Frau Merkel und Herr Stoiber,
die heute zusammensitzen, sich den Fall Wulff vornähmen.
({2})
Denn wir brauchen gerade für die Diskussion in der Föderalismuskommission Klarheit,
({3})
wie die verschiedenen Ebenen zusammen Zukunftsgestaltung betreiben können.
Herr Seiffert, Sie haben völlig Recht, wenn Sie sagen:
Wir haben erst im Dezember die Eigenheimzulage neu
geregelt. Wie kommt ihr dazu, das Thema heute schon
wieder anzugehen? Was hat sich seitdem verändert? Darauf kann ich Ihnen antworten: Heute ist doch deutlich geworden,
({4})
in welcher Situation wir uns befinden. Dass Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung nur über Umschichtungen möglich sind, ist vor dem Hintergrund der
gegenwärtigen Haushaltssituation so deutlich, dass es
mit Händen zu greifen ist.
({5})
Herr Thiele, wenn Sie den ersten und den zweiten Teil
Ihres Redebeitrags logisch miteinander verknüpft hätten,
dann wären auch Sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen. Das hat nichts mit Sprunghaftigkeit zu tun, sondern
damit, dass es nun einmal mit Schmerzen verbunden ist,
wenn wir in diesem Bereich Reformen durchführen und
unsere Gesellschaft zukunftsfähig machen wollen.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Eigenheimzulage in der Vergangenheit Positives bewirkt hat. Wir haben sie selber in ihrer derzeitigen einkommensunabhängigen Form beibehalten. Ich bin der Meinung, dass die
Umschichtungen in den Städtebau und die Stadtförderung richtig gewesen sind.
({6})
Aber ich sehe keine Möglichkeit, wie wir vor dem Hintergrund der notwendigen Investitionen in die Zukunft
ohne die Abschaffung dieser größten Einzelsubvention
auskommen können.
({7})
Im Übrigen gibt es gute Gründe für die Abschaffung
der Eigenheimzulage. Die Situation hat sich geändert.
Aufgrund des demographischen Wandels und des in
weiten Teilen der Republik vorhandenen ausreichenden
Wohnraums ist die Eigenheimzulage nicht mehr notwendig. Jeder, der sozialpolitische Argumente anführt, muss
berücksichtigen, dass bei dem gegenwärtigen Zinsniveau
das Bauen genauso teuer ist wie vor zehn Jahren mit der
Eigenheimzulage.
({8})
Auch angesichts der Tatsache, dass solche Subventionen immer auch eine preistreibende Wirkung haben,
halte ich die Abschaffung der Eigenheimzulage für vertretbar. Zudem haben Untersuchungen ergeben, dass
hauptsächlich das obere Einkommensdrittel, das gar
nicht darauf angewiesen ist - so wie Sie, Herr Thiele,
mit Ihren fünf Kindern; Sie wären durchaus berechtigt,
die Eigenheimzulage zu beziehen, obwohl Sie nicht darauf angewiesen sind -, davon profitiert. Das kann doch
nicht sinnvoll sein. Damit werden doch nur Mitnahmeeffekte genutzt.
({9})
Insoweit werden sich auch keine Auswirkungen auf die
Baukonjunktur ergeben.
Die Abschaffung der Eigenheimzulage in der gegenwärtigen Situation ist sowohl hinsichtlich der Funktion
der Eigenheimzulage als auch der Notwendigkeit, in die
Zukunft zu investieren, vertretbar. Wenn Sie schon nicht
auf den Sachverständigenrat, die Bundesbank und andere hören wollen, dann müsste es Sie zumindest nachdenklich machen, dass Herr Merz und Herr Faltlhauser
in ihrem Konzept den Wegfall der Eigenheimzulage ausdrücklich vorgesehen haben.
({10})
- Ich gehe ja auf Argumente ein, Herr Seiffert. Das unterscheidet uns.
({11})
Herr Faltlhauser und Herr Merz meinen, die Eigenheimzulage auch in der gegenwärtigen Haushaltssituation zugunsten von Steuersenkungen wegfallen lassen zu müssen. Dabei stehen wir vor der Entscheidungsalternative,
ob es wichtiger ist, private Haushalte in der Breite zu
entlasten - dabei werden Sie sicherlich eher an die Besserverdienenden denken als an die anderen - oder in die
Zukunft zu investieren. Für mich ist die Situation völlig
klar.
({12})
Ich hatte gestern im Finanzausschuss das Vergnügen,
Ihren Antrag zur Innovationsoffensive zu lesen, den Sie
im April vorgelegt haben. Was die Parteien zur Analyse
feststellen, ist doch alles deckungsgleich.
({13})
Allen sind die PISA-Studie und die OECD-Vergleiche
bekannt und alle halten Investitionen für notwendig. Dabei stellt sich die Frage: Wie machen wir das?
Die Umschichtung der Mittel für die Eigenheimzulage in Zukunftsinvestitionen ist sinnvoll und erforderlich. Sie sollten sich in der Tat fragen, ob die Union in
diesem Punkt Bremse oder Motor von Zukunftsgestaltung und Zukunftsentwicklung ist.
({14})
Ich empfehle Ihnen, mehr zum Motor zu werden und der
Umschichtung der Mittel für die Eigenheimzulage - das
ist ja eine sehr langfristig wirkende Maßnahme - zuzustimmen.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Tatsache, dass das Wachstum in
Deutschland viel zu gering ist. Selbst die vorliegenden
Wachstumszahlen beruhen nicht auf einer zunehmenden
Belebung der Inlandsnachfrage, sondern sie sind wesentlich dem Export geschuldet. Wir befinden uns im vierten Jahr der Stagnation der Binnenwirtschaft. Herr
Eichel, wie kommen Sie eigentlich dazu, zu behaupten,
man sei aus der Stagnation herausgekommen? Das ist
nicht richtig. Allein im Handel wird in diesem Jahr ein
Verlust von 50 000 Arbeitsplätzen erwartet. Die aktuellen Probleme bei Karstadt-Quelle sind nur die Spitze des
Eisbergs. Das ist der traurige Beleg, dass Sie die Binnenwirtschaft an die Wand gefahren haben.
({0})
Jetzt haben Sie die Bauwirtschaft im Würgegriff, in
der schon 400 000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind.
Mit dem, was Sie vorhaben, werden Sie dort für weitere
Arbeitsplatzverluste sorgen. Sie bauen mit Ihrer inszenierten Abschaffung der Eigenheimzulage doch nur einen Popanz auf; denn Sie würden durch die Abschaffung
der Eigenheimzulage im Jahr 2005 ganze 223 Millionen
Euro sparen. Das ist gerade einmal so viel, wie Sie in
drei Tagen neue Schulden machen, Herr Eichel. Das ist
die Realität.
({1})
Sie sind gerade zwischen Regierungsbank und Ihrem
Platz in der Fraktion hin- und hergehüpft. Ich weiß nicht,
was das soll. Die Lage bei Ihnen muss wohl sehr schwierig sein. Damit und mit Ihrer Haushaltspolitik erinnern
Sie mich an ein australisches Känguru: große Sprünge,
leerer Beutel!
({2})
Das ist Ihre Politik. Ich kann Ihnen nur sagen: Das hat
keine Zukunft.
Das Entscheidende ist, dass der bisherige Transferbzw. Transmissionsmechanismus - das Überspringen
der Exportimpulse auf die Binnenkonjunktur - nicht mehr
funktioniert. Das hat Ursachen. Das liegt an der tiefen
Verunsicherung der Verbraucher und eines großen Teils
unserer Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes,
durch die schlechte rot-grüne Politik. Die deutsche Wirtschaft braucht einen Wechsel, soll es nicht noch mehr
Arbeitsplatzverluste in diesem Land geben.
({3})
Beinahe im Wochenrhythmus betreibt Rot-Grün eine
Investitionsvernichtungspolitik. Einmal soll die Ökosteuer, ein anderes Mal sollen die Mehrwertsteuer, die
Erbschaftsteuer oder die Mindeststeuer angehoben werden. Jetzt soll die Eigenheimzulage abgeschafft werden.
Die Menschen in unserem Land sind durch die fast täglich wechselnden Vorschläge der Bundesregierung und
der rot-grünen Koalition zutiefst verunsichert. Bereits im
Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 wollten Sie
die Eigenheimzulage streichen. Jetzt wird ein neuer Anlauf mit einem neu inszenierten Verwendungszweck unternommen. Die Abschaffung der Eigenheimzulage soll
so etwas wie die Haushaltswunderwaffe des Herrn
Eichel sein.
({4})
Was wollen Sie damit nicht alles auf einmal finanzieren:
Hochschulbau, Eliteförderung und Ganztagsschulen!
Das ist finanzpolitisch unsolide. Das ist der Versuch,
einen Betrag mehrfach auszugeben. Das ist insbesondere
der Versuch, das wohlklingende Wort „Innovation“ zu
missbrauchen. Das ist die für Rot-Grün typische Inszenierungspolitik. Es geht Ihnen nur um ein Wunschbild,
und das, obwohl man in dieser Situation verkündet, dass
neue Schulden in Höhe von 44 Milliarden Euro gemacht
werden müssen.
Im Rahmen der Haushaltsberatungen vor drei Wochen haben Sie noch großspurig verkündet: Ich kann
keine Antwort auf die Fragen der Finanzentwicklung geben; da muss ich die Steuerschätzung im November abwarten. Auf einmal gilt das nicht mehr. Heute haben Sie
bestätigt, dass Sie einen Offenbarungseid geleistet haben.
Herr Eichel, ich kann Ihnen nur sagen, dass Ihre
Glaubwürdigkeit so groß wie die von Baron Münchhausen ist. Das ist das Schlimme. Darunter leiden die gesamte Politik, die gesamte Wirtschaft und der gesamte
deutsche Arbeitsmarkt. Das ist die Grundproblematik
der Politik in Deutschland.
({5})
Rot-Grün fehlt ein Gesamtkonzept für mehr Wachstum und Beschäftigung. Es gibt keine klare Reform in
der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik, um unser
Land wieder nach vorn zu bringen; stattdessen gibt es
immer neue Einzelheiten. Beim Thema Subventionsabbau herrscht reine Willkür. Der Bundeskanzler gewährt
den Kumpels an Rhein und Ruhr Subventionen in zweistelliger Milliardenhöhe für den Erhalt der deutschen
Steinkohle;
({6})
gleichzeitig will er die Eigenheimzulage abschaffen. Das
ist natürlich keine Politik aus einem Guss. Das ist Stückwerk zur kurzfristigen Befriedigung der eigenen Klientel.
Die Häuslebauer sind dem Kanzler anscheinend ein
Dorn im Auge. Neuerdings spricht er geradezu sträflich
pauschal von „Mitnahmementalität“. Ich glaube, so etwas muss man sich gut überlegen; auch das ist letzten
Endes eine dieser populistischen Inszenierungen.
({7})
Der Versuch, die Eigenheimzulage abzuschaffen, ist
gerade für Familien mit Kindern ungerecht. Das ist doch
purer Populismus zulasten von Familien, die in die Zukunft unseres Landes investieren wollen, indem sie ein
eigenes Häusle bauen und indem sie Risiken eingehen.
Warum unterstützen wir nicht, dass man für die Familie
ein Haus bauen will? Das geht nur mit einer Investitionszulage vom Staat.
({8})
Um es einmal klarzustellen: Die Eigenheimzulage ist
nach meinem Verständnis keine Subvention, sondern
eine Investitionszulage zur Erhöhung der Quote selbst
genutzten Wohneigentums, die zu mehr Wachstum und
Beschäftigung führt. Wir müssen in Deutschland eine
Eigentumsquote von 50 Prozent erreichen. Das ist für
diese Gesellschaft, für die Altersvorsorge, für die Bauwirtschaft, für Wachstum und Beschäftigung notwendig.
({9})
Das Schlimmste, was ich heute hier gehört habe, war,
dass der Kollege Runde der Bauwirtschaft auch noch
Preistreiberei unterstellt hat. Die Situation der Bauwirtschaft sieht so aus, dass jeden Tag Firmen Insolvenz anmelden.
({10})
Sie wissen nicht mehr, wie sie kalkulieren sollen, weil
der Wettbewerb aufgrund der geringen Nachfrage so
scharf ist. Ein Mittelständler, der Insolvenz anmeldet,
muss es sich gefallen lassen, dass er hier der Preistreiberei bezichtigt wird. Das ist doch eine völlig verkehrte
Welt.
({11})
Die deutsche Bauwirtschaft ist unter Rot-Grün in die
schwerste Krise der Nachkriegszeit geraten. Die deutsche Bauwirtschaft ist nach wie vor Schlusslicht in der
Wirtschaftsentwicklung. Für die Bauwirtschaft ist die
Eigenheimzulage von grundlegender Bedeutung. Wer
eine Diskussion wie „Bildung statt Beton“ oder „Bildung statt Eigenheimzulage“ zulässt, hat nicht nur für
das Bau- und Wohnungswesen wenig übrig, sondern ist
ein ökonomischer Tiefflieger und ein reiner Populist. Er
handelt so mittelstandsfeindlich wie die rot-grüne Wirtschaftspolitik insgesamt.
Mit Einsparungen in Höhe von 223 Millionen Euro
im Jahre 2005 zerstören Sie Investitionen in Höhe von
900 Millionen Euro in diesem Land. Gleichzeitig nehmen Sie weniger Umsatz- und Lohnsteuer ein; das heißt,
es handelt sich um ökonomische Tieffliegerei, wenn Sie
so vorgehen. Sie müssen bei den konsumptiven Ausgaben, nicht bei den Investitionen sparen. Nur so entstehen
Wachstum und Beschäftigung in diesem Land.
({12})
Zu der Verknüpfung dieses Themas mit Investitionen
in Bildung und Forschung sage ich: Wir brauchen beides, meine Damen und Herren. Bauinvestitionen sind
ebenso Zukunftsinvestitionen wie Investitionen in Bildung und Forschung.
({13})
Dieses Gegeneinanderausspielen ist völlig falsch.
Rot-Grün muss endlich ein finanz- und steuerpolitisches Gesamtkonzept vorlegen, statt fiskalische Rosinenpickerei zum Stopfen von Haushaltslöchern zu
betreiben. Herr Eichel, legen Sie ein konkretes Gesamtsteuerkonzept vor, das gegenüber dem bisherigen stark
vereinfacht wird, auf einer breiten Bemessungsgrundlage beruht und dem Niedrigsteuersatzprinzip folgt.
Dann können wir über Subventionsabbau reden. Dann
hat dies vielleicht auch in dem einen oder anderen Fall
einen Sinn. Aber wenn Sie nicht wissen, wo es lang gehen soll, und nur ein Verhalten, das der Situation in einer
Hüpfburg ähnelt, an den Tag legen, kann nichts anderes
passieren, als dass Deutschland weiter in der Abwärtsspirale bleibt.
({14})
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Präsident!
Ich bin dem Kollegen Runde sehr dankbar, dass er im
Gegensatz zu allen Rednern der Opposition etwas Sachlichkeit in die Debatte gebracht hat. Ich bin dem Finanzminister und dem Bundeskanzler sehr dankbar, dass sie
nicht populistisch handeln, sondern von den Notwendigkeiten dieses Landes ausgehen und den Mut haben, auch
einmal an Subventionen zu gehen und den Menschen zu
sagen, was geht und was nicht und wo die Prioritäten für
die Zukunft liegen. Dafür bin ich ihnen dankbar.
({0})
- „Bei der Steinkohle“: Da könnten wir ja fast schon einen Deal machen, lieber Herr Thiele. Machen wir es
doch bei der Eigenheimzulage so wie bei der Kohle, indem wir die Subventionen kontinuierlich auf null zurückführen. Was Sie hier vortragen, sind angelernte
Textbausteine, die uns aber nicht weiterführen.
Ich bin anderer Auffassung als Sie, Herr Thiele, was
die Altersvorsorge angeht. Ich bin überzeugt, dass die
beste Altersvorsorge der Zukunft Bildung ist. Das ist die
wichtigste Altersvorsorge, die wir jungen Menschen mit
auf den Weg in die Zukunft geben können.
({1})
In der derzeitigen Situation müssen wir uns überlegen,
wie neue Jobs gerade für die junge Generation, wie neue
Industriezweige und neue Dienstleistungssparten entstehen können. Dafür brauchen wir Investitionen. Zugleich
sind die Haushalte, wie wir gehört haben - im Kern besteht ja Einigkeit darüber -, in einer schwierigen Situation. Deswegen müssen wir uns über Prioritäten unterhalten.
Es geht rundgerechnet um einen Betrag von 7 Milliarden, die zur Verfügung stünden, wenn sie nicht in einer Zeit für die Eigenheimzulage aufgebracht würden, in
der die Bauzinsen am Markt billiger sind, als früher
Bausparzinsen waren. Ich frage mich, ob es in einer Zeit,
in der wir einen hohen Sättigungsgrad erreicht haben, in
der wir über Leerstände klagen und befürchten müssen,
dass die Außenbezirke irgendwann einmal nicht mehr
von Familien, sondern von älteren Frauen bewohnt werden und die Eigenheime dort möglicherweise sogar zu
einem städtebaulichen Problem werden, notwendig ist,
in diesen Bereich weiterhin Milliarden zu investieren.
Gleichzeitig heißt das ja, hinzunehmen, dass Schulen
und Universitäten nicht so ausgestattet werden, wie sie
ausgestattet sein müssten. Diese Kernfrage müssen Sie
beantworten. Die Antwort, die wir darauf geben, vertreten wir jedenfalls mit Standfestigkeit gegenüber potenziellen Bauherren.
({2})
Niemand hat etwas gegen ein Eigenheim. Ich selbst bewohne eins, übrigens, damit kein Missverständnis entsteht, ohne die Zulage in Anspruch genommen zu haben.
Ich bin entsetzt, liebe Frau Wülfing, dass Sie als ehemalige Staatssekretärin im Bildungsministerium dem
populistischen Vorgehen der anderen Seite, die nichts
anderes will, als eine Subvention zu verteidigen, Beifall
geklatscht haben. Andererseits wundert mich das aber
auch nicht, denn in der Zeit, als Frau Wülfing noch
Staatssekretärin im Bildungsministerium war, sind die
Ausgaben um 600 Millionen gekürzt worden. Das ist die
Realität.
({3})
Man sieht also jetzt, dass der Union schon damals Bildung und Forschung nicht am Herzen lagen.
Erfreulicherweise gibt es auf Ihrer Seite - die Haltung
der Länder wurde angesprochen - auch ein paar nachdenkliche Stimmen. Ich bin beispielsweise Ihrem Haushälter, dem Herrn Carstens, ausgesprochen dankbar, dass
er immerhin von der Möglichkeit gesprochen hat, in diesem Bereich Einsparungen vorzunehmen. Herr Carstens
hat übrigens sogar gesagt, vielleicht sei dies ein Ansatzpunkt, um Schwarzarbeit zu bekämpfen. Es gibt also
durchaus Vernünftige in Ihren Reihen; das ist überhaupt
keine Frage. Ich denke, wir müssen in der nächsten Zeit,
lieber Herr Finanzminister, auch mit den Ländern und mit
denen, die in diesem Bereich nicht die Betonköpfe repräsentieren, darüber reden, wie wir zu mehr Mitteln für Bildung und Forschung kommen, und denjenigen, die in billigster und so populistischer Form Subventionen fordern
wie Herr Thiele und Herr Michelbach, gesellschaftlichen
Widerstand entgegensetzen. Das ist notwendig.
({4})
Wir hatten gestern im Bildungs- und Forschungsausschuss eine bemerkenswerte Veranstaltung. Dort haben
wir einmal mehr festgestellt, dass wir - im Gegensatz zu
Ihren Kürzungsorgien bis 1998 - die Mittel für Bildung
und Forschung seither, und zwar in schwierigsten Zeiten, bei knappen Kassen und nicht immer zur Freude des
Finanzministers, aber dennoch mit dessen Unterstützung, um 36,5 Prozent erhöht haben. Wir haben Ihre
Kürzungen rückgängig gemacht und wir haben investiert. Wir erhöhen die Etats der großen Forschungs- und
Förderorganisationen, wie vom Kanzler versprochen,
um 3 Prozent jährlich, denn sie sind die wichtigsten Säulen unseres Forschungssystems. Wir halten den Hochschulbau mit 925 Millionen Euro Fördersumme kontinuierlich auf hohem Niveau, obwohl die Länder - auch das
ist bemerkenswert - erklärt haben, sie wollten das künftig alleine finanzieren. Aber Herr Milbradt in Sachsen,
einer von denen, die das gesagt haben, hat sich anschließend in der Zeitung beschwert, der Bund wolle kürzen.
Das passt alles nicht zusammen. Herr Milbradt hat die
Quittung dafür bekommen. Er hat ja jetzt erfreulicherweise einen vernünftigen Regierungspartner an seiner
Seite
({5})
in Gestalt von uns, sodass wir jetzt auch Herrn Milbradt
zu etwas Seriosität bringen werden, die er bisher noch
nicht so recht hatte.
({6})
Wie fördern den Ausbau der Ganztagsschulen auch
in diesem Jahr mit 1 Milliarde Euro. In der gestrigen Sitzung des Bundestages haben wir über den Riesenerfolg
der Ganztagsschulen gesprochen. Das Investitionsprogramm hat in diesem Lande an den Schulen, auch in Ihren Wahlkreisen, einiges ausgelöst. Es wird wieder über
Schule diskutiert, es wird über Konzepte diskutiert: Wie
können wir Schule besser gestalten? Wie können wir die
Betreuung verbessern? Wie können wir Kinder fördern,
die diese Förderung brauchen, sowohl im unteren als
auch im oberen, im Spitzenleistungsbereich?
({7})
Das ist die bildungspolitische Debatte, die wir brauchen, und die haben wir mit „nur“ 1 Milliarde Euro pro
Jahr ausgelöst. Denken Sie einmal, was ausgelöst werden könnte, wenn wir die 7 Milliarden Euro jährlich aus
der Eigenheimzulage in diesem Bereich für den Bund,
die Länder und die Kommunen zur Verfügung hätten!
Das würde für Bildung und Forschung in diesem Land
einen unglaublichen Fortschritt bedeuten.
Obwohl Sie gesagt haben, an die Zulage wollten Sie
nicht heran, haben Sie uns Forderungen auf den Tisch
gelegt: Die FDP fordert zusätzliche Ausgaben in Höhe
von 130 Millionen Euro, die CDU/CSU - nach dem
Motto: Wir sind eine größere Fraktion und haben mehr
Berichterstatter - fordert 300 Millionen Euro mehr. Das
ist nicht seriös. Sie stellen sich hier hin und sagen, dass
Sie über Einsparungen nicht reden wollen und machen
bei jeder Einsparung, die wir im Zusammenhang mit der
Eigenheimzulage vortragen, in den Bierzelten Stimmung
à la Michelbach nach dem Motto: Die haben fürs Eigenheim nichts übrig. Das ist eine Sauerei. Ich halte es für
eine Sauerei, Herr Michelbach und Herr Thiele, wenn
Sie in dieser Form argumentieren.
({8})
Wenn dieses Wort hier nicht verwendet werden sollte,
Herr Präsident, dann bitte ich um Entschuldigung.
Nun werden Krokodilstränen geweint, wie von Herrn
Teufel. Herr Kauder wird ja langsam vernünftig. Er hat
gesagt, er wird für Herrn Teufel keinen Wahlkampf mehr
machen wollen. Das würde ich auch nicht, Herr Kauder.
Denn Ihr Herr Teufel, für den Sie als Generalsekretär der
CDU in Baden-Württemberg keinen Wahlkampf mehr
machen wollen, hat gesagt, er wolle beides: Forschung
und Eigenheimzulage. Auch Herr Thiele hat das so gesagt. Ich habe ja nichts dagegen - Freibier für alle, wegen mir gerne, das ist nicht das Problem -, aber Herr
Teufel kürzt bei der Wissenschaft in Baden-Württemberg, das heißt, er fördert gerade nicht beides.
Lieber Herr Thiele, das Land Niedersachsen hat es
nicht verdient, dass es von Ihnen mitregiert wird. Aber
Sie kommen aus Niedersachsen.
({9})
Reden wir doch einmal über Niedersachsen.
({10})
In diesem Land, das von Ihnen mitregiert wird, wird der
Bereich von Bildung und Forschung im Moment um
50 Millionen Euro gekürzt. Das Erste, was Sie gemacht
haben, war die Schließung von Fachhochschulen - um
das an dieser Stelle deutlich zu sagen. Hier der Öffentlichkeit vorzugaukeln, es sei schwarz-gelbe Politik, beides zu machen - Eigenheimförderung und Investitionen
in Bildung und Forschung -, ist ein Maß an Unredlichkeit - ich vermeide jetzt ein anderes Wort -, das in der
Tat Anlass zu der Diskussion bietet, ob mit Ihnen überhaupt eine seriöse Debatte möglich ist.
({11})
- Ja, die Erblasten. Über Erblasten wissen wir gut Bescheid, denn die haben wir von Ihnen in Millionen- und
Milliardenhöhe übernommen; besonders Hans Eichel
weiß gut Bescheid, wie viel Zinsen wir für die Schulden,
die Sie uns hinterlassen haben, aufwenden müssen.
({12})
Aber trotz dieser Erblasten, trotz der Probleme, die
Sie uns hinterlassen haben, haben wir im Bund in Bildung und Forschung investiert. Und wenn Sie in Niedersachsen von uns das eine oder andere Problem hinterlassen bekommen haben sollten,
({13})
muss ich Ihnen dennoch sagen: Sie lösen diese Probleme
mit einer falschen Prioritätensetzung, wenn Sie in dem
Bereich kürzen, den ich gerade angesprochen habe.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt eingehen,
der hier ebenfalls vorgetragen worden ist. Herr Seiffert
hat gesagt - er ist jetzt nicht mehr anwesend -, die Eigenheimzulage stehe nicht im Haushalt. Das ist falsch.
Richten Sie Herrn Seiffert bitte aus - ich finde es nicht
gut, dass er hier erst große Töne spuckt und dann die Debatte verlässt -,
({14})
dass der Bereich der Hochschulen sowie der Bereich der
Biomedizin im Haushalt enthalten sind. Wenn Sie die
Eigenheimzulage nicht kontinuierlich herunterfahren,
dann riskieren Sie dadurch - das muss ich Ihnen sagen Kürzungen in dem Bereich Bildung, Wissenschaft und
Forschung. Denn eine andere Möglichkeit der Finanzierung gibt es nicht.
({15})
Ihre Haushälter wissen, dass es in diesem Bereich
Sperrvermerke im Haushalt gibt.
Sie haben gestern im Ausschuss eine wunderbare Lyrik - wenn auch sicherlich unfreiwillig - gebracht. Sie
haben in Ihrem Antrag geschrieben - diesen Satz kann
man nachlesen -: Köpfe brauchen Beton.
({16})
Diese wunderbare CDU/CSU-Lyrik finde ich bemerkenswert. Ich kann es nur wiederholen: Köpfe brauchen
Beton. Nehmen Sie den Beton aus den Köpfen und unterstützen Sie uns in unserem Bemühen, bei der Bildung
und Forschung noch mehr zu tun! Dann haben Sie genug
für dieses Land getan. Es wäre gut, wenn Sie es endlich
täten.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Minkel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den Finanzminister reden hört, dann hat man
immer den Eindruck, ein Zahlenillusionskünstler würde
zu einem sprechen.
({0})
Die Wahrheit ist doch, dass die CDU/CSU im Jahr
1998 einen Haushalt mit einer Neuverschuldung in
Höhe von 29 Milliarden Euro übergeben hat. Herr Eichel
hat dann versprochen, für das Jahr 2004 einen nahezu
ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Dann wurde das
Versprechen auf das Jahr 2006 und danach auf das Jahr
2008 verschoben. In diesem Jahr werden wir die höchste
Neuverschuldung aller Zeiten in diesem Lande zu verzeichnen haben.
({1})
Wenn Herr Eichel hier so tut, als ob nach drei Jahren
der Flaute dieser Miniaufschwung ein Verdienst dieser
Regierung sei, dann ist das ein großer Irrtum. Wir haben
diesen Aufschwung nicht wegen der Regierung, sondern trotz der Regierung.
({2})
Der Aufschwung ist ausschließlich auf die Exportkonjunktur zurückzuführen. Das ist nicht Ihr Verdienst. Die
Exportkonjunktur läuft, weil die Wirtschaft in anderen
Ländern besser läuft als in unserem Lande.
({3})
Schauen wir uns die Binnenkonjunktur an, so können wir feststellen, dass die Lage hundsmiserabel ist im Einzelhandel, vor allem aber in der Bauindustrie. In
der Bauindustrie hatten wir im Juli einen Auftragsrückgang von 15 Prozent. Diese Zahl zeigt uns, dass der Tränengang der Bauindustrie noch lange nicht beendet ist.
Es wird also weitere Arbeitslose bei den Bauarbeitern
und bei den Bauhandwerkern geben.
Die Bundesregierung ist immer sehr groß im Erfinden
von Parolen. So ist die Parole „Bildung statt Beton“ in
die Welt gesetzt worden. Es ist eine Scheinalternative;
in Wirklichkeit ist es eine Lügenalternative. Es geht hier
nämlich nicht um Bildung auf der einen Seite und Baustoffe auf der anderen Seite. Es geht darum, ob sich unsere Menschen - 80 Prozent der Bevölkerung streben
das eigene Heim an - auch künftig noch den Lebenstraum vom eigenen Heim werden erfüllen können.
Es geht darum, ob unsere Menschen im Eigenheim wohnen dürfen oder auf einer Etage eines Wohnhauses wohnen müssen. Herr Eichel, mit dem Eigenheim fängt die
Kindererziehung an. Beides hat etwas miteinander zu
tun.
({4})
Die Menschen im Lande sind der Auffassung, dass die
Regierung den Kontakt zur sozialen Wirklichkeit in starkem Maße verloren hat.
({5})
Deshalb nenne ich Ihnen einige Beispiele aus dem
Leben: den Fall von Matthias und Kristin Schneider aus
Breitenbach. Mit 16 Jahren haben beide einen Bausparvertrag abgeschlossen, mit 20 geheiratet. Mit 21, 22 Jahren haben sie sich in Selbst- und Eigenhilfe den Traum
vom eigenen Heim erfüllt. Oder das Beispiel von der behinderten Frau Wolf aus Bremerhaven: Die Ehe ging in
die Brüche. Sie kam mit ihrer Tochter in der Wohnung
der Eltern unter. Unter großen Opfern wurde die benachbarte Wohnung gekauft und in sechsmonatiger Arbeit saniert.
({6})
Herr Tauss, ein dritter Fall: Es ist der Fall der Anja
Gründlau aus Breitenfeld in der Nähe von Berlin. Die
Banken hatten ihr gesagt, dass sie sich sowohl die Miete
als auch den Hausbau nicht leisten könne. Daraufhin zog
die allein erziehende Frau mit ihrem Kind für drei Jahre
auf das Baugrundstück in eine Baubude. Nun hat sie ihr
eigenes Haus.
Ich habe diese Beispiele bewusst gebracht, damit Ihnen deutlich wird, wie wichtig und wie wertvoll für die
Menschen im Land der Wunsch nach der selbst genutzten Immobilie ist.
({7})
Die Regierung ist sehr erfinderisch bei ihren Wortschöpfungen: Steuervergünstigungsabbaugesetz, Haushaltsbegleitgesetz,
({8})
Gesetz zur finanziellen Unterstützung der Innovationsoffensive. Wenn man einmal den ganzen Schmus weglässt
und zu des Pudels Kern vordringt, dann wird man erkennen, dass es bei diesen drei Gesetzen um nichts anderes
als um einen Betrug am Wähler geht. Es geht um nichts
anderes als darum, an das Geld der Bevölkerung heranzukommen.
({9})
Denn vor der Bundestagswahl hat die Bundesregierung,
Herr Eichel und Frau Scheel, die Eigenheimförderung
unserer Bevölkerung garantiert. So viel zu Ihrer klaren
Linie!
Wenn Sie die Eigenheimförderung abschaffen, ist das
ein besonders großer Betrug an den jungen Menschen.
({10})
- Herr Tauss, Sie haben wirklich nicht verstanden, was
Sie hier vorschlagen.
({11})
Die jungen Menschen hätten nämlich im Falle der Abschaffung der Eigenheimzulage noch für rund zehn Jahre
durch ihre Steuerzahlungen die Altfälle zu finanzieren,
({12})
würden selbst aber nie in den Genuss einer Förderung
kommen. Das ist in höchstem Maße ungerecht.
({13})
Kollege Minkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spanier?
Herr Spanier kann mich im Ausschuss fragen.
({0})
Ein weiterer Punkt - er macht deutlich, wie wenig
dieser Vorschlag steuersystematisch durchdacht ist - ist
die Ungleichbehandlung der Eigenheimbesitzer im
Vergleich zu den Vermietern. Nach dem geltenden
Steuerrecht erhalten die Vermieter im Laufe der Zeit
über die Abschreibung ihre Immobilie zu rund 50 Prozent von Vater Staat bezahlt. Wenn die Spekulationsfrist
abgelaufen ist, kann der Gewinn dann steuerfrei nach
Hause getragen werden.
({1})
Sie gewähren den Vermietern auf der einen Seite Jahr für
Jahr im Umfang eines zweistelligen Milliardenbetrages
Steuervorteile.
({2})
Die Begünstigung der Vermieter ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite gönnen Sie dem kleinen Eigenheimbauer noch nicht einmal 1 250 Euro pro Jahr.
({3})
Wenn Sie diese Förderung abschaffen würden, wäre das
krass ungerecht und würde den Spalt in unserer Gesellschaft weiter vertiefen.
({4})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der gegen
Ihren Vorschlag spricht. Sie wollen die durch den Wegfall der Eigenheimzulage eingesparten Mittel angeblich
für die Bildung einsetzen.
({5})
- Das will ich Ihnen erläutern. - Ich habe noch sehr gut
die Versprechen zur LKW-Maut im Ohr, die vor einem
Jahr gemacht worden sind. Sie wollten die dadurch erzielten Mittel zusätzlich für den Verkehrswegebau einsetzen. Das Gegenteil davon ist passiert.
({6})
Kaum hatten Sie Ihr Wort gegeben, war es - vier Wochen später - schon gebrochen. Das bedeutet, dass diese
Regierung kein Vertrauen mehr verdient und kein Vertrauen mehr beanspruchen kann, wenn sie etwas verspricht.
({7})
Die Verhältnisse in diesem Lande haben sich innerhalb der letzten Wochen in keiner Weise geändert.
({8})
Deshalb fällt es mir sehr leicht, mit einem Gedanken zu
schließen, den ich bereits in meiner Rede zum Wohnungsbauhaushalt angeführt habe: Die Union ist für eine
Politik, die für Wohlstand für alle steht.
({9})
Wir lehnen Verhältnisse, wie sie in der „Animal Farm“
beschrieben worden sind, ab. Wir wollen, dass der kleine
Mann seinen Lebenstraum von der eigenen Immobilie
verwirklichen kann, dass er nicht auf eine Wohnwabe
verwiesen wird. Wir halten es nicht für richtig, dass nur
dem Arbeiterführer der Palast der sozialen Gerechtigkeit
im Grünen zustehen darf.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Wolfgang Spanier.
Herr Kollege Minkel, wenn Sie uns, wie gerade geschehen, aufs Übelste beschimpfen, dann aber die Beantwortung einer Frage verweigern, drücken Sie sich vor
der notwendigen Auseinandersetzung.
({0})
Wie wollen Sie den Menschen, die Sie vorhin als Beispiele angeführt haben, erklären, dass in den Steuerkonzepten sowohl von CSU als auch von CDU, verbunden
mit den Namen Faltlhauser und Merz, im Rahmen einer
umfassenden Steuersenkung, in erster Linie der Senkung
des Spitzensteuersatzes,
({1})
die Abschaffung der Eigenheimzulage vorgesehen ist?
Wie wollen Sie das den Menschen erklären, die Sie in
geradezu herzzerreißender Weise angeführt haben?
({2})
Wie kommen Sie dazu, sich hier hinzustellen und zu
sagen, dass die steuerliche Förderung der Vermieter in
einem völligen Ungleichgewicht zur vorgesehenen Abschaffung der Eigenheimzulage steht, obwohl Sie doch
wissen müssten, dass Sie es waren, die Opposition, die
unsere Vorschläge, im Rahmen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes die notwendigen Einschnitte vorzunehmen, schlichtweg abgelehnt haben?
({3})
Wenn man dies vor zwei Jahren abgelehnt hat, kann
man sich heute nicht hier hinstellen und uns das vorwerfen. Das, glaube ich, überschreitet jede Grenze einer
sachlichen politischen Auseinandersetzung. Deswegen
habe ich mich zu Wort gemeldet. Darauf mit den Worten
zu reagieren, das können Sie mich ja im Ausschuss fragen, ist ein Stück weit unverschämt, Herr Minkel.
({4})
Das muss ich Ihnen einfach so sagen. So können wir
über diese wichtigen Themen hier im Parlament nicht
diskutieren. Alle schwenken die Fahnen zum Subventionsabbau. Wenn es aber konkret wird, bekommt man
nichts anderes zu hören als solche billige Polemik. Dafür
sollten Sie sich ein Stück weit schämen.
Entschuldigen Sie, dass ich so emotional war.
({5})
Herr Kollege Minkel, Sie haben die Gelegenheit zur
Beantwortung.
Herr Kollege Spanier, wenn Sie meine Rede von A
bis Z nachlesen würden,
({0})
dann würden Sie feststellen, dass ich mit keinem einzigen Wort jemanden von Ihnen beschimpft habe.
({1})
Denn jede Art von Beschimpfung liegt mir aus innerster
Überzeugung wirklich fern.
({2})
Ich habe aber einige Wahrheiten, die ich belegen kann,
ausgesprochen. Wenn man die Wahrheit sagt, kann das
bekanntlich sehr wehtun.
Sie haben ferner den Kollegen Friedrich Merz und den
bayerischen Finanzminister Faltlhauser angesprochen.
Sie haben versucht, einen Widerspruch zu konstruieren.
({3})
Dabei ist aber großes Wunschdenken im Spiel, Herr Kollege Spanier. Es ist nämlich nicht so, dass die Eigenheimzulage für alle Zeiten unumstößlich erhalten bleiben muss. Das ist völlig klar.
({4})
Aber - jetzt kommt der Unterschied zwischen uns und
Ihnen - wir holzen nicht, isoliert von anderen Maßnahmen, die Eigenheimzulage weg; das wäre ja nur eine
verkappte Steuererhöhung. Vielmehr würde das, wenn
wir etwas an der Eigenheimzulage ändern würden, in
eine allgemeine, große, spürbare Steuerreform mit einer
Steuersenkung eingebettet sein, die deutlich über das hinausgeht, was Sie in den letzten Jahren zustande gebracht haben.
({5})
Dann hätte man sich immer noch darüber zu unterhalten,
was mit den Geringverdienern passiert, die bei einer
Steuerreform, weil sie ohnehin wenig Steuern zahlen,
wenige Vorteile hätten und deshalb nach wie vor - insbesondere wenn es sich um Familien mit vielen Kindern
handelt - auf eine Förderung angewiesen wären.
Was die Behandlung der Vermieter anbelangt, so hat
Friedrich Merz dazu in seinem Konzept ganz klare Aussagen getroffen,
({6})
die offensichtlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sind.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Poß, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Minkel, Sie haben zum Abschluss Ihrer Rede die
Berechtigung der Eigenheimzulage damit begründet,
dass sich die Verhältnisse im Lande nicht verändert hätten. Ich sage Ihnen aber: Die Verhältnisse ändern sich,
Tag für Tag.
({0})
Das können Sie auch an den Umfragewerten für CDU
und CSU ablesen: Sie sind jetzt Gott sei Dank schon unter 40 Prozent; das ist eine richtige Entwicklung.
({1})
In dem Sinne ändern sich die Verhältnisse. Der Glanz
der 50 Prozent aus den Umfragen ist weg
({2})
und die Menschen erkennen immer mehr, dass Sie ungerechte und unfinanzierbare Konzepte vorlegen.
({3})
Mit dem Leitantrag für Ihren Bundesparteitag machen
Sie Ernst mit dem, was wir immer behauptet haben: Sie
wollen nicht die Erneuerung in sozialer Verantwortung,
Sie wollen den Sozialstaat rasieren. Das ist Ihre Absicht.
({4})
Der Kündigungsschutz soll wegfallen, ebenso alles, was
den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
bedeutet;
({5})
Sie wollen Einschränkungen auch in familienpolitischer
Hinsicht. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man an
die Vorschläge denkt, die in dem Antrag enthalten sind.
Wir werden im Einzelnen noch darauf zu sprechen kommen.
Ich habe den Eindruck: Sie wollen den routinemäßigen und seit August bekannten Umstand, dass wir einen
Nachtragshaushalt vorlegen müssen, nutzen, um hier zu
skandalisieren, weil Sie von den Schwierigkeiten in Ihrer eigenen Fraktion und in Ihren Parteien ablenken wollen. Sie sind zwischen CDU und CSU tief uneinig.
({6})
Davon wollen Sie heute Morgen mit Angriffen ablenken.
Das wird Ihnen nicht gelingen.
Herr Seehofer hat ja aufgelistet, welche Risiken sich
aus den Beschlüssen ergeben, die Sie auf dem CDUBundesparteitag im Dezember letzten Jahres gefasst haben: Es sind 102 Milliarden Euro. Man kann noch hinzufügen, dass Sie die Abschaffung der Gewerbesteuer in gemeindefeindlicher Weise beschlossen haben - da müssten
die Kommunalpolitiker genau hinhören; wir haben ja
noch einige Stichwahlen in Nordrhein-Westfalen -, ohne
zu sagen, wo die Kompensation für 23, 24, 25 Milliarden
Euro herkommen soll.
({7})
Man kann also mit Fug und Recht behaupten: Frau
Merkel ist zum 125-Milliarden-Risiko geworden.
({8})
Die Menschen merken das. Sie wollen davon zwar ablenken, werden damit aber keinen Erfolg haben.
Ich bin ganz froh darüber, dass Sie hier eine schiefe
Diskussion eröffnen und auf jedes Argument von unserer Seite den Begriff Steinkohle in die Debatte werfen.
Die Menschen im Ruhrgebiet werden sicherlich aufhorchen.
({9})
Daran erkennt man nämlich die Zerrissenheit der CDU/
CSU. Die CDU-Kommunalpolitiker äußern sich in dieser Frage ganz anders. Das ist wieder typisch für Sie.
({10})
Die gespaltene Zunge ist Ihr Markenzeichen geworden,
Herr Austermann.
({11})
Die Menschen spüren dies immer stärker. Vor Ort wird
gesagt, die Steinkohlesubventionen dürften nicht weiter
zurückgehen; das könne man regionalpolitisch nicht verkraften. Hier predigen Sie aber etwas ganz anderes. Dies
geht nicht gut. Ich hoffe, dass heute viele Menschen aus
dem Ruhrgebiet zugehört haben.
({12})
Der Sachverhalt ist ganz einfach: Von der von Helmut
Kohl geführten Regierung ist unter Beteiligung der Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland eine Vereinbarung mit dem Bergbau und der Gewerkschaft getroffen
worden.
({13})
Die Subventionen, die im Jahre 1998 insgesamt an die
5 Milliarden Euro betrugen, werden auf etwa 2 Milliarden Euro im Jahre 2005 zurückgeführt. Wären in den
letzten Jahren alle Subventionen in diesem Umfange zurückgeführt worden, dann hätten wir lange nicht die Probleme in den öffentlichen Haushalten - das gilt für
Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen -, wie wir
sie derzeit haben.
({14})
Der Steinkohlebereich ist ein Muster dafür, wie man
Subventionsabbau betreiben kann. Auch die Fortführung
dieser Subvention bis 2012 ist degressiv ausgestaltet.
Dies muss das Vorbild für alle Subventionen sein. Wenn
wir für einen begrenzten Zeitraum Subventionen gewähren, dann müssen sie degressiv ausgestaltet sein. Das ist
einer der Maßstäbe in unserer Politik.
({15})
Was machen Sie? Sie tabuisieren ganze Bereiche und
verlangen, dass an sie überhaupt nicht herangegangen
wird. Wir haben doch erlebt, wie Herr Stoiber im Vermittlungsausschuss die Landwirtschaft gänzlich tabuisiert hat. Sie machen Klientelpolitik, meine Damen und
Herren. Von Ihnen müssen wir uns überhaupt nichts erzählen lassen, was die Frage eines energischen Subventionsabbaus angeht.
({16})
Wir haben nicht verschwiegen - Herr Eichel hat es in
seinem Finanzbericht im August auch erwähnt -, welches die Gründe dafür sind, dass sich die Zahlen für den
Haushalt 2004 gegenüber der Schätzung vom November
2003 und den Abschlussberatungen zum Haushalt verändert haben: Wir haben Mehrausgaben für den Arbeitsmarkt. Wir haben die Sonderbelastungen des Bundesbankgewinns durch den schwachen US-Dollar, was dazu
geführt hat, dass allein bei der Gewinnüberweisung
durch die Deutsche Bundesbank mehr als 3 Milliarden Euro fehlen.
({17})
Wir haben eine uneinheitliche Entwicklung bei den Steuereinnahmen, auch in den einzelnen Ländern. Wir haben
mit den Finanzministern aller Länder - auch mit Ihren
Finanzministern - gesprochen. Sie alle konnten sich keinen Reim darauf machen. Diese Risiken haben angehalten; wir haben es zu Recht Achterbahnfahrt genannt.
Jetzt stellt sich leider heraus - die Gründe dafür hat
Herr Eichel hier dargestellt -, dass wir bei bestimmten
Steuerarten wesentliche Mindereinnahmen haben. Deswegen gibt es keinerlei Berechtigung dafür - das sage
ich denjenigen, die Herrn Eichel vorgeworfen habe, er
wolle die Menschen hinter die Fichte führen -,
({18})
dem Bundesfinanzminister Lügen vorzuwerfen. Der zusätzliche Finanzbedarf für 2004 ist zu dem Zeitpunkt bekannt gemacht worden, an dem er sich konkretisiert hat.
Sie haben sowieso jedes Recht verspielt, uns hier Vorwürfe zu machen.
({19})
Sie haben den Subventionsabbau fast völlig blockiert.
Hätten Sie es nicht getan - dies ist schon erwähnt worden -, hätten wir 17 Milliarden Euro mehr für Bund,
Länder und Kommunen. Was könnten die Kommunen
investieren und damit den dringenden Investitionsbedarf
abarbeiten, meine Damen und Herren!
({20})
Es war doch schwer genug, im Interesse der Kommunen gegen Ihren Widerstand durchzusetzen, dass die Gewerbesteuer stabilisiert wird.
({21})
Aufgrund der steigenden Gewerbesteuereinnahmen und
wegen der Entlastung der Kommunen durch Hartz IV
werden wir im nächsten Jahr sehr wahrscheinlich eine
Gesamtentlastung der Kommunen in Höhe von 6 Milliarden Euro erreichen. Dies ist Ergebnis unserer Politik,
unseres Engagements.
({22})
Sie bieten den Kommunen keine Perspektive.
Das ist die Ebene, die in den nächsten Jahren für
wichtige gesellschaftspolitische Aufgaben wie die Ganztagsbetreuung und die U-3-Betreuung zusätzliches Geld
bekommt und investieren kann. Sie haben zumindest an
dieser Stelle die Berechtigung zur Kritik verspielt.
Wir haben mehrere Anläufe unternommen, Ausnahmetatbestände und Subventionen abzubauen. Sie haben
das alles als Steuererhöhung diffamiert. Erinnern Sie
sich einmal an die Monate nach der Bundestagswahl
2002, als auch mithilfe Ihnen nahe stehender Publizisten
Morgen für Morgen eine bestimmte Stimmung erzeugt
wurde, insbesondere von der Zeitung mit den großen
Buchstaben. Natürlich haben Sie mit dieser Schwarzrednerei dazu beigetragen, dass wir nur langsam aus dem
Wachstumsloch herauskommen. Sie haben die Stimmung systematisch und ohne Rücksicht auf Verluste heruntergeredet, nur aus parteipolitischen Gründen.
({23})
Die üblichen Verdächtigen unter den Haushaltspolitikern der Opposition haben sich gestern, als Hans Eichel
den Rahmen für den Nachtragshaushalt 2004 bekannt
gegeben hat, sofort mit den gewohnten Reflexen gemeldet: Jetzt müsse ein Haushaltssicherungsgesetz verabschiedet, jetzt müsse eine Haushaltssperre erlassen
werden, jetzt müssten weitere Ausgabenkürzungen
vorgenommen werden. Diese Vorschläge - ein Haushaltssicherungsgesetz mit Wirkung ab sofort, eine Haushaltssperre bzw. eine sofortige Ausgabenkürzung - bedeuteten ökonomisches Harakiri; darin sind sich fast alle
Experten einig.
({24})
Wir wollen die Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung und werden diesen Vorschlägen deswegen
nicht folgen.
Die konjunkturelle Erholung ist zwar deutlich erkennbar, aber, wie wir wissen, angesichts der existierenden
weltwirtschaftlichen Risiken, des Risikos durch den Ölpreis und anderer Faktoren, fragil. In einer solchen Situation kann es doch nicht wirklich Ihre Absicht sein, die
Investitionen des Bundes zu kürzen und die noch immer
schwache Binnennachfrage durch eine Haushaltssperre
und Kürzungen staatlicher Leistungen zu treffen.
Herr Austermann, ich bin gespannt, was Sie gleich
konkret als Ihre finanzpolitische Strategie in dieser Situation vorschlagen werden. Es geht doch nicht um eine
Sondersituation der Bundesrepublik Deutschland. Hans
Eichel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation in fast allen industrialisierten europäischen Ländern
vergleichbar ist. Sie ist durch die Stagnation bzw.
Wachstumsschwäche gekennzeichnet, die leider seit dem
Frühjahr 2001 zu verzeichnen ist und aus der wir, auch
durch gemeinschaftliche europäische Anstrengungen,
herauskommen wollen und müssen. Aber mit einer Politik der Obstruktion und einer Verweigerungshaltung in
Haushaltsfragen kommen wir nicht weiter.
Diese Haltung beweisen Sie heute Morgen wieder:
Wir machen einen Vorschlag zur „finanziellen Unterstützung der Innovationsoffensive durch Abschaffung der
Eigenheimzulage“ und Sie sagen Nein. Sie bleiben bei
Ihrem Schnittmuster. Aber ich wiederhole es: Die Menschen erkennen zunehmend, wie durchsichtig und wie
inhaltlich fragwürdig oder hohl Ihre Politik ist, und sie
werden darauf in den nächsten Monaten noch stärker reagieren. Ich bin zuversichtlich, dass sich dies schon bei
den Stichwahlen in Nordrhein-Westfalen am 10. Oktober
sehr deutlich niederschlagen wird, weil die Menschen
spüren, wer ihre Interessen wirklich vertritt, und dass es
sich bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und
auch in Nordrhein-Westfalen fortsetzen wird.
({25})
Ich erteile das Wort Kollegen Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es lohnt
sich wohl nicht, dass wir uns mit dem auseinander setzen, was Kollege Poß eben vorgetragen hat.
({0})
Ich möchte mich auf das konzentrieren, was der Finanzminister vorhin gesagt hat, und zu der Vermutung sprechen, warum er wohl diesen Nachtragshaushalt heute
hier inhaltlich bekannt gegeben hat.
Herr Eichel, wir haben bereits im November letzten
Jahres über Ihren Haushalt, der damals im Entwurf fertig
war, gesagt, es sei der Haushalt eines Hütchenspielers.
({1})
Wir haben dann im Februar dieses Jahres gesagt, dieser
Haushalt enthalte Risiken von 10 bis 15 Milliarden Euro. Am 7. April haben wir wieder geäußert, dass
Sie ein Risiko von 10 bis 15 Milliarden Euro haben. Wir
haben dann am 5. Mai gesagt: Sie steuern 47 Milliarden Euro neue Schulden an. Sie sind der Totengräber der
Bundesfinanzen.
({2})
Sie haben es zu verantworten, dass sich Deutschland in
der schlimmsten Finanz- und Haushaltskrise der Nachkriegszeit befindet. Das will ich konkret belegen.
({3})
All die Begründungen, die heute angeführt werden,
waren mit Ausnahme des Themas Bundesbankgewinn
schon vor einem Jahr bekannt. Ich meine die Themen
Steueramnestie, Schwarzarbeit, Tabaksteuer, den Ausgleich, den die Länder für die Steuerreform bekommen,
und die Umverteilung bei der Umsatzsteuer. Auch die
konjunkturelle Entwicklung war eindeutig abzulesen.
Jetzt haben Sie gesagt, das Wachstum betrage 2 Prozent.
Dann müsste es eigentlich besser laufen. Weshalb kommen die Steuereinnahmen trotzdem nicht in Gang? Jetzt schwätzt Herr Eichel mit Herrn Clement; vielleicht,
weil er sich hier im Parlament vorhin nicht austoben
konnte.
Sie haben gesagt, die Entwicklung in all diesen Bereichen sei nicht zu erwarten gewesen. Aber ich sage Ihnen: Die Schwierigkeiten bei der LKW-Maut waren eindeutig zu erkennen. Es war klar, dass die
Privatisierungserlöse nur mithilfe der Russlandschulden
eingefahren werden können.
({4})
Auch die Schwierigkeiten bezüglich Arbeitsmarkt,
Wohngeld und Arbeitslosenhilfeempfänger waren zu
Beginn dieses Jahres abzusehen. Sie haben die Menschen mit Vorsatz über die Entwicklung getäuscht.
Man stellt sich die Frage: Warum legt Herr Eichel
jetzt doch den Entwurf eines Nachtragshaushaltes vor?
Auf diese Frage kann es eigentlich nur eine Antwort geben: die im Bundeshaushalt enthaltene Kreditermächtigung. Die Kreditermächtigung ist das, was für einen Familienhaushalt der Dispo ist. Sie ermöglicht, dass der
Finanzminister seine Ausgaben in einer bestimmten
Größenordnung überziehen kann in der Hoffnung, dass
es am Jahresende wieder zum einem Ausgleich kommt.
Die Kreditermächtigung ist also der Dispo des Finanzministers. Durch den Nachtragshaushalt wird die Kreditermächtigung auf 53 Milliarden Euro erhöht. Das deutet
an, welche Entwicklung die Neuverschuldung in diesem
Jahr nehmen könnte.
({5})
Die Kreditermächtigung wird brutal ausgeweitet, um sicherzustellen, dass die weitere Entwicklung wie bisher
verläuft.
Herr Eichel, ich fordere Sie auf, noch in dieser Sitzung zu sagen, weshalb Sie für dieses Jahr eine Kreditermächtigung in der Größenordnung von 53 Milliarden
Euro haben wollen. Das frage ich Sie angesichts Ihrer
Behauptung, die Neuverschuldung werde circa 43,7 bis
44,7 Milliarden Euro betragen. Ihr Staatssekretär Herr
Diller hat gestern von 43 Milliarden und gesprochen; die
paar Millionen Euro nach dem Komma spielen ja keine
Rolle. Das müssen Sie der Öffentlichkeit erklären.
Ich glaube, dahinter steckt die Gefahr und die nicht
unberechtigte Sorge, dass sich die Situation in diesem
Jahr noch wesentlich schlechter als angenommen entwickeln könnte. Angesichts der bevorstehenden Stichwahlen, vor allem aber, damit das Vertrauen in die
Politik zurückkehrt, fordere ich Sie auf: Sagen Sie den
Bürgern die Wahrheit über die tatsächliche Entwicklung!
({6})
Kollege Michelbach hat nicht ganz zu Unrecht darauf
hingewiesen, dass das Thema Karstadt etwas mit dem
Verhalten der Regierung zu tun hat.
({7})
Der Steuerzahlerbund hat von der öffentlichen Verschwendung dieses Jahres gesprochen. Wir haben jetzt
zwei Dinge zu beklagen: auf der einen Seite die öffentliche Verschwendung, auf der anderen Seite die Zurückhaltung bzw. das Angstsparen der Bürger. Dieses
Angstsparen der Bürger wegen ständig neuer Irritationen
durch Ihre Finanz- und Haushaltspolitik führt zur Kaufzurückhaltung. Das wiederum hat zur Folge, dass bestimmte Unternehmen weniger Umsatz machen, sich
langsamer entwickeln und Leute entlassen müssen. Vertrauenswidrige Finanzpolitik hat ganz konkret etwas mit
Arbeitslosigkeit zu tun.
({8})
Herr Eichel, wir haben Jahr für Jahr erlebt, dass Sie
die Fakten erst dann eingestehen, wenn das Leugnen
zwecklos ist.
({9})
Die entsprechende Zahlenreihe der letzten Jahre sieht
wie folgt aus: Vor vier Jahren betrug die Neuverschuldung 23 Milliarden Euro, vor drei Jahren 32 Milliarden
Euro, im letzten Jahr 38 Milliarden Euro und in diesem
Jahr möglicherweise 48 Milliarden Euro.
({10})
Das heißt, die Neuverschuldung springt in Sätzen von 5 bis
10 Milliarden Euro pro Jahr nach oben. Sie haben die
Dinge nicht im Griff und lassen sie schleifen. Das nennen Sie dann antizyklische Wirtschafts-, Finanz- oder
Haushaltspolitik - wie auch immer. Diese Politik hat mit
Gestalten nichts mehr zu tun. Aber durch einen Haushalt
soll man gestalten.
({11})
Dadurch soll dem Parlament die Möglichkeit zu politischen Vorgaben gegeben werden. Der Finanzminister
aber betätigt sich als Buchhalter, der am Ende des Jahres
feststellt, dass die Lage schlimm ist. Er legt einen Haushalt vor, der nur die Schlussfolgerung zulässt, dass die
Situation am Ende des nächsten Jahres wieder schlimm,
wenn nicht sogar noch schlimmer sein wird.
Herr Eichel, ich sage Ihnen heute: Die Situation wird
im nächsten Jahr noch schlimmer werden, weil es Ihnen
bisher nicht gelungen ist, ein strukturelles Defizit von
40 Milliarden Euro pro Jahr zu verhindern. Genau dafür
tragen Sie die Verantwortung.
({12})
- Herr Tauss, ich sage gleich etwas zur Eigenheimzulage.
({13})
Aber wir haben vereinbart, jetzt über den Nachtragshaushalt zu reden. Das hat ja offensichtlich seinen guten
Grund.
Werfen wir einen Blick zurück in die Zeit vor 1998.
Die Entwicklung seit 1996 verlief positiv. Die Verschuldung ging deutlich zurück, die Arbeitslosigkeit ging zurück und die Beschäftigung stieg an.
Das hielt bis zum Jahre 2000 vor. Seitdem geht es in
allen Bereichen „negativ aufwärts“, also nach unten. Ihre
Aussage, Sie hätten das geerbt und deswegen sei die Situation so, wie sie ist, ist einfach unwahr.
({14})
Herr Tauss, weil Sie darauf bestehen, auch hier wieder eine Ohrfeige zu bekommen, will ich Ihnen gerne
sagen, was bezüglich der Eigenheimzulage tatsächlich
im Haushalt steht. Innerhalb des Forschungsetats des
Haushalts sind 63 Milliarden Euro für den Hochschulbau gesperrt.
({15})
- Vielen Dank, es sind 63 Millionen Euro. Ich glaube, es
ist das erste Mal, dass Sie im Parlament etwas Richtiges
gesagt haben.
({16})
63 Millionen Euro sind mit Blick auf die Abschaffung
der Eigenheimzulage für die Gemeinschaftsaufgabe
„Hochschulbau“ vorgesehen, aber gesperrt. Das heißt:
Wenn wir der Abschaffung nicht zustimmen würden,
wenn also die Eigenheimzulage nicht zulasten der Bauwirtschaft gekürzt würde, dann würde die Bugwelle
beim Hochschulbau, die darin besteht, dass die Länder
das Geld ausgeben müssen, weil sie ja Hochschulen
bauen sollen, um 63 Millionen Euro steigen. Ansonsten
würde nichts passieren.
({17})
Nun kann man sagen: Macht ja nichts, das ist eine Politik, wie sie immer gemacht wurde.
({18})
Nun reden Sie davon, dass Sie die Eigenheimzulage
wegen der Bildung streichen wollen. Ich frage Sie: Weshalb geben Sie dann 15 Millionen Euro in den Wirtschaftsetat und entsprechende Beträge in den Landwirtschaftsetat und in den Umweltetat?
({19})
Überall dort steckt das bei der Eigenheimzulage eingesparte Geld. Hier wird dagegen immer davon geredet,
das ginge alles in den Bildungsetat. Das ist doch gelogen!
({20})
Ein Wegfall der Eigenheimzulage würde Einsparungen von 100 Millionen Euro mit sich bringen. Es bleibt
dann natürlich auch noch etwas für den Haushalt und
den Finanzminister übrig. Den Leuten erzählt man aber,
man würde für Forschung und Bildung sorgen. Es war
doch offensichtlich so: Die Posten des Umweltministers
und des Landwirtschaftsministers sind grün besetzt. Man
hat die Beute ein wenig verteilt. Die einen und die anderen bekamen etwas.
Herr Kollege, bei aller Leidenschaft: Schauen Sie
bitte einmal auf die Uhr vor Ihnen auf dem Rednerpult.
Ich bin dabei, zu enden.
({0})
Sie werden feststellen, dass hier offensichtlich eine
weitere Täuschung im Gang ist; denn Sie sagen, dass Sie
die Eigenheimzulage für die Bildung kürzen. Nein, Sie
nehmen sie für die vielen rot-grünen Spielwiesen im
Haushalt, aber nicht für die Zukunft. Zukunft bedeutet:
Wir brauchen einen Wechsel beim Finanzminister und
bei der Regierung.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Tauss, Sie haben sich vorhin
deutlich geärgert, als die Kollegen Michelbach und
Minkel gesprochen haben.
({0})
Ich muss ganz deutlich sagen: Ärgern Sie sich nicht! Ich
finde, die Reden, die die hier gehalten haben, mussten
gehalten werden. Das Volk soll wissen, was CDU und
CSU zu sagen haben.
({1})
Ich werde mir diese Dinge kopieren und sie den Familien und Bürgern in Hamburg vorlesen.
({2})
Sie von der Union haben sich hier hingestellt und gesagt,
dass Bauinvestitionen in diesem Land eine steuerliche
Subventionierung in diesem Ausmaß benötigen, ansonsten könne sich die Familie in Deutschland oder
könnten sich Eltern nicht vorstellen, ein Haus zu finanzieren. Deswegen sei es richtig, darauf zu verzichten,
das Geld in den Bereichen Kinderbetreuung, Schule
und Forschung bereitzustellen. Das müssen wir verbreiten. Diese Debatte führe ich gerne. Herr Thiele, wir
werden auch Sie hier einreihen müssen.
({3})
Das war ein Trauerspiel. Herr Minkel hat sich dabei
zu der Aussage verstiegen, ein Haus zu haben sei möglicherweise sogar Voraussetzung dafür, die Kinder gut zu
erziehen.
({4})
Das haben Sie hier gesagt; es ist unglaublich.
Also, Herr Tauss: Ärgern Sie sich nicht! Wir müssen
diese Aussagen von Herrn Michelbach und Herrn
Minkel, der hier stellvertretend für die Union gesprochen hat, verbreiten. Wir müssen dafür Sorge tragen, zu
verdeutlichen, welche Alternativen hier zur Wahl stehen.
Wir müssen fragen, ob man bereit ist, die Weichenstellung
auf die Zukunftsorientierung für Bildung durchzusetzen,
und die Bürgerinnen und Bürger müssen sich fragen, ob
die Verweigerungspolitik der CDU-Seite unterstützt werden soll.
({5})
- Herr Michelbach, Sie rufen „Populismus“. Ich will
darauf eingehen.
({6})
Sie müssen doch auch zur Kenntnis nehmen und Ihre
Entscheidungsgrundlagen daraufhin vielleicht einmal
überdenken, dass jetzt hinsichtlich der Finanzierung im
Wohnungsbau andere Voraussetzungen gegeben sind:
Herr Tauss hat doch ganz einfach und deutlich erklärt,
wie das Bauzinsniveau bei der Einführung der Eigenheimzulage aussah und wie man die Eigenheimzulage
heute bewerten muss. Es ist doch eindeutig, dass man
hier eine Kursänderung vornehmen kann.
({7})
Wenn Sie sie nicht vornehmen wollen, werden wir dafür
streiten. Ich bin sicher, wir werden an dieser Stelle in der
Zukunft für diesen Weg nicht nur die Unterstützung junger Menschen und junger Familien, sondern auch die der
älteren Generation erhalten. Da bin ich mir ganz sicher.
({8})
Ich möchte jetzt auf das Thema Nachtragshaushalt
eingehen.
({9})
Die Debatte ist um diesen wichtigen Punkt erweitert
worden. Nun ist nicht zu leugnen, dass wir in diesem
Jahr bei der Verschuldung wohl einen Höchststand erreichen werden,
(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie reden das
wieder schön!
der traurig ist und den wir überhaupt nicht schönreden
wollen.
({10})
Ich muss an dieser Stelle zwei Dinge feststellen. Erstens.
Politik muss sich auch in Alternativen darstellen.
({11})
Die Alternative der Union auf der Basis der schwierigen
öffentlichen Haushaltslage ist, kurzfristig Steuersenkungsprogramme in zweistelliger Milliardenhöhe auszurufen. Wissen Sie, wo die Neuverschuldung liegen
würde, wenn Sie im Bundestag etwas zu sagen hätten?
({12})
Unsere Befürchtung ist, dass wir sie dann noch verdoppeln müssten.
({13})
Diese Alternative präsentieren Sie uns. Aber Sie reden
im Moment nicht von Alternativen, sondern Sie können
den Blick immer nur zurückrichten.
({14})
Zweitens. Das Problem ist nicht nur, dass wir Ihre
schlichten Bierdeckelprogramme verhindern müssen,
die verheerende Auswirkungen auf die Struktur der öffentlichen Finanzen hätten.
({15})
Wir sind auch damit konfrontiert, dass Sie schon in den
letzten Jahren Ihre staatspolitische Verantwortung nicht
wahrgenommen haben. Sie haben Subventionskürzungen
im zweistelligen Milliardenbereich verhindert. Heute
treten Sie den Beweis an, dass Sie bereit sind, bei Subventionskürzungen von weiteren 7 Milliarden Euro erneut auf der Bremse zu stehen.
({16})
Diese Bilanz muss man Ihnen ins Stammbuch schreiben. Das ist eine traurige Entwicklung. Vor diesem Hintergrund, Herr Austermann, ist es traurig, wie Sie sich
hier selbstgefällig hinstellen und Finanzminister Eichel
angreifen. Das ist zutiefst unredlich.
({17})
Wir haben in diesem Sommer die Entwicklung erlebt
- das wird auch in der Bevölkerung und den Medien
wahrgenommen -, dass Sie heillos zerstritten sind und
kein Konzept haben.
({18})
Sie haben noch nicht einmal die Kraft zu einem schrittweisen, aber in der Perspektive bedeutsamen Subventionsabbau bei der Eigenheimzulage.
Da Sie uns wegen der Entscheidung über die Kohlesubventionen immer angreifen, möchte ich noch einmal
Herrn Tauss anführen, der dazu etwas sehr Richtiges gesagt hat.
({19})
Er hat gesagt: Gehen Sie doch diesen Weg einfach mit.
Die Eigenheimzulage wird ja nicht piff, paff weggestrichen, sondern über einen mehrjährigen Zeitraum abgeschmolzen. - So machen wir das auch bei den Kohlesubventionen. Nach unseren Vorstellungen, Herr Tauss,
können diese Subventionen bis auf null heruntergefahren
werden, aber da sind wir uns noch nicht ganz einig.
({20})
Das kann noch werden.
Nehmen Sie sich ein Beispiel am Subventionsabbau,
den wir in der Regierung betreiben.
({21})
Sie haben immer nur flotte Sprüche parat. Wenn es aber
zur Abstimmung kommt, dann verweigern Sie sich. Das
ist traurig und keine Alternative.
({22})
Das Wort hat der Kollege Norbert Barthle, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Hajduk, Sie wissen ja, dass ich Sie als
Kollegin im Haushaltsausschuss schätze. Aber das, was
Sie heute vorgetragen haben, entbehrt jeglicher Grundlage.
({0})
Wenn Sie die Kollegen Minkel und Michelbach mit einer Fehldeutung dessen, was sie gesagt haben, angreifen,
dann spricht das schon für sich. Wenn Sie für diese Fehldeutung als Zeugen auch noch den Kollegen Tauss
mehrfach bemühen müssen, dann spricht das ebenfalls
für sich.
({1})
Deshalb sage ich dazu gar nichts mehr.
({2})
Lassen Sie uns am Ende dieser langen Debatte, in der
viele Daten und Fakten genannt wurden, noch einmal
über das Grundsätzliche nachdenken. Das Grundsätzliche, Herr Eichel, zeigt sich bei einem Blick auf den von
Ihnen vorgelegten Haushalt und insbesondere den Nachtragshaushalt. Eines Ihrer Probleme - das betrifft die gesamte rot-grüne Regierung - ist, dass Sie zwar einerseits
immer wieder die Tradition Ludwig Erhards bemühen,
aber andererseits den Grundsätzen Ludwig Erhards völlig zuwiderhandeln. Warum? Der Grund ist, dass in Ihren Haushalten die Ausgaben nicht von den Einnahmen
bestimmt werden, sondern die Ausgaben ständig die
Einnahmen bestimmen. Das ist der Grundfehler Ihrer
Politik. Sie erkennen, dass die Ausgaben, insbesondere
für Arbeit und Soziales, exponentiell steigen.
({3})
Wie reagieren Sie darauf? Ihnen fällt nichts Besseres ein,
als permanent die Einnahmen zu erhöhen, indem Sie
Steuern und die Neuverschuldung erhöhen.
({4})
Das ist der Grundfehler Ihrer Politik. Sie sollten sich an
Ludwig Erhard erinnern und eine Politik machen, nach
der die Einnahmen die Ausgaben bestimmen.
({5})
Vielleicht sollten Sie, Herr Schmidt, auch einmal in die
Länder Bayern oder Niedersachsen schauen, wo die Ministerpräsidenten ernsthaft sparen,
({6})
während ich bei den rot-grünen Koalitionären keinerlei
ernsthaften Sparwillen beobachten kann.
({7})
In den bisherigen Haushaltsberatungen haben die rotgrünen Koalitionäre noch keinen einzigen Absenkungsantrag vorgelegt. Auch das sagt doch alles.
({8})
Lassen Sie mich noch einige wenige Sätze zur Eigenheimzulage sagen. Ich möchte das Thema unter zwei
grundsätzlichen Aspekten betrachten, die mir wichtig
sind. Zum ersten Aspekt, zu den Steuern, wurde bereits etwas gesagt. Wir sind natürlich dafür, Subventionen abzubauen, aber nur dann, wenn wir ein anderes Steuersystem
haben.
({9})
Diese Voraussetzung muss zunächst einmal erfüllt werden.
({10})
Lassen Sie mich aber noch auf einen zweiten grundsätzlichen Aspekt eingehen. Wenn Sie, Herr Eichel,
schon argumentieren, mit der Eigenheimzulage würden
Leerstände subventioniert, sage ich Ihnen: Das stimmt
nicht, denn in einigen Regionen in Deutschland gibt es
keine Leerstände, sondern Wohnungsmangel.
({11})
- Aber es gibt sie, sehr deutlich. - Wenn Sie schon Anreizmechanismen wegnehmen, dann handeln Sie auch in
der Tradition von Ludwig Erhard und geben Sie den
Markt frei. Sie waren es nämlich, die den Markt behindert haben,
({12})
durch längere Behaltefristen, durch einen Ausbau der
Mieterschutzbestimmungen etc. Geben Sie den Markt
frei, damit er sich regulieren kann. Sie können nicht einerseits den Markt behindern und andererseits Anreizsysteme wegnehmen.
({13})
Im Hinblick auf Stuttgart, eine Region, in der Wohnungsmangel herrscht, hätte ich mir gewünscht, dass die
Kollegin Kumpf an der heutigen Debatte teilnimmt. Am
10. Oktober sind Oberbürgermeisterwahlen in Stuttgart.
Die Kollegin Kumpf will dort gegen den erfolgreichen
Oberbürgermeister Wolfgang Schuster antreten.
({14})
Die Kollegin Kumpf sollte den Menschen einmal erklären, weshalb künftig in der Region um Stuttgart herum
nur noch die Reichen bauen können. Das hätte ich mir
gewünscht.
({15})
Lassen Sie mich einen letzten Widerspruch auflösen. Es
geht um einen Etikettenschwindel, der schon mehrfach angesprochen worden ist, nämlich um die Devise: in Köpfe
statt in Beton investieren. Herr Tauss hat das immer umgedreht und unterstellt der Union die Meinung, Köpfe
brauchten Beton. Lieber Herr Tauss, können Sie mir erklären, was Sie mit Ihrem Ganztagsschulprogramm machen? Damit wird doch nicht in Betreuung investiert,
sondern damit werden Suppenküchen gebaut. Damit
werden bauliche Voraussetzungen für Ganztagsschulen
geschaffen. Da wird in Beton investiert, denn Köpfe
brauchen Beton als Voraussetzung.
({16})
Sie sollten einmal über Ihre eigenen Konzepte nachdenken, dann erkennen Sie auch die Widersprüchlichkeit Ihrer Politik. Das Grunddilemma dieser rot-grünen Bundesregierung ist, dass grundsätzlich nichts zusammenpasst.
({17})
Alles widerspricht sich permanent. Das ist die Ursache
für die ständige Verunsicherung der Menschen draußen.
({18})
Deshalb plädiere ich dafür: Wenn Sie schon Etiketten
bemühen, dann wählen Sie solche, die nicht im Widerspruch zu Ihrer eigenen Politik stehen.
Wir sagen:
({19})
Wir investieren in Zukunft und nicht in Vergangenheit.
Vergangenheit ist Kohle, Zukunft ist Bildung und deshalb ist es richtig, in Bildung zu investieren.
({20})
- Das machen wir schon. Lassen Sie uns ran, dann machen wir das.
({21})
- Aber natürlich wie in Baden-Württemberg, denn da
geschieht etwas, auch in der Bildungspolitik.
({22})
In meiner Heimatstadt wurde gerade das bundesweit
erste Hochbegabtengymnasium eröffnet, es hat in diesen
Tagen den Betrieb aufgenommen.
({23})
In Baden-Württemberg wird in die Förderung der Spitzenbegabungen investiert. Wir sind aber auch die Besten
bei den Förderschulen und fördern auch die Schwachen.
Ihre Bildungspolitik diffamiert die praktisch Begabten.
Das ist das Grunddilemma Ihrer Bildungspolitik. Auch
darüber können Sie lange mit mir diskutieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Natürlich. Nachdem meine Redezeit schon beendet
ist, nehme ich jede Frage an.
({0})
Sie können kurz mit Ja oder Nein antworten. - Wissen Sie, dass das von Ihnen angesprochene Gymnasium
im Wesentlichen aus dem Ganztagsschulprogramm der
Bundesregierung finanziert worden ist?
({0})
Herr Tauss, wenn Sie sich über Dinge äußern, die in
meiner Heimatstadt stattfinden, sollten Sie sich etwas
genauer informieren. Ich kann Ihnen gerne die Finanzierungsgrundlage dieses Hochbegabtengymnasiums vollständig darlegen. Natürlich gehören dazu Mittel aus dem
Ganztagsschulprogramm, weil das eine Ganztagsschule
sein wird. Sie sollten aber auch wissen, dass der Landkreis der Schulträger ist und das Folgen und Konsequenzen hat. Außerdem sind die Stadt und das Land beteiligt.
({0})
Es sind also viele beteiligt. Schauen Sie sich die Finanzierungsgrundlage genau an. Ich habe nicht bestritten,
dass Anteile aus dem Ganztagsschulprogramm in der Finanzierung stecken.
({1})
Für dieses Geld wird aber gebaut. Das ist eine Investition in Beton, Herr Tauss.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/3781, 15/3821 und 15/3714 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie
Zusatzpunkt 1 auf:
4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar
Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Dr. Peter
Paziorek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Energiepolitik ist Standortpolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zukunftsprogramm Energie vorlegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Stromrechnungen transparent gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Nationales Energieprogramm vorlegen -
Planungssicherheit für Wirtschaft und Ver-
braucher herstellen
- Drucksachen 15/1349, 15/367, 15/761, 15/2760,
15/3389 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine neue Regulierungsbehörde - Bundeskartellamt als Wettbewerbsbehörde stärken
- Drucksache 15/823 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Hartmann ({4}), Dr. Andreas
Pinkwart, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Lage der Bürger in den Steinkohlerevieren an
Saar und Ruhr in den Fokus rücken
- Drucksache 15/3509 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Dr. Andreas Pinkwart,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Staatseingriffe minimieren - Energiegipfel
nutzen
- Drucksache 15/3809 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Unser Antrag lautet: Energiepolitik ist Standortpolitik. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
Wenn ich auf sechs Jahre Rot-Grün zurückblicke, dann
habe ich fast das Gefühl, dass sich Ihre Energiepolitik zu
einem Standortnachteil entwickelt hat. Bei der Energieversorgung gibt es drei wichtige Punkte: Versorgungssicherheit, Umweltfreundlichkeit und Wirtschaftlichkeit. Das ist die Basis, die wir brauchen, damit wir zu
mehr Wachstum und zu mehr Beschäftigung kommen.
Das ist das Einmaleins der Energiepolitik.
({0})
Sie aber, Frau Hustedt, sehen mit Ihren Solonummern
die Energiepolitik vornehmlich als ökologischen Störfaktor. Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit
kommen bei Ihnen überhaupt nicht vor.
({1})
- Frau Hustedt, Sie verstehen nicht, dass wir einen ausgewogenen Mix aller Energieträger brauchen. Es gibt
keine ideale Energie. Es gibt nicht das Entweder-oder,
sondern wir müssen in diesem Bereich mit dem Grundsatz des Sowohl-als-auch leben. Nur so kann man eine
sichere Energiepolitik machen.
Sie steigen aus der Kernenergie aus, ohne zu sagen,
wie dies bis zum Jahr 2020 kompensiert werden soll.
({2})
Sie setzen Klimaschutzziele und sagen nicht, wie diese
realisiert werden können, wenn wir aus der Kernenergie
ausgestiegen sind. Sie bringen eine Ökosteuer auf den
Weg, mit der Sie die Wirtschaft und die Verbraucher per
annum mit 20 Milliarden Euro belasten, eine Ökosteuer,
die ökologisch überhaupt nicht lenkt, die nur ökonomisch belastet.
({3})
Sie wecken ideologisch überzogene Erwartungen bezüglich der erneuerbaren Energien und bauen Illusionen
bezüglich der Windkraft auf. Wir alle wissen doch, dass
sich die Windräder nur drehen, wenn der Wind geht. Der
richtet sich nun einmal nicht nach Ihren politischen
Wünschen. So weit sind wir Gott sei Dank noch nicht.
({4})
Wir haben ein unstetes Windangebot - das hat sich letztes Jahr wieder gezeigt -, sodass die Windräder die konventionelle Stromerzeugung nur zu rund 10 Prozent ersetzen können. Wo sind denn Ihre Lösungsvorschläge
bezüglich der Problematik der Netzkapazitäten und der
Regelenergie? Nichts dergleichen wird von Ihnen auf
den Tisch gelegt. Ihre ganze Energiepolitik besteht aus
offenen Fragen, die immer mehr werden.
({5})
Wo ist denn Ihr nationales Energieprogramm? Seit
vier Jahren wollen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, es vorlegen.
Inzwischen hat der Ölpreis die 50-Dollar-Marke
überschritten. Bei der Kokskohle gibt es Lieferengpässe, die durch die boomende chinesische Wirtschaft
verursacht worden sind, deren Wachstum natürlich seine
Auswirkungen hat.
Der weltweite Energiebedarf nimmt zu. Das wissen
auch Sie. Der Energiekongress in Sydney hat gezeigt,
dass sich der weltweite Energiebedarf bis 2050 verdoppeln wird. Insofern müssen wir Antworten auf die Frage
finden, welche Richtung wir - nicht nur im nächsten und
übernächsten Jahr, sondern in den nächsten Jahrzehnten einschlagen wollen und wie wir die Stromversorgung in
unserem Land, das schließlich ein Industrieland ist, auch
zukünftig sicherstellen können.
({6})
Wir müssen die Fragen beantworten, welchen realistischen Beitrag die erneuerbaren Energien leisten können
({7})
und welche Rolle der Importstrom künftig spielen soll.
Wir sind hinsichtlich unseres Energiebedarfs abhängig
vom Ausland.
({8})
Inwiefern spielt diese Abhängigkeit vom Ausland auch
in anderen Politikbereichen eine Rolle? - Fragen über
Fragen, die von Ihnen nicht beantwortet werden.
({9})
Energiepolitik ist Wirtschaftspolitik und Wirtschaftlichkeit heißt auch wettbewerbsfähige Energiepreise.
Dabei muss uns eines klar sein: Der Energiepreis ist
nicht irgendeine Variable der Volkswirtschaft. Er ist vielmehr ein knallharter Standortfaktor. Das wird sich in Zukunft noch verstärken.
Hinter uns liegt eine jahrelange rot-grüne Energieverteuerungspolitik, die in vielen Bereichen - ich
nenne nur die Aluminiumindustrie als Beispiel - zu einem immensen Wettbewerbsnachteil geführt hat. Wo
sind denn unsere Liberalisierungserfolge geblieben?
Was haben Sie mit Ihren Gesetzen bewirkt? Wir hatten
als Liberalisierungserfolge allein in der Industrie eine
Kostensenkung von 27 Prozent erreicht; im Haushaltsbereich waren es 8,5 Prozent. Das wurde alles durch Ihre
Politik aufgezehrt.
Fakt ist, dass der staatliche Anteil am Strompreis
seit Ihrer Regierungsübernahme 1998 von 25 Prozent
auf 40 Prozent gestiegen ist. Das heißt, der staatliche
Anteil an den Kosten der Verbraucher ist von ehemals
2,3 Milliarden Euro auf über 12 Milliarden Euro im Jahr
gestiegen. Durch Ihre Gesetze im Strombereich belasten
Sie die Verbraucher mit über 12 Milliarden Euro! Dabei
handelt es sich um eine Steigerung von knapp
70 Prozent. Das lässt sich nicht wegdiskutieren.
({10})
Wir bemühen uns über die Ausschüsse in allen Bereichen - zum Beispiel im sozialen Bereich und bei der
Pflege - um die Entlastung von Familien mit vielen
Kindern. Hier jedoch wird von Ihnen eine Politik betrieben, mit der diesen Familien das Geld aus der Tasche gezogen wird, weil deren Energiebedarf sehr viel höher ist
als in anderen Familien. Wir konterkarieren damit das,
was auf der anderen Seite wieder gutzumachen versucht
wird.
({11})
Sicherlich war es nicht sehr schön, von den Erhöhungsplänen der Energieversorgungsunternehmen
zu hören, vor allem so kurz vor der Verabschiedung des
Energiewirtschaftsgesetzes. Aber solange Preisabsprachen nicht nachzuweisen sind, ist das legal. Das Bundeskartellamt und die zuständigen Landesbehörden prüfen
das derzeit. Wir werden das Ergebnis abwarten.
Unredlich ist es jedoch von Rot-Grün, von Ihrer eigenen verfehlten Politik und den von Ihnen verursachten
hohen Strompreisen abzulenken,
({12})
indem Sie auf die Energieversorgungsunternehmen zeigen und ihnen nach dem Motto „Haltet den Dieb!“ die
alleinige Schuld an den hohen Strompreisen zuzuweisen.
({13})
Dass das nicht zutrifft, ist auch Ihnen bekannt. Insofern
ist die von Ihnen verfolgte Politik unredlich.
({14})
Die Kosten für Erzeugung, Transport und Vertrieb bei
den Energieversorgungsunternehmen sind - im Gegensatz zu Ihrem Zuständigkeitsbereich, in dem die Kosten
um fast 70 Prozent gestiegen sind - seit 1998 um
16,8 Prozent gesunken. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass durch Effizienzsteigerungen noch weitere
Kostensenkungen erzielt werden können. Fakt ist aber
auch: Wenn unser Wirtschaftsminister das Energiewirtschaftsgesetz zum 1. Juli umgesetzt hätte, wie es von
der EU gefordert wurde, dann wäre es nicht zu dieser
Diskussion gekommen. Fakt ist auch - um weiter kurz
auf das Energiewirtschaftsgesetz einzugehen -: Aufgabe
einer neuen Regulierungsbehörde ist nach unserem
Verständnis nicht, in den Erzeugungsmarkt für Energie
einzugreifen, sondern den Wettbewerb zu sichern und
die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dazu gehört
auch die Schaffung von Anreizen für Effizienzsteigerung und für einen bedarfsgerechten Ausbau der Netze.
Dabei muss man berücksichtigen, dass die Energieunternehmen in den nächsten Jahren einen immensen
Investitionsbedarf haben werden; denn die Netze sind
zum Teil aus den 60er-Jahren. Tausende Kilometer Leitungen, durch die Strom und Gas fließen, sind renovierungsbedürftig und müssen instand gesetzt werden. Hier
müssen Milliardenbeträge investiert werden. Wenn die
privaten Unternehmen das leisten sollen, dann brauchen
sie Investitionssicherheit. Schließlich handelt es sich um
langfristige Investitionen, die Gelder in Milliardenhöhe
binden. Die Unternehmen müssen also wissen, ob die Investitionen gerechtfertigt sind. Aber auf diese Frage geben Sie keine Antwort.
Es ist ganz klar, dass geregelt werden muss, was zum
Zuständigkeitsbereich der Regulierungsbehörde gehört.
Verordnungen zum Energiewirtschaftsgesetz liegen bisher noch nicht vor. Der Gesetzgeber muss hier zwar wesentliche Regelungen treffen. Aber nicht alles muss per
Gesetz geregelt werden. Ich muss in diesem Zusammenhang ganz klar sagen: Es gibt hier sehr große Defizite.
Ein bisschen mehr Ehrlichkeit hätte ich mir von Ihnen
auch bei einem ganz anderen Punkt gewünscht, nämlich
bei der Beschäftigungswirkung der erneuerbaren
Energien. Herr Trittin ist an die Öffentlichkeit getreten
und hat behauptet, dass durch den Ausbau der erneuerbaren Energien 400 000 neue Arbeitsplätze geschaffen
würden. In dem letzte Woche veröffentlichten Beschäftigungsbericht der Bundesregierung ist nur noch von
120 000 neuen Arbeitsplätzen die Rede.
({15})
Das wäre nicht zu kritisieren, wenn es nicht auch andere,
von Ihnen selbst in Auftrag gegebene Gutachten gäbe,
die 225 000 Euro - das ist ein immenser finanzieller
Aufwand; ich wundere mich noch immer, wie Sie angesichts Ihrer Haushaltslöcher so viel Geld auftreiben
konnten - gekostet haben. Die Ergebnisse dieser Gutachten - das dürfte Ihnen wohl nicht passen - zeigen,
dass die Beschäftigungswirkung beim Ausbau der erneuerbaren Energien zwar anfangs leicht positiv, aber im
Endeffekt negativ sein wird. Davon hört man nichts. Sie
haben zwar 225 000 Euro für diese Gutachten ausgegeben. Aber weil Ihnen die Ergebnisse nicht passen, haben
Sie sie ganz schnell in der Schublade verschwinden lassen.
({16})
Ich habe dies angesprochen, weil wir jedes Gesetz auf
seine Auswirkung auf den Arbeitsmarkt überprüfen
müssen, bevor wir es verabschieden. Das wird in Zukunft wichtiger sein als alles andere.
({17})
Auch bei Subventionen müssen wir darauf ein viel stärkeres Augenmerk legen.
Sie sollten endlich einsehen: Energiepolitik ist Wirtschaftspolitik. Wir brauchen ein Energieprogramm, das
uns aufzeigt, wie wir in den nächsten Jahrzehnten Versorgungssicherheit für unsere Kinder gewährleisten
können, und das alle Energieträger berücksichtigt. Es
dürfen keine verfügbaren Energietechnologien ausgespart werden; denn angesichts unserer starken Importabhängigkeit im Energiebereich müssen wir uns alle
energiepolitischen Spielräume offen halten. Deshalb
muss man auch in der Klimaschutzpolitik ehrlich sein
und darf sie nicht unter ideologischen Gesichtspunkten
betreiben.
({18})
- Warten Sie es ab! - Wir müssen ebenfalls darangehen,
die auf der Nutzerseite vorhandenen Möglichkeiten zur
Energieeinsparung zu erschließen.
({19})
Nichts dergleichen - wenn ja, wo? - ist von Ihnen auf
den Weg gebracht worden. Es gäbe noch viele Dinge
aufzuführen, die Sie nicht angehen.
Wir alle in diesem Hause müssen uns über eines im
Klaren sein: Für eine zukunftsweisende Energiepolitik
gibt es kein Patentrezept. Wichtig ist, dass wir die Energiedebatte ideologiefrei führen und erkennen, dass wir
die Probleme nachhaltig und dauerhaft nur im globalen
Zusammenhang lösen können; denn der Anteil Deutschlands am weltweiten Energieverbrauch beträgt gerade
4 Prozent. Sicherlich ist es sinnvoll, wenn Deutschland
als führende Industrienation hier eine Vorreiterrolle einnimmt. Das begrüßen wir in vielen Bereichen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Danke schön. - Aber wir wollen keine Politik der nationalen Alleingänge, die mit wirtschaftlich belastenden
Eingriffen verbunden ist. Wir beziehen immer mehr
Energie aus dem Ausland; das wissen wir. Aber sie muss
mit dem Geld bezahlt werden, das bei uns, am Energiestandort Deutschland, erwirtschaftet wird. Deswegen
dürfen wir diejenigen, die dieses Geld erwirtschaften,
nicht bestrafen.
In diesem Sinne vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben es gerade erlebt: Man kann zwölf Minuten reden, ohne einen einzigen Vorschlag zu machen.
Frau Wöhrl, es tut mir Leid, sagen zu müssen: Ich
glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger von uns etwas
anderes erwarten.
({0})
Es gibt zwar einige Anträge, die in dieser Energiedebatte beraten werden; aber sie sind offenbar nur Aufhänger. Es geht im Grunde darum, sich an die öffentliche
Strom- und Gaspreisdiskussion anzuhängen. Man versucht, diese Diskussion zu nutzen, um den Entwurf einer
Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes, der gerade auch
vom Bundesrat behandelt worden ist, entsprechend zu
kommentieren.
Dieses Thema ist zu komplex, als dass man es nur in
Schwarz und Weiß - auch wenn das heute die Farben
meiner Krawatte sind - aufteilen könnte. Ich glaube, wir
sollten an dieses Thema differenzierter herangehen. Es
geht um einen Paradigmenwechsel in der Energiewirtschaft und in der Energiepolitik hin zu einem regulierten System und zu einer echten Wettbewerbsbehörde.
({1})
Wir erleben zurzeit - die Rede gerade war ein Beispiel dafür - eine unsachliche und emotionalisierte Debatte.
({2})
Politiker gerieren sich - zurzeit insbesondere im Bundesrat - als Verbraucherschützer. Das ist im Augenblick
sicherlich sehr populär. Was soll ich allerdings davon
halten, wenn der Bundesrat - die Mehrheiten dort sind
bekannt - am Ende der Debatte das Ziel des Verbraucherschutzes aus dem EnWG-Entwurf herausstreicht.
Das ist nicht nur ein Widerspruch, das ist nicht nur als
populistisch zu entlarven, sondern das ist auch das Gegenteil von dem, was wir jetzt brauchen.
({3})
Die Debatte ist zurzeit von Schuldzuweisungen geprägt; auch dafür war diese Rede ein Beispiel. Frau
Wöhrl, Sie machen es sich furchtbar einfach, wenn Sie
mit auf diesen Zug springen und glauben, Sie könnten
dieser Bundesregierung die Preisentwicklung der letzten
Jahre sozusagen ans Bein binden.
Fangen wir mit den Kosten an, die Sie - zu Recht angesprochen haben: im Wesentlichen Kosten für eine
ökologische Energiepolitik, die wir mit unseren Gesetzen verursacht haben. Wir stehen dazu. Wir glauben,
dass das die richtige Politikrichtung ist. Es ist übrigens
eine Richtung, die von Ihrer Regierung vorgegeben worden ist. Wir haben den eingeschlagenen Weg allerdings
deutlich präzisiert.
Wir stehen zu dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Wir
sagen: Mit den erneuerbaren Energien, das heißt mit
dem Einstieg in diese alternative Form der Energieproduktion, steigen wir auch in die Schaffung der Versorgungssicherheit der Zukunft ein.
({4})
Das Stichwort „Versorgungssicherheit“ haben Sie genannt; aber über Zukunft haben Sie nicht gesprochen.
Zur Ökosteuer: Sie wissen sehr genau, dass sie eine
Lenkungswirkung entfaltet und dass wir damit seit Jahren ein Stück weit Ressourcenschonung betreiben. Das
ist ebenfalls Versorgungssicherheit für die Zukunft. Machen wir uns nichts vor: Die Verbraucher haben ein Interesse an niedrigen Preisen; aber sie haben auch ein Interesse an Versorgungssicherheit.
({5})
Wir erleben zurzeit, welche Schlagzeilen die von einigen EVU angekündigten Preiserhöhungen hervorrufen.
Wenn der Strom bei einem Crash einmal nicht aus der
Steckdose kommt - das ist in manchen Ländern, auch in
unserer unmittelbaren Nachbarschaft, schon einmal der
Fall gewesen -, dann sähen die Schlagzeilen anders aus:
Dann wird nicht mehr davon gesprochen, dass der Strom
möglicherweise zu teuer ist, sondern dann wird sich die
Debatte darum drehen, dass der Strom überhaupt nicht
mehr verfügbar ist. Auch deswegen planen wir eine Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes sowie die Änderung von Verordnungen und des Handlungsrahmens für
den Regulierer. Er soll imstande sein, die Spielräume für
Preissenkungen, soweit vorhanden, auszuschöpfen; aber
er soll auch für Investitionen in Netze sorgen.
Frau Wöhrl, Sie haben gerade beklagt, dass die Standortpolitik von uns vernachlässigt werde. Ich mache einmal darauf aufmerksam, dass die Wirtschaft auf die
beiden Gesetze, die wir in diesem Jahr verabschiedet haben, ganz anders reagiert hat. Sie hat diesen Handlungsrahmen als verlässlich bezeichnet und angekündigt, dass
sie investieren wird. Nach Verabschiedung des EEG kam
die Ankündigung, zum Beispiel im Bereich der Bioenergien schwerpunktmäßig investieren zu wollen, was gerade auch die Landwirtschaft gewünscht hat. Es wird
hier ganz deutliche Fortschritte geben. Auch das ist ein
Beitrag zur Versorgungssicherheit.
({6})
Nachdem wir die Rahmenbedingungen für den Emissionshandel geklärt hatten, kamen aus verschiedenen
Richtungen - nicht von einem, sondern gleich von einem
halben Dutzend Energieversorgungsunternehmen - die
Ankündigungen: Ja, wir bereiten jetzt Investitionen in
neue Kraftwerke vor. Ich denke, das macht deutlich, dass
wir auch die wirtschaftspolitische Dimension von Energiepolitik im Blick haben. In diesem Lande wird wieder
in die gesamte Wertschöpfungskette Energie investiert
werden und, wenn das Energiewirtschaftsgesetz steht,
eben auch wieder in Netze.
({7})
Daran, meine Damen und Herren, hängen natürlich auch
in erheblichem Umfang Arbeitsplätze.
Zurzeit gibt es eine sehr einfach gestrickte Diskussion
- wir haben das im Bundesrat verfolgen können - um die
Frage, wie denn im Einzelnen die Verordnungen und die
Befugnisse des Regulierers im Gesetz ausgestaltet werden sollen. Wir haben ein hohes Maß an Diskussionsbereitschaft bezüglich der Instrumente, allerdings nicht bezüglich des Ziels. Wir wollen im Sinne der Verbraucher
die möglichen Preissenkungsspielräume ausgeschöpft
sehen, aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten,
sondern Netzsicherheit und damit Versorgungssicherheit
in diesem Bereich. Das ist die Vorgabe auch für den Regulierer. Wir werden das durch die Ausgestaltung des
Gesetzes, aber auch durch Verordnungen entsprechend
deutlich machen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass das, was
der Bundesrat zu diesem Thema bisher beschlossen hat,
in die Irre führt. Jedenfalls ist damit noch nicht das Ziel
erreicht, das wir anstreben. Da wird so getan, als wäre
das Ex-ante-Prinzip ein Allheilmittel, während ein Expost-Vorgehen nicht funktioniere. Ich möchte einmal
darauf aufmerksam machen, dass es eine Ex-ante-Regulierung auf Länderebene seit Jahrzehnten gibt. Wir diskutieren ja heute darüber, welche Ergebnisse das gezeitigt hat, nämlich offenbar nicht die gewünschten, sonst
hätten wir andere Preisniveaus. Sie wissen, dass es in einigen Ländern relativ gut funktionierende Preisaufsichten gegeben hat, in anderen aber nicht. Einige Länder
wie Baden-Württemberg und Hessen steigen sogar aus
der Preisaufsicht aus. Da muss man sich schon fragen,
wie man angesichts dessen die Chuzpe haben kann, zu
beschließen, Ex-ante-Preisaufsicht auf Länderebene einzuführen, um die vorhandenen Preisspielräume zugunsten der Verbraucher auszuschöpfen. Das funktioniert
nicht; das hat in der Vergangenheit nicht funktioniert.
Wir brauchen hierfür eine bundeseinheitliche Vollzugsbehörde. Ich denke, wir werden sie auch bekommen.
({8})
Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Wochen auf Sie, die CDU/CSU-Opposition, zugehen.
({9})
Wir werden dieses genauso auf Bundestags- wie auf
Bundesratsebene tun. Wir werden Ihnen kein Mauseloch
lassen. Sie werden nicht nach dem Motto vorgehen können: Vorschläge öffentlich anprangern und Beteiligung
an der Suche nach einer konstruktiven Lösung verweigern. Wir lassen Sie da nicht aus der Verantwortung. Ich
denke, auch die Bürgerinnen und Bürger lassen Sie da
nicht heraus. Die Spielchen nach dem Motto „öffentlich
populistische Positionen beziehen und intern dann die
Dinge mitmachen, die man mitmachen muss“ werden
nicht laufen. Sie werden sich öffentlich zu dem Ergebnis
bekennen müssen, was am Ende hoffentlich gemeinsam
erzielt wird.
({10})
In diesem Zusammenhang mache ich darauf aufmerksam, dass die Wirtschaftsminister der Länder schon einmal weiter waren. Sie wollten nämlich die Ex-post-Aufsicht stärken, wie es auch vom Bundesministerium für
Wirtschaft im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgeschlagen worden ist, um Missbräuche zu bekämpfen.
Diese sollte durch neue und weitergehende Instrumente
flankiert werden, etwa durch einen Einstieg in ein Vergleichsmarktverfahren und eine Anreizregulierung. Ich
glaube, dass es genau der richtige Weg ist, auf ein solches Kombinationsmodell zu setzen. Ich plädiere dafür,
konstruktiv miteinander darüber zu reden, wie man das
im Einzelnen ausgestalten muss. Ich glaube, dass wir an
dem Modell eines kostenbasierten Entgelts nicht vorbeikommen; man wird es aber so ausgestalten müssen, dass
am Ende wirklich vernünftige, angemessene Netzentgelte herauskommen.
Man wird die Missbrauchsaufsicht, so wie im Gesetz vorgeschlagen, stärken müssen durch zusätzliche
Ermittlungsbefugnisse, Mitwirkungspflichten aufseiten
der Netzbetreiber, kurze Verfahrensfristen, Beweislastumkehr und Sofortvollzug. Das ist dann kein zahnloser
Tiger, sondern eine ganz andere Missbrauchsaufsicht, als
wir sie bisher kennen. Sie muss aber flankiert werden.
Ich denke, mit einem vernünftig strukturierten Vergleichsmarktverfahren wird man die schwarzen Schafe
sehr schnell herausfiltern und in der Tendenz dafür sorgen können, dass die Entgelte zügig sinken.
Aber eines sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern
nicht vormachen: Wir sollten nicht so tun, als sei der
Preisspielraum nach unten sozusagen beliebig groß. Wir
können in den Netzen einiges bewirken. Aber wir haben
auch andere Kostenfaktoren, einerseits politisch gewollte, wie ich gerade gesagt habe, ökologische, die bei
den Bürgern eine hohe Akzeptanz haben, und andererseits produktionsbedingte. Ich nenne hier beispielsweise
die Kraftwerke, die Rohstoffe sowie die Primärenergien.
Da geht die Preiskurve eher nach oben. Das ist von uns
nicht zu beeinflussen, sondern das hat etwas mit der Situation auf den internationalen Märkten, insbesondere
mit der Entwicklung in China, zu tun. Deswegen müssen
wir den Leuten ehrlich sagen: Wir versuchen, die Preise
im Griff zu behalten, aber es wird keine endlose Entwicklung nach unten geben, weil es Faktoren gibt, die in
eine andere Richtung weisen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir mit dieser
Einstellung an die weitere Arbeit herangehen, dann werden wir auch - da bin ich sicher - ein vernünftiges Modell zustande bringen, über das wir möglicherweise
schon im Dezember abschließend beraten können. Ich
fordere Sie auf: Machen Sie mit und verweigern Sie sich
nicht!
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Wir stehen heute vor der riesengroßen Aufgabe,
die derzeitige energiepolitische Geisterfahrt der rot-grünen Bundesregierung zu beenden.
({0})
1998 haben wir als FDP die Deregulierung mit den
entsprechenden Erfolgen für die Wirtschaft und die Privatverbraucher angestoßen. Heute brauchen wir dringend eine Politikfolgenabschätzung der bisherigen Energiepolitik von Rot-Grün. Dazu nenne ich Ihnen ganz
kurz ein paar Zahlen, die Sie sich einmal vor Augen halten müssen. Für die Industrie sind vom ersten Halbjahr
2000 bis zum ersten Halbjahr 2004 die Strompreise um
49 Prozent und die Gaspreise um 20 Prozent gestiegen.
Bei den privaten Haushalten sieht es noch finsterer aus:
In den letzten zehn Jahren sind die Strompreise um
8,5 Prozent, die Erdgaspreise um 55,2 Prozent und die
Heizölpreise sogar um fast 73 Prozent gestiegen.
({1})
Derzeit beläuft sich die Gesamtlast von Steuern und Abgaben auf Energie pro Kopf auf jährlich 600 Euro. Das
ist enorm.
Man muss sich einmal vor Augen führen, wie wichtig
die Energiewirtschaft für Deutschland ist. Wir sprechen
hier von einem großen Markt mit 320 000 Beschäftigten
und einem geschätzten Umsatz von 90 Milliarden Euro.
Deutschland ist im Energiebereich der größte Verbrauchermarkt in der EU; es handelt sich um eine Riesendimension. Welche Rahmenbedingungen die Politik für
die Energiewirtschaft vorgibt und wie sie die Stellschrauben dreht, ist äußerst entscheidend.
({2})
Wettbewerbsfähigkeit, Preisgünstigkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit, das sind die vier
Ziele, die wir als FDP verfolgen. Wir legen Ihnen heute
sechs Initiativen, sechs Anträge der FDP-Bundestagsfraktion vor, mit denen wir ein weiteres Mal versuchen,
Sie dazu zu bringen, hier ein Energieprogramm einzubringen und damit Ihre Zielsetzung anzugeben.
({3})
Wir betonen in unseren Anträgen, dass es wichtig ist,
am Energiemix festzuhalten. Dazu gehören fossile
Energien und erneuerbare Energien. Aber für diese Energien müssen marktwirtschaftliche Kriterien gelten. Es
darf keine dauerhaften Steuervergünstigungen geben, die
nur zu einem Preisanstieg und zu Unsicherheiten hinsichtlich der Versorgung führen. Zu dem Mix gehört natürlich auch die Kernenergie. Wir werden auch in Zukunft auf die Kernenergie unter anderem mit Blick auf
den Klimaschutz nicht verzichten können.
Ich erinnere Sie von Rot-Grün daran, was der frühere
Wirtschaftsminister Müller seinerzeit in einem Papier
festgehalten hat, das nur intern - es durfte nicht öffentlich werden - im Umlauf war. Dort hieß es, dass Kosten
in Höhe von 250 Milliarden Euro entstünden, wenn
- wie Rot-Grün das möchte - bis zum Jahre 2020 der
Anteil der Kernenergie in Höhe von 30 Prozent durch erneuerbare Energien komplett ersetzt würde. Das ist
schlicht nicht finanzierbar und deshalb vollkommen illusorisch.
({4})
Hinsichtlich der Politikfolgenabschätzung und der Technikfolgenabschätzung muss man Rot-Grün die Note
sechs geben.
({5})
Herr Minister Clement, ich spreche Sie hier persönlich an: Versuchen Sie alles, um sich im Streit mit Herrn
Trittin durchzusetzen, damit am Standort Deutschland die
Energiewirtschaft eine Chance hat, die Verbraucher Versorgungssicherheit haben und die Energie auch in Zukunft
bezahlbar ist. Die Aufsplittung der Zuständigkeit für die
Energiepolitik zwischen dem Bundesumweltministerium und dem Bundeswirtschaftsministerium ist ein Dilemma und fatal, wie wir an der Geisterfahrt nach dem
Motto „Heute so, morgen so“ erkennen können. Keiner
weiß, wer sich an welcher Stelle durchsetzt. Das ist eine
Bedrohung für unsere Arbeitsplätze und daher nicht förderlich für unsere wirtschaftliche Entwicklung.
({6})
Wir wissen, dass die Staatseingriffe dringend minimiert werden müssen. Herr Minister Clement, ich fordere Sie auf, dafür zu sorgen, dass der in nächster Zeit
dringend erforderliche Kraftwerksneubau - man rechnet bis 2020 mit Investitionen in einer Höhe von etwa
40 Milliarden Euro - vorangebracht wird. Investitionen
werden nur getätigt, wenn die Rahmenbedingungen
stimmen; sonst können wir sie abhaken. Energiemärkte
lassen sich nicht steuern. Sie müssen sich vielmehr entwickeln können.
Wir hätten uns eine echte Wettbewerbsbehörde,
nämlich das Bundeskartellamt, zur Regulierung des
Energiemarktes gewünscht.
({7})
Sie ist leider nötig. Jetzt jedoch kommt es zu einem
enormen Personalaufbau bei der Regulierungsbehörde.
Das geht zulasten der Wirtschaft und zulasten der Verbraucher. Hier wird kräftig zugelangt.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Wir wünschen uns eine Methodenregulierung. Diese
Regulierung nützt dem Markt. Sie befördert Markt und
Wettbewerb und nicht politische Ideologien.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaele Hustedt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
klar, dass wir Investitionssicherheit brauchen. Da in
nächster Zeit die Hälfte der Kraftwerkskapazitäten ersetzt werden muss, muss es klare Rahmenbedingungen
geben.
Frau Wöhrl, vonseiten der CDU/CSU habe ich, ehrlich gesagt, nur Fragen über Fragen gehört, aber keine
einzige Antwort.
({0})
Ich stelle Ihnen zum wiederholten Male unser Energiekonzept dar und möchte die einzelnen Punkte aufzählen:
({1})
Erstens. Wir wollen Leitplanken für den Umweltschutz. Mit dem Gesetz zur Förderung der erneuerbaren
Energien wollen wir einen Anteil der erneuerbaren Energien von 20 Prozent bis zum Jahre 2020 erreichen. Außerdem wollen wir einen Emissionshandel wie in allen
anderen europäischen Ländern, um die Investitionen in
Richtung effizienter und umweltfreundlicher Technologien zu lenken.
({2})
Zweitens. Leitplanken für die Versorgungssicherheit
werden zum einen im Energiewirtschaftsgesetz festgeschrieben. Zum anderen werden wir uns bemühen - darauf komme ich noch -, die Abhängigkeit vom Öl Schritt
für Schritt zu reduzieren.
Drittens. Wir brauchen endlich Rahmenbedingungen
für mehr Wettbewerb in Deutschland. Wir wollen nicht
auf Ihr Modell des verhandelten Netzzuganges setzen,
sondern einen fairen Wettbewerb in Deutschland einführen. Wir arbeiten im Rahmen der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes daran.
({3})
Darüber hinaus muss ich Ihnen eines sagen: Wir haben Wettbewerb; wir wollen Wettbewerb.
({4})
Das heißt aber auch, dass man nicht mehr wie in Monopolzeiten mit den Stromkonzernen über einzelne Investitionen in einzelne Kraftwerke redet. Vielmehr muss die Wirtschaft innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen - das
sind der Atomausstieg, die Förderung erneuerbarer Energien, der Emissionshandel und die Versorgungssicherheit eigenständig danach entscheiden, was am ökonomischsten ist. Das ist der richtige Weg.
({5})
Jetzt komme ich auf die Kosten zu sprechen. Hier argumentieren Sie - ich muss das einmal so formulieren,
auch wenn es kein parlamentarischer Ausdruck ist - mit
absolut blödsinnigen Zahlen. Ich fange einmal an: Die
Mehrwertsteuer bzw. die Konzessionsabgabe ist keine
Erfindung der Grünen. Die gab es schon immer
({6})
und die werden Sie, falls Sie unwahrscheinlicherweise
jemals wieder regieren werden, nicht abschaffen. Damit
reduzieren sich die Belastungen, die Sie genannt haben,
von 40 auf 15 Prozent.
({7})
Jetzt komme ich auf die Ökosteuer zu sprechen. Frau
Wöhrl, ich schlage Ihnen eine Wette vor - ich bin gespannt, ob Sie sie annehmen -: Ich wette mit Ihnen, dass
Sie die Ökosteuer, falls Sie unwahrscheinlicherweise ab
2006 in der Regierung sind, nicht abschaffen werden.
Eine Umwandlung in die Mehrwertsteuer gilt natürlich
nicht; denn dann kämen wir ja vom Regen in die Traufe.
Wissen Sie, warum Sie sie nicht abschaffen? Weil Sie
sonst im Haushalt und in den Rentenkassen ein Riesenloch bekommen würden; denn die Ökosteuer wird nicht
einfach so erhoben, sondern dient dazu, die RentenversiMichaele Hustedt
cherungsbeiträge zu senken. Sie landet also bei den Unternehmen und direkt bei den Bürgern.
({8})
Deswegen werden auch Sie die Ökosteuer nicht abschaffen. Blasen Sie hier also nicht die Backen auf!
({9})
Jetzt komme ich zum nächsten Punkt, zur Förderung
der erneuerbaren Energien. Von einem Strompreis von
18 Cent pro Kilowattstunde sind 0,4 Cent für diese Förderung vorgesehen. Das sind 2 Prozent. Ich nenne Ihnen
einmal die Ergebnisse der neuesten Umfragen der Elektrizitätswirtschaft. Da wurde gefragt: Was soll in Zukunft gefördert werden? 91 Prozent der Bürger nennen
die Sonnenenergie, 72 Prozent die Wasserkraft, 66 Prozent die Windkraft, 9 Prozent die Kohle und 8 Prozent
die Atomkraft. Die Förderung der erneuerbaren Energien
stößt auf große Akzeptanz in der Bevölkerung. Wir stehen dazu, dass dies etwas kostet.
({10})
Die Preiserhöhungen, die die Stromkonzerne jetzt angekündigt haben, umfassen das Dreifache der gesamten
Kosten, die im Gesetz zur Förderung der erneuerbaren
Energien vorgesehen sind. Deswegen sage ich Ihnen:
Wir dürfen nicht auf einem Auge blind sein. Wir müssen
genau hinschauen und für Wettbewerb auf dem Markt
sorgen,
({11})
damit keine Monopolpreise erhoben werden.
Nun ruft auch die CDU/CSU im Bundesrat - die FDP
ist ja immer noch für das alte Modell - nach einem starken Schiedsrichter. Dazu kann ich sagen: Die größten
Kritiker der Elche waren früher selber welche. Als die
rot-grüne Bundesregierung schon lange den Paradigmenwechsel vollzogen und gesagt hat: „Wir müssen
vom verhandelten Netzzugang zu einem starken
Schiedsrichter in Form des Staates kommen“, haben Sie
immer noch dem alten Modell angehangen.
Im Licht der neuen Debatte und der aktuellen Ankündigung von Strompreiserhöhungen können wir noch einmal über das eine oder andere im Energiewirtschaftsgesetz nachdenken. Aber da halte ich es mit Herrn
Hempelmann: Wer die Backen aufbläst, muss auch liefern. Wir werden sehr bald mit Ihnen am Tisch sitzen
und nicht nur über Sprüche, sondern über konkrete Konzepte reden. Ich möchte, dass von Ihnen etwas geliefert
wird; ansonsten sind Sie unglaubwürdig.
({12})
Als Letztes möchte ich festhalten: Lassen Sie uns einmal über die ernsthaften Dinge, über die Herausforderungen, vor denen wir wirklich stehen, reden! Nehmen
Sie einmal die „Handelsblatt News am Abend“ vom
27. September 2004 und lesen Sie die Überschriften:
„Hurrikane kosten Versicherer Milliarden“, „Brentölpreis auf Rekordhöhe“, „Hoher Ölpreis und Ifo-Index
trüben Stimmung an der Börse“. Das sind die Probleme,
vor denen wir stehen und über die wir uns wirklich Gedanken machen müssen.
Durch die letzten vier Hurrikane zum Beispiel kamen mehr als 2 000 Menschen ums Leben. In Florida ist
ein Schaden von bis zu 25 Milliarden US-Dollar entstanden.
({13})
Die Insel Grenada ist als Staat quasi ausgelöscht.
90 Prozent aller Häuser dort sind beschädigt und vernichtet worden. Das ist eine Herausforderung; das ist der
beginnende Treibhauseffekt.
Ich muss wirklich sagen: Ich vermisse Ihre Konzepte,
wie man darauf reagiert.
({14})
Wir in Deutschland haben nach den USA weltweit die
zweithöchste CO2-Produktion. Wir können uns daher
nicht auf das zurückziehen, was wir getan haben. Wir
müssen handeln.
({15})
Deswegen wollen wir die erneuerbaren Energien fördern
und durch den Emissionshandel dafür sorgen, dass in
wirklich umweltfreundliche Kraftwerke investiert wird.
Ich sage Ihnen eines: Manche hoffen ja, dass der Ölpreis
wieder sinkt. Ich befürchte, dass wir uns auf ein dauerhaft hohes Niveau einrichten müssen. Es gibt zwar unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie viel Öl noch
vorhanden ist. Aber wenn das niedrigste Fördermaximum überschritten ist, wird es eine Preisexplosion geben. Außerdem müssen wir uns schon jetzt darauf einstellen - das ist absehbar -, dass die Nachfrage aus
Indien, China und anderen Schwellenländern drastisch
ansteigen wird, und zwar nicht nur nach Öl, sondern
auch nach Gas und anderen Rohstoffen.
({16})
Zusätzlich müssen aufgrund der Terrorgefahren weitere
Investitionen getätigt werden, die den Preis nochmals
hochtreiben. Das sind die Punkte, mit denen wir uns auseinander setzen müssen.
Eine der zentralen Antworten darauf ist es, schrittweise vom Öl weg zu kommen. Das bedeutet, dass wir
auf erneuerbare Energien umsteigen müssen, dass wir
mit Holzpellets und Solarthermie heizen und nicht mehr
mit Heizöl, was sich für die Bürger rechnet, dass wir
dem Treibstoff Schritt für Schritt Ethanol beimischen;
Brasilien macht uns vor, dass das geht. Wir müssen auch
auf synthetische Kraftstoffe, auf dem Acker produziert,
setzen und diese Schritt für Schritt in Deutschland einführen, und zwar in Zusammenarbeit mit der Mineralölwirtschaft und der Automobilwirtschaft. Wir müssen
auch eine dritte Säule entwickeln und die Abhängigkeit
vom Öl vonseiten der chemischen Industrie reduzieren,
also auf nachwachsende Rohstoffe vom Acker auch bei
der chemischen Produktion setzen.
({17})
Frau Kollegin, Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss. - Das ist ein Weg, der in die
Zukunft weist.
Ich möchte Sie bitten, anstatt nur Fragen zu stellen,
ebenso wie wir eigene Antworten zu entwickeln. Nur
dann sind Sie glaubwürdig.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst
möchte ich etwas Positives feststellen, und zwar dass das
Thema Energie und die damit verbundenen Fragen der
Energiewirtschaft und der Energieversorgung wieder
zentrale Punkte der politischen Agenda geworden sind.
Sowohl Politik als auch Wirtschaft und Öffentlichkeit
realisieren wieder, dass eine sichere und wettbewerbsfähige Energieversorgung für Wirtschaft und Verbraucher
von zentraler Bedeutung für Deutschland ist. Das ist allerdings auch das einzig Positive, das ich als Ergebnis
der rot-grünen Energiepolitik feststellen kann. Ansonsten schadet diese Bundesregierung dem Standort
Deutschland durch eine konzeptionslose und leider ideologisch einseitige Politik; das ist heute bereits mehrfach
angesprochen worden.
Herr Hempelmann, ich möchte gerne, weil Sie dies
angesprochen haben, zur Versachlichung beitragen.
Dazu ist es hilfreich, einmal Zahlen und Fakten zu nennen.
Es ist Tatsache, dass durch Ihre Politik dem Standort
Deutschland geschadet wird. Frau Hustedt, Sie haben
gerade versucht, das zu relativieren; das wird aber auch
durch mehrfaches Wiederholen nicht wahr. Wir haben
heute, im Jahre 2004, in der Summe eine Belastung
durch staatliche Abgaben allein im Strombereich von
knapp 15 Milliarden Euro.
({0})
- Das war für das Jahr 2003. Dieses Jahr wird sich der
Wert inklusive Mehrwertsteuer auf knapp 15 Milliarden
Euro belaufen. Das wird nicht einmal vom Kollegen
Hempelmann bestritten.
Dem stehen Liberalisierungs- und Rationalisierungseffekte in einer Größenordnung von 7,5 Milliarden Euro
gegenüber, die noch durch die Regierung Kohl initiiert
wurden.
Diese, durch Ihre Politik verursachte drastische Verteuerung des Faktors Energie führt zu einer weiteren Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Wirtschaft, zu Wachstumsverlusten und
trägt letztlich auch zum Anstieg der Arbeitslosigkeit bei.
({1})
Sie nehmen den Konsumenten mit dieser Politik Kaufkraft und beschneiden ihre Souveränität. Ich will Ihnen
einmal vorrechnen, welche Auswirkungen Ihre Politik
hat: Ein Drei-Personen-Haushalt in Deutschland mit
einer 100-Quadratmeter-Wohnung und einem PKW
- 10 000 km Fahrleistung, Durchschnittsverbrauch von
8,9 Litern - hat durch Ihre Politik pro Jahr über
430 Euro weniger in der Tasche als vorher.
({2})
- Das sind die Fakten, denen Sie sich stellen müssen.
({3})
Die so zustande gekommenen Beträge speisen Sie in die
staatliche Umverteilungsmaschinerie; zuvor haben Sie
sie den Konsumenten weggenommen.
({4})
Diese Bundesregierung schadet durch ihre Politik
aber auch dem Standort Deutschland. Ich darf dazu auf
das Kompetenzgerangel im Frühjahr verweisen. Der
Emissionshandel wurde ja vorhin als positives Beispiel
angesprochen. Was ist das Ergebnis? - Einseitige Belastungen für Deutschland; die flexiblen Instrumente, die
das Kioto-Protokoll bietet, werden wir, so war heute zu
lesen, nicht im notwendigen Umfang
({5})
- nicht im notwendigen Umfang; jawohl, Herr Kelber,
wenn Sie das noch nicht wissen - einsetzen.
({6})
- Wollen Sie etwa sagen, dass wir CDM und JI unbegrenzt in Deutschland anwenden?
({7})
- Das können wir für das Protokoll festhalten.
Darüber hinaus ist das EEG schon angesprochen worden. Herr Clement, Sie haben ja dankenswerter Weise
versucht, im Frühjahr dieses Jahres manchen Unsinn abzustellen, indem Sie die Kosten und die Kosteneffizienz
in den Vordergrund gerückt haben. Als Ergebnis muss
man leider festhalten: Sie sind als Tiger gestartet und als
Bettvorleger gelandet. Durch die Novellierung des EEG
ist weiterer Unsinn festgeschrieben worden. Ein Beispiel
dafür: Sie sprechen ja davon, dass die Solartechnik besonders gefördert werden soll. In diesem Jahr wird die
Umlage im Bereich der erneuerbaren Energien drastisch
zugunsten der Photovoltaik erhöht, ohne dass dies eine
nennenswerte Erhöhung der netzgekoppelten Energieeinspeisung bringt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hustedt?
Ja, gerne.
Herr Pfeiffer, erstens habe ich die Frage: Wie hat die
CDU/CSU-Fraktion im Bundestag beim Vorschaltgesetz
zum EEG abgestimmt, das ja die Förderung für die Photovoltaik beinhaltet?
({0})
Zweite Frage: Wie haben die CDU-geführten B-Länder
im Bundesrat beim EEG abgestimmt?
Frau Hustedt, wir haben, wie Sie wissen, dem Photovoltaik-Vorschaltgesetz im letzten Jahr im Bundestag zugestimmt.
({0})
Wir haben das getan, damit kein Bruch entsteht. Wir haben aber gleichzeitig gesagt, dass mit der Novellierung
des EEG zum 1. Juli dieses Jahres der Unsinn beendet
werden muss.
({1})
Mit Photovoltaik wird nämlich im Wesentlichen Technologieförderung betrieben. Selbst Herr Matthes vom ÖkoInstitut stellt fest
({2})
- hören Sie mir doch wenigstens zu; wenn Sie mir Fragen stellen, dann darf ich sie beantworten, oder? -,
({3})
dass das, was mit der Photovoltaik im EEG passiert, der
falsche Weg ist. Nicht ausgereifte Technologien werden
mithilfe eines Preises, der mehr als das Zehnfache des
Marktpreises der anderen Energiearten beträgt, in den
Markt gedrückt. Stattdessen sollte die technologische
Entwicklung vorangetrieben werden.
({4})
- Ich habe gerade versucht, Ihnen zu erläutern, warum
wir dem Vorschaltgesetz zugestimmt haben: weil wir der
guten Hoffnung waren, mit Ihnen für das gesamte EEG
zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Das ist leider nicht eingetreten.
({5})
Jetzt zum Thema Wettbewerb. Herr Clement, Sie haben in der vorletzten Sitzungswoche im Bundestag beklagt, dass die etablierte Energiewirtschaft Abzocke betreibe und im Vorgriff auf die anstehende Novellierung
des Energiewirtschaftsgesetzes jetzt noch Kasse machen
wolle. Ich widerspreche gar nicht, dass es hierzu Ansätze
gibt. Sie haben aber zugleich verschwiegen, dass Ihr
Haus wenig unternommen hat, damit diese EU-Richtlinie - für deren Umsetzung Sie verantwortlich sind -,
die den Wettbewerb in den Netzmonopolen dort erzeugen soll, wo er bisher nicht im notwendigen Umfang eingetreten ist, zum 1. Juli dieses Jahres umgesetzt werden
konnte. Die Richtlinie hätte zum 1. Juli 2004 umgesetzt
werden müssen, aber Sie haben erst Ende Juli eine Kabinettsentscheidung dazu getroffen.
Auf der einen Seite beklagen Sie mit Krokodilstränen,
dass der Wettbewerb nicht groß genug sei. Auf der anderen Seite schlagen Sie nun Instrumente vor, die gar nicht
geeignet sind, den Wettbewerb im notwendigen Umfang
zu gewährleisten. Hier greife ich das auf, was der Kollege Hempelmann gesagt hat. Ich freue mich, dass er erklärt hat, die Koalition werde auf uns zukommen. Dies
ist bisher noch nicht geschehen. Bisher hatten Sie gehofft, Ihren Vorschlag realisieren zu können, der aber
überhaupt nicht geeignet ist, den notwendigen Wettbewerb im Netzbereich herbeizuführen. Wir werden uns
dem nicht verweigern, sondern im Vermittlungsausschuss, wie wir es beim Telekommunikationsgesetz auch
getan haben, konstruktiv mitarbeiten und unsere Vorschläge im Interesse von Wirtschaft und Verbrauchern
einbringen, damit wir auf diesem Gebiet mehr Wettbewerb bekommen.
({6})
Wir wollen die Regulierung auf den Netzbereich beschränken. Wir wollen keine Regulierungen im Bereich
der Erzeugung. Dort gibt es bereits Wettbewerb; das
können die Privaten in diesem Bereich allein regeln. Wir
wollen eine Ex-ante-Lösung, die im Vorhinein Klarheit,
Sicherheit und Transparenz schafft. Wir wollen bei den
Netznutzungsentgelten - hier sehen wir die größte Krux weg von der reinen Kostenorientierung und hin zu
marktorientierten Preisfindungen, damit wir, auf verschiedene Cluster bezogen, zu Höchstpreisen kommen.
Im Ergebnis wollen wir eine schlanke, schlagkräftige
Regulierung, die auch im Netzbereich die Mobilisierungseffekte ermöglicht, die dort notwendig sind.
Dort sind Potenziale vorhanden, die wir heben müssen; darin sind wir uns einig. Nur bewegen sich diese
Potenziale - deshalb habe ich vorhin die Zahlen noch
einmal genannt - leider nur in einer Größenordnung von
einem Fünfzehntel oder höchstens einem Zehntel dessen, was Sie durch staatlich verursachte Abgaben auf
den Strompreis an Mehrbelastung geschaffen haben. Das
müssen Sie den Bürgern und der Wirtschaft in diesem
Lande auch einmal sagen. Sie dürfen sich nicht nur einseitig das heraussuchen, was Ihnen gerade in den Kram
passt.
({7})
Frau Wöhrl hat bereits angesprochen - ich vertiefe es
an dieser Stelle -, dass Sie Deutschland auch dadurch
schaden, dass Sie kein geschlossenes und in sich stimmiges Energiekonzept haben.
({8})
Alles andere stimmt nicht. Das letzte Energieprogramm
einer Bundesregierung stammt von der Regierung Kohl.
({9})
- Ja, vom Anfang der 90er-Jahre.
({10})
- Das stimmt doch überhaupt nicht. Herr Kelber, lesen
Sie es einmal nach! Das ist doch dummes Geschwätz.
Das ist nicht nur dumm und dämlich, das ist schon völlig
unerträglich. Wenn ich Sie so sehe und höre, fällt mir
immer der Satz ein: Nur die dümmsten Kälber wählen
ihren Schlächter selber.
({11})
Bei der Energiepolitik verfolgen Sie die Strategie
„rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“. Ihre
Energiepolitik gefährdet in diesem Land 600 000 Arbeitsplätze in den energieintensiven Branchen. Demgegenüber sind die von Ihnen mit Jubelfanfaren begrüßten
Arbeitsplatzgewinne bei den erneuerbaren Energien leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein. In der Summe
gefährden Sie mit Ihrer Energiepolitik den Standort
Deutschland.
Lassen Sie mich noch etwas zum Energiemix und zur
CO2-Reduktion sagen. Frau Hustedt, wir sind übereinstimmend der Meinung, dass die CO2-Emissionen reduziert werden müssen. Diese CO2-Reduktion darf aber
nicht ideologisch betrieben werden; vielmehr muss sie
kosteneffizient verfolgt werden. Wie können wir mit den
vorhandenen Mitteln das CO2 am meisten reduzieren?
Fakt ist eben: Wenn wir bestehende Kraftwerke - auch
solche für fossile Brennstoffe - optimieren, kostet die
Reduzierung des CO2-Ausstoßes je Tonne ungefähr
5 Euro. Im Bereich der erneuerbaren Energien bewegen
wir uns beim heutigen Stand der Technik - es ist ja richtig, dass dies in 20 Jahren anders sein könnte - bei der
Windkraft in einer Größenordnung zwischen 90 und
110 Euro je Tonne und bei der Photovoltaik bei
500 Euro je Tonne. Auf diesem Wege zu reduzieren ist
alles andere als kosteneffizient; es liegt auch nicht im Interesse der Ökologie. Sehen Sie das doch endlich einmal
ein und versuchen Sie es mit uns gemeinsam umzusetzen, statt es abzulehnen, weil es ideologisch nicht in Ihren Instrumentenkasten passt oder Ihren politischen Zielsetzungen widerspricht.
Lassen Sie mich auch noch etwas zum Thema Kernenergie sagen. Es ist schon erstaunlich, wie Sie die Augen verschließen und Vogel-Strauß-Politik betreiben.
Vorhin wurde der Weltenergiegipfel von Sydney angesprochen. Vielleicht können Sie, Herr Clement, als zuständiger Ressortminister nachher etwas dazu sagen, warum kein Vertreter der Bundesregierung bei diesem
Weltenergiegipfel war; alle anderen Länder waren dort
vertreten.
({12})
Auf diesem Gipfel wurden nicht nur Szenarien für die
Entwicklung des weltweiten Energieverbrauchs diskutiert, sondern es wurde auch festgestellt, dass wir mit unserem Ausstieg aus der Kernenergie in der Welt ziemlich
allein dastehen. Sie versuchen uns einzureden, dass wir
in Deutschland an der Spitze der Bewegung seien. Das
Gegenteil ist der Fall. Wir bzw. Sie sind in diesem Fall
die letzten Mohikaner.
({13})
Selbst in Europa, in Schweden und in Finnland, werden
jetzt - nicht zuletzt aus dem genannten Grund der Kosteneffizienz bei der CO2-Reduktion - der Ausbau von
bestehenden Kernkraftwerken und der Neubau solcher
Kraftwerke betrieben.
({14})
- In Finnland, habe ich gesagt. Hören Sie halt zu, Herr
Kelber.
({15})
- In Finnland findet ein Neubau statt, in Schweden wird
der beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie nicht
umgesetzt. In China werden neue Kapazitäten errichtet,
in den USA werden die Laufzeiten verlängert.
Das heißt, nicht nur aus Gründen der Versorgungssicherheit, sondern auch aus Gründen der Klimavorsorge
wäre es dringend geboten, dass wir hier in Deutschland
diesen von Ihnen betriebenen Ausstieg überdenken.
({16})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir verlieren wertvolles technologisches Kapital und
fachliches Know-how.
Ich komme zum Ende. Ich hoffe, dass wir beim Energiewirtschaftsgesetz im Interesse der langfristigen EntDr. Joachim Pfeiffer
wicklung zusammenfinden. Das ist wichtig und notwendig; die Zahlen sind genannt worden.
Herr Kollege, Sie reden zulasten Ihrer nachfolgenden
Kollegen.
({0})
Wir sind bereit dazu, mit Ihnen im Interesse des
Standortes Deutschland an einer langfristigen Energiepolitik zu arbeiten, denn das Schlechteste, das uns passieren kann, ist eine Politik, die alle vier Jahre wechselt,
also eine Strategie „rein in die Kartoffeln, raus aus den
Kartoffeln“. Deshalb brauchen wir eine in sich konsistente, langfristig angelegte Energiepolitik. Wir sind bereit dazu und fordern Sie auf, dies mit uns zu machen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Müller, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man die Beiträge der Oppositionsparteien hört, dann
scheint es nur darum zu gehen, dass wir einen großen
Plan der Energiepolitik vorlegen müssen. Interessanterweise sagen das gerade die Parteien, die sonst immer so
nachdrücklich für den Wettbewerb plädieren. Ich kann
das nicht nachvollziehen. Ich glaube auch nicht, dass das
der eigentliche Streitpunkt ist. Der eigentliche Streit bezieht sich nicht darauf, ob man ein fertiges Energiekonzept hat, sondern darauf, dass wir in der Energiepolitik
völlig unterschiedliche Konzepte vertreten. Sie sind aber
nicht bereit, sich wirklich mit unserem neuen Konzept
auseinander zu setzen.
({0})
Der Grund ist einfach: Aus meiner Sicht haben Sie die
historische Situation, in der sich die Energiepolitik befindet, nicht begriffen.
({1})
Der eigentliche Streitpunkt liegt darin, dass Sie in der
antiquierten Philosophie der Versorgungswirtschaft des
20. Jahrhunderts stehen, aber nicht in der modernen
Energiepolitik der Effizienz, der Umweltverträglichkeit
und der Nutzung der Solarenergie des 21. Jahrhunderts.
Sie sind rückständig; genau dies können wir Ihnen präzise nachweisen.
Meine Damen und Herren, wir sind heute wie nie zuvor an einem Punkt angelangt, an dem sich der Weg der
Energiepolitik verzweigt. Unser derzeitiges Energiesystem bewegt sich an der Grenze dessen, was die Erde vertragen kann, obwohl es eigentlich nur auf 1 Milliarde
Menschen ausgerichtet ist. Dieses so genannte Dualsystem, das Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, ist
im Kern - um es einmal mit Rockefellers Worten von
den „Tränen des Teufels“ zu begründen - nichts anderes
als die Herrschaft der Industrieländer über den Rest der
Welt.
Da aber auch der Rest der Welt beginnt, sich zu industrialisieren, stellt sich die Frage: Was machen wir angesichts der Tatsache, dass unser Energiesystem nur auf
1 Milliarde Menschen ausgerichtet ist und höchstverschwenderisch und ineffizient ist, wir aber ein Energiesystem brauchen, das auf 6 bis 7 Milliarden Menschen
ausgerichtet ist? An dieser Stelle kommen Sie mit Ihren
alten Ansätzen nicht weiter. Hier muss man ehrlich sagen, dass umgebaut werden muss.
({2})
Das ist der eigentliche Punkt. Sie laufen vor der Aufgabe
weg und haben Angst.
Eines muss man klar sagen: Es gibt keinen Umbau,
der nicht teuer ist und der nicht mit Konflikten verbunden ist. Sie können nicht so tun, als ob Sie das Alte einfach fortschreiben können, und dann meinen, das sei modern. Nein, das ist nicht modern! Sie betreiben eine
Energiepolitik, mit der Sie genau das fortschreiben wollen, was uns in die Sackgasse geführt hat: die Verschwendungs- und Versorgungswirtschaft. Was wir aber
brauchen, ist die Solar- und Vermeidungswirtschaft. Das
ist ein völlig anderer Ansatz.
({3})
- Nein, das sind keine Worthülsen. Ich empfehle Ihnen,
einmal die Berichte der Enquete-Kommission zu lesen.
Auch CDU und CSU waren in dieser Frage schon einmal
viel weiter. Bei der FDP war das schwieriger und hat
dort zu internen Konflikten geführt. Herr Schmidbauer
und Herr Lippold von der CDU haben die Position mit
vertreten, dass man 40 Prozent einsparen kann. Heute
nehmen Sie das nicht mehr zur Kenntnis. Sie reden nur
noch über die Angebotsseite, obwohl das eigentlich Interessante die Nachfrageseite ist. Aber was tun Sie an dieser Stelle? Über den Bundesrat, wo Sie die Mehrheit haben, streichen Sie den Verbraucherschutz. Was ist das
nur für ein Verständnis von Marktwirtschaft?
({4})
In den letzten Jahren gab es in der Energiepolitik drei
ökologische Hauptprobleme: die Umweltproblematik,
die Unordnung in den Stoffkreisläufen und die Ressourcenknappheit. Aber jetzt ist die Situation eine ganz andere; denn die Ressourcenknappheit wird zur zentralen
ökonomischen Frage. Wenn man meint, wir könnten alles billig machen und die Energiefragen im Wege der so
genannten Risikostreuung lösen, wäre das sehr kurzsichtig. Das ist keine Lösung. Wir müssen einerseits die
Michael Müller ({5})
Effizienz- und Einsparpotenziale so weit wie möglich
ausnutzen und andererseits den Weg in Richtung Solarenergie gehen. Aber alle Initiativen, die in diesen beiden
Bereichen ergriffen worden sind, haben Sie abgelehnt.
Das ist die Wirklichkeit. Sie haben sich einer modernen
Energiepolitik verweigert. Das ist der eigentliche Punkt.
({6})
Im Übrigen versuchen wir - Herr Pfeiffer, auch das
möchte ich noch sagen, weil Sie es angesprochen haben -, diesen Übergang so sozial- und wirtschaftsverträglich wie möglich zu gestalten. Ich sage noch einmal:
Es wird keine billige Energie mehr geben.
({7})
Aber sie muss, soweit es geht, wirtschaftsverträglich und
preiswert sein. Mit der billigen Energie ist es allerdings
vorbei.
({8})
- Ja, aber im Grunde genommen wollen Sie alle Umbaumaßnahmen beseitigen, reden von möglichst billiger
Energie und stimmen ein in die Jubelarien der Monopolisten, die in Wahrheit keinen wirklichen Wettbewerb
wollen.
({9})
Wenn Sie über Wettbewerb reden, dann müssen Sie
auch über unterschiedliche Energieformen und über den
Wettbewerb auf den Energiemärkten sprechen, anstatt
nur die Politik anzugreifen, die versucht, in diesem Bereich für mehr Wettbewerb zu sorgen. Das ist doch unser
Ansatz.
({10})
Ihr Wettbewerbsverständnis ist dermaßen verengt! Zum
Thema Wettbewerb gehört auch die Frage, ob man weiterhin die Verschwendungswirtschaft betreibt oder ob
man ihr Vermeidungsalternativen entgegenhält. Wettbewerb ist nicht nur eine Frage von Unternehmen, sondern
auch eine Frage unterschiedlicher energiepolitischer Ansätze. Aber das haben Sie bis heute nicht begriffen.
({11})
Wir haben, beispielsweise durch die Ausnahme der
export- und energieintensiven Branchen, versucht, den
Übergang, soweit es geht, verträglich zu gestalten. Das
tun wir auch weiterhin. Richtig ist aber auch: Sie müssen
sich in der Grundsatzfrage entscheiden, ob Sie das heutige System fortführen oder ob Sie den Umbau wollen.
Dies gilt für alle drei Bereiche.
Um das einmal auf den Punkt zu bringen: In SaudiArabien ist der Höhepunkt der Ölförderung bereits überschritten. Der Druck in den Ölquellen lässt nach. Das ist
unbestritten. Wollen Sie trotzdem weiterhin auf die Strategie der grenzenlosen Ausbeutung fossiler Energiequellen setzen?
Oder: Nach Angaben des VDEW wird in spätestens
25 Jahren die Uransicherheit zu einem riesigen Problem
werden, wenn die Atomkraft ausgebaut wird. Wollen Sie
trotzdem Ihren Weg eines Ausbaus der Atomanlagen
weiter gehen? Dann sagen Sie aber bitte auch, dass Sie
in die Plutoniumwirtschaft wollen. Seien Sie dann auch
ehrlich und tun Sie nicht so, als sei das nur eine technische Frage. Der Weg, den Sie dann einschlagen, ist hoch
riskant. Da müssen Sie die Konsequenzen auf den Tisch
legen.
({12})
Dasselbe gilt beim Gas, dessen Vorräte begrenzt sind.
Es gibt keine realistische Alternative zu unserem Weg:
Effizienzsteigerung, Förderung der Solarenergie und
Einsparung. Die Potenziale sind klar: 15 Prozent beim
Einsparen und, je nach Szenario, 30 bis 40 Prozent bei
der Effizienzsteigerung; was die Nutzung von Solarenergie angeht, wurde jede Prognose - auch jene, die Sie aufgestellt hatten - bei weitem übertroffen.
({13})
Unsere energiepolitische Linie ist richtig.
Natürlich ist das nicht einfach und natürlich gibt es
keinen goldenen Plan, in dem alles bis zur letzten Kleinigkeit vorher aufgezeigt wird. Es sind aber klare Ziele,
eindeutige Prinzipien und grundlegende Regeln. Überall
wird das mit großem Interesse gesehen, weil wir als
Bundesrepublik in dieser Frage eine Pionierrolle haben.
Diese Pionierrolle ist gut für unser Land.
({14})
Man muss sich nur eine Zahl der IAEO vor Augen
führen: Die IAEO prognostiziert, dass der Verbrauch
von Öl von 2000 bis 2010 um 20 Millionen Barrel pro
Tag steigen wird. Das bedeutet, dass die elf OPEC-Länder 80 Prozent mehr fördern müssten. Wer kann sich das
überhaupt vorstellen? Es wäre wahnsinnig, diese Verschwendungswirtschaft fortzuführen. Deshalb ist das,
was wir machen, nämlich die Kombination aus Energieeinsparung, Effizienzsteigerung und Förderung der Solarenergie in das Zentrum unserer Bemühungen zu stellen, nicht nur aus Klimaschutz-, sondern auch aus
ökonomischen Gründen richtig. Das sind die Märkte der
Zukunft.
Wir begehen einen historischen Fehler, wenn wir
nicht aufhören, die ganze Produktivität wie bisher nur
am Faktor Arbeit festzumachen. Wir müssen sie auch in
der Ressourcenwirtschaft berücksichtigen, die seit jeher
ein Motor der wirtschaftlichen Entwicklung war, bisher
aber leider viel zu wenig im Interesse der WirtschaftsMichael Müller ({15})
politiker stand. Ein solches Versäumnis würde uns in der
Zukunft einholen.
Der Kurs des Umbaus ist richtig. Lasst uns doch
bitte über den Umbau streiten. Natürlich machen wir dabei Fehler; das will ich gar nicht abstreiten. Es ist gar
keine Frage: Wenn man neue Wege geht, dann macht
man immer auch Fehler.
({16})
Es ist aber besser, etwas Neues zu machen, als an etwas
festzuhalten, was nicht mehr geht. Deshalb wollen wir
auf diesem Weg fortschreiten.
({17})
Der einzige, der in den USA einmal versucht hat, einen anderen Kurs einzuschlagen, war Jimmy Carter im
Jahre 1979 mit seinem Programm „Alternativen zur Verletzbarkeit der Nation“, als er den Ölimport um 40 Millionen Barrel reduzieren wollte. Er ist damals am Widerstand der Industrie gescheitert. Die Folgen der ganzen
Geschichte spüren wir bis heute. Es wird nämlich mit
immer größerem Aufwand versucht, die Interessen in
den Ölregionen zu sichern. Wenn man so etwas tut, kann
man nicht von einer friedlichen Welt sprechen, siehe
Golfregion.
Wir können uns über jedes Detail streiten. Lasst uns
aber bitte zunächst einmal darüber streiten, ob der alte
energiepolitische Kurs noch möglich ist oder ob wir aus
gesellschaftspolitischer Verantwortung und aus Verantwortung vor der Zukunft einen anderen Weg gehen müssen, nämlich den, den wir eingeschlagen haben.
({18})
Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten Tagen einen historischen Höchststand
beim Ölpreis gesehen: 50 Dollar je Barrel. In der „Wirtschaftswoche“ warnt der amerikanische Ökonom Robert
Shiller heute vor einer weltweiten Rezession. Immerhin
hat er 2000 das Platzen der Börsenblase prognostiziert.
Ich teile diese Sicht zwar nicht, die Energiepreise sind
derzeit aber das größte Konjunkturrisiko.
({0})
Es gibt exogene Faktoren, also Faktoren von draußen,
die wir nicht beeinflussen können, und es gibt viele Faktoren, die wir sehr wohl beeinflussen können. Damit
müssen wir uns befassen. Die Bahn erhöht ihre Preise,
weil die Energiepreise steigen, und die Nebenkosten für
Mieter - für Warmwasser und Heizung - explodieren.
Da liegen die Risiken für die weitere Entwicklung.
Der Grundgedanke Ihrer Energiepolitik ist falsch.
Statt die Wahrnehmung aller Wettbewerbsfragen dem
Kartellamt zuzuordnen, das die Vorgaben der Europäischen Union in einer Instanz umsetzen könnte, entschließen Sie sich erneut zur Einrichtung einer Sonderbehörde. Bei der Telekommunikation gehen Sie so weit,
dass Sie Einzelweisungsrechte des Ministers für den
Markt in das Gesetz aufnehmen. Das ist der falsche Ansatz. Sie dürfen sich dann nicht wundern, wenn das Ergebnis entsprechend ist.
({1})
Die Vorgaben der Europäischen Union werden Sie,
wie vorgesehen, zum 1. Januar nächsten Jahres nicht
mehr termingerecht umsetzen können. Das werden Sie
nicht mehr hinbekommen. Mit der Fusion von Eon und
Ruhrgas haben Sie zugelassen, dass ein Wettbewerber
einen Marktanteil von 85 Prozent am Gasmarkt hat.
Gleichzeitig beklagen Sie sich, dass die Gaspreise steigen. Das ist der Gipfel der Unaufrichtigkeit.
({2})
Hingefummelt wurde die Genehmigung mit einer Ministererlaubnis, gegen das Kartellamt, gegen die Monopolkommission.
({3})
Sie steigen ohne Logik aus der Nukleartechnologie
aus. Wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie vielleicht auf den Lieblingsgewerkschafter des Bundeskanzlers, Herrn Schmoldt, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Er fordert, sich die
Option der Nukleartechnologie zu erhalten und nicht
einfach auszusteigen.
({4})
Sie begeben sich der Möglichkeit eines breiteren Energiemixes. Ich hoffe, dass der Energiegipfel nicht, wie
das Bündnis für Arbeit, zu einer Showveranstaltung wird
nach dem Motto: Förderst du meine grünen Windrädchen, fördere ich deine rote Steinkohle. Das bringt uns
nicht weiter.
({5})
Es muss grundlegend über die Verwerfungen auf dem
Energiemarkt gesprochen werden.
Sie müssen auch zusehen, dass Europa weiterhin
wettbewerbsfähig bleibt. Sie hätten sehr wohl die Vorgaben zur Regulierung, die Sie jetzt umsetzen müssen, verhindern können. Sie sollten auch dafür sorgen, dass sich
in Frankreich die Märkte öffnen, dass europaweit
Marktstrukturen durchgesetzt werden und ein europäisches Kartellamt eingerichtet wird. Ansonsten wird das
Ganze in einer Regulierungsbehörde enden, bei der letztlich nur ein paar politische Problemfälle versorgt werden. Ähnliches haben wir in der Energiewirtschaft immer wieder feststellen müssen.
({6})
Wenn wir es nicht schaffen, durch eine seriöse Politik
im Energiesektor Marktstrukturen auf den Weg zu bringen, werden wir in eine Schieflage geraten, die zu einer
weiteren Behinderung des Wirtschaftsstandorts führen
wird. Das haben Sie in vielen Sektoren fertig gebracht.
Es kann aber nicht funktionieren, einerseits zu sagen,
dass es die Marktwirtschaft allein nicht schafft, aber andererseits permanent gegen die Grundregeln der sozialen
Marktwirtschaft zu verstoßen.
Schon die Gründungsväter des neoliberalen Konzepts
- als Antwort auf die Nazizeit - Eucken, Hayek, MüllerArmack, Röpke haben vor zwei Dingen gewarnt: vor der
Kartellierung, die mit Ihrer Hilfe massiv betrieben wird,
und dem, was in der Sprache der damaligen Zeit Punktualismus genannt wurde, nämlich die Intervention in Einzelfällen.
Herr Clement, Sie sollten im Fall Karstadt redlich
sein. Ich habe keine Intervention zugunsten von Karstadt
gefordert. Ich habe gefordert, dass Sie den Handel insgesamt unterstützen, indem Sie die Ladenöffnungszeiten
freigeben, anstatt diese Regelung in die Föderalismuskommission zu verschieben, den Unsinn mit dem Dosenpfand beenden und eine steuerliche Entlastung so gestalten, dass Nachfrage entstehen kann.
({7})
- Herr Schmidt, wenn Sie eines können, außer dazwischenzurufen, dann ist das Lesen.
Herr Kollege Brüderle, bitte denken Sie an Ihre Zeit.
Ich denke immer an meine Zeit, Frau Präsidentin.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Loske, Bündnis 90/
Die Grünen.
Ich hätte gerne noch erfahren, was die Karstadt-Krise
mit dem Dosenpfand zu tun hat. Schade, dass uns das
nicht mehr zuteil geworden ist!
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will hier eine sehr erfreuliche Mitteilung vortragen,
die gegen 12 Uhr über den Ticker gelaufen ist und in einer energiepolitischen Debatte genannt werden muss.
Dort heißt es:
Die russische Regierung hat den Beitritt zum Klimaschutz-Abkommen von Kyoto gebilligt. Das
Protokoll werde dem Parlament zur Ratifizierung
vorgelegt, beschlossen die Minister am Donnerstag
auf einer Kabinettssitzung in Moskau.
({0})
Ich glaube, das ist eine sehr gute Nachricht. Dazu
kann man nur sagen: Es war gut, dass wir alle uns dafür
eingesetzt haben: der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und vor allen Dingen der Bundeskanzler selber und Bundespräsident Rau. Ich glaube, dass der internationale Klimaschutzprozess jetzt wieder einen Takeoff vollzieht, also Wind unter die Flügel bekommt, und
das brauchen wir. Deswegen müssen wir - damit will ich
unmittelbar an das anknüpfen, was Michael Müller gesagt hat - in Zukunft Klima- und Energiepolitik zusammen sehen. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Eine Melodie, die Sie hier häufig anschlagen, nach der wir zu den
goldenen alten Zeiten zurückkehren, als alles billig, billig, billig war, können wir einfach vergessen! Wir stehen
vor Problemen und vor Gestaltungsaufgaben, die wir
nicht mit billiger Polemik aus der Welt schaffen können.
Das möchte ich noch einmal an die Adresse der Union
und der FDP sagen.
({1})
Wenn man volkswirtschaftlich argumentiert und sagt,
man wolle erneuerbare Energien, Energieeffizienz und
Energieeinsparung fördern - bei allem unterstützen Sie
uns nicht -, heißt das doch im Grunde nichts anderes, als
dass wir teure Ölimporte durch inländischen Ingenieursverstand, durch inländische Handwerksleistungen und
durch inländische Industrieproduktion ersetzen. Wir sind
von dieser Strategie der Energieeffizienz so sehr überzeugt, weil sie sowohl beschäftigungspolitisch als auch
klima- und energiepolitisch gut ist. Das ist ein wichtiger
Unterschied zwischen uns.
({2})
Herr Pfeiffer, Sie haben vorhin die Frage von Frau
Hustedt nicht beantwortet. Sie hat gefragt, wie der Bundesrat in Sachen Eneuerbare-Energien-Gesetz abgestimmt hat. Wenn Sie geantwortet hätten, hätten Sie sagen müssen, der Bundesrat habe zugestimmt, weil er im
Gegensatz zur Bundestagsfraktion der CDU/CSU erkannt hat, dass das EEG ein gutes und wichtiges Gesetz
ist. In Zukunft werden Sie nackt dastehen; einige Länder
werden nicht nackt dastehen, weil sie am Ende des Tages, wenn abgerechnet und geprüft wird, was durch dieses Gesetz bewirkt worden ist, gern auf der Seite der Gewinner sein möchten. Ich habe auch gar nichts dagegen,
ich habe mich sehr darüber gefreut.
Als dritten Punkt möchte ich den Wettbewerb ansprechen, den zu Recht auch Herr Brüderle gerade schon
angesprochen hat. Im Moment tun wir im Prinzip nichts
anderes, als einen Ordnungsrahmen zu schaffen. Wir
kommen weg von der Tradition der Energiepolitik, bei
der der große Staat mit der großen Industrie große
Absprachen getroffen hat, häufig unter Beteiligung der
großen Gewerkschaften, manchmal allerdings zulasten
Dritter. Wir kommen jetzt zu einem geregelten Ordnungsrahmen. Der Staat zieht sich zurück und wir komDr. Reinhard Loske
men auch ein bisschen weg von dem Korporatismus. Wir
brauchen - das ist für uns wichtig - fairen Wettbewerb.
Wir brauchen und wollen in Zukunft keine Monopolgewinne. Wir wollen aber Investitionen und Planungssicherheit. Darauf haben die Unternehmen einen Anspruch; das ist sehr wichtig, wie Rolf Hempelmann eben
zu Recht gesagt hat.
Ich möchte aber noch einmal die Notwendigkeit eines
Wettbewerbs um Qualitätsziele betonen. Es geht nicht
darum, die Illusion zu schüren, es könne alles immer billiger werden, sondern es geht darum, einerseits Investitionen sicherzustellen und andererseits Monopolrenditen
zu verhindern. Das ist unsere Gestaltungsaufgabe, bei
der wir auch auf Ihre Unterstützung setzen.
Abschließend möchte ich noch sagen: Ich glaube, es
ist ganz wichtig, auch die Verbraucherinnen und Verbraucher verstärkt einzubeziehen. Wir hatten vor wenigen Tagen eine Veranstaltung hier in Berlin, bei der es
um das englische Modell ging. Auch wir müssen verstärkt darüber nachdenken, wie wir neben der Regulierungsbehörde, die sehr wichtig ist, die Verbraucherinteressen stärker berücksichtigen können.
Letzter Punkt: Ihre Forderung, wir brauchten endlich
eine Energiestrategie, ist natürlich ein bisschen populistisch, obwohl schon etwas Wahres dran ist.
({3})
- Nicht „aha“, nicht immer so billig! - Zurzeit liegen
viele Fäden verbindungslos herum. Wir haben Ziele bei
den erneuerbaren Energien, bei der Kraft-Wärme-Kopplung und beim Atomausstieg. Es ist schon eine Anstrengung wert, zu versuchen, die Enden dieser verschiedenen
Fäden, die in der Landschaft herumliegen, zusammenzubinden, um zu einer integrierten Klimaschutz- und Energiestrategie zu kommen. Diese Strategie brauchen wir in
der Tat und wir brauchen auch einen großen Konsens.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Professor Dr. Rolf
Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Loske, dass Energiepolitik und Klimaschutz zusammengehören, ist völlig unstreitig; aber das energiepolitische Dreieck, von dem wir sprechen, umfasst auch
die Wirtschaftlichkeit. Dieses Argument der Wirtschaftlichkeit scheinen Sie in Ihren Betrachtungen regelmäßig
zu vergessen.
({0})
Das wundert mich auch nicht, denn bis heute haben es
SPD und Grüne nicht geschafft, ein abgestimmtes Energiekonzept der Bundesregierung vorzulegen. Die Interessengegensätze zwischen einem der Steinkohle verpflichteten Wirtschaftsminister und einem auf Windkraft
setzenden Umweltminister lassen sich offenkundig nicht
überbrücken.
({1})
Folge ist ein Ausufern von Fehlentwicklungen mit katastrophalen Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Immer mehr Menschen in unserem Land kapieren,
dass diese Politik die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, die Schaffung von Arbeitsplätzen und den privaten finanziellen Bewegungsspielraum der Bürger einschränkt. Die Bürger werden das staatliche Abkassieren
über den Strompreis nicht mehr mitmachen.
Grundlage für eine nachhaltige Energieversorgung in
Deutschland muss ein ausgewogener Energiemix sein.
Hierzu gehört, dass einzelne Energieträger weder privilegiert noch willkürlich ausgegrenzt werden. Es müssen
vielmehr alle Optionen für die Nutzung der verfügbaren
Energieträger offen gehalten werden, gerade wegen der
Ressourcenproblematik, Herr Kollege Müller. Hierzu
zählen sowohl die erneuerbaren Energien als auch die
Kernenergie. Immer deutlicher wird, dass die mit dem
Beschluss über den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung
der Kernenergie verbundene Vision über die Zukunft der
deutschen Energiepolitik scheitern wird. Bis heute hat
die Bundesregierung die Frage nicht beantwortet, Herr
Minister Clement, wie 30 Prozent der deutschen Stromerzeugung wirtschaftlich und klimaverträglich ersetzt
werden können. Wer die Antwort darauf nicht geben
kann, der muss über den Ausstiegsbeschluss nachdenken.
({2})
- Sie wollen doch wohl nicht glauben, dass Sie tatsächlich mit erneuerbaren Energien, deren Anteil, wenn alles
gut läuft, auf 12,5 Prozent gesteigert werden kann, den
Ersatz für den Ausfall von 30 Prozent Kernenergie leisten können.
({3})
Sie glauben doch nicht, dass der Kraftwerkspark in
Deutschland, der ohnehin in den Jahren 2010 bis 2020
mit einem Kostenaufwand von 40 bis 50 Milliarden Euro
erneuert werden muss, über dieses Maß hinaus erneuerungsfähig ist. Das glauben Sie selbst nicht. Sie führen
uns in eine energiepolitische Sackgasse und damit schaden Sie dem Standort Deutschland.
({4})
Die Union hat sich zu den erneuerbaren Energien
bekannt. In den letzten Jahren konnten große technische
Fortschritte und Effizienzsteigerungen erzielt werden.
Ziel der Förderung muss es sein, neue Anreize zur Weiter- bzw. Neuentwicklung zu schaffen und gleichzeitig
die erneuerbaren Energien möglichst schnell zu Wirtschaftlichkeit hinzuführen, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.
({5})
Dabei muss eine Verzahnung mit anderen Instrumenten
- das ist ganz entscheidend für die Zukunft - wie dem
Emissionshandel und der Ökosteuer im Rahmen eines
langfristigen, in sich geschlossenen energiepolitischen
Konzeptes erfolgen. Die derzeitige Praxis der Überförderung von Windkraftanlagen an windgünstigen Standorten und der gleichzeitige Ausbau von windungünstigen Standorten sind weder ökologisch noch ökonomisch
sinnvoll.
Ich sage aus langjähriger Kenntnis von kommunaler
Politik, dass insbesondere unsere bereits industriell geprägten großen Städte heute über das Bundesbaugesetzbuch gezwungen werden, letzte verfügbare Freiflächen
als privilegierte Vorhaben für Windparkanlagen und
nicht für die Freizeit der Menschen zur Verfügung zu
stellen. Das ist für mich ein nicht nachvollziehbarer politischer Unfug.
({6})
Die Förderung erneuerbarer Energien muss sich an den
Kriterien Wirtschaftlichkeit und Effizienz und darf sich
nicht an der wirtschaftlichen Beglückung kapitalstarker
Fondsanleger für Windkraftparks orientieren.
({7})
Frau Hustedt, Sie haben die Photovoltaik angesprochen. Das ist ein spannendes Thema. Mit der Förderung,
die wir zurzeit in der Bundesrepublik Deutschland praktizieren, erleben wir in der Tat einen Boom.
({8})
Nur, dieser Boom führt dazu, dass Solarzellen in
Deutschland nicht hinreichend produziert und aus Japan
importiert werden. Ihr Förderungsprogramm für Photovoltaik
({9})
ist das beste Wirtschaftsförderungsprogramm für Photovoltaik in Japan, aber leider nicht in Deutschland. Das ist
die Realität, mit der wir es zu tun haben.
({10})
Wir brauchen eine neue Energiepolitik in Deutschland mit verlässlichen Rahmenbedingungen. Energiewirtschaft ist eine der Schlüsselindustrien unseres Landes. Darum darf sie nicht länger Experimentierfeld einer
konzeptionslosen Politik sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Kelber?
Von Herrn Kelber immer.
Vielen Dank. - Es gäbe viele Zwischenfragen, aber
ich beschränke mich auf eine. Sie haben den Kapazitätsausbau in der Photovoltaikindustrie angesprochen. Ist
Ihnen bekannt, dass die deutschen Firmen bis Ende 2006
eine Vervierfachung der Kapazitäten in Angriff genommen haben? Ein Beispiel ist das Bonner Unternehmen
Solar-World, das in Sachsen produziert.
Herr Kelber, mir ist insbesondere bekannt, dass deutsche Banken und deutsche Sparkassen Programme aufgelegt haben, die da lauten: Wenn du Photovoltaik finanzierst und dies über uns kreditieren lässt, dann haben wir
nach zehn Jahren die Finanzierung deiner Maßnahme
gesichert und in weiteren zehn Jahren können wir aus
dieser Förderung der Photovoltaik deine Rente mitfinanzieren.
({0})
Das ist ein falscher Förderungsansatz und das wissen Sie
auch.
Hinzu kommt, dass der gerade entstehende Boom
- das ist unbestreitbar - der deutschen Wirtschaft nur bedingt zugute kommt, weil zurzeit japanische Solarzellen
den Markt beherrschen, die in der Bundesrepublik
Deutschland massiv eingesetzt werden. Wir fördern
durch diese Politik massiv den Wirtschaftsstandort Japan, aber nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland.
({1})
Energiepolitik ist Klimapolitik. Das ist keine Frage.
Aber Energiepolitik ist auch Wirtschaftspolitik. Wer
Energiepolitik betreibt, muss Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit sinnvoll verbinden.
Das funktioniert bei dem Tandem Trittin/Clement nicht.
Das ist die eigentliche Problematik der Energiepolitik in
Deutschland.
({2})
Sie haben kein Konzept, weil Sie die Ministerien nicht
zusammenbringen. Das können Sie auch durch noch so
schönes Gerede über internationale Zusammenhänge
nicht vertuschen, Herr Müller.
({3})
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft und
Arbeit, Wolfgang Clement.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist klar, dass die Energiepolitik jetzt unsere
zentrale Aufmerksamkeit erfordert. Wir brauchen in dieser Phase mehr Wachstum und Beschäftigung. Die Energiepolitik muss in diesen Prozess eingebunden werden
und ihn nach Möglichkeit unterstützen. Dabei ist es notwendig - darin besteht, wenn ich es richtig sehe, allgemeine Übereinstimmung -, dass die Energieversorgung
sicher - das ist in der heutigen Zeit von besonderer Bedeutung -, umwelt- und klimaverträglich und auch wirtschaftlich ist.
Die gegenwärtige Situation ist von einer weltweit
steigenden Energienachfrage und weltweit zunehmenden Versorgungsengpässen geprägt. Deshalb ist es mir
unverständlich, Frau Abgeordnete Wöhrl, wie Sie beispielsweise über die Kohle- und Koksfragen so hinweghuschen können; denn in ganz Deutschland - ob in Hessen, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg oder
anderswo - stoßen gerade Metall verarbeitende Unternehmen an die Grenzen ihrer Produktionsfähigkeit und
warnen ebenso wie der gesamte Mittelstand, der mit Metallverarbeitung zu tun hat, dringend davor, die von Ihnen empfohlene Richtung einzuschlagen.
Hinzu kommt, dass die Rohstoffpreise steigen. In dieser Situation bewegen wir uns zurzeit.
Auch mir ist klar, dass eine weitere Verengung unseres Energiemixes keinesfalls eine Antwort sein kann.
Wir diskutieren allerdings über unterschiedliche Vorstellungen von Energiemix, Herr Kollege Bietmann. Für
uns, die Koalition, ist das Auslaufen der Kernenergie
beschlossen. Sie haben die von dem Kollegen Müller angesprochenen Fragen nicht beantwortet. Wie stellen Sie
sich den weiteren Fortgang der Kernenergie in Deutschland vor? Sind Sie tatsächlich für die Fortsetzung bzw.
das Wiederaufnehmen des Prozesses einschließlich des
Einstiegs in die Plutoniumwirtschaft? Wie beantworten
Sie die Entsorgungsfrage in Deutschland? Welche Position vertritt die Union in diesem Zusammenhang? Sie
verwenden immer wieder die gleichen Vokabeln, sagen
aber letztlich wenig Konkretes über die Gestaltung des
Energiemixes.
({0})
Sie reden ständig von Energieprogrammen. Nennen
Sie mir ein Unternehmen in Deutschland, das in die
Atomenergie investieren will. Kein einziges Unternehmen ist dazu bereit.
({1})
Sie haben doch jeglichen Schiffbruch in dieser Hinsicht
miterlebt. So, wie Sie agieren, ist das in der Opposition
möglich. Sie könnten das aber keine einzige Sekunde
fortsetzen, wenn Sie Regierungsverantwortung tragen
würden.
({2})
Das ist das Problem.
Wir haben den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Er wird wie beschlossen stattfinden, und zwar
in sehr übersichtlicher Form und in der Weise, dass die
Energiepolitik entsprechend angepasst werden kann. Dafür ist der Energiemix - allerdings in anderer Form notwendig, wie wir ihn im Blick haben. Das heißt, alles
andere, das zur Verfügung stehen muss, steht nicht zur
Disposition. Im Gegenteil: Ansonsten brauchen wir von
allem mehr. Wir brauchen erneuerbare Energien und
wollen deshalb bis 2020 ihren Anteil an der Stromversorgung auf 20 Prozent steigern.
Sie sprechen sich auf der einen Seite für erneuerbare
Energien aus - das müssen Sie auch, weil Sie wissen,
dass die Bürgerinnen und Bürger dafür sind -, aber auf
der anderen Seite polemisieren Sie ständig gegen die Finanzierungsbedingungen, die für die Förderung der erneuerbaren Energien notwendig sind. Wie stellen Sie
sich die Finanzierung vor? Ich habe diese Frage schon
im Bundesrat gestellt und hätte sie gerne auch von Ihnen
beantwortet.
Wie sieht eigentlich Ihr Modell aus? Sie können nicht
ständig nur gegen die politische Preisgestaltung polemisieren. Selbstverständlich kostet das alles Geld. Das wissen alle Bürgerinnen und Bürger und sie sind auch bereit, zu zahlen. Aber Sie wollen gerne Ihre bisherige
Polemik aufrechterhalten. Das werde ich Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({3})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kopp?
Frau Präsidentin, das gestatte ich nicht.
Wir werden des Weiteren mehr fossile Energieträger
einsetzen müssen; denn der Ausstieg aus der Kernenergie erzwingt einen steigenden Anteil der Kohleverstromung. Das wird auch geschehen. Da es so beliebt ist, mit
mir die Steinkohle zu verbinden, sage ich Ihnen, Herr
Kollege Bietmann: Als Kölner wissen Sie, dass ich mich
nicht nur für die Steinkohle, sondern auch - anders als
viele Ihrer „mutigen“ Kollegen - für die Braunkohle eingesetzt habe. Wie Sie wissen, wird die Braunkohle nicht
subventioniert und ist außerordentlich wirtschaftlich einsetzbar. Wenn wir diskutieren, täte also ein Schuss mehr
Fairness Ihrerseits gut.
({0})
Wir brauchen mehr Klimaschutz. Auch er muss wirtschaftlich betrieben werden. Deshalb brauchen wir zusätzlich zu dem, was ich bereits angesprochen habe,
mehr Energieeinsparungen sowie mehr Forschung auf
all diesen Feldern, insbesondere in Richtung schadstoffärmerer Kohleverstromung. Wir haben bereits Regelungen zur Förderung der erneuerbaren Energien im Erneuerbare-Energien-Gesetz und Regelungen zum EUweiten Emissionshandel getroffen. Die Bedingungen,
unter denen in Deutschland Energiepolitik betrieben
wird - ob Sie das nun Energieprogramm nennen oder
nicht; ich bin in der Lage, Ihnen binnen zehn Minuten
darzulegen, wie unser Energieprogramm aussieht -, sind
für alle absolut klar. Das ist im Grunde genommen in
wenigen Sätzen, worum es geht.
Entscheidend ist natürlich bei allem, dass die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie, und zwar selbstverständlich einschließlich der energieintensiven Unternehmen, erhalten und mit dem Klimaschutz vereinbar bleibt.
Das ist die Kunst, die wir vollbringen müssen. Wir sind
gegenwärtig dabei, das umzusetzen. Dabei können und
wollen wir uns die höchsten Strompreise in Europa nicht
leisten. Deutschland ist schließlich keine Insel. Um
Marktpreise für Strom und Gas zu erreichen, müssen wir
das Energiewirtschaftsgesetz novellieren. Da der Prozess
der Selbstregulierung der Marktkräfte bzw. der Marktpartner, auf den wir bisher gesetzt haben, ausgereizt ist,
gehen wir nun zu einem anderen System, dem Regulierungssystem, über. Dieses System ist bereits sowohl im
Bundesrat als auch hier im Parlament unter allen Aspekten dargestellt worden.
Wir sehen einen völlig neuen Rechtsrahmen für die
Strompreis- und Gaspreisregulierung vor. Ich denke,
dass die von uns vorgeschlagenen Instrumente für die
Lösung der spezifischen Probleme in Deutschland maßgeschneidert sind. Es gibt insbesondere klare Entflechtungsvorgaben, die die Neutralität des Netzbetriebs gewährleisten werden, damit es nicht länger heißt: Wer das
Netz hat, hat die Macht. Wir müssen mit Gesetzen und
Verordnungen zur Netzregulierung für Rechtssicherheit
und einheitliche Wettbewerbsbedingungen sorgen. Das
wird mithilfe des von uns vorgeschlagenen Benchmarking- und Vergleichsmarktverfahrens - wie es in modernen Kontrollverfahren üblich ist - garantiert. Das bedeutet, dass schwarze Schafe bei der Preisgestaltung sehr
rasch identifiziert werden können und dass ein entsprechendes Missbrauchsverfahren eingeleitet werden kann,
das sehr wohl Zähne haben wird.
Diese Aufgabe soll die Regulierungsbehörde für
Telekommunikation und Post übernehmen. Ich wundere mich ein bisschen über Ihre Einwände dagegen;
denn sie ist weltweit als eine außerordentlich erfolgreiche Regulierungsbehörde anerkannt. Sie ist in der Regulierung solcher Prozesse erfahren wie keine andere. Sie
wird für die Erfüllung dieser neuen Aufgabe keineswegs
mehr Personal benötigen als das Bundeskartellamt,
wenn es diese Aufgabe übernommen hätte. Selbstverständlich wird mehr Personal benötigt. Aber wir haben
den Personalmehraufwand äußerst knapp kalkuliert, weil
wir nicht auf einen solchen Kontrollmoloch setzen, wie
Sie ihn offensichtlich vorsehen.
({1})
Die Effizienz der Missbrauchsverfahren der Regulierungsbehörde ist gesichert. Die Behörde wird über umfassende Ermittlungsrechte verfügen. Es gibt außerdem
Mitwirkungspflichten der Netzbetreiber und kurze Verfahrensfristen. Die Missbrauchsentscheidungen der Behörde werden sofort vollzogen. Des Weiteren gibt es umfangreiche Schadenersatzpflichten der Netzbetreiber
einschließlich der Pflicht zur Verzinsung vom Schadeneintritt an. Vor allen Dingen hat die Regulierungsbehörde die Möglichkeit, rückwirkend ungerechtfertigte
Vorteile, die sich die Energieversorger verschafft haben,
über fünf Jahre abzuschöpfen.
Alles, was wir vorgeschlagen haben, wird aus meiner
Sicht zu einer sehr effizienten Regulierung führen. Es ist
alles andere als eine Gefälligkeitsregulierung. Es ist aber
auch keine Superregulierung.
Ich hatte schon im Bundesrat das Vergnügen, darstellen zu können, was ich von der so genannten Ex-antePrüfung halte. Dieser Begriff soll kernig klingen und
das Ganze soll gut gemeint sein. Tatsächlich ist das, was
Sie vorschlagen, etwas Superbürokratisches. Das habe
ich schon im Bundesrat gesagt. Es handelt sich um etwas
völlig anderes als die Regulierung von Post und Telekommunikation. Wenn man die Preisgestaltung von
1 700 Unternehmen im Vorhinein überprüfen will, dann
bekommt man eine Superbehörde. Wenn man dann noch
davon spricht, dass man Rechtssicherheit schaffen will,
dann muss man sich darauf einstellen, dass jedes zweite
Verfahren rechtlich angegriffen wird; es wird zu Grundsatzstreitigkeiten kommen. Was Sie vorhaben, ist der absolut falsche Weg.
Es ist schon darauf hingewiesen worden - ich glaube,
von Herrn Kollegen Hempelmann -, dass es in den Bundesländern bei den Genehmigungsverfahren eine solche
Ex-ante-Prüfung gibt. Ich selbst war einmal für eine solche Genehmigungsbehörde verantwortlich und weiß,
wie zahnlos dieser Tiger in Wahrheit gewesen ist. Deshalb kann ich nicht empfehlen, diesen Weg zu gehen.
Wir haben eine Anreizregulierung vorgesehen. Sie
werden das im parlamentarischen Verfahren diskutieren.
Im Bundesrat wird das ebenfalls ausreichend diskutiert.
Ich gehe davon aus, dass es zu einer Verständigung kommen kann und muss und dass wir diese Verständigung
bei gutem Willen, den ich bei allen Beteiligten voraussetze, auch finden können. Wir müssen hier für eine Regulierung sorgen, nachdem sich der Weg der freiwilligen
Selbstverpflichtung als nicht erfolgversprechend erwiesen hat.
Meine Bitte ist, dass dieser Weg schnell beschritten
wird. Wenn man in ungewöhnlicher Weise vorgeht, ist es
möglich, hier zum 1. Januar 2005 zu einer Verständigung
zu kommen. Wenn es zu einer solchen raschen Verständigung kommt und die Regulierungsbehörde ihre Arbeit
so rasch wie möglich aufnehmen kann, ist es für uns und
für alle Beteiligten gut.
({2})
- Die dazugehörigen Verordnungen werden von nun an
Schritt für Schritt erlassen. Ich glaube, am 4. Oktober
liegt die nächste vor. Sie werden das natürlich mitgeteilt
bekommen. Über diese Verordnungen wird eine ausreichende und vernünftige Diskussion möglich sein.
Meine Bitte ist: Was man innerhalb von drei Monaten
lösen kann, sollte man auch innerhalb von drei Monaten
zu lösen versuchen. Das wäre jedenfalls für die Stromund Gaspreisentwicklung und für den Markt in Deutschland insgesamt gut.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, dass vor diesem Hintergrund die Ankündigungen von Strom- und Gasunternehmen, die Preise und die Tarife zu erhöhen, für die Konjunktur und die gegenwärtige Entwicklung nicht gut sind. Das
haben wir in ausreichender Weise deutlich gemacht. Es
gibt darüber Gespräche mit den Energieversorgern. Es
wird weitere Gespräche geben, nicht zuletzt beim Bundeskanzler. In diesen Gesprächen werden wir die Energieversorgungsunternehmen auch an ihre Verantwortung
für die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland erinnern und erinnern müssen. Ich bitte sie ausdrücklich darum, auf die angekündigten Strom- und Gaspreiserhöhungen zu verzichten, bis der Regulierer sein Handwerk
beginnen und seine Arbeit aufnehmen kann.
({3})
Ich denke, es ist recht und billig, dass dies geschieht.
Wir müssen in den weiteren Gesprächen darüber reden, wie die Energieversorgungsunternehmen mit den
energieintensiven Unternehmen in Deutschland umgehen und wie wir die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrie in Deutschland auf Dauer und verlässlich sichern. Das sind sehr wichtige Fragen, die
beantwortet werden müssen.
Die Abfolge ist völlig klar: Wir werden mit den Energieversorgern über die aktuelle Preisgestaltung sprechen,
und zwar mit der Aufforderung, ihrer Verantwortung in
der gegenwärtigen konjunkturellen Situation gerecht zu
werden. Nach den Ankündigungen, die Preise und Tarife
zu erhöhen, will die Kartellbehörde klärend tätig werden, um festzustellen - ich begrüße das sehr -, ob
Marktmissbrauch stattgefunden hat.
Wir erwarten, dass mit weiteren Maßnahmen gewartet
wird, bis die Regulierungsbehörde in Deutschland ihre
Arbeit aufgenommen hat, um die Netzregulierung dann
entsprechend vornehmen und um Wettbewerb in den
Netzen herstellen zu können. Ich denke, das ist eine vernünftige Abfolge der Schritte. Ich wäre sehr dankbar,
wenn dies - bei allen Meinungsunterschieden, die wir
nicht überwinden werden - gemeinsam so gesehen werden könnte. Diese Schritte sind eigentlich vor aller Augen. Sie sind erreichbar, insbesondere dann, wenn auch
Sie sich unter Zeitdruck setzen lassen und mit dafür sorgen, dass wir dieses Ziel zum 1. Januar 2005 erreichen.
Herr Professor Bietmann, ich bin davon überzeugt,
dass wir die Weichen in der Energiepolitik richtig stellen. Übrigens, dass es Spannungen gibt, beispielsweise
zwischen Kabinettskollegen, das finde ich nicht unwichtig. Man schafft Ressorts, beispielsweise für Wirtschaft,
Energiepolitik und Umwelt, um solche Spannungen zu
haben. Wenn man keine Spannungen möchte, dann
braucht man nicht mehrere Ressorts. Verschiedene Ressorts sind notwendig, um bestimmte Konflikte innerhalb
einer Gesellschaft auszutragen. Das ist notwendig und
auch richtig. Sie werden das auf kommunaler und auf
Landesebene erleben. Ich praktiziere das bis heute und
denke, das ist auch absolut richtig.
({4})
- Es funktioniert manchmal sogar innerhalb von Fraktionen, wenn auch nur unter Aufwendung von großen Mühen. Im Moment ist davon die Opposition betroffen, wie
wir an vielen Fällen feststellen können. Wir haben deshalb Verständnis dafür, dass Sie viel Kraft in diesen Sektor investieren müssen.
Ich meine, dass wir die Weichen grundsätzlich richtig
stellen, auch wenn natürlich über viele Einzelheiten diskutiert werden kann. Es geht um den Erhalt eines breiten
Energiemixes in Deutschland, und zwar langfristig ohne
die Kernenergie. Es geht um einen wachstumsverträglichen Klimaschutz; das ist ein außerordentlich schwer zu
erreichendes Ziel, das wir aber immer beachten müssen.
Wir brauchen Umwelt- und Klimaschutz; der Weg dahin
muss aber wachstumsverträglich sein. Schließlich brauchen wir offene Märkte, auf denen Wettbewerb herrscht.
Damit geben wir Investoren die nötige Planungssicherheit.
Entsprechende Investitionen werden natürlich, um
das auch einmal klarzustellen, Frau Kollegin Wöhrl, getätigt werden. Von der Tatsache, dass es solche Investitionen in Deutschland geben wird - ich könnte Ihnen
konkrete Beispiele hierfür benennen - und in Milliardenhöhe auch schon gibt, werden all Ihre Sprüche über die
angebliche Investitionsunsicherheit, die unsere Energiepolitik verursache, widerlegt. Das ist das Interessante.
({5})
Sie müssen sich von Ihren Bildern lösen, denn so, wie
Sie sie darstellen, stimmen sie nicht. Es wird im Bereich
der erneuerbaren Energien in einer Form investiert, wie
es sie bisher nicht gegeben hat. Sie haben solche Investitionen mit Ihrer Politik nicht hervorgerufen. Noch viel
stärker wird im Bereich der fossilen Energieträger, etwa
im Bereich der Braunkohle, investiert werden. Das ist ja
im Braunkohleprozess angelegt. Es finden also Investitionen in Milliardenhöhe statt. Ich wäre froh, wenn es sie
in anderen Wirtschaftssektoren ebenso gäbe. Auf diesem
Feld jedenfalls gehen Ihre Angriffe fehl. Sie folgen hier
aus meiner Sicht überholten Bildern. Von diesen sollten
Sie sich lösen, jedenfalls dann, wenn Sie auf der Höhe
der klimapolitischen und energiepolitischen Diskussion
bleiben wollen.
({6})
Ich wünsche mir, dass Sie ungeachtet dieser Meinungsunterschiede, die ausgetragen werden müssen
- das ist auch richtig und wichtig so -, zur Zusammenarbeit bereit sind. Auch im Bundesrat habe ich diese erbeten. Wir werden auf die Länder zugehen und sie dann
fragen, ob es noch sinnvoll und zeitgemäß ist, Länderregulierungsbehörden zu unterhalten, wenn es eine
schlanke Regulierungsbehörde auf Bundesebene gibt.
Wenn man sich von solchen Mischverwaltungs- bzw.
Mischbehördensystemen verabschieden will - und das
wollen wir ja auch -, dann sollte man so etwas nicht neu
aufbauen. Ebenso sollten wir uns über die Form und Art
einer effektiven Regulierung verständigen und dafür sorgen, dass diese so rasch wie möglich erfolgt.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister Clement, Sie haben eben mit
gebremstem Engagement von Ihrer Hoffnung gesprochen, dass man sich über die Frage der Regulierung verständigt. Ich glaube, Sie müssten sich erst einmal mit Ihrem kleinen Koalitionspartner darüber verständigen.
Dessen Redner haben heute die Frage, ob es eine Exante- oder eine Ex-post-Regelung geben soll, ganz geschickt umschifft. Sie, Herr Clement, sind gegen eine
Ex-ante-Regelung, die Grünen sind für eine Ex-ante-Regelung. Es wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie erst einmal
schauen, in welche Richtung es gehen soll. Vielleicht ist
diese Differenz auch ein Grund, warum heute Herr
Trittin und Frau Künast nicht da sind. Haben sie Redeverbot? Ich weiß es nicht.
({0})
Energiepreise und Standortsicherung haben auch etwas mit der Lage der privaten Haushalte und damit aller
Verbraucherinnen und Verbraucher hier in Deutschland
zu tun. Die Energiepreise sind erheblich gestiegen. Ich
habe hierzu sehr wenig von den Kollegen der SPD gehört. Vielleicht können Sie sich diese Preise sehr gut
leisten. Doch dass die Heizölpreise in den vergangenen
acht Monaten um fast 30 Prozent angestiegen sind, wird
uns alle betreffen: Sie, Herr Minister, uns Abgeordnete
und die Bürgerinnen und Bürger. Nur: Von diesen können sich sehr viele dieses nicht so gut wie wir leisten.
Sollen die Familien, die die Bundesregierung sowieso
schon ziemlich schamlos abzockt,
({1})
jetzt ihre Energiepreise dadurch senken, dass sie die Heizung abstellen oder dicke Wollpullover anziehen? Das
wäre sehr zynisch.
Energiepolitik ist auch ein Thema des Verbraucherschutzes. Deshalb frage ich mich: Wo ist denn eigentlich
Ihre Ministerin Frau Künast, die selbst ernannte Jeanne
d’Arc des Verbraucherschutzes, die immer und überall
etwas zum Verbraucherschutz sagt?
({2})
Man hört diesmal nichts von ihr. Aber ich hätte gern einmal etwas zum Thema Verbraucherpreise von ihr vernommen.
({3})
Wo ist sie denn heute? Vielleicht ist sie noch zu sehr mit
ihrem Ernährungskongress beschäftigt. Das Energiethema kann man vielleicht nicht so gut populistisch besetzen. Hier geht es ganz klar um Verbraucherinteressen,
die unterstützt werden müssen. Deshalb danken wir auch
den Verbraucherzentralen, die sich der Verbraucher angenommen haben;
({4})
auch wir tun das hier.
Nach sechs Jahren rot-grüner Energiepolitik müssen
wir Grundsätzliches hinterfragen. Die Preisspirale bei
Strom und Gas wird von ganz klar umrissenen Faktoren
nach oben getrieben. Zum einen sind es die gestiegenen
Weltmarktpreise für Öl, Kohle und Gas, auf die sich
die Bundesregierung allzu gerne beruft. Das darf sie
auch. Aber sie sollte ebenso zur Kenntnis nehmen, dass
zum anderen die eigenen staatlichen Kosten eine große
Rolle spielen; diese werden jedoch allzu gerne unterschlagen.
({5})
Die Frage nach der Energiepolitik hängt auch mit der
Frage zusammen, wofür Herr Trittin das Geld hinauswirft.
({6})
Beispiele dafür gibt es genügend. Seine Politik ist, gelinde gesagt, nur suboptimal für unser Land. Schauen
wir uns doch einmal einige Beispiele an.
Vielleicht waren Sie ja bei der Party dabei oder ärgern
sich, dass Sie nicht eingeladen wurden. Jedenfalls hat
Herr Trittin, als das Kernkraftwerk in Stade abgeschaltet wurde, eine Party gegeben; auf Steuerkosten gab es
eine schöne Torte. Kostenpunkt: 30 411 Euro. Zusätzlich
gab es eine Anzeigenserie. Kostenpunkt: 191 000 Euro.
Und da sprechen Sie davon, dass wir keinen Spielraum
hätten! Für die Bürgerinnen und Bürger gäbe es bei den
Steuerbelastungen kaum einen Spielraum; aber für so etwas ist Geld da.
Wenn wir über den wunderbaren Energiemix reden,
der Sicherheit für die Verbraucher bringt, sollten Sie
wieder von unten anfangen und logisch diskutieren, statt
einfach so reinzublöken, nur weil Sie sich die Energiekosten finanziell leisten können.
({7})
Hinterfragen müssen wir ganz offen die staatliche
Verteuerung von Energie, nicht zuletzt weil diese auch
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. So schwer sind
doch die Zusammenhänge gar nicht zu verstehen. Vielleicht hören Sie einmal zu; auch des Lesens sind Sie ja,
glaube ich, mächtig.
Das novellierte EEG hat zu einem Ausbau hoch subventionierter Stromerzeugung geführt. Der politisch gewollte Ausbau der Windkraft bringt zudem erhebliche
Kosten mit sich, die an die Bürgerinnen und Bürger weitergegeben werden. Wenn Sie, Frau Hustedt, davon sprechen, dass die überwiegende Zahl der Deutschen auf
Windenergie setzt - so ein Windrad ist ja etwas
Schönes -, dann klären Sie die Bürgerinnen und Bürger
bitte auch über die Windenergie auf
({8})
und sagen Sie, was zum Beispiel ist, wenn es windstill
ist; das Gleiche gilt für die Sonnenenergie, wenn die
Sonne nicht scheint. Man kann gerne einmal bei Kerzenschein zusammensitzen; aber irgendwann macht das keinen Spaß mehr.
({9})
Es geht um das Portemonnaie unserer Bürgerinnen
und Bürger. Ich bin schon etwas erstaunt, dass das hier
keine Rolle spielt. Der Strompreis ist in Deutschland
doppelt so hoch wie zum Beispiel der in England. Deswegen treten wir dafür ein, dass ex ante reguliert wird,
dass nicht ausgebeutet wird, dass es keine Quersubventionen gibt, dass die Verbraucherinteressen vertreten
werden und dass der zur Energiedurchleitung notwendige Wettbewerb entsteht, aber auch dafür, dass eine
gute Wirtschaftspolitik, eine gute Verbraucherpolitik und
eine gute Umweltpolitik vernünftig gebündelt werden,
statt das Ganze lediglich einem Ressort zu überlassen,
was dazu führt, dass die anderen nur dann reden, wenn
es ihnen gerade gut passt.
Die Union ist auf der Seite der Verbraucher.
({10})
Wenn das auch für Sie gilt und Sie die Familien unterstützen und entlasten wollen, dann stimmen Sie unserem
Antrag zu und folgen Sie dem, was auch der Bundesrat
gefordert hat. So schwer ist das doch gar nicht!
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/3389.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1349 mit dem
Titel „Energiepolitik ist Standortpolitik“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf Drucksa-
che 15/367 mit dem Titel „Zukunftsprogramm Energie
vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antra-
ges der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/761 mit
dem Titel „Stromrechnungen transparent gestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion an-
genommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit unter Buchstabe d seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 15/3389 die Ablehnung des Antra-
ges der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2760 mit
dem Titel „Nationales Energieprogramm vorlegen - Pla-
nungssicherheit für Wirtschaft und Verbraucher herstel-
len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange-
nommen.
Tagesordnungspunkte 4 b und 4 c sowie
Zusatzpunkt 1: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 15/823, 15/3509 und
15/3809 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 g sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ausschluss von Dienst-, Amts- und Versorgungsbezügen von den Einkommensanpassungen 2003/
2004 ({0})
- Drucksache 15/3783 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze
- Drucksache 15/3784 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 29. Mai 1990
zur Errichtung der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung
- Drucksache 15/3785 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gräbergesetzes
- Drucksache 15/3753 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Innenausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum EUTruppenstatut vom 17. November 2003
- Drucksache 15/3786 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss der im Rat der Europäischen Union
vereinigten Vertreter der Regierungen der
Mitgliedstaaten vom 28. April 2004 betreffend
die Vorrechte und Immunitäten von ATHENA
- Drucksache 15/3787 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weltbevölkerung und Entwicklung - zehn
Jahre nach Kairo
- Drucksache 15/3812 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Annette WidmannMauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Weltbevölkerungspolitik zehn Jahre nach
Kairo
- Drucksache 15/3798 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({8}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Fototafeln zum 17. Juni 1953 erhalten
- Drucksache 15/3800 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({9})
Innenausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der nunmehr ausschließlich von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachte Entwurf auf Drucksache 15/3812 mit dem
neuen Titel „Weltbevölkerung und Entwicklung - zehn
Jahre nach Kairo“ soll an dieselben Ausschüsse wie die
Vorlage auf Drucksache 15/3798 überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 31 a
und 31 b sowie 31 e bis 31 h. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Januar 2003 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und dem
Schweizerischen Bundesrat über Bau und Erhaltung einer Autobahnbrücke über den
Rhein zwischen Rheinfelden ({10}) und Rheinfelden ({11})
- Drucksache 15/3178 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({13})
- Drucksache 15/3833 Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Brunnhuber
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/3833, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Vorschriften über die Amtshilfe im Bereich der Europäischen Union sowie
zur Umsetzung der Richtlinie 2003/49/EG des
Rates vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame
Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und
Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten ({14})
- Drucksachen 15/3679, 15/3788, 15/3820 ({15})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({16})
- Drucksache 15/3827 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Pronold
Peter Rzepka
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({17}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/3845 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Waltraud Lehn
Alexander Bonde
Otto Fricke
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3827, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 145 zu Petitionen
- Drucksache 15/3728 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 145 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 146 zu Petitionen
- Drucksache 15/3729 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 146 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 147 zu Petitionen
- Drucksache 15/3730 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/
CSU- und der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 148 zu Petitionen
- Drucksache 15/3731 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
5 a) - Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({22}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386
({23}) vom 20. Dezember 2001, 1413 ({24})
vom 23. Mai 2002, 1444 ({25}) vom 27. November 2002, 1510 ({26}) vom 13. Oktober
2003 und 1563 ({27}) vom 17. September
2004 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksachen 15/3710, 15/3826 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({28})
Dr. Ludger Volmer
- Bericht des Haushaltsausschusses ({29}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/3835 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alexander Bonde
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Lothar Mark
Herbert Frankenhauser
Otto Fricke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({30}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer,
Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Mandat für Kabul und Kunduz/Faizabad
trennen
- Drucksachen 15/3712, 15/3825 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({31})
Dr. Ludger Volmer
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Friedbert Pflüger, Christian Schmidt ({32}),
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Für ein konsequentes Engagement in Afghanistan
- Drucksache 15/3801 Ich weise darauf hin, dass wir über die Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundesregierung später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesminister Dr. Peter Struck.
({33})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich möchte das Parlament zunächst
über den Anschlag informieren, dem unsere Soldaten im
Wiederaufbauteam in Kunduz gestern Abend ausgesetzt
waren. Bei diesem Anschlag wurden fünf Soldaten verletzt: drei deutsche und zwei Schweizer. Ein deutscher
Oberfeldwebel erlitt schwere Verletzungen. Er ist noch
in Kunduz operiert und heute über Termes nach
Deutschland ausgeflogen worden und ist auf dem Weg
zu uns. Sein Zustand ist stabil.
Wir haben natürlich die Angehörigen der betroffenen
Soldaten sowie die Militärattachés der anderen Nationen, die in Kunduz zusammen mit uns eingesetzt sind,
verständigt.
Diesem Raketeneinschlag, aus dem diese Verletzungen resultierten, ging um 18.13 Uhr deutscher Zeit etwa
500 Meter nordwestlich unseres PRTs eine Explosion
voraus. Es hat sich eine dritte Rakete gefunden, die abgeschossen wurde, die allerdings nicht explodiert ist und
von uns entschärft worden ist.
Meine Damen und Herren, das bestätigt die Einschätzung, zu der wir in den zuständigen Ausschüssen insgesamt gekommen sind, dass im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Afghanistan, die am 9. Oktober
dieses Jahres stattfinden, diejenigen, die gegen eine demokratische Entwicklung in Afghanistan sind, massiv
gegen diejenigen vorgehen werden, die diese demokratische Entwicklung mittragen und stützen.
An dieser Stelle sollten wir unseren Soldaten in Kunduz, in Faizabad und in Kabul von hier aus alles Gute
wünschen und ihnen für die Arbeit danken, die sie für
die afghanische Bevölkerung tun.
({0})
Ich weiß - ich wende mich jetzt direkt an die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion -, dass Sie das
Mandat in Kabul zwar für richtig halten - wir sind in
Kabul mit insgesamt 8 000 Soldatinnen und Soldaten
aus 36 Staaten; davon stellt die Bundeswehr rund
2 000 -, dass Sie aber Probleme mit den Wiederaufbauteams in Kunduz und Faizabad haben. Ich bin dem Kollegen Leibrecht dankbar, der mich am Wochenende begleitet hat, um zu sehen, wie es in Faizabad und Kunduz
aussieht, und möchte Sie alle herzlich bitten, auch die
Fraktions- und Parteivorsitzenden, wenn es die Zeit erlaubt, unsere Soldaten dort zu besuchen. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass es richtig ist, in Kunduz
und Faizabad vertreten zu sein.
({1})
In beiden PRTs gibt es Multinationalität: in Kunduz
aus Frankreich, Belgien, Ungarn, der Schweiz und Großbritannien. Die Niederlande waren dort vertreten und gehen jetzt aufgrund der Erfahrungen, die sie mit unserem
Wiederaufbauteam gemacht haben, in ein eigenes Team
in der Provinz Baghlan. Es gibt auch Multinationalität in
Faizabad. Anfang nächsten Jahres werden jeweils
40 Soldaten sowohl aus Tschechien als auch aus Dänemark hinzukommen. Kroatien hat eine Beteiligung im
zivilen Bereich angekündigt.
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir die heute
im Bundestag zu treffende Entscheidung über den
Afghanistaneinsatz nicht als Routine ansehen sollten.
Die gestrigen Erfahrungen zeigen, dass mit der Entscheidung, die wir jetzt treffen wollen, auch die Entscheidung
über das Leben von deutschen Soldatinnen und Soldaten
verbunden ist. Es ist kein Routineeinsatz, über den das
Parlament zu entscheiden hat, sondern ein Einsatz, bei
dem Soldaten gefährdet sind.
Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit gegen Anschläge, wie wir sie gestern erlebt haben; das sage ich als
Verteidigungsminister. Wie soll man verhindern, dass
von den Bergen in einigen tausend Metern Entfernung
aus geschossen wird? Unsere Soldaten wissen das. Sie
sind sich der Gefahrensituation in Afghanistan bewusst.
Sie nehmen ihren Auftrag sehr ernst; sie sind überzeugt
von diesem Auftrag. Das ist den Kolleginnen und Kollegen, die immer in Afghanistan sind, und denen, die mich
bei dieser Reise begleitet haben, klar gemacht worden.
Niemand stellt dieses Engagement infrage. Ich bin dem
Bundestag auch sehr dankbar, dass er dieses Engagement mit trägt.
Deutschland hat eine große Verantwortung für Afghanistan. In Deutschland wurden drei Konferenzen dazu
durchgeführt. Es ist nun möglich, dass am 9. Oktober ein
Präsident gewählt werden kann, und zwar auch von
Frauen. Der Anteil der Frauen an den registrierten Wählern in Afghanistan beträgt 48 Prozent. Das ist ein großer
Erfolg, den man nicht klein reden darf.
({2})
Ich bin froh und stolz darauf, dass die Bundeswehr zu
diesem Erfolg wesentlich beigetragen hat. Ich denke,
dass wir dieses Mandat verlängern sollten. Wir sollten
die Aufgaben, die uns dort bevorstehen, ernst nehmen.
Ich versichere, dass wir, wenn es nötig ist, bei der Ausstattung und Ausrüstung der dort eingesetzten Soldaten - Gleiches gilt für die Soldaten auf dem Balkan Verbesserungen durchzuführen, dies selbstverständlich
tun werden. Die Soldaten haben einen Anspruch darauf,
das zu bekommen, was sie brauchen, um ihren Auftrag
zu erfüllen. Dafür stehe ich als Verteidigungsminister
und so wird es immer bleiben.
Ich hoffe sehr, dass das Parlament die Arbeit der Bundeswehr auch in Afghanistan, worüber jetzt zu reden ist,
honoriert und dass es anerkennt, welch große persönliche Leistung die Soldaten dort erbringen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Friedbert Pflüger von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gestern sind, wie der Verteidigungsminister
eben berichtet hat, drei Bundeswehrsoldaten bei einem
Raketenangriff verletzt worden, einer davon schwer. Wir
alle denken an sie und wünschen ihnen eine rasche und
umfassende Genesung.
({0})
Wir denken auch an die 14 deutschen Soldaten, die
seit Beginn des Einsatzes im Januar 2002 in Afghanistan
ums Leben gekommen sind, sowie an ihre Kameraden
aus etlichen anderen Ländern. Ihren Familien gelten unser Mitgefühl und unser Dank für dieses größte Opfer,
das ein Mensch für Frieden, Freiheit und das Vaterland
leisten kann.
Wer wollte bestreiten, dass es in unserem Land immer
wieder Zweifel am Sinn des Engagements so fern der
Heimat gibt? Wenn wir heute im Bundestag über die
Verlängerung des Mandates entscheiden, dann müssen
wir uns sehr ernsthaft die Frage nach dem Sinn stellen
und beantworten. Ferner müssen wir die Frage beantworten, ob wir für die Sicherheit unserer Soldaten dort
das Größtmögliche tun.
Unsere Soldaten sind in Afghanistan zum Schutz der
Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger. Am
1. September 2004 erklärte der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Hanning, dass die Terrorgefahr durch
al-Qaida größer denn je sei; auch Einrichtungen in
Deutschland seien gefährdet. Der EU-Koordinator für
Antiterrormaßnahmen, de Vries, ließ am 23. Juni 2004
wissen, dass alle Länder in Europa, auch Deutschland,
im Fadenkreuz der al-Qaida-Terrorkommandos stünden.
Am Vortag bereits hatte der Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation, al-Baradei, erklärt,
dass die Gefahr des Einsatzes einer „schmutzigen“
Atombombe bei einem der nächsten Terrorakte größer
sei als je zuvor.
Wir wissen, dass Afghanistan bis 2001 der Ausgangspunkt des islamistischen Terrors gewesen ist. In den Lagern im Land sind 20 000 Terroristen ausgebildet und in
die Welt geschickt worden. Den Nah- und Fernkampf,
den Umgang mit Sprengsätzen, militärische Strategien,
den Umgang mit den Medien und dem Internet haben sie
dort gelernt. Der tägliche Terror in der Welt, den wir
heute erleben, hat seinen Ausgangspunkt in der Verbindung des totalitären Gottesstaates der Taliban mit alQaida. Würde sich die Staatengemeinschaft jetzt zurückziehen, so würden morgen die Taliban wiederkommen;
so würden dort morgen neue Terrorcamps entstehen. Unsere Soldaten sind eben nicht aus einem idealistischen
Gutmenschentum in Afghanistan; vielmehr sind sie dort
in erster Linie für unsere Sicherheit. Wir sorgen für
Sicherheit, damit die Terroristen und die Taliban nicht
wieder zurückkommen können. Wir haben schon genügend Gefährder und Schläfer bei uns in Europa und wir
wollen nicht, dass weitere ausgebildet werden und zu
uns kommen.
({1})
Wir sehen, dass es in Afghanistan Fortschritte gibt.
3,6 Millionen Flüchtlinge sind seit 2001 in ihre Heimat
zurückgekehrt; das ist ein deutlicher Beweis dafür, dass
es in weiten Teilen Afghanistans, neben den nach wie
vor bestehenden großen Problemen, auch mehr Sicherheit gibt.
Wenn wir als CDU/CSU heute der Verlängerung des
Mandats zustimmen, dann tun wir das nicht, weil wir mit
allem einverstanden wären oder weil wir der Meinung
wären, dass es dort keine Fehlentwicklungen gegeben
hätte. Wir tun es, weil wir etwas für die Sicherheit unserer Bürger tun wollen. Aber die Fehlentwicklungen müssen wir hier auch benennen und es ist unsere Verantwortung als Opposition, darauf aufmerksam zu machen.
Eine der Fehlentwicklungen betrifft die Drogenthematik. Wir haben im Jahr 2003 eine Rekordernte von
3 600 Tonnen Rohopium gehabt; in diesem Jahr werden
es wahrscheinlich 4 600 Tonnen sein, das wäre eine neue
Rekordernte. Drogen aus Afghanistan überschwemmen
den Markt in Europa. Politiker, Warlords, Personen, die
jedenfalls indirekt durch die ISAF, durch unser Engagement, mit stabilisiert werden, verdienen daran. Das darf
nicht so bleiben. Spätestens für die Zeit nach den Präsidentenwahlen brauchen wir ein glaubwürdiges Konzept.
Herr Bundesminister, glauben Sie uns, wir werden das
im nächsten Jahr ganz genau beobachten. Unsere Bürger
haben ein Recht auf Sicherheit vor dem Terror aus
Afghanistan; aber sie haben auch ein Recht darauf, dass
nicht Drogen aus Afghanistan Tod für unsere Kinder
bringen. Beides gehört zusammen und beides werden
wir einfordern, wenn wir in einem Jahr zusammenkommen und über eine mögliche weitere Verlängerung sprechen werden.
({2})
Wir müssen uns ebenfalls fragen: Wie ist es mit der
Sicherheit der Soldaten in Faizabad? Diese Frage haben
wir, mein Kollege Christian Schmidt und ich, thematisiert, unmittelbar nachdem wir aus der Presse erfahren
haben, dass Sie das Engagement der Bundeswehr nach
Faizabad ausdehnen wollen.
Wir werden jetzt also mit etwa 100 Soldaten nach
Faizabad gehen, einem Ort, zu dem man auf der Straße
von Kunduz 14 Stunden braucht. Wir alle wissen, dass
man nur unter Sichtbedingungen in Faizabad landen
kann. Wie sieht es mit der Sicherheit im Winter aus,
wenn die Straßen nicht mehr zugänglich sind? Ist das
Lager mitten im Ort überhaupt gegen mögliche Terroristen zu schützen? Die Teilnehmer an der Reise mit dem
Bundesminister, mit denen ich gesprochen habe, berichteten, dass auf den Straßen von Faizabad keine große
Freundlichkeit geherrscht habe. Dort wird nicht gelächelt und gewunken, wie wir es aus Kabul gewohnt sind.
({3})
Die „Financial Times Deutschland“ vom 17. September berichtete von einem Brief des Bürgermeisters und
der Ältesten von Faizabad an den Gouverneur mit dem
Ratschlag, die Bundeswehr solle ihr Lager lieber außerhalb der Stadt aufschlagen, damit die Soldaten nicht mit
Frauen in Kontakt kämen. Man wünsche, dass keine Organisation, in der Bewaffnete arbeiteten, in der Stadt ihr
Lager habe. Am Tag der Demonstration, am 17. September, haben wir doch erlebt, wie schnell sich dort eine explosive Stimmung aufbauen kann. Sind unsere Soldaten
dort sicher? Wie sicher sind sie?
Der Herr Bundesverteidigungsminister ist am
14. September im ZDF von Herrn Kleber gefragt worden:
Können Sie das verantworten, in abgeschlossener
Lage 90 Mann, die sich im Zweifel gegen gar nichts
wehren können?
Der Bundesminister hat darauf geantwortet:
Es gibt im Augenblick … keine Bereitschaft im
Bundestag, das Kontingent … aufzustocken.
Herr Bundesminister, uns haben Sie nicht gefragt.
Wenn Sie der Meinung sind, es sei für die Sicherheit der
dort stationierten Soldaten notwendig, mehr Soldaten
dorthin zu schicken, dann sollten Sie einen entsprechenden Vorschlag machen. Mit uns können Sie darüber
reden; wir werden alles tun, was für die Sicherheit der
Soldaten notwendig ist. Schieben Sie aber bitte die Verantwortung nicht auf den Deutschen Bundestag! Sie tragen sie.
({4})
Karl Feldmeyer berichtete in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von vorgestern von dem Besuch in
Faizabad, dass der Bundesminister und seine Delegation
aus Sicherheitsgründen darauf verzichtet hätten, das
Krankenhaus zu besichtigen, das von der Bundeswehr
mit aufgebaut wird, weil es in einer Sackgasse liege.
Meine Damen und Herren, hier stellt sich die Frage:
Wenn bei einer hoch geschützten Delegation Sicherheitsbedenken dahin gehend bestehen, dass man nicht jeden Punkt in Faizabad erreichen kann, kann man es dann
den Soldaten zumuten, dass sie dort jeden Tag ihren
Dienst leisten? Stimmt das, was uns Herr Feldmeyer in
der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ berichtete, Herr
Bundesminister?
({5})
Diese ernsten Fragen, die mit der Sicherheit unserer Soldaten zusammenhängen, sind legitim und müssen gestellt und beantwortet werden.
Wir haben uns in der Union mit diesen Fragen beschäftigt. Wir haben sie in jeder Ausschusssitzung gestellt, wie es unsere Aufgabe und unsere Verpflichtung
ist. Aber wir können nicht den Oberfeldherrn spielen.
Wir können aus der Ferne nicht jede Sicherheitsfrage beantworten.
({6})
Wenn der Bundesminister und der stellvertretende
Generalinspekteur uns gestern im Ausschuss auf die
wiederholte Nachfrage erklärt haben, wir könnten dieses
Engagement militärisch verantworten, wenn auch der
stellvertretende Vorsitzende des Bundeswehrverbandes,
Ostermeier, mit dem ich heute Morgen noch einmal vor
dem Hintergrund der Anschläge in Kunduz gesprochen
habe, klar sagt, er glaube, dass unsere Leute dort gut ausgebildet seien, sodass man deren Einsatz verantworten
könne, dann fällt es dem Deutschen Bundestag schwer,
aus der Ferne zu einer anderen Analyse zu kommen.
Deswegen sagen wir ganz klar und deutlich: Das
Engagement der Bundeswehr in Afghanistan ist richtig
und notwendig, weil wir unser Land vor den Taliban und
den Terroristen schützen wollen. Aber wir hoffen, dass
die Fragen, die hinsichtlich der Sicherheit unserer Leute
und hinsichtlich der Drogenproblematik aufgeworfen
worden sind, gut beantwortet werden. Wir wünschen
Ihnen, Herr Bundesminister, eine glückliche Hand. Vor
allen Dingen wünschen wir den Soldaten, die wir dorthin
schicken, dass sie sicher nach Hause zurückkommen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern Abend wurde erstmalig die Liegenschaft des
deutsch geführten Wiederaufbauteams in Kunduz mit
Raketen angegriffen. Den verletzten Soldaten wünschen wir baldige und vollständige Genesung.
({0})
Wir sind bestürzt über diesen Vorfall, allerdings von
ihm auch nicht völlig überrascht; denn auch im Einsatzgebiet von ISAF muss seit langer Zeit mit Anschlägen
solcher Art gerechnet werden - in Kabul haben wir sie
öfter erlebt -, in zunehmendem Maße vor den bevorstehenden Wahlen. Solche Angriffe sollen vor allem politisch verunsichern sowie die Wahlen und den Stabilisierungsprozess stören.
Ganz entscheidend ist, wie darauf von den afghanischen Sicherheitsorganen, von der afghanischen Bevölkerung und von der internationalen Gemeinschaft reagiert wird. Deshalb ist es jetzt sehr wichtig - darin sind
sich erfreulicherweise alle bisherigen Redner einig -,
dass wir tatsächlich in dem Willen fest bleiben müssen,
die Vereinten Nationen und die afghanische Zentralregierung bei der Gewalteindämmung, bei der Stabilisierung und beim Aufbau des Landes zu unterstützen.
Schlechte Nachrichten wie jetzt dürfen nicht zu verkürzter Wahrnehmung führen. Fakt ist nämlich, dass die Entwicklung in den verschiedenen Regionen Afghanistans
sehr unterschiedlich verläuft, aber auch, dass es inzwischen Fortschritte gibt, von denen man vor drei Jahren
nicht zu träumen gewagt hätte.
({1})
Ein Beispiel ist bereits genannt worden: Mehr als
3 Millionen Flüchtlinge sind in das Land zurückgekommen. Das ist auch eine Abstimmung mit den Füßen.
({2})
Vor einem Jahr billigte der Bundestag das Vorhaben
der Bundesregierung, in Nordostafghanistan, in der
Großregion Kunduz, ein Wiederaufbauteam einzurichten. Dieses Konzept der Wiederaufbauteams war unverzichtbar, um eine Stabilisierung und Wahlen im ganzen
Land überhaupt erst zu ermöglichen. Es war ein Pilotprojekt von ISAF und NATO und hat sich - das kann
man jetzt ohne jede Übertreibung feststellen - als der
richtige Weg bewährt. Inzwischen ist dieses Netz erheblich ausgeweitet worden. Die ganze Nordregion ist von
diesem Netz erfasst. Letzte Lücke war die Region Faizabad.
Herr Pflüger, Sie haben eben zu Recht einige Fragen
aufgeworfen; wir waren vor Ort und haben Auge in
Auge mit den Offizieren gesprochen, ohne dass die
Presse dabei war.
Es ist richtig, dass dies aus der Ferne fragwürdig erscheint. Aber wir haben uns vor Ort über die Stärke anderer Wiederaufbauteams, über die Verstärkungs- und
Unterstützungsmöglichkeiten, über die nahe liegenden
Evakuierungsmöglichkeiten sowie über die Bewertung
von NATO und ISAF informiert. Die gewonnenen Erkenntnisse führten bei uns zu dem Schluss, dass dieser
Einsatz verantwortbar ist.
({3})
Die Wiederaufbauteams sollen der Zentralregierung
bei der Entwaffnung und beim Wiederaufbau der Polizei
Rückendeckung geben. Sie sollen nicht, wie es in der
Diskussion immer wieder durcheinander geworfen wird,
direkten Schutz für Entwicklungshelfer und humanitäre
Helfer bringen. Ihre Aufgaben sind viel breiter. Sie sollen Helfern Zuflucht bieten, aber natürlich keine Eskorte
sein; das ist Unsinn. Deswegen geht viel Kritik völlig an
der Sache vorbei.
Wir haben Kunduz im Januar und jetzt wieder besucht. So konnten wir feststellen, was sich augenfällig
getan hat: Erstens hat sich die Bautätigkeit entwickelt,
und zwar auch in Faizabad; man sieht schon jetzt nach
den ersten Wochen, dass sich einiges tut. Zweitens spielt
die Zentralregierung inzwischen eine viel ausgeprägtere Rolle. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Herr Gerhardt, Sie sprachen von einer Nadel im Heuhaufen. Wenn man bei diesem Beispiel bleibt, dann handelt es sich eher um eine Nadel im Wollknäuel, mit dem
sich einiges anstellen lässt.
Richtig bleibt der Kurs der internationalen Gemeinschaft, die schwachen afghanischen Staatsorgane zu unterstützen und ihre Fähigkeiten zu verbessern. Dazu bedarf es Klugheit, Geduld und Entschiedenheit. Dafür ist
in der Tat ein stärkeres internationales Engagement dringend nötig. Wir können allerdings auch feststellen, dass
die Bundesrepublik Deutschland hierbei vorbildlich ist.
Deshalb unterstützen wir diesen Antrag.
Danke.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Werner Hoyer von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch von mir zunächst ein Wort des Mitgefühls und des
Wunsches auf baldige, vollständige Genesung derer, die
gestern bei dem schlimmen Anschlag verwundet worden
sind.
({0})
Vor einem Jahr hat die FDP-Bundestagsfraktion die
Ausweitung des Mandats von Kabul auf Kunduz abgelehnt. Das werden wir auch heute tun, weil keines der
Argumente, die wir hier damals vorgetragen haben, mittlerweile ausgeräumt wurde. Dieser Einsatz ist nichts
Halbes und nichts Ganzes. Er ist nicht zu Ende gedacht
und in kein internationales Konzept bzw. Netzwerk eingebettet.
({1})
Er birgt hohe Risiken in sich und bleibt für unsere Soldaten wegen der ungelösten, ja noch nicht einmal angepackten Drogenfrage eine Mission Impossible.
({2})
Schon vor einem Jahr haben wir gesagt, dass wir die
Ausweitung des Mandats auf Kunduz ablehnen, zu dem
Einsatz in Kabul aber Ja sagen. Deswegen haben wir beantragt, dass hierüber getrennt abgestimmt wird. Das hat
die Bundesregierung nicht ermöglicht. Das bedauern
wir. Aus diesem Grunde haben wir unsere unterschiedliche Meinung zu den beiden Einsatzorten heute in einer
Protokollerklärung deutlich gemacht.
In der Logik unseres Verhaltens liegt weder ein Abzug aus Kabul noch - das erst recht nicht - ein Im-StichLassen der Menschen in Afghanistan.
({3})
Die Stabilisierung der Zentralregierung in Kabul ist nach
wie vor dringend erforderlich. Die Ausweitung der
Macht der Zentralgewalt auf die Provinzen und die militärische Absicherung des Wiederaufbaus setzen ein flächendeckendes Netz regionaler Wiederaufbauteams
voraus, dessen Schaffung uns die Bundesregierung seit
18 Monaten immer wieder vorgaukelt.
({4})
Geradezu gebetsmühlenartig haben der Verteidigungs- und der Außenminister in den betreffenden Ausschüssen vorgetragen, dass in Zukunft noch einige andere Staaten ihre eigenen PRTs nach Afghanistan senden
werden. Aber nichts ist geschehen. Der von mir wirklich
sehr geschätzte NATO-Generalsekretär hat seine Reise
durch die NATO-Hauptstädte geradezu wie ein Bittsteller angetreten und darum gebeten, dass weitere PRTs gestellt werden. Aber nichts ist geschehen. Deswegen ist
der Versuch, ein solches Netzwerk herzustellen, in einem
Flop geendet. Zwar war bereits die auf dem Istanbuler
NATO-Gipfel getroffene Entscheidung, 10 000 Soldaten
zur Verfügung zu stellen, für mich nicht ausreichend.
Aber selbst diese Zahl ist bei weitem nicht erreicht worden.
({5})
Das ist eine schwere Niederlage für die deutsche Außenpolitik und eine große Blamage für die NATO.
Der Außenminister macht sich ja immer auf gönnerhafte Weise Sorgen um die vermeintlich bedrohte, gute
alte Tradition liberaler Außenpolitik. Als wir diese
Politik allerdings betrieben haben, Herr Fischer, waren
Sie davon nicht sehr begeistert; ebenso war auch Ihre
Haltung zur Bundeswehr damals noch eine völlig andere.
({6})
Aber über unsere außenpolitische Kontinuität brauchen
Sie sich keine Sorgen zu machen. Der wesentliche Punkt
ist, dass eine der Konstanten unserer Außenpolitik stets
gewesen ist, unser Handeln auf internationaler und vor
allem auf europäischer Ebene einzubetten. Wir hätten
uns mit einer unverbindlichen Absichtserklärung unserer
Freunde in der NATO niemals zufrieden gegeben.
({7})
Warum sagen uns denn die Kolleginnen und Kollegen
aus den Auswärtigen Ausschüssen anderer NATO- und
EU-Länder, dass sie nicht im Traum daran denken, sich
mit einem PRT zu beteiligen? Das tun sie, weil sie vom
Konzept nicht überzeugt sind und weil sie die Risiken
sehr hoch einschätzen.
({8})
Unsere heutige Entscheidung wäre eine andere, wenn
die Bundesregierung glaubhaft hätte darstellen können,
dass sie die Partner in EU und NATO auf ein gemeinsames PRT-Konzept einschwören kann.
({9})
Sie kann es nicht. Im Gegenteil, weitere Nationen können ihre PRTs wohl erst dann schicken, wenn die Wahlen
stattgefunden haben. Das ist in sich nicht besonders logisch.
Machen wir uns nichts vor: Der Einsatz der Bundeswehr
in Afghanistan ist ein langfristiger Einsatz. Wir reden dabei
über sehr viele Jahre. Das sollte die Bundesregierung den
Bürgerinnen und Bürgern klar sagen. Wenn man das tut,
braucht man ein umfassendes und überzeugendes
Konzept. Hierfür fehlen drei essenzielle Elemente:
Erstens fehlen das internationale und insbesondere
das westliche Einvernehmen über das Engagement einer
sehr viel größeren Anzahl von Partnern bei den PRTs in
einer wirklichen Netzwerkstruktur.
Zweitens fehlt das abgestimmte Zusammenwirken
der Bundeswehr mit den zivilen Hilfsorganisationen.
Drittens fehlt eine überzeugende Vorstellung der internationalen Partner und der afghanischen Autoritäten
davon, wie man mit dem Drogenthema umgehen will.
Keine dieser Bedingungen kann die Bundesregierung
bzw. die Völkergemeinschaft erfüllen.
({10})
Das deutsche PRT ist neben dem britischen PRT, das
von der Terrorbekämfungsmission Enduring Freedom
nun umfirmiert wurde, und demnächst dem niederländischen sowie anderen PRTs, die zur OEF gehören, ziemlich alleine. Die Nichtregierungsorganisationen haben
nach wie vor ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Präsenz der Bundeswehr. Für einige von ihnen sind die Soldaten nützliche Idioten, wenn es gefährlich wird. Für andere gilt, dass man sie lieber auf Distanz hält oder dass
man, wie die Gesellschaft für bedrohte Völker das in einer Erklärung gestern getan hat, den Einsatz ausdrücklich als kontraproduktiv ablehnt.
({11})
Schließlich versteckt sich die Bundesregierung bei
der Drogenbekämpfung hinter den britischen Partnern,
deren Auftrag es ja ist, sich um die Drogenbekämpfung
zu kümmern. Diese werden aber weniger und nicht stärker aktiv in dieser Frage und scheinen ihr Konzept noch
einmal grundsätzlich überdenken zu müssen. Eine ernsthafte Drogenbekämpfung setzt die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Drogenbaronen und den regionalen
Machthabern voraus. Das sind die eigentlichen Machthaber dieses Landes und sie werden es vermutlich auch
noch sein, wenn sie demnächst eine parlamentarische
Basis haben. Was glauben Sie eigentlich, wer nächstes
Jahr in das Parlament gewählt wird? Die Bilder von
patrouillierenden Bundeswehrsoldaten vor blühenden
Mohnfeldern, von denen 80 Prozent des in der Welt produzierten und in Köln, Frankfurt und Rostock verkauften
Heroins kommen, werden die Glaubwürdigkeit jeder nationalen Drogenbekämpfungsstrategie auf Null bringen.
({12})
Zum Schluss ein Wort zur Bundeswehr. Die FDP lässt
sich bei ihrer Unterstützung unserer Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz von niemandem übertreffen. Dies
gilt aber auch für unsere Sorge und Fürsorge, wenn wir,
das Parlament, sie in einen gefährlichen Einsatz schicken. Dann tragen wir nämlich die Verantwortung dafür.
Deshalb ist für die FDP glasklar: Vor der Erteilung des
Mandats müssen wir uns, wie das heute hier geschieht,
streiten. Wenn das Parlament entschieden hat, werden
wir uns alle geschlossen hinter die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr stellen. Wir müssen dann unseren
Beitrag dazu leisten, dass sie das, was sie zu einer erfolgreichen Erfüllung ihres Auftrages brauchen, auch tatsächlich bekommen.
Wir erkennen die Leistungen der Bundeswehr auch
in Faizabad und in Kunduz an, Herr Bundesverteidigungsminister. Es gibt sehr viele Orte auf dieser Welt, an
denen die Bundeswehr segensreich tätig werden könnte.
Dort ist sie jedoch nicht. Wir beschränken uns dort auf
Entwicklungspolitik, leisten humanitäre Hilfe und
manchmal leider auch gar nichts, weil wir nicht alles tun
können. Das kann also nicht das Argument dafür sein,
diesen Einsatz für richtig zu halten.
({13})
Deswegen müssen wir unseren Dank für das engagierte Handeln unserer Soldatinnen und Soldaten in
Kunduz, in Faizabad und in Kabul mit einer Kritik an
der Politik der Bundesregierung verbinden, die die Soldaten in einen Einsatz schickt, den wir nicht für richtig
halten.
({14})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Afghanistan steht wenige Tage vor den ersten freien Präsidentschaftswahlen am 9. Oktober 2004. Das klingt fast wie
eine Selbstverständlichkeit. Diejenigen, die die Geschichte dieses Landes in den vergangenen drei Jahren
kennen, wissen allerdings, welche enormen Leistungen
das bedeutet. Diese Wahlen gründen auf einer Verfassung, die sich das afghanische Volk - die Vertreter aller
Glaubensrichtungen, Stämme und ethnischen Gruppen gegeben hat. Das ist eine zweite fast nicht für möglich
gehaltene Realität. Das geschieht jetzt im ganzen Land.
Im Süden und im Südosten gibt es nach wie vor sehr
große Probleme in den paschtunischen Gebieten. Aber,
meine Damen und Herren von der FDP, niemand würde
Herrn Karzai heute noch als Bürgermeister von Kabul
bezeichnen. Auch das ist ein gewaltiger Fortschritt.
({0})
Vor drei Jahren wurde der Petersberg-Prozess auf den
Weg gebracht. Sie sprechen immer von dem „Konzept“.
Ich kann nur sagen: Lest das „Konzept“ doch nach!
Das Petersberg-Konzept, das damals unter der Leitung von Lakhdar Brahimi, dem Sondergesandten der
Vereinten Nationen, mit den Vertretern der afghanischen
Demokratie beschlossen wurde, unterstützt von der internationalen Staatengemeinschaft, wurde Stufe für
Stufe auch dank der Sicherheitsfunktion umgesetzt, die
unsere und verbündete Soldaten dabei geleistet haben,
und zwar mit hohem Risiko und leider auch mit Opfern.
({1})
Die Umsetzung dieses Konzeptes kommt jetzt mit
den Wahlen in eine entscheidende Phase. Der erste
Schritt sind die Präsidentschaftswahlen. Der zweite
Schritt - auch dieser ist alles andere als einfach zu erreichen; ich bin aber sicher, dass er wie alle anderen
Schritte umgesetzt wird - sind die Parlamentswahlen.
Genau das ist der Inhalt des Petersberg-Konzepts. Wir
haben die Berlin-Konferenz einberufen, weil klar ist,
dass mit den Wahlen der Wiederaufbau und die Stabilisierung noch nicht abgeschlossen sind.
Meine Damen und Herren von der FDP, ich nehme
Ihre Argumente sehr ernst; ich habe sorgfältig zugehört.
Aber die Behauptung, dass es kein Konzept für die Wiederaufbauteams geben würde, ist spätestens seit dem Beschluss der NATO in Istanbul falsch.
({2})
- Ich nehme Ihr Argument auf, dass es noch nicht umgesetzt wurde. Dieses Problem der Schaffung zusätzlicher
Truppen in Form von Verstärkungen, der Force Generation, bezieht sich nicht nur auf die PRTs. Das Drogenproblem, das Problem der Truppenverstärkung und des
größeren Engagements und all das, was Sie aufgeführt
haben, gelten selbstverständlich auch für Kabul. Das
verstehe ich bei Ihrer Argumentation nicht, meine Damen und Herren von der FDP.
({3})
Es ist doch nicht so, dass in Kabul keine Warlords
oder Dorgenbarone tätig wären, die für die Zustände verantwortlich sind, die wir Schritt für Schritt überwinden
wollen, nämlich die Parzellierung des Landes und die
Privatarmeen. All das gilt für Kabul ganz genauso. Sie
können doch nicht bestreiten - ein Besuch in Kunduz
macht das sofort und unmittelbar klar, das ist aber auch
in Masar-i-Scharif und anderen Städten der Fall; lassen
Sie sich das vom Bundesaußenminister mit drei Beamten
in Herat mitteilen -, dass es wichtig ist, dort ein kleines
amerikanisches PRT vor Ort zu haben. Wenn unsere Diplomaten verschiedene Male in Schwierigkeiten waren,
so konnten sie sich letztendlich auf die vorzügliche Zusammenarbeit mit unseren amerikanischen Bündnispartnern verlassen. Es ist einfach nicht richtig, wenn Sie behaupten, dass die PRTs nichts bringen würden, sondern
sie haben ganz entscheidend dazu beigetragen, dass
Karzai heute eben nicht mehr nur Bürgermeister von Kabul ist, sondern sein Einfluss weit darüber hinausgeht.
({4})
Sie müssen doch die Entwicklungen in Herat und anderen Städten zur Kenntnis nehmen.
Ich akzeptiere zwar Ihre Entscheidung. Aber wenn
ich Ihre Argumente von der Sache her prüfe - das ist
keine parteipolitische Prüfung -, halte ich sie im Lichte
der Realität, mit der wir es zu tun haben, für nicht belastbar.
({5})
Es ist ganz entscheidend, dass wir diesen Prozess jetzt
voranbringen. Wir werden über den Abschluss des Petersberg-Prozesses hinaus nach den Wahlen präsent bleiben müssen. Auf die Drogenproblematik gehe ich
gerne noch einmal ein. Kollege Pflüger, mit Blick auf
die Debatte von vor einem Jahr warne ich vor Illusionen,
muss aber gleich zu Beginn nochmals den Vorwurf zurückweisen, dass unsere britischen Freunde nicht aktiv
und engagiert tätig wären. Klar ist auch: Wir können
Fehler, wie sie etwa in Lateinamerika im so genannten
Krieg gegen die Drogen gemacht wurden, nicht einfach
blind wiederholen. Es ist ja nicht so, dass dies eine Erfolgsstrategie wäre.
Wir müssen - dieses Konzept steht dahinter - mit
dem Polizeiaufbau weiterkommen. Der Polizeiaufbau
- das ist ein weiteres Element der Provincial Reconstruction Teams - muss auch in den Provinzen verstärkt werden. Gerade in den Provinzen kommt es entscheidend darauf an, nicht nur den Aufbau der Polizei
voranzutreiben, sondern auch die notwendigen Qualifikationen zu vermitteln. Hier wird eine enge Kooperation
zwischen uns und Großbritannien von großer Bedeutung
sein. Wir sind für den Polizeiaufbau zuständig und die
Briten für die Drogenbekämpfung. Das muss in der Qualifizierung afghanischer Polizisten zusammengeführt
werden, die aus vielerlei Gründen die Hauptarbeit bei
der Drogenbekämpfung zu leisten haben.
Ein zweites Element sind die ökonomischen Alternativen. Machen wir uns doch nichts vor: Viele Familien
sind vom Anbau von Schlafmohn finanziell abhängig.
Sie werden daran festhalten, wenn die Alternative
schlicht und einfach darin besteht, ansonsten kein Auskommen mehr für die Familie und damit keine Perspektive zu haben. Diese Erfahrung wird nicht nur in Afghanistan gemacht. Deswegen sind ökonomische
Alternativen wie die Entwicklung einer legalen Ökonomie und einer Lebensperspektive für diese Menschen
von entscheidender Bedeutung. Dies ist das zweite Element.
Das dritte Element ist das Ausgreifen der Zentralgewalt. Selbstverständlich bedarf es auch hier einer entsprechenden Transparenz und Kontrolle durch die internationale Staatengemeinschaft.
Das vierte Element ist die internationale Kooperation
der Anrainerländer und der Länder, durch die der Drogenhandel tatsächlich geführt wird.
Diese vier Elemente, Kollege Pflüger, stehen für uns
im Vordergrund. Ich nehme an, auch Sie haben nicht gemeint, dass wir hier kurzfristig Erfolge erzielen können.
Ich wollte nur nochmals unterstreichen, dass es hier am
Engagement nicht fehlen wird.
({6})
- Ich meine das nicht kritisch, ich wollte es nur nochmals unterstreichen.
Wenn man diese vier Elemente zusammen betrachtet,
meine Damen und Herren, wird doch klar, dass gerade
die Soldaten der Bundeswehr in diesem gefahrvollen
Einsatz herausragende Leistungen erbracht haben. Ich
möchte aber auch die Entwicklungshelferinnen und -helfer und unsere Diplomaten hier nicht vergessen, die
ebenfalls eine gefährliche und unverzichtbare Arbeit geleistet haben und in Zukunft leisten werden.
({7})
In der jetzigen entscheidenden Phase der Umsetzung
dieses Konzeptes und bei allen Schwierigkeiten geht es
mir, wenn ich auf Afghanistan schaue, jedes Mal so: Blicke ich voraus, sehe ich, so könnte man fast sagen, ein
Gebirge von Problemen, das fast nicht zu überwinden zu
sein scheint. Blicke ich jedoch zurück auf die erste Petersberg-Konferenz, sehe ich beeindruckende Fortschritte.
Die Kürze der Zeit lässt es nicht zu, alle erfolgreichen
Projekte aufzuzählen. Ich nenne als Beispiele nur die
Schulprojekte und die Reintegration von Frauen und
Mädchen.
Alle diese Erfolge waren nur möglich, weil wir uns
engagiert haben. Wir kommen nun in die entscheidende
Phase, die gefahrvoll sein wird, weil der Terrorismus genau jetzt versuchen wird, eine demokratische Legitimation zu verhindern. Aber wir müssen dennoch eines feststellen: Die Tatsache, dass sich über 10 Millionen
Afghaninnen und Afghanen haben registrieren lassen, ist
ein beeindruckendes Votum für die demokratische Erneuerung dieses Landes.
({8})
Dafür stehen wir ein, meine Damen und Herren. Dafür
stehen unsere Soldaten ein. Deshalb bitte ich Sie um Ihr
Vertrauen für ein weiteres Jahr und um Unterstützung für
den Antrag der Bundesregierung.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man, wie einige von uns, am Sonntag zusammen
mit dem Minister ein Briefing in dem Gebäude angehört
hat, das gestern Abend beschossen worden ist, und wenn
man weiß, dass dabei deutsche Soldaten und ein Schweizer Soldat zu Schaden gekommen sind, wird man ein
Stück nachdenklich. Die Nachdenklichkeit tut uns allen
gut, gerade vor solch einer Entscheidung. So können wir
zeitnah, sozusagen mittelbar betroffen und mitfühlend
mit denen, die unmittelbar betroffen sind, reflektieren,
ob der Weg, den wir gehen, richtig ist. Dann kommt man
sehr schnell zur Frage nach der Verantwortung. Über
welche Verantwortung reden wir hier? Wir reden als Abgeordnete des Deutschen Bundestages über die Verantwortung, die unsere Verfassung uns gibt. Wir reden über
die Verantwortung, ob wir dem Parlamentsheer Bundeswehr für einen Einsatz, der nicht vom Parlament - dazu
sind wir nicht in der Lage und das wollen wir auch gar
nicht sein -, sondern von der Regierung ausgearbeitet
und konzipiert wird, ein politisches Ja geben oder ob wir
die politische Grundlinie infrage stellen.
Zur politischen Grundlinie ist hier bereits einiges gesagt worden. Der Kollege Pflüger hat ausführlich auf
den Grund für den Einsatz in Afghanistan hingewiesen:
Wir wollen vermeiden, dass der Terror in unser Land
kommt, und ihn deshalb dort bekämpfen. Über diese politische Grundlinie haben wir heute mit zu entscheiden.
Gerade für jemanden, der in der Verteidigungspolitik engagiert ist, liegt es nahe zu sagen: Wir müssten über
mehr reden. Einige Kollegen, so auch der Kollege Hoyer
von der FDP, haben diese Fragen nach dem Einsatz
selbst schon angesprochen.
Nun kann ich mir auch vorstellen, dass man Fragen
zum konkreten Einsatz stellen kann. Natürlich sind Faizabad betreffend Fragezeichen angebracht. Wir müssen
davon ausgehen können, dass die Sicherheit unserer Soldaten optimal gewährleistet ist. Ein Wort dazu: Selbstverständlich wird es nicht möglich sein, einen absoluten
Schutz für Soldaten sicherzustellen. Das bringen der
Dienst und der Beruf mit sich, so wie es bei der Polizei
und bei Katastrophenschutzorganisationen, aber auch bei
Diplomaten der Fall ist. Nur, wenn dieser Dienst, den
Soldaten tun, so gefährlich ist, dann haben sie einen Anspruch darauf, dass die vermeidbaren Risiken vermieden
werden. Die Bundesregierung und die militärische Führung haben uns gesagt, dass das getan werde. Wir nehmen das zur Kenntnis. Wir können das nicht im Detail
bewerten, genauso wenig, wie ich im Detail bewerten
kann, ob ein PRT in Kunduz mit 110 oder besser mit
200 Soldaten ausgestattet sein sollte. Wir nehmen nur
zur Kenntnis, dass der Verteidigungsminister sich selbst
diese Frage gestellt und sie damit in die politische Debatte gebracht hat. Dann können wir auch erwarten, dass
wir hierauf eine Antwort erhalten und - wenn es notwendig ist - einen entsprechenden Antrag vorgelegt bekommen.
Die politische Grundentscheidung, die wir heute zu
treffen haben, betrifft die Verantwortung. Die Ausführungsentscheidung bleibt bei der Regierung und bei denen, die Verantwortung tragen. Dazu wünschen wir Ihnen aus der Sicht der Soldaten viel Glück. Allerdings
sagen wir auch, was die politische Grundentscheidung
betrifft: Wir müssen erwarten können, dass die Art und
Weise der Auftragsausführung erfolgsorientiert ist.
Das Drogenproblem ist angesprochen worden. Es
drückt uns nicht nur hier in unseren Städten schwer genug. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Staat ein Stück
weit zu stabilisieren und zu verhindern, dass dessen Repräsentanten vom Drogenhandel profitieren, also die
Finger derer, die dort agieren, klebrig sind, dann haben
wir verloren. Deswegen muss auf die Drogenbekämpfung großer Wert gelegt werden.
({0})
Herr Bundesaußenminister, wir wissen alle, dass Drogenbekämpfung nicht dadurch erfolgen kann, dass man
einfach einen Hebel umlegt. Drogenbekämpfung ist eine
langwierige Aufgabe. Aber die Erfahrung in allen Drogenproduktionsländern zeigt uns, dass das Geld, das bei
den Drogen produzierenden Bauern ankommt, nicht die
Masse ist. Wenn wir das Geld, das in das Land fließt,
einsetzen würden, um Entwicklungsprogramme für die
Drogen produzierenden Bauern aufzulegen, dann würde
Christian Schmidt ({1})
sich die Einkommenssituation der Betroffenen sehr
schnell verändern. Man muss oben beginnen.
Ich habe den Eindruck - darüber bin ich sehr froh -,
dass ein gewisser Erfolg bei der Stabilisierung Afghanistans erzielt worden ist. Es trifft in der Tat nicht mehr zu,
dass Herr Karzai nur der Bürgermeister von Kabul ist.
Wir stellen fest, dass der Einfluss der Zentralregierung
auf die Provinzen größer geworden ist. Ich halte das als
erfreulichen Tatbestand fest. Nur so kann es uns gelingen, auf längere Sicht zu stabilisieren.
({2})
Unsere Soldaten sind aber auch in einer Situation, in
der sie wissen müssen, dass die Verbündeten da sind. Ich
glaube, wir werden im nächsten Jahr Fragen stellen müssen. Kollege Pflüger hat das angesprochen. Wie geht es
mit einer engeren Abstimmung zwischen ISAF, also dem
Mandat, in dessen Rahmen die Bundeswehr agiert, und
OEF voran, der wirklichen Antiterrorbekämpfung, mit
der angefangen wurde?
Wie kann das verknüpft werden? Was ist mit der Stabilität der Nachbarländer und deren Einflussnahme auf
Afghanistan?
Wie können wir unseren Soldaten, denen wir alles
Soldatenglück, viel Erfolg und Gesundheit wünschen,
nicht nur vermitteln, dass ihr Einsatz sinnvoll ist, sondern auch, dass sie nicht alleine sind? Die Sorge, dass
sich Teile der NATO nicht beteiligen, ist noch nicht ausgeräumt. Das wird auch hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der NATO eine Rolle spielen. Insofern erwarten
wir, dass unsere Regierung an diesem Thema intensiv arbeitet.
Ansonsten bleibt uns zu hoffen, dass das, was gestern
passiert ist, eine Ausnahme bleibt. Allerdings werden
wir alle erkennen müssen, dass nicht auszuschließen ist,
dass sich so etwas wiederholt. Über die Details der Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen werden wir in den Ausschüssen zu reden haben. Dies werden wir sehr ernst
nehmen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bei
meinem Besuch in Faizabad und Kunduz am vergangenen
Wochenende haben sich mir zwei Bilder besonders eingeprägt. Bei dem einen Bild denke ich an die Soldaten, die in
den beiden Lagern mitten in der Stadt mit großem Engagement und großer Motivation ihrer Arbeit nachgehen. In den Gesprächen mit ihnen wurde klar, dass sie
die Gefahren, denen sie dort ausgesetzt werden, nicht
verdrängen. Sie nehmen die Risiken durchaus wahr. Ich
habe eher den Eindruck, dass in der deutschen Gesellschaft manchmal gern darüber hinweggesehen wird. Die
Soldaten wissen aber, dass ihre Arbeit gefährlich ist.
Ich hätte eine Bitte, Herr Hoyer. Man sollte zur Beurteilung dessen, was für die Sicherheit der Soldaten notwendig ist, nicht den Rat von Journalisten einholen. Bei
manchen von ihnen habe ich den Eindruck, dass sie gar
nicht mehr reisen müssen, weil sie schon vorher alles
wissen.
({0})
Ich ziehe es vor, den Rat der Soldatinnen und Soldaten einzuholen. Diese müssen selbst beurteilen, was sie
zu ihrer Sicherheit brauchen. Dies muss von politischer
Seite zur Verfügung gestellt werden. Sie können sich
darauf verlassen, dass wir das tun. Aber wir lernen täglich neu und schmerzhaft, dass es keinen absoluten
Schutz vor den so genannten asymmetrischen Bedrohungen - also vor Terroristen - gibt.
Unsere Gedanken sind am heutigen Tag bei den verletzten schweizerischen und deutschen Soldaten, denen
auch wir eine gute Genesung wünschen.
({1})
Eines ist in den vergangenen Stunden sehr deutlich
geworden, nämlich dass die Deutschen großen Wert auf
eine optimale Sanitätsversorgung im Einsatz legen. Es
ist ein entscheidender Schlüssel für die Motivation und
Akzeptanz der Soldaten, dass sie, wenn etwas passiert,
im Einsatzgebiet operiert und behandelt und innerhalb
von Stunden zu einer deutschen Universitätsklinik ausgeflogen werden. Das zu wissen ist für sie sehr wichtig.
({2})
Als zweites Bild habe ich die vielen Kinder in Erinnerung, die entlang der Straßen zu sehen waren, als wir
durch die Stadt gefahren sind. Diese Kinder, die erkennbar an Mangelernährung leiden, empfangen die deutschen Soldaten mit einer unglaublichen Freundlichkeit.
Ebenso wie die Erwachsenen winken und lachen sie.
Was die Kinder zeigen, spiegelt das wider, was in den
Familien besprochen wird, nämlich dass die Soldaten
dafür sorgen, dass nach 25 Jahren Elend und Krieg in
diesem Land der Prozess zur Nationenbildung und Stabilität unumkehrbar wird. Es ist sichtbar und spürbar, dass
sie mit den Soldaten Hoffnung verbinden.
({3})
Ich glaube, wir sollten noch einmal deutlich machen,
was die Soldaten bei den PRTs tatsächlich tun. Sie nehmen Transmissionsaufgaben für die Zentralregierung
wahr und unterstützen die Bildung von Netzwerken mit
allen Akteuren in der Stadt, ob staatliche und nicht staatliche. Wie wir gehört haben, funktioniert dies sehr gut.
Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung leistet einen Beitrag, der
den Menschen eine Zukunft bietet. Dazu zählt die Perspektive, dass im nächsten Jahr 80 Prozent der Haushalte
in Kunduz wieder Wasser haben werden. Die BehaupRainer Arnold
tung, die Deutschen leisteten keinen Beitrag gegen den
Drogenkampf, ist absurd. Wer die Drogen bekämpfen
will, muss sicherlich auch militärisch robust und hart
auftreten. Das ist bei den Briten der Fall und das muss
auch die afghanische Polizei tun. Wer den Drogenanbau
aber nachhaltig bekämpfen will, der muss den dort lebenden Menschen ökonomische Perspektiven geben.
Wenn das BMZ eine Zuckerfabrik aufbaut und Saatgut
an die Bauern verteilt, dann ist das also ein zentraler Bestandteil im Kampf gegen den Drogenanbau in Afghanistan.
({4})
Das PRT soll des Weiteren die Wahlen absichern.
Das sind die Aufgaben. Die Aufgabe ist nicht, durch
massive militärische Präsenz in der Fläche Stabilität zu
erzeugen. Afghanistan ist schließlich ein souveräner
Staat und kein Protektorat. Wir haben dort eine unterstützende und keine lenkende Funktion.
An die Adresse der Kollegen von der FDP gerichtet:
Die PRTs sind keine deutsche Idee gewesen. Sie gehen
vielmehr auf einen Beschluss der NATO zurück. Die
UNO hat wiederum beschlossen, das Mandat von Kabul
auf die Provinzen auszudehnen. Ich finde es sehr bedauerlich und traurig, dass sich eine Partei mit Ihrer außenpolitischen Tradition von einem gemeinsamen Beschluss
der Völkergemeinschaft auf diese Art und Weise verabschiedet.
({5})
Wir stimmen der Fortsetzung des Einsatzes der Bundeswehr in Kabul, Faizabad und Kunduz aus zwei Gründen zu. Der erste Grund ist: Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung. Es ist richtig, was der
Außenminister gesagt hat. Die Deutschen haben auf der
Konferenz auf dem Petersberg wichtige Impulse für den
politischen Prozess gegeben. Wer dies tut, wird auch daran gemessen, ob er bereit ist, an der praktischen Implementierung und der Umsetzung vor Ort mitzuhelfen,
auch wenn dafür große finanzielle und menschliche Anstrengungen notwendig sind.
Der zweite Grund ist - ganz nüchtern betrachtet -:
Wir engagieren uns dort auch aus europäischem und insbesondere deutschem Interesse. Die Menschen in
Deutschland wollen nicht mehr zusehen, dass Afghanistan wieder ein Zufluchtsort für die Ausbildung von Terroristen wird, die uns dann in Europa bedrohen. Deshalb
liegt es in unserem Interesse, dass der jetzt in Gang gesetzte Prozess in Afghanistan unumkehrbar bleibt.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
drei Jahren wird in schlechter Regelmäßigkeit das militärische Mandat der Bundeswehr für Afghanistan verlängert und erweitert. Anfangs war das noch ein brisanter
Vorgang. Aber inzwischen scheint das für Rot-Grün und
auch für die CDU/CSU kaum noch der Rede wert zu
sein, im Gegensatz zur PDS im Bundestag.
({0})
Wir haben den Kriegseinsatz am Hindukusch stets abgelehnt und wir werden auch dieses Mal Nein sagen.
Nun habe ich die Bundesregierung am 17. September
dieses Jahres gefragt, wie viele militärische Auseinandersetzungen, Überfälle und Angriffe es in Afghanistan
bisher im Jahr 2004 gegeben hat. Die erste Reaktion lautete, die vorgegebene Frist für die Beantwortung meiner
Frage könne leider nicht eingehalten werden. Nachdem
ich gemäß der Geschäftsordnung des Bundestages weiter
auf eine Antwort vor der heutigen Abstimmung gedrängt
hatte, bekam ich dann doch noch eine. Ich zitiere:
Kräfte der Anti-Terror-Koalition sind nach hiesigem Kenntnisstand von Januar 2004 bis heute landesweit in ca. 460 Vorfälle - darunter kleinere
Schießereien bis mehrstündige Gefechte - … verwickelt worden.
460 Vorfälle in achteinhalb Monaten! Das sind im
Durchschnitt fast zwei Überfälle oder Angriffe täglich.
Allein diese Zahl verbietet es, den Afghanistaneinsatz
der Bundeswehr als Normalität abzuhaken.
({1})
Außerdem hat mir das Verteidigungsministerium in
seiner Antwort bestätigt: Auf den „Afghanistan-Karten
der Vereinten Nationen wird fast die Hälfte des Landes
als Gebiete mit mittlerem und höherem Risiko ausgewiesen“, also als feindliche Umgebung. Der Kollege
Nolting von der FDP meinte dieser Tage im Fernsehmagazin „Fakt“, er habe das Gefühl, die Risiken werden
von der Bundesregierung heruntergespielt, um so leichter die Zustimmung des Parlaments zu erhalten. Ich befürchte, er hat Recht. Die PDS im Bundestag hat mehrfach eine ehrliche Bestandsaufnahme gefordert - bislang
vergebens. Aber sie ist überfällig.
Schließlich will ich noch einmal daran erinnern, mit
welcher Begründung das militärische Afghanistanabenteuer begonnen wurde. Nach dem 11. September 2001
sollte Bin Laden gefangen und sollten Terrornetze zerschlagen werden. Nach über drei Jahren gehört zu einer
kritischen Bestandsaufnahme auch eine Antwort auf die
Frage, was aus diesem Vorhaben, dem angeblichen
Grund des Einsatzes der Soldaten, geworden ist.
({2})
Nunmehr wollen Sie das Bundeswehrmandat für ein
viertes Jahr beschließen. Nebenbei gesagt, das wird
310 Millionen Euro - das ist jedenfalls die offizielle
Zahl - kosten. Die PDS im Bundestag hat schon zu Beginn des Afghanistaneinsatzes gewarnt: Der Kampf gegen den Terrorismus lässt sich gewinnen; ein Krieg gegen den Terror lässt sich nicht gewinnen. Daran hat sich
bis heute nichts geändert.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
wenigen Stunden wird der junge Bundeswehrsoldat an
der Universitätsklinik in Köln sein. Wir alle hoffen sehr,
dass er bei den Ärzten genau die Versorgung finden
wird, die er braucht, damit er so schnell wie möglich
wieder gesund werden kann.
({0})
Mit diesem Vorfall hat sich gezeigt, wie manche in
Afghanistan das beurteilen, was am 9. Oktober geschehen soll: Sie verstehen unter Wahlkampf etwas ganz anderes als die Mehrheit der Menschen in Afghanistan.
Dort soll versucht werden, eine demokratische Wahl zu
verhindern. Wahlkampf heißt für sie, militärische Mittel
einzusetzen, um gegen eine demokratische Wahl zu
kämpfen. Genau das müssen wir verhindern. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum die SPD-Bundestagsfraktion Sie darum bittet, alles zu tun, dass dieser
Wahlkampf demokratisch verläuft und dass die Menschen in Afghanistan endlich selbst entscheiden können,
ob Afghanistan einen Weg in eine vernünftige, in eine
friedliche Zukunft gehen soll.
({1})
Man schaue sich an, wie sich Afghanistan entwickelt
hat. Man schaue sich den Weg an, der von den Afghanen
selbst gewählt worden ist. Er wird im nächsten Frühjahr
durch Kommunalwahlen und Nationalwahlen komplettiert werden. Solche Wahlen werden das erste Mal in der
Geschichte dieses geschundenen Landes stattfinden.
Dieses Land wurde von vielen immer nur als Opfer gesehen. Es ist von außen immer bedroht worden. Man hat
von außen versucht, sich die Rohstoffe dieses Landes
und die Produkte der Arbeit seiner Menschen - ihre Fähigkeiten sind ihr eigentlicher Schatz - anzueignen. Dieses Land wurde immer wieder fremdbestimmt.
Dieses Land hat zum ersten Mal in seiner Geschichte
die Chance, selbstbestimmt in eine eigene, demokratische, friedliche Zukunft zu gehen. Deshalb bitten wir
alle darum - auch die Mitglieder der FDP-Fraktion, die,
wenn sie sich mit der Sache im Detail befassten, nicht zu
ihrer, wie ich finde, falschen Entscheidung kämen -,
({2})
dafür zu sorgen, dass Afghanistan auf seinem Weg voranschreiten kann.
Das geht nur, wenn der Deutsche Bundestag dem Antrag der Bundesregierung jetzt zustimmt. Unsere Verantwortung als demokratisch gewähltes Parlament besteht
darin, mitzuhelfen, dass andere Demokratien in dieser
Welt eine Chance haben, endlich das zu verwirklichen,
was von den Menschen schon jahrzehntelang gefordert
wird, nämlich den ersten Schritt in die Demokratie zu
gehen. Am 9. Oktober werden in Afghanistan Präsidentschaftswahlen und im Frühjahr 2005 Parlamentswahlen
abgehalten. Wir erwarten von allen, besonders von der
FDP, dass sie diesem Weg zustimmen. Die SPD-Fraktion
bittet darum.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, auch dem
letzten Redner in dieser Aussprache noch Gehör zu
schenken.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum
Antrag der Bundesregierung entspringt auch in diesem
Jahr nicht einem Automatismus, sondern wir sind zu dieser Haltung nach einer sorgfältigen Abwägung gekommen. Wir sehen natürlich die nach wie vor bestehenden
und sich zum Teil in jüngster Zeit leider sogar zuspitzenden Probleme in Afghanistan: Die zunehmenden terroristischen Anschläge, denen auch in diesen Stunden
wieder Soldaten zum Opfer gefallen sind, die Rekordergebnisse bei Drogenanbau und -ernte sowie die nach wie
vor problematische humanitäre und Menschenrechtslage
in weiten Teilen des Landes sind angesprochen worden.
Die entscheidende Frage, über die wir heute zu entscheiden haben, lautet ja nicht, ob in Afghanistan schon
alles in Ordnung oder jedenfalls auf gutem Wege ist. Vorausgesetzt, dass für jeden verantwortungsvollen Politiker seit dem 11. September 2001 klar ist, dass wir ein
Eigeninteresse an der positiven Entwicklung Afghanistans haben, lautet die entscheidende Frage vielmehr:
Wird sich die Entwicklung in Afghanistan besser vollziehen, wenn unsere Soldaten im Land bleiben oder
wenn wir uns zurückziehen? Es ist für uns nicht erkennbar, wie die Probleme auch nur ansatzweise dadurch gelöst würden, dass sich deutsche Soldaten zurückziehen.
Wir bedauern es sehr, dass es der Bundesregierung
bisher nicht gelungen ist, noch mehr Partnerstaaten
dazu zu bewegen, sich an PRTs zu beteiligen. In Richtung auf die FDP-Kollegen sage ich in diesem Zusammenhang aber auch: Wenn man das Konzept für richtig
hält und nur bedauert, dass nicht mehr mitmachen, ist es
doch völlig falsch, die Konsequenz zu ziehen, wir maDr. Ralf Brauksiepe
chen das, was wir für richtig halten, in Zukunft nicht
mehr.
({0})
Zumal vor dem Hintergrund der nun anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wäre es, wie ich
denke, das völlig falsche Signal, zu diesem Zeitpunkt
den Einsatz abzubrechen. Auch angesichts der Terroranschläge dieser Tage kann unsere Antwort nur lauten: Wir
weichen nicht dem Terror, wir lassen die Menschen
Afghanistans in dieser Situation nicht allein, sondern
stehen zu ihnen.
({1})
Dessen ungeachtet muss auch erwähnt werden, dass
wir mit der Ausweitung des PRT-Konzeptes auf Faizabad sehr wohl Probleme haben. Dabei geht es nicht in
erster Linie um die formaljuristische Frage, wie weit dieser Einsatz bisher durch das Mandat gedeckt war. Die
Beratungen im entwicklungspolitischen Fachausschuss
wie auch unsere fraktionsinternen Beratungen haben
vielmehr unsere Bedenken, was die Sicherheit unserer
Soldaten angeht, eher bestärkt als widerlegt. Wahr ist
aber auch: Wir müssen uns hier auf das Urteil der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr verlassen können.
Wir können allerdings nicht akzeptieren, dass in der
Bundesregierung offenbar nach wie vor ein Gegeneinander von BMZ und dem Rest der Bundesregierung
herrscht. Das ist für uns nicht zu akzeptieren.
({2})
Der eigentliche Sinn des PRT-Konzeptes besteht ja gerade darin, den zivilen Wiederaufbau militärisch abzusichern. Wo immer dieser zivile Wiederaufbau nicht stattfindet, wird auch die militärische Absicherung ad
absurdum geführt. Deswegen ist es unverantwortlich
und darüber hinaus auch sachlich falsch, wenn die Entwicklungshilfeministerin unter Bezugnahme auf die Entscheidung der Bundeswehr, nach Faizabad zu gehen,
zunächst erklärt, sie habe für Entwicklungshilfemaßnahmen in Faizabad kein Geld. Das stimmt nicht.
Afghanistan ist auch nicht der Ort, um partei- und regierungsinterne Scharmützel auszutragen. Wenn wir
gute Ausübung der Regierungsgewalt von anderen fordern, müssen wir bei uns selber anfangen. In einer guten
Regierung - das gilt auch für unsere - muss Teamgeist
zwischen den beteiligten Ministerien herrschen. Deshalb
fordern wir die Leitung des BMZ auf, endlich das Misstrauen gegen die von eigenen Parteifreunden geführte
Bundeswehr zu überwinden und der eigenen Verantwortung in Afghanistan gerecht zu werden.
({3})
Wir haben unsere konkreten Forderungen in einem Antrag klar zum Ausdruck gebracht. Ich will hier nur noch
einmal auf die Drogenproblematik zu sprechen kommen. Der Umstand, dass etwa die Hälfte des afghanischen Bruttosozialproduktes auf Drogenanbau und -handel basiert, darf uns alle nicht ruhen lassen. Wir können
uns auch nicht auf den Hinweis zurückziehen, wir
machten die Polizeiausbildung und ansonsten seien für
die Drogenbekämpfung unsere britischen Partner zuständig. So notwendig es ist, durch unsere Entwicklungszusammenarbeit den Menschen vor Ort Einkommensalternativen zu bieten, was zu Recht angesprochen
worden ist, so notwendig ist es auch, den Druck auf die
afghanische Regierung dahin gehend zu verstärken,
dass sie einen klaren Schnitt macht und sich noch stärker als bisher von den Warlords absetzt, deren politische Basis in dem wirtschaftlichen Gewinn aus dem
Drogenhandel besteht. Man darf sich da nicht selbst etwas in die Tasche lügen und so tun, als seien die armen
Bauern das Hauptproblem. Der politische Wille, das
Drogenproblem zu lösen, muss auch bei den afghanischen Verantwortlichen in Kabul und darüber hinaus
gestärkt werden.
({4})
Es bleibt aber dabei: Auch die Stärkung des politischen Willens der afghanischen Führung ist nicht dadurch zu erreichen, dass wir uns aus Kabul, Kunduz und
Faizabad zurückziehen. Weil es aus unserer Sicht keine
Alternative zur Verlängerung des Mandates einer deutschen Beteiligung am ISAF-Einsatz gibt, stimmen wir
dem Antrag der Bundesregierung zu. Wir wünschen
allen Soldatinnen und Soldaten eine gute Heimkehr, danken den Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern für ihren couragierten Einsatz und wünschen ihnen
von Herzen auch für die Zukunft allen Erfolg.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Es liegen zahlreiche Erklärungen aus den Reihen der
CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion nach § 31 der
Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan, Drucksache
15/3826. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3710 anzunehmen. Es ist namentliche
Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. Die Kolle-
ginnen und Kollegen bitte ich, darauf zu achten, dass ihr
Name auf der Stimmkarte verzeichnet ist. Damit ist die
Abstimmung eröffnet.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der
Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung
1) Anlagen 2 bis 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.1)
Ich bitte Sie, die Plätze wieder einzunehmen oder den
Plenarsaal zu verlassen, damit wir die Abstimmungen
fortsetzen können.
({0})
- Herr Kollege Kauder, können Sie ein wenig für Ordnung sorgen, damit ich die Abstimmungen fortsetzen
kann?
Tagesordnungspunkt 5 b. Wir stimmen ab über die
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 15/3825 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Mandat für Kabul und Kunduz/
Faizabad trennen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 15/3712 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei
Enthaltung von zwei fraktionslosen Abgeordneten angenommen.
Zusatzpunkt 3. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/3801 mit dem Titel „Für ein konsequentes Engagement in Afghanistan“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Antrag ist bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion
gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen und der
fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Pläne der CDU zur Einschränkung von Arbeitnehmer- und Sozialrechten
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Ludwig Stiegler von der SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Wahljahr 2004 ist vorüber. Die CDU nimmt die Tarnkappe ab
und kommt mit dem heraus, was sie immer schon
dachte, was sie aber in all den Wahlkämpfen verschwiegen hat.
({0})
Aber ich muss sagen: Das ist nichts Schlechtes; auch
eine solche Cacata Carta hat eine gute Seite: Die Men-
schen wissen jetzt, dass Sie die Tarifautonomie zerstören
wollen. Die Menschen wissen jetzt, dass Sie die Be-
triebsverfassung zerschlagen wollen.
1) Siehe Seite 11759 D
({1})
Die Menschen wissen jetzt, dass Sie die Leute für einen
geringeren Stundenlohn länger arbeiten lassen wollen.
({2})
Das ist das wahre Gesicht einer zerrissenen Partei.
({3})
Wir haben das Merz-Gesicht. Es schaut zurück ins
vergangene Jahrhundert. Wir haben die Milbradts, die
am liebsten mit der PDS demonstrieren würden. Wir haben den Rüttgers, der sich am liebsten die Tarnkappe eines Robin Hood aufsetzen würde.
({4})
Man kann also sagen: Sie sind ein sehr bunter Haufen.
Alles und das Gegenteil von allem sind bei Ihnen vertreten.
({5})
- Ja, das ist weiß Gott ein bunt gestaltetes Volk.
({6})
Wie gesagt: Alles und das Gegenteil von allem sind bei
Ihnen vertreten.
Es kommt ab und zu die Tendenz hinzu, dass der
Schafspelz abgelegt und der schwarze Wolf sichtbar
wird. Das ist das Entscheidende.
({7})
Ihre Vorstellungen zum Kündigungsschutz bedeuten
für alle Neueinstellungen: Hire and fire! Für die allermeisten neu eingestellten Personen sehen Sie eine Probezeit von drei Jahren vor anstatt zumindest Sicherheit
für drei Jahre durch eine Befristung.
({8})
Die Arbeitnehmer werden wissen, was sie zu erwarten
haben, wenn Sie ihnen den Schutz durch Sozialpläne
nehmen. Zum Kündigungsschutz hat schon Norbert
Blüm gesagt: Der Abbau des Kündigungsschutzes bedeutet mehr Beschäftigung. Das Gegenteil davon ist eingetreten.
({9})
Sie wollen eine generelle Arbeitszeitverlängerung
ohne Lohnausgleich und erwarten davon positive Beschäftigungseffekte. Lieber Karl-Josef Laumann, ich
empfehle die Lektüre des jüngsten IAB-Kurzberichts,
Nr. 10 vom 28. Juli 2004. Dieser dürfte einem Sozialpolitiker eigentlich nicht entgangen sein. Wenn Sie ihn lesen, werden Sie lernen, dass alle Unternehmer per saldo
weniger und nicht zusätzliche Beschäftigung erwarten
und dass die Verlängerung der Arbeitszeit und die Lohnkürzung von den allermeisten negativ eingeschätzt werden. Aber das nehmen Sie nicht zur Kenntnis.
Ihr Programm führt nicht zu Wachstum. Es führt zu
Arbeit unter Verletzung der menschlichen Würde. Es
führt zu Wohlstand bei den oberen Schichten und zerstört ihn für die anderen. Es ist gut, dass die Menschen
jetzt wissen, woran sie bei Ihnen sind.
Am schlimmsten wird es, wenn Sie schreiben: Manager und Unternehmer leisten viel für unser Land. Von
den Fehlleistungen der Manager, von den Fehlleistungen
des Investmentbankings mit all seinen Folgen bis hin zur
Kreditversorgung des Mittelstands reden Sie nicht.
({10})
Die Herren, die sich als Wertsteigerer bezeichnen, haben
sich als Wertvernichter größter Art erwiesen.
({11})
Ich erinnere an Karstadt. Da fordert sogar der staatsferne Herr Brüderle: „Herr Bundeskanzler, Sie müssen
den Mist, den die Manager angestellt haben, ausräumen.“
({12})
Mein Gott, bleiben Sie doch konsequent!
Ich erinnere an die Fehlleistungen bei der Koksversorgung. Großartige Planer haben die Kokereien abgebaut und jetzt bestehen Schwierigkeiten im Hinblick auf
die Stahlversorgung.
({13})
Ich erinnere an die Fehlleistungen derer, die sich vom
Shareholder-Value haben knechten lassen, obwohl die
Betriebswirtschaft längst sieht, dass es der ShareholderValue allein nicht bringt. Es ist bezeichnend, dass Sie die
deutsche Wirtschaft zulasten der Arbeitnehmer sanieren
wollen. Fangen Sie oben an! Hier muss der Kündigungsschutz anders werden,
({14})
damit man nicht Mist bauen und sich dann mit einer hohen Abfindung in die Büsche schlagen kann.
({15})
Meine Damen und Herren, Sie haben zwei Jahre bei
Meinungsumfragen und Wahlen davon profitiert, dass
wir moderate Veränderungen vorgenommen haben. Sie
haben die Menschen lange Zeit glauben gemacht, bei
Ihnen passiere nichts. Jetzt, da die Menschen wissen,
was Sie machen wollen, schmilzt die Zustimmung wie
Schnee in der Sonne. Sagen Sie also den Menschen, was
wahr ist! Dann sind Sie wenigstens nicht mit der Wahrheit über Kreuz und wir werden dieses Land weiter ordentlich regieren.
Glück auf!
({16})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
bekannt. Abgegebene Stimmen 560. Mit Ja haben gestimmt 509, mit Nein haben gestimmt 48, Enthaltungen
drei. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebenen Stimmen: 560
davon
ja: 509
nein: 48
enthalten: 3
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Elvira Drobinski-Weiss
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Hans Eichel
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({5})
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({6})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Karl-Hermann Haack
({7})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({8})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({9})
Iris Hoffmann ({10})
Frank Hofmann ({11})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Dr. h.c. Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Heinz Köhler ({12})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({13})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({14})
Christian Müller ({15})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({16})
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({17})
Michael Roth ({18})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
({19})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({20})
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({21})
Ulla Schmidt ({22})
Silvia Schmidt ({23})
Dagmar Schmidt ({24})
Wilhelm Schmidt ({25})
Heinz Schmitt ({26})
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Brigitte Schulte ({27})
Reinhard Schultz
({28})
Swen Schulz ({29})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({30})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Reinhard Weis ({31})
Gunter Weißgerber
Prof. Gert Weisskirchen
({32})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({33})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({34})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({35})
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({36})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Prof. Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({37})
Peter H. Carstensen
({38})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({39})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({40})
Dirk Fischer ({41})
Axel E. Fischer ({42})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({43})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Dr. Peter Jahr
Prof. Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({44})
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({45})
Dr. Karl A. Lamers
({46})
Helmut Lamp
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({47})
Dr. Klaus W. Lippold
({48})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({49})
Stephan Mayer ({50})
Dr. Conny Mayer ({51})
Dr. Martin Mayer
({52})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({53})
Doris Meyer ({54})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Stefan Müller ({55})
Bernward Müller ({56})
Bernd Neumann ({57})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Dr. Peter Ramsauer
Christa Reichard ({58})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({59})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({60})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Georg Schirmbeck
Angela Schmid
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({61})
Andreas Schmidt ({62})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Christian von Stetten
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({63})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({64})
Gerald Weiß ({65})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({66})
Volker Beck ({67})
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({68})
Katrin Göring-Eckardt
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({69})
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({70})
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({71})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({72})
Werner Schulz ({73})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Margareta Wolf ({74})
FDP
Harald Leibrecht
Markus Löning
Nein
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
Renate Blank
Wolfgang Börnsen
({75})
Manfred Carstens ({76})
Herbert Frankenhauser
Klaus-Jürgen Hedrich
Norbert Schindler
Willy Wimmer ({77})
FDP
Daniel Bahr ({78})
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({79})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({80})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann
({81})
Klaus Haupt
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({82})
Eberhard Otto ({83})
Cornelia Pieper
Prof. Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Volker Wissing
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Enthalten
CDU/CSU
Susanne Jaffke
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Hans-Christian Ströbele
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Jetzt erteile ich dem nächsten Redner das Wort. Das
ist der Kollege Karl-Josef Laumann von der CDU/CSUFraktion.
({84})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, dass wir uns in diesem Hause alle
einig sind, dass der stärkste Sozialabbau, der in den letzten zwei Jahren in Deutschland passiert ist, der Abbau
von über 1 Million sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen ist.
({0})
Angesichts dessen, dass wir heute eine Debatte über einen Leitantrag der CDU führen, den die CDU bis zum
Parteitag im Dezember besprechen will, müssen wir leider feststellen, lieber Herr Kollege Stiegler, dass in den
letzten zwei Jahren jeden Tag 1 600 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen sind.
({1})
Wir leben in einer Zeit, in der jeder fünfte Mensch in
den neuen Bundesländern arbeitslos ist und in der das
Pro-Kopf-Einkommen in der Bundesrepublik Deutschland, verglichen mit den Ländern der alten EU, nur noch
in Griechenland und Portugal niedriger ist.
({2})
Deswegen finde ich es richtig, dass wir in der CDU eine
Diskussion über ein Programm führen, das darauf ausgerichtet ist, und zwar in allen Politikfeldern, für mehr Beschäftigung in Deutschland zu sorgen.
({3})
Daher lautet die große Überschrift dieses Antrages: „Sozial ist, was Beschäftigung schafft“.
({4})
Herr Kollege Stiegler, das Enttäuschende an Ihrer
Rede ist, dass Sie keinen einzigen Vorschlag gemacht
haben, wie man die Situation in Deutschland verbessern
kann.
({5})
Ich glaube, wir sind es unserem Land und der Bevölkerung schuldig,
({6})
gemeinsam darüber zu streiten, wer die besseren Ideen
hat, um mehr Beschäftigung in Deutschland zu schaffen.
Wir, die CDU, werden, beginnend mit dem Parteitag
in Düsseldorf bis zur Erstellung und Verabschiedung eines Wahlprogramms, den Menschen ein deutliches Bild
davon aufzeigen, wie wir das Land gestalten würden,
wenn wir eine gestaltende Mehrheit hätten.
({7})
Ich finde, die Menschen in Deutschland haben einen Anspruch darauf.
({8})
Ich habe in den Versammlungen die Feststellung gemacht, lieber Kollege Stiegler, dass die Leute gar nicht
wollen, dass wir über die SPD schimpfen. Sie wollen
vielmehr wissen, was wir täten, wenn wir die Möglichkeit zur Gestaltung hätten.
({9})
Deswegen werden wir es nicht so machen wie Sie. Sie
haben in Ihrem Programm zur Bundestagswahl 2002 unter der Rubrik 5, „Rechte der Arbeitnehmer“, noch geschrieben:
Der Kündigungsschutz gilt auch wieder in kleineren Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten.
Ich sage Ihnen jetzt einmal, was Sie in dieser Wahlperiode beschlossen haben: Sie haben die Zahl der Beschäftigten von fünf auf zehn erhöht.
({10})
Sie haben beschlossen, dass für Ältere ab dem
52. Lebensjahr der soziale Kündigungsschutz nicht mehr
gilt. Sie haben beschlossen, dass bei Firmen, die neu gegründet werden, in den ersten vier Jahren der soziale
Kündigungsschutz nicht mehr gilt. Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wir sagen in unserem
Programm vor der Wahl, was wir wollen. Sie haben die
Menschen nach der Wahl, zumindest von Ihrem Wahlprogramm her, belogen und betrogen.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch etwas
zum Thema Kündigungsschutz klarstellen. Sie werden
in unserem Leitantrag keinen Punkt finden, der besagt,
dass wir irgendeinem Arbeitnehmer in Deutschland, der
heute ein Kündigungsschutzrecht hat, seinen Kündigungsschutz nehmen.
({12})
Wir unterbreiten vielmehr Vorschläge, von denen wir
glauben, dass sie verstärkt und schneller zu Einstellungen führen.
({13})
Viele unserer Vorschläge haben wir bereits in den Bundestag eingebracht, zum Beispiel die Erhöhung der
Schwelle für den Kündigungsschutz auf 20 Arbeitnehmer für die Kleinbetriebe. Wir haben uns ein Bild davon
gemacht und glauben, dass die persönlichen Bindungen
dort so eng sind, dass das mehr wirkt als jedes Kündigungsschutzgesetz.
({14})
Wir sind der Meinung, dass eine Option zwischen
Abfindung und sozialem Kündigungsschutz vertretbar
ist, vor allem wenn man bedenkt, dass weit mehr als
90 Prozent aller Arbeitsgerichtsurteile mit Abfindungen
enden. Ich glaube auch, dass der Vorschlag, den sozialen
Kündigungsschutz bei Neueinstellungen erst nach drei
Jahren greifen zu lassen, eine Überlegung ist, die man
mit Fug und Recht anstellen und zu der man auch stehen
kann. Denn unser Ziel ist nicht, dass die Betroffenen keinen Kündigungsschutz bekommen; vielmehr ist unser
Ziel, dass Personen eingestellt werden und nach Ablauf
der Frist in eine dauerhafte Beschäftigung kommen und
somit Kündigungsschutz genießen.
({15})
Deswegen glaube ich, dass unser Programm sehr wohl
vertretbar ist und viel Zustimmung finden wird.
Schönen Dank.
({16})
Als nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Thea
Dückert vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Laumann, natürlich haben
wir und die Bevölkerung einen Anspruch und ein Recht
darauf, endlich zu erfahren, welches Programm für
Deutschland Sie vorschlagen. In dem Zusammenhang
bedanke ich mich bei der SPD-Fraktion dafür, dass es
uns über die Homepage der SPD-Fraktion überhaupt gelungen ist, an den Text Ihres wunderbaren Antrages
heranzukommen.
({0})
Sie scheinen ihn verheimlichen zu wollen, Herr
Laumann, und ich kann das gut verstehen.
Heute Morgen habe ich schon mitbekommen, dass es
einige Absetzbewegungen in Bezug auf Ihre eigenen
Vorschläge gibt. Das ist ja nichts Neues; das gibt es ja,
schon nach kurzer Zeit, immer wieder. Aber dass Ihre eigene Parteivorsitzende offenbar von dem ablenken will,
was Sie in dem Antrag vorgeschlagen haben, stimmt
dann doch bedenklich. Ich habe heute Morgen gelesen,
dass Frau Merkel meint, dass Sie in den Augen der Wählerinnen und Wähler besser dastehen würden, wenn es
Ihnen gelingen würde, den Eindruck zu erwecken, dass
Sie alle bei fröhlichem Miteinander zusammen sind.
({1})
Ich glaube, dass das angesichts des Programms, das Sie
in Ihrem Leitantrag vorschlagen, wahrscheinlich auch
die einzige Möglichkeit ist, überhaupt noch Menschen
zu gewinnen.
In diesem Antrag gibt es zwei zentrale Elemente, Herr
Laumann: zum einen den Abbau der Arbeitnehmerrechte
und zum anderen den Abbau sozialer Leistungen. Das
kennzeichnet Ihren Antrag; ich werde Ihnen das zeigen.
Deswegen meinen Sie auch, dass es wichtig ist, einen
Aufruf zum fröhlichen Miteinander zu machen. Denn
mit diesen Konzepten kann man sich wirklich nicht anfreunden.
Erster Punkt: Kündigungsschutz. Sie wollen die
Schwelle bei 20 Arbeitnehmern im Betrieb ansetzen.
Das bedeutet, dass 91 Prozent der Betriebe nicht mehr
unter die Regelungen des Kündigungsschutzes fallen.
({2})
Dazu kommt, dass der Kündigungsschutz erst nach drei
Jahren greifen soll. Heute beträgt die Probezeit ein halbes Jahr. Meiner Ansicht nach, Herr Laumann, ist das
reine Schikane.
({3})
Das bedeutet, dass Menschen, die heute neu eingestellt
werden, drei Jahre in Unsicherheit gelassen werden, obwohl jeder vernünftig geführte Betrieb natürlich spätestens nach einem halben Jahr erkennen kann, ob die betreffende Arbeitskraft in den Betrieb passt und für ihn
etwas bringt. Das ist Schikane und das Ganze wird nicht
begründet, sondern einfach mit Glaubenssätzen garniert.
({4})
Herr Laumann, Sie schreiben, dass Sie hoffen, dass
das mehr Beschäftigung bringt; Herr Merz in seinem
neuesten Buch behauptet das sogar. Aber wenn Sie sich
einmal mit den in den letzten Jahren erstellten Untersuchungen, etwa der OECD, auseinander setzen würden,
würden Sie merken, dass alle aufzeigen, dass eine Einschränkung beim Kündigungsschutz nicht die Arbeitslosenquote senkt, dass sie allerdings das Einstellen und
Freisetzen, also das Hire und Fire, befördern kann. Ich
glaube, dass Sie genau dahin wollen; das passt nämlich
auch zu Ihrer Niedriglohnstrategie.
({5})
Ich komme jetzt zu dem zweiten Punkt in Ihrem Antrag, mit dem Sie zeigen, dass es eigentlich um Sozialabbau geht. Sie schlagen vor, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4 Prozent gesenkt werden
sollen. Das ist an sich löblich, weil die Lohnnebenkosten
natürlich herunter müssen. Ich wäre froh gewesen, wenn
Ihnen das in den 90er-Jahren eingefallen wäre,
({6})
in denen aufgrund Ihrer Politik die Lohnnebenkosten um
über 8 Prozent gestiegen sind. Die Senkung auf 4 Prozent
bedeutete eine Einsparung in der Arbeitslosenversicherung von etwas mehr als 20 Milliarden Euro. Dies ist - so
begründen Sie es auch - exakt der Umfang des Haushalts
für die aktive Arbeitsmarktpolitik.
Das bedeutet, dass Sie, meine Damen und Herren, immer noch auf das vollständig verstaubte und unsoziale
Konzept setzen, den Menschen zwar den Transfer zu gewähren, ihnen aber keine Hilfestellung im Zusammenhang mit einem Strukturwandel zu geben, der mehr Qualifikation, Beweglichkeit und Flexibilität erfordert.
Damit können Sie keine Reha-Maßnahmen und keine
Qualifizierungsmaßnahmen für Behinderte finanzieren.
Gestern war ich zum Beispiel in einem Betrieb, der gerade in Insolvenz geht. Sie können auch keine Transfergesellschaften finanzieren, die den Belegschaften helfen,
den Anschluss zu finden und in eine andere Beschäftigung zu kommen, wenn Arbeitsplätze kaputtgehen.
Nein, Sie wollen unter dem Etikett „Lohnnebenkosten
runter“ schlichtweg alle Brücken zum ersten Arbeitsmarkt abbrechen, die wir ausgebaut und modernisiert haben. Das ist Ihre Politik.
({7})
Was dann bleibt, sehen wir auch: der Niedriglohnsektor als angeblicher Rettungsanker. Das ist ein sehr interessanter Punkt in Ihrem Konzept. Sie schwadronieren
an einer Stelle darüber, dass die Staatsquote herunter
müsse. Sie sagen der Bevölkerung aber nicht, dass der
Niedriglohnsektor flächendeckend Subventionen in
Höhe von 20 bis 30 Milliarden Euro erforderlich macht.
Frau Dückert, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Diese Subventionen bedeuten eine Erhöhung der
Staatsquote. Das sollten Sie einmal der Bevölkerung
darstellen. In diesem Zusammenhang sollten Sie auch
einmal vernünftig erklären, wieso wir mit Ländern wie
Tschechien oder Marokko in einen Billiglohnwettkampf
treten sollen und wie wir damit eine Chance im Rahmen
der künftigen europäischen Entwicklung und der Arbeitsmarktpolitik haben sollen.
({0})
Das bedeutet nämlich Ihr Konzept.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Man könnte sich fragen, was diese Aktuelle
Stunde überhaupt soll, wenn man nur ihren Titel sieht.
Die Regierungsfraktionen kommen auf die Idee, über einen noch nicht abgestimmten, in den Gremien der Partei
noch nicht einmal beratenen und auf den eigenen Internetseiten nicht abrufbaren Entwurf eines Leitantrages
eine Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag zu veranstalten.
({0})
Es spiegelt den desolaten Zustand dieser Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen wider,
({1})
dass Sie nichts Wichtigeres zu tun haben, als sich über
Antragsentwürfe, die noch nicht beraten und abgestimmt
sind, im Deutschen Bundestag zu unterhalten.
({2})
Dies ist eine klassische Diskussion der immer kleiner
werdenden so genannten Volksparteien,
({3})
die versuchen, in ihren eigenen Reihen die unterschiedlichsten Strömungen unter einen Hut zu bringen, aber
die Probleme des Landes nicht lösen können.
({4})
Die Union ist auf einem richtigen Weg, wenn der Antragsentwurf tatsächlich das beinhalten sollte, was man
über ihn hört. Ich konnte ihn noch nicht lesen, weil ich
die Internetseite der SPD nicht aufrufe.
({5})
Die SPD ist bei jeder noch so kleinen Reform in interne
Grabenkämpfe verstrickt. Sie haben es Ende letzten Jahres im Vermittlungsverfahren nach schwersten Geburtswehen hinbekommen, im Hinblick auf den Kündigungsschutz auf Punkt, Komma und Strich wortgleich den
Gesetzestext von 1998 wieder ins Gesetz zu schreiben,
dessen Abschaffung Sie 1998 als eine große Errungenschaft gefeiert haben.
({6})
Um Arbeitnehmerrechte überhaupt in Anspruch nehmen zu können, muss man doch die Menschen in diesem
Land erst einmal in die Lage versetzen, Arbeitnehmer zu
werden. Das ist doch das Problem.
({7})
Wir diskutieren in diesem Land in einer geradezu skurrilen Art und Weise über Hartz I bis IV und die Agenda
2010 mit dem Impetus, dass mit diesen notwendigen und
in die richtige Richtung gehenden Reformschrittchen das
Phänomen der Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit bekämpft werden können. In welchem Land leben wir
denn? Alles, was Sie bisher vorgeschlagen haben, kann
im besten Fall eine effizientere Vermittlung bereits vorhandener Arbeitsplätze organisieren und damit den
Suchzeitraum verkürzen, was wichtig ist und Geld spart
und was wir durchaus unterstützen. Es schafft nur keinen
neuen Arbeitsplatz, außer vielleicht bei der Bundesagentur für Arbeit,
({8})
die wegen des Murkses bei der EDV jetzt auch noch 4
000 zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befristet einstellen muss.
Um neue Arbeitsplätze zu schaffen, müssen Sie an die
Rahmenbedingungen herangehen. Zu den Rahmenbedingungen gehört zuallererst ein einfaches, vernünftiges
und transparentes Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent, wie wir es vorgeschlagen
haben.
({9})
Das gibt den Betrieben, aber auch den Privaten Luft zum
Atmen sowie Geld zum Investieren und zum Konsumieren. Das kurbelt die Wirtschaft an und schafft wiederum
Arbeitsplätze.
Sie müssen an die Rahmenbedingung des Arbeitsrechts und natürlich auch die des Kündigungsschutzes
herangehen. Gucken Sie doch einmal nach Dänemark!
Dort gibt es einen viel geringeren, besonderen Kündigungsschutz als in Deutschland. Ja, dort wird auch häufiger entlassen - das ist richtig -, aber es wird auch viel
häufiger eingestellt. Die Chance muss doch darin bestehen, überhaupt erst einmal in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Sie machen gemeinsam mit Ihren Gewerkschaftskollegen die ganze Zeit über im Höchstfall - auch
nicht wirklich - Politik für Arbeitsplatzbesitzende; aber
für diejenigen, die draußen stehen, tun Sie überhaupt
nichts.
({10})
Die Chimäre, dass Arbeitnehmerrechte mit Gewerkschaftspositionen gleichzusetzen seien, muss endlich ein
Ende haben. Das können wir uns bei fast 7 Millionen Arbeitslosen in Deutschland einfach nicht mehr leisten.
Das bedeutet, wir müssen die Mitbestimmung auf ein
solches Maß zurückfahren, dass die Betriebe wieder arbeiten können. Was haben eigentlich Gewerkschaftsfunktionäre in Aufsichtsräten von Betrieben zu tun, in
denen sie noch nie beschäftigt gewesen sind?
({11})
Wir müssen dafür sorgen, dass Betriebsräte in kleinen
Betrieben nicht schon ab fünf Mitarbeitern gewählt werden können, sondern erst ab einem Quorum von mindestens 50 Mitarbeitern bei insgesamt 200 Beschäftigten, die
dafür sind, dass überhaupt ein Betriebsrat gewählt wird.
Wir müssen dafür sorgen, dass Betriebsverfassung,
Tarifvertragsrecht und Kündigungsschutzrecht an die
Notwendigkeiten der kleinen und mittleren Betriebe angepasst werden; sie sind es, die in diesem Land Arbeitsund Ausbildungsplätze schaffen, nicht die Großbetriebe
wie Holzmann und Kaufhof oder sonst wer.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal
auf das zurückkommen, was Kollege Stiegler - wahrscheinlich, weil er die „Bild“-Zeitung nicht gelesen hat
oder nicht lesen kann - fälschlicherweise gesagt hat.
Das, was Kollege Brüderle der „Bild“-Zeitung gesagt
hat, ist völlig richtig. Dieser Kanzler sollte tunlichst gar
nichts zur Chefsache machen, weil alles das, was er zur
Chefsache gemacht hat, den Bach hinuntergegangen ist.
Eines allerdings hat er zu machen: Er hat den Rahmen
dafür zu schaffen, dass der Einzelhandel überhaupt eine
Überlebenschance hat. Das hat mit dem Kündigungsschutzgesetz, mit Ladenöffnungszeiten und mit Ökosteuer auf Stromkosten und Ähnlichem zu tun.
({12})
Wenn diese Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann
gehen Arbeitsplätze verloren.
({13})
Von daher freue ich mich, dass sich die Union auf einem richtigen Weg befindet. Ich hoffe, dass über die Positionen, über die jetzt zu diskutieren begonnen wird,
nicht wieder ein interner Streit ausbricht, wie das bei
kleiner werdenden Volksparteien manchmal der Fall ist,
und dass sie tatsächlich einmal klare Linie zeigt; denn
dieses Land braucht Verlässlichkeit insbesondere hinsichtlich der Arbeitsmarktpolitik. Nur dann, wenn wir
Verlässlichkeit schaffen, sind die Betriebe auch bereit
und bringen sie den Mut auf, die Menschen wieder in
Arbeit und Lohn zu bringen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Brandner von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Drei Tage nach den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wird bekannt, welche Einschränkungen von Arbeitnehmer- und Sozialrechten die
CDU/CSU plant. Entweder haben Sie sich vorher nicht
getraut oder Sie haben die Öffentlichkeit bewusst im Unklaren gelassen.
({0})
Um es deutlich zu sagen: Vor der Wahl lief Herr
Rüttgers noch übers Land und forderte eine Generalrevision der Arbeitsmarktgesetze. Er schlug sich auf die
Seite der angeblich Entrechteten,
({1})
denen Sie vor lauter Schutz keine Freiheit und keine
Chancen einräumen wollten. Herr Milbradt war derjenige, der Arm in Arm mit den politischen Außenseitern
gegen die Arbeitsmarktgesetze demonstrieren wollte, die
er zuvor selbst mit beschlossen hatte. Nun kommt endlich zutage, was Sie tatsächlich vorhaben und welcher
Sozialabbau Ihnen vorschwebt.
Mit der heutigen Aktuellen Stunde gibt Ihnen die
SPD-Fraktion, meine Damen und Herren von der Opposition, die Gelegenheit, hier öffentlich Stellung zu den
von Ihnen favorisierten Einschränkungen von Arbeitnehmer- und Sozialrechten zu beziehen. Diese würden
ansonsten noch lange im Verborgenen bleiben. Aus meiner Sicht hat Herr Laumann eben gerade die Chance verpasst, uns zu erläutern, welche Antworten Sie auf die
Beschäftigungskrise geben.
({2})
Mit dem Abbau von Kündigungsschutz und der Einschränkung von Tarifautonomie, mit der Abschaffung eines erfolgreichen Teilzeitgesetzes, mit der Verlängerung
der Arbeitszeit oder der Reduzierung der Betriebsverfassung haben wir noch nicht einen einzigen Arbeitsplatz
gewonnen. Wenn Sie Ihren Sozialabbau als die bessere
Idee bezeichnen, dann ist Ihnen wirklich nicht viel eingefallen.
({3})
Nein, ich will es ganz deutlich sagen: Sie haben all die
Vorschläge, die wir im Vermittlungsverfahren gemacht
haben, die sinnvoll sind und für mehr Beschäftigung sorgen können, abgelehnt. Genau diese aber möchten Sie
jetzt zu Ihren Themen machen. Lassen Sie mich nur ein
Thema ansprechen: den Zuverdienst in Beschäftigungsbereichen, in denen die Wertschöpfung gering ist. Wir
wollten die Zuverdienstgrenze für Arbeitslosengeld-IIEmpfangende anheben. Sie haben das verhindert. Ihre
Ideologie lautete: Die Menschen sollen für den Sozialhilfesatz arbeiten und dürfen nicht einen Cent hinzuverdienen. Das ist die Wahrheit.
Es muss deutlich gesagt werden: Wer einen flexiblen
Kombilohn will, der hätte die Pläne von Rot-Grün unterstützen müssen. Sie haben durch Ihre Politik dazu beigetragen, dass der Bereich der geringfügigen Beschäftigungen, für Arbeitslosengeld-II-Empfangende nicht
attraktiv wird, dass hier nicht mehr Beschäftigung entstehen wird. Aber jetzt sagen Sie, hier müsse etwas getan
werden! So verlogen ist Ihre Arbeit.
({4})
Das Gleiche trifft, was mich ärgert, auch auf das
Thema Schonvermögen zu. Jetzt tun Sie so, als hätten
Sie die Älteren mehr schonen wollen. Sie haben oberhalb der Sozialhilfesätze überhaupt kein Schonvermögen
zulassen wollen. Im Laufe des Vermittlungsverfahrens
wollten Sie dann die Kapitallebensversicherungen der
50- bis 60-Jährigen stärker schützen. Sie müssen nur einmal eins und eins zusammenzählen, was das ausgemacht
hätte. Das, was wir von vornherein gefordert und umgesetzt haben, war viel mehr. Ziehen Sie daher nicht übers
Land und behaupten Sie nicht so verlogen, dass Sie die
Älteren schützen wollten und sich gerne für sie eingesetzt hätten! Nein, Sie haben keinen Finger gerührt und
ihnen nicht geholfen. Das muss Ihnen einmal deutlich
gesagt werden.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie öffnen den Giftschrank; darin ist aber keine heilende Medizin. Sie wollen nicht gestalten, sondern verunsichern. Aber wer Verunsicherung stiftet, der sorgt letztlich dafür, dass sich die
Wirtschaft nicht positiv entwickeln kann. Das Wirtschaftsklima und der Sozialstaat brauchen Sicherheit.
Wie sollen die Menschen die Flexibilität, von der Sie reden, entwickeln, wenn sie keinen Boden unter den Füßen
haben?
({6})
Deshalb ist das Bild, das Sie, lieber Karl-Josef
Laumann, in den letzten Tagen im „Tagesspiegel“ gezeichnet haben, aus meiner Sicht nicht ausgewogen. Es
trifft nicht zu. Sie sagen, dass in Ihrem Programm Flexibilität und Sicherheit in einem ausgewogenen Verhältnis
stehen. Ja, für Flexibilität sind Sie. Allerdings entziehen
Sie den Menschen die Sicherheit. Dann kann keine
Flexibilität entstehen.
({7})
Das sehen wir beispielsweise bei Ihren Vorschlägen
zum Kündigungsschutz. Den Kündigungsschutz erst
nach drei Jahren Betriebszugehörigkeit zu ermöglichen,
gepaart damit, dass der Kündigungsschutz erst in Betrieben ab 20 Beschäftigten gilt,
({8})
bedeutet, dass mehr als 12 Millionen Menschen in
Deutschland keinen Kündigungsschutz mehr hätten und
sie somit die Möglichkeit verlieren, gegen willkürliche
Kündigungen vorzugehen.
({9})
Dazu möchte ich Ihnen ganz deutlich sagen: Ich habe
gelernt, dass im Arbeitsrecht Rechte und Pflichten vereinbart werden. Für Sie gibt es scheinbar nur Pflichten.
Dass Menschen auch Rechte und eine Würde haben, haben Sie völlig vergessen und hinten angestellt.
({10})
Nur so kann ich Herrn Kauders öffentliche Aussage
werten, die lautet: „Lieber eine Arbeitschance ohne
Kündigungsschutz als arbeitslos mit Kündigungsschutz“. Wie Sie gerade den Älteren in unserem Land
Angst machen, das halte ich für verwerflich.
Herr Kauder hat im „Frühstücksfernsehen“ gesagt,
dass es für die 55-Jährigen schwer ist, in den Arbeitsprozess zu kommen, weil der Kündigungsschutz hohe Hürden darstellt.
({11})
Sie wissen, dass die 52-Jährigen überhaupt keinen Kündigungsschutz haben, wenn sie neu eingestellt werden.
Wir haben das Befristungsgesetz so gestaltet, dass ältere
Arbeitnehmer ohne sachlichen Grund befristet eingestellt werden können. Wenn Sie wollen, dass die Beschäftigungsquote der Älteren angehoben wird, dann
helfen Sie doch endlich mit und sagen, dass wir älteren
Personen Chancen eröffnet haben! Indem Sie so tun, als
hätte sich nichts geändert, sorgen Sie dafür, dass die Arbeitslosigkeit insbesondere der Älteren zementiert wird.
Das ist nicht in Ordnung. Das muss ich Ihnen hinter die
Ohren schreiben.
({12})
Herr Brandner, Sie sind schon weit über der Zeit.
Dann lassen Sie mich meine letzte Bemerkung machen: Ich bitte sehr darum, dass die Gruppenbildung innerhalb der CDU/CSU - die einen wollen, dass es noch
härter zugeht, und die anderen, der kleine soziale Flügel,
möchte Sozialpflästerchen verteilen - endlich enttarnt
wird.
({0})
Denn im Kern haben Sie nur den Flügel, der gradlinig
Sozialabbau betreibt. Das ist nicht in Ordnung.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Wöhrl von der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Brandner, Sie haben am Schluss eine Bitte an uns
geäußert. Ich glaube, auch wir können eine Bitte äußern:
Wenn Sie hier reden, dann tun Sie das bitte den Fakten
entsprechend und erzählen Sie der Bevölkerung, die hier
und draußen vor dem Fernseher sitzt, keine Lügen.
({0})
Sie sagen, dass 12 Millionen Menschen von heute auf
morgen keinen Kündigungsschutz mehr hätten. Das ist
gelogen, weil diese Regelung nur für Neueinstellungen
und nicht für bestehende Arbeitsverhältnisse gelten
würde.
({1})
- Herr Brandner, Sie hätten heute die Chance dieser Aktuellen Stunde ergreifen und einmal darlegen sollen, was
Sie dagegen tun wollen, dass in unserem Land mehr als
4 Millionen Menschen arbeitslos sind.
({2})
Sie regieren nämlich und Sie haben den Regierungsauftrag, diesen Menschen zu helfen und sie in Arbeit zu
bringen.
({3})
Von Ihrer Seite kommt aber nichts außer einer intern
oder über die Medien geführten Diskussion zum Beispiel
über Mindestlöhne, als ob Sie die hohe Arbeitslosenzahl
damit beseitigen könnten. Das ist doch Quatsch hoch
zehn. So geben Sie keinem einzigen Arbeitssuchenden
zukünftig irgendeinen Job.
({4})
- Herr Brandner, es geht nicht darum, dass wir zu viele
Beschäftigte haben, die einfache Tätigkeiten mit geringen Löhnen ausüben und die wir durch gesetzliche
Zwangslöhne schützen müssen.
({5})
Das ist doch nicht der Punkt. So schaffen wir es doch
nicht, Menschen in Arbeit zu bringen.
Es gibt 2 Millionen Arbeitslose, die gering qualifiziert sind. Lassen Sie deshalb solche Gespensterdebatten
und bringen Sie Vorschläge, die den Menschen wieder
Hoffnung und Zuversicht geben, endlich wieder in Lohn
und Arbeit zu kommen.
({6})
Dazu brauchen wir mehr Flexibilität. Wir werden Ihnen
hundertmal ins Gebetbuch schreiben, dass wir mehr
Flexibilität brauchen, weil das der richtige Weg ist. Wir
müssen die betrieblichen Bündnisse auch gesetzlich verankern.
({7})
- Ich glaube daran und ich weiß, dass es helfen wird,
Frau Kollegin.
Der Kanzler steht hier immer noch im Wort, das er
bisher nicht erfüllt hat.
({8})
Auch eine Gewerkschaft wie Verdi muss sich an ihre eigene Nase fassen und sich fragen, warum sie bei der Beschäftigungssicherung nicht an die betroffenen Menschen denkt.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wenn
Sie ganz ehrlich zu sich selbst sind, dann wissen Sie
ganz genau, dass mit dem Vorschlag der CDU, der sich
momentan noch in der Diskussionsphase befindet, kein
Kahlschlag gegen den Kündigungsschutz geplant ist.
({10})
Das ist billigster Wahlkampf. Sie schielen auf den
Sonntag, an dem es Stichwahlen in Nordrhein-Westfalen
geben wird. Deswegen gehen Sie hier mit einer ganz billigen und populistischen Polemik nach vorne.
({11})
Ich sage Ihnen: Kein einziger der jetzt Beschäftigten
wird schlechter gestellt.
({12})
Es wäre viel besser gewesen, wenn das Thema der heutigen Aktuellen Stunde gelautet hätte: Die Politik von
Rot-Grün zur Einschränkung der Rechte von Arbeitssuchenden. Das wäre ein richtiges Thema für eine Aktuelle
Stunde.
({13})
Was machen Sie und wem schaden Sie? Sie schaden
den jungen Menschen, den Frauen, den Behinderten und
den Langzeitarbeitslosen.
({14})
Das kommt nicht von mir. Das geht aus der letzten
OECD-Analyse hervor. In ihr ist man ganz eindeutig zu
dem Schluss gekommen, dass die Bevölkerungsgruppen,
die ich eben erwähnt habe, durch einen zu rigiden Kündigungsschutz benachteiligt werden und außen vor bleiben.
({15})
- Herr Brandner, Sie sitzen mit den Arbeitsplatzbesitzern in einem Boot und lassen niemand anderen an Bord,
obwohl sie dringend an Bord müssen.
({16})
Die beste Absicherung ist ein anständiger Job. Das können Sie nicht verneinen; das wissen Sie doch auch.
({17})
Man muss doch jede Chance ergreifen, das auch durch
Gesetze zu erreichen.
Wir wollen kein Hire and Fire. Sie können hundertmal das Gegenteil sagen. Das wird immer populistischer
Schwachsinn sein.
({18})
Sicher muss man eines klar sagen: Die Wahrscheinlichkeit, in Amerika einen Job zu verlieren, ist viermal größer als in Deutschland; das stimmt und ist Fakt. Auf der
anderen Seite muss man aber auch sehen: Die Chance,
wieder einen Job zu bekommen, ist in Amerika zehnmal
höher als in Deutschland.
({19})
Da Sie um die Arbeitnehmer so besorgt sind, muss
man sich schon fragen, warum die Unternehmen nicht
einstellen. Warum ordnen sie lieber Überstunden an,
wenn es neue Aufträge gibt?
({20})
Warum wenden sie sich an Zeitarbeitsfirmen? Das muss
doch einen Grund haben. Für uns von der Union ist es
wichtig, dass Einstellungen wieder erleichtert werden.
Für uns ist der beste Arbeitnehmerschutz immer noch
({21})
die Chance für Menschen auf einen Arbeitsplatz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, wenn
Sie das nächste Mal wieder von Sozialabbau sprechen,
dann rate ich Ihnen: Kehren Sie erst einmal vor Ihrer eiDagmar Wöhrl
genen Türe, bevor Sie solche Aktuellen Stunden beantragen.
({22})
Das ist allerbilligste Polemik, was Sie machen. Sie stellen sich ohne ein eigenes Konzept hier vorne hin. Bevor
Sie dieses nicht auf den Tisch gelegt haben, erübrigt sich
alles andere.
({23})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Wöhrl, wenn Sie uns bitten, bei der Wahrheit zu bleiben,
dann bitte ich Sie, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen,
dass jedes Jahr 8 Millionen Beschäftigungsverhältnisse
neu beginnen. Wenn Sie dann für Neueinstellungen den
Kündigungsschutz aufheben, dann haben wir nach drei
Jahren 24 Millionen Menschen ohne Kündigungsschutz.
Insofern hat Herr Brandner nicht die Unwahrheit gesagt,
sondern die Wahrheit, um das einmal klarzustellen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Unionsfraktion, Angela Merkel hat Ihnen in der letzten Fraktionssitzung ins Stammbuch geschrieben, Sie müssten sich
schämen. Sie bezog das auf den Prozess Ihrer internen
politischen Willensbildung. Ich finde, man muss sich interner Diskussionen nicht schämen. Wir verfolgen das
jedoch interessiert. Schämen sollten Sie sich aber - nicht
nur manchmal, sondern ständig - für Forderungen wie
die nach Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich
oder nach der Möglichkeit der Ausdehnung der Wochenarbeitszeit auf bis zu 73 Stunden.
({1})
Das sind vollkommen unwirkliche Vorschläge, die bei
mir Erinnerungen an alte Geschichtsbücher wecken, wo
Wahlplakate aus der Kaiserzeit abgebildet waren, auf denen Arbeiter den Zwölfstundentag forderten.
({2})
Mit den Rezepten des 19. Jahrhunderts kann eine Wissensgesellschaft keinen Erfolg haben.
({3})
Hildegard Müller - das war wohl mal Ihre junge
Wilde - erklärt in der „Welt“, diese Arbeitszeiten - sie
bezieht sich ausdrücklich auf die Arbeitszeit von
73 Wochenstunden - sollten nicht die Regel sein. - Wie
gnädig! Ihre Volksvertreterin möchte keine Wochenarbeitszeit von 73 Stunden. Aber bei betrieblichen Erfordernissen sollte dann der Arbeitstag auch einmal
13 Stunden am Tag dauern, und zwar sechs Tage die Woche. Ich sage Ihnen: Sollte dieser Vorschlag Wirklichkeit
werden - Herr Rogowski hat ihn ja sofort begrüßt -,
würden wir sehr schnell erleben, wie häufig „betriebliche Erfordernisse“ entstehen würden, die solche Arbeitszeiten notwendig machen würden.
Erzählen Sie das doch den Menschen in ländlichen
Kreisen wie in Schleswig-Holstein oder den Pendlern im
Ruhrgebiet, die bis zu einer Stunde zu ihrem Arbeitsplatz brauchen. Sagen Sie den Menschen, dass sie, wenn
es nach Ihnen geht, den Schlafsack demnächst gleich mit
in den Betrieb nehmen können, weil es sich gar nicht
mehr lohnt, nach Hause zu fahren.
({4})
Sie müssen sich einmal vergegenwärtigen: Arbeitende
Menschen sind keine Nutztiere.
({5})
Nun könnte man Ihren Vorschlag für sich betrachtet
als Kuriosität, als ein ziemlich bizarres Beispiel und einen tragischen Fall von individueller Verirrung abtun.
({6})
Wenn man sich aber noch das anschaut, was in Ihrem
Programm oder in Ihrem Leitantragsentwurf steht, dann
muss man einmal die kombinierte Wirkung Ihrer gesamten Vorschläge sehen: Abschaffung des Kündigungsschutzes bei Neueinstellungen im Zusammenhang mit
der Heraufsetzung der Schwelle bis zu 20 Beschäftigte
plus Niedriglohnsektor plus Zerstörung des Flächentarifs. Diese kombinatorische Wirkung - sie ist offensichtlich beabsichtigt - wird eine Stimmungslage erzeugen,
die Angst zum ständigen Begleiter am Arbeitsplatz und
in der Arbeitswelt macht. Das wollen Sie offenbar. Ihre
Vorstellung von der Wettbewerbsgesellschaft folgt dem
Prinzip: Catch as catch can. Das kann es nicht sein.
({7})
Wenn wir genauer hinsehen, stoßen wir auf eklatante
Widersprüche. Ich zitiere aus Ihrem Entwurf zum Thema
Familienpolitik: Wir brauchen familiengerechte Jobs,
nicht aber jobgerechte Familien.
({8})
Das ist ein völlig richtiger Satz. Aber wie passt das zusammen mit der Forderung nach dem Streichen des
Rechtsanspruchs auf Teilzeit? Wie passt das zusammen
mit Arbeitszeitverlängerung? Wie passt das zusammen
mit Niedriglohnprogrammen?
({9})
Und wie passt das zusammen mit der ständigen Kritik an
unseren Programmen, mit denen wir die Betreuung von
unter Dreijährigen verbessern wollen? Das passt einfach
nicht zusammen. Das ist widersprüchlich.
({10})
Sie betreiben gesellschaftliche Verunsicherung größten Ausmaßes. Das finde ich dramatisch, gerade auch
angesichts der Tatsache, dass im Moment 100 000 Beschäftigte bei Karstadt um ihre Arbeitsplätze fürchten.
({11})
Wenige Monate nachdem wir den Kündigungsschutz
verändert haben, mit Ihnen zusammen übrigens, brauchen diese Beschäftigten alles andere als eine neue Kündigungsschutzdebatte.
({12})
Sie brauchen vielmehr einen Aufbruch mit den Instrumenten und mit den Voraussetzungen, die wir in diesem
Hause geschaffen haben. Teilweise haben wir sie mit Ihrer Hilfe geschaffen, aber die Initiative für mehr Beschäftigung geht von Rot-Grün aus. Lassen Sie sich das
ins Stammbuch schreiben, und bis Sie das eingesehen
haben, schämen Sie sich.
({13})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde, manche Vorgänge in der Union haben
durchaus ihren Reiz. Endlich, unmittelbar nach der
Kommunalwahl in NRW, lässt die CDU die Katze aus
dem Sack. Ich sage voraus: Es ist jetzt für die Leute wieder leichter zu erkennen und wieder deutlicher, wer auf
welcher Seite steht. Das war ja in den letzten Wochen
nicht immer so. Viele prominente Parteifreunde der
Union waren doch zwischen der Teilnahme an Montagsdemos und einem Erstsemester-Kolloquium über Neoliberalismus hin und her gerissen. Meine Damen und Herren von der Opposition, nicht anders kann man doch Ihr
Verhalten in den letzten Wochen kommentieren: erst eisern sich an immer schärferen Einschnitten berauschen,
um nach den ersten Widerständen mit gleicher Verve gegen sich selbst zu demonstrieren. Das haben wir erleben
können.
({0})
Man muss die schlichte Frage stellen: Wo ist denn
Herr Laurenz Meyer, der im August in einer wilden
Pressekonferenz über die angeblichen Folgen von
Hartz IV geredet hat? Wo ist er denn? Ich glaube, er ist
auch für diesen Antrag verantwortlich.
Zumindest kann nun niemand mehr sagen und Ihnen
vorhalten, Sie würden Ihre wahren Absichten verschleiern.
({1})
Nach intensiver Lektüre dieses Antrages möchte ich Ihnen nur einen Rat geben: Schaffen Sie bei allem ungestümen Reformeifer den Sozialstaat nicht aus Versehen
ab. Zum Glück ist das nur eine theoretische Überlegung,
da die Wählerinnen und Wähler Ihren Vorstellungen bestimmt nicht folgen werden.
Besonders schön finde ich, dass ausgerechnet in Düsseldorf, also im Stammland des scheinbar sozialen Vorkämpfers Rüttgers, die Maske endlich fallen soll. Hier
soll der Antrag verabschiedet werden. Ich schlage der
Union vor: Nennen Sie ihn doch „Düsseldorfer Antrag“.
Das wäre richtig schön und käme gut an.
({2})
Vielleicht wird Herr Rüttgers dann ja noch vorschlagen,
den Tagungsort zu verlegen.
({3})
Der Antrag hat es wirklich in sich. Sie formulieren die
weitestgehende Abschaffung des Kündigungsschutzes.
Sie argumentieren massiv für eine Einschränkung der
Mitbestimmung. Sie wollen die Tarifautonomie einschränken. Sie sehen Lohnsenkungen für Arbeitnehmer
vor. Sie fordern die Abschaffung des Rechtsanspruchs
auf Teilzeitarbeit. Sie kürzen die aktive Arbeitsmarktpolitik. Sie wollen Kopfpauschalen in der Krankenversicherung einführen und Sie schlagen vor, keine Lohnangleichung im Osten vorzunehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann jedem nur empfehlen: Besorgen Sie sich diesen Antrag.
Auf der Website der SPD können Sie ihn abrufen.
({4})
Anderswo war er nicht zu bekommen. Ich habe auch
versucht, ihn über die Union zu bekommen.
Zum Teil sind die Vorschläge überflüssig wie ein
Kropf. Das muss ich wirklich sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({5})
Vor kaum einem Jahr haben wir das Kündigungsschutzgesetz verändert, und bevor es wirken kann, verunsichern Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit Ihren Vorschlägen. „Überflüssig“ stimmt, aber leider
nur auf den ersten Blick. In Wirklichkeit sind solche und
andere Vorschläge schädlich, denn die Menschen verlieren das Vertrauen in die Stabilität der Rahmenbedingungen, die für ihre Entscheidungen wichtig sind. Das kann
die Entscheidung eines Arbeitnehmers sein, ein Auto zu
kaufen, das können aber auch unternehmerische Entscheidungen von größerer Tragweite sein.
Ich komme noch einmal auf das Beispiel Kündigungsschutz zurück. Kündigungsschutz setzt nicht nur
den Arbeitgebern Grenzen, er schützt auch vor Willkür
und bietet Erwartungssicherheit. Wer von uns würde sich
denn ein Auto kaufen, wenn er täglich befürchten
müsste, dass er morgen auf der Straße sitzt? Dabei ist es
doch eine Tatsache, die auch der Opposition nicht entgangen sein dürfte, dass die konjunkturelle Situation in
Deutschland derzeit sehr gespalten ist: starke Exportdynamik, schwache Binnendynamik. Wir brauchen mehr
Schwung auf dem Binnenmarkt, aber gerade diesen wird
die Union mit diesen Vorschlägen abwürgen. Ich finde,
das ist verantwortungslos, und ich fordere Sie, meine
Damen und Herren von der Opposition, auf: Hören Sie
auf, die Menschen zu verunsichern!
({6})
Ein weiteres Beispiel, das Sie nachlesen können - Sie
müssen nur Ihr Papier lesen -, ist folgendes: Sie haben
sich das vorzeitige Auslaufen der Altersteilzeit auf die
Fahnen geschrieben.
({7})
Warum wollen Sie eine ohnehin bis 2009 befristete Förderung kurzfristig abschaffen und damit die Personalplanung unzähliger Betriebe über den Haufen werfen?
({8})
Sehen so die stabilen Rahmenbedingungen aus, die einen erfolgreichen Wirtschaftsstandort Deutschland auszeichnen?
({9})
Ich glaube das nicht. Dabei ist es nicht genug, dass Ihre
Vorschläge für sich betrachtet ins Leere laufen. Ihr
74 Seiten starkes Papier ist in sich völlig inkonsistent. Es
widerspricht sich von Kapitel zu Kapitel. Ziel einer
Überlegung - das beschreiben Sie sehr schön - ist, die
Frühverrentung zu verringern. Das machen Sie sich zu
Eigen. Sie übertreiben sogar in einigen Punkten mächtig.
Ich habe das eben erwähnt. Gleichzeitig fordern Sie jetzt
aber, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes stärker an die Einzahlungsdauer gekoppelt werden soll.
({10})
Wir würden hier den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Gerade die ehemals lange Arbeitslosengeldbezugsdauer hat doch dazu geführt, dass die Betriebe massenweise ältere Arbeitnehmer in den Ruhestand geschickt
haben. Mir scheint, dass dies ein ziemlich missglückter
Versuch ist, Herrn Rüttgers mit ins Boot zu holen. Ich
kann nur konstatieren: Viele Köche verderben den Brei.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen in der Union,
Sie waren auch schon einmal weiter. Nur so lässt sich
doch erklären, dass Sie noch am 19. Dezember letzten
Jahres - ich habe das Protokoll mitgebracht - den Gesetzen zur Reform auf dem Arbeitsmarkt zugestimmt haben. Abgegebene Stimmen: 596, davon 592 mit Ja, mit
Nein ganze vier Stimmen. Alle Redner der Union, die
jetzt hier antreten, Frau Wöhrl und auch Herr Göhner
gleich noch, haben zugestimmt. Mit diesem Gesetz haben wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf
zwölf Monate festgelegt, für Ältere auf 18 Monate. Wir
haben den Kündigungsschutz verändert. Was sind eigentlich Ihre Entscheidungen für den Bürger wert, wenn
die Reformen noch nicht einmal ein Jahr wirken können
und Sie nach dem Motto handeln: Was interessiert mich
mein Geschwätz von gestern?
({11})
Übrigens - Herr Göhner, Sie können gleich darauf eingehen - war das Gesetz gar nicht zustimmungspflichtig.
({12})
Sie haben Wert darauf gelegt, das in einem Paket in den
Vermittlungsausschuss zu bringen. Wir haben den Kündigungsschutz und alles andere auch Punkt für Punkt
diskutiert. Damals waren Sie einverstanden. Übrigens,
Herr Niebel, der immer dazwischenruft und für den die
Bundesagentur für Arbeit noch einen Arbeitsplatz freihält, hat diesem Gesetz auch zugestimmt.
({13})
Das Gesetz war gar nicht zustimmungspflichtig. Das
hätten Sie gar nicht zu machen brauchen, Herr Niebel.
Sie sehen, man kann auch jeden Tag eine neue Sau
durchs Dorf jagen, immer nach der Melodie: Wer bietet
mehr? Mit dem Antrag haben Sie Ihr wirkliches sozialpolitisches Gesicht gezeigt.
({14})
Ich will Ihnen ausdrücklich sagen, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen wichtige Strukturreformen beschlossen und umgesetzt haben. Die haben wir
- das habe ich gerade gesagt - mit den Stimmen der Opposition beschlossen. Ich glaube, dass es wichtig ist,
diese Strukturreformen jetzt wirken zu lassen. Sie müssen sich jetzt erst einmal entfalten können. Ich glaube
auch, dass ihre Wirkung nicht durch wenig durchdachte
Vorschläge befördert wird, sondern dass diese zur Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger beitragen. Ich
kann Sie nur auffordern: Stellen Sie das ein und helfen
Sie mit, unser Land auf einen stabilen Kurs zu bringen!
Schönen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, wenn der Regierung nichts
mehr einfällt, dann geht sie zur Beschimpfung der Opposition über. Das kennen wir aus diesem Hause bereits.
Der Beitrag war insofern nicht sehr wichtig.
Diese ganze Aktuelle Stunde wirft ein Licht auf das
Reformverständnis der SPD.
({0})
- Sie haben wieder auf Ihre typische Art agiert, Herr
Stiegler. Sie sind in Bayern auf dem besten Wege, für die
SPD ein Wahlergebnis wie in Sachsen zu erreichen. Machen Sie ruhig weiter so!
({1})
Enttäuscht bin ich nur von dem, was Herr Brandner hier
vorgetragen hat, weil er es eigentlich besser wissen
müsste.
Während Sie 1998 den Menschen eingeredet haben,
die Reformschritte der CDU/CSU-Regierung seien unnötig und könnten ohne Schaden rückgängig gemacht
werden, versuchen Sie jetzt, den Eindruck zu erwecken,
mit den Hartz-Reformen seien unsere Probleme sozusagen gelöst. Statt in Deutschland ein Klima zu schaffen,
in dem offen und langfristig orientiert über Alternativen
gestritten werden kann, damit sich die Menschen in Reformprozesse einbezogen fühlen und den Willen zur
Veränderung hin zu neuen Zielen aufbringen, verdächtigen Sie jeden Diskussionsvorschlag aufgrund kurzfristiger politischer Interessen.
({2})
Das konnten wir heute beobachten.
Sie haben aus Ihrem Versagen bei der Kommunikation der Hartz-Reformen nichts gelernt. Sie haben nicht
gelernt, dass dieses Land insgesamt auf einen Veränderungswillen angewiesen ist. Sie selbst haben immer wieder angekündigt, dass die Reformen, die Sie jetzt vorgenommen haben, ein erster Schritt seien.
({3})
Weitere Reformen müssen also folgen. Sie sagen aber
nicht, welche. Wir werden auf unserem Düsseldorfer
Parteitag Antworten darauf geben. Sie können sich darauf verlassen, dass es gute Antworten sein werden.
Übrigens vielen Dank für Ihren Vorschlag, Herr
Andres. Die Düsseldorfer Erklärung von 1949 - das ist
55 Jahre her - war das zentrale Dokument für die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft. 55 Jahre später
werden wir in Düsseldorf Antworten geben, nach denen
Sie noch lange suchen müssen, weil Sie nicht die Mentalität haben, die für solche Antworten notwendig ist.
({4})
Sie versuchen, der Diskussion zu entrinnen.
({5})
Sie reden vage über Innovationsfähigkeit. Das Jahr der
Innovation, das der Bundeskanzler ausgerufen hat, ist
bald vorbei, aber nichts ist passiert. Ein Blick in den Forschungsbericht der Bundesregierung zeigt, dass es sehr
mühsam und langwierig werden wird, bis Forschung,
Entwicklung und Innovationsfähigkeit zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen führen.
({6})
In der Zwischenzeit müssen wir einen Wachstumweg
beschreiten, der - das sollte außer Zweifel stehen - Maßnahmen zum Abbau der Bürokratie und zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes umfasst. Sie tun so, als sei das
nicht nötig, und werden damit selbst zum Wachstumshemmnis.
Wenn in Deutschland 15 bis 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist, dann ist dies ein Kernproblem der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik und der Familienpolitik. Es ist
ein gesellschaftliches Kernproblem.
Wer das Bemühen um Lösungswege polemisch behandelt, wie Sie es hier tun, und versucht, jeden Diskussionsansatz zu diskreditieren, der steigert die Politikverdrossenheit und bezieht die Menschen nicht in eine
dringend nötige Diskussion mit ein. Er bestätigt sie vielmehr in alten Verhaltensweisen, die einem Veränderungsprozess hinderlich sind.
({7})
Sie wollen das Spiel von 1998 wiederholen, bis zur Bundestagwahl nichts mehr tun und den Menschen versichern, es sei alles gut. Glauben Sie wirklich, dass das
Land dies jetzt braucht? Da lobe ich mir eine ernsthafte
Debatte, wie sie in der Union schon seit Jahren geführt
wird und jetzt in dem Antrag für den Parteitag in Düsseldorf kulminiert.
({8})
- Das ist ein Antrag für einen Parteitag.
({9})
Ich weiß nicht, wie Sie Parteitage gestalten. Über den
Antrag wird diskutiert. Dann werden wir sehen, zu welchem sinnvollen Ergebnis die Diskussion führen wird.
Jede Anstrengung und jede Idee, die die Schwelle
zum Eintritt in den Arbeitsmarkt senkt, ist willkommen.
Wir wollen die Hürden für die Beschäftigung von älteren
Arbeitnehmern abbauen. Das ist ein Ziel, für das sich
jede Anstrengung lohnt und auch jeder Streit sinnvoll ist,
Herr Stiegler. Wir brauchen einen politischen Wettbewerb der Ideen. Sagen Sie doch, wie Sie es erreichen
wollen, dass die nur betriebswirtschaftlich sinnvolle,
volkswirtschaftlich und gesellschaftspolitisch aber unsinnige Aussortierung von Arbeitnehmern über 55 verändert werden kann! Machen Sie doch weitere Vorschläge, wenn Sie erkennen, dass die bisher von Ihnen
durchgeführten Maßnahmen nicht wirken! Keine Alternativen vorzulegen, aber überkommene Reaktionsmuster zu bedienen, das ist keine Politik, sondern nur billige
Taktik.
({10})
Seien Sie geduldig! Sie können die Diskussion in der
Union aufmerksam verfolgen. Sie können jede Woche
eine Aktuelle Stunde dazu beantragen, damit die Diskussion in der deutschen Politik auch die richtige Breite gewinnt.
Sie stellen sich nicht nur heute als Lobbyist der Arbeitsplatzbesitzer dar. Der neue, wenig herzliche Schulterschluss mit den Gewerkschaften ist vermutlich der
Grund dafür. Wir wissen, dass einiges geändert werden
muss, damit mehr eingestellt wird. Aber es macht auch
keinen Sinn, berechtigte Schutzinteressen zu missachten
und die Angst von Beschäftigten um ihren Arbeitsplatz
nicht ernst zu nehmen. Natürlich wissen wir das. Wir
sind nicht nur willens, sondern auch in der Lage, diese
beiden Seiten des Problems so zu behandeln, dass ein
Lösungsvorschlag herauskommt, der den Betroffenen
wirklich dienlich ist. Sie haben in den letzten Jahren dagegen nur für Scheinalternativen gesorgt. Es gab wohlklingende Gesetzesnamen wie „Job-AQTIV-Gesetz“
und eine wunderbare PR, aber keine Ergebnisse.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.
Darf ich noch ein paar Sätze sagen?
Das hängt davon ab, wie lange Sie brauchen. Sie reden bereits über fünf Minuten.
Es gab andere Kollegen, die viel mehr überzogen haben. - Herr Kurth hat im Zusammenhang mit unserem
Vorschlag, sich stärker an europäischen Regelungen zu
orientieren, von der 73-Stunden-Woche gesprochen. Einen solchen Unsinn kann man doch nicht ernsthaft verbreiten. Als Dortmunder möchte ich Ihnen einmal ein
praktisches Beispiel nennen - ich führe extra keines aus
der Privatwirtschaft an -: Die EDG, ein städtisches Unternehmen in Dortmund, dessen Geschäftsführer SPDMitglied ist und dessen Betriebsrat SPD-dominiert ist,
hat einen wöchentlichen Arbeitszeitrahmen von
70 Stunden. Die Arbeitnehmer sind damit zufrieden und
das Unternehmen ist dadurch wettbewerbsfähiger. Ich
weiß nicht, was Sie dagegen haben, solche Formen der
Flexibilität einzuführen, mit denen alle zufrieden sind.
Sie verhindern immer nur, weil Sie aus Ihren alten Denkmustern nicht herauskommen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anette Kramme.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Innovation, Fortschritt, Modernität - Ihr Leitantrag quillt über von solchen Begrifflichkeiten und
wunderschönen Redewendungen. Aber Gott sei Dank ist
Rhetorik nicht alles. Ihre Arbeitsmarktpolitik ist tatsächlich wenig innovativ und wenig fortschrittlich. Sie ist sogar ziemlich unmodern. Ich hätte nicht gedacht, dass ich
dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber
jemals Recht geben würde. Aber er hat völlig Recht,
wenn er sagt: Die können Schröder und Fischer nicht das
Wasser reichen. Wer gemeint ist, muss ich, glaube ich,
nicht näher erläutern.
({0})
Meine Damen und Herren von CDU und CSU, Sie
bleiben bei Ihrer schlichten Politikprämisse: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind die Saupreußen der
Nation. Ihr Rezept lautet: Die Arbeitnehmerrechte müssen nur zerschlagen, der Kündigungsschutz muss nur abgebaut und die Gewerkschaften müssen nur bekämpft
werden, dann sieht es in diesem Land besser aus. Das ist
falsch, und zwar sowohl in politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Herr Kollege Fritz, wenn Sie
sagen, dass wir nicht bereit seien, uns mit Ihnen auseinander zu setzen, dann ist das insoweit richtig, als es
sinnlos ist, sich ständig mit Thesen zu beschäftigen, deren genaues Gegenteil richtig ist, wie die Wissenschaft
belegt hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur aus
der Studie des IAB vom 12. Dezember 2003 zitieren:
Empirische Untersuchungen zu den Arbeitsmarktwirkungen des Kündigungsschutzgesetzes zeigen
ein differenziertes Bild. So gibt es kaum Hinweise,
dass die Regelungsdichte auf das Niveau von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Einfluss hat.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich
hoffe, dass Sie Ihren Leitantrag jedem Betrieb dieses
Landes zuschicken werden und dass er jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer ausgehändigt wird. Ich
gehe davon aus, dass dann das eintritt, was die „Berliner
Zeitung“ festgestellt hat:
Die Kunst, sich um Kopf und Kragen zu reden, versteht in der Bundespolitik - abgesehen von Guido
Westerwelle - derzeit niemand so gut wie Angela
Merkel.
({2})
- Vielen Dank!
Sie wollen den Kündigungsschutz verringern. In den
ersten drei Jahren nach der Einstellung soll es keinen
Kündigungsschutz geben. Außerdem soll der Kündigungsschutz Betriebe, die weniger als 20 Arbeitnehmer
haben, gar nicht erfassen. Des Weiteren soll es bei Neueinstellungen das Recht geben, zwischen Abfindung und
Kündigungsschutz zu wählen.
({3})
Ich wiederhole das, was Herr Brandner gesagt hat - auch
wenn sich Frau Wöhrl heftig dagegen wehrt -: Das bedeutet, dass mittelfristig 90 Prozent der Betriebe und
28 Prozent der Arbeitnehmer aus dem Kündigungsschutz herausfallen werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern,
dass Sie inhaltsgleiche Anträge bereits mehrfach in diesem Haus eingebracht haben
({4})
und dass Sie jedes Mal Übergangsregelungen nicht vorgesehen haben. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass es,
wenn Sie an der Regierung wären, sofort zu dem kommen würde, was Herr Brandner angenommen hat.
({5})
- Dass die CDU ihren Leitantrag zurückgehalten hat, hat
nach meiner Einschätzung sehr wohl etwas mit den
Wahlen zu tun.
Ich möchte im Zusammenhang mit dem Kündigungsschutz auf einen zweiten Punkt zu sprechen kommen.
Was Sie dort machen - Sie wollen ein formales Wahlrecht einräumen -, ist schlichtweg Hohn. Denn welcher
Arbeitgeber wird den vermeintlichen „Prozessheini“ in
seinem Betrieb einstellen? Rein tatsächlich würde also
kein Wahlrecht zur Verfügung stehen.
Ich frage mich auch: Weshalb haben Sie die Zustimmung im Bundesrat zur Änderung des Kündigungsschutzgesetzes, so wie wir es hier verabschiedet haben,
erteilt?
({6})
Wie groß ist die Halbwertszeit Ihrer Politik? Wie sehr
können sich die Menschen in diesem Lande auf Sie verlassen?
Die SPD-Fraktion steht demgegenüber für Sicherheit
und Planbarkeit.
({7})
Familiengründungen wird es nur geben, wenn Menschen
- anders, als es bei Ihnen der Fall ist - nicht wie eine
Ware, wie ein Handy oder wie ein Auto, behandelt werden.
Meine Damen und Herren von der Union, es gibt keinerlei nachweisbaren Zusammenhang zwischen dem Arbeitsrecht und der Höhe der Arbeitslosigkeit. Das stellt
auch die konservative OECD fest. Ich schlage eines vor:
Wir sollten erst die Evaluierung der Änderungen des
Kündigungsschutzes abwarten, die wir vorgenommen
haben.
Ein weiterer Vorschlag, den Sie unterbreiten, bezieht
sich auf die Tarifautonomie: mehr Entscheidungen auf
Betriebsratsebene. Klar, das hört sich gut an. Das ist aber
nur scheinbar gut; denn es geht Ihnen nur um ein Einziges: Sie wollen das Erpressungspotenzial, das vor Ort
existiert, ausnutzen. Welcher Betriebsratsvorsitzende
wird vor Ort zu Lohnsenkungen Nein sagen, wenn ihm
konkret mit Kündigungen gedroht wird?
({8})
In diesem Zusammenhang muss eines gesehen werden: Sie wollen den Arbeitnehmern in den Betrieben
nicht gleichzeitig ein Streikrecht einräumen. Sie wollen
tatsächlich, dass sich die Arbeitgeber mit einem Verhandlungspartner auseinander setzen, der nicht die gleichen Chancen hat.
({9})
- Haargenau, so ist es.
Meine Damen und Herren von der CDU, die Gründe
für die Probleme des Standortes Deutschland liegen
nicht bei den Arbeitnehmern. Wir wollen ein Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern; Sie wollen ein
Gegeneinander. Wir stehen für die Erneuerung des Sozialsystems; Sie symbolisieren die Abrissbirne. Die Bürgerinnen und Bürger können nun zwischen Aufbau und
Aufbruch wählen. Ich bin mir sicher, das Ergebnis wird
zugunsten der SPD ausfallen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Göhner.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Ich will versuchen,
diese Debatte auf eine sachliche Ebene zu bringen. Sie
treten hier an und sagen: Die Einschränkung des Kündigungsschutzes bei Neueinstellungen bedeutet den Abbau
von Arbeitnehmerrechten.
({0})
Wenn Sie das wirklich ernst meinen, dann frage ich Sie:
Was war denn dann die von Ihnen mit beschlossene
- Herr Andres hat daran erinnert, wofür man seine Hand
gehoben hat - und richtige Anhebung der Schwelle im
Kündigungsschutzrecht von fünf auf zehn Arbeitnehmer?
Sie haben die Regelung getroffen - Herr Brandner hat
eingefordert, die sich aus dieser Änderung ergebenen
Chancen zu nutzen -, dass neu eingestellte Arbeitnehmer, die 52 oder älter sind, praktisch keinen Kündigungsschutz mehr haben. War diese Einschränkung des
Kündigungsschutzes ein Abbau von Arbeitnehmerrechten oder haben Sie das - richtigerweise - vielleicht gemacht, um die Chancen älterer Arbeitnehmer, eingestellt
zu werden, zu verbessern und die Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen?
({1})
Rüsten Sie in dieser Debatte doch erst einmal ab!
Frau Dückert, Sie, eine Grüne, haben den Vorschlag
gemacht - dieser Vorschlag hat seinen Niederschlag im
Gesetzblatt gefunden -, dass von Existenzgründern eingestellte Arbeitnehmer in den ersten 48 Monaten - nicht
wie sonst in den ersten 36 Monaten - faktisch keinen
Kündigungsschutz haben. Das war richtig: Sie wollten
Existenzgründern die Sorge nehmen, ein Problem mit
der Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer zu haben,
wenn das Geschäft nicht so läuft, wie man es sich bei der
Gründung vorgestellt hat.
Aber wenn solche Einschränkungen des Kündigungsschutzes, für die Sie Ihre Hand gehoben haben, richtig
waren, wenn Sie also erkannt haben, dass das Beschäftigungshemmnisse waren, dann rüsten Sie in dieser Debatte ab, indem Sie nicht mehr jede Veränderung auf diesem Gebiet zunächst einmal als Abbau von
Arbeitnehmerrechten diskriminieren!
({2})
Herr Andres, Sie haben hier von Sozialabbau - Stichwort „Anhebung der Schwelle von zehn auf 20 Arbeitnehmer in einem Betrieb“ - gesprochen. Sie haben damals hier im Bundestag einen Gesetzentwurf
eingebracht, in dem zum Beispiel die Arbeitnehmer, die
befristet angestellt waren, aus der Berechnung des
Schwellenwertes herausgenommen wurden. Wäre man
dem gefolgt, wäre die Konsequenz gewesen, dass neu
eingestellte Arbeitnehmer in Betrieben mit 50 oder 100
Arbeitnehmern nicht mehr unter den Kündigungsschutz
gefallen wären. Wir haben jetzt vorgeschlagen, diese
Schwelle auf 20 Arbeitnehmer zu heben. Sagen Sie deshalb hier jetzt nicht, das sei der Zusammenbruch der Arbeitnehmerrechte in Deutschland.
({3})
Ich finde, Sie müssen das wirklich solide zurückführen.
Zu Ihrer Behauptung, Herr Brandner, 12 Millionen
Menschen würde der Kündigungsschutz entzogen, ist zu
sagen: Entzogen wird niemandem etwas. Dann tragen
Sie vor, dass es bei Neueinstellungen keinen Kündigungsschutz mehr gäbe.
({4})
Nun behaupten Sie, Herr Brandner, nicht wider besseres
Wissen das Gegenteil, denn Sie wissen doch ganz genau,
dass heute bei dem größten Teil der Einstellungen Arbeitsverträge mit einer sachgrundlosen Befristung nach
dem Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und damit faktisch ohne Kündigungsschutz geschlossen werden.
({5})
Sie haben sich unseren Leitantrag vielleicht aus dem
Internet heruntergeladen, gelesen haben Sie ihn nicht.
Die CDU/CSU schlägt nämlich in ihrem Antrag vor, die
Möglichkeit, sachgrundlos befristet einzustellen, abzuschaffen. Über diesen Vorschlag sollten wir einmal gemeinsam nachdenken. Es verhält sich doch so: Die Regelungen zur Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse
auf der Basis von sachgrundlosen Befristungen haben
ursprünglich wir eingeführt und sie wurden von Ihnen in
der Absicht modifiziert
({6})
- das haben wir selbstverständlich gemeinsam propagiert -, den Kündigungsschutz in diesem Bereich einzuschränken.
Daraus ist mittlerweile ein höchstkompliziertes arbeitsrechtliches Gebilde erwachsen.
({7})
Wissen Sie, was das eigentliche Problem des Arbeitsrechtes in Deutschland ist? Dass es so kompliziert geworden ist, dass es kaum noch jemand beherrscht.
({8})
Ich bin Fachanwalt für Arbeitsrecht und kann Ihnen aus
eigener Erfahrung sagen: Das, was wir alle, also auch die
Vorgängerregierung, auf dem Gebiet gemacht haben,
stellt ein gewaltiges Beschäftigungsprogramm für meine
Fakultät, also für die Fachanwälte für Arbeitsrecht, dar.
Wie beim Steuerrecht haben wir hier ein Grundproblem:
Weil das Arbeitsrecht so kompliziert geworden ist, sucht
jeder nach Lücken und Auswegen. Um nicht mit Einstellungen in einem Arbeitsrecht gefangen zu sein, das man
nicht versteht, wählt man den Weg über Leiharbeitnehmer, mehr Überstunden oder mehr Befristungen.
({9})
Eigentlich brauchen wir in Deutschland etwas ganz
anderes - und das ist Gegenstand des CDU/CSU-Antrages -, nämlich ein neues Arbeitsgesetzbuch zur Regelung des Arbeitsvertragsrechts.
({10})
Das wurde im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag sogar vom Bundestag verlangt. Ich finde, wir sollten gemeinsam darauf hinarbeiten, die vielen Verästelungen der heute vorhandenen Gesetze so übersichtlich
zusammenzufassen, wie wir es im Sozialgesetzbuch gemacht haben. Denn nur wenn das Arbeitsrecht für die
Beteiligten einigermaßen verständlich ist, wird es nicht
weiterhin ein Beschäftigungshemmnis in Deutschland
darstellen.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU schlägt Reformen vor. Es handelt sich
aber mitnichten um Verbesserungen. Es geht um Sozialabbau. Der Kündigungsschutz soll gelockert oder gar
abgeschafft werden, die Arbeitszeit soll verlängert und
die Löhne sollen gesenkt werden. Die Opposition zur
Rechten hat fürwahr einen Jahrhundertschritt vor: allerdings keinen nach vorne, sondern einen ganz weit zurück.
Glaubt man dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“,
({0})
dann verrät der vorliegende Antrag nicht einmal alles,
was CDU und CSU wirklich vorhaben. Zugleich wundert sich der „Spiegel“ über die aktuelle Aufregung.
„Die Vorschläge sind keineswegs neu“, schreibt er und
verweist auf eine gemeinsame Sitzung der Chefs von
CDU und CSU im Frühjahr in Berlin. Ich finde, da greift
nun wiederum der „Spiegel“ zu kurz.
Uns allen empfehle ich eine Lektüre aus dem Jahre
1997. Sie heißt: „Zukunftsbericht der Freistaaten Bayern
und Sachsen“. Dieser wurde damals von Edmund
Stoiber und Kurt Biedenkopf feierlich präsentiert.
({1})
Wer ihn lesen will, muss allerdings findig sein, denn das
großartige Dokument wurde offenbar von allen Webseiten der CDU und der CSU entfernt. Die zentrale Botschaft des CDU/CSU-Dokuments hieß: Der Standort
Deutschland kann modernisiert werden, vorausgesetzt,
der Sozialstaat wird abgebaut und man nimmt in Kauf,
dass ein Drittel der Bevölkerung systematisch verarmt.
Die PDS hat eine bessere Alternative. Sie heißt „Agenda
sozial“. Diese ist problemlos auf all unseren Webseiten
zu finden. So viel zum Werbeblock.
({2})
Nun zurück zum so genannten CDU/CSU-Zukunftsbericht. Inzwischen wurden bzw. werden 75 Prozent aller Vorschläge daraus umgesetzt, allerdings durch die
Agenda 2010 der rot-grünen Koalition. Nun mahnt die
CDU/CSU das letzte Viertel dieses Zukunftsberichts an.
Das ist der Kern der Debatte, die wir hier führen.
Die PDS im Bundestag hat die Agenda 2010 des
Kanzlers abgelehnt und wir lehnen selbstverständlich
auch die Verschärfungen ab, die von der CDU/CSU hier
gefordert werden.
({3})
Sie sind übrigens auch ökonomisch Unsinn. Sie beklagen ja immer wieder die hohen Lohnnebenkosten.
Auf dem Weltmarkt fragt niemand nach den hohen
Lohnnebenkosten. Dort sind niedrige Lohnstückkosten
und hohe Qualität gefragt. Deutschland ist Exportweltmeister.
Sie beklagen immer wieder den kriselnden Markt.
Den Markt an sich gibt es aber nicht. Der deutsche Binnenmarkt ist krank und er bekommt Schüttelfrost, wenn
Sie die Löhne noch mehr kürzen und die allgemeine
Kaufkraft noch weiter beschneiden.
Der Sozialdemokratie wurde zuweilen vorgeworfen,
sie sei eine willfährige Krankenschwester des Kapitalismus. Dazu kann ich nur sagen: Die CDU/CSU ist
schlimmer, denn sie leistet dem Sozialstaat vorsätzlich
Sterbehilfe.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Grotthaus.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist es ja nichts Neues,
was in dem CDU-Papier steht.
({0})
Sie haben Ihre Vorschläge des Öfteren propagiert und sie
auch schon einmal in einem Antrag in den Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit eingebracht.
({1})
Aber seit einigen Monaten liegen Sie damit sehr zurück,
insbesondere wahrscheinlich wegen der Wahlen, die in
den letzten Wochen anstanden.
Es ist auch in der Öffentlichkeit so bekannt geworden:
({2})
- Herr Kollege Göhner, zu Ihnen komme ich gleich
noch. - „Bild-T.Online“ titelte gestern: Jetzt holt die
CDU den Sozialhammer raus. „Bild-T.Online“ ist wohl
nachweislich eine Zeitung, die den Sozialdemokraten
nicht sehr nahe steht und sie nicht verwöhnt. Wenn sie so
titelt - ich kann die Menschen nur bitten, sich an den
Bildschirmen durchzulesen, was da geschrieben steht -,
kann man sich ausmalen, dass das mit dem Sozialhammer tatsächlich stimmt. Diese Formulierung trifft es genau; denn Mitbestimmung, Tarifautonomie und Arbeitnehmerrechte stehen bei den Überlegungen der CDU
nicht nur auf dem Prüfstand, sie sollen vielmehr platt gemacht werden.
({3})
- Herr Niebel, zu Ihren Zwischenbemerkungen will ich
einmal ein Wort sagen: Der Inhalt Ihrer Zwischenbemerkungen ist direkt proportional zu Ihrem Intellekt. Darüber sollten Sie vielleicht einmal nachdenken.
({4})
Mit diesem Frontalangriff auf das Tarifsystem werden
über weniger Kündigungsschutz, eine höhere Wochenarbeitszeit, die Unterstützung von Lohndumping durch die
Schaffung eines Niedriglohnbereiches, die Schaffung
des Anspruchs auf Teilzeitjobs und die Verlängerung der
Probezeit in eklatanter Weise Arbeitnehmerrechte sowie
die Rechte der Tarifvertragsparteien infrage gestellt. Der
Einzige in dieser Republik - außer Ihrer Fraktion natürlich -, der darüber jubelt, ist Herr Rogowski. Das ist für
mich nicht erstaunlich; aber ich frage mich: Wo sind die
Stimmen von Rüttgers, Milbradt und Arentz? Arentz
wurde gestern noch dazu befragt und hat gesagt, er wolle
zurzeit nichts sagen, weil er sich in die Diskussion einbringe. Aber ich werde Arentz gleich noch zitieren.
Ich bin einmal gespannt, wie die beiden gerade genannten Kollegen im Landtagswahlkampf in NordrheinWestfalen argumentieren werden. Ich kann Sie nur bitten, nein auffordern, die Diskussion tatsächlich weiter
voranzutreiben und Ihren Leitantrag unter dem Begriff
„Düsseldorfer Beschlüsse“ noch vor dem Landtagswahlkampf zu verabschieden. Das ist eine herzliche Bitte.
Ich erinnere daran, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt werden sollen. Das hört sich
unheimlich gut an; aber gleichzeitig - das ist hier deutlich gemacht worden - erfolgt eine völlige Verabschiedung aus der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Das sagen Sie
nicht; denn Sie verstecken sich lieber hinter so flachen
Sprüchen wie „Besser einen Job ohne Kündigungsschutz
als arbeitslos mit Kündigungsschutz“.
({5})
Die Kollegen aus meiner Fraktion haben schon deutlich gemacht, welche Dinge wir im Bereich des Kündigungsschutzes angegangen sind. Ich fühle mich allerdings sehr betroffen, wenn der Kollege Laumann nicht
das erwähnt, was im Bundesrat von Ihrer Fraktion noch
verschärft worden ist. Der Kollegin Wöhrl möchte ich
auf den Weg geben: Alles das, was Sie gesagt haben,
habe ich als Arbeitnehmer in dem Babcock-Konzern, der
aufgrund unternehmerischer Fehler platt gemacht worden ist, mitbekommen, nämlich mehr Überstunden,
mehr Engagement und Verzicht auf Arbeitnehmerrechte.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben auf Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld verzichtet und unbezahlte
Mehrarbeit geleistet.
({6})
Der Mensch, der dieses Unternehmen vor die Wand gefahren hat, ist mit einer hohen Abfindung weggegangen.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchten gar
nicht auf den Kündigungsschutz zu verzichten. Sie hatten nämlich keinen, weil die Firma in die Insolvenz gegangen ist. 20 000 Arbeitsplätze in dieser Republik waren platt gemacht.
({7})
Darüber sollten Sie einmal mit den Menschen in den Betrieben diskutieren. Ich mache Ihnen einen Vorschlag,
Frau Wöhrl: Sie haben einen Unternehmer im Haus. Diskutieren Sie dies einmal mit den Menschen, die in seinem Unternehmen beschäftigt sind.
Es gilt, sich einmal sachkundig zu machen; denn es ist
schlicht dummes Zeug, wenn gesagt wird, Neueinstellungen würden dann erfolgen, wenn der Kündigungsschutz zurückgefahren würde.
({8})
- Ich weiß, dass Sie so denken, Frau Kollegin
Wöhrl. - Das bestätigt auch Ihr Kollege Arentz, der nach
Ihrer Auffassung ebenfalls von der Realität keine Ahnung haben dürfte.
({9})
Ich zitiere die „WAZ“ vom 28. September 2004:
Arentz hatte den Kündigungsschutz als „Königsrecht der Arbeitnehmer“ bezeichnet. Wer daran die
Axt anlege, schaffe keine zusätzlichen Arbeitsplätze, sondern zusätzliche Angst vor Arbeitslosigkeit.
({10})
Arentz verwies auf die von der Regierungskoalition
geschaffenen Möglichkeiten, über 52-Jährige auf
Dauer befristet einzustellen. Dies habe jedoch keineswegs dazu geführt, dass Unternehmen bevorzugt
Bewerber dieser Altersgruppe einstellten.
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie
sollten sich einmal mit dem Kollegen Arentz unterhalten. Er ist näher an den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Betrieben als Sie.
({11})
Ich sage sehr deutlich: Ich glaube nicht, dass es allein
um die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. Es geht auch um die Möglichkeiten und um
den Einfluss einer bestimmten Tarifpartei, nämlich des
DGB und seiner Gewerkschaften.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Dies ist deutlich geworden, als Ihr stellvertretender
Fraktionsvorsitzender, Herr Merz, in diesem Haus gesagt hat: Wohin kämen wir denn, wenn wir die Frösche
fragen würden, ob wir den Sumpf austrocknen dürfen?
Herr Kollege Göhner, Sie als Hauptgeschäftsführer der
BDA sind nicht nur einer dieser Frösche. Sie formulieren sogar noch die entsprechenden Anträge mit.
Der Leitantrag, den Sie auf Ihrem Parteitag einbringen, trägt die Überschrift „Wachstum, Arbeit und Wohlstand“. Es müsste aber heißen: „Sozialabbau, Aushebelung der Tarifautonomie und Zukunft verfrühstücken“.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Franz Xaver
Romer.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine
Herren! So wie vormals Arbeitnehmer- und Sozialrechte
zum Schutz der Arbeitnehmer eingeführt wurden, hat
sich dieser Schutz unter den heutigen Bedingungen
manchmal ins Gegenteil verkehrt.
({0})
Wenn wir heute die Arbeitnehmer schützen wollen, müssen wir uns von starren Regelungen verabschieden und
alles auf den Prüfstand stellen, was die Schaffung von
Arbeitsplätzen oder Neueinstellungen verhindert.
({1})
Auch der Kündigungsschutz darf nicht unantastbar
sein wie eine heilige Kuh.
({2})
Dies sage ich als jemand, der von der Arbeitnehmerseite
kommt, sie gut kennt und sich ihr verpflichtet fühlt. Wo
ist denn der Kündigungsschutz bei befristeten Verträgen,
Leiharbeitern, Ich-AGs und den 40 000 Insolvenzen?
({3})
Vom Kündigungsschutz profitieren nur diejenigen, die
einen Arbeitsplatz haben. Geht der Betrieb Pleite, hilft
kein Kündigungsschutz mehr. Auch ist den Arbeitsuchenden damit nicht geholfen.
Für die über 50-Jährigen existiert schon jetzt kaum
Schutz vor Kündigungen. Dies wurde von Ihrer Regierung beschlossen. Untersuchungen belegen, dass Betriebe, vor allem im Handwerk, wegen der starren Kündigungsschutzregeln auf Neueinstellungen verzichten.
Dies darf so nicht sein. Der Kündigungsschutz soll den
Arbeitnehmer vor willkürlicher Kündigung schützen.
Dies wird auch weiterhin so bleiben. Bestehende Arbeitsverträge will niemand ändern.
Wie sieht die Wirklichkeit heute aus? Welcher Arbeitgeber würde bei guter Auftragslage seine Fachkräfte einfach entlassen? Dies wäre doch absurd.
({4})
Unternehmer und Handwerk kämpfen in diesen Tagen
gemeinsam mit ihren Arbeitskräften um ihre Existenz.
Dabei gehen sie oft unter Einsatz ihres Privatvermögens
ein hohes Risiko ein und denken nicht zuletzt an die Sicherung der Arbeitsplätze.
({5})
Entlassungen haben heute weniger mit Willkür als mit
Unvermeidbarkeit zu tun. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen geändert werden. Die CDU fordert die Beseitigung von Einstellungshemmnissen; denn gerade
kleine Firmen müssen flexibel auf die Auftragslage reagieren können. Es sollte auch die Möglichkeit gegeben
werden, dass die Vertragsparteien bei Neueinstellungen
private Vereinbarungen im Hinblick auf eine Kündigung
treffen können. Wir wollen mehr betriebliche Bündnisse.
Der Staat muss nicht immer per Gesetz auch das kleinste
Detail regeln. Es würde ausreichen, den richtigen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Dies fällt der Bundesregierung in ihrer Regelungswut aber sichtlich schwer.
Auch die Tarifpartner müssen umdenken. Die Gewerkschaften dürfen sich nicht nur für die Arbeitnehmer
verantwortlich fühlen und dabei die Arbeitslosen unberücksichtigt lassen. Forderungen nach kürzeren Arbeitszeiten und Beharren auf unflexiblen Kündigungsschutzregeln passen nicht mehr in diese Zeit.
({6})
Was wir brauchen, ist eine Entbürokratisierung, eine
Entrümpelung des Arbeitsmarktes, Vertrauen und die
Bereitschaft, wieder in Arbeitsplätze zu investieren. Dies
ist der beste Kündigungsschutz für alle.
Was die Damen und Herren von der Regierung in der
Vergangenheit gemacht haben, ist eine Verunsicherung
unserer Gesellschaft. Im Zuge dessen wurden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert oder nicht mehr ersetzt und
vernichtet. Wir haben die niedrigste Beschäftigungsquote und die höchsten Arbeitslosenzahlen.
({7})
Da muss es doch erlaubt sein, sich Gedanken über notwendige Veränderungen zu machen.
({8})
Denen, die draußen stehen, muss wieder die Tür geöffnet
werden, um ins Erwerbsleben zurückzukehren.
Zu Recht wird immer wieder hervorgehoben: Sozial
ist, was Arbeitsplätze schafft, auch wenn dieser Prozess
manchmal wehtut. Regierungen anderer Länder haben es
uns mit großem Erfolg mutig vorgemacht.
Die viel diskutierten Hartz-Gesetze bringen uns keinen einzigen Arbeitsplatz.
({9})
Es könnten aber in Deutschland viele Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich nenne hier nur die Bereiche Dienstleistung, Umwelt und Forschung. Dort gibt es viel zu erledigen. Packen wir es an, statt es weiter zu behindern!
Wir müssen es wirklich wollen und auch unpopuläre
Entscheidungen treffen. Alle sind jetzt gefordert: Politik,
Arbeitgeber, Gewerkschaften und Arbeitnehmer.
Ich bedanke mich.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Werner
Bertl.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Sie haben Recht: Man muss sich Gedanken machen. Ich
finde nur, die Union sollte zu ihren Gedanken stehen.
Wir haben eines erlebt: Sie haben die Menschen in den
letzten Wochen fürchterlich getäuscht. Ihr Programm
kommt jetzt wie eine Geheimakte,
({0})
fast wie „Merkel I“, aus der Versenkung. Wenige Tage
nach der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen trauen
Sie sich, die Menschen darüber zu informieren, wohin
Sie wollen.
({1})
Ich finde es sehr spannend, wie Sie in dem Vermittlungsverfahren um das Vierte Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vorgegangen sind. Erstaunlicherweise merken die Bürgerinnen und Bürger im
Land, was dort passiert, wie Sie dort knallhart Forderungen stellen und sich anschließend in die Büsche schlagen. Es war für mich erstaunlich, wie viele Ihrer Oberbürgermeisterkandidaten sich im Rahmen der
Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen genau wie Herr
Milbradt von diesem Gesetz distanziert haben. Auch der
Oppositionsführer im nordrhein-westfälischen Landtag
spielt eine ganz elende Rolle. Er verlangt eine Generalrevision aller Gesetze.
Sie haben in diesen Tagen mehrere Kapitel zur Botschaft vom Wachstum in einem schlanken Staat auf den
Tisch gelegt. Diese Botschaft folgt einer ganz simplen
Strategie: Weg mit der Partnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer! Dem Erfolgsmodell von
50 Jahren sozialer Marktwirtschaft und Wirtschaftsdemokratie sprechen Sie die Kündigung aus. Sie streichen
es aus Ihrem politischen Repertoire, weil es für Sie störend und überholt ist.
Das Ganze machen Sie - es ist notwendig, hier darüber zu diskutieren -, indem Sie eine Drohkulisse von
Deutschland im Stillstand oder Rückschritt inszenieren.
Ihre Botschaft ist, dass Deutschland der Ort der Resignation, der Ort des Elends und des Bedeutungsverlustes ist.
Sie merken nicht - ich finde, Sie müssten es merken;
denn einen Teil der Quittung haben Sie in den letzten Tagen bekommen -, dass Ihnen die Bürgerinnen und Bürger das nicht mehr abnehmen. Denn die Wirklichkeit ist
eine andere. Ihr Weg wird nicht mehr nachvollzogen,
weil die Menschen nicht so weit weg von den Diskussionen und Realitäten sind.
Unser Weg, das Sozialsystem zukunftssicher zu machen, ist von Ihnen nicht mitgegangen worden. Dies gehört sich eigentlich, wenn man entsprechende Beschlüsse gefasst hat. Ihre Haltung, in den nicht
öffentlichen Sitzungen des Vermittlungsausschusses
massive Einschnitte zu verlangen, ist deutlich geworden.
Ihre Strategie, vor den Wahlen Ihre Vorstellungen tief zu
vergraben und dann, wenn man glaubt, genügend Zeit zu
haben, mit diesen langsam herauszukommen, wird nicht
aufgehen.
({2})
Auch Ihre Botschaft, die Sie den Menschen geben
wollen, dass nämlich alles besser wird, wenn wir all das
zur Seite legen und infrage stellen, was in den letzten
50 Jahren sozialpartnerschaftlich in der sozialen Marktwirtschaft errungen wurde, wird nicht zum Erfolg führen. Ich nenne als Stichworte den Jugendschutz, die
Hochschulen, das Hochschulrahmengesetz und Studiengebühren. Sie blenden völlig aus, welche Erfolge wir mit
der Reform des BAföG hatten. Sie stellen ohne jede Diskussion die Autonomie der Tarifparteien im Tarifsystem
völlig infrage. Arbeitsrechtliche Bestimmungen sollen
wegfallen und Lohnstrukturen neu geordnet werden. Arbeitsrecht, arbeitsrechtliche Verordnungen, Mitbestimmung - Sie machen viele vage, verklausulierte Andeutungen.
Einen Punkt möchte ich besonders ansprechen, weil
er mir sehr aufgefallen ist: die logischen Brüche und
Täuschungen in Ihrem Papier. Ich habe es vor mir liegen; es lohnt sich, dies genau zu lesen.
({3})
Darin fordern Sie im Zusammenhang mit Familienpolitik - es ist eben schon angesprochen worden - familiengerechte Jobs und nicht die jobgerechte Familie. Das ist
im Rahmen Ihrer politischen Philosophie - der Schutz
der Familie - eine wichtige Aussage. Wo aber bleibt Ihre
Position in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik?
Die Frage lautet: Wollen wir jobgerechte Arbeitnehmer?
Ist das die Hauptforderung, deren Umsetzung nur dann
möglich ist, wenn wir 50 Jahre Sozialpartnerschaft über
den Haufen werfen? Das kann doch nicht Ihre Antwort
auf die Herausforderungen, vor denen unser Land im
Moment steht, sein.
Es ist meines Erachtens völlig in Ordnung, dass Sie
hier ein Programm vorlegen, über das Sie diskutieren
wollen. Ich finde aber, dass Sie dieses Programm dann
auch tatsächlich so nach außen tragen sollten, dass die
Menschen in unserem Land es wahrnehmen können. Sie
sollten die Diskussion darüber ermöglichen. Diese haben
wir heute durch die Aktuelle Stunde möglich gemacht.
Wir werden das weitermachen. Wenn Sie die Diskussion
im Lande nicht führen, dann werden wir sie führen und
den Menschen zeigen, was Sie wollen.
Vielen Dank.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Dagmar Wöhrl, KarlJosef Laumann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Nachhaltige Stärkung des Mittelstands durch
Innovationsförderung
- Drucksachen 15/1782, 15/3457 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Heinz Riesenhuber.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Vor fast einem Jahr haben wir diese Große Anfrage gestellt. Neun
Monate haben wir auf die Antwort gewartet. Wir sind
glücklich, diese jetzt zu haben. In neun Monaten entsteht
ein ganzer Mensch. In diesem Zeitraum kann man auch
eine gute Antwort zusammenbasteln. Heraus kam eine
große Anzahl von Aussagen von fleißigen und tüchtigen
Beamten. Diese werden wir jetzt mit Liebe betrachten.
Was wir brauchen und uns gemeinsam ansehen müssen, ist, ob wir eine konsistente Strategie haben, die in
diesem Bereich hilft. Der innovative Mittelstand - so
weit sind wir uns sicher einig - ist eine der großen Stärken unserer Wirtschaft. Wir haben in Deutschland
200 000 Unternehmen, die jährlich neue Produkte oder
neue Verfahren auf den Markt bringen. Wir haben
35 000 Unternehmen, die kontinuierlich Forschung betreiben. Diese Zahl ist innerhalb eines Jahrzehnts, vom
Ende der 70er-Jahre bis zum Ende der 80er-Jahre, um
mehr als 25 000 gestiegen. Das ist ein enormer Sprung.
Der forschende Mittelstand gibt 5,3 Milliarden Euro für
Forschung aus.
Er ist für 75 Prozent der Patente verantwortlich. Ich
zähle sie; ich bewerte sie nicht. Ich weiß, dass man hier
Einschränkungen machen kann. Der forschende Mittelstand ist es, der Innovationen in der Gesellschaft weiterbringt. Dadurch, dass er sich immer wieder erneuert,
dass etablierte Unternehmen neue Techniken nutzen,
dass neue Unternehmen auf der Basis von neuer Technik
oder von neuen Dienstleistungen, die auf neue Technik
zurückgehen, gegründet werden, ist er einer der dynamischen Kräfte unserer Volkswirtschaft insgesamt. Deshalb
befassen wir uns heute mit ihm; er stellt für uns eine zentrale Aufgabe dar.
({0})
Nun verhält es sich zweifellos so, dass nicht jede Innovation im Mittelstand der liebevollen Zuwendung der
Bundesregierung bedarf. Wenn dies so wäre, wären wir
in einer schrecklichen Lage. Vielmehr kommen viele Innovationen, bis in ganz kleine Unternehmen, von selber
zustande. Wenn die Frau meines Bäckers einen CateringService eröffnet, wenn sich ein Klempner, ein Maler und
ein Installateur zusammentun, um ein Bad innerhalb von
zwölf Tagen komplett renovieren zu können, wenn einige junge Leute die Homepage für eine Polsterei gestalten - dies alles ist Innovation. Der Staat kann nur dort
hilfreich sein, wo der innovative Mittelstand ein Mehr an
Technik zustande bringt, wo er mehr für die Volkswirtschaft erarbeitet, als es seinem betriebswirtschaftlichen
Ertrag entspricht. Deshalb setzen wir hier an.
Wie ist die Lage? Wir haben die zahlreichen und inhaltsreichen Antworten der Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage zugrunde gelegt, aber auch andere Daten.
Zum Glück sind wir nicht allein auf die Bundesregierung
angewiesen.
({1})
Das gilt auch für den Mittelstand; sonst wäre er in einer
noch schwierigeren Lage. Wir sehen uns einigen Fakten
gegenüber, die beunruhigend sind. Der erste ist: In den
letzten Jahren stagniert die Forschungskapazität.
({2})
Zugleich ist die Förderung durch die Bundesregierung
rückläufig. Der Grad der Gründungsintensität ist rückläufig; im Jahr 2002 waren es im IuK-Bereich minus
10 Prozent, bei den Spitzentechnologien sogar minus
18 Prozent. Nach dem Bundesforschungsbericht ist die
Zahl der Gründungen im Bereich der forschungsintensiven Unternehmen von 3 050 auf 2 250 zurückgegangen,
also um 800. Diese enorme Abnahme bezieht sich auf
den Zeitraum von 1998 bis 2002.
Nun fragt man sich: Was tut die Bundesregierung?
Was kann sie tun? Ich will mich jetzt nicht auf die Vielfalt der Programme der Bundesregierung beziehen. Ich
freue mich über Dinge, die gelingen. Beim Humangenomprojekt, bei der Informationsgesellschaft haben wir
ganz vernünftige Ansätze. Wir haben auch bei den Programmen, die wir zur Mikrosystemtechnik und zur Nanotechnologie aufgelegt haben, eine ordentliche Entwicklung zu verzeichnen. Aber den Sprung in die
Märkte haben wir nicht einmal im Bereich der Mikrosystemtechnik, mit der wir vor vielen Jahren schon begonnen haben, geschafft, von wenigen, einzelnen Ausnahmen abgesehen.
In Bezug auf die Gründung von Unternehmen ist
die Lage noch nicht vollständig befriedigend, nicht
wahr, Herr Schlauch? Wir haben, auch mit Ihren Vorgängern, lange an einer klaren Besteuerung der Fonds gearbeitet; wir haben gemeinsam dem Finanzminister an sein
hartes Herz gegriffen. Wir haben hinsichtlich der Besteuerung des Carried Interest Fortschritte gemacht,
wenn ich auch sagen muss, dass diese Besteuerung bei
uns nicht so gut ist wie in anderen Ländern, wo das als
Kapitalertrag und nicht als Einkommen besteuert wird.
Im Hinblick auf das, was die Kollegen von der SPD auf
ihrem Parteitag durchgesetzt haben, dass nämlich die
Wesentlichkeitsgrenze bei Beteiligungen heraufgesetzt
wird, sind wir überhaupt nicht weitergekommen; auch
daran müssen wir noch arbeiten. Der Hightech-Masterplan weist viele reizvolle Einzelheiten auf, aber eine Gesamtstrategie war es nicht. Der EIF/ERP-Fonds hat zwei
Jahre vor sich hin gedümpelt, bis es so weit war, dass in
den letzten Wochen die ersten Abschlüsse getätigt wurden. Darüber sind wir glücklich und dafür sind wir dankbar.
({3})
In vielem, lieber Herr Kuhn, sind wir tatsächlich beisammen. Ich will auch nicht die Bundesregierung in ihrer gesamten Schlechtigkeit hier vorführen;
({4})
ich will vielmehr versuchen, die Probleme aufzuzeigen,
die sie lösen will. Dazu gehört beispielsweise, dass die
Zahl der neuen Programme relativ begrenzt ist. Inno-Net
ist ein gutes und neues Programm; es ist innovativ. Aber
mit 17,5 Millionen ist es offenkundig unterfinanziert.
({5})
- Ich habe die Nanotechnologie hier gerade würdigend
und lobend erwähnt. Vor zwei Jahren habe ich sie als
Programm vorgeschlagen. Ich bin sicher, dass Sie damals auch so weit gedacht haben. Aber leider dauert alles so lange. Innovation lebt davon, dass man schneller
als die Konkurrenz ist. Aber nach dem Bericht der Forschungsministerin über die technologische Wettbewerbsfähigkeit sind wir langsamer als unsere Konkurrenten. Das ist unser Problem.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt
ziemlich wenig neue Programme. Viele Programme mit
neuen Titeln sind im Grunde genommen Fortschreibungen alter Programme: Pro Inno ist eine Fortschreibung
des Programms „Forschungskooperation“, BTU wird
jetzt als BTU-Startfonds aufgelegt und soll, wie ich höre,
im November endlich tatsächlich herauskommen. Das
ist eine Fortschreibung von TOU usw. EXIST Transfer
ist aus EXIST fortgeschrieben, Bio-Profile aus Bio-Regio.
Die Frage, ob der Regierung etwas Neues einfällt, ist
nicht ganz irrelevant. Wenn der Staat auf dem Weg in die
Wissensgesellschaft einen Beitrag leisten soll, dann
müssen wir manchmal auch unübersehbare Signale aufstellen. Sie haben die indirekt-spezifischen Programme
abgeschafft. Bei ihnen ging es nicht darum - das ist ein
grundsätzliches Missverständnis -, dass man an irgendwelche Leute Geld transferiert. Nach Ihrer Auffassung
ist Pro Inno der Ersatz für diese Vorgängerprogramme.
Das ist aber von ganz anderer Art. Es geht hier darum,
Signale aufzustellen, wie wir es früher bei Total Quality
Management, bei CADCAM-Techniken, bei der Mikroelektronik und bei der Biotechnologie getan haben. Hier
reicht es nicht aus, nur in einzelnen Bereichen etwas zu
tun. Auch dürfen die Programme nicht ständig weiterlaufen; sie müssen enden. Die Menschen müssen wissen,
dass sie sich beeilen müssen und nicht immer etwas bekommen.
({6})
Sie haben die vom BDI vorgeschlagene Forschungsprämie - ich halte sie für einen interessanten Vorschlag,
um die Forschung als Thema überhaupt wieder ins Licht
zu rücken - bis jetzt meines Wissens noch nicht einmal
diskutiert. Heute leuchtet die Innovationskraft der Innovationsministerien relativ schwach. Die Frage, wie weit
Technik strahlt, ist auch eine Frage der Darstellung.
Wenn man heute an Technik denkt, denkt man eher an
Saftflaschen und Blechdosen; man denkt mehr an Herrn
Trittin als an Frau Bulmahn. Das ist suboptimal.
({7})
Das ist nicht der Geist, aus dem heraus wir in Deutschland Zukunft gewinnen können. - Ich sehe bei der Koalition herzliche Zustimmung. Ich freue mich, dass wir uns
auch hierin einig sind.
({8})
Die Strahlkraft der neuen Techniken wird nicht von
der Bundesregierung entfaltet. Es reicht nicht aus, dass
Sie ein „Jahr der Innovation“ ausrufen. Das „Jahr der
Innovation“ kann man nicht als Überschrift setzen, um
dann zu warten, dass von irgendjemandem ein Inhalt
kommt. Nach meiner Kenntnis ist bis jetzt, sieht man
von Geschäftsstellen, Räten, Kommissionen und Konferenzen ab, auf diesem Gebiet noch nichts Inhaltliches
passiert.
({9})
Wenn die Bundesregierung führen will, muss sie sich
überlegen, was sie will. Dann muss sie damit herauskommen und es durchsetzen. Sie sollte aber nicht das
deutsche Volk mit ingeniösen Kommissionen befassen
und hoffen, dass von dort die Erleuchtung kommt, derer
sie selbst ermangelt. Das ist zu wenig.
({10})
Hier geht es um die Frage, wie man die Forschungspolitik anlegt. Hier gibt es zum Teil eine hervorragende
Bottom-up-Entwicklung. Unsere Beamten sind großartig. Sie haben sich auch nicht dadurch geändert, dass es
eine andere Regierung gibt. Sie müssen eher noch besser
sein, um die Defizite dieser Regierung auszugleichen.
({11})
Aber wir brauchen hier ein Konzept von oben: eine
Vision des Weges in die Wissensgesellschaft, die dann in
die einzelnen Bereiche heruntergebrochen wird.
({12})
Dazu gehört zum einen, dass sich die Bundesregierung
entschließt, ein einziges Gesicht für die Forschung vorzuzeigen. Liebe Frau Reiche, Sie haben davon gesprochen, dass wir ein Innovationsministerium bräuchten.
Das löste noch nicht alle Probleme; aber es vermiede
völlig verquere Managementfehler. Innerhalb des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit werden alle
Themen von Hartz bis zu Energie und Telekommunikation behandelt. Dass der Wirtschaftsminister als Forschungspolitiker das deutsche Volk mit Leidenschaft in
die Zukunft führt, haben wir noch nicht deutlich erkennen können. Er hat halt zu viel zu tun. Die Forschungsministerin hat so viele Probleme mit der Bildung - das
reicht von IGLU bis PISA und wie diese Gespenster alle
heißen -, dass sie als Verantwortliche für Forschung
überhaupt nicht auftaucht.
Wenn wir dies alles zu einer einzigen, in sich stimmigen Forschungsstrategie zusammenbringen, dann haben
wir eine Lösung des Problems.
Zum anderen gehört dazu das Geld. - Geben Sie mir
noch eine halbe Minute, Frau Präsidentin.
Sie wissen, wie ungern ich gerade Sie unterbreche.
Der Kollege Ernst Hinsken schenkt mir eine Minute.
Das ist wunderbar; darüber freuen wir uns alle.
({0})
Vielen Dank; das ist noble Freundschaft.
Freunde, lasst mich noch ein Wort zum Geld sagen.
Die Haushaltsansätze liegen weit unterhalb dessen, was
man uns erzählt hat. Wenn man von Gesamtschulen bis
Bildung alles weglässt, was eben nicht Forschung ist, so
sind die Forschungsmittel im Gesamthaushalt des Bundes nur geringfügig gestiegen, und zwar von
8,15 Milliarden Euro im Jahr 1998 auf 8,88 Milliarden
Euro im Soll 2004. Über die gesamte Regierungszeit bedeutet dies einen Zuwachs von 9 Prozent. Wenn Sie es
auf die einzelnen Ressorts herunterbrechen, dann wird es
nicht besser. Ich könnte Ihnen die Zahlen hier vortragen.
Ich möchte jetzt nicht über die Eigenheimzulage reden; darüber haben wir heute früh diskutiert.
({0})
Ich rede auch nicht über die Steinkohle. Nur so viel:
Man sollte einmal überprüfen, was die höheren Energiepreise für den Subventionsbedarf bei der Steinkohle bedeuten.
({1})
Ich rede auch nicht über die Windenergie. Es ist eine
groteske Situation, dass wir im nächsten Jahr mehr Geld
für die Windenergie als für die Steinkohle ausgeben.
Wenn wir die 2,5 Milliarden Euro für die Forschung hätten, dann hätten wir eine andere Welt.
Vielmehr rede ich davon, dass man mit sanftmütiger
Bescheidenheit und liebevoller Geduld mit seinen Haushältern spricht und Euro für Euro das Geld zusammensucht, so wie es unsere Kollegen getan haben. Um
300 Millionen Euro, die von den Haushältern gedeckt
werden, wollen wir den Forschungshaushalt erhöhen.
Jetzt tun Sie sich zusammen, liebe Freunde von der Koalition, und machen Sie das Gleiche für den Haushalt des
Wirtschaftsministers! Dann haben wir ein Plus von
600 Millionen Euro. Treten Sie unseren Anträge bei. Wir
werden Ihren Anträgen beitreten. So bekommen wir
dann gemeinsam ein großartiges und zukunftsfähiges
Konzept.
({2})
Liebe Freunde, die Welt lebt nicht nur von den majestätischen Reden und den großen Überschriften. Sie lebt
davon, dass man im eigenen Haus in Kleinarbeit die
Aufgaben erledigt. Ich lade Sie ein, demütig an den kleinen Punkten zu arbeiten. Im „Jahr der Innovation“ sollten Sie vor allen Dingen überlegen, wie Sie die Bundesregierung so innovieren, dass sie handlungsfähig und
strahlkräftig ist, damit sie unser Land in eine Zukunft
führt, die von Technik begeistert ist und verantwortlich
mit ihr umgeht, damit sie den Mittelstand mitreißt und
die Leute nicht in einer permanenten Depression hängen
lässt.
({3})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Ulrich Kasparick.
Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr Kollege
Riesenhuber, auf diesen Moment habe ich mich schon
längere Zeit gefreut.
({0})
Ich genieße es immer „mit wohlwollendem Herzen“, wie
Sie sagen würden, wenn Sie hier vortragen.
({1})
Heute habe ich allerdings vermisst, dass Sie sich auf den
Weg gemacht haben.
({2})
Üblicherweise laufen Sie hinter dem Rednerpult herum;
das habe ich vermisst. Es war für mich ein Ausdruck dafür, dass Sie tatsächlich in einem bestimmten Verständnis von Politik stehen geblieben sind.
Die Welt hat sich seit den Zeiten, in denen Sie Verantwortung trugen, erheblich verändert. Ich achte Ihre Leistungen für die Technologiepolitik in diesem Land sehr,
aber das, was wir seitdem an Globalisierungstendenzen
wahrnehmen, der damit verbundene enorme internationale Druck, unter dem insbesondere der hoch innovative
Mittelstand in Deutschland steht, ist ein völlig neues
Phänomen. Darüber haben Sie gar nicht gesprochen.
Vielmehr haben Sie eine Auffassung von Technologie
vertreten, die in den Zeiten, in denen Sie Verantwortung
hatten, angemessen und ordentlich war.
Ich darf allerdings eines noch hinzufügen: Sie wissen,
ich bin neu in der Funktion im Ministerium.
({3})
Da ist es gut, sich darüber zu informieren, welche Situation wir vorfanden, als wir 1998 in die Verantwortung
kamen. Sie haben eben davon gesprochen, Sie vermissten eine Vision für Technologie- und Innovationspolitik.
Ich erinnere Sie mit einem kleinen Augenzwinkern an
den schönen Satz des Altkanzlers: „Wer Visionen hat,
sollte mal zum Doktor gehen.“
({4})
- Von unserem! Helmut Schmidt hat eine Menge von Innovationen verstanden.
({5})
So einfach, wie Sie versuchen, eine nationale Technologie zu backen, ist die Welt nicht mehr, weil wir im Rahmen internationaler Verflechtungen agieren müssen. Wir
waren es, die die AiF antragsberechtigt für europäische
Mittel gemacht haben.
({6})
Wir waren es, die den Mittelständlern entsprechende Zugangsmöglichkeiten verschafft haben.
({7})
Deshalb habe ich es sehr vermisst, dass Sie in Ihrer
von mir mit warmem Herzen verfolgten Rede nichts
dazu gesagt haben. Was bedeutet es denn für den innovativen Mittelstand, sich in einer solchen Wirtschaft zu orientieren? Es gibt in Deutschland Standorte, an denen
man sich mit diesen Prozessen sehr intensiv beschäftigen
kann. Dazu lade ich Sie herzlich ein. Man kann das in
Jena studieren - im Rahmen des Fachbereichs „Optische
Technologien“ -; man kann es auch in Dresden studieren. Dort gehen wir, gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft und Infineon, völlig neue Wege: Wir bauen
eine Technologieplattform auf, die es uns erlauben wird,
den Standort Dresden zur Nummer eins in Europa zu
entwickeln. Das ist mittelstandsfördernde Innovationspolitik! Die kann man dort gewissermaßen besichtigen.
({8})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Riesenhuber?
Ich freue mich immer auf eine Auseinandersetzung
mit ihm.
Ich will jetzt nicht über die großartige Entwicklung in
Jena oder Dresden sprechen,
Warum nicht?
weil diese Entwicklung schon zu meiner Zeit begonnen hat, erst Recht aber unter meinen Nachfolgern. Das
ist der Grund, weshalb sie so erfolgreich war. Auch hier
haben Sie nur das fortgeschrieben, was schon da war.
Sie sprechen hier voller Begeisterung von der AiF
und ihrem Glanze.
Könnten Sie mir erläutern, wie es angesichts dieser
herzlichen Liebe zur AiF, von der Sie sprechen, dazu
kommen kann, dass die Mittelzuweisungen seit 1998 bei
der AiF kaum gestiegen sind, dass aus dem Soll des letzten Jahres von 97 Millionen Euro nur 90 Millionen Euro
im Ist geworden sind? Jedes Jahr werden bei Ihnen Abstriche vom Soll gemacht, 100 Millionen Euro allein
beim Arbeitsministerium für den innovativen Mittelstand und 730 Millionen Euro beim Forschungsministerium. In dieser Situation klingen die großartigen internationalen Visionen, die Sie uns vortragen, relativ
ausredenhaft. Würden Sie mir erläutern, wie Sie diese
Umstände in Ihr Weltbild einordnen?
Das erläutere ich Ihnen sehr gerne, verehrter Herr Professor Riesenhuber; denn Ihre Frage zeigt genau meinen
Hauptkritikpunkt: Sie argumentieren wieder national.
Wir sagen: Wir haben die AiF für europäische Mittel antragsberechtigt gemacht und erschließen völlig neue Finanzierungsquellen für sie. Darin unterscheidet sich unser Politikansatz. Wir müssen insbesondere den hoch
innovativen Mittelstand, der sehr exportabhängig ist, auf
die internationalen Märkte bringen. Der Unterschied zwischen unseren Ansätzen ist, dass wir weg von der nationalen und hin zu einer europäischen Perspektive wollen.
Wenn Sie gestatten, mache ich noch ein paar Bemerkungen zum Thema Geld: Erstens. Wir haben eine Situation vorgefunden, in der die Ausgaben gesunken sind.
Der Bereich Forschung war ein Steinbruch. Seit 1998 ist
im Gesamthaushalt für Bildung und Forschung, der gemeinsam verantwortet wird, ein Aufwuchs von
36 Prozent zu verzeichnen.
({0})
Ich weiß, dass Sie aus dem Technologiebereich kommen.
({1})
Aber heute werden Bildung und Forschung von einem
Haus verantwortet, verehrter Herr Professor Riesenhuber.
({2})
Zu diesem Aufwuchs von 36 Prozent kam es nicht
ohne Grund. Denn wenn man über Technologie redet,
muss man auch schauen, was am Beginn der Entwicklungskette steht. Selbst hier engagiert sich der Bund,
weil die Länder, was alle, die etwas von Forschungsförderung verstehen, beklagen, an dieser Stelle sträflich
versagt haben.
Zweitens. Warum sagen Sie eigentlich nicht, dass
Herr Stoiber alle Haushalte um 5 Prozent kürzen
möchte? Das würde angesichts der Struktur des Bundeshaushalts exorbitante Kürzungen im Forschungshaushalt
bedeuten. Wenn wir also schon offen und ehrlich miteinander reden, dann gehört zur Wahrheit auch, dass unser
süddeutscher Freund, dessen Äußerungen wir alle mit
warmem Herzen verfolgen,
({3})
bei allen Haushaltstiteln kürzen will. Deshalb rate ich
uns allen, ein bisschen zurückhaltender zu sein und uns,
anstatt große Worte von großen Visionen zu machen, auf
die Alltagsarbeit zu konzentrieren.
Sie haben die Beamten unseres Ministeriums gelobt.
Einige von ihnen kennen Sie noch aus Ihrer Zeit als Minister. Diese Beamten lerne ich jetzt kennen. Sie erzählen aus dieser Zeit gute Geschichten. Mit unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage haben wir Ihnen das
schriftlich zur Verfügung gestellt und Ihnen ins Stammbuch geschrieben. Wir haben uns sehr darüber gefreut,
dass Sie uns danach gefragt haben, welche Technologiepolitik diese Regierung verantwortet. Unsere Antwort
liegt Ihnen vor.
Ein letzter Satz zur Finanzierung: Wir würden gerne
noch mehr tun.
Herr Kollege Riesenhuber, ich glaube, Sie dürfen sich
setzen.
Deshalb die Bitte: Helfen Sie mit, dass die
6 Milliarden Euro frei werden, die wir dringend brauchen, um in der Technologie- und Innovationsförderung
noch besser zu werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Kollege Riesenhuber, jetzt haben Sie die Antwort der Bundesregierung fast persönlich erhalten.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Nachhaltige Stärkung des Mittelstands durch Innovationsförderung“ - so lautet der Titel der Anfrage von
Professor Riesenhuber. Er hat den Titel treffend gewählt,
klug gefragt und brillant gesprochen. Etwas anderes haben wir von ihm auch gar nicht erwartet.
({0})
Aber, verehrter Herr Professor Riesenhuber, was soll
eine Bundesregierung aus unternehmensskeptischen Sozialdemokraten und fortschrittsfeindlichen Grünen darauf antworten?
({1})
Für eine wahrhaft nachhaltige Stärkung des Mittelstands
durch Innovationsförderung ist diese Regierung schlichtweg die falsche Adresse. Die Stärkung der Innovationsfähigkeit des Mittelstands in Deutschland setzt mehr als
die Vermehrung des technischen Wissens voraus. In den
Debatten wird eines oft vergessen: Das genialste Innovationsverfahren ist ein funktionierender Wettbewerb, ein
funktionierender Markt, der gesteuert wird und in dem
richtig gerechnet wird, wodurch neue Innovationen und
Entwicklungen möglich werden. Ich weiß, dass Ihnen
das fremd ist.
Hier ist ein entscheidender Punkt. Der deutsche Mittelstand ist miserabel mit Kapital ausgestattet; die Eigenkapitalquote beträgt unter 8 Prozent. Durch Überreglementierungen werden schwierige Rahmenbedingungen
gesetzt. Wir haben vorhin über den Arbeitsmarkt debattiert. Diese Überreglementierungen machen es vielen
Betrieben mit guten Ideen und Entwicklungsmöglichkeiten unmöglich, das Potenzial für Innovationen und Veränderungen, das in ihnen steckt, so einzubringen, wie es
möglich wäre, wenn die Märkte anders funktionieren
würden.
({2})
Auch das gesellschaftliche Klima, in dem sich Innovationsprozesse entwickeln bzw. vollziehen können und
durch das sie möglich oder nicht möglich gemacht werden, spielt eine große Rolle. Es rächt sich eben, dass man
jahrelang Ängste beschrieben und Innovationsprozesse
verhindert hat. Mit viel Geld müssen jetzt die Gebiete
wieder aufgeforstet werden - mit ersten Erfolgen -, aus
denen man damals Unternehmen vertrieben hat, weil
man nicht den Mut hatte, die Weichen bei der Forschung
und Entwicklung richtig zu stellen. Als Beispiel nenne
ich das Bioregion-Programm Rhein-Main und RheinNeckar.
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass man in
der Stadt Ludwigshafen - der damalige sozialdemokratische Oberbürgermeister hieß Dr. Ludwig - viele Monate
benötigte, um ein Mittel gegen Diabetes auf biotechnologische Weise herstellen zu können. Zwei Jahre lang
haben sich die Anhörungen und Verfahren nach dem
Bundes-Immissionsschutzgesetz hingezogen. Wenn man
hier die Weichen nicht richtig stellt, hat das natürlich
Konsequenzen: Die Entwicklungen finden in anderen
Ländern und nicht hier statt.
Der nächste Punkt ist, dass die Innovationsquote bei
Grün-Rot ein Rekordtief nach dem anderen erreicht. Insofern muss man fast dankbar für jeden Euro sein, der
von Grün-Rot überhaupt noch irgendwo investiert wird.
Professor Riesenhuber hat das ja angesprochen. Es wird
das x-te Förderprogramm aufgelegt, um zu versuchen,
irgendetwas Innovatives anzustoßen. Sie haben tolle Namen dafür: Hightech-Masterplan, Pro Inno, Future 2000.
Am Erfinden von Namen liegt es also wirklich nicht.
Kernpunkt ist aber, dass Sie eine verfehlte Wirtschaftspolitik für den deutschen Mittelstand in schwerer
See nicht dadurch kompensieren können, dass Sie bunte
Regenschirme und Schwimmwesten in Form von diesem
oder jenem kleinen Förderprogramm ausgeben. So kann
es nicht funktionieren.
Die Gentechnik ist in Deutschland fast unmöglich
gemacht worden. Herr Clement spricht sich in einem
Akt der Verzweiflung für die Stammzellenforschung aus.
Frau Künast und ihre grünen Kollegen machen im Saarland und anderswo Wahlkampf mit der Forderung nach
„gentechnikfreien Bundesländern“. Ich wiederhole: gentechnikfreie Bundesländer! In einem solchen Klima
kann nicht das entstehen, was wir dringend brauchen: Innovationsprozesse, neue Ideen, Mittelstandsförderung
und neue Arbeitsplätze.
({3})
Das können Sie auch nicht ausgleichen, indem Sie
eine „Innovationsoffensive“ - das klingt fast militärisch
bzw. planwirtschaftlich - ausrufen. Vor gut 20 Jahren haben die Grünen in ihrem ersten Parteiprogramm noch
den Computer verteufelt, heute wollen sie sich als Internetpartei profilieren. Es war Joschka Fischer persönlich,
der die Insulinproduktion aus Deutschland vertrieben
hat. Die Zuckerkranken in Deutschland sind heute auf
saubere Insulinimporte aus dem Ausland angewiesen.
Ich möchte nicht in ein paar Jahren die Debatte führen,
ob wir gentechnisch hergestellte Medikamente gegen
Parkinson oder Krebs importieren dürfen. Deutschland
war einmal Apotheke der Welt. Sie aber haben hier vieles an potenziellen Entwicklungen gerade auch bei kleineren Betrieben behindert und unterdrückt.
Innovativ ist diese Bundesregierung eigentlich nur
beim Ablenken von den eigentlichen Problemen; das ist
ihre Stärke. Wenn wir aber Innovation, Wachstum und
Wohlstand fördern wollen, brauchen wir eine Rückbesinnung auf ganz andere Prinzipien. Wir müssen Entwicklungen ermöglichen, die sich rechnen. Wenn sich
etwas in der Wirtschaft nicht rechnet, dann führt man es
nicht weiter. Sie können zwar einen Investor zwingen,
Unsinniges fortzuführen, weil er die Entwicklung nicht
unterbrechen kann, aber er wird nichts Neues entwickeln.
Wir müssen gerade den eigentümergeführten Betrieben, den Mittelständlern, die Möglichkeit geben, sich
einzubringen. Handwerksbetriebe können zwar nicht
wie große Konzerne Flugzeuge und Weltraumtechnik
herstellen. Aber die Konzerne leben zum großen Teil
von der Innovationskraft der Mittelständler. Die Fertigungstiefe in der Automobilindustrie beträgt heute
20 Prozent. Das heißt, 80 Prozent dessen, was VW verkauft, stellt VW gar nicht her. Es sind in der Regel mittelständische Strukturen, die das an Produktivität und
Effizienzgewinn hinzuführen, was die Konzerne gar
nicht mehr herstellen können. Sie waren klug genug,
dies outgesourct zu haben. Vor zehn oder zwölf Jahren
war die deutsche Automobilindustrie gerade dabei, ihre
internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Sie hat
sie dadurch wiedergewonnen, dass sie ihre Fertigungstiefe dramatisch reduziert hat, um sich das Wissen,
die Fähigkeit und die Innovationskraft von Mittelständlern stärker zu erschließen.
Das hat zur Folge, dass wir Glückwünsche an deutsche Nobelpreisträger heute in der Regel in die USA
schicken müssen, weil sie dort erfolgreich wirken, wohingegen sie aus Deutschland schon lange ausgewandert
sind.
({4})
Deshalb hat Professor Riesenhuber zu Recht auf die
Kernpunkte hingewiesen. Dem jungen Kollegen, der eifrig lernt - vielleicht wird er es eines Tages auch verstehen -, kann man nur sagen: Lenken Sie Ihren Blick auch
auf die Entwicklungen jenseits von Programmen!
({5})
- Er hat es doch so dargestellt! Im Übrigen: Wenn sich
jemand, der neu dabei ist, darüber wundert, dass Herr
Riesenhuber nicht herumgewandert ist, und deshalb darauf schließt, dass er altmodisch ist, finde ich das auch
ein bisschen arrogant.
({6})
Herr Kollege, denken auch Sie bitte an die ablaufende
Redezeit!
Frau Präsidentin, ich bin bei meinem letzten Satz
gewesen. - Sie müssen ein Klima schaffen, in dem
Entwicklungen überhaupt möglich sind. Dafür müssen
Sie die Mittel bereitstellen, die Voraussetzungen schaffen und die Menschen ermuntern, anstatt sich rechthaberisch mit dem Verweis auf Pseudo-Schwimmwesten zu
weigern, Fehler zu korrigieren.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Brüderle, Ihre Innovationsfähigkeit als wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP haben wir in jüngster Zeit
erleben können, als Sie sich wie die Klammeraffen an
die alte Handwerksordnung oder die Interessen der Ärzte
und Pharmaindustrie gehängt haben. Auf diesem Sektor
waren Sie zu keinerlei Reformen fähig.
({0})
- Selbstverständlich, Herr Hinsken. Er hat ein Beispiel
nach dem anderen gebracht und in diese Richtung argumentiert. Zur Innovationsfähigkeit gehört auch eine gewisse Beweglichkeit. In der Marktwirtschaft muss man
nicht mehr zeitgemäße Subventionen und wettbewerbsverzerrende Mechanismen bekämpfen. Das haben Sie
nicht getan. Damit haben Sie sich deutlich diskreditiert.
Ihre Story von der Gentechnik und von den Grünen,
die Sie hier erzählen, ist doch abstrus.
({1})
Ich will das einmal klarstellen: Deutschland ist - das unterstützen wir - ein hervorragender Gentechnikstandort.
Das gilt insbesondere für die Rote Gentechnik, aber auch
für die Weiße Gentechnik, die für den Umweltschutz relevant ist. Ich nenne nur die Standorte südlich von München, Heidelberg und Berlin/Brandenburg, die Sie auch
kennen.
({2})
- Dass gerade in Brandenburg neue Betriebe der Roten
Gentechnik entstehen, sollten Sie wissen.
({3})
Und dass diese Betriebe durch die neuen Programme der
Bundesregierung unterstützt werden, kann man doch
nicht einfach mit einem Federstrich abtun.
({4})
- Wollen Sie eine Frage stellen?
({5})
Das kann man nicht einfach mit solchen Sprüchen à la
Brüderle zur Seite wischen.
({6})
Es ist richtig, Herr Brüderle, dass wir uns eine Frage
stellen. Wenn die große Mehrzahl der Verbraucherinnen
und Verbraucher keine gentechnisch manipulierten landwirtschaftlichen Produkte will, dann müssen wir uns,
wenn wir so etwas zulassen und zulassen müssen, natürlich fragen, ob wir sicherstellen können, dass für die
Äcker der Bauern, die Gentechnik ablehnen, keinerlei
Gefahren von benachbarten gentechnisch manipulierten
Äckern ausgehen.
({7})
Diese Frage haben wir gestellt und wir haben sie im
Sinne der Freiheit der Menschen, die nicht gentechnisch
Manipuliertes essen wollen, auch präzise beantwortet.
Das ist der Unterschied zwischen der freiheitlichen Partei der FDP und uns.
({8})
Uns Fortschrittsfeindlichkeit anzudichten, das können
Sie sich wirklich sparen, Herr Brüderle. Wenn Sie so etwas vortragen, wirkt das irgendwie immer nur gallig,
entspricht aber nicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
({9})
Ich komme jetzt zur Anfrage von Herrn Riesenhuber
und zur Antwort der Bundesregierung. Wir brauchen uns
nicht gegenseitig zu sagen, was wir alles gemeinsam toll
gemacht haben. Es sind einige Erfolge erzielt worden,
zum Beispiel bei den Dachfonds. Man kann jetzt mehr
investieren und damit mehr Venture Capital mobilisieren.
Aber ich will im Sinne von Dialog und weil ich weiß,
dass Sie sich ernsthaft mit der Frage beschäftigen, auch
sagen, womit ich nicht zufrieden bin. Ich glaube, dass
die Finanzierungsbedingungen für Venture-CapitalFonds in Deutschland noch nicht gut genug sind, denn
die Banken werden die teuren innovativen Firmen allein
nicht finanzieren können.
({10})
Wenn ich einen Vergleich mit Frankreich, England oder
mit anderen Standorten ziehe, muss ich feststellen, dass
es da noch Probleme gibt.
({11})
Deshalb möchte ich über Ihre Anfrage und über die Beantwortung hinaus einen Vorschlag machen.
Venture Capital ist eine ganz besondere Branche. Es
bedeutet, dass man bei vielen Engagements Verluste hat
- das liegt in der Natur der Sache -, dass man aber die
Möglichkeit haben muss, die vielen Verluste durch die
wenigen Gewinne, die man erzielt, oder durch das, was
man davon übrig behält, auszugleichen. Wir müssen uns
die Frage stellen, ob wir für diese Branche nicht Sonderbedingungen brauchen, weil solche Probleme in anderen
Wirtschaftszweigen so nicht auftreten.
Ich bin der Überzeugung, dass es richtig ist, zum Beispiel über den Weg des Gesetzes über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften bestimmte Günstigerstellungen
für diese Branche zu erreichen, und denke dabei an Verlustvorträge, an die Verrechenbarkeit von Gewinnen und
Verlusten aus verschiedenen stillen Beteiligungen und
vieles andere mehr. Darüber sollten wir ernsthaft in der
Koalition und auch im ganzen Haus sprechen.
Wenn wir das wollen, geht eines allerdings nicht:
Dann können wir bei einer allgemeinen Steuerreform
nicht sagen, dass wir alle Ausnahmen ablehnen. An dieser Stelle muss man bereit sein, ordnungspolitisch zu
springen und zu sagen: In bestimmten Bereichen sind
bessere Finanzierungsbedingungen notwendig, um Innovationen zu stärken. Darüber wird in der Koalition intensiv diskutiert und ich meine, wir sollten uns auch einmal
im Ausschuss die Zeit nehmen, über diese Fragen ausführlich zu reden. Die damit verbundenen komplizierten
rechtlichen und steuerrechtlichen Fragen sind nicht ganz
einfach zu lösen.
Herr Riesenhuber, zur Frage der Mittel, die in Innovationsförderung insgesamt fließen, eine kurze Bemerkung: Seit 1998 hat die Bundesregierung die Mittel für
Forschung und Wissenschaft um 1 Milliarde Euro erhöht. Das ist noch nicht die Summe, die wir erreichen
wollen. Wenn wir die Lissabon-Ziele ernst nehmen,
müssen wir noch zulegen. Aber natürlich stellt sich die
Frage, wie wir das finanzieren. Ich kann Ihnen in diesem
Zusammenhang nicht ersparen, dass ich noch einmal ein
Wort zur Eigenheimzulage sage. Sie macht ordnungspolitisch in der jetzigen Situation keinen Sinn mehr. Um
die Lissabon-Ziele zu erreichen, müssten wir in
Deutschland - nicht nur die Politik allein, sondern Wirtschaft und Politik - Jahr für Jahr zwischen 500 und
600 Millionen Euro zusätzlich für diesen Bereich ausgeben.
({12})
Wenn wir dies machen wollen, ergibt es ordnungspolitisch überhaupt keinen Sinn mehr, das Wohneigentum zu
subventionieren, wo doch die Wohnungsmärkte in weiten Teilen Deutschlands übersättigt sind und uns andererseits das Geld fehlt, notwendige Innovationen zu finanzieren. Es geht nicht, dass Sie sich hierhin stellen und
sagen - das haben Sie getan -, Sie wollten jetzt nicht
über die Eigenheimzulage diskutieren. Ich sage Ihnen
klipp und klar: Wer an dieser alten Subvention festhält
und die Mittel für Bildung, Wissenschaft und Forschung
in unserem Land nicht freisetzt, der müsste eigentlich
beim Thema Innovationsfinanzierung schweigen. Er hat
keinen wirklichen Zukunftsbeitrag geleistet, weil er sich
am Alten festklammert und nichts Neues eröffnet. Deswegen liegen Sie in diesem Punkt falsch.
({13})
Wir von den Grünen werden die Innovationsdebatte
und die Innovationsoffensive der Bundesregierung weiterhin kritisch unterstützen. Das heißt, dass wir es absolut richtig finden, hier einen Schwerpunkt zu setzen. Ich
will noch einmal klar und deutlich sagen: Allein mit Arbeitsmarktreformen und dem Umbau des Sozialstaats
werden wir die Arbeitslosigkeit nicht bekämpfen können. Das Gesetz des Standorts Bundesrepublik Deutschland heißt, dass wir hier Dinge machen müssen, die man
an anderen Standorten, egal bei welchen Kostenstrukturen, noch nicht machen kann, weil man die Fähigkeiten
dazu noch nicht hat. Ich betone: noch. Die anderen
schlafen nicht und werden einiges von dem, was wir
heute können, in einiger Zeit auch tun können.
Wer dieses Gesetz akzeptiert hat, der muss in Menschen und noch einmal in Menschen investieren. Bei der
Bildung muss er im Kindergarten beginnen und dann in
die Schule, die Weiterbildung, die Hochschule und in die
Forschung investieren. Das ist die Aufgabe, der wir uns
stellen müssen, sonst hilft die Politik der Arbeitsmarktreformen überhaupt nicht. Das ist der Weg, den wir
beschreiten. Ich kann der Regierung versichern, dass
meine Fraktion diesen Prozess fortschrittsfreundlich,
aber kritisch bezüglich der Frage, wo die Mittel am besten einzusetzen sind, begleiten wird.
Herr Riesenhuber, bei manchen Ihrer Äußerungen
spüre ich, dass Sie, wenn Sie nicht gerade hier für die
Union reden müssten, auch sehen, dass manches ganz
gut läuft. Über das, was noch nicht so gut läuft, unterhalten wir uns und dann bringen wir die Verbesserungen auf
den Weg.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich zunächst die Möglichkeit
nutzen, unserem verehrten Kollegen Hartmut Schauerte
herzliche Genesungswünsche zu übermitteln.
({0})
Er wäre heute der Hauptredner für unsere Fraktion gewesen. Er ist momentan im Genesungsurlaub und befindet sich auf dem Weg der Besserung. Ich möchte ihm zurufen, falls er zuschaut, er soll alles tun, damit er sich
möglichst bald wieder in unseren Reihen befindet und
seine Meinung und seinen Sachverstand einbringt, wie
man das von tüchtigen Abgeordneten erwartet.
Herr Staatssekretär Kasparick, Sie haben zwar laut
gebrüllt, aber ich möchte bei dieser Gelegenheit feststellen: Es war nicht allzu viel dahinter. Davon hat sich die
Rede von Herrn Kuhn wohltuend abgehoben.
({1})
Er hat aber wie ein gewandelter Grüner gesprochen,
einmal so und einmal so. Ich kann vieles nicht nachvollziehen. Wenn Sie sich dessen erinnern würden, was Sie
noch vor sechs bis acht Jahren gesagt haben, dann wüssten Sie, Herr Kuhn, dass Sie ganz weit von dem entfernt
waren, was Sie heute zum Besten gegeben haben.
Innovationen sind der wichtigste Treibstoff für die
wirtschaftliche Entwicklung. Innovationen sind der Kern
jeder Strategie für mehr Wachstum und Beschäftigung.
Innovationen waren die Ursache für den ungeheuren
industriellen Aufschwung in Deutschland zu Beginn
des 20. Jahrhunderts. In vielen Industriestaaten waren
die Deutschen zu dieser Zeit Weltmarktführer. Die deutschen Unternehmer standen für technische Innovationen
und Spitzenprodukte in der Elektrotechnik. Unsere Vorfahren sorgten mit bahnbrechenden Innovationen in der
Chemie und Pharmaindustrie wie Kunstdünger, Aspirin
und lichtechten Farben für Exportschlager. Zwischen
1901 und 1919 arbeiteten 20 von 57 Nobelpreisträgern
im Bereich Naturwissenschaften in Deutschland.
Wie sieht es heute aus? Herr Kollege Brüderle, Sie
haben bereits kurz darauf verwiesen: Seit 1998 gab es
vier naturwissenschaftliche Nobelpreise für Deutsche.
Aber sie alle forschten nicht bei uns, sondern in den
USA. Auch das muss uns zu denken geben. Deutschland
war einmal das Land der Tüftler, Erfinder und Unternehmer. Der Vergleich zwischen damals - dem Beginn des
20. Jahrhunderts - und heute ist entmutigend.
({2})
Die Ideen scheinen knapp zu werden. Wo es noch Ideen
gibt, kommt es zu Widerstand und Pannen, und zwar
gerade bei Ihnen, bei Grün und Rot.
Neue Kernkraftwerke werden nicht mehr gebaut, Herr
Kuhn. Gentechnische Großversuche fallen technikfeindlicher Zerstörungswut zum Opfer. Der Bau einer Wartungshalle auf einem Großflughafen dauert länger als die
Entwicklung eines Flugzeuges, das dort gewartet werden
soll. Die satellitengestützte Technik zur Erhebung einer
Autobahngebühr für Lastwagen funktioniert nicht. Wir
warten seit Jahren darauf, dass der Transrapid im eigenen Land fährt, meine verehrten Herren Parlamentarische Staatssekretäre, die Sie im Gegensatz zu den Ministern heute Gott sei Dank zahlreich zugegen sind. Aber,
Herr Dr. Staffelt und Herr Schlauch, es müsste im gemeinsamen Interesse von uns allen liegen, dass der
Transrapid nicht nur in China fährt, sondern auch bei uns
eingesetzt werden kann.
({3})
Das steht synonym für die Entwicklung, die in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen ist.
({4})
Meine Damen und Herren von der SPD und der grünen Fraktion, die letzte von Ihnen gebilligte Erfindung
war
({5})
der Farbfernseher. Das ist wohl bekannt und liegt wahrlich sehr lange zurück. Aber davon alleine können wir
nicht leben.
Nach sechs Jahren rot-grüner Bundesregierung schrillen die Alarmglocken für den Innovationsstandort
Deutschland laut. Im internationalen Vergleich liegen wir
bei den Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen
bezogen auf das Bruttosozialprodukt mit unter
2,5 Prozent deutlich hinter anderen Ländern. Herr Kollege Riesenhuber, Sie haben bereits den Finger auf diese
offene Wunde gelegt. In den USA sind es 2,6 Prozent, in
Japan 3,1 Prozent und in Finnland sogar 3,4 Prozent.
Aber wir liegen deutlich unter 2,5 Prozent.
Darunter leidet vor allen Dingen der Mittelstand. Die
Bundesregierung nimmt ihm damit die Luft zum Atmen.
Das ist das Verwerfliche. Denn die Folge ist: Obwohl der
Mittelstand das Rückgrat unserer Volkswirtschaft ist, ist
der Innovationsbeitrag kleiner und mittlerer Unternehmen derzeit eher enttäuschend. Der KMU-Anteil - der
Anteil der kleinen und mittleren Unternehmen - an den
Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Wirtschaft
sank in Deutschland von 15 Prozent im Jahr des Regierungswechsels, 1998, auf 13 Prozent im Jahr 2002 - das
ist ein Minus von 2 Prozentpunkten -, während die USA
bei gleicher Ausgangslage zwischen 1998 und 2002 ein
Plus von sage und schreibe 4 Prozentpunkten verzeichnen konnten.
({6})
- Melden Sie sich zu Wort, dann bekommen Sie auch
eine Antwort! Zwischenrufe bringen nichts. Sie werden
nicht gehört, noch nicht einmal von mir hier vorne.
Erschreckend ist, dass kleine und mittlere Unternehmen seit Jahren immer weniger in Forschung und Entwicklung investieren. In diesem Jahr wollen drei von
vier Unternehmen gar keine Investitionen mehr tätigen.
({7})
Es ist nicht mehr nachvollziehbar, dass kleine und
mittlere Unternehmen heute mit ihren Produkten weniger Geld verdienen als vor fünf Jahren. Der Umsatz, der
auf neue Produkte zurückzuführen ist, sank 2001 sogar
unter das Niveau von 1997. Innerhalb von zwei Jahren
hat sich der Anteil des Personals im Bereich Forschung
und Entwicklung im Mittelstand um 10 Prozent verringert.
Nicht nachvollziehbar ist auch - darin pflichte ich
Herrn Kuhn bei -, dass der Mittelstand infolge der Bankenkrise und einer restriktiven Kreditvergabe im Vorgriff auf Basel II kaum noch Kredite für Forschungsaktivitäten bekommt.
Aber was unternehmen Sie, um auf die Banken dahin
gehend einzuwirken, dass sie verstärkt Mittel zur Verfügung stellen? Sie von der Bundesregierung tun meiner
Meinung nach hier viel zu wenig. Sie selbst sind die
größte Innovationsbremse für den Mittelstand. Das
möchte ich ausdrücklich sagen.
({8})
Ich frage die Bundesregierung, was sie tun will, um
endlich mehr Innovationen im Mittelstand zu ermöglichen, damit auch hier Wachstum entsteht. Sie von der
Bundesregierung dürfen nicht nur reden, sondern sie
müssen auch etwas tun. Ich frage Sie deshalb: Was unternehmen Sie, damit die unternehmerische Umsetzung
von Spitzentechnologien wieder in den Mittelpunkt der
Wirtschafts-, der Forschungs- und der Bildungspolitik
rückt? Sie sind doch in der Pflicht, die Produktion am
Standort Deutschland zu sichern. Das bedeutet zuerst Innovationen und eine höhere Wertschöpfung und dann
höhere Löhne. Es darf nicht umgekehrt sein.
Die bürokratischen Hürden für Unternehmen sind
leider viel zu hoch. Bis eine neue GmbH ihre Tore bei
uns öffnen kann, vergehen 45 Tage. In Australien und
Kanada müssen im Gegensatz zu Deutschland nur zwei
Anträge gestellt werden. Die Registrierung lässt sich online abwickeln und ist in zwei bis drei Tagen abgeschlossen. Das Genehmigungsverfahren bei einer Unternehmensgründung dauert in den USA vier Tage und in den
Niederlanden elf Tage. Bei uns ist es im Vergleich zu den
Niederlanden also mehr als viermal so lang. Wir müssen
uns an den kürzeren Zeiten im Ausland orientieren; denn
nur so werden gute Ideen zur Reife gebracht.
Deutsche Unternehmen müssen auch wieder richtig
forschen und entwickeln können. Weder Verbraucherschutz noch Tierschutz noch Stoffpolitik noch Umweltschutz dürfen über das sachlich Gebotene hinaus zur Regel werden. Das sage ich ausdrücklich im Hinblick auf
das, was Sie vorhin zur Gentechnologie ausgeführt haben. In den USA, in Frankreich, Großbritannien, in den
Niederlanden und in Kanada machen die staatlichen Gelder - bei zum Teil niedrigeren Steuersätzen - einen Anteil von sage und schreibe 11 bis 16 Prozent an den Forschungs- und Entwicklungsausgaben der Wirtschaft aus.
Bei uns in Deutschland sind es magere 7,5 Prozent.
Deutschland braucht wieder eine umfassende Innovationskultur sowie Mut zur Technik und Freude am
Tüfteln. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wir alle sind gefordert, positive Beispiele technologischer Innovationen, Erfolge durch Veränderungen, den
Nutzen von technologischen Erfindungen sowie erfolgreiche Unternehmer und unternehmerische Initiativen
stärker herauszustellen. Deutsche Topwissenschaftler
dürfen nach dem Studium nicht länger zu Hunderten unser Land verlassen und zum Beispiel in die USA auswandern, nur weil sie dort bessere Fortbildungsmöglichkeiten vorfinden als bei uns. Diesem Exodus muss die
Bundesregierung ein Ende bereiten. Die Politik muss die
richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Eltern und
Schulen sollten gemeinsam die naturwissenschaftliche
Bildung fördern und die Jugend für Technik begeistern.
Kürzlich haben bei einem Symposium, das unter Leitung der werten Kollegin Frau Reiche stand, Wirtschaftler und Wissenschaftler gefordert, dass die entscheidende Triebkraft für mehr Innovationen in Deutschland
eine starke Wagniskapitalindustrie sein muss. Das ist
richtig.
Herr Kollege Hinsken, es geht zum Ende, weil Sie so
großzügig gegenüber Herrn Riesenhuber waren.
Wenn Sie mir das mit einer Minute vergelten würden,
wäre ich dankbar.
Nein. Ich habe Ihnen das schon vergolten. Jetzt geht
es wirklich zum Schluss.
Frau Präsidentin, mein letzter Satz. - Ich möchte
hierzu sechs Punkte vortragen, ({0})
Nein.
- die ich in einem Satz zusammenfasse.
Herr Kollege Hinsken, das mache ich nicht mit. Sagen Sie einen letzten Satz und dann ist es gut.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bedauere
sehr, dass ich meine sechs Punkte nicht mehr vortragen
kann. Wer sie kennen lernen möchte, der sollte sich bei
mir melden. Ich werde sie ihm schriftlich geben.
({0})
Herzlichen Dank.
({1})
So gibt es weiterhin einen regen Austausch.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Carola Reimann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir alle in diesem Hause sind uns einig
- auch beim Herrn Kollegen Hinsken hatte ich einen solchen Satz gehört -, dass die technologische Leistungsfähigkeit unseres Landes ganz maßgeblich von innovativen kleinen und mittleren Unternehmen bestimmt wird
und die Innovationskraft für Wachstum und Beschäftigung von zentraler Bedeutung ist.
Aufgrund flexibler Unternehmensstrukturen und hoher Risikobereitschaft sowie aufgrund von Unkonventionalität sind erfindungsreiche kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland an der Weltspitze. Das muss
man einmal sagen; das Gejammer aus den Reihen der
Opposition kann ich da nicht ganz nachvollziehen. Wir
haben sehr erfolgreiche kleine und mittelständische Unternehmen, die gerade international sehr gut aufgestellt
sind. Deutschlands Position als weltweit zweitgrößter
Technologieexporteur kommt nicht von ungefähr und
wäre ohne sie gar nicht denkbar.
({0})
Die Fakten sprechen für sich. Pro Jahr bringen circa
200 000 kleine und mittlere Unternehmen neue, innovative Produkte und Dienstleistungen auf den Markt. Aber
von diesen 200 000 Unternehmen betreiben nur 35 000
kontinuierlich Forschung und Entwicklung. Da liegt der
Handlungsbedarf. Denn mittelständische Unternehmen
sind sehr flexibel. Sie sind offener für neue Ideen. Wer
mit einer neuen Idee in ein kleines oder mittelständisches Unternehmen kommt, redet nicht mit dem Forschungsvorstand oder mit dem Vorstand für Entwicklung, sondern direkt mit dem Entwickler. So kann die
Idee sehr viel schneller in die Tat und in ein Produkt umgesetzt werden. Dadurch sind kleine und mittelständische Unternehmen besser in der Lage, die neuen Erkenntnissen innewohnenden Potenziale zu nutzen. In
den kommenden Jahren wird - das wissen wir alle - ihre
Bedeutung deshalb noch zunehmen. Denn die Umsetzung von Innovationen geht Hand in Hand viel schneller.
Wir werden den Technologietransfer noch ganz erheblich ausbauen müssen. Wir haben dafür aber auch
schon sehr viel getan. Da muss sich die Bundesregierung
in keiner Weise verstecken. Die neuen Modelle der Zusammenarbeit, die wir integriert haben, sind wesentlich
und entscheidend. Die öffentlich geförderte Forschung
auf der einen Seite ist sehr viel besser als zu Ihren Zeiten
ausgestattet; das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Die neuen Modelle der Zusammenarbeit zwischen
Forschung und mittelständischen Unternehmen auf der
anderen Seite erschließen Potenziale für die Wissenschaft und für die Wirtschaft im KMU-Bereich sehr viel
schneller.
Ich will auf die zwei Formen des Technologietransfers eingehen. Die Forschungskooperation ist eine besonders intensive Form des Technologietransfers. Aber
zunehmend werden auch Wissenschaftsnetze und innovative Netzwerke wichtig. Deswegen, Kollege Hinsken
- Sie telefonieren jetzt leider -,
({1})
ist nicht nur die Höhe der Forschungsausgaben von Belang, sondern vor allen Dingen auch die Integration der
kleinen und mittleren Unternehmen in die Forschungsnetzwerke. Hier muss die Förderung ansetzen.
Im Zeitraum von 1998 bis 2003 wurden kleine und
mittelständische Unternehmen in die Netzwerke der
Spitzenforschung mit einem Forschungsvolumen von
1,7 Milliarden Euro einbezogen. Das sind Zahlen, die
wir bis dahin nie hatten. Im gleichen Zeitraum sind auch
die Anzahl der geförderten kleinen und mittleren Unternehmen sowie ihr Anteil am Gesamtfördervolumen der
Wirtschaft ganz erheblich gestiegen. So sind die BMBFMittel, die an kleine und mittelständische Unternehmen
gehen, in diesem Zeitraum um über 55 Prozent gestiegen. Auch die Anzahl der geförderten Unternehmen ist
im gleichen Zeitraum sehr deutlich - von 1 132 auf über
1 900 - angewachsen.
Diese Entwicklung ist ein deutlicher Beweis dafür,
dass die direkte Projektförderung - und nicht nur die indirekten Maßnahmen - aus dem Hause Bildung und Forschung viel stärker als in der Vergangenheit am Bedarf
der kleinen und mittelständischen Unternehmen ausgerichtet wurde.
({2})
Die immer wieder geäußerte Ansicht, Projektmittel aus
dem BMBF flössen in erster Linie in Kooperationen mit
Großunternehmen, gehört wirklich der Vergangenheit
an.
Zunehmend saugen kleine und mittelständische Unternehmen Honig aus der Nutzung innovativer Netze. Da
ist nicht nur die Förderung durch das BMBF anzusprechen; auch das Bundesministerium für Wirtschaft und
Arbeit unterstützt diesen Transfer und die Zusammenarbeit durch verschiedene Programme. Herr Kollege
Riesenhuber sagte, er wolle dieses ganze Füllhorn von
Programmen nicht nennen. Ich glaube, ein paar sollte
man schon nennen.
Beispielsweise möchte ich auf das Programm unter
dem Titel 686 58 verweisen, das den zugegebenermaßen
etwas sperrigen Namen „Leistungssteigerung der technisch-ökonomischen Infrastruktur zu Gunsten der deutschen Wirtschaft, insbesondere kleinen und mittleren
Unternehmen“ trägt.
({3})
Was sich dahinter verbirgt, Herr Brüderle, ist die handfeste Nutzung von Forschungsergebnissen, die in den
drei Ressortforschungseinrichtungen des Wirtschaftsministeriums, nämlich der PTB, Physikalisch-Technische
Bundesanstalt - eine ausgewiesen gute Anstalt -, der
BAM, der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung - im Übrigen sehr nah an den Zulieferern -, und der
BGR, der Bundesanstalt für Geowissenschaften und
Rohstoffe, erarbeitet werden. In Bezug auf den Umgang
mit Eigentumsrechten - Sie als Liberaler müssten ja wissen, dass das ein sehr heikles Thema ist - stellt das einen
sehr großen Schritt dar.
Ich will das Programm NEMO, Netzwerkmanagement-Ost, nennen, das seinen Schwerpunkt auf die Entwicklung innovativer Netzwerke in den neuen Bundesländern gelegt hat. Da ist das Programm Inno-Net zu
nennen, das Verbundprojekte fördert, bei denen jeweils
mindestens zwei Forschungseinrichtungen und mindestens vier KMUs kooperieren. Ich will INNO-WATT ansprechen, das sich an Wachstumsträger in benachteiligDr. Carola Reimann
ten Regionen wendet, und vor allen Dingen das
Programm Pro Inno, das sehr erfolgreich gelaufen ist
und bei dessen Weiterführung auch wieder ein besonderer Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit von kleinen
und mittelständischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen gelegt wird.
Auch in den vom BMBF geförderten Kompetenznetzen sind kleine und mittlere Unternehmen sehr stark eingebunden, insbesondere in Netzwerke, bei denen es um
neue Technologien geht. Nehmen wir zum Beispiel Optec-Net. Da geht es um die Zulieferer von optischen
Technologien. 66 Prozent der Mitglieder dieses Netzwerkes sind kleine und mittelständische Unternehmen.
Es geht also nicht nur um die Höhe der Förderung, sondern auch um den Anteil von kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Ich möchte noch auf ein besonderes Forschungsgebiet
zu sprechen kommen, die Nanotechnologie. Es ist schon
vorhin angeklungen, dass in Deutschland zwei Jahre früher als in den USA Nanotechnologie gefördert worden
ist. Mit der parallelen Förderstrategie in den letzten Jahren - auf der einen Seite Projektförderung und auf der
anderen Seite Förderung von Kompetenznetzen als unterstützende Infrastruktur - wurde erreicht
({4})
- gerade so, Herr Hinsken -, dass wir nicht nur im Wissenschaftsbereich einen der vorderen Plätze einnehmen,
sondern die Anzahl der Technologieunternehmen zugenommen hat und ihr Renommee verbessert worden ist.
Diese Förderung wird in dem Rahmenkonzept „Nanotechnologie erobert Märkte“ fortgesetzt.
Frau Kollegin!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Das Anliegen des Konzeptes ist es, im Rahmen von Leitinnovationen anwendungsorientierte Produkte zu fördern, die
an der wirtschaftlichen Wertschöpfungskette - ({0})
- Herr Hinsken, Sie werden es doch wohl schaffen, noch
zwei Minuten zuzuhören.
Nein, Frau Kollegin, auch Ihr Schlusswort muss jetzt
kommen.
Ich komme zum Schluss. - Im Bereich der Nanotechnologie sind in diesem Jahr - lassen Sie mich diese Zahl
nennen - etwa 25 Prozent der Fördergelder, also ein
maßgeblicher Anteil, an kleine und mittlere Unternehmen geflossen. Weitere 25 Prozent gingen an die Großindustrie.
Frau Kollegin!
Die restlichen 50 Prozent gingen in den Forschungsbereich. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen dafür, dass
die Förderpolitik sehr stark auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen abstellt und ihnen dabei hilft,
innovative Produkte auf den Markt zu bringen.
Danke.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Lange.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn die Debatte am heutigen Nachmittag um
die Große Anfrage der CDU/CSU einen Sinn hat, dann
den, dass man Gemeinsamkeiten beschwört und sich gegenseitig versichert, dass man an einem Strang zieht.
Meines Erachtens sollte sie aber auch den Zweck haben,
für die Akzeptanz von Technik und Forschung in unserer
Gesellschaft zu werben. Ich sage das an dieser Stelle,
weil ich glaube, dass dies nicht durch das Hau-drauf-Gerede à la Hinsken und Brüderle gelingt, sondern eher
durch eine differenzierte Debatte.
Ich will Ihnen das mit Erfahrungen aus meinem Wahlkreis begründen. Ich habe in meinem Wahlkreis, wie sicherlich viele von Ihnen auch, Bürgerinitiativen gegen
Mobilfunkanlagen. Das sind besorgte Bürgerinnen und
Bürger, die nicht technikfeindlich sind, aber Angst haben. Es sind auch nicht alles Rote oder Grüne.
({0})
Es sind viele, die in kirchlichen Gruppen aktiv sind. Unsere Aufgabe als Politiker ist es, sie argumentativ zu
überzeugen.
In meinem Wahlkreis gibt es auch Bürgerinitiativen
gegen genmanipuliertes Getreide. Auch diese Bürger
sind nicht alle Rote oder Grüne, viele sind aus kirchlichen Gruppen in unserer Gesellschaft. Unsere Aufgabe
ist, differenziert zu argumentieren, statt draufzuhauen;
denn wenn wir draufhauen, werden wir sie sicher nicht
überzeugen, meine Damen und Herren.
({1})
Deshalb ist die Frage: Wie sieht der Arbeitsplatz der
Zukunft aus? Das ist eine Frage, auf die alle diese Leute,
die Ängste haben, eine Antwort haben wollen, weil sie
wissen, sie brauchen Arbeit, Lohn und Brot für ihre Familien. Deshalb ist es wichtig, dass wir im Zusammenhang mit dieser Debatte, die wir heute rund um Ihre
Große Anfrage führen, die Erfolge in den Mittelpunkt
rücken, die wir der Forschungspolitik dieser Bundesregierung verdanken.
({2})
Christian Lange ({3})
Zwischen 1998 und 2003 hat die Anzahl der geförderten kleinen und mittleren Unternehmen um rund
72 Prozent zugenommen. Im selben Zeitraum ist der
KMU-Anteil an den geförderten Wirtschaftsunternehmen von circa 61 Prozent auf gut 70 Prozent angewachsen. Durch die Einbindung in das Netzwerk und die Spitzenforschung hatten KMU von 1998 bis 2003 Zugang zu
einem Forschungsvolumen von gut 1,7 Milliarden Euro.
Dem Wissens- und Technologietransfer zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland wurden
damit neue Impulse gegeben.
Innovative KMUs sind im Innovationswettbewerb
auf leistungsfähige Partner angewiesen. Sie profitieren
deshalb maßgeblich von gestiegenen Investitionen in die
öffentliche Forschung in Deutschland. Im Zeitraum
2001 bis Mitte 2004 wurde etwa das Modellprojekt „Erleichterung von Existenzgründungen aus Forschungseinrichtungen“ mit einem Gesamtvolumen von 9,7 Millionen Euro durchgeführt. Ziel dieses Modellversuches ist
die Unterstützung außeruniversitärer Forschungsergebnisse bei der Förderung und Umsetzung von Ausgründungsvorhaben. Im Rahmen dieses Vorhabens wurden
bis Ende 2003 45 Ausgründungen realisiert, davon übrigens ein Viertel in den neuen Ländern, in denen bis jetzt
rund 250 neue Arbeitsplätze entstanden sind.
An diesen Beispielen soll deutlich werden, welche
Auswirkungen die abstrakten Zahlen in Millionen- und
Milliardenhöhe, die in der Forschungsdebatte, die wir
hier führen, genannt werden, für Bürgerinnen und Bürger haben und weshalb es sinnvoll ist, sich dafür einzusetzen.
Genaue Aussagen über den absoluten Beschäftigungsbeitrag beispielsweise innovativer Gründungen
sind generell zwar schwer möglich. Für forschungs- und
wissensintensive Gründungen aber hat das ZEW in einer
Studie aus dem Jahr 2002 das Wachstum der Beschäftigtenzahl untersucht. Dabei wiesen 57 Prozent der
Spin-offs aus der öffentlichen Forschung, die zwischen
1996 und 2002 gegründet wurden und die Anfang 2001
noch bestanden, ein positives Beschäftigungswachstum
auf. Bei akademischen Start-ups waren es 52 Prozent,
bei nicht akademischen Gründungen 41 Prozent. In
überlebenden akademischen Gründungen wurde eine
durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Zahl der
Beschäftigten von rund 20 Prozent ermittelt - plus
20 Prozent an Arbeitsplätzen, meine Damen und Herren!
Durch die akademischen Gründungen in forschungsund wissensintensiven Branchen wurden 215 000 Vollzeitarbeitsplätze geschaffen.
Ich meine, diese Zahlen können sich sehen lassen.
Deshalb müssen wir das hier deutlich sagen, die Bundesregierung in ihrem Kurs bestätigen und sie auffordern:
Weiter so!
({4})
Ich will auf ein Argument eingehen, das in der Debatte gefallen ist: die Stärkung der Eigenkapitalquote
der KMUs. Darin sind wir uns in der Tat einig. Deshalb
will ich darauf eingehen und gerne auch Ihren Vorschlag, Herr Kollege Kuhn, aufgreifen, uns mit dem
Thema Venture Capital in einer Ausschusssitzung auseinander zu setzen. Aber wenn hier der Eindruck erweckt wird, wie es in den berühmten Mittelstandsdebatten immer wieder der Fall ist, dass der Mittelstand
gegenüber der Großindustrie benachteiligt würde, muss
ich das zum wiederholten Male zurückweisen, weil es
einfach falsch ist. Der berühmte Vergleich, der in der Argumentation insbesondere vonseiten der Kollegen der
FDP immer wieder auftaucht, dass Kapitalgesellschaften
nur 25 Prozent Körperschaftsteuer zahlen, während Personengesellschaften 45 Prozent Einkommensteuer zahlen, ist falsch und greift zu kurz. Deshalb lassen Sie
mich an dieser Stelle sagen: Auch diejenigen Unternehmen, die nicht im Hightechbereich tätig sind, sind auf
genügend Luft für Innovationen in ihrem Betrieb angewiesen. Dazu ist es in der Tat notwendig, sie steuerlich
zu entlasten. Ich will drei Argumente dafür nennen, dass
wir das tun:
Erstens müssen Kapitalgesellschaften zusätzlich
Gewerbesteuer zahlen, was im Durchschnitt mit knapp
14 Prozent zu Buche schlägt. Also liegt ihre steuerliche
Gesamtbelastung in Deutschland bei rund 39 Prozent.
Personengesellschaften können die Gewerbesteuer hingegen mit ihrer Einkommensteuerschuld pauschal verrechnen. Das ist übrigens etwas, was insbesondere die
Selbstständigen über Jahre und Jahrzehnte gefordert haben und was diese Bundesregierung durchgesetzt hat.
({5})
Zweitens wird die Körperschaftsteuer von 25 Prozent
vom ersten bis zum letzten Euro des Gewinns erhoben,
während die Einkommensteuer progressiv ausgestaltet
ist. Bei Personenunternehmen sind nur die Gesellschafter steuerpflichtig, aber nicht die Gesellschaft selbst. Das
bedeutet, dass den Personenunternehmern wie jedem anderen Privaten der Grundfreibetrag und - wenn er Kinder hat - Kinderfreibeträge zustehen.
Drittens - der Vollständigkeit halber will ich Ihnen
noch dieses Argument entgegenhalten - stimmt die Behauptung nicht, dass die Personengesellschaft, beispielsweise der kleine Gründer, gegenüber der großen Aktiengesellschaft benachteiligt wird. Um im Jahr 2005 eine
den Körperschaften entsprechende durchschnittliche Gesamtbelastung von rund 39 Prozent zu erreichen, muss
ein lediger Personenunternehmer rund 130 000 Euro
versteuern, ein verheirateter Unternehmer rund
245 000 Euro. Leider erreichen nur etwa 5 Prozent aller
Personenunternehmen in Deutschland einen solchen Gewinn vor Steuern. Deswegen kann nicht von einer Benachteiligung von jungen, innovativen Unternehmern
gesprochen werden. Ich bitte Sie daher, diese Behauptung nicht immer zu wiederholen.
({6})
Ohne Zweifel ist die Eigenkapitalausstattung ein Problem. Deshalb sind alle Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang sinnvoll sind, zu ergreifen.
Die Wachstumsprognosen, was die gesamtwirtschaftliche Entwicklung anbelangt, schauen - das wissen Sie gut aus. Ich will betonen, dass sich der Anteil der FChristian Lange ({7})
und-E-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt sehen lassen kann. Er ist zwar noch nicht so hoch, wie wir uns das
alle wünschen - er ist noch weit von 4 Prozent entfernt -, aber es ist immerhin ein Schritt in die richtige
Richtung. Auch das muss einmal gesagt werden.
Im Jahre 1998, als wir die Regierung übernehmen
durften, hatten die F-und-E-Ausgaben einen Anteil von
2,31 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Im Jahre 2002
betrug dieser Anteil ausweislich der Stellungnahme der
Bundesregierung 2,52 Prozent.
({8})
Zum einen gebührt es sich eigentlich, der Bundesregierung für diese Steigerung zu danken und zu sagen: Weiter so! Zum anderen ist es ein Ansporn, sich Gedanken
darüber zu machen, wie wir diesen Anteil noch erhöhen
können.
Das hat in der Tat etwas mit der Erschließung von
weiteren Finanzierungsquellen zu tun. Zum Beispiel
können wir 8 Milliarden bis 9 Milliarden Euro durch die
Abschaffung der Eigenheimzulage freisetzen. Die Frage
ist doch, ob wir angesichts eines überhitzten Wohnungsmarktes weiterhin Subventionen für Häuser und Wohnungen brauchen oder ob es nicht besser ist, in Innovationen zu investieren.
Genau das wollen wir. Deshalb wünsche ich mir, dass
die Debatte nicht nach einem Schwarz-weiß-Schema
verläuft, sondern dass stärker differenziert wird. So können wir die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen,
dass sie unmittelbar von Forschung und technologischer
Entwicklung in Deutschland profitieren, weil ihr Arbeitsplatz sicher ist.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Erika
Ober, Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Globale Bekämpfung von HIV/Aids intensivieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Conny
Mayer ({2}), Dr. Christian Ruck, Annette
Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Entwicklungspolitik muss Bekämpfung von
HIV/Aids verstärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Markus Löning, Dr. Guido
Westerwelle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Hauptanliegen in der Entwicklungspolitik machen
- Drucksachen 15/2408, 15/2465, 15/2469,
15/3411 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Erika Ober
Dr. Conny Mayer ({3})
Thilo Hoppe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Siegmund
Ehrmann, Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, HansChristian Ströbele, Volker Beck ({5}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Auf dem Weg zur Erreichung der Millennium
Development Goals ({6}) - Probleme bei
der Zielerreichung erkennen und bewältigen
- Drucksachen 15/1005, 15/3506 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Siegmund Ehrmann
Thilo Hoppe
Markus Löning
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger,
Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Weltweite Armutsbekämpfung richtig machen
- Drucksache 15/3098 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist es so vereinbart.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die SPD-Fraktion zunächst der Kollegin Karin
Kortmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gegenstand der heutigen entwicklungspolitischen Debatte ist, wie wir die UN-Resolution 55/2 erfolgreich umsetzen können. Ich erinnere daran, dass
180 Staats- und Regierungschefs vor genau vier Jahren
die Milleniumserklärung unterzeichnet und sich damit
verpflichtet haben, die acht Milleniumsziele bis zum
Jahre 2015 umzusetzen. Wir alle wissen, dass es ein sehr
ambitioniertes Programm ist, durch neue Entwicklungspartnerschaften weltweit zur Halbierung der Armut und
zur Beseitigung des extremen Hungers beizutragen.
Zwei Jahre später wurde dann auf der UN-Konferenz
„Financing for Development“ in Monterrey bekräftigt,
dass die Länder eine Partnerschaft zur Erhöhung der
Auslandshilfe, zur Ausweitung des Welthandels und zur
Vertiefung der politischen und institutionellen Reformen
eingehen.
Seitdem ist, auch wenn dieses Ziel immer wieder infrage gestellt wird, viel geschehen: Die Vereinten Nationen haben wichtige Umsetzungsschritte zur Erreichung
der so genannten MDGs beschlossen haben. Eveline
Herfkens, die frühere niederländische Entwicklungsministerin, hat sehr engagiert die Rolle eines Motors für die
Umsetzung dieser Ziele übernommen und ist als Sonderbeauftragte von Kofi Annan tätig. Die Vereinten Nationen beabsichtigen, im nächsten Jahr in Deutschland eine
wichtige Koordinierungsstelle einzurichten, damit die
MDGs noch stärker in das Bewusststein der Akteure geraten können.
Es gibt wichtige Geberländer, die mittlerweile ihre
ODA-Quoten erhöht haben. Die EU hat sich bis zum
Jahr 2006 auf 0,39 Prozent des Bruttonationaleinkommens festgelegt. Neben den nationalen Haushalten wird
zurzeit über neue Finanzierungsquellen diskutiert und
intensiver darüber beraten, zum Beispiel über den guten
Ansatz von Gordon Brown im Hinblick auf einen erweiterten Schuldenerlass oder über die mir keineswegs plausible Überlegung, dass eine weltweite Waffensteuer
Geld für die Armutsbekämpfung bringen soll.
Wir stellen Geberharmonisierungen in den Mittelpunkt; sie sind neu in den Zielkatalog aufzunehmen. Die
Bundesregierung hat mit der Erreichung der MDGs ein
Aktionsprogramm beschlossen, das unter den Regierungen einmalig ist. Sie hat mittlerweile dazu einen zweiten
Bericht vorgelegt. Zudem haben sich neue Entwicklungspartnerschaften gegründet, unter anderem die
meiner Meinung nach sehr zu unterstützende GlobalMarshallplan-Initiative.
({0})
Aber auch der Referenzrahmen für die klassischen
Politikfelder, für die Entwicklungspolitik, die Außenund die Sicherheitspolitik, hat sich stark verschoben.
Das gilt für die großen Herausforderungen wie Armut,
Terrorismus oder Staatszerfall, denen die Politik gegenübersteht. Das gilt für die Zielsetzungen und Instrumente
politischen Handelns. Ich erinnere an die Diskussionen
über die militärische und die zivile Hilfe sowie an die
Debatten über Prävention und Reaktion. Aber auch auf
den unterschiedlichen Politikebenen, auf regionaler, nationaler und globaler Ebene, müssen Lösungen gefunden
werden.
Der Notwendigkeit einer besseren Vernetzung der
Entwicklungs-, Außen- und Sicherheitspolitik, aber
auch weiterer Politikfelder, wie sie heute bereits in der
Afghanistandebatte genannt worden sind, kommt angesichts der neuen Konfliktstrukturen eine zentrale Bedeutung zu. Damit wird der Sicherheitsbegriff neu beschrieben. Sicherheit wird heute als globale Sicherheit
beschrieben, als eine Sicherheit, die weniger an militärischer Dominanz und viel mehr an vernetzter Politik zur
Steuerung von nachhaltigen Entwicklungsprozessen orientiert ist.
Darauf hat die Bundesregierung Antworten gegeben.
Ich erinnere an das Konzept der erweiterten Sicherheit
des Verteidigungsministeriums, an die Neuansätze des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur globalen Strukturpolitik und
auch an das Konzept der zivilen Krisenprävention, das
vom Auswärtigen Amt und vom BMZ gemeinsam erarbeitet wurde.
Die menschliche Sicherheit, mit der wir es zu tun haben, macht nicht mehr die Staaten zum maßgeblichen
Ziel von Sicherheitsüberlegungen, sondern rückt ihre
Funktion als Mittel, für die Sicherheit der Menschen zu
sorgen, in den Vordergrund. Damit haben wir als Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker es
mit der Sicherheit vor Dürre und Hunger, mit der Sicherheit vor Drogen- und Waffenhandel, mit der Sicherheit
vor Korruption, mit der Sicherheit vor Nahrungs- und
Wasserknappheit, aber auch mit der Sicherheit vor Armut zu tun.
Der Entwicklungsausschuss der OECD hat sich im
Frühjahr auf seiner Jahrestagung in Paris einstimmig auf
eine Strategie zur Verbesserung der Sicherheitslage in
den Entwicklungsländern geeinigt. Die Geber vereinbarten, die Zusammenarbeit mit wichtigen Akteuren wie
Polizei, Parlament, Justiz und Zivilbevölkerung zu verbessern.
Sie einigten sich außerdem auf drei Bereiche, in denen künftig Unterstützung als öffentliche Entwicklungszusammenarbeit anerkannt werden kann. Der erste Bereich ist, dass bei Initiativen der Entwicklungsländer
mehr Transparenz im Hinblick auf die Verteidigungsausgaben zu schaffen ist. Die zweite Überlegung geht von
der Stärkung der Zivilgesellschaft als Kontrollinstanz
bei der Reform der Sicherheitssektoren aus. Der dritte
Punkt war, die Umsetzung von Gesetzen, die die Rekrutierung von Kindersoldaten verhindern sollen.
James Wolfensohn, der Präsident der Weltbank, hat
anlässlich der Vorstellung des diesjährigen Weltentwicklungsberichtes darauf verwiesen, dass Konflikte in vielen Ländern der Welt die Entwicklung untergraben und
dass Frieden und Entwicklung Hand in Hand gehen müssen. Dem können wir sicherlich nur beipflichten. Ich bin
froh darüber, dass Bewegung auf dem internationalen
Handelsmarkt, in der EU-Subventionspolitik, in den
Handelserleichterungen und in der WTO entstanden ist
und dass die Rohstoffausbeutung und die Privatisierung
öffentlicher Güter stärker öffentliche Sanktionen erfahren.
Wolfensohn sagte aber auch, dass selbst wenn wir lernen, die Entwicklungshilfe wirksamer zu machen, sie
auch weiterhin wohl dafür kritisiert wird, nicht wirksam
genug zu sein. Mit diesem schicksalhaft formulierten
Satz habe ich allerdings meine Probleme. Ich mag mich
damit nicht abfinden. Der Erfolg von Entwicklungspolitik hängt auch von den Wirkungen anderer Politiken ab,
welche die Wirkungen der Entwicklungszusammenarbeit gewollt oder ungewollt unterstützen, aber auch beeinträchtigen können.
Vor zwei Monaten legten die Vereinten Nationen mit
ihrem Bericht zur menschlichen Entwicklung die neuesten Zahlen vor. Danach ist der Lebensstandard in vielen Teilen der Welt heute niedriger als im Jahr 1990 und
der Durchschnittsbürger in 46 Ländern der Welt heute
ärmer als in den 90er-Jahren.
Nach dem Human Development Index, der sich vorwiegend über das Pro-Kopf-Einkommen, die Lebenserwartung und den Bildungsstand der Bevölkerung errechnet, haben seit 1990 weltweit 20 Länder einen
Entwicklungsrückschritt zu beklagen. Betroffen sind in
erster Linie die Länder im südlichen Afrika. Die Lebenserwartung in acht afrikanischen Ländern ist vor allem
durch die Ausbreitung von Aids auf 40 Jahre und weniger gesunken. Im Jahr 2001 lebten dort 47 Prozent der
Bevölkerung in absoluter Armut, 5 Prozent mehr als
noch vor 20 Jahren. Anders verhält es sich in anderen
Regionen der Welt. Beispielsweise leben in Asien heute
200 Millionen Menschen weniger als noch 1990 von nur
1 Dollar pro Tag.
Wir werden deshalb im kommenden Jahr bei der ersten Bilanzierung fünf Jahre nach der Millenniumserklärung sehr unterschiedliche Länder- und Regionalentwicklungen feststellen. Die Konsequenz kann nur sein
- wie wir es gestern im Obleutegespräch miteinander besprochen haben -, dass wir erstens nicht nach dem Gießkannenprinzip Entwicklungsressourcen verteilen, sondern noch stringenter an den Länderschwerpunktsetzungen arbeiten, dass wir zweitens klare Aufgabenverteilungen mit anderen bilateralen und multilateralen
Gebern festlegen, dass wir drittens die Geberaktivitäten
an den Armutsentwicklungsstrategien, die in den Entwicklungsländern erarbeitet werden, anpassen, dass wir
uns viertens an den Strukturen des Landes orientieren
und keine zusätzlichen eigenständigen und damit oftmals unnötigen EZ-Strukturen aufbauen und dass wir
uns fünftens auf ausgewiesene Sektorenbereiche, die die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit auszeichnen,
konzentrieren.
Ich bin sicher, dass unsere Entwicklungsministerin,
die heute an dieser Debatte nicht teilnehmen kann, weil
sie bereits auf dem Weg zur Weltbankkonferenz ist, uns
dort in diesem Sinne sehr gut vertritt.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Ruck für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
leere Kassen und hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland.
Das heißt, wir Entwicklungspolitiker werden immer öfter mit der Frage konfrontiert, warum wir Geld für die
Armen in aller Welt geben, wenn es vielen Deutschen
schlechter geht. Daher müssen wir klar machen: Weltweite Armutsbekämpfung ist richtig und wichtig, und
zwar auch für unsere eigene Zukunft. Das ist auch der
Tenor unseres Antrages, über den wir heute diskutieren.
Armutsbekämpfung ist zum einen richtig als Gebot der
Solidarität, der Humanität und der Nächstenliebe. Es ist
nicht hinzunehmen, dass Hunderte von Millionen Menschen in Entwicklungsländern in extremer Armut und Perspektivlosigkeit dahinvegetieren, einer Perspektivlosigkeit
und Armut, die wir uns in Deutschland gar nicht mehr
vorstellen können. Gott sei Dank haben unsere Landsleute Deutschland zum Spendenweltmeister gemacht;
das sind wir nach wie vor. Viele unserer Landsleute investieren einen Großteil ihrer Freizeit in humanitäre und
entwicklungspolitische Organisationen sowie in Nichtregierungsorganisationen und Kirchen. Ich glaube, es ist
an dieser Stelle angebracht, auch diesen in der weltweiten Armutsbekämpfung so engagierten Mitbürgern herzlich zu danken.
({0})
Andererseits hat Bundespräsident Köhler vor kurzem
sehr richtig gesagt, die Armutsbekämpfung sei die
größte Herausforderung für Stabilität und Frieden in
der Welt. Diese Aussage macht deutlich, dass weltweite
Armutsbekämpfung nicht nur richtig, sondern auch
wichtig ist. Sie ist wichtig für die Menschen in den Entwicklungsländern genauso wie für uns Deutsche; die
weltweite Armutsbekämpfung dient auch unseren eigenen Interessen.
Die strategische Bedeutung der Entwicklungspolitik
ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Ohne effiziente Politik zur nachhaltigen Entwicklung gibt es keine
nachhaltige Strategie für Stabilität und Wachstum und
gegen Terrorismus, soziale Sprengsätze und Umweltzerstörung. Auch unsere sicherheitspolitischen und Frieden
sichernden Maßnahmen in fragilen Entwicklungsländern
wie zum Beispiel in Afghanistan oder auf dem Balkan
stehen ohne Armutsbekämpfung auf tönernen Füßen.
Natürlich ist weltweite Armutsbekämpfung schwierig.
Achtbaren Erfolgen, zum Beispiel in der Gesundheitspolitik oder bei der Alphabetisierung in Asien, stehen auch
wirklich frustrierende negative Erfahrungen gegenüber,
zum Beispiel in vielen Ländern Afrikas. Wir müssen uns
aber immer vor Augen halten, dass bereits heute 800 Millionen Menschen hungern und sogar 24 000 Menschen,
vor allem Kinder, täglich verhungern. Diese Zahl wird
sich womöglich bis zum Jahre 2050 verdreifachen. Angesichts dieser sich anbahnenden globalen Tragödie
müssen wir uns immer wieder selbst fragen: Bewegen
wir uns mit unseren Konzepten zur Armutsbekämpfung
wirklich auf dem richtigen Weg?
Unseres Erachtens befindet sich die Bundesregierung
mit ihrem Konzept nicht auf dem richtigen Weg. Große
Sprüche, aber keine Substanz ({1})
das ist für mich das Fazit, wenn man den rot-grünen Medienrummel dem gegenüberstellt, was wirklich passiert
ist und noch passiert. Musterbeispiel ist das Aktionsprogramm 2015. Es wurde 2001 mit großem Pressetamtam
der Öffentlichkeit vorgestellt, aber die Umsetzung dieses
Programms klemmt. Die Bundesregierung hat ganz offensichtlich die Problematik unterschätzt, vor der man
steht, wenn man eine zwar symbolträchtige, aber als
Grundlage für konkretes Regierungshandeln untaugliche
Zielsetzung zu einem konkreten nationalen Arbeitsauftrag umformulieren will. Deswegen hat die Wochenzeitung „Die Zeit“ das Aktionsgebräu des Bundeskanzleramtes auch als Geschwafel bezeichnet.
Es kommt auch einer Bankrotterklärung gleich, dass
die Bundesregierung trotz entsprechender Ankündigung
vor dreieinhalb Jahren immer noch keinen Umsetzungsplan vorgelegt hat. Ich glaube, dass wir auf diesen Umsetzungsplan auch weiterhin vergebens warten werden.
Stattdessen versucht sich die Bundesregierung aus der
Misere zu befreien, indem sie ihr Engagement für die
weltweite Armutsbekämpfung mit wirklich geradezu
olympiareifen Tricksereien hochjubelt. Ich glaube, wir
sind im Jahre 2004 bei 88,19 Prozent der Vorhaben zur
Armutsbekämpfung angekommen. Vollkommen zu
Recht haben die deutschen Kirchen der BMZ-Leitung
Etikettenschwindel vorgeworfen.
({2})
Im Ergebnis muss man leider sagen, dass das Aktionsprogramm den Bundeskanzler und andere beteiligte
Ressorts völlig kalt gelassen hat. Symptomatisch hierfür ist,
dass Kanzler Schröder während seiner ersten Reise nach
Afrika versprochen hat, eine wegweisende Bundestagsdebatte zu diesem von Armut geplagten Kontinent durchzuführen. Auf diese Debatte warten wir leider bis heute. Auch
das Auswärtige Amt, auf dessen Kooperation das BMZ
bei der Arbeit in vielen Entwicklungsländern angewiesen ist, lässt das BMZ oft im Regen stehen, zum Beispiel
im Kongo. Für eine rasche und flexible Beteiligung an
der Stabilisierung staatlicher Krisen zeigt sich die Bundesregierung oft zu schwerfällig; das BMZ ist alleine
überfordert. Dies hat man heute auch bei der Debatte
über Afghanistan gesehen. Wenn es um schnelle Reaktionen geht, sind wir in unserer Entwicklungspolitik teilweise nicht mehr handlungsfähig, weil wir kein Geld
mehr haben.
Das hehre Ziel des Aktionsprogramms 2015, das gesamte Bundeskabinett in die Armutsbekämpfung einzubinden, ist den alltäglichen Ressortegoismen zum Opfer
gefallen. Auch das schon beschriebene Ziel, bis 2006
den Anteil der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf 0,33 Prozent unseres Nationaleinkommens zu
heben, ist in weite Ferne gerückt.
({3})
Dies ist gerade im Hinblick auf den deutschen Beitrag zu
den Milleniumszielen eine Blamage vor der internationalen Öffentlichkeit.
({4})
- Ja, ich nehme alles zurück.
({5})
- Aber den letzten Satz würde ich dann zurücknehmen
und mich sogar noch darüber freuen, Frau Kortmann.
({6})
Hinzu kommen auch handwerkliche Fehler. Die wurden schon angesprochen; wir diskutieren darüber auch in
aller Offenheit. Das Konzentrationskonzept der BMZFührung kann nicht überzeugen. Regional herrscht oft
ein erratisches Gießkannenprinzip. In den jeweiligen
Partnerländern herrscht trotz aller Konzentrationsschwüre - bei unserer Indienreise vor wenigen Wochen
haben wir dies erlebt ({7})
ein bunter Fleckerlteppich aus verschiedensten Maxiund Miniprogrammen und -projekten. Vor allem in den
Schwellenländern geht damit die Signifikanz unserer
Entwicklungszusammenarbeit verloren. Andererseits
werden gerade Kooperationssektoren wie Bildung und
ländliche Entwicklung, die für die Armutsbekämpfung
so wichtig sind, stiefmütterlich behandelt. Eine erfreuliche Ausnahme - dafür haben viele Parlamentarier aus allen Fraktionen gekämpft - ist, dass die Bekämpfung von
HIV und Aids ernst genommen wird; darüber werden
nachher noch unsere Kolleginnen sprechen. Dieser Bereich wurde sehr schnell mit erheblichen Mitteln ausgestattet.
Aber wir haben nach wie vor manche Probleme in der
Entwicklungspolitik nicht im Griff. Entwicklungsressourcen werden verschwendet, weil die Akteure auf internationaler und EU-Ebene unkoordiniert Doppelarbeit
leisten oder gar gegeneinander agieren. Auch hier fällt
die Koordinierungsbilanz des BMZ leider sehr dürftig
aus. Dasselbe gilt für die EU-Kommission. Wir haben
uns schon oft darüber beklagt, dass die Kommission inzwischen vom BMZ eine halbe Milliarde Euro erhält,
obwohl sie in ihrer Entwicklungszusammenarbeit immer
mehr Geld unkontrolliert über direkte Budgethilfe hinausbläst. Auch lässt sie ihre EntwicklungszusammenarDr. Christian Ruck
beit nur sehr widerwillig von uns und den anderen EUPartnerstaaten koordinieren.
({8})
- Nach sechs Jahren rot-grüner Bundesregierung ist dies
ein etwas spärlicher Hinweis auf das, was in der EU passiert oder nicht passiert.
({9})
Entscheidend für die Effizienz der internationalen Armutsbekämpfung ist, dass wir uns nicht selbst in die Tasche lügen, sondern die wirklich wichtigen Stellschrauben benennen. Für mich sind es erstens Good
Governance und zweitens die Beteiligung der Entwicklungsländer an der Globalisierung.
({10})
Hauptverantwortlich für die fehlenden Erfolge in der
Armutsbekämpfung ist Bad Governance. Ich erinnere an
das, was Weltbankvizepräsident Richard im Ausschuss
gesagt hat:
Bad Governance ist das größte Hindernis für effektive Armutsbekämpfung.
({11})
Bad Governance ist auch das größte Hindernis für Wirtschaftswachstum.
Was nun die Einbindung der ärmeren Länder in den
Welthandel angeht, haben sich bisher überhaupt keine
Fortschritte ergeben. Auch hier müssen wir über unser
Vorgehen sorgfältig diskutieren. Eine blinde Liberalisierung der Weltmärkte bringt unseren Zielgruppen oft
nichts. Wir müssen den Abbau des Protektionismus so
organisieren, dass die Armen in den Entwicklungsländern davon profitieren. Jetzt stellt man bei der rot-grünen Bundesregierung eine wenig Erfolg versprechende
Tendenz fest: Die deutschen Bauern werden ärmer, aber
die Armen in den Entwicklungsländern ebenfalls. Das ist
auf jeden Fall die falsche Strategie.
({12})
Mein Fazit lautet deshalb: Neben einer besseren Ausstattung der Entwicklungszusammenarbeit, neben einer
Steigerung der Effizienz unserer Strukturen und einer
gezielten Auswahl der Partnerländer und Kooperationssektoren müssen wir wirksamer als bisher auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen setzen, nämlich auf
die Integration der Entwicklungsländer, zum Beispiel
durch Mikrofinanzierung - nächstes Jahr ist das UN-Jahr
der Mikrofinanzierung - und durch Agrarreformen, um
auch wirklich den Armen eine Perspektive zu geben.
Außerdem müssen wir bei der Reform der internen
Politik in den Entwicklungsländern vorankommen. Notfalls müssen wir diese Good Governance, die Rechtssicherheit, die Achtung der Menschenrechte usw., provozieren und erzwingen. Das kann Entwicklungspolitik
nicht allein. Dafür, Frau Kortmann, brauchen wir natürlich eine viel engere Verzahnung und Abstimmung zwischen Entwicklungs-, Außen- und Sicherheitspolitik.
Herr Kollege!
Wir brauchen ein effizienteres Krisenmanagement
- Stichworte Sudan und Kongo -, und zwar tatsächlich
und nicht nur auf dem Papier, Frau Kortmann. Wenn wir
hierbei nicht vorwärts kommen, dann ist auch die Armutsbekämpfung zum Scheitern verurteilt.
({0})
Herr Kollege, wenn Zusammenfassungen nach Ablauf der Redezeit angekündigt werden, dann wäre es
schön, wenn sie knapper ausfallen könnten.
Nun erteile ich für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Uschi Eid das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Auf der Konferenz von Rio 1992 hat sich
die Weltgemeinschaft hinsichtlich der wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklung auf das Leitbild der Nachhaltigkeit geeinigt. Im September 2000 haben sich die
Vereinten Nationen mit der Jahrtausenderklärung - auch
Milleniumserklärung genannt - ein Dokument geschaffen, das die Ziele der Weltkonferenzen und Aktionspläne
der 90er-Jahre zusammenfasst. Es richtet unser Handeln
auf die drängendsten Ziele und Herausforderungen des
21. Jahrhunderts aus.
Die Staatengemeinschaft musste sich acht Jahre nach
Rio auf politische Prioritäten verständigen. Das bis dahin eher unkoordinierte Bemühen von Entwicklungsund Industriestaaten hatte uns auf dem Weg zu einer
wirklich nachhaltigen Entwicklung nur wenige Schritte
vorangebracht. Die Entwicklungslücke blieb bestehen.
Einzelne Länder machten zwar große Fortschritte, aber
häufig zum Preis einer zerstörten Umwelt oder sozialer
Verwerfungen. Die Probleme sind uns allen bekannt; ich
muss sie hier nicht einzeln benennen. Deshalb war und
ist diese Prioritätensetzung grundsätzlich richtig. Die
Milleniumsziele geben uns Orientierung, damit unser
Handeln in einer gemeinschaftlichen Anstrengung von
Nord und Süd, von Arm und Reich insgesamt zielgerichteter wird und wir somit Nachhaltigkeit in den internationalen Beziehungen und in der wirtschaftlichen Entwicklung verwirklichen können. Das ist die Grundlage
der Politik der Bundesregierung. Daran werden wir weiter hart arbeiten und das setzen wir auch um.
Herr Ruck, Sie müssen uns in diesem Zusammenhang
gar nicht belehren; denn wir geben dafür 3,7 Milliarden Euro pro Jahr allein aus unserem Haushalt aus
und arbeiten daran mit guten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unserem Haus, in der GTZ und in anderen
Durchführungsorganisationen sowie mit zwei ziemlich
guten Damen an der Spitze.
({0})
Die Staatengemeinschaft hat sich vor allem dem Ziel
der Halbierung von extremer Armut verschrieben.
Viele sind skeptisch und fragen sich, ob uns das wirklich
gelingen wird. Die Antwort darauf kann nur lauten: Es
bleibt uns gar keine andere Wahl. Ja, wir müssen die Armut halbieren; denn jeder Mensch, der an Hunger stirbt,
ist ein Opfer zu viel. Der Tod jeder einzelnen Mutter, die
wegen mangelnder Gesundheitsfürsorge bei der Geburt
eines Kindes stirbt, ist nicht zu verantworten. Aber worin bestehen die Voraussetzungen, um dieses Ziel erreichen zu können?
Erstens. Besonders die Länder mit den meisten und
ärmsten Menschen müssen ihre Verantwortung übernehmen und eine klare, entwicklungsorientierte Innenpolitik
verfolgen. Gefragt ist zweitens eine ernst gemeinte Unterstützung dieser Länder durch die internationale Gemeinschaft. Das schließt drittens selbstverständlich auch
die deutsche Entwicklungspolitik ein, weshalb der
Kampf gegen die extreme Armut ein wichtiger Bestandteil unserer Entwicklungskooperation ist.
Meine Damen und Herren, jenseits dieser Voraussetzungen steht eines fest: Die Erreichung der Millenniumsziele wird sich auf jeden Fall in Afrika entscheiden. Im
Hinblick auf die Halbierung der Armut und des Hungers
machen Asien und Lateinamerika Fortschritte. In Afrika
südlich der Sahara aber sind sogar Rückschritte zu verzeichnen. Gute Aussichten, Ziel Nr. 2, die allgemeine
Primarschulbildung, zu erreichen, haben Lateinamerika
und die Karibik. In Subsahara-Afrika sind die Einschulungsraten weiterhin chronisch niedrig, auch wenn es in
einzelnen Ländern erhebliche Verbesserungen gibt.
Bei der Versorgung mit Trinkwasser und sanitären
Grunddiensten hinkt Afrika hoffnungslos hinterher. Die
neuesten Zahlen von UNICEF und WHO zeigen deutlich: Statistisch gesehen ist die Welt insgesamt auf Kurs.
Aber Subsahara-Afrika liegt weit zurück. Lediglich
58 von 100 Menschen haben dort Zugang zu sauberem
Wasser, 42 haben diesen Zugang nicht. Darüber kann
auch ein Land wie Tansania, das in den letzten Jahren einen ungeheuren Zuwachs zu verzeichnen hatte, oder ein
Land wie Namibia, dessen Bevölkerung zu 90 Prozent
mit Trinkwasser versorgt ist, nicht hinwegtäuschen.
Das Millenniumsziel Nr. 6 legt fest, dass bis 2015 die
Ausbreitung von HIV/Aids zum Stillstand gebracht und
die Trendwende der steigenden Infektionsraten eingeleitet sein muss. Ein Blick darauf zeigt, dass Afrika am
stärksten betroffen ist, weshalb dort bei der Aids-Bekämpfung unser regionaler Schwerpunkt liegt.
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir aus dem Gesagten? Erstens. Reformorientierte Afrikaner, die in ihren Ländern wirksame Schritte zur Erreichung der Millenniumsziele unternehmen, werden von uns unterstützt.
Die Bundesregierung fördert Demokratie, unterstützt
Umweltmaßnahmen, hilft bei der Korruptionsbekämpfung und stellt bei Reformen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik Beratung zur Verfügung.
Zweitens. Die Bundesregierung investiert gezielt in
die Bereiche, auf die sich die Staaten gemeinschaftlich
in Form der Millenniumsziele geeinigt haben. Ich
möchte nur zwei Beispiele nennen: Über 350 Millionen
Euro fließen pro Jahr im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit in den Wasserbereich. Damit sind wir
weltweit der zweitgrößte bilaterale Geber. Die Europäische Kommission hat mit ihrem Wasserfonds in Höhe
von 500 Millionen Euro und mit einem Förderschwerpunkt auf Afrika einen wichtigen Schritt getan, um zu einer besseren Wasserversorgung beizutragen.
Die Bundesregierung geht die Aids-Bekämpfung
entschiedener an als je zuvor, auch entschiedener als unsere Vorgänger, Herr Ruck. In dieser Hinsicht müssen
Sie uns gar nichts sagen.
({1})
Jedes Jahr wenden wir über 300 Millionen Euro für die
Aids-Bekämpfung auf. Allein auf dem afrikanischen
Kontinent sind wir in 28 Ländern engagiert.
({2})
Drittens. Wenn der Kampf gegen Armut und für
Wohlfahrtssteigerung wirksam und nachhaltig sein soll,
müssen die politischen Entscheidungsträger in den Entwicklungsländern den politischen Willen dazu haben.
Das ist die Grundvoraussetzung jeglichen Handelns. Wir
sind bereit, sie dabei zu unterstützen, ihren politischen
Willen umzusetzen.
Meine Damen und Herren, bei aller Konzentration auf
die festgesetzten Jahrtausendziele dürfen wichtige Themen jedoch nicht aus dem Blick geraten. So hätte zum
Beispiel - hier stimme ich Ihnen, Herr Ruck, vollkommen zu - der Bereich verantwortliches Regierungshandeln eine größere Beachtung im Zielkatalog verdient.
Schließlich sind förderliche politische und ökonomische
Rahmenbedingungen für Entwicklungserfolge unabdingbar. Auch hätte ich mir wirtschaftspolitische Ziele
gewünscht; denn ohne Wirtschaftswachstum sind viele
Ziele schwer zu erreichen. Armut kann aber nur dann reduziert werden, wenn über Investitionen in Erziehung
und Gesundheit hinaus Arbeitsplätze und Einkommen
für die Armen geschaffen werden.
Warum gibt es zum Beispiel kein Millenniumsziel, das
die Entwicklungsländer verpflichtet, bis zum Jahr 2015
die Anzahl der steuerpflichtigen Reichen, die dort keine
Steuern zahlen, zumindest zu halbieren? Warum gibt es
kein Millenniumsziel, das die beteiligten Länder verpflichtet, die bürokratischen Hürden zur Gründung eines
Unternehmens bis 2015 mindestens zu halbieren? Warum gibt es kein Millenniumsziel, welches festlegt, dass
alle Gesetze, durch die die Pressefreiheit eingeschränkt
wird, bis 2015 aufgehoben sein müssen?
({3})
Zum Beispiel hat kein geringerer als Amartya Sen den
Zusammenhang zwischen Demokratie, Pressefreiheit
und Armutsreduzierung nachgewiesen.
Herr Präsident, diese und andere Aspekte werden wir
in unserer bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit auch weiterhin berücksichtigen und mit der Unterstützung dieses Hauses ganz konsequent umsetzen. Wir
sind überzeugt, dass das notwendig und richtig ist.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Heinrich, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Kortmann, als wir das letzte Mal hier
diskutiert haben, haben wir gemeinsam einen Antrag auf
den Weg gebracht. Alle Fraktionen waren daran beteiligt. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass das geklappt hat.
Alle Fraktionen haben eingesehen, dass das, was in
diesem Antrag steht, notwendig ist und umgesetzt werden muss. Wenn ich mir Ihren Antrag zu den Millennium Development Goals ansehe, dann erkenne ich
aber, dass Sie all das, was wir aufgeschrieben haben, offensichtlich vergessen haben. Auch heute haben Sie kein
Wort davon erwähnt, dass die Millennium Development
Goals nur dann erreicht werden können, wenn wir bei
der Bekämpfung von HIV/Aids entsprechende Erfolge
haben. In Ihren Forderungen haben Sie mit keinem einzigen Wort dokumentiert, dass Ihnen das im Zusammenhang mit den entsprechenden Millennium Development
Goals als notwendig erscheint.
({0})
- Wenn Sie sich zu Wort melden, dann dürfen Sie hier
gerne etwas sagen.
Frau Kortmann, ich sage Ihnen: Es ist nicht einsehbar
und nicht verständlich, dass Sie einen solchen Antrag zu
diesem unglaublich breiten Spektrum präsentieren und
darin kein Wort zu HIV/Aids vermerken. Ich denke, Sie
haben es wahrscheinlich noch nicht verstanden und verinnerlicht. Deshalb möchte ich Ihnen das noch einmal
ganz deutlich sagen: Wenn das Millenniumsziel Nr. 6
- die Bekämpfung von HIV/Aids - nicht erreicht wird,
dann werden auch andere Ziele nicht erreicht werden
können.
({1})
Ich nenne einige Beispiele:
Millenniumsziel Nr. 1: Bekämpfung von extremer
Armut und Hunger. Glauben Sie, dass Sie dieses Ziel erreichen können, wenn uns die Menschen wegsterben und
wenn diejenigen, die sich normalerweise in ihrer aktiven
Phase befinden würden, nicht arbeiten können und nicht
überleben?
Millenniumsziel Nr. 2: die Primärschulausbildung für
alle sicherstellen. Dadurch soll eine wesentliche Verbesserung erreicht werden. Die Lehrer in den Ländern sterben derzeit schneller weg, als sie ausgebildet werden
können. Sie haben davon nichts erwähnt.
Millenniumsziel Nr. 4: Reduzierung der Kindersterblichkeit. Wir alle wissen, dass viele Kinder durch die
Mutter-Kind-Übertragung enorm gefährdet und einem
großen Risiko ausgesetzt sind.
Millenniumsziel Nr. 5: Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter. Die verheerenden Auswirkungen sind uns allen bekannt.
Wir werden diese Ziele nicht erreichen, wenn wir unser Augenmerk nicht verstärkt auf die Bekämpfung von
HIV/Aids richten.
({2})
- Sie machen es nicht. Sie haben unseren Anträgen in
den Haushaltsberatungen nicht zugestimmt.
({3})
Wir haben hier klar und deutlich Position bezogen.
Wir haben in den Anträgen 50 Millionen Euro für die bilaterale Förderung und 50 Millionen Euro für die direkte
Förderung über die Vereinten Nationen gefordert. Sie
haben beide Anträge abgelehnt. Sie fabrizieren glänzende Papiere. Wie ich Ihnen allerdings gerade nachgewiesen habe, fehlen darin wichtige Dinge. Auch bekommen Sie nicht das Geld zusammen, das notwendig wäre,
um unserer Entwicklungspolitik überhaupt zum Durchbruch verhelfen zu können.
({4})
Ich sage Ihnen: Wir können unsere Entwicklungspolitik und ihre Wirkung fast auf null zurückschrauben,
wenn es uns nicht gelingt, einen größeren Schwerpunkt
auf die Bekämpfung von HIV/Aids zu setzen.
({5})
Diese ganze Angelegenheit ist mir sehr Ernst. Ich bin
weit weg von Polemik. Ich möchte Ihnen vortragen, was
in dem Weltgesundheitsbericht von 2004 dazu steht:
Aids verlangsame das Wirtschaftswachstum und erschwere die Bekämpfung von Hunger und Unterernährung, in stark betroffenen Ländern drohe ein kompletter
ökonomischer Zusammenbruch. - Das steht im Bericht
der Weltgesundheitsbehörde. Sie aber verwenden in Ihrem Papier kein einziges Wort auf dieses Thema, obwohl
Sie die Millenniumsziele avisieren.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Zwar kann die Ministerin heute an der Debatte nicht
teilnehmen, aber ich habe mit Interesse ihr Interview in
der heutigen Ausgabe der „FAZ“ gelesen. Dort heißt es:
So müssen wir jetzt Aids in Afrika massiv bekämpfen, um zu verhindern, daß ganze Gesellschaften
und Staaten verfallen.
Das war Originalton Ministerin Wieczorek-Zeul.
Ich unterstreiche diese Aussage nachdrücklich. Sie
aber haben weder in Ihrem Regierungshandeln noch in
Ihrer Antragsgestaltung kapiert, dass wir diese wichtigen
Punkte entsprechend berücksichtigen müssen.
Herzlichen Dank.
({7})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Siegmund
Ehrmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kollegen! Herr Heinrich, es dürfte Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, dass wir dem
Thema HIV/Aids eine derartige Bedeutung beimessen,
dass wir dazu einen eigenen Antrag eingebracht haben.
({0})
- Dafür haben wir es in dem einen Antrag vertieft. Die
Kollegin Ober wird dazu noch Ausführungen machen.
Insofern sollten Sie den Ball etwas flacher halten.
Werte Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben es gar nicht nötig, sich ausschließlich selbst zu loben. Das Leitungsteam des Hauses, die Ministerin und
Sie, ist in der Tat sehr engagiert. Das führt mich zu Herrn
Dr. Ruck. Wenn Sie den Vorwurf in den Raum stellen, das
Regierungshandeln sei inkohärent, dann empfehle ich Ihnen zur besonderen Lektüre den Afrikaaktionsplan. Das
ist ein Musterbeispiel.
({1})
Wenn man ihn nicht nur durchblättert, sondern beim
Durchblättern auch Geist und Verstand einschaltet,
kommt man zu erstaunlichen Erkenntnissen.
({2})
Herr Dr. Ruck, ich verabreiche Ihnen noch etwas Seelenbalsam. Sie haben wohltuend sachlich begonnen; das
möchte ich durchaus anerkennen. Allerdings sind Sie
dann in Betrachtungsweisen üblicher Oppositionsrollen
zurückgefallen. Wo steht unsere Strategie im Widerspruch zu Ihrer Kernforderung, wir müssten Good Governance akzentuieren und Partizipation betreiben? Das
ist eine der Grundlagen unserer Strukturpolitik, die wir
vorantreiben.
({3})
Anfang September legte UN-Generalsekretär Kofi
Annan der Vollversammlung den dritten Statusbericht
zu den Entwicklungszielen vor. Frau Dr. Eid hat einige
Aspekte aufgeführt. Wir haben uns in unserer Ausschussarbeit - darauf ist auch Herr Ruck zu sprechen gekommen - mit den Bewertungen durch die Repräsentanten der Institutionen internationaler Entwicklungszusammenarbeit befasst. Die Frage ist: Wo stehen wir
heute? Die Merkmale sind beschrieben worden. Bei der
Armutsbekämpfung in Ost- und Südostasien gibt es positive Entwicklungen. Fortschritte gibt es auch in den
nordafrikanischen Staaten. Frau Dr. Eid hat auf die
Grundschulversorgung in Lateinamerika und in der Karibik hingewiesen.
Die Zahl grausamer Hungersnöte geht deutlich zurück, obwohl das, was passiert, noch immer erschreckend und erschütternd ist. Neuesten Statistiken zufolge
gibt es, im weltweiten Maßstab betrachtet, einen verbesserten Zugang zu Wasser, obwohl gerade dieses wertvolle öffentliche Gut auf mittlere Sicht zu verknappen
droht und neue Konfliktherde hervorrufen dürfte.
Die vereinbarten weltweiten Entwicklungsziele haben
der internationalen Entwicklungszusammenarbeit einen
deutlichen Schub gegeben. Vertretbare, klar messbare
und zeitgebundene Ziele haben den Handlungsdruck auf
alle erhöht.
In der Tat gibt es, Herr Dr. Ruck, auch wenn man das
Instrumentarium gut ausgerichtet hat, kritische, sich zuspitzende Befunde, über die man nicht hinwegsehen
kann. Die Erfolge einiger Regionen sind deutlich auf
Wirtschaftswachstum zurückzuführen, wir erkennen
aber auch Disparitäten in der Gruppe der Entwicklungsländer. Manche Entwicklungsländer hatten in den 90erJahren ein Wirtschaftswachstum von 5 Prozent und
mehr, während die Länder, die nicht unter solch günstigen Vorzeichen standen, nur 1 Prozent realisieren konnten.
({4})
- Wir sind da auf einem guten Weg, Herr Löning. Wenn
die Länder, über die wir gerade reden, unsere Probleme
hätten, wären wir im weltweiten Maßstab doch genau an
dem Ziel, zu dem wir die Weltgemeinschaft bringen wollen.
Ein großes Problem ist die Entwicklungsfinanzierung.
Die internationalen Organisationen haben uns dargelegt,
dass mindestens 50 Milliarden US-Dollar notwendig
sind, um allein im Bereich Erziehung, Gesundheit,
Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen voranzukommen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang von hier aus ausdrücklich die Haltung unserer Ministerin WieczorekZeul zum aktuellen britischen HIPC-Vorstoß begrüßen.
({5})
- Unsere Etatlage ist mir sehr wohl bewusst - und dennoch: Gerade die afrikanischen Staaten, so eine aktuelle
UNCTAD-Studie, haben ohne ein Schuldenmoratorium
keine Chance voranzukommen. Ich persönlich hoffe
- das sage ich ausdrücklich als Entwicklungspolitiker
der SPD-Fraktion -, dass die Konferenz des IWF und
der Weltbank am Wochenende einen guten Impuls setzen
wird.
Neben den Aspekten der Entwicklungsfinanzierung
- ich habe die Disparitäten beim Wirtschaftswachstum in
der Gruppe der Entwicklungsländer schon angesprochen ist der große Hammer natürlich die Krisenregion Subsahara-Afrika. Auch darauf hat Frau Staatssekretärin Eid
verwiesen.
Meine Damen und Herren, mit dem Aktionsprogramm 2015 leistet die Bundesregierung einen großen
Beitrag, um den Entwicklungszielen zu dienen, und sie
geht deutlich darüber hinaus. Herr Dr. Ruck, wenn wir
einmal unsere innenpolitische Situation ganz allgemein
betrachten, merken wir doch alle, wie ungeheuer schwer
es selbst in relativ stabilen Systemen ist, Organisationen
auf neue Lagen einzustellen. Wenn ich mir dann vorstelle, was seit 2000 in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Gang gekommen ist, kann ich
das im Vergleich zu unseren Bestrebungen im weltweiten Maßstab sicherlich positiv hervorheben, erst recht,
wenn stabile und instabile Systeme miteinander kooperieren müssen, um weltweit Fortschritte zu erreichen. Insofern ist es wie bei der Betrachtung des halb vollen
oder halb leeren Glases: Es kommt auf die innere Haltung zu den Problemen an. Ich bin überzeugt, dass wir
auf einem sehr guten Weg sind.
Das Aktionsprogramm stellt einen Beitrag zu einer
verbesserten Koordination der Geberländer dar. Die
Kohärenz des Regierungshandelns wurde deutlich
verbessert und ist mit Sicherheit jetzt deutlich besser als
zu den alten Zeiten, die ich nur kurz erwähnen möchte.
Eine stärkere Konzentration auf Partner und Sektoren
wurde vorgenommen und die Förderung von Good Governance in den Entwicklungsländern steht mit Priorität
auf der Agenda. Nur so lassen sich die Effekte der Entwicklungszusammenarbeit stabilisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss eine Anregung unterbreiten. Gestern erhielt
ich einen Brief unserer Kollegin Dr. Volkmer, der mich
erfreute und den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
Ich komme auf eine einleitende Bemerkung von Ihnen,
Herr Dr. Ruck, zurück, bei der es um die Akzeptanz der
Entwicklungspolitik in Deutschland ging. Ich zitiere aus
dem Brief von Frau Dr. Volkmer:
Ich habe vor wenigen Tagen ein Fotobuch bekommen,
- Sie haben es wahrscheinlich auch bekommen mit dem „first8“ die 25 000 Entscheidungsträger in
der Welt
- es geht um die Entscheidungsträger, die in Politik, in
Parlamenten, in Regierungen Verantwortung tragen an die acht Milleniums-Entwicklungsziele und deren weitere Verfolgung erinnern will.
Vermutlich haben alle MdBs dieses Buch bekommen. Das halte ich für gut, weil es nicht allein euch
Entwicklungspolitikern überantwortet werden darf,
für diese wichtigen Ziele zu arbeiten.
({6})
Anschließend regt unsere Kollegin an - das möchte ich
hier weitergeben, weil uns das alle betrifft; wir sind da
trotz mancher Kabbeleien nah beieinander -: Wir sollten
gemeinsam erreichen, dass jede Kollegin und jeder Kollege aufgrund des Impulses von first8 etwas mit den
Entwicklungszielen verbindet, und wir sollten gemeinsam erreichen, dass über die Entwicklungspolitiker hinaus jeder Kollege und jede Kollegin in seiner bzw. ihrer
Arbeit vor Ort auch von dem Muss weltweiter Chancengerechtigkeit berichtet.
Nur wenn wir selbst über die politischen Auseinandersetzungen vor Ort hinaus gemeinsam werbend eintreten, können wir das öffentliche Bewusstsein schärfen
und deutlich zur Akzeptanz der Entwicklungszusammenarbeit und ihres Finanzbedarfes beitragen. Ich würde
mich freuen, wenn wir uns interfraktionell auf das Ob
und auf das Wie einer solchen gemeinsamen Initiative
verständigen könnten.
Herzlichen Dank.
({7})
Dr. Conny Mayer ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Staatssekretärin, Sie haben in Ihrer Rede darauf verwiesen, dass
die Regierung heute weit mehr zur Bekämpfung von
HIV/Aids unternimmt, als es vor 1998 der Fall war. Das
ist richtig, aber die Zahl der Infizierten stieg in den vergangenen Jahren dramatisch an. Es gibt Gott sei Dank
völlig neue Instrumente. Denken Sie an den Global Aids
Fonds und andere. Es gibt bei Medikamenten absolut revolutionäre Entwicklungen. Deshalb finde ich es unsachlich und auch nicht legitim, die Zahlen von 1998 mit
denen von 2004 und den folgenden Jahren zu vergleichen.
({0})
Lassen Sie mich jetzt mit einem Zitat beginnen:
So zahlreich sind die Erinnerungen, die aufgezeichnet werden sollen, so viele Millionen Schriften werden von denen bleiben, die gerade jetzt oder in naher Zukunft an Aids sterben werden. Die
allermeisten dieser Millionen Menschen sterben
vorzeitig … Ihre Kinder … werden in vielen Fällen
in die Heimatlosigkeit hinausgetrieben. Herrenlose
Horden von elternlosen Kindern werden über die
Kontinente dahin treiben.
Dr. Conny Mayer ({1})
Das ist ein Zitat aus dem neuen Buch des Bestsellerautors - Sie kennen ihn vielleicht als Krimiautor Henning Mankell, der in Mosambik lebt. Er ist nach
Uganda gefahren und hat mit Aidskranken gesprochen.
Er hat über die Memory Books berichtet. Das sind kleine
Bücher, die aidskranke Eltern für ihre Kinder schreiben,
um diesen von ihrem Leben und dem Aufwachsen der
Kinder zu berichten. Das soll eine bleibende Erinnerung
für das Leben nach dem Tod der Eltern sein.
Ende 2003 gab es in Subsahara-Afrika nach Angaben
von UNAIDS über 12 Millionen Aidswaisen. Bereits
heute leben mehr als 4 Millionen Aidswaisen im südlichen Afrika. Es sind Kinder, die durch den Tod der Eltern zu Waisen werden und Verantwortung für Geschwister übernehmen müssen, auf sich selbst gestellt
sind, selber um ihr Überleben kämpfen müssen und die
vor allem in den Großstädten oft ohne den Verbund der
Großfamilie sind. Es sind Kinder, die arbeiten, anstatt
zur Schule zu gehen, die ausgebeutet werden oder als
Kindersoldaten kämpfen müssen. Es sind Kinder, die oft
selbst mit diesem Virus infiziert sind.
Diese Millionen von Aidswaisen - wir hatten das in
der Debatte noch nicht ausführlich besprochen; deshalb
will ich eindringlich auf diese Problematik hinweisen sind eine Herausforderung, die wir bisher in der Entwicklungspolitik noch nicht hatten. Deshalb möchte ich
Sie alle bitten, sie in unserer künftigen Arbeit zu berücksichtigen und im Blick zu haben.
({2})
Aber nicht nur Kinder sind betroffen. Ganze Gesellschaften - Herr Heinrich hat schon darauf hingewiesen verändern sich. Lehrer sterben weg. Schauen Sie sich die
Verwaltung an. Jeder siebte Beamte in Südafrika ist infiziert. 60 Prozent aller Soldaten in Sambia sind HIV/
Aids-infiziert. Wir gehen davon aus - das gilt für viele
Länder in Afrika -, dass die Infektionsrate beim Militär
bis zu fünf Mal so hoch ist wie in der zivilen Bevölkerung.
In Nigeria stirbt schon jetzt jeder zweite Soldat an
Aids. Der Ausfall von Streitkräften oder Polizei bedeutet
zwar zunächst nur ein nationales Risiko für das betreffende Land; langfristig kann er aber auch zu einem Sicherheitsrisiko führen, das auch für uns ein Problem
werden kann.
Ich will noch einen anderen Gedanken aufgreifen, den
der Kollege Heinrich schon angesprochen hat. Wir haben
uns gemeinsam - darüber haben wir schon diskutiert - die
Halbierung der Armut zum Ziel gesetzt. HIV/Aids steigert das Armutsrisiko. Wenn ganze Bevölkerungsschichten wegbrechen, sind die wirtschaftlichen und sozialen
Folgen verheerend. Die 20- bis 40-Jährigen, die eigentlich dazu beitragen, dass die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben funktionieren, sind am stärksten von
HIV/Aids betroffen. Wenn diese Infizierten wegsterben,
dann wird unser Ziel der Halbierung der Armut in weite
Ferne rücken. Wir sind weit von diesem Ziel entfernt.
Deshalb können und dürfen wir die Armutsbekämpfung
nicht diskutieren, ohne HIV/Aids zu berücksichtigen.
({3})
Lassen Sie mich nach der Analyse eines hervorheben
- ich will mich nicht ganz so kritisch äußern wie Sie,
Herr Heinrich -: Ich bin glücklich darüber, dass es gelungen ist, den Antrag meiner Fraktion vom Frühjahr
dieses Jahres in die gemeinsame Beschlussempfehlung
einzubringen, und dass wir uns gemeinsam darauf verständigen konnten, HIV/Aids zu einem wichtigen
Thema der Entwicklungspolitik zu machen. Dabei
schließe ich ausdrücklich auch die Initiativen anlässlich
der Haushaltsberatungen ein.
Lassen Sie mich abschließend zwei zentrale politische
Herausforderungen nennen, die wir beim Thema HIV/
Aids zu bewältigen haben und die als drängende Probleme vor uns liegen. Erstens reicht es nicht aus, Geld für
Medikamente zur Verfügung zu stellen. Nur wenn es in
den Entwicklungsländern gelingt, eine medizinische
Infrastruktur zu schaffen, kann das von uns zur Verfügung gestellte Geld sinnvoll eingesetzt werden. Gebraucht werden Krankenstationen und Labors und die
technischen Möglichkeiten, HIV/Aids-Tests durchzuführen. Des Weiteren wird gut ausgebildetes Personal benötigt. Wir müssen es schaffen, insbesondere das medizinische Personal zu schulen und zu unterstützen, wo es uns
möglich ist. Langfristige Kooperationen zwischen Kliniken sind eine Möglichkeit, Know-how auszutauschen.
Insbesondere in Osteuropa sehe ich dabei besonderen
Handlungsbedarf.
({4})
Die zweite zentrale Herausforderung, vor der wir Entwicklungspolitiker beim Thema HIV/Aids stehen, ist die
Koordination der beteiligten Geber. Es gibt - das ist
überaus erfreulich - ein beträchtliches Engagement zugunsten der Prävention wie auch für HIV-Infizierte und
Aidskranke auf nationaler und auf internationaler Ebene,
vonseiten staatlicher Stellen wie auch von NROs. Aber
die Verbesserung der Koordination und Harmonisierung all dieser Aktivitäten ist eine Aufgabe, die derzeit
noch nicht optimal gelöst ist. Sie stellt eine der zentralen
Herausforderungen dar, die wir in diesem Bereich angehen müssen.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal Henning
Mankell zitieren:
Es gibt eine wachsende Anzahl von Menschen, die
einsehen müssen, dass ihr Leben unerwartet kurz
werden wird. Sie werden ihre Kinder nicht begleiten können, bis diese herangewachsen sind und allein zurechtkommen. Deshalb schreiben sie ihre
kleinen Bücher, um nicht ganz aus dem Gedächtnis
der Kinder gelöscht zu werden.
Damit bezieht er sich noch einmal auf die Memory
Books. Ich möchte an uns alle appellieren, gemeinsam
dafür einzutreten, dass in Zukunft nicht mehr, sondern
Dr. Conny Mayer ({6})
immer weniger solcher Memory Books geschrieben werden müssen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
Die Anträge von SPD und Grünen gehen meiner Meinung nach zwar in die richtige Richtung, aber sie werden
der globalen Dramatik der Aidsepidemie nicht gerecht.
Allein in Afrika werden in der kommenden Dekade mehr
Menschen sterben, als in allen Kriegen des 20. Jahrhunderts zusammen. Bis Ende 2010 werden voraussichtlich
50 bis 75 Millionen Menschen mit HIV infiziert sein.
Aids ist damit zu einem globalen sicherheitspolitischen
Problem geworden.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind jährlich 6 bis 8 Milliarden US-Dollar erforderlich, um eine
weltweit wirksame Aidsbekämpfung zu leisten. Tatsächlich steht dem Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids,
Tuberkulose und Malaria aber nur ein Drittel dieser finanziellen Ressourcen zur Verfügung.
Die Koalitionsfraktionen betonen in ihrem Antrag
stolz, dass die Bundesrepublik bis zum Jahr 2007
300 Millionen Euro in den globalen Fonds einzahlen
wird. Im Jahr 2005 sind 72 Millionen Euro für diesen
Fonds im Haushalt eingestellt. Das hört sich zwar gut an.
Doch setzt man diese Zahlen ins Verhältnis zu anderen
Haushaltszahlen, dann wird deutlich, dass die Regierung
die Prioritäten falsch setzt und dass die Aidsgefahr noch
immer unterschätzt wird.
({0})
Die Bundesregierung gibt in diesem Jahr für den zweifelhaften Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
- meine Kollegin Petra Pau hat darauf heute Morgen
schon hingewiesen - über 300 Millionen Euro aus. Damit gibt sie in einem Jahr in Afghanistan mehr Geld aus,
als sie insgesamt in den internationalen Fonds zur Bekämpfung von Aids bis 2007 einzahlen will. Allein die
Personalausgaben für den Afghanistaneinsatz betragen
im Jahr 2004 rund 71 Millionen Euro. Dies wiederum
entspricht in etwa der Summe, die die Bundesregierung
2005 in den Anti-Aids-Fonds einzahlen will. Ich weiß,
dass Sie solche Vergleiche überhaupt nicht mögen. Doch
der Bezug ist nicht konstruiert, sondern zwingend. Wenn
man sich eine globale Bedrohungsanalyse zur Hand
nimmt, dann wird es offensichtlich: Die Aidsepidemie
ist eine gefährlichere globale Bedrohung als die afghanischen Warlords.
Wir, die PDS, erwarten von der Bundesregierung einen höheren finanziellen Beitrag zur Bekämpfung von
Aids.
({1})
Wir halten es auch nicht für sachgerecht, dass die EUKommission von 2003 bis 2007 nur 340 Millionen Euro
in diesen Fonds einzahlen will. Ich fordere die Bundesregierung auf, ihren Einfluss geltend zu machen und ein
größeres Engagement von der EU und den G-8-Staaten
zu verlangen.
Wir werden trotzdem Ihren Anträgen zustimmen;
denn jeder Schritt in die richtige Richtung ist besser als
gar keiner.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Erika Ober, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben heute schon viel über die Problematik der Entwicklungspolitik sowie die weltweiten
Probleme, die uns alle beschäftigen, wie zum Beispiel
Armutsbekämpfung, Versorgung mit sauberem Wasser
und zunehmende Krankheiten in den Entwicklungsländern, gehört. Die Millenniumsziele hat bereits die Staatssekretärin angesprochen.
Ich möchte heute zu dem Thema HIV/Aids Stellung
beziehen. Die diesbezüglichen Zahlen möchte ich nicht
wiederholen. Wir wissen, dass wir weltweit vor dem
Problem stehen, dass sich HIV/Aids weiter ausbreitet,
und dass alle unsere Bemühungen und die anderer Staaten bisher nicht ausreichen, um die Seuche HIV/Aids
einzudämmen. Wir kennen zwar das Problem. Aber die
Gefahr ist trotz gemeinsamer zielgerichteter Anstrengungen noch nicht gebannt. Frau Mayer, Sie haben aufgerufen, diese Problematik gemeinsam anzugehen. Das
tun wir. Wir haben die vorliegende Beschlussempfehlung zu HIV/Aids einvernehmlich beschlossen. Wir sollten es bei diesem wichtigen Thema vermeiden, kleinkarierte und parteipolitische Debatten zu führen.
({0})
Aus diesem Grunde möchte ich Herrn Heinrich persönlich ansprechen. Ihren Rundumschlag kann ich nicht
verstehen. In acht Minuten kann Frau Kortmann nicht
alle Anträge behandeln. Ich spreche speziell über das
Thema HIV/Aids. Sie können ja gerne zu den vier Anträgen der anderen Fraktionen Stellung beziehen.
Mit der vorliegenden Beschlussempfehlung verständigen wir uns im Großen und Ganzen darauf, dass der
deutsche Einsatz zur Bekämpfung von HIV/Aids nicht
nachlassen darf. Das ist der Kern der gemeinsamen Beschlussempfehlung, Herr Heinrich.
Darf der Kollege Heinrich Ihnen eine Zwischenfrage
stellen?
Bitte.
Herr Heinrich, bitte.
Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es erfreulich ist, dass eine gemeinsame Beschlussempfehlung
zustande gekommen ist. Ich habe aber den gemeinsamen
Antrag der SPD und der Grünen mit der Überschrift
„Auf dem Weg zur Erreichung der Millennium Development Goals … - Probleme bei der Zielerreichung erkennen und bewältigen“ kritisiert; denn in Ihren Forderungen an die Bundesregierung haben Sie kein einziges Mal
Bezug auf HIV/Aids genommen.
({0})
Das war meine Kritik. Diese Kritik muss man hier
deutlich machen. Denn wer in der Überschrift die Problematik, das Milleniumziel zu erreichen, so generell anspricht und HIV als einen der Schlüsselbereiche in den
Forderungen nicht erwähnt, sondern nur in einem Halbsatz darauf hinweist, dass sich die Situation verschlechtert hat, hat das Thema verfehlt.
({1})
Herr Heinrich, ich verweise auf die Beschlussempfehlung, die wir gemeinsam verabschiedet haben. Ich
denke, dass wir darin dieses Thema ausreichend bearbeitet haben.
({0})
- Es liegt wirklich ein eigener Antrag vor. Die anderen
Anträge stehen ja noch zur Debatte.
Ich möchte weiter zu meinem Thema HIV/Aids ausführen. Mit der vorliegenden Beschlussempfehlung haben wir uns im Großen und Ganzen darauf verständigt,
dass der deutsche Einsatz zur Bekämpfung von HIV/
Aids nicht nachlassen darf. Das war unser aller Ziel und
ist unser aller Wunsch. Es muss weiter nach Möglichkeiten gesucht werden, unseren Beitrag zu intensivieren.
Wenn sich Aids unbegrenzt ausdehnen kann, werden die
Probleme größer und die Lösungen immer schwieriger.
Das haben wir alle erkannt.
Die Bundesregierung hat in Kenntnis dieses Zusammenhangs den Etat des Einzelplans 23 für 2005 erhöht.
({1})
Die Mittel für den globalen Fonds zur Bekämpfung von
Aids, Malaria und Tuberkulose - GFATM - werden auf
72 Millionen Euro nahezu verdoppelt. Von den Mitteln
des Europäischen Entwicklungsfonds für den GFATM
von insgesamt 262 Millionen Euro trägt Deutschland alleine 50 Millionen Euro. Ich meine, das ist eine beachtenswerte Summe. Wir sollten uns da nicht immer kleinreden und hintenanstellen.
({2})
Darüber hinaus gibt es weitere Aktivitäten zur Aidsbekämpfung auf EU-Ebene, an denen Deutschland beteiligt ist.
Zusätzlich zu diesen Erhöhungen haben sich die Regierungsfraktionen dafür eingesetzt, die Mittel für die
Aidsbekämpfung um weitere 20 Millionen Euro aufzustocken: zum einen 10 Millionen Euro zusätzlich für den
GFATM und zum anderen 10 Millionen Euro je zur
Hälfte für technische und finanzielle Zusammenarbeit.
Wir bleiben bei dem Ansatz der Bundesregierung, auf
mehreren Ebenen zu fördern: erstens bei der Zusammenarbeit internationaler Gremien wie dem GFATM, zweitens bilateral bei der Unterstützung von Kooperationsund Partnerländern und drittens bei der Kohärenzarbeit
auf nationaler Ebene.
Wir brauchen in der Aidsbekämpfung weiterhin den
politischen Dialog und den Ausbau des Gesundheitswesens in den Partnerländern. Wir wollen auch die Prävention fördern und Entwicklungspartnerschaften ausbauen.
Kofi Annan hat schon im Jahre 2002 vorgeschlagen,
die Wirtschaft in den GFATM einzubinden. Wir müssen
heute leider feststellen, dass die Beteiligung der Privatwirtschaft nur mäßig ausfällt.
Außerdem muss der Zugang zu Medikamenten für
alle erleichtert werden. Die Suche nach einem Impfstoff
sollte vorangetrieben werden. Hier ist sicher politisches,
wirtschaftliches, kirchliches und zivilgesellschaftliches
Engagement gefragt.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
alle kennen die Steigerungsraten von HIV in Osteuropa.
Die Vorteile der Osterweiterung der Europäischen Union
sind alle unbestritten. Aber wir können nicht abstreiten,
dass es eine gewisse Asymmetrie in den Gesundheitssystemen gibt. Eine noch größere Asymmetrie ist zu erkennen, wenn man über die neuen Grenzen der EU hinaus
nach Osten schaut. Wir müssen damit rechnen, dass
mehr Menschen bei uns behandelt werden wollen, die
anderswo keine Behandlung bekommen können.
Maßgeblich für den weiteren Verlauf der Epidemie in
Osteuropa, aber auch in China, Indien und Afrika wird
sein, wie ernst die Regierungen dort die Bedrohung nehmen. Alle Erfahrungen aus Westeuropa sprechen für einen offenen, ehrlichen Umgang mit der Epidemie. Wir in
Deutschland haben mit Aufklärungskampagnen gute Erfahrungen gemacht. In unserer Funktion als Parlamentarier sollten wir die Gelegenheit nutzen, mit Gesprächspartnern im In- und Ausland über Aids zu reden. Wir
sollten uns diesem Gespräch nicht verschließen. Noch
besser ist es, das Thema Aids direkt anzusprechen.
Wir wollen auch keine Stigmatisierung. Besondere
Formen von Stigmatisierung zeigen sich oft im Umgang
mit Drogenkonsumenten. Der intravenöse Drogengebrauch ist vor allem in Osteuropa ein Hauptinfektionsweg. Wir wissen, dass Drogenabhängigkeit dort als
Straftat und nicht als Krankheit angesehen wird. In der
Ukraine zum Beispiel werden Drogenkonsumenten kriminalisiert und nicht therapiert. Wenn das Tabu DrogenDr. Erika Ober
gebrauch nicht fällt, kann man diesen Infektionsweg vor
Ort auch nicht eindämmen.
({3})
Am Beispiel Drogengebrauch zeigt sich auch, dass es
nicht allein auf die Ausstattung mit finanziellen Mitteln
ankommt. Mehr Geld ist natürlich wünschenswert. Wer
braucht das nicht? Wir könnten es auch gut in Sachen
HIV/Aids gebrauchen, um noch mehr Aufklärung und
Hilfe leisten zu können. Zum einen müssen wir aber angesichts unserer Haushaltslage realistisch bleiben, zum
anderen kann der Kampf gegen Aids aber nur erfolgreich
sein, wenn auch Bewusstsein und Engagement hinzukommen. Unser Engagement muss andernorts zum
Nachdenken anregen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von unserer
Seite besteht große Einigkeit darüber, den politischen
Dialog offen zu gestalten und konkrete Unterstützung
für Institutionen und Organisationen vor Ort anzubieten.
Seit dem Auftreten von Aids wird so offen und so öffentlich über sexuell übertragbare Krankheiten gesprochen
wie nie zuvor. Das ist eine Stärke im Kampf gegen Aids.
Wir sind mit unserem Engagement und auch finanziell
nicht so schlecht aufgestellt, wie es manchmal hier behauptet wird. Laut UNAIDS ist Deutschland in absoluten Zahlen drittgrößter bilateraler Geber in der Aidsbekämpfung nach den USA und Großbritannien.
Deutschland ist in 50 Ländern aktiv und unterstützt derzeit in 16 Ländern schwerpunktmäßig den Gesundheitssektor. Durchschnittlich stellt die Bundesregierung jährlich rund 300 Millionen Euro für die Aidsbekämpfung
bereit. Jetzt haben wir den deutschen Beitrag erhöht. Das
ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Aids. In diesem
Sinne wollen wir weitermachen. Das zeichnet unsere Politik aus.
Vielen Dank.
({4})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die
Kollegin Anke Eymer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir reden heute über zwei wichtige
und in sich vielschichtige Themenkomplexe, die in einer
unheilvollen Wechselwirkung stehen: die Bekämpfung
der Armut und die globale Bekämpfung von HIV und
Aids.
Über 40 Millionen HIV-Infizierte gibt es heute weltweit. Im vergangenen Jahr wurden 4,8 Millionen HIVNeuinfektionen registriert. Das sind so viele wie in keinem anderen Jahr zuvor. Das bedeutet: Die zahlreichen
nationalen und internationalen Bemühungen haben nicht
zu dem notwendigen Erfolg geführt, nämlich der Eindämmung dieser Pandemie.
Der große Afrikaner und ehemalige Präsident Südafrikas, Nelson Mandela, hat in einem Interview Anfang
dieses Jahres eine einfache Wahrheit ausgesprochen:
Wir müssen diese Krankheit beherrschen, sonst
werden wir von ihr beherrscht.
Er ruft damit gleichzeitig alle Verantwortlichen auf, in
dem Kampf gegen die Ausbreitung und in der Sorge um
die Betroffenen nicht nachzulassen. Es sind oft gerade
die ärmsten Länder, in denen die Aidsrate bedrohlich
hoch ist. Es ist dort oft unmöglich, eigene wirtschaftliche
Anstrengungen zur Reduzierung der Armut, zum Aufbau von nötigen zivilgesellschaftlichen Strukturen und
zum Ausbau bzw. zur Stabilisierung der politischen
Strukturen durchzuführen.
Wie wollen Sie eine Region wirtschaftlich fördern,
wenn der Großteil der erwachsenen Bevölkerung an
Aids erkrankt oder schon verstorben ist und Kinder und
Jugendliche zusammen mit der Großelterngeneration
um das nackte Überleben kämpfen? Ich begrüße daher
ausdrücklich die Beschlussempfehlung, fraktionsübergreifend zu einem Antrag zu kommen, um die Bemühungen im weltweiten Kampf gegen HIV und Aids zu
verstärken.
Dabei kann es aber nicht nur um ein Mehr an Einsatz
und Ausgaben gehen, sondern es muss auch um ein Besser gehen. Welche Konzepte können den zur Verfügung
stehenden Mitteln zugrunde gelegt werden, damit diese
effektiver und nachhaltiger eingesetzt werden? Wo können Kräfte sinnvoll zusammengeführt werden, wo können Doppelungen vermieden werden?
Besonders die Frage der Verzerrung und Doppelung
durch unklare Kompetenzen gerade im Bereich der Außenpolitik und der Entwicklungspolitik muss bei uns
endlich von den Verantwortlichen geklärt werden.
({0})
Um es in ganz klaren Worten zu sagen: Es geht gerade in
der Armutsbekämpfung um ein Mehr an strategischem
Pragmatismus. Armutsbekämpfung nicht theoretisch
diskutieren, sondern richtig machen ({1})
richtig machen, indem bei knapper werdenden Ressourcen eine sinnvolle Konzentration des Mitteleinsatzes,
eine bessere Ausnutzung von Synergieeffekten und eine
klare Kompetenzverteilung auf der Geberseite stehen.
Richtig machen heißt auch, in den Ländern, mit denen
wir zusammenarbeiten, in die unsere Gelder fließen, darauf zu achten, dass dort die notwendigen Rahmenbedingungen gegeben sind oder vorrangig geschaffen werden.
({2})
Die Bedrohung von großen Bevölkerungsteilen durch
HIV und Aids ist kein Problem allein der afrikanischen
Länder. Das klang in dieser Debatte schon an. Indien sowie zahlreiche Länder in Ostasien und in Europa sind
Anke Eymer ({3})
ebenso durch HIV stark bedroht. Hier bilden sich neue
Schwerpunkte einer Aidsepidemie aus. Für uns hat gerade das Gebiet der ost- und südosteuropäischen Länder an den Grenzen der erweiterten EU ein besonderes
Gewicht. In großer Geschwindigkeit breitet sich hier die
HIV-Infektion aus. Aids ist schon lange zu einer Bedrohung nicht nur von einzelnen Gruppen, sondern der Gesamtbevölkerung geworden.
Eine große Gefahr besteht darin, dass sich in diesen
Ländern die Fehler wiederholen, die in der Vergangenheit in anderen Ländern gemacht wurden. Die Leugnung
oder Verdrängung der Bedrohung durch Aids und die
Stigmatisierung und Ausgrenzung der Betroffenen verhindern eine breite Aufklärung und Prävention in der
Bevölkerung. Das sind aber die effektivsten Mittel im
Kampf gegen HIV und Aids.
Ein Weiteres möchte ich in diesem Zusammenhang
unterstreichen. Es herrscht zunehmend - übrigens auch
bei unseren Jugendlichen - wieder Unkenntnis über HIV
und Aids und über die Ansteckungswege. Gerade in der
Generation der Jugendlichen weiß man oft nicht mehr,
dass Aids nicht heilbar ist. Dazu kommt, dass neben
Frauen, bei denen ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht,
Kinder und Jugendliche zu der am meisten gefährdeten
Gruppe gehören. Nach Schätzungen von UNICEF werden bis zum Jahr 2010 bis zu 20 Millionen Aidswaisen
in Afrika leben; heute sind es bereits 13 Millionen.
Ich möchte mit einem weiteren Zitat von Nelson
Mandela schließen:
Die Zukunft einer Nation ist nur so vielversprechend wie die nächste Generation ihrer Bürger.
Unsere Politik muss sich verstärkt diesen bedrohlichen Tatsachen zuwenden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 15/3411, und zwar zunächst zu
dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2408 mit dem
Titel „Globale Bekämpfung von HIV/Aids intensivieren“ und zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/2465 mit dem Titel „Entwicklungspolitik
muss Bekämpfung von HIV/Aids verstärken“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die genannten Anträge zusammenzuführen und unter der Überschrift „Globale Politik muss Bekämpfung
von HIV/Aids intensivieren“ in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Möchte jemand dagegen stimmen oder sich der
Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/2469 mit dem Titel „Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Hauptanliegen in der
Entwicklungspolitik machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Hier liegt eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 15/3506
zum Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Auf dem Weg zur Erreichung der Millenium Development Goals ({0}) Probleme bei der Zielerreichung erkennen und bewältigen“ vor. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/1005 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist
mehrheitlich angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 c. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3098 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darf ich dazu Ihr Einverständnis feststellen? Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cajus Julius
Caesar, Peter H. Carstensen ({2}),
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Urwaldschutz durch nachhaltige Holz- und
Forstwirtschaft stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({3}), Volker
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Urwaldschutz verstärken
- Drucksache 15/2747, 15/3464, 15/3794 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Cornelia Behm
Dr. Christel Happach-Kasan
Hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung
eine halbe Stunde debattiert werden. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion erhält zunächst die Kollegin Gabriele HillerOhm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPDFraktion setzt sich seit langem intensiv für den Schutz
der Urwälder ein. Sie tut dies auf nationaler, auf europäischer und auf internationaler Ebene. Uns ist eine Vernetzung aller möglichen Handlungsfelder wichtig, damit
wir bei diesem Thema endlich vorankommen. Wir haben
einen Antrag vorgelegt, der genau dies verfolgt: Wir
nehmen alle politischen Ebenen in die Pflicht.
Diesen Ansatz vermisse ich bei dem vorliegenden
Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Das ist bedauerlich;
denn im Ziel sind wir uns in diesem Hause alle einig:
Die Zerstörung der Urwälder muss gestoppt werden. Jedes Jahr wird eine Waldfläche halb so groß wie Italien
vernichtet. Das darf so nicht weitergehen.
Obwohl jeder weiß, wie unwahrscheinlich wichtig die
Wälder, vor allem die tropischen Regenwälder, für die
gesamte Menschheit sind, werden sie weiterhin rigoros
zerstört. Sie, Herr Kollege Caesar, haben mit eigenen
Augen erlebt, wie wertvolle Torfmoorurwälder in Indonesien durch künstliche Kanäle entwässert wurden, damit die Holzfällertrupps im wahrsten Sinne des Wortes
noch besser zuschlagen können. Wir brauchen die Wälder für unser Klima, als Süßwasserfilter und Wasserspeicher, als Grundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen.
({0})
Nirgendwo ist die Artenvielfalt so groß wie in den
tropischen Regenwäldern. Diese Vielfalt geht mit jedem
Hektar Wald, der vernichtet wird, verloren. Hier dürfen
wir nicht tatenlos zusehen. Hier müssen wir handeln.
Das tut die SPD-Fraktion. Deshalb haben wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner diesen umfassenden
Antrag eingebracht.
({1})
Worin unterscheidet sich unser Antrag von dem der
CDU/CSU-Fraktion? Das ist ganz einfach. Die CDU/
CSU-Fraktion fordert etwas, was so nicht geht. Sie fordert ausschließlich nationale Lösungen. Deutschland ist
jedoch keine Insel. Wir sind eingebettet in Europa und
europäische Gesetzgebungsverfahren. Wir können zum
Beispiel im Außenhandelsrecht nicht einfach sagen, dass
wir unsere Handelsgrenzen dicht machen und nichts
mehr herein lassen. Das geht nicht.
Hier müssen wir europäische Lösungen finden und
das ist auch gut so.
Wenn auf europäischer Ebene gesagt wird: Wir wollen keine Holzimporte aus illegalen Einschlägen, wir
verbieten, kontrollieren und sanktionieren das, dann ist
dies allemal wirkungsvoller, als wenn Deutschland einen
nationalen Alleingang unternimmt. Die Europäische
Kommission hat inzwischen erste Vorschläge zur Eindämmung illegaler Holzimporte vorgelegt. Das ist ein
richtiger Schritt in die richtige Richtung.
({2})
Auch im Hinblick auf die internationale Ebene bietet
Ihr Antrag nichts. Nur Schweigen im Walde.
Wie sieht es auf nationaler Ebene aus? Große Töne in
der Presse, zum Beispiel zu Ihrem Vorschlag, Herr Kollege Caesar, die Vergaberichtlinien der Hermesbürgschaften zu verschärfen. Was finden wir darüber in Ihrem Antrag? Kein einziges Wort! Wie es aussieht, haben
Ihre Fraktionskollegen diesen Vorschlag im Vorweg
massiv abgeholzt. Zu Ihrer Information: In unserem Antrag ist diese Forderung enthalten.
({3})
Ich freue mich sehr, dass wir heute im Bundestag über
diese so wichtige Problematik debattieren und politische
Lösungen auf den Weg bringen.
({4})
Es wäre schön gewesen, wenn wir das gemeinsam geschafft hätten. Warum war das nicht möglich? Ich werde
es Ihnen sagen: Anfang des Jahres lud Greenpeace zu einem parlamentarischen Abend ein und stellte ein
Urwaldschutzgesetz vor. Die CDU/CSU-Fraktion hat die
Forderung von Greenpeace schnell und bereitwillig aufgegriffen.
({5})
Herr Kollege Caesar, es ist schon erstaunlich: Warum
dieser denkwürdige Kuschelkurs mit den Leuten von
Greenpeace,
({6})
auf die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sonst so gerne schimpfen?
({7})
Ganz einfach: Die CDU/CSU-Fraktion weiß genau, dass
die gestellten Forderungen auf nationaler Ebene so überhaupt nicht umsetzbar sind. Aus diesem Grund können
wir Ihren Antrag nicht mittragen
({8})
und haben einen eigenen eingebracht. Wir machen nämlich im Gegensatz zu Ihnen keine Luftnummern.
({9})
Wir haben Ihnen Verhandlungen angeboten, um zumindest die europäische Ebene mit in den Forderungskatalog aufzunehmen. Wir sind dabei bei Ihnen auf Granit
gestoßen. Geben Sie es zu, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU-Fraktion: Sie waren von vornherein
überhaupt nicht an Gesprächen und Verhandlungen mit
uns interessiert. Ich bedauere das wirklich sehr. Denn
gerade bei einem für die gesamte Menschheit so wichtigen Thema erwarte ich, dass ideologische Grabenkämpfe
überwunden werden.
Unser Antrag enthält im Gegensatz zu Ihrem ein Bündel aus nationalen, europäischen und internationalen
Forderungen. Es bestehen gute Aussichten, diese auch
durchzusetzen. Wenn es Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, tatsächlich ernst mit dem Schutz
der Urwälder ist, dann können Sie unserem Antrag Ihre
Zustimmung nicht verweigern.
({10})
Das Wort hat der Kollege Cajus Julius Caesar für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Dem Erhalt der tropischen Wälder, aber auch der gesamten Urwälder kommt für die Union eine zentrale Bedeutung zu. Wir, die Union, wollen den Urwald retten. Deshalb setzen wir darauf, dass Sie uns mithelfen.
Zugegeben, die Urwälder, die Tropenwälder, die Naturwälder sind weit weg und deshalb sehr oft nicht direkt
in unserem Bewusstsein. Dennoch wird es uns hart treffen, wenn wir nicht in der Lage sind, entsprechende
Handlungsmaßnahmen in Angriff zu nehmen.
({0})
Deshalb haben wir den Antrag „Urwaldschutz durch
nachhaltige Holz- und Forstwirtschaft stärken“ schon am
23. März dieses Jahres vorgelegt. Sie, die SPD und die
Grünen, haben dann einige Monate später einen eigenen
Antrag eingebracht,
({1})
weil Sie damals erkannt haben: Der Antrag der CDU/
CSU ist nicht schlecht. Er enthält das, was die Retter des
Urwalds und die Naturschutzverbände vertreten. Aber er
steht auch in Einklang mit der Holzwirtschaft. Deshalb
ist es der richtige Weg nach vorn. Dies ist der Weg, den
Urwald zu retten und gleichzeitig nachhaltige Forstwirtschaft zu betreiben.
({2})
Bei der Beratung des Antrages haben wir erlebt, dass
es Zustimmung seitens der FDP gab, aber auch viele anerkennende Worte vonseiten der SPD und der Grünen.
Deshalb waren wir als Union enttäuscht, dass Sie dann
nicht in der Lage waren, unserem Antrag tatsächlich zu
folgen und zuzustimmen. Ich meine, man sollte bei diesem Thema über Parteigrenzen und über Fraktionsgrenzen hinwegschauen, um den Urwald zu schützen und zu
erhalten.
In Ihrem Antrag finden wir sehr viel Eigenlob.
({3})
Wir können zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung an sehr vielen Konferenzen teilgenommen hat.
Aber es muss uns darum gehen, tatsächlich zu handeln.
Schauen wir uns die Problematik an, so können wir
feststellen: 15 Millionen Hektar Urwald gehen jährlich
verloren. Nur etwa die Hälfte dieser Fläche wird Jahr für
Jahr wieder aufgeforstet, und zwar durch Plantagenwälder oder durch Palmölplantagen. Da sagen wir: Das kann
so nicht weitergehen, das können wir nicht hinnehmen
und hier müssen wir tätig werden. Täglich sind es
40 000 Hektar Urwald, die verloren gehen. Deshalb haben wir unseren Antrag gestellt. Dass Sie einen eigenen
Antrag vorgelegt und noch ein paar zusätzliche Möglichkeiten gefunden haben, um dieses oder jenes noch weiter
voranzubringen, tut der Sache an sich nur gut.
Unsere Forderung, die Einfuhr illegal geschlagenen
oder gehandelten Holzes zu unterbinden, ist der richtige
Weg im Sinne der Urwälder oder anderer Primärwälder.
({4})
Wir hatten gehofft, dass Sie unseren Antrag und unsere
Vorgehensweise unterstützen würden. Denn es ist wichtig, dass wir die noch vorhandenen intakten Wälder kartographisch erfassen und dass wir die Daten laufend fortschreiben. Aber es ist auch wichtig, dass das Holz, das
aus diesen Ländern exportiert und von uns bzw. in die
EU importiert wird, einen Legalitätsnachweis besitzt.
Ich glaube, dass das von großer Bedeutung ist. Deshalb
müssen wir dies auch erreichen. Derjenige, der diesen
Nachweis nicht erbringt und illegal geschlagenes Holz
einführt und damit handelt, sollte mit Sanktionsmaßnahmen rechnen müssen. Das ist der richtige Weg.
({5})
Illegalität, Kriminalität und Profitgier Einzelner dürfen unsere Natur weder in den exportierenden Ländern
noch hier in diesem Maße beeinträchtigen. Der Zertifizierungsnachweis der importierten Hölzer muss unabdingbar sein. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Aber
wir müssen darauf achten, dass wir nicht im Streit um
Zertifizierungssysteme das Gesamtkonzept zerschlagen.
Deshalb muss es unser Weg sein, nach den Kriterien zu
schauen und die Zertifizierungssysteme, die diese Kriterien erfüllen, alle anzuerkennen und das Holz, das nach
diesen Kriterien eingeführt wird, zu verwenden und die
Verwendung zu befürworten.
Damit helfen wir den Menschen in den exportierenden Ländern, nicht in die Armut zu geraten. Damit helfen wir, den auch im Tropenwald umweltfreundlich erzeugten Rohstoff Holz sinnvoll zu verwenden. Damit
tragen wir auf der einen Seite dem Schutz der Natur
Rechnung und auf der anderen Seite gleichzeitig der
wirtschaftlichen Entwicklung der Länder. Wir sorgen damit auch für das Einkommen der dort lebenden Menschen.
({6})
Deshalb ist es wichtig, dass wir neben dem FSC-System das PEFC-System, aber beispielsweise auch die ZerCajus Julius Caesar
tifizierungssyteme, die in Malaysia auf den Weg gebracht worden sind - wie das MTCC-System -, hier
anerkennen und darauf achten, dass die Kriterien dieser
Systeme erfüllt werden.
Die EU-Kommission hat freiwillige Partnerschaften
beschlossen. Dies ist der Weg in die richtige Richtung.
Dies muss dann in entsprechende gesetzliche Regelungen münden. Ich glaube, da sind wir uns einig. Ich hoffe
es zumindest. Ziel muss es sein, dass die europäischen
und auch die deutschen Verbraucher reinen Gewissens
Gartenmöbel oder Möbel überhaupt auch aus dem Tropenwald erwerben können.
Illegaler Holzeinschlag bedeutet Artenrückgang, Versteppung, Verwüstung und erhebliche Klimaveränderung. Deshalb ist dies nicht nur für die Länder, die direkt
davon betroffen sind, sondern für uns alle ein wichtiges
Thema.
Wir geben unserer Wirtschaft neue Vorgaben, beispielsweise durch den Emissionshandel. Wir diskutieren
im Deutschen Bundestag darüber, wie wir mit den erneuerbaren Energien umgehen. Beispielsweise werden die
erneuerbaren Energien durch die Stromeinspeisungsvergütung mit rund 2,5 Milliarden Euro jährlich unterstützt.
Wir müssen auch darüber nachdenken, ob all die Maßnahmen, die wir hier treffen, richtig sind, wenn gleichzeitig an anderer Stelle so viel CO2 in die Umwelt gelangt, dass diese Maßnahmen durch die Umweltschäden
wieder zunichte gemacht werden. Deshalb ist es so
wichtig, dass wir die Bedeutung der Urwaldzerstörung
erkennen.
Die Waldbrände in Indonesien setzen ungeheure
Mengen an CO2 frei. In nur wenigen Monaten sind dort
10 Millionen Hektar Wald verbrannt. Wenn Sie diese
Fläche mit der Waldfläche der Bundesrepublik Deutschland von rund 10,7 Millionen Hektar vergleichen, dann
bedeutet das, dass in etwa die Waldfläche Deutschlands
in nur wenigen Monaten verbrennt. Die Wolke aus diesen Bränden ist 2 000 mal 4 000 Kilometer groß. Die
Menschen in den dortigen Städten mussten Schutzmasken tragen. Wer sich das vor Augen führt, der weiß, welche Schäden durch diese Brände verursacht werden. Ich
habe ein Bild mitgebracht, auf dem man die Zerstörungen ansatzweise erkennen kann. Ich gebe dieses Bild
gerne an die Kollegen weiter.
Man muss sich auch verdeutlichen, was nach der Abholzung, nach der Entnahme wertvoller Stämme, nach
der Brandrodung passiert: Dann werden Tausende von Kilometern - beispielsweise in Indonesien über 4 000 Kilometer - an Wasserkanälen gebaut, die natürlich dazu dienen, das Holz zu transportieren. Es werden aber auch
Entwässerungskanäle gebaut, was dazu führt, dass der
Grundwasserspiegel innerhalb weniger Monate um ein
bis zwei Meter sinkt. Das Ergebnis sind weitere Brände
und ein weiterer Verlust der Artenvielfalt. Außerdem ist
eine Wiederaufforstung nicht möglich. Auf den gerodeten Flächen siedeln sich sehr arme Gras- und Farnsysteme an, was dazu führt, dass das gesamte Land versteppt
und letztendlich kaum noch etwas dort wächst. Selbst
Land- und Viehwirtschaft sind dann kaum noch möglich.
Wenn wir dies einmal unter den globalen Aspekten
beleuchten, dann erkennen wir, dass die Versteppung
und Verwüstung letztendlich zu erheblichen Schäden für
das Gesamtklima führt. Wir können auch feststellen,
dass im Urwald an anderer Stelle, nämlich dort, wo es
sich nicht um Torfwälder handelt, riesige Erdmassen
durch den Straßenbau bewegt werden. Zuerst werden
dort die wertvollsten Stämme genutzt; dann kommt die
Papier- und Zelluloseindustrie. In Teilen dieser Wälder
sorgt auch Brandrodung dafür, dass es zu Vergrasung
und Versteppung kommt.
Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass wir als Bürger, insbesondere aber auch als politisch Verantwortliche
gefordert sind. Wir müssen dafür sorgen, dass auch die
Holz abnehmenden Länder nicht wegschauen. Wir müssen Verantwortung übernehmen und müssen darauf achten, dass wir in der Tat nur Holz einführen und mit Holz
handeln, das aus legalem Holzeinschlag stammt.
({7})
Dafür müssen wir alle sorgen und kämpfen.
Immerhin ist es so - da sollten wir uns nicht aus der
Verantwortung stehlen -, dass auch Deutschland Sperrholzabnehmer ist. Kenner der Materie wissen, dass rund
50 Prozent der Tropenholzimporte in die EU aus illegalem Holzeinschlag stammen. Ich sage es deshalb noch
einmal: Wegschauen ist hier nicht der richtige Weg. Wir
müssen uns dieser Verantwortung stellen und den richtigen Weg gehen.
Sie haben eben die Hermesbürgschaften angesprochen. Ich bin in den vergangenen Wochen auf sie eingegangen, weil ich es nicht für richtig halte, dass Bürgschaften oder Gelder bereitgestellt werden, die
Investitionen in Maschinen zulassen, die wiederum für
den illegalen Holzeinschlag Verwendung finden. Auch
Sie wissen, dass Gelder in das Unternehmen APP geflossen sind; dieses Unternehmen ist dafür bekannt, dass es
diese Gelder in dunklen Kanälen versickern lässt. So
aber kann keine verantwortbare Politik im Sinne der
Walderhaltung und des Umweltschutzes aussehen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ganz wichtig ist
es, darauf zu achten, dass die vor Ort lebenden Menschen nicht in die Armut getrieben werden. Wir müssen
daher bei den legal arbeitenden Firmen dafür sorgen,
dass sie ihr Preisgefüge halten können und es nicht durch
illegalen Holzeinschlag in Gefahr gebracht wird.
Wenn wir die wertvollsten Naturressourcen dieser
Erde erhalten, dann tragen wir entscheidend zum Erhalt
der Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit bei nicht nur der vor Ort lebenden Menschen, sondern auch
von uns allen und unseren Kindern. Werden wir unserer
Verantwortung gerecht! Der Erhalt der noch vorhandenen Urwälder durch nachhaltige Bewirtschaftung bedeutet Armutsbekämpfung, Klimaschutz, Artenvielfalt und
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Wir müssen
dieser Verantwortung gemeinsam gerecht werden. Ich
hoffe, dass wir es auch gemeinsam schaffen werden.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein Bild hat sich mir eingeprägt. Es zeigt haitianische Kinder, die Trinkwasserbeutel aus Schlammfluten fischen. Dieses Bild gehörte zu den Schlagzeilen
der letzten Woche, die die verheerenden Folgen des Tropensturms „Jeanne“ auf Haiti beschrieben. „Jeanne“ hat
dort mindestens 1 200 Menschen das Leben gekostet;
mehr als 1 250 werden noch vermisst.
Hauptgrund dafür, dass die mit dem Sturm einhergehenden Regenfälle solche immensen Schäden anrichten
konnten, ist nach Expertenangaben die massive Abholzung des Waldes. Zur Zeit seiner Entdeckung im
15. Jahrhundert war Haiti noch völlig mit Wald bedeckt.
Vor allem der enorme Energiebedarf in den letzten Jahrzehnten, der zu mehr als 70 Prozent mit Brennholz gedeckt wird, hat dazu geführt, dass heute nur noch knapp
5 Prozent der Insel bewaldet sind.
Für die weltweite Zerstörung von Urwäldern ist Haiti
ein Beispiel von vielen. Auch die Gründe für Waldzerstörung sind vielfältig. Griechenland wurde bereits in
der Antike großflächig entwaldet. Das Holz wurde für
den Bau der Schiffe gebraucht, die Griechenlands Ruhm
als Seefahrernation festigen sollten. Heute wird Wald in
Brasilien zu Ackerland, damit mit billigem Soja der
Weltmarkt erobert werden kann. In Südostasien wird der
Wald zu Einwegstäbchen verarbeitet oder er muss
Palmölplantagen weichen.
Im „Neuen Deutschland“ vom 20. September wird
der von mir sehr geschätzte Kollege Caesar zitiert. Er
zeigte sich entsetzt darüber, dass indonesische Torfmoorurwälder in Sumatra mit Kanälen entwässert werden. So werden sie für Holzfällertrupps zugänglich, aber
auch unwiederbringlich zerstört.
Ob Griechenland, Haiti oder Sumatra, durch Vernichtung der Wälder werden Regionen devastiert und ihr
ökologisches Gleichgewicht wird empfindlich gestört.
Die Bewohner werden ihrer natürlichen Lebensgrundlage beraubt.
Im Bewusstsein, dass Wälder und ganz besonders Urwälder als die letzten noch verbliebenen naturbelassenen
Waldgebiete der Erde unverzichtbar sind, haben sowohl
die CDU/CSU-Fraktion als auch die Koalition Anträge
zum Urwaldschutz vorgelegt. Die CDU/CSU fordert in
ihrem Antrag die Bundesregierung auf, sich für einen
verbesserten Schutz der Urwälder einzusetzen und insbesondere Maßnahmen gegen die Einfuhr, den Handel
mit sowie die Verarbeitung und Ingebrauchnahme von illegal geschlagenem Holz zu ergreifen.
Das sind zweifellos richtige und wichtige Gedanken;
dennoch greifen sie zu kurz. Diese Maßnahmen erfassen
nur das letzte und das vorletzte Glied der Kette und sie
sind ein zahnloser Tiger; denn die Märkte in Ostasien
sind in höchstem Maße aufnahmebereit für Holz, auch
für illegal geschlagenes Holz. Was nützt es, wenn
Deutschland die Einfuhr verbietet und dafür China noch
ein bisschen mehr illegal geschlagenes Holz abnimmt?
Unser Antrag dagegen zeigt den ganzen Kanon unterschiedlicher Ansatzpunkte für einen wirksamen Urwaldschutz auf.
({0})
Dabei geht er erheblich über nationale Maßnahmen gegen illegal geschlagenes Holz hinaus. Er macht deutlich,
dass auch Urwaldschutz eine Frage der Nachhaltigkeit
ist, die ökonomische, ökologische und soziale Aspekte
hat. Diese drei Aspekte in Einklang zu bringen ist eine
Herausforderung, vor der wir entwickelten Länder gemeinsam mit den Ländern stehen, deren wirtschaftliche
Situation sie bisher zum Raubbau an ihren Lebensgrundlagen zwingt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die letzten naturbelassenen Wälder dieser Erde dürfen nicht für ein Klingeln im Geldbeutel gewissenloser Unternehmer geopfert
werden.
({1})
Ganz sicher bedarf es international abgestimmter Aktionen gegen illegalen Holzeinschlag und gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz. Es bedarf jedoch vor
allem einer Politik des verantwortlichen Handelns aller
Akteure auf allen Ebenen. Es braucht sowohl international wirksame Rechtsinstrumente zum Schutz der Wälder
als auch eine Bevölkerung, die bereit ist, ihren Wald zu
schützen, weil sie erkannt hat, dass sie von einer nachhaltigen Nutzung profitiert.
Inzwischen gibt es nach diesem Prinzip „Schutz
durch Nutzung“ viele Projekte in Kolumbien, in Brasilien und in anderen Teilen der Welt. Im Land Brandenburg arbeitet das UNESCO-Schutzgebiet Biosphärenreservat Spreewald seit 1997 auf der Basis eines
Kooperationsvertrags mit dem philippinischen Biosphärenreservat Palawan zusammen. Dort erfolgen Austausche; die philippinischen Partner werden in ihrem Bestreben zur Erhaltung des Urwalds unterstützt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Interesse eines
tatsächlich wirksamen Urwaldschutzes bitte ich Sie, dem
weiter gehenden Antrag der Koalitionsfraktionen Ihre
Stimme zu geben.
Danke.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika
Brunkhorst das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 15 Millionen Hektar naturnaher Wälder gehen jedes Jahr verloren.
Die Situation in einigen Ländern ist dramatisch. Denken
wir an Indonesien! Dort geht der ungehemmte Raubbau
voran.
Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich unverständlich, dass wir es nicht geschafft haben, zu einem gemeinsamen Antrag zu diesem Thema zu kommen.
({0})
Wir sind uns in wesentlichen Punkten einig. Der Schutz
der letzten verbliebenen Urwälder muss eine Aufgabe aller Fraktionen sein, der sich alle verpflichtet fühlen.
Die dramatische Situation vieler Urwälder schreitet
voran; der illegale Holzeinschlag wurde hier bereits genannt. In mancher Region ist natürlich auch die Armut
Ursache für den illegalen Einschlag; das sollten wir nicht
vergessen. In Anbetracht all dieser Zusammenhänge
halte ich das Lob im Antrag der Koalitionsfraktionen in
Bezug auf die rot-grüne Bundesregierung für etwas deplatziert. Es geht an der Sache vorbei und rettet keinen
einzigen weiteren Baum.
({1})
- Ja, die habe ich gelesen.
Jeder hat ein Gefühl dafür, was Urwälder sind. Aber
es muss etwas mehr darum gehen, was Urwälder ganz
konkret sind. Wir brauchen international abgestimmte
Definitionen. Ich denke, wir müssen der Bundesregierung den Auftrag erteilen, sich auf internationaler Ebene
intensiv an der Erarbeitung einheitlicher Definitionen für
die unterschiedlichen Waldkategorien wie Urwälder,
Altwälder oder Sekundärwälder zu beteiligen. Dieser
Prozess wurde schon vom Waldforum der Vereinten Nationen angestoßen. Von der FAO wurde eine Harmonisierung, Sammlung und Systematisierung bereits bestehender waldrelevanter Definitionen eingeleitet. Das
befürworten wir von der FDP ganz ausdrücklich.
Die von der Regierung betriebene einseitige Förderung nur eines Holzzertifikates hat sich im internationalen Urwaldschutz aus unserer Sicht nicht bewährt. Es
gibt insgesamt acht Zertifikate. Es ist in der Sache völlig verfehlt, nur eines hervorzuheben. Ich denke, hier
handelt Rot-Grün auch aus nationaler Befindlichkeit.
Das ist überhaupt nicht im Interesse der internationalen
Aufgabe des Urwaldschutzes.
({2})
Die FAO drängt auf Anerkennung aller Zertifikate; denn
sie alle leisten ihren Beitrag zum Urwaldschutz. Dieser
Weg sollte auch in Deutschland verfolgt werden.
({3})
Nun komme ich zum Inlandsmarkt. Deutschland ist
nach den USA und Japan weltweit der drittgrößte Importeur von Holz und Holzprodukten. Deswegen haben wir
eine besondere Verantwortung. Eine weitere Bürokratisierung der Waldwirtschaft in unserem Land erhöht den
Druck und verstärkt dadurch wiederum mittelbar den
Bedarf an Holzimporten. Das ist ein falscher Weg, der
in diesem Zusammenhang einmal erwähnt werden muss.
Wir wollen den Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag führen. Wir wollen, dass die Waldnutzung der
einheimischen Bevölkerung in den Entwicklungsländern
selbst zugute kommt. Deswegen sollten wir versuchen,
den armen Ländern der Erde dabei zu helfen, ihre Wälder in entsprechender Weise für die Bekämpfung der
Armut zu nutzen und gleichzeitig ein verstärktes Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihres eigenen
Waldes zu entwickeln. Statt weiterer internationaler Verordnungen ist Hilfe zur Selbsthilfe angesagt.
({4})
Einen Beitrag dazu könnte die Weltbank leisten, die
eine Strategie zum Schutz dieser Wälder entwickelt hat,
in deren Rahmen das Potenzial der Wälder zur Verminderung der Armut eingesetzt werden soll. Die Wälder
sollen in eine nachhaltige Entwicklung integriert werden
und es sollen lokal und global bedeutsame Wälder geschützt werden.
Wir brauchen den Erhalt der Wälder der Erde für das
Leben der Menschen vor Ort, für die biologische Vielfalt, die Sicherung der Wasserressourcen und den Klimaschutz. Wir unterstützen den Antrag der Unionsfraktionen und lehnen den Antrag der Koalition ab.
Danke.
({5})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
Kollege Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Es ist immer
einfacher, die Umwelt des anderen zu schützen.“ Dieses
Zitat stammt von der brasilianischen Umweltministerin
Marina Silva, die übrigens selbst als Indigena aus dem
Amazonasgebiet stammt. Wenn man berücksichtigt, dass
wir in Europa unsere Urwälder längst abgeholzt haben,
ist es verständlich, dass uns aus den Entwicklungsländern zum Teil Skepsis entgegengebracht wird, wenn wir
den Schutz der dortigen Regenwälder anmahnen.
Allerdings wissen wir spätestens seit der UNCEDKonferenz in Rio de Janeiro im Jahr 1992, dass Umwelt
und Entwicklung zusammengehören und sich nicht ausschließen. Das weiß natürlich auch Marina Silva, die
sich übrigens sehr für den Erhalt der Regenwälder im
Amazonasgebiet einsetzt. Es geht also darum, den Urwald zu schützen und den Menschen vor Ort aus ihrer
Armut zu helfen.
({0})
Das erreichen wir aber nicht, indem wir alle Urwälder zu
Naturschutzparks deklarieren, so sinnvoll und gut gemeint dies im Einzelfall auch sein mag. Nein, die Urwälder bergen auch ein Wirtschaftspotenzial, welches für
die Bevölkerung vor Ort einen Anreiz bieten kann, den
Wald aus genau diesem Grund nicht zu zerstören, sondern ihn nachhaltig zu nutzen.
({1})
So berechnet das brasilianische Umweltinstitut
IMAZON, dass durch nachhaltige Waldbewirtschaftung
rund viermal höhere Einkünfte als durch die zum Teil
praktizierte Abrodung und Nutzung durch Rinderherden
erzielt werden können und dass dadurch die Zahl der Arbeitsplätze in der Region verdoppelt werden könnte.
Es gibt bereits erfolgreiche Unternehmen wie
Precious Woods, die in der nachhaltigen Forstwirtschaft
tätig sind und dadurch den illegalen Holzeinschlag in
ihrem Waldgebiet verhindern. Dies können sie wirtschaftlich durchaus gewinnbringend tun.
In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit genießt die Förderung von nachhaltiger Waldbewirtschaftung einen hohen Stellenwert. Wir geben rund
130 Millionen Euro pro Jahr für forstliche Projekte aus.
Das kann sich sehen lassen. Ziel ist es, die bisherige illegale Holzgewinnung ebenso wie die legale traditionelle
Forstwirtschaft durch eine nachhaltige Waldbewirtschaftung abzulösen.
({2})
Auch die Teile des bereits unter Naturschutz stehenden
Regenwaldes könnten effektiv geschützt werden, wenn
ein Gürtel nachhaltig genutzter Waldfläche um sie herum gezogen werden könnte.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr
Antrag zeigt eine verkürzte Sicht der Dinge. Es ist kein
gemeinsamer Antrag mit uns zustande gekommen. Das
hat auch seinen Grund. Sie sprechen nämlich ausschließlich von der Einfuhr illegalen Holzes und davon, wie
dies zu vermeiden sei. Sie gehen das Problem aber zu
spät an; denn in Ihren Forderungen beziehen Sie sich nur
auf die Einfuhr von illegalem Holz und verlagern das
Problem damit auf andere Absatzmärkte. Der Titel Ihres
Antrages heißt zwar „Urwaldschutz durch nachhaltige
Holz- und Forstwirtschaft stärken“, im Text und in Ihren
Forderungen gehen Sie aber mit keinem Wort darauf ein.
({3})
Herr Caesar, wir stimmen heute nicht über Ihre Rede
ab, in der Sie durchaus auch auf die nachhaltige Forstwirtschaft eingegangen sind, sondern über Ihren Antrag.
Vielleicht haben Sie unseren Antrag vor Ihrer Rede ja
gelesen. Es ist sehr schön, dass Sie ein paar Argumente
überzeugt haben.
({4})
Ich befürchte aber, dass Sie aller Rhetorik zum Trotz
an der traditionellen Forstwirtschaft festhalten wollen.
Damit spreche ich jetzt die gesamte CDU/CSU-Fraktion
an. Sie übersehen dabei, dass die Zerstörung des Regenwaldes nicht nur ein Problem des illegalen Holzeinschlages, sondern auch ein Problem des legalen Holzeinschlages ist.
({5})
Die Urwälder können nämlich nur geschützt werden,
wenn die Forstwirtschaft nicht nur legal, sondern auch
nachhaltig betrieben wird. Das muss kontrolliert und
zertifiziert werden. Das FSC-Siegel, das hier schon einige Male erwähnt wurde und durch das die Einhaltung
ökologischer und sozialer Kriterien garantiert wird, wäre
zum Beispiel ein sehr gutes Mittel dafür.
({6})
Deswegen wird der Bund bei Baumaßnahmen künftig
nur noch nachhaltig geschlagenes und entsprechend zertifiziertes Holz verwenden. Wir gehen hier mit gutem
Beispiel voran. Auch jeder Verbraucher kann beim Einkauf in Baumärkten oder Möbelhäusern einen Beitrag
dazu leisten. Um einen Beitrag zum Schutz des Regenwaldes zu leisten, muss man nicht nur Krombacher Bier
trinken, sondern man kann auch Möbel kaufen, die ein
FSC-Siegel tragen.
Man muss sich auch vor Augen halten, dass wir das
nicht nur für andere Menschen tun. Wir selber haben
auch einen Nutzen davon, denn es trägt zum Klimaschutz bei; wir haben es schon gehört. Ganz wichtig ist
auch die biologische Vielfalt in den Regenwäldern, die
Heilpflanzen und Heilmittel für neue Medikamente hervorbringen. Im Unterschied zu Ihrem Antrag, in dem
dazu nichts zu finden ist, steht in unserem Antrag, dass
wir die Konvention über die biologische Vielfalt beibehalten wollen, die auch eine gerechte Verteilung der Gewinne aus der Nutzung der biologischen Vielfalt der Regenwälder beinhaltet.
Ich sehe, dass meine Redezeit zu Ende geht. Es gilt
nicht mehr das alte Umweltmotto „Global denken, lokal
handeln“; wir müssen vielmehr global und national handeln. Wenn die Opposition „Denken“ im Sinne des
Nachdenkens über unseren Antrag versteht, dann, so
glaube ich, können Sie unserem Antrag nur zustimmen.
In diesem Sinne bitte ich darum.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
auf Drucksache 15/3794. Der Ausschuss empfiehlt unter
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2747
mit dem Titel „Urwaldschutz durch nachhaltige Holz- und
Forstwirtschaft stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Annahme
des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3464 mit dem
Titel: „Urwaldschutz verstärken“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen auf dem Gebiet der Unfallverhütung im
Straßenverkehr 2002 und 2003 - Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2002/2003 - Drucksache 15/3427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im Jahr 2003 wurden in
Deutschland mit 6 613 im Straßenverkehr tödlich Verunglückten die wenigsten Verkehrstoten seit der Einführung der Statistik der Straßenverkehrsunfälle im
Jahre 1953 registriert. Zum Vergleich: 1970 gab es alleine auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik über
19 000 Tote. 1991, also kurz nach der Wiedervereinigung, lag die Zahl der Verkehrstoten bei 11 300.
Auch wenn wir uns einig sind, dass jeder Verkehrstote
einer zu viel ist, kann klar festgestellt werden: Die Zahl
der Verkehrstoten auf unseren Straßen ist von 1970 bis
heute um mehr als zwei Drittel zurückgegangen. Gleichzeitig gilt es, zu bedenken, dass sich in diesem Zeitraum
die Fahrleistung und der Kfz-Bestand mehr als verdreifacht haben. Auch für dieses Jahr erwarten wir sinkende
Unfallzahlen. Die Prognosen sind recht vielversprechend. In den Monaten Januar bis Juli 2004 waren die
Unfallzahlen im Straßenverkehr gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum rückläufig: bei den Getöteten um minus 15 Prozent, bei den Verletzten um minus
9 Prozent, bei Unfällen mit Personenschaden um minus
8 Prozent und bei Straßenverkehrsunfällen insgesamt um
minus 1 Prozent.
Trotz aller Erfolge gibt es aber noch lange keinen
Grund, sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen. Wir wollen noch mehr Sicherheit auf unseren Straßen. Deshalb
haben wir bereits im Jahre 2001 unser Programm für
mehr Sicherheit im Straßenverkehr auf den Weg gebracht. Damit wollen wir das Verkehrsklima in Deutschland verbessern. Wir wollen schwächere Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer schützen. Wir
wollen die Unfallrisiken von jungen Fahrerinnen und
Fahrern reduzieren, die Verkehrssicherheit auf den
Landstraßen erhöhen und das Gefahrenpotenzial schwerer Nutzfahrzeuge mindern.
({0})
In diesem Zusammenhang gestatten Sie mir, heute
Abend eine Bitte an Sie zu richten, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Wie Sie wissen, beschäftige ich mich
schon seit geraumer Zeit mit dem für Radfahrer besonders gefährlichen toten Winkel bei LKWs. Wir haben Ihnen im vergangenen Juni gemeinsam mit dem Verband
der Automobilindustrie neue Spiegelsysteme vorgestellt,
die dieses Problem lösen. Ich konnte mich in dieser Woche auf der Nutzfahrzeuge-IAA davon überzeugen, dass
diese Spiegel jetzt bei den Herstellern bestellt werden
können.
({1})
Das gilt für Neufahrzeuge und auch für die Nachrüstung
der LKWs, die zurzeit auf unseren Straßen unterwegs
sind.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
Sie mit den Spediteuren in Ihren Wahlkreisen reden und
dafür werben, dass diese Nachrüstung tatsächlich vorgenommen wird, die Flotten umgerüstet und die Spiegel an
den LKWs befestigt werden, damit das Problem des toten Winkels auf unseren Straßen bald der Vergangenheit
angehört.
({2})
So können wir gemeinsam und ganz konkret einen Beitrag für mehr Verkehrssicherheit leisten. Eine entsprechende ausführliche Information gestatte ich mir Ihnen
allen noch in dieser Woche zukommen zu lassen.
Damit Maßnahmen und Fortschritte unseres Verkehrssicherheitsprogramms dokumentiert werden können, soll der Unfallverhütungsbericht zu einem Controlling-Instrument für die Umsetzung des Programms
weiterentwickelt werden. Deshalb enthält der Unfallverhütungsbericht ein neu gestaltetes Kapitel, in dem die
Maßnahmen rückblickend für den Berichtszeitraum dargestellt werden. Gleichzeitig wird aber auch ein Ausblick darauf gegeben, welche weiteren Schritte erfolgen
werden. Jeder kann also nachvollziehen, was in den letzten zwei Jahren geschehen ist und was in Zukunft unternommen wird.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird
ihre Verkehrssicherheitsarbeit intensiv fortsetzen. Hierzu
wird auch unsere Kampagne „Rücksicht ist besser“ beitragen, die im Juli von Minister Dr. Stolpe persönlich gestartet wurde.
({3})
Wir wollen damit die soziale Verantwortung jedes Einzelnen stärken und zu einer Veränderung des Verkehrsklimas und des Verkehrsverhaltens beitragen. Auf unseren Straßen ist kein Platz für Aggressionen und für
Rücksichtslosigkeit, worunter besonders die schwächeren Verkehrsteilnehmer, unsere Kinder, aber auch die älteren Menschen, zu leiden haben.
({4})
Mehr Rücksicht und mehr Sicherheit im Straßenverkehr - das ist eine Aufgabe, die die Politik nicht allein
bewältigen kann. Das ist vollkommen klar. Wir brauchen
hier ganz engagierte Mitstreiter, denn Sicherheit im Straßenverkehr ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Deshalb bin ich froh und dankbar, dass viele Organisationen in Deutschland ihren Beitrag zu diesem wichtigen
Anliegen leisten. Ich möchte heute Abend die Gelegenheit nutzen, allen engagierten Mitstreitern, insbesondere
den ehrenamtlichen Helfern, ganz herzlich zu danken,
denn ohne sie wäre eine breit angelegte wirkungsvolle
Verkehrssicherheitsarbeit kaum möglich und es gäbe
auch die vielen Erfolge nicht.
({5})
Verkehrssicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Sie
kostet natürlich auch Geld. Deshalb ist eine ausreichende finanzielle Ausstattung wichtig.
({6})
Aber auch hier gilt: Der Staat kann nicht alles allein tragen. Daher zum Schluss mein Appell an alle gesellschaftlichen Kräfte in unserem Land: Bitte unterstützen
Sie uns! Bitte beteiligen Sie sich an dieser Aufgabe! Es
lohnt sich. Der Rückgang bei der Zahl der Verkehrstoten
ist hierfür nicht nur ein guter zahlenmäßiger Beleg, sondern er ist auch Ausdruck der Reife unserer Gesellschaft
und unseres Gemeinwesens.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mein erstes Wort gilt den Mitarbeitern des Verkehrsministeriums, denen ich für die Erstellung dieses
Berichtes herzlich danke. Er bietet immer eine Grundlage für die Überprüfung der Arbeit, die wir aus dem
Parlament an das Ministerium herantragen. Anhand des
Berichtes können wir feststellen, ob es etwas gefruchtet
hat und wo eventuell noch neue Handlungsfelder für uns
liegen.
({0})
Der Unfallverhütungsbericht zeigt erneut, meine Damen und Herren: Wir müssen uns weiter für die Verbesserung der Verkehrssicherheit einsetzen, denn jeder auf
unseren Straßen verunglückte Mensch ist einer zu viel.
Insbesondere gilt es, die Unfallrisiken junger Fahrerinnen und Fahrer zu reduzieren. Wie wir alle wissen, sind
die 18- bis 24-Jährigen überproportional häufig in Verkehrsunfälle verwickelt. Der aktuelle Unfallverhütungsbericht macht deutlich: Die freiwillige zweite Ausbildungsphase für Fahranfänger und das begleitete Fahren,
bei dem das Land Niedersachsen eine Vorreiterrolle eingenommen hat, sind wichtige Beiträge zu einer Reduzierung der Unfallzahlen bei dieser Personengruppe.
Darüber hinaus stoßen wir bei jungen Fahranfängern
aber seit einiger Zeit auf ein Problem, das im aktuellen
Bericht überhaupt nicht erwähnt wird: die Teilnahme am
Straßenverkehr unter Drogeneinfluss. Hier haben insbesondere die so genannten Partydrogen wie Ecstasy, Poppers oder Speed eine unrühmliche Bekanntheit erlangt.
Das Führen eines Kraftfahrzeugs nach Einnahme dieser
Partydrogen, aber auch nach dem Rauchen von Hasch ist
genauso wenig ein Kavaliersdelikt wie das Fahren unter
Alkoholeinfluss.
Ich spreche hier ein Thema an, das Eltern große Sorgen bereitet, da sie keinen Einfluss auf ihre Kinder im
Alter von 16, 17 oder 18 Jahren haben. Die Sorge der Eltern besteht darin, dass sie sich fragen, was passiert,
wenn ihre Kinder in ein Auto steigen, dessen Fahrer unter Drogeneinfluss steht. Ich habe in meinem Wahlkreis
leider erlebt, dass dies ein reales Problem mit häufig tödlichem Ausgang ist. Deshalb habe ich die Bitte, dass wir
versuchen, durch verstärkte Polizeiarbeit die Dunkelziffern bei Fahrten unter Drogeneinfluss aufzuhellen.
({1})
Die Möglichkeiten des Drogenerkennungsprogramms
müssen deshalb von den Polizeien der Länder noch stärker genutzt werden. In den einzelnen Bundesländern
werden Verfahren zur Entziehung der Fahrerlaubnis wegen des Fahrens unter Drogeneinfluss leider immer noch
zu unterschiedlich gehandhabt. Deshalb: Das Ministerium muss hier handeln. Ich fordere die Bundesregierung auf, den Ländern bei der Bewältigung dieses Problems zu helfen. Entwickeln Sie gemeinsam mit den
Ländern Lösungen zu einer wirkungsvolleren Vermeidung des Fahrens unter Drogeneinfluss!
({2})
Erhebliche Sorgen muss uns aber auch die Sicherheit
schwächerer Verkehrsteilnehmer bereiten. Fußgänger,
Radfahrer sowie Motorradfahrer sind im Vergleich zu
PKW- und LKW-Insassen einem besonderen Risiko ausgesetzt. Insgesamt gab es 2003 auf deutschen Straßen
6 618 Unfalltote. Unter ihnen befanden sich 1 059 Motorradfahrer. Beim Lesen dieser Zahlen kam ich doch ins
Stutzen; denn das macht einen Anteil von 16 Prozent
aus. Was noch schwerer wiegt: Gegenüber 2002 hat sich
die Zahl der verunglückten Motorradfahrer entgegen der
allgemeinen Unfallentwicklung erhöht. Im Jahr 2002 kamen 1 044 Motorradfahrer bei Verkehrsunfällen ums Leben. Hinzu kommen viele Schwerstverletzte. Es ist zu
bedenken, dass Motorradfahrer überwiegend im Frühling und im Sommer unterwegs sind. Das heißt, wir betrachten nicht zwölf Monate, sondern sechs bis acht. Das
macht deutlich, welch hohem Risiko Zweiradfahrer im
Straßenverkehr ausgesetzt sind.
({3})
Wir erleben leider zu oft, dass Motorradfahrer ohne
Helm oder mit zu hoher Geschwindigkeit auf unseren
Straßen unterwegs sind. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, eine Verkehrssicherheitskampagne zu
starten, um die Motorradfahrer an ihre Helmpflicht zu
erinnern. Zudem sollten Motorradfahrer hierbei auch zu
verkehrsgerechtem Verhalten aufgefordert und es sollte
an ihre Vernunft appelliert werden.
({4})
Noch größere Probleme kommen auf uns zu, wenn im
nächsten Jahr die neue Fahrlizenz S startet. Diese bezieht sich auf Fahrzeuge, die als Quads bezeichnet werden. Sie können bis zu 45 Kilometer schnell sein und
man darf sie ohne Helm fahren. Es sind Spaßmobile, die
aus den USA kommen. Ich habe die Hoffnung, dass man
merkt, dass sie, weil sie vierrädrig sind, viel Platz wegnehmen und man sie nicht wie ein Fahrrad mal eben in
den Keller schieben kann. Wir müssen darauf hinwirken,
dass sie in Zukunft kein besonderes Verkehrssicherheitsrisiko darstellen.
Im Verkehrsunfallbericht ist weiterhin zu lesen, dass
der Schutz der schwächeren gegenüber den stärkeren
Verkehrsteilnehmern zu verbessern sei. Die stärkeren
Verkehrsteilnehmer seien zur besonderen Rücksichtnahme anzuhalten. Was aber macht das Ministerium, um
dieses Ziel zu erreichen? Es legt die ohnehin schon viel
zu knapp bemessenen Mittel in einer zweifelhaften Sicherheitskampagne an. Die Frau Staatssekretärin hat sie
angesprochen; es handelt sich um die Kampagne: Rücksicht ist besser. Sie haben das Plakat vielleicht schon gesehen. Ich meine, dieses Plakat stellt keinen Sinnzusammenhang mit den Gefahren des Straßenverkehrs her.
({5})
Der Junge mit der Narbe kann sich überall verletzt haben
- ich habe einige Zeit gebraucht, um die Narbe zu entdecken -, auf dem Spielplatz oder in einer Badeanstalt.
Deswegen: Aufklärung ja, aber Mittel müssen optimal
und dürfen nicht suboptimal eingesetzt werden. Diesen
Einsatz halte ich für nicht angemessen. Das war ein suboptimaler Mitteleinsatz.
Wir haben in dieser Woche ehrenamtliche Kampagnen gesehen, die zu loben sind. Bei Safety Stars wurden
uns schöne Plakate präsentiert, die einleuchtend waren
und an die Menschen appelliert haben, sicher und ohne
Alkohol zu fahren. Für das Plakat der Bundesregierung
hätte man nicht viel Geld zahlen müssen. Es geht auch
besser, Frau Staatssekretärin.
Verkehrssicherheitspolitik muss richtig betrieben werden. Nicht nur Plakate, sondern auch Verkehrsschilder
müssen eine klare Aussage beinhalten. Deshalb muss
endlich die Kombination von Stoppschild und Andreaskreuz an unbeschrankten Bahnübergängen zugelassen
werden. Das Dilemma bei unbeschrankten Bahnübergängen ist lange genug beschrieben worden; es ist auch
belegt. Deshalb sollten wir seitens des Parlaments die
Voraussetzungen dafür schaffen, die Kombination von
Stoppschild und Andreaskreuz zu ermöglichen, um
- nicht nur an unbeschrankten Bahnübergängen, sondern
im gesamten Straßenverkehr - die Verkehrssicherheit zu
erhöhen.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Lassen Sie uns daran weiter arbeiten! Ich freue mich
auf die Ausschussarbeit zu diesem Thema.
({0})
Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Entwicklung der aktuellen Unfallzahlen in Deutschland müsste uns eigentlich froh
stimmen. Denn nach den aktuellen Zahlen können wir
dieses Jahr mit deutlich weniger Verkehrstoten als im
Jahr 2003 rechnen. Es scheint sogar möglich, in 2004
erstmals die Schwelle von 6 000 Verkehrstoten zu unterschreiten.
Das zeigt deutlich, dass die Bemühungen auf allen
Ebenen Früchte tragen. Dabei gebührt unser Dank einer
Vielzahl von Akteuren, die sich seit vielen Jahren im Bereich der Unfallverhütung engagieren. Ich möchte an
dieser Stelle insbesondere den vielen ehrenamtlich Aktiven danken, die sich vor Ort, in vielen lokalen Initiativen
und Vereinen, bei der Verbesserung der Verkehrssicherheit große Verdienste erworben haben.
({0})
Wohlgemerkt, ich sagte eben, das müsste uns froh stimmen; denn selbst 6 000 Verkehrstote sind immer noch
6 000 zu viel und auch die Zahl von über 450 000 Verunglückten - darunter rund 85 000 Schwerverletzte - sollte
uns weiterhin Ansporn sein, in unseren Bemühungen um
die Verbesserung der Verkehrssicherheit nicht nachzulassen.
Hinter jedem Verunglückten steht ein Schicksal; hinter Todesfällen und Schwerverletzten stehen Tragödien.
Wir dürfen nicht vergessen, dass auch unsere Gesellschaft durch diese Fälle einen unersetzbaren Verlust erleidet.
Der Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung
sollte uns daher bestärken, den eingeschlagenen Weg
noch konsequenter zu beschreiten. Das Kapitel „Prioritäten setzen“ beispielsweise beschreibt fünf zentrale
Handlungsfelder, die kurz- und langfristige Maßnahmen
beinhalten.
Für mich hat zum Beispiel die Kampagne „Gelassen
läuft’s“ eine große Bedeutung; denn sie setzt zum einen
beim Verkehrsklima und zum anderen beim schwächsten
Glied in der Kette an, nämlich bei uns, bei den Verkehrsteilnehmern, beim Faktor Mensch.
Auf der Veranstaltung „Multi modal mobil“ unserer
Bundestagsfraktion am 24. April dieses Jahres hatte
Matthias Knobloch vom ACE im Forum Verkehrssicherheit einige sehr interessante Aspekte in die Diskussion
eingebracht, über die es sich nachzudenken lohnt. Der
Kernsatz lautete: Verkehr und damit Verkehrssicherheit
konkurrieren gegen andere „Alltagsprobleme“ und haben dabei schlechte Chancen. - Dabei fällt mir spontan
das bekannte Kampagnebild „Wer fährt?“ ein, das einen
rauchenden, Kaffee trinkenden und telefonierenden Autofahrer zeigt. Wir scheinen uns bereits so sehr an das
Arbeits- und Lebensumfeld Auto gewöhnt zu haben,
dass wir häufig gar nicht mehr registrieren, wie sehr wir
schon den Alltagsroutinen verhaftet sind.
Routine - das wissen wir zum Beispiel von Extremsportlern oder Menschen in Gefahrenberufen - kann
aber lebensgefährlich werden, wenn wir dadurch unsere
Grenzen und somit auch Grenzsituationen nicht mehr erkennen und richtig einschätzen. Knobloch fordert daher:
Emotionalisieren, statt Gelassenheit zu verbreiten . - Die
Initiative „Vorsicht Menschen({1})kinder“ hat große Aufmerksamkeit mit ihrem Plakat gewonnen - es ist uns sicherlich allen bekannt -, das einen Mann zeigt und dazu
den Spruch: Haus gebaut, Baum gepflanzt, Kind verloren.
Was ist nun der richtige Weg: Emotionalisierung
oder Gelassenheit? Ich meine, die Mischung aus beidem macht es. Die hohe Emotionalisierung weckt
schneller Aufmerksamkeit und Betroffenheit, hat aber
vor allen Dingen bei nicht unmittelbar Betroffenen eine
geringe Langzeitwirkung. Die Strategie „Die Entdeckung der Gelassenheit“ hat da sicherlich eine langsamere, aber dafür nachhaltigere Wirkung.
Wir scheinen also auf einem richtigen Weg zu sein.
Wenn ich mir die sinkenden Unfallzahlen näher anschaue und die Zahlen für das erste Halbjahr und den
Juli 2004 auf dieses Jahr hochrechne - alles unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Unfallraten im
zweiten Halbjahr im Durchschnitt höher sind -, dann
können wir dieses Jahr tatsächlich die 6 000er-Marke bei
den Getöteten und die 450 000er-Marke bei den Verletzten unterschreiten.
Ich freue mich auch darüber, dass insbesondere in den
ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, in denen die
Zahl der Getöteten je 1 Million Einwohner nach wie vor
erheblich über dem Bundesdurchschnitt liegt, eine deutlich positivere Entwicklung zu beobachten ist.
Ich warne jedoch davor, von einer linearen Fortsetzung dieser Entwicklung auszugehen. Über die Frage,
warum wir in diesem Jahr einen derart überproportionalen Rückgang der Zahl der Unfälle mit Personenschäden
im Vergleich zu den Unfallzahlen insgesamt zu verzeichnen haben, sollten wir bald nach Vorliegen der endgültigen Zahlen im Ausschuss diskutieren. Dann müsste auch
eine Aussage darüber möglich sein, ob es sich hier tatsächlich um einen Trend handelt und, wenn ja, auf welchen Entwicklungen dieser beruht.
Eines müsste uns aber deutlich geworden sein: Das
zum Beispiel vom VCD in seiner Studie zu Vision Zero
vorgegebene Ziel von 3 500 Toten weniger und 250 000 Verletzten weniger binnen zehn Jahren erscheint angesichts
dieser Entwicklung nicht mehr so utopisch. Es ist tatsächlich erreichbar. Auf den Feldern „Recht und Gesetz“,
„Fahrzeug“, „Infrastruktur“ und „Mensch“ gibt es noch
eine Vielzahl von zusätzlichen Handlungsmöglichkeiten.
Wir sollten diese nutzen und uns vornehmen, dieses große
Ziel zu erreichen. Wie gesagt, 6 000 Verkehrstote sind
6 000 Verkehrstote zu viel.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann für die FDP nur in den Chor derjenigen einstimmen, die angesichts des vorliegenden Unfallverhütungsberichts feststellen, dass es seit Einführung der Statistik - mit einer kurzen Unterbrechung durch die
deutsche Einheit aus bekannten Gründen - wieder positive Rekordzahlen gibt und dass das eine Bestätigung dafür ist, dass die Arbeit teilweise Früchte trägt. Aber - das
möchte ich sehr deutlich betonen - bestimmte Zahlen
bleiben konstant, wie beispielsweise die Zahl der im
Auto der Eltern getöteten Kinder. An diesem Fakt hat
sich seit Aufnahme der Arbeit im Wesentlichen nichts
verändert. Noch immer stirbt mehr als die Hälfte aller im
Straßenverkehr getöteten Kinder im Auto der Eltern,
weil sie nicht ausreichend oder gar nicht angeschnallt
waren. Das ist für mich nach wie vor ein Skandal. Man
hat zwar Geld für alles Mögliche, wie zum Beispiel
Horst Friedrich ({0})
Breitreifen und große Lautsprecher, aber offensichtlich
keine 50, 60 oder 70 Euro, um ein adäquates Sicherheitssystem für die eigenen Kinder im Auto einbauen zu lassen. Darauf muss viel deutlicher hingewiesen werden.
({1})
Wichtig sind aber auch die Randbedingungen. Die Sicherheitsarbeit, die die Verkehrswachten, der Deutsche
Verkehrssicherheitsrat, die Polizei und die Fahrschulen
leisten, ist ein Schwerpunkt. Ein anderer ist die qualifizierte Rettungssituation, die entscheidend für die relativ
geringe Zahl der im Straßenverkehr Getöteten ist. Der
dritte Schwerpunkt ist eine gut funktionierende Verkehrsinfrastruktur. Hier scheinen wir an Boden zu verlieren. Das sage ich deswegen, weil die meisten Unfälle
- was sowohl die absoluten Zahlen der Unfälle als auch
die Zahl der Getöteten angeht - auf außerörtlichen Straßen, die keine Autobahnen sind, geschehen. Wir sind dabei, mit der Haushaltsdotierung des Verkehrswegeplans
die Axt an die Wurzel einer guten Verkehrssicherheitsarbeit zu legen. Das liegt in der Verantwortung der jetzigen
Regierung. Wer die Verkehrsinfrastruktur so herunterfährt und wer es in Kauf nimmt, dass unsere Straßen flächendeckend zusammenbrechen,
({2})
wie es derzeit der Fall ist, der legt die Axt an die Wurzel
der Verkehrssicherheitsarbeit.
({3})
Das gilt in gleicher Konsequenz auch - das sage ich
an die Adresse der Bundesländer -,
({4})
wenn man Rettungsdiensten Fahrzeuge und Material
nicht in ausreichendem Maße und nicht rechtzeitig zur
Verfügung stellt. Das sind zwei wesentliche Stellschrauben, die die Verkehrssicherheitsarbeit ergänzen müssen.
Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass die Zahl
der Betroffenen geringer geworden ist. Aber wir können
die Hände nicht in den Schoß legen. Wir müssen weiterarbeiten. Frau Staatssekretärin, es interessiert mich ebenfalls, ob und inwieweit der Versuch „Begleitetes Fahren
mit 17“ in Niedersachsen Früchte trägt. Darüber werden
wir sicherlich noch diskutieren müssen. Das ist einer der
Schwerpunkte. Die Gesamtentwicklung gibt sicherlich
keinen Anlass, sich auszuruhen. Die Diskussion muss
fortgesetzt werden, vielleicht mit anderen Schwerpunkten.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Heidi Wright, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dem Staatssekretär Hartenbach möchte ich sagen, dass
ich mich immer noch für den Schutz des deutschen Waldes einsetze, aber seit zwei Jahren insbesondere für höhere Verkehrssicherheit, wie es auch die Kollegen aus
dem entsprechenden Fachausschuss tun.
Der Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr liegt
uns alljährlich im Fachausschuss vor. Vielleicht denkt
sich mancher, man müsse ihn nicht auch noch im Plenum diskutieren, es sei ohnehin jedes Jahr dasselbe.
({0})
Ich sage: Doch, wir müssen ihn im Plenum diskutieren:
wegen der guten Nachrichten - die Zahlen der getöteten
und der verunfallten Menschen nehmen ab -, aber insbesondere auch wegen der schlechten Nachrichten. Immer
noch verunglücken zu viele Menschen auf Deutschlands
Straßen.
({1})
Seit 1991 ist die Zahl der Verkehrstoten - wir haben
es schon gehört - um mehr als 41 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Schwerverletzten um fast 35 Prozent.
Dazu beigetragen haben Verbesserungen der passiven
Sicherheit in Fahrzeugen, die Einführung umfassender
Verkehrsregelungen, die Optimierung im Rettungswesen
sowie die Verbesserung der Infrastruktur. Dennoch teile
ich Ihre Befürchtung, Herr Friedrich, dass sich das negativ weiterentwickelt. Das gilt insbesondere für die Infrastruktur; ich komme aus Bayern und muss da leider über
schlechte Staatsstraßen klagen. Aber das ist heute nicht
unbedingt das Thema.
Ich begrüße, dass das Bundesverkehrsministerium
eine Reihe von Initiativen zur Aufklärung und zur Verbesserung der Verkehrssicherheit gestartet hat. Es ist
schon darauf hingewiesen worden. 2001 wurde das Programm für mehr Sicherheit im Straßenverkehr beschlossen. Seitdem hat sich der Unfallverhütungsbericht
Straßenverkehr zu einem Kontrollinstrument hinsichtlich der Umsetzung des Programms weiterentwickelt.
Das Programm ist wichtig, weil es aufzeigt, wie Menschenleben geschützt, Unfallfolgen gelindert und - auch
das ist zu sagen - der volkswirtschaftliche Schaden als
Folge von Verkehrsunfällen nachhaltig gemindert werden kann.
Auf zwei Ziele des Programms für mehr Sicherheit
im Straßenverkehr will ich hier Ihr besonderes Augenmerk lenken. Da ist zunächst - er ist von den meisten
hier schon erwähnt worden - der Schutz der schwächeren und der schwächsten Verkehrsteilnehmer: Kinder,
Fahrradfahrer und Motorradfahrer. Jawohl, Herr
Storjohann, hier haben wir eine ganz schlechte Entwicklung; wir müssen uns darum kümmern.
Wir haben uns - darauf können wir alle stolz sein um eine Minderung der Gefahren gekümmert, die durch
den toten Winkel bei LKWs entstehen. Staatssekretärin
Gleicke hat darauf hingewiesen, dass wir da im europäischen, aber auch im nationalen Benehmen zu einer Verbesserung kommen. Es wird verbesserte Spiegelsysteme
geben. Aktuell werden sie auf der IAA für Nutzfahrzeuge angeboten. Ich habe im Vorgriff auf die Aufforderung der Staatssekretärin schon in der letzten Woche an
meine Spediteure geschrieben.
({2})
Ich habe mich riesig darüber gefreut, was die Firma
Albert Schuck GmbH & Co. KG aus Aschaffenburg unter dem 27. September schreibt:
Sehr geehrte Frau Wright,
heute ist unser Fuhrparkleiter auf der Messe in Hannover, u. a. auch, um den passenden Rückspiegel
ausfindig zu machen. Er hat Vollmacht, die für uns
erforderliche Anzahl an Ort und Stelle zu kaufen.
Wir werden, wie immer, wenn es um die Sicherheit
geht, einer der Ersten in Deutschland sein, welcher
diese sinnvolle Investition tätigen wird. Hoffen wir,
dass unsere Kollegen ebenso denken.
Ich finde, das ist toll.
({3})
Ein zweites Thema hat Herr Friedrich angesprochen:
das Anschnallen bzw. Nichtanschnallen von Kindern in
PKW.
({4})
Jüngst gab es eine bundesweite Kampagne „Kind im
Auto 2003“. Im Zuge dessen wurde festgestellt, dass immer noch jedes dritte Kind im Auto unzureichend oder
überhaupt nicht gesichert ist. Im Ortsverkehr ist sogar jedes zweite Kind falsch gesichert.
({5})
Das ist unglaublich. Ich verstärke hiermit den Appell:
Das darf nicht sein! Eltern sind natürlich zuvorderst verantwortlich. Für jeden, der ein Kind im Auto mitnimmt,
gilt: Erst gurten, dann starten!
({6})
Drittens. Vielleicht geht es sogar ohne Anschnallen,
nämlich wenn man gar kein Auto benutzt: „I walk to
school“, „zu Fuß“ - oder mit dem Fahrrad - „zur
Schule“.
({7})
Diesen Appell habe ich an die Eltern, die Gemeinden
und die Schulen in meinem Wahlkreis gerichtet. Ich
denke, es wäre auch ein ganz sinnvoller Beitrag zu mehr
Verkehrssicherheit, wenn Eltern das Auto stehen lassen
und den Schulweg mit ihren Kindern neu organisieren
würden.
Ich will noch ein weiteres Ziel des Programms für
mehr Sicherheit im Straßenverkehr benennen: Es handelt
sich darum, dass ein Klimawandel auf deutschen Straßen Not tut. Raserei, Drängelei und rücksichtsloses Verhalten findet sich auf unseren Straßen. Mich haben viele
Berichte darüber, insbesondere während der Urlaubszeit,
erschreckt. Das Recht des Stärkeren ist immer noch das
stärkste Unrecht. Das müssen wir, liebe Kolleginnen und
Kollegen, überall anprangern.
({8})
Frau Kollegin, Sie müssen auf Ihre Zeit achten.
Nachhaltige Mobilität und Sicherheit fangen im Kopf
an. Deshalb: Nachdenken lohnt sich.
Zum Nachdenken regt ein noch eindringlicheres Beispiel aus dieser Kampagne als das, was Sie, Herr
Storjohann gefunden haben, an, nämlich die Anzeige mit
der Überschrift „Emotional gedacht“. Ich denke, diese
bewirkt etwas. Wenn uns hier aber noch etwas Besseres
einfällt, sind wir sicherlich alle dafür zu haben.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Eduard Lintner, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ganz am Ende des von der Bundesregierung
vorgelegten Unfallverhütungsberichts Straßenverkehr
findet sich auf den Seiten 54 bis 59 das Kapitel mit der
Überschrift „Sichere Verkehrswege“. Speziell auf dieses Kapitel möchte ich Bezug nehmen. Dort wird nämlich an mehreren Stellen darauf hingewiesen, dass Investitionen in der richtigen Art und an der richtigen Stelle
des Straßennetzes eine ganz maßgebliche Bedeutung für
die Sicherheit auf unseren Straßen haben. Das versteht
sich von selbst.
({0})
Beispielsweise wird empfohlen, Ortsumgehungen zu
bauen, Unfallschwerpunkte zu beseitigen oder zum Beispiel auch sichere und geregelte Überholmöglichkeiten
zu schaffen, etwa durch die abschnittsweise Anlage zusätzlicher Fahrstreifen usw. Das alles ist richtig. Tatsache ist nur, dass die Bundesregierung gerade die Investitionsmittel für den Bau und die Instandhaltung von
Bundesfernstraßen ständig kürzt und so die erklärten und
im Bericht geäußerten guten Absichten selbst ad absurdum führt.
({1})
- Ich wäre da nicht ganz so voreilig, Herr Weis.
Ein konkretes Beispiel dazu ist Ihr Umgang mit den
Einnahmen aus der LKW-Maut.
({2})
Nach § 11 des Mautgesetzes sind Sie ausdrücklich verpflichtet, diese Mittel, zusätzlich zu den bisher dafür
vorgesehenen Geldern, überwiegend für Investitionen
- wie es wörtlich heißt - in den Bundesfernstraßenbau
zur Verfügung zu stellen.
Die LKW-Maut soll jährlich 2,8 Milliarden Euro erbringen, davon ziehen Sie aber rund 700 Millionen Euro
für den Einzug der Maut und die anderen Nebenkosten
ab; es verbleiben also nur etwa 2,1 Milliarden Euro. Entgegen dem Gebot, diese Mittel überwiegend für den
Straßenbau zu verwenden, haben Sie hierfür nur
1,06 Milliarden Euro vorgesehen. Eigentlich hätten
2003, weil der fiktive Mautanteil ja zur Verfügung gestellt wurde, für den Bau und die Pflege von Bundesfernstraßen etwa 4,5 Milliarden Euro vorhanden sein müssen. Tatsächlich waren es aber nur 3,8 Milliarden, weil
Sie die dafür eingeplanten regulären Haushaltsmittel unter Verstoß gegen die gesetzlich normierte Pflicht einfach um mehr als 700 Millionen Euro abgesenkt haben.
({3})
Dieser willkürliche Umgang mit eigentlich zweckgebundenen Investitionsmitteln hat in der Praxis natürlich
fatale Konsequenzen, nämlich unter anderem die drastische Verschlechterung des Zustands des vorhandenen
Straßennetzes.
({4})
Wir alle, meine Damen und Herren, kennen mittlerweile
eine Fülle von Beispielen aus unseren Wahlkreisen, wo
Bundesfernstraßen nicht in einem für die optimale Verkehrssicherheit zwingend erforderlichen guten Zustand
erhalten worden sind und erhalten werden. Risse und
Schäden in den Teerdecken, längere Passagen mit erneuerungsbedürftigen Belägen, Ortsumgehungen, die nicht
realisiert werden, und lange Abschnitte, auf denen nicht
überholt werden kann, kennzeichnen heute leider unser
Bundesfernstraßennetz. Dieser bedauernswerte Zustand
drückt sich nicht zuletzt in der Tatsache aus, dass Sie
heuer für die Erhaltung von Bundesfernstraßen erstmals
mehr ausgeben müssen, als Ihnen für den Neubau verbleibt. Das ist die Konsequenz aus der ganzen Geschichte.
Die Straßenbauverwaltungen - auch damit sage ich
Ihnen wahrscheinlich nichts Neues - reagieren darauf
mit drastischen Verkehrseinschränkungen und Verboten.
Die Autofahrer reagieren wütend, Aggressionen werden
geweckt und so zusätzliche Gefahren und Unfallursachen geschaffen.
({5})
Ich kann Ihnen, Frau Kollegin Wright, ein Beispiel
aus meinem Wohnort Münnerstadt schildern. Die sehr
stark befahrene Straße B 19 weist eine Steigstrecke auf,
an deren Ende eine leichte Linkskurve zu einem Unfallschwerpunkt geworden ist. Vor Jahren hat man diese
Steigstrecke mit einer Überholspur für PKWs versehen.
Für beide Spuren, also die Kriechspur und die Überholspur, gilt aber mittlerweile eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h. Das macht die Überholspur
nutzlos, ärgert die PKW-Fahrer und verführt, weil die
Einschränkung als willkürlich und schikanös eingestuft
wird, zu ständigen Übertretungen,
({6})
was wiederum durch verstärkte Polizeikontrollen bekämpft wird. Grund für die Geschwindigkeitsbeschränkung ist laut Auskunft des Straßenbauamtes ein falscher,
vor allem bei Nässe zu glatter Straßenbelag. Die einzig
sinnvolle Gegenmaßnahme, nämlich der Austausch dieses gefährlichen Belages, aber unterbleibt, weil die Mittel, die der Bund für den Unterhalt vorhandener Straßen
zur Verfügung stellt,
({7})
einfach nicht mehr ausreichen, um all die als notwendig
erkannten Reparaturmaßnahmen durchzuführen. Es
bleibt also beim Unfallschwerpunkt, obwohl man weiß,
wie abgeholfen werden könnte.
({8})
Mit anderen Worten - das ist unangenehm, ich gebe
es zu -: Der beste und wirksamste Beitrag des Bundes zu
mehr Sicherheit auf unseren Straßen wäre es, wenn die
Bundesregierung endlich das für den Erhalt unseres Straßennetzes in einem optimalen Zustand notwendige Geld
wieder zur Verfügung stellen würde. Das ist das erste
und wichtigste Gebot für die Unfallverhütung auf unseren Straßen.
Ich möchte zum Schluss all jenen danken, die sich ehrenamtlich im Bereich der Verkehrssicherheit engagieren.
({9})
Sie stellen sich in ihrer Freizeit in den Dienst der guten
Sache. Ich meine insbesondere die Leute, die sich beispielsweise bei der Verkehrswacht engagieren. Ihnen sei
heute aus Anlass dieser Debatte einmal ganz ausdrücklich und herzlich gedankt.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3427 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Rainer Funke, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Normenflut wirksam begrenzen - Überflüssige
Normen abschaffen
- Drucksache 15/1233 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Rainer Brüderle, Daniel Bahr
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Anreize zum Bürokratieabbau setzen - Bürokratische Pflichtdienste bezahlen
- Drucksache 15/1811 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben heute Abend in der Tat ein extrem wichtiges
Thema auf der Tagesordnung, nämlich das Thema Bürokratieabbau. Wir debattieren über zwei Vorlagen der
FDP-Bundestagsfraktion.
Wir müssen in Zukunft verstärkt darauf achten, dass
Gesetze nur erlassen werden, wenn sie wirklich nötig
sind, und wir werden den Mut haben, überflüssige Paragraphen zu streichen.
({0})
Das ist ein Zitat der Bundesjustizministerin vom August
letzten Jahres.
({1})
Aber wie sieht es mit der Einhaltung dieses Versprechens aus? Zu Beginn dieses Jahres hatten wir
2 000 Gesetze mit rund 46 000 Einzelvorschriften. Dazu
kamen 3 000 Rechtsverordnungen mit fast 39 000 Einzelvorschriften. Es gab in der Summe also ungefähr
85 000 Einzelvorschriften in Deutschland.
({2})
Das ist eine Regelungsdichte, die man kaum mehr
durchdringen kann. Hinzu kommt außerdem eine ganze
Reihe von EU-Regelungen, die in Deutschland gelten.
Erst in der vergangenen Woche hat der Präsident des
Bundesverfassungsgerichts, Professor Papier, auf dem
Deutschen Juristentag in Bonn gesagt, die Normenflut
überziehe die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft mit
Mehltau. Ich kann nur sagen: Er hat Recht. Wenn Sie mir
nicht glauben, glauben Sie wenigstens ihm.
({3})
- Ich komme noch zu Ihnen. Bevor Sie dazwischenrufen, warten Sie es einmal ab!
Der Wunsch nach Einzelfallgerechtigkeit und der
Versuch, jedes noch so kleine Detail in einem Gesetz
oder in einer Verordnung zu regeln, führen doch nicht zu
mehr Gerechtigkeit,
({4})
sondern verkehren sich ins Gegenteil, Herr Ströbele. So
ist das.
({5})
Die Situation ist doch zwischenzeitlich so: Wenn sich
ein Bürger rechtstreu verhalten will, dann braucht er fast
schon einen persönlichen Anwalt, der ihn durchs Leben
begleitet. Anders schafft er es nicht mehr.
({6})
Hinzu kommt: Die ständigen Änderungen und Nachbesserungen von Gesetzen führen nicht zu einer Vereinfachung. Sie verkomplizieren vielmehr die Regelungen
bis zur Unanwendbarkeit. Im Ergebnis führt das zu mangelnder Transparenz im gesamten Rechtssystem und zur
Rechtsunsicherheit bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Deswegen brauchen wir nicht mehr, sondern weniger
Regulierung.
({7})
Eine weitere Folge des Rechtsdschungels, den wir in
Deutschland haben, sind Kosten, Kosten und noch einmal Kosten. Das Institut für Mittelstandsforschung hat
im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums eine Erhebung durchgeführt - das ist völlig unverdächtig; die
Zahl kommt also nicht von uns - und hat festgestellt,
dass jährlich Bürokratielasten in Höhe von
46 Milliarden Euro anfallen. Das sind übrigens 50 Prozent mehr als 1995. Die Unternehmen wurden gefragt,
warum das so ist. Die Antwort war, dass der Hauptgrund
die rot-grüne Bundesregierung ist,
({8})
die immer mehr Gesetze und Verordnungen verabschiedet hat, die zu mehr Komplikationen geführt haben.
Ich kann nur sagen: Die Hauptlast in diesem Bereich
schultern die kleinen und mittleren Unternehmen, die
pro Arbeitsplatz und Jahr deutlich mehr aufwenden müssen als die Großunternehmen. Das bedeutet, dass genau
diejenigen belastet werden, die wir für Dynamik, Innovation und Wachstum brauchen. Daher muss man sich
nicht wundern, dass es in Deutschland nicht aufwärts
geht.
({9})
Das alles zeigt, wie dringend notwendig unsere Initiative zum Bürokratieabbau ist. Der Staat und vor allen
Dingen die rot-grüne Regierung brauchen offensichtlich
Druck. Deshalb fordern wir, die Unternehmen für alle
neuen bürokratischen Pflichtdienste zu bezahlen; denn
nur das bietet einen echten Anreiz zum Bürokratieabbau.
Ich kann es nicht einsehen, dass sich der Staat jeden
Handschlag bezahlen lässt. Beispielsweise behält er aufgrund seines Aufwandes beim Einzug der Kirchensteuer
im Durchschnitt 3 Prozent des Kirchensteueraufkommens ein.
({10})
Aber wer berechnet die Kirchensteuer? Das ist doch
nicht das Finanzamt, sondern der Unternehmer. Das
heißt, der Unternehmer und nicht das Finanzamt muss
entlastet werden.
({11})
Wenn ich mir die verzweifelten Versuche von Herrn
Clement zum Bürokratieabbau ansehe, dann muss ich
sagen, dass von dem groß angekündigten Masterplan
nichts mehr übrig geblieben ist. Auf der einen Seite verkündet Herr Clement, er wolle irgendeine Regelung abschaffen. Wunderbar! Wir sind sofort dafür. Wenn er
eine kleine Möglichkeit entdeckt, dann freut er sich wie
ein Feuerwehrmann, der gerade einen brennenden Busch
gelöscht hat. Auf der anderen Seite hat irgendein Kabinettskollege ein Stück Wald angezündet.
({12})
Das ist die Situation, in der wir uns befinden.
({13})
Ich kann Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen.
Während Herr Clement marginale Änderungen im Gaststättenrecht durchsetzt, bringt Herr Eichel ein Formular
für die Einnahmenüberschussrechnung auf den Weg.
Dieses Formular war eigentlich als Vereinfachung und
zur Entlastung der Betriebe gedacht. Aber das Gegenteil
von dem, was der Deutsche Bundestag wollte, kommt
dabei heraus, nämlich 82 Zeilen, drei Seiten und fünf
Seiten Erklärungen dazu. Das kennzeichnet Ihre Bemühungen zum Bürokratieabbau.
({14})
Frau Kollegin, Sie müssen sich kurz fassen.
Ja gerne, Frau Präsidentin. Ich komme zum Schluss.
Ich bitte darum.
Wir haben in unserem Antrag Möglichkeiten zum Bürokratieabbau aufgezeigt. Wir haben eine Befristung von
Gesetzen und Verordnungen vorgeschlagen. Ich kann der
CDU/CSU, die sich in diesem Sommer ebenfalls dazu
geäußert hat, nur sagen: Willkommen bei der FDP. Sie
haben es einfach: Sie können unserem Antrag zustimmen. Ich würde mich freuen, wenn Sie den zwei zum
wiederholten Mal eingebrachten, konkreten Initiativen
unserer Fraktion zustimmen würden,
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen.
- zumal angeblich wir alle einer Meinung sind.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Bürsch, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Vorteil des zweiten Redners zu einem Tagesordnungspunkt ist, dass er das vom
Kopf auf die Füße stellen kann, was von der Opposition
in den Raum gestellt wurde. Seit es in Deutschland Gesetze gibt, Frau Kollegin, beschäftigt sich die Politik natürlich immer wieder mit dem Thema Bürokratieabbau.
Es handelt sich sozusagen um eine tägliche, monatliche
und jährliche Wiedervorlage. Kenner werden an die
wunderbare Vorlage des Films „Und ewig grüßt das
Murmeltier“ erinnert: Jeden Tag kommt das auf den
Tisch, was wir schon gestern erlebt haben.
Leider ist der Begriff „Bürokratieabbau“ inzwischen
zu einem sehr beliebigen Allgemeinplatz geworden.
Auch heute liegen uns wieder zwei Anträge der FDP
vor, die die wuchernde Bürokratie als Wurzel nahezu
allen politischen Übels identifiziert haben. Da uns die
FDP-Fraktion in letzter Zeit mit einer Vielzahl ähnlicher Anträge in Atem hält, möchte ich das zum Anlass
nehmen, heute ein paar seriöse Anmerkungen zu diesem Thema zu machen.
({0})
Die Anträge der FDP zeigen zweierlei Zielsetzungen
auf, die die Bundesregierung schon längst umgesetzt hat.
Oder sie unterbreiten Vorschläge, die eine ernsthafte
Diskussion wirklich nicht verdienen, manchmal aber
auch die Frage aufwerfen, Frau Kollegin, warum die
FDP den Bundestag damit immer dann beschäftigen
will, wenn sie gerade in der Opposition ist. Das ist auffällig.
({1})
Ich habe dazu folgende Anregung: Vor der Abfassung
aller möglichen Anträge im Bundestag, die auch Bürokratie schaffen, empfiehlt sich die Lektüre einschlägiger
Gesetze, Verordnungen und vorhandener Regelungen.
Oft kann die Bundesregierung, liebe FDP, auf das alte
Prinzip vom Hasen und vom Igel verweisen: Ick bin all
dor. Dies soll heißen: Jetzt erhobene FDP-Forderungen
sind schon längst erfüllt.
({2})
Ich werde den Nachweis erbringen.
Erstes Stichwort: Rechtsbereinigung. Die Bundesregierung beschäftigt sich innerhalb ihrer Initiative zum
Bürokratieabbau umfassend mit dem Projekt der Rechtsbereinigung. Jedes Ressort wird die Rechtsvorschriften
seines Zuständigkeitsbereiches systematisch auf Möglichkeiten der Bereinigung untersuchen.
({3})
Das Bundesjustizministerium wird aller Voraussicht
nach noch bis Ende dieses Jahres das erste Rechtsbereinigungsgesetz für seinen Zuständigkeitsbereich einbringen. Das Gesetz wird - das ist schon jetzt voraussehbar einen beträchtlichen Umfang haben.
({4})
In 176 Artikeln sollen Gesetze bereinigt werden. Was
will die FDP mehr?
({5})
Auch das Bundesinnenministerium ist schon bei der Vorbereitung einer Vorlage für ein solches Gesetz. Eine
Kernforderung Ihres vorliegenden Antrags ist damit erfüllt.
Ein jährliches Rechtsbereinigungsgesetz, wie es die
FDP fordert, ist eine reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Ministerien, die bei Gott Wichtigeres zu
tun haben. Einen ersten Beitrag zum Bürokratieabbau
kann die FDP selbst leisten, indem sie die Ministerien
nicht mit der Forderung jährlicher Bereinigungsgesetze
von der eigentlichen Arbeit abhält.
({6})
Zweites Stichwort: Gesetzesfolgenabschätzung.
Auch bei diesem Thema hat die FDP schlicht übersehen,
dass die Einführung der so genannten blauen Prüffragen
zur Notwendigkeit und zu dem Umfang neuer Gesetze
überhaupt nicht mehr erforderlich ist; denn die so genannten blauen Prüffragen von 1984, von dunnemals,
sind vollständig in die neue Gemeinsame Geschäftsordnung, in die GGO, eingearbeitet worden.
({7})
Neben den zentralen Fragen nach Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verständlichkeit von Gesetzesvorhaben sind
zusätzliche, die Gesetzgebungsqualität verbessernde Instrumente eingeführt worden. Ein Blick in die Vorschriften - das hat schon der Repetitor zu Ihnen als Juristen
gesagt ({8})
erleichtert die Rechtsfindung. In § 43 GGO sind detaillierte Prüffragen enthalten. In § 44 GGO ist eine wirksame Gesetzesfolgenabschätzung geregelt, die die Kosten für die Wirtschaft, insbesondere für mittelständische
Unternehmen, Frau Kollegin, erfasst. Die Regelungen
der Gemeinsamen Geschäftsordnung enthalten damit bereits strenge Begründungspflichten für die Gesetzgebung.
({9})
Ihr drittes Stichwort: die Prüfung der Befristung von
Rechtsvorschriften auf fünf Jahre und die Befristung
von Verwaltungsvorschriften generell auf fünf Jahre.
Wenn die FDP einmal in § 43 Abs. 1 Nr. 6 GGO geschaut hätte, hätte sie gesehen, dass eine solche Prüfung
der Befristung schon längst eingeführt ist.
({10})
Dem Vorschlag, Verwaltungsvorschriften ohne jede
Einzelfallprüfung generell zu befristen, stehen allerdings
erhebliche Bedenken gegenüber.
({11})
Schon bei der Umsetzung von unbefristetem EU-Recht
in nationales deutsches Recht wäre eine solche Befristung, wie sie die FDP fordert, rechtlich überhaupt nicht
möglich und Ihre Juristen wissen das.
({12})
Auch darf ich in diesem Zusammenhang auf die Anhörung des Innenausschusses vom 28. Juni dieses Jahres
verweisen, in der der Sachverständige Professor Bull
mutmaßte, dass die Verwaltung aufgehobene Verwaltungsvorschriften anschließend oft unter der Hand weiter
anwendet. Das ist eine Rückmeldung aus der Praxis.
Wenn Sie mit Verwaltungspraktikern und Rechtsanwälten reden, werden diese Ihnen gerne bestätigen, dass in
Bundesländern, in denen Verwaltungsvorschriften, zum
Beispiel im Baubereich, bereits abgeschafft worden sind,
diese anschließend von der Verwaltung als Auslegungshilfe weiter verwendet werden. In der Verwaltung
möchte man nämlich wissen, woran bitte schön sie sich
orientieren sollen.
({13})
Die Verwaltung handelt dann also aus praktischen Erwägungen weiterhin nach den bisherigen Verwaltungsvorschriften. Diese sind für den Bürger aber nicht mehr
greifbar bzw. angreifbar.
Ich nehme den Zwischenruf gerne auf: Das Parlament
stört nicht, aber das Parlament muss auch gönnen können. Es muss auch die Verwaltung machen lassen,
({14})
und zwar nach Vorgaben, die in der GGO und in anderen
einschlägigen Gesetzen enthalten sind. Das ist der Nachweis, den ich Ihnen erbringe.
Die von der FDP prophezeite Entwicklung läuft damit
genau umgekehrt: Statt Transparenz und Klarheit werden durch Ihre Abschaffung von Verwaltungsvorschriften Chaos und Verworrenheit gestiftet. Der Bürger wird
nicht mündiger, sondern seine Chancen bei der Rechtssuche werden womöglich geschmälert.
Viertes Stichwort: Bürokratie-TÜV und Erstattungsverfahren. Der Bürokratie-TÜV - er taucht wie
das Ungeheuer von Loch Ness jedes Jahr auf - verursacht nach einhelliger Ansicht von Fachleuten nur neue
Bürokratie und neue Kosten für Unternehmen. Denn die
Wirtschaft selbst müsste zu entsprechenden Mitteilungen gezwungen werden, um auf der Seite der Verwaltung aussagekräftige Daten sammeln zu können.
({15})
Auch Erstattungen für administrative Pflichtdienste
von Unternehmen, wie Sie es vorschlagen, sind mit gravierenden haushälterischen und organisatorischen Konsequenzen verbunden. Es widerspricht doch auch Ihrem
Staatsverständnis, dass Unternehmen für das Ausfüllen
von Formularen und das Abführen von Abgaben und
Steuern ein Entgelt erhalten. Diese Pflichten bestehen
nicht ohne Grund, sondern sie erfüllen wichtige Staatsaufgaben wie die Finanz- und Wirtschaftsplanung.
Auch könnten die Bürgerinnen und Bürger mit gutem
Grund einfordern, in Zukunft einen Obolus für das Ausfüllen ihrer eigenen Steuererklärung zu verlangen. Ihre
Idee wird doch ad absurdum geführt.
({16})
- Auch des Wahlzettels, genau, man könnte alle möglichen Entgeltpflichten einführen. Die Wahrnehmung demokratischer Rechte muss nicht zum Nulltarif erfolgen.
({17})
Lassen Sie mich ein paar letzte grundsätzliche Bemerkungen zum heutigen Thema machen. Der Begriff
Bürokratieabbau wird von der Opposition mittlerweile
als Schlagwort, Allgemeinplatz und Allheilmittel zugleich verwendet, ohne dass wirklich mehr geklärt
würde, was sich mit dem Problem eigentlich verbindet.
In seiner Stellungnahme in der Anhörung im Innenausschuss stellte der Sachverständige Professor Jann
fest, dass es
in Deutschland vermutlich keine einfachere und billigere Art und Weise gibt, sich öffentlich Beifall zu
sichern, als die Bürokratie zu beschuldigen und Bürokratieabbau zu fordern.
Diesen billigen Beifall scheint die alte Programmpartei
FDP in ihrer derzeitigen programmatischen Einöde sehr
zu genießen.
({18})
Ich frage mich in diesem Zusammenhang, warum der
seriöse Kollege Max Stadler interessanterweise einen Ihrer Anträge nicht unterschrieben hat. Max wird sich dabei etwas gedacht haben.
({19})
Das Problem von zu viel Bürokratie begegnet uns auf
vielen Ebenen, die wir auseinander halten müssen, wollen wir uns dieser Aufgabe ernsthaft annehmen. Ich und
andere in meiner Fraktion wollen das natürlich. Bürokratieabbau findet zunächst innerhalb der Verwaltung statt.
Hier kommt es auf mehrere Faktoren an, damit die Verwaltung auf allen staatlichen Ebenen bürgernah und aufgeschlossen, schnell und kostensparend arbeiten kann.
Das ist ein langwieriger Prozess der Schulung von Verwaltungspersonal, der Verwaltungsmodernisierung und
vor allem auch des Einsatzes neuer technologischer Einrichtungen wie dem E-Government.
Solche Maßnahmen lassen sich nicht in Populismen
und Patentrezepte fassen. Fachleute aus der Verwaltung
sagen Ihnen, dass mindestens die Hälfte des Bürokratieaufwandes, den Sie beklagen, nicht aus Gesetzen selbst,
sondern aus der Anwendung und Umsetzung von Gesetzen stammt.
({20})
Das heißt, die Probleme liegen auf der Ebene der Anwender. Wir brauchen daher eine andere Verwaltungskultur, als wir sie jetzt haben.
Ein Letztes noch: Vielfach werden die Absenkung von
gesetzlichen Standards und von Schutz- und Bürgerrechten sowie die Abschaffung der Einzelfallgerechtigkeit als
Bürokratieabbau bezeichnet. Die Anträge der FDP handeln rein zufällig einmal nicht von dieser ewigen Litanei.
Es ist aber auch kein Zufall, dass der von der FDP geladene Sachverständige für die Anhörung im Innenausschuss in seiner Stellungnahme schrieb, dass angebliche
Überregulierungen abzuschaffen seien und auf die Mündigkeit der Bürger zu setzen sei. Und wo findet er diese
Überregulierungen? Er findet sie im Verbraucherschutz,
etwa bei Ratenzahlungsverträgen, bei Haustürgeschäften, im Reiseverkehr und im Mietrecht. Ich frage die
FDP: Wie erklären Sie bitte einem mündigen Bürger, der
als Tourist im Ausland festsitzt, weil das Reiseunternehmen Pleite gemacht hat, dass Sie die Reiseverkehrsvorschriften im BGB abgeschafft haben und er deshalb noch
eine ganze Weile im Ausland sitzen muss?
({21})
Die CDU - auch das sollten wir ins Auge fassen - erwägt in ihrem Leitantrag zum nächsten Bundesparteitag,
alle bestehenden Genehmigungspflichten daraufhin zu
überprüfen, ob sie verzichtbar sind. Es werden Vorschläge gemacht, die markig und dynamisch klingen,
aber wolkig bleiben. Wer bei der Frage nach Genehmigungserfordernissen so tut, als trieben wild gewordene
Beamte und politische Hasardeure ihr Unwesen, der soll
sich einmal Großprojekte wie den Ausbau des Frankfurter Flughafens anschauen. Wie wäre es, wenn die Frankfurter Flughafengesellschaft ihre neue Startbahn ganz
ohne Genehmigungserfordernisse bauen würde? Das
kann nicht ernsthaft in Ihrem Sinne sein.
Die SPD-Fraktion wird den FDP-Anträgen in dieser
Form nicht zustimmen.
({22})
Die SPD-Fraktion würde allerdings einem Antrag mit
leicht abgeänderter Zielsetzung zustimmen, wenn der
lauten würde: „Antragsflut wirksam begrenzen - überflüssige FDP-Anträge abschaffen“.
({23})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Voßhoff, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Bürsch, es ist ja nicht allein die Opposition, die die Notwendigkeit des Bürokratieabbaus in
Deutschland immer wieder thematisiert. Nach einer aktuellen Weltbankstudie, nämlich der „Doing Business
2005“, lähmt Bürokratie nach wie vor die deutsche Wirtschaft.
({0})
Der Weltbank-Vizepräsident Klein wird im „Handelsblatt“ mit dem Satz zitiert:
In den von uns untersuchten Bereichen
- nämlich Unternehmensansiedlung und Standortfreundlichkeit hat sich in Deutschland im vergangenen Jahr nichts
getan.
Insgesamt ist das derzeit am Standort Deutschland geltende Regelwerk laut Weltbank international kaum noch
konkurrenzfähig. Die rechtlichen Rahmenbedingungen
für Unternehmen sind nicht nur in Industriestaaten wie
den USA und Frankreich deutlich besser, selbst die Slowakei, Botswana und Thailand schneiden besser ab als
der Standort Deutschland. Wenn uns das nicht alarmiert,
Herr Bürsch, dann weiß ich nicht, was eine solche Studie
soll.
({1})
Es ist schlicht nichts anderes als eine internationale Ohrfeige für den „Masterplan Bürokratieabbau“ des Wirtschaftsministers Clement und für die von Ihnen beschriebenen vermeintlichen Initiativen zum Abbau von
Bürokratie.
Diese Bewertung zeigt auch, dass es eben nicht ausreicht, nur einen kleinen Katalog mit einigen Einzelfallregelungen, die abgeschafft werden sollen, in die Welt
zu setzen. Den Stöpsel der Gesetzesbadewanne ein wenig anzuheben und andererseits den rot-grünen Regulierungshahn voll aufzudrehen, das kann nicht funktionieren. Wir haben als CDU/CSU immer gesagt, wir
brauchen einen ganzheitlichen Ansatz zum Abbau von
Bürokratie und zur Deregulierung, der im Kern zwei
Themenfelder umfasst: Wie gelingt es, den Normenbestand zu durchforsten und zu bereinigen, und welche Instrumente brauchen wir, um künftige Gesetzgebungsvorhaben nicht zu neuen bürokratischen Monstern werden
zu lassen? Auch der Bundesrechnungshof hat in seinem
Ergebnisbericht 2004 eine Rechtsbereinigung empfohlen.
Als ich im Juli eine Pressemitteilung der Justizministerin Zypries gelesen habe, war ich hoch erfreut. Dort
heißt es: „Kehraus im Normenbestand: Mehr als 200 Regelungen werden aufgehoben“.
({2})
Sie haben das ja vorhin so gelobt, Herr Bürsch. Das ist
auch sehr schön und sehr erfreulich. Als Beispiele dafür,
was aufgehoben wird, werden in der Pressemitteilung
genannt: das Gesetz zur Durchführung des Reichskonkordats von 1933, das Gesetz zur Wiederherstellung der
Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung
von 1950, die Verordnung über das allgemeine Dienstalter der Richter in besonderen Fällen von 1962 usw.
Kompliment an das Justizministerium, dass dort diese
Regelungen überhaupt noch gefunden wurden! Außerdem habe ich mich gefragt, warum gerade diese Regelungen als beispielhaft für die 200 genannt wurden. Waren es die jüngsten?
({3})
- Die stehen in der Pressemitteilung der Justizministerin
beispielhaft genannt.
Es ist richtig und wichtig, veraltete und bedeutungslose Rechtsnormen abzuschaffen. Aber dies reicht nicht.
({4})
Erfreulich ist auch die Ankündigung der Justizministerin, man wolle aus der Rechtsbereinigung Erkenntnisse
gewinnen, wie künftig noch bessere Gesetze gemacht
werden könnten. Eine späte Erkenntnis ist immer noch
besser als keine.
({5})
Ich kann Ihnen dazu auch einen guten Tipp geben, wie
man zu einem besseren Gesetz kommt: Der Inhalt eines
Gesetzes wird ja immer von der politischen Zielsetzung
bestimmt. Wer also bessere Gesetze will, muss daher in
erster Linie eine bessere Politik machen, meine Damen
und Herren von Rot-Grün.
({6})
In diesem Sinne wäre es wesentlich zielführender gewesen, wenn eine Vielzahl Ihrer Gesetze gar nicht erst die
Druckerschwärze des Bundesgesetzblattes erreicht hätte.
({7})
Dankenswerterweise waren Fragen nach einer besseren Gesetzgebung auch ein Mittelpunktthema auf dem
65. Deutschen Juristentag; die Kollegin Homburger erwähnte es bereits. Der Präsident des Juristentages, Professor Paul Kirchhof, verglich den vorhandenen Normenbestand mit einem „gepflegten Vorgarten, aus dem
ein Dschungel“ geworden ist. Ich begrüße es sehr, dass
Herr Kirchhof angeboten hat, dieses Thema gemeinsam
mit dem Rechtsausschuss zu diskutieren; denn eine solche Diskussion ist gerade mit Blick auf den zuständigen
Arbeitsbereich des Rechtsausschusses außerordentlich
sinnvoll und wünschenswert.
Im Gesetzgebungsverfahren ist der politische Wille
das eine, die handwerkliche Gesetzesformulierung und
die Gesetzesfolgenabschätzung sind das andere. Da
nun einmal die überwiegende Anzahl der Gesetze in den
Ministerien erstellt wird, ist für das Parlament gerade
auch die Gesetzesfolgenabschätzung ein wichtiges Instrument.
Herr Bürsch, Sie haben die GGO zitiert. Sie stellt den
theoretischen Anspruch dar. In der Praxis sieht es aber
anders aus.
({8})
Aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der CDU/CSU-Fraktion wurde ersichtlich, dass
die Gesetzesfolgen auf ministerieller Ebene ermittelt
werden. Was davon im Gesetzentwurf veröffentlicht
wird, darüber entscheidet die rot-grüne Bundesregierung - natürlich durch ihre politische Brille. Wenn irgendwelche Bedenken geäußert werden, dann - davon
gehe ich aus - tauchen sie im Gesetzentwurf nicht auf.
Deshalb ist die ministerielle Gesetzesfolgenabschätzung
in der GGO nur Makulatur.
({9})
Für das Parlament ist aber die Folgenabschätzung ein
wichtiges Instrument. Wie sonst sollten die Abgeordneten Klarheit darüber erhalten, ob das Gewollte auch erreicht wird und welche Auswirkungen es zeitigen wird?
Anhörungen und Unterrichtungen, also die Instrumentarien, die wir nutzen können, reichen nach meiner Auffassung dazu gar nicht aus. In der Kürze der Zeit sind die
Anzuhörenden mit diesem Thema oft auch gar nicht zu
konfrontieren. Deshalb sollte das Parlament auch Zugriff
auf die Recherchen haben, die die Ministerien zur Gesetzesfolgenabschätzung vorgenommen haben. Wir brauchen parlamentarische Instrumente, um bei künftigen
Gesetzgebungsverfahren unnötige bürokratische Hemmnisse zu vermeiden.
Wir haben von der CDU/CSU dazu eine Vielzahl von
Vorschlägen unterbreitet. Auch die von der FDP geforderten Maßnahmen wären in vielen Fällen hilfreich. Ich
weiß allerdings nicht, ob eine generelle Befristung von
Gesetzen sinnvoll ist. Im Interesse der Rechtssicherheit
für die Bürgerinnen und Bürger halte ich dies nur für ein
begrenzt einsetzbares Mittel. Aber bei Verordnungen
und Verwaltungsvorschriften kann man jede Initiative
unterstützen, die zur Begrenzung, Befristung und Kontrolle beiträgt.
Lassen Sie mich dazu ein Beispiel aus meiner Heimatstadt nennen: Die Stadt Rathenow hatte die Idee,
Trauungen unter freiem Himmel am Fuße des renovierten Bismarckturms stattfinden zu lassen. Dies gehe
nicht, hieß es nach der erforderlichen Prüfung, das Personenstandsgesetzes des Bundes spreche dagegen.
Meine Recherche ergab Folgendes:
In § 8 des Personenstandsgesetzes heißt es lediglich,
die Trauung solle in würdiger Form stattfinden. Das Nähere regelt aber eine Verwaltungsvorschrift des Bundesinnenministeriums.
({10})
Dort wiederum heißt es:
Der Raum, in dem die Ehe geschlossen wird, muss
diesen Anforderungen
- also der würdigen Form entsprechen.
Näheres regelt ein Erlass des zuständigen Landesinnenministeriums. Ein fleißiger Beamter im Landesinnenministerium von Brandenburg kam 1995 offenbar zu der
Überlegung, da in der Verwaltungsvorschrift von einem
Raum die Rede sei, könne eine Trauung wohl nicht außerhalb eines Raumes vollzogen werden. Es wurde ein
Erlass gefertigt, in dem es heißt, dass Trauungen außerhalb geschlossener Räume unzulässig seien. Dieser Erlass wird jetzt abgeschafft. Es kann auch unter freiem
Himmel geheiratet werden.
({11})
Ein solcher Erlass wäre allerdings überhaupt nicht erforderlich gewesen, da das Personenstandsgesetz eine Trauung unter freiem Himmel nie verboten hat.
({12})
In diesem Sinne, meine Damen und Herren, sollten
unsere gemeinsamen Vorschläge diskutiert werden. Sie
sollten nicht nur reden, sondern auch handeln. Unterstützen Sie die Vorschläge von CDU/CSU und FDP. Dann
wird es im „Doing Business 2006“ heißen, dass
Deutschland auf einem guten Wege ist.
Danke.
({13})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal behandeln
wir zwei Anträge der Oppositionspartei FDP zum Bürokratieabbau und zur Normenflut. Diese beiden Anträge
reihen sich in eine Flut von Papieren Ihrer Fraktion zu
diesem Thema ein. Eines davon habe ich mitgebracht:
„Kampagne Bürokratieabbau“.
({0})
Darin, Frau Kollegin Homburger, lese ich auf Seite 2
Ihre Drohung an das Parlament, jede Woche im Deutschen Bundestag solche Anträge wie die heute Abend zu
behandelnden vorzulegen.
Sie, meine Damen und Herren von der FDP, beklagen
die Papierflut und die Normenflut, mit denen sich Bürgerinnen und Bürger herumschlagen müssen, und produzieren eben diese Flut im parlamentarischen Verfahren.
Das dient wirklich nicht der Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens.
({1})
Solcher Anträge, wie Sie sie stellen, bedarf es nicht. RotGrün - Kollege Bürsch hat das lang und breit ausgeführt - hat schon längst die Ärmel hochgekrempelt. Wir
sind kräftig dabei, Überflüssiges an Normen aufzuspüren. Meine Damen und Herren von der FDP, dabei finden wir erstaunlicherweise unglaublich viel aus der Zeit
Ihrer langjährigen Regierungsbeteiligung.
({2})
Ich stimme Ihnen zu, dass es Gesetze gibt, deren Erforderlichkeit überprüft werden sollte.
({3})
Damit hat das Justizministerium begonnen. Es hat im
Rahmen der Initiative der Bundesregierung zum Bürokratieabbau eine Liste von über 200 Gesetzen vorgelegt,
die zur Streichung vorgeschlagen worden sind. Darunter
sind einige ganz alte Gesetze; sie zu streichen ist doch
ganz sinnvoll. Was Ihre Polemik gegen das Justizministerium in diesem Zusammenhang soll, weiß ich nicht,
aber wenn Sie diese Liste der 200 Gesetze und nicht nur
die Presseerklärung einmal durchgelesen hätten, dann
hätten Sie darunter auch einige aus neueren Zeiten gefunden. Die von Ihnen eingeforderte Rechtsbereinigung
ist also bereits in vollem Gange. Wir unterstützen dieses
Vorgehen der Bundesregierung und werden es schnell
und konsequent umsetzen.
({4})
Wir wehren uns jedoch gegen Ihre Darstellung, meine
Damen und Herren von der FDP, mit der Sie Rechtsnormen ausschließlich als „Faktor betriebs- und volkswirtschaftlicher Kosten in erheblichem Ausmaß“ denaturieren. Mit einer solchen einseitigen Darstellung
unterschlagen Sie die zentrale Rolle des Rechts, die Gesellschaft zu gestalten. Deshalb darf die Debatte um die
Reduzierung der Normenflut nicht dazu missbraucht
werden, Verbraucherschutzrechte zu reduzieren, Umweltschutzstandards zu senken oder auf solche gesetzlichen Regelungen zu verzichten
({5})
- hören Sie zu, liebe Kolleginnen und Kollegen Liberale -,
die die Freiheitsrechte der Bürger sichern sollen.
({6})
Nicht die Summe aller gesetzlichen Regelungen begründet die von Ihnen kritisierte Normenflut; vielmehr
geht es um solche Normen, für die es kein gesellschaftliches Erfordernis mehr gibt.
({7})
Um sie geht es; sie wollen wir auch tatsächlich abschaffen.
Jetzt zu Ihrem Vorschlag, alle Gesetze zu befristen:
Damit bringen Sie dem Parlament generelles Misstrauen
entgegen. Sie unterstellen nämlich, der Gesetzgeber ignoriere die notwendige Rechtsförmigkeitsprüfung. Ein
solches Misstrauen ist unberechtigt und nicht zielführend. Ihr Vorschlag bietet auch nicht die Vorteile, die Sie
versprechen. Der Vorschlag führt zu einem erheblichen
Mehraufwand, weil er routinemäßige und unsinnige parlamentarische Befassungen provoziert. Es besteht die
Gefahr pauschaler und unreflektierter Verlängerungen.
({8})
Für die Rechtsanwender bedeuten befristete Gesetze
zusätzliche Rechtsunsicherheit.
Meine Damen und Herren, meine Kritik sagt nichts
darüber aus, dass es in Einzelfällen sinnvoll und geboten
sein kann, gesetzliche Regelungen zeitlich zu befristen
und sie auch einer Evaluation zu unterwerfen. Sie schlaJerzy Montag
gen jedoch vor, dies bei allen Gesetzen zu machen, also
mit der Gießkanne über das gesamte Rechtswerk zu gehen.
({9})
- Doch; lesen Sie Ihre eigenen Anträge. Darin werden
Sie es finden.
Befristungen sind nur dann sinnvoll, wenn die Zielerreichung durch ein Gesetz nicht sicher ist und das vom
Gesetzgeber gewählte Mittel zugleich einen erheblichen
Eingriff in die Bürger- und Freiheitsrechte bedeutet. Hier
sichert die Befristung, die Eingriffe auf das dringend Erforderliche und zwingend Notwendige zu begrenzen.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu der Normenflut, die Sie aus Europa zu uns herüberschwappen
sehen. Die Gestaltung des einheitlichen europäischen
Rechtsraums erfordert nun einmal gesetzliche Rahmenbedingungen auch in Deutschland. Ich persönlich halte
nichts davon, dass Sie den Grundsatz der Subsidiarität
als europäische Normenflutbegrenzungsnorm missbrauchen und so den Einigungsprozess konterkarieren.
({10})
Meine Damen und Herren von der FDP, machen Sie
sich doch bitte an die konstruktive Arbeit, statt Anträge
wie die heute von Ihnen vorgelegten wöchentlich zu diskutieren.
Nennen Sie - Ihre Kollegin hat das in ihrem Beitrag
wunderbar gemacht; ich danke Ihnen dafür - konkrete
Normen, die Sie aufgehoben sehen wollen.
({11})
Liefern Sie dazu eine nachvollziehbare und stichhaltige
Begründung. Dann werden Sie sehen, dass sich parlamentarische Arbeit auch aus der Opposition heraus lohnen kann.
Danke.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Herr Kollege
Dr. Bürsch, mein Vorteil als letzter Redner ist, dass ich
die fehlerhaften und falschen Aussagen der Kollegen
von den Grünen und der SPD Gott sei Dank noch korrigieren kann.
({0})
Ich persönlich finde es gut, dass wir uns mittlerweile
in fast jeder Sitzungswoche mit dem wichtigen Thema
Bürokratieabbau beschäftigen; denn dieses Thema ist
nach wie vor sehr drängend und brisant. Laut einer Umfrage des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn beklagt mittlerweile mehr als jedes dritte Unternehmen,
dass die bürokratiebedingten Kosten in den letzten
fünf Jahren stark gestiegen sind. Weitere 54 Prozent der
Befragten geben an, dass diese Kosten gestiegen sind,
und nur 12 Prozent bewerteten die Belastung als konstant.
({1})
Des Weiteren wird aus dieser Umfrage klar, dass sich
die Bürokratiekosten mittlerweile wie eine Fessel insbesondere um kleinere und mittelständische Unternehmen
schlängeln. Sie bewegen sich umgekehrt proportional
zur Größe der Unternehmen. Vor allem kleinere Unternehmen werden durch die Bürokratiekosten erheblich
belastet.
So betrug die Belastung für Unternehmen mit einem
bis neun Beschäftigten im Durchschnitt 4 361 Euro pro
Beschäftigtem. Gegenüber 1994 ist dies immerhin ein
Anstieg um 865 Euro. Das entspricht einer Steigerung
von 24,8 Prozent. Bei Unternehmen mit zehn bis 19 Beschäftigten lag der Bürokratieaufwand im Jahre 2003 bei
2 727 Euro pro Arbeitsplatz. Im Jahre 1994 waren es
1 558 Euro. Dies entspricht immerhin einer Steigerung
von 1 169 Euro bzw. 75 Prozent. Gesamtwirtschaftlich
ergibt sich für die Unternehmen in Deutschland eine Belastung von sage und schreibe 46 Milliarden Euro, von
denen 84 Prozent auf den Mittelstand entfallen. Nominal
sind die Bürokratiekosten für die Wirtschaft zwischen
1994 und 2003, also in nur zehn Jahren, um rund
50 Prozent gestiegen.
Wie reagiert die rot-grüne Bundesregierung darauf?
Es werden, wie auch heute wieder vom Kollegen
Dr. Bürsch, vollmundige Ankündigungen gemacht. Der
Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement hat das
Thema Bürokratieabbau kurz nach seiner Ernennung zur
Chefsache erklärt und einen Masterplan Bürokratieabbau ins Leben gerufen. Er hat laut gebrüllt, ist letztendlich aber als Bettvorleger gelandet.
({2})
Insgesamt sind im Februar 2003 54 Maßnahmen angekündigt worden. Ein Jahr später, im Februar 2004, ist
die traurige Bilanz, dass nur zwei Maßnahmen erfolgreich umgesetzt worden sind und dass sich sieben weitere noch in der Umsetzung befinden. Daraufhin ist
angekündigt worden, dass ein zweiter Masterplan Bürokratieabbau ausgerufen wird. Die Unternehmen und
Wirtschaftsverbände in Deutschland sind angehalten
worden, Vorschläge zu unterbreiten. Immerhin sind vonseiten der Unternehmen über 1 000 Vorschläge zu Einzelmaßnahmen eingegangen.
Wie sieht das Ergebnis aus? Nur 34 Maßnahmen fanden den Weg in Herrn Clements zweiten Masterplan
Bürokratieabbau. Aber auch dieser wurde nicht entsprechend umgesetzt. Ganz im Gegenteil: Auf der Kabinettssitzung im Mai dieses Jahres wurde dieser Plan erheblich
gestutzt. Das Ergebnis war, dass letztendlich nur
Stephan Mayer ({3})
29 Maßnahmen von - ich wiederhole - über 1 000 Vorschlägen in diesen zweiten Masterplan Bürokratieabbau
eingegangen sind.
Das ist nicht der große Wurf, der angekündigt wurde.
Ganz im Gegenteil: Der Ball ist Herrn Clement auf die
Fußspitze gefallen. Wie sieht das Ergebnis, entgegen den
Aussagen von Herrn Bürsch, tatsächlich aus? In der
aktuellen 15. Wahlperiode sind von Rot-Grün 169 neue
Gesetze und sage und schreibe 637 Rechtsverordnungen
erlassen worden. Im Gegensatz dazu sind nur 37 Gesetze
außer Kraft gesetzt und 158 Rechtsverordnungen eingestellt worden.
({4})
Ich kann Herrn Clement bzw. der rot-grünen Bundesregierung nur empfehlen, Nachhilfeunterricht bei einigen unionsgeführten Landesregierungen zu nehmen.
Dort macht man es nämlich erheblich besser. Im Saarland zum Beispiel hat Ministerpräsident Peter Müller in
nur einer Wahlperiode 2 300 Verwaltungsvorschriften ersatzlos gestrichen
({5})
und 200 Genehmigungspflichten aufgehoben. Wenn man
die gesamten Verwaltungsvorschriften, die im Saarland
abgeschafft wurden, auf einem Papierstapel zusammenfasst, dann wiegt dieser immerhin 40 Kilogramm. Ich
glaube, das ist eine ganz stolze Bilanz. Auch BadenWürttemberg hat mutige Maßnahmen ergriffen. Insgesamt hat es 44 Initiativen in den Bundesrat eingebracht
und 107 Einzelmaßnahmen bereits durchgesetzt.
({6})
Die Bayerische Staatsregierung hat die Henzler-Kommission mit dem Thema Bürokratieabbau beauftragt.
Bereits ein Jahr nach Beendigung der Arbeiten der
Henzler-Kommission sind 103 Empfehlungen geprüft,
93 aufgegriffen, 77 auf den Weg gebracht und 16 bereits
vollständig umgesetzt worden. Dazu gehören auch ehrgeizige Maßnahmen wie beispielsweise das Aussetzen
des Widerspruchsverfahrens, das pilotartig in einem Regierungsbezirk in Mittelfranken durchgeführt wurde. Ich
könnte mir das auch sehr gut für die Bundesebene vorstellen. Allein aufgrund dieser Maßnahme rechnet man
mit einer Einsparung von ungefähr 3 000 Verwaltungsverfahren im Jahr.
Die Zahl der Landesverordnungen ist bereits zum
Jahresende 2003 um 16 Prozent zurückgegangen und die
Zahl der Landesgesetze ist um 10 Prozent gesunken.
Man hört jetzt aber nicht auf. Ganz im Gegenteil: Die
Verfahren werden fortgeführt. Man ist dabei, rund
160 Verordnungen abzuschaffen. Es wird damit gerechnet, dies Ende 2004 abschließen zu können. Nach dem
Abschluss dieser Maßnahmen soll die Zahl der Landesverordnungen um ungefähr 30 Prozent gesunken sein.
Ich glaube, in den Vorschlägen der FDP-Fraktion
steckt sehr viel Gutes. Man sollte mit Sicherheit weiterhin prüfen, ob die Geltungsdauer der Gesetze in Zukunft stärker befristet werden kann. Ich glaube, dass eine
Befristung nicht für alle Gesetze infrage kommen wird.
Man denke nur an das BGB, das HGB und die Steuergesetze. Vor allem die Rechtsklarheit und die Rechtssicherheit dürfen nicht beeinträchtigt werden. Besonders die
Unternehmen legen darauf sehr viel Wert.
Stattdessen könnte man sich aber Selbstverpflichtungen auferlegen. Beispielsweise könnte man sich selbst
auferlegen, 200 Gesetze und 250 Rechtsverordnungen
im Jahr auf ihren Fortbestand zu überprüfen. Auch eine
Eins-zu-zwei-Regel, wie wir sie in unserem Antrag
„Freiheit wagen - Bürokratie abbauen“ vorgestellt haben, könnte sich als richtig erweisen: Der Gesetzgeber
verpflichtet sich, erst zwei alte Gesetze abzuschaffen,
bevor er ein neues erlässt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass die beiden Anträge der FDP, die wir heute behandeln, wichtige Schritte in die richtige Richtung sind. Die
CDU/CSU-Fraktion haben Sie auf jeden Fall auf Ihrer
Seite, wenn es darum geht, die Bürokratie in Deutschland weiter abzubauen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1233 und 15/1811 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz
Tätigkeitsbericht 2001 und 2002 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz - 19. Tätigkeitsbericht - Drucksache 15/888 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper und die Abgeordneten Beatrix Philipp, Silke
Stokar von Neuforn, Ernst Burgbacher, Barbara Wittig
und Petra Pau haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
1) Anlage 8
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/888 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Dr. Christian
Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Tourismus in Entwicklungsländern
- Drucksachen 15/2027, 15/3031 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jürgen Klimke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zukunft des weltweiten Tourismus wird nicht zuletzt davon
abhängen, ob sich für die Bevölkerung in diesen Zielgebieten eine sozial verantwortliche Form entwickelt; denn
nur so können wir nach unserer Auffassung ein weiteres
wirtschaftliches und soziales Auseinanderdriften der
Kontinente stoppen und vor allen Dingen auch eine Gewaltspirale verhindern.
Vor diesem Hintergrund ist unsere Große Anfrage
„Tourismus in Entwicklungsländern“ zu sehen. Wir
wollten von der Bundesregierung wissen, welche Erfahrungen sie in der internationalen tourismusbezogenen
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gesammelt
hat. Anhand von zehn Entwicklungsländern mit den
höchsten Besucherzahlen sollte dargelegt werden, inwieweit der Tourismus die wirtschaftliche Entwicklung dort
tatsächlich unterstützt, in welchem Ausmaß die lokale
Bevölkerung davon profitiert und ob - das ist für uns
ganz wichtig - die Erhaltung der nationalen Identität in
diesem Bereich eine Rolle spielt.
({0})
Auch kritische Punkte wie Sextourismus, Kinderprostitution, Sicherheitsfragen, die gesundheitliche Vorsorge
deutscher Touristen im Ausland, gerade in Entwicklungsländern, und nach Deutschland eingeschleppte
Krankheiten haben wir weitgehend hinterfragt. Die Antworten der Bundesregierung ergeben - um dies vorwegzunehmen -, dass der Tourismus bei der wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklung eine wirklich wichtige Rolle
spielt. Alle näher untersuchten Entwicklungsländer, von
denen ich gesprochen habe, setzen den Tourismus zur
Schaffung von Arbeitsplätzen und - auch das ist sehr
wichtig - zur Erwirtschaftung von Devisen erfolgreich
ein. So weit, so gut.
Wir wären natürlich eine schlechte Opposition, wenn
wir dazu unsere Reden zu Protokoll geben würden und
es bei diesem Urteil beließen. Gerade ein ungelenkter
Tourismus - das betont auch die Bundesregierung kann ökonomische, ökologische und gesellschaftliche
Verwerfungen auslösen. Beispiele dazu gibt es wirklich
genug. Ich denke an die Insel Bali, die Dominikanische
Republik oder auch an Afrika, wo es sich Touristen nicht
nehmen lassen, über einheimische Dörfer quasi herzufallen, um nach ihrem Verständnis „Kultur pur“ zu erleben.
Um aktuell zu bleiben: Gestern Abend - Kollegin
Schmidt war dabei - saßen wir mit Parlamentariern aus
Algerien zusammen. Sie haben uns bestätigt, dass der
Tourismus auch für sie ein wichtiger Entwicklungsfaktor
sei, aber sie wollten ihn nicht in der Form, wie sie ihn an
der spanischen Küste und auf Mallorca erlebt hätten.
Das möchten sie verhindern und daraus die Konsequenzen ziehen.
({1})
Nachhaltiger Tourismus ist die Zukunft des Tourismus. Hier klaffen die Ansprüche zwischen Wirklichkeit
und der tatsächlichen Entwicklungsarbeit der rot-grünen
Ministerien auseinander; denn leider fördert die Bundesregierung nur wenig primär auf den Tourismus bezogene
Projekte, zumal mit einem relativ geringen Einsatz vor
Ort.
({2})
- Doch, Frau Irber. Es kommt noch schlimmer: Es wird
nicht evaluiert, bewertet oder überprüft, was mit den
Geldern gemacht wird. Schauen Sie sich Frage 41 und
die Antwort an, Frau Kollegin:
Reine Tourismusprogramme wurden im Rahmen
des Zentralen Evaluierungsprogramms des ... BMZ
in den letzten Jahren nicht evaluiert.
Diese Formulierung ist sehr nett, aber soll wohl heißen:
Es wird eben nicht geprüft.
Hier stoßen wir wieder einmal auf ein zentrales Problem von Rot-Grün, das wir auch woanders finden: Geld
wird verteilt, ohne auf den Erfolg zu achten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schmidt?
Bitte, ja.
Werter Herr Kollege Klimke, zum Ersten wüsste ich
von Ihnen gerne, wie Sie dieses Thema im Kontext des
zuvor behandelten Punktes - Bürokratieabbau - sehen.
Zum Zweiten: Sie haben gerade behauptet, bei der
Bundesregierung sei im Ministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ein Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit festzustellen. Haben
Sie nicht registriert, dass es über 80 Einzelmaßnahmen in
diesem Bereich gibt? Ist Ihnen entgangen, dass unser
ehemaliger Minister Eppler dem Anspruch, den Sie heute
für sich reklamieren, schon vor 30 Jahren Rechnung
Dagmar Schmidt ({0})
getragen hat? In diesem Punkt müssen Sie uns wirklich
nicht katholisch machen; diese Erkenntnis haben wir seit
30 Jahren. Damals sind die „Sympathie-Magazine“ entstanden. Vielleicht kennen Sie sie und können dann für
deren Publizierung und Bekanntmachung sorgen.
Frau Kollegin, das war eine sehr lange Frage. Ich
hoffe, ich habe den ersten Teil richtig in Erinnerung; es
ging um Bürokratie.
Verstehe ich Ihre Frage richtig, dass Sie meinen, es
sei bürokratisch, dass ich hier zu einer Großen Anfrage,
die wir gestellt haben, als Einziger rede, während Sie
meinen, nicht reden zu müssen und Ihre Reden zu Protokoll geben? Wenn Sie das meinen, kann ich nur sagen:
Das ist völlig falsch.
({0})
Für uns ist das ein ganz wichtiges Thema. Sie können
nicht im zweiten Teil Ihrer Frage die Wichtigkeit des
Themas betonen, und sich dann zurückziehen und nicht
reden. Sie hätten doch auch von diesem Rednerpult aus
einen Beitrag zur Debatte leisten können, statt sich nur
auf Fragen zu konzentrieren.
Zweitens. Ich kann nur feststellen, dass gesagt worden ist: Wir evaluieren in einzelnen Punkten nicht.
({1})
Ich meine, dass durchaus auch kleinere Summen evaluiert werden müssen. Für manchen sind 1 000, 5 000 oder
50 000 Euro, die er nicht ausgeben kann, sehr viel Geld,
aber wir prüfen nicht, wie das Geld, das wir den Entwicklungsländern zur Verfügung stellen, dort verwendet
wird. Das halte ich für falsch.
({2})
Ich möchte unsere weitere Kritik an den Antworten
auf unsere Fragen mit zwei oder drei anderen Beispielen
untermauern. Meine Damen und Herren, wir haben gerade festgestellt, dass Devisenbeschaffung ein wichtiges
wirtschaftspolitisches Ziel von Entwicklungsländern ist.
Tourismus ist sehr oft die einzige Möglichkeit, Devisen
ins Land zu bringen. Das hat zur Folge, dass das in einigen Orten schamlos ausgenutzt wird. Der Studienkreis
für Tourismus und Entwicklung hat diese Erkenntnis in
seinem so genannten „Ammerlander Gesprächskreis“ im
Jahr 2001 schon thematisiert. Von einem gnadenlosen
Diktat ausländischer Reiseunternehmen berichtete zum
Beispiel ein Touristiker aus der Türkei. Er erklärte, mehr
noch als die deutschen legten die englischen Veranstalter
den Anbietern die Daumenschrauben an, die Gewinnbeteiligung werde hemmungslos gedrückt,
({3})
neue Projekte und Erschließungen erfolgten ohne Rücksicht auf die örtliche Infrastruktur und die Manager der
externen Firmen kämen manchmal gar nicht aus der
Branche und hätten überhaupt keine Beziehung zu den
Zielländern.
Ich frage mich: Wenn schon der Druck auf die Türkei,
auf ein doch relativ zivilisiertes Urlaubsland,
({4})
so groß ist, wie muss es dann erst in anderen Ländern
aussehen, deren touristische Infrastruktur nicht so weit
entwickelt ist?
Bei Privatinitiativen mag es diese Fehlentwicklungen
geben, aber bei durch Steuergelder mitfinanzierten Maßnahmen dürfen wir sie nicht hinnehmen. Folgerichtig haben wir der Bundesregierung die Frage gestellt: Wie
kann und sollte man Tourismus in Entwicklungsländern
für Gäste und Bewohner zum gegenseitigen Nutzen ausbauen und fördern?
Meine Damen und Herren, eine enge Zusammenarbeit muss mögliche negative soziale und ökologische
Wirkungen von unkontrollierter Tourismusentwicklung
verhindern, sie zumindest minimieren. Dies kann durch
eine qualifizierte Beratung bei der Planung und Durchführung erfolgen sowie durch eine Bewertung - durch
eine Evaluierung, wie vorhin bereits gesagt - von Masterplänen und von spezifischen Entwicklungsprogrammen.
Hier ist die Bundesregierung in der Pflicht, auch
wenn Sie das vielleicht nicht hören mögen. Sie muss hier
aktiv werden. Leider waren Ihre Antworten auf unsere
Fragen zu diesem Thema nur globaler Natur. Hier muss
nachgebessert werden.
Meine Damen und Herren, nicht nur die Politik ist in
der Pflicht, auch die Anbieter, die Veranstalter und die
Touristen sind in der Pflicht und müssen ihren Beitrag
leisten. Das geht manchmal einfacher, als man denkt.
Ein Beispiel: Oft werden in touristischen Zielgebieten in
der Dritten Welt religiöse und kulturelle Traditionen
nach angeblichen Wünschen und Ansprüchen der Touristen aus dem Zusammenhang gerissen, verändert, vereinfacht und verkürzt dargestellt. Hier ist neben dem Anbieter auch jeder Tourist, der dorthin reist, selbst in der
Verantwortung. Er kann Nein sagen, er kann HollywoodTourismus verhindern und er kann verlangen, Kultur in
der ursprünglichen Form zu erfahren.
Eine Aufklärungskampagne der Bundesregierung in
Kooperation mit den Anbietern könnte auch diese Zivilcourage fördern. Wir unterstützen den Ansatz der Bundesregierung, sich an der soziokulturellen Diskussion zu
beteiligen, die es - Sie haben völlig Recht, Frau
Schmidt - ja schon seit Eppler gibt. Den Ansatz, die Bevölkerung zu einem offenen Umgang mit anderen Ländern und fremden Kulturen zu gewinnen, unterstützen
wir.
Lassen Sie mich zu einem anderen Thema kommen,
und zwar zu einem tragischen und widerwärtigen Aspekt
des Tourismus gerade in den Entwicklungsländern. Das
sind Kindersex und Zwangsprostitution. Hier kann das
Ziel nur lauten: aufklären und bekämpfen. Wir haben
dieses Thema im Übrigen zum Inhalt einer Großen Anfrage gemacht, die wir in den Bundestag eingebracht haJürgen Klimke
ben, weil wir meinen, dass wir über dieses Thema separat debattieren müssen. Es darf nicht sein, dass Kinder
als Sexobjekte angesehen und missbraucht werden. Die
Folgen kennen wir. Sie sind meistens nicht umkehrbar.
Ich spreche von Geschlechtskrankheiten, HIV-Infektionen, frühzeitigen Schwangerschaften, Drogenmissbrauch, Depression und sogar Selbstmord.
({5})
- Ich habe den Eindruck, dass wir hier einen Konsens
haben, Frau Irber. - Ich möchte deutlich unterstreichen:
Bei der Bekämpfung der Kinderprostitution müssen wir
alle gemeinsam zusammenarbeiten. Wir fordern eine
noch stärkere und noch langfristigere Beteiligung der
Reisebranche an den Präventionsaktionen und Informationskampagnen.
Nach dem 11. September, nach SARS und nach dem
Terrorismus bestimmen heute drei weitere Faktoren die
Entwicklung des Tourismus in der Welt: erstens die
Wirtschaftskrise, die dazu führt, dass die Menschen lieber sparen, statt zu konsumieren, zweitens die Tatsache,
dass neue und schnelle Technologien es den Kunden ermöglichen, relativ rasch Reisen zu buchen - eine Reise
nach Kenia können Sie heute Abend problemlos per Internet buchen und übermorgen antreten -, und drittens
die Schieflage in der Luftfahrt. Ohne Flugzeuge gäbe es
keine moderne Freizeitindustrie. Gleichzeitig ist zu
beobachten, dass die Zahl der Billigflieger zunimmt.
Die Folgen tragen die Länder der Dritten Welt, für die
der Tourismus meist die einzige Geldeinnahme darstellt.
Ich habe die Negativfaktoren eben genannt, möchte sie
noch zusammenfassen: Es sind das Diktat der Anbieter,
die Dominanz des ausländischen Kapitals, eine nur auf
touristische Bedürfnisse ausgerichtete Infrastruktur, kulturelle Ignoranz und Missbrauch von Kindern durch
Kinderprostitution.
Die Große Anfrage hat ferner deutlich gemacht, dass
die Bundesregierung aus unserer Sicht auf dem Gebiet
des nachhaltigen Tourismus in der Dritten Welt sinnvolle
und vernünftige Ansätze verfolgt. Es bestehen Defizite,
über die ich gesprochen habe, insbesondere in der Aufklärung und in der Evaluierung, die dringend beseitigt
werden müssen. Generell geht die Regierung einen richtigen Weg. Wir werden sie auf diesem Weg kritisch und
konstruktiv begleiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Kollegin Dagmar Schmidt, der Kollege Ernst
Burgbacher und die Kollegin Undine Kurth haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
1) Anlage 9
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des
Rates über die europäische Beweisanordnung
zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken
und Daten zur Verwendung in Strafverfahren
KOM ({1}) 688 endg.; Ratsdok. 15221/03
- Drucksachen 15/2519 Nr. 2.2, 15/3831 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel Schäfer ({2})
Michael Grosse-Brömer
Sibylle Laurischk
Es liegt ein gemeinsamer Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Die Kolle-
gen Axel Schäfer, Michael Grosse-Brömer, Jerzy
Montag und Rainer Funke haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.2)
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zur Unterrichtung der Bundesregierung über einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss
des Rates über die europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren, Drucksache 15/3831. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP
angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 15/3832. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung der Versorgung bei besonderen
Auslandsverwendungen ({3})
- Drucksache 15/3416 ({4})
a)Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5})
- Drucksache 15/3829 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Clemens Binninger
2) Anlage10
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
b)Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/… -
Berichterstattung:
Abgeordneter …
Die Redner Hans-Peter Kemper, Clemens Binninger,
Silke Stokar von Neuforn, Günther Friedrich Nolting,
Petra Heß und Ernst-Reinhard Beck haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Regelung der Versorgung bei besonderen Auslandsver-
wendungen, Drucksache 15/3416. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3829, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen
Belarus vor den Parlamentswahlen und dem
Referendum
- Drucksache 15/3811 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Nolte, Irmgard Karwatzki, Dr. Friedbert Pflüger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Belarus vor den Parlamentswahlen 2004
- Drucksache 15/3802 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In wenigen Tagen findet in Minsk eine deut-
sche Woche statt, in deren Rahmen eine Reihe von Ver-
1) Anlage 10
anstaltungen durchgeführt wird, bei denen viel über das
Deutschlandbild zu erfahren sein wird.
Auch ich werde die Gelegenheit haben, dort zu sprechen und die deutschen Erfahrungen im Transformationsprozess zu vermitteln. Ich glaube, dass dies für
Belarus ein wichtiges Thema ist; denn auch Belarus ist
ein Transformationsland. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Erlangung der Unabhängigkeit hat sich
dort in den letzten Jahren vieles verändert. Gerade in den
Anfangsjahren ist auch manches sehr Gute erreicht worden. Man hat damit begonnen, demokratische Strukturen
aufzubauen, und auch die wirtschaftliche Entwicklung
wurde vorangetrieben.
Hinzu kam, dass Belarus das Glück hatte, dass es in
dem Land keine Nationalitätenkonflikte wie in manchen
Nachfolgestaaten der zerfallenen Sowjetunion gab. Die
Abrüstungsbestrebungen müssen ebenfalls sehr positiv
hervorgehoben werden.
Ich verweise auch gerne darauf, dass es zwischen
Belarus und Deutschland eine Reihe von wirtschaftlichen und kulturellen Kontakten gibt. Erstaunlich fand
ich bei der Beschäftigung mit Belarus in den letzten Monaten, dass etwa ein Viertel der Schüler in diesem Land
Deutsch als Fremdsprache lernt. Das zeigt auch, dass
man uns in Belarus eine große Offenheit entgegenbringt.
Ein großer Anteil der humanitären Hilfe für dieses
Land stammt aus deutschen nicht staatlichen Quellen.
Über 500 deutsche Vereine und Organisationen arbeiten
inzwischen im gesellschaftlichen Bereich. Angesichts
der heutigen Lage in Belarus, die von der massiven Beschneidung der Freiheits- und Menschenrechte geprägt
ist, lässt sich diese positive Entwicklung kaum ausreichend würdigen. Denn seit der Änderung der demokratischen Verfassung 1996 und der Verlängerung der Amtszeit von Präsident Lukaschenko durch ein sehr
umstrittenes Referendum kann Belarus nicht mehr als demokratischer und freier Staat betrachtet werden.
Insbesondere die Lage der Menschenrechte ist besorgniserregend. Die Todesstrafe ist nach wie vor nicht
abgeschafft worden. Erniedrigende Strafen und willkürliche Festnahmen sind an der Tagesordnung.
In den letzten Monaten wurden Dutzende von Nichtregierungsorganisationen - darunter viele Menschenrechtsorganisationen - verboten. Journalisten und Gewerkschafter werden willkürlich festgenommen. Die
Medien werden zensiert, Journalisten verfolgt. Die wichtigsten unabhängigen Zeitungen sind verboten worden
und die wenigen unabhängig gebliebenen Medien müssen ihre Blätter im Ausland drucken lassen. Durch den
Versuch, jede unabhängige Meinung zu unterdrücken,
schadet sich Belarus am meisten selbst.
({0})
Das jüngste Beispiel: Der Entzug der Lizenz der Europäisch-Humanistischen Universität in Minsk führt zu
einem massiven Verlust an Forschung, freiem Geist und
guten Wissenschaftlern. Man kann sich ja vorstellen, wo
die jungen Leute ihre Zukunft suchen werden, dass sie
also im Zweifel ihr eigenes Land verlassen werden.
Durch die Aushöhlung der Demokratie und die Missachtung internationaler Vereinbarungen hat der weißrussische Präsident Lukaschenko sein Land isoliert. Belarus
ist kein Mitglied des Europarates. Die Verhandlungen im
Rahmen des Nachbarschaftskonzepts der Europäischen
Union sind ausgesetzt worden. Eine der wenigen internationalen Organisationen, die Verbindung zu Belarus
haben, ist die OSZE. Auf den Tagungen der Parlamentarischen Versammlung der OSZE ist Belarus immer wieder ein Thema. Viele Entwicklungen werden dort kritisch beleuchtet und kritisiert. Auf der letzten Sitzung ist
allerdings eine Resolution zurückgezogen worden, weil
sich die belarussische Delegation verpflichtet hat - das
wollten wir honorieren -, mit dafür Sorge zu tragen, dass
die Wahlen im Oktober dieses Jahres den OSZE-Standards genügen. Ich denke, das ist ein Zeichen dafür, dass
wir bemüht sind, jeglichen Fortschritt bei der demokratischen Entwicklung zu unterstützen, und dass es uns
nicht um Vorverurteilungen geht.
Wir müssen allerdings mit Bedauern feststellen, dass
die Kriterien für eine freie und faire Wahl wohl wiederum nicht erfüllt werden. Die Wahlgesetzgebung ist
nicht in der Weise geändert worden, dass sie den Standards für demokratische Wahlen entspricht. Etwa die
Hälfte der Kandidaten der Opposition für die Parlamentswahlen wurde nicht registriert. Eine öffentliche
Pluralität in den Medien ist ebenfalls nicht gegeben. Die
Opposition hat außerdem nur einen sehr beschränkten Zugang zu den staatlichen Medien und die unabhängigen Medien werden, wie gesagt, in ihrer Arbeit stark behindert.
Schon die letzten Parlamentswahlen im Oktober 2000 waren aus Sicht der damaligen Wahlbeobachter schlicht undemokratisch.
Natürlich begrüßen wir sehr, dass die belarussische
Regierung die OSZE um Wahlbeobachtung gebeten und
Wahlbeobachter eingeladen hat. Diese sind bereits vor
Ort. Dem müssen aber auch Konsequenzen folgen. Das
heißt für mich, dass die belarussische Regierung natürlich aufgefordert ist, alles dafür zu tun, dass die Standards für demokratische Wahlen eingehalten werden und
dass allen Kandidaten Chancengleichheit garantiert
wird.
({1})
Ebenso muss sichergestellt sein, dass die Auszählung
der Stimmen ohne Manipulation erfolgen wird. Das wird
umso eher möglich sein, je pluraler die Wahlkommissionen für die Stimmenauszählung zusammengesetzt sind.
Auch hier gibt es also ein Handlungsfeld.
Es ist schwer, mit einem Land intensive und freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten, das sich selber
isoliert, das anscheinend die ausgestreckte Hand nicht
nehmen möchte. Aber gerade vor dem Hintergrund, dass
Belarus ein neuer Nachbar der Europäischen Union ist,
kann uns dieses Land nicht gleichgültig sein. Der Umstand der Selbstisolation ist sehr zu beklagen. Schließlich bieten gemeinsame Grenzen auch Chancen. Ein
Austausch auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene
wäre aufgrund der Nähe viel leichter möglich.
Wir wissen, dass es in Belarus selbst viele Menschen
gibt, die sich mit der Situation in ihrem Land nicht abfinden wollen. Es gibt eine Opposition, die Änderungen
herbeiführen möchte und ein großes Interesse an dem
demokratischen Weg ihres Landes hat. Aus eigener Erfahrung mit der ehemaligen DDR wissen wir, was für
Menschen, die in der Opposition tätig sind, wichtig ist.
Sie brauchen Unterstützung und vor allen Dingen Kontakte und Informationen.
Mit unserem Antrag möchten wir deshalb Impulse für
entsprechende Hilfestellungen geben. Wir schlagen ganz
klare Schritte vor. Beispielsweise gehört dazu die Einrichtung eines Fonds, mit dem die Europäische Union
die Zivilgesellschaft auch ohne Kooperation mit der
belarussischen Regierung unterstützen kann. Außerdem
schlagen wir die Einrichtung eines freien Radiosenders
für Belarus vor, und zwar außerhalb des Landes, weil
leider die belarussischen Medien die Aufgabe einer unzensierten Berichterstattung derzeit nicht übernehmen
können. Zudem ist es über einen solchen unabhängigen
Sender viel leichter möglich, Informationen breit und
schnell zu streuen, nicht zuletzt Informationen über die
Europäische Union. Denn die Europäische Union steht
in Belarus für Freiheit und Perspektive. Aber Kenntnisse
über die Europäische Union sind dort kaum verbreitet.
Das heißt, wir brauchen mehr Öffentlichkeitsarbeit
durch und über die Europäische Union, über die Werte
und Ziele, die wir teilen.
Schließlich fordern wir ein Einreiseverbot für die politische Führung von Belarus und damit für die Träger
der Verantwortung für die Isolierung des Landes. Es gibt
bereits einen Beschluss des Europäischen Rates von vor
drei Tagen. In ihm wird ein Einreiseverbot für diejenigen
Offiziellen verhängt, die laut des Pourgourides-Reports
Verantwortung für das Verschwinden von drei Oppositionsführern und einem Journalisten tragen. Wir unterstützen diesen Beschluss ausdrücklich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mich
sehr freuen, wenn unsere sehr konkreten Forderungen in
diesem Hohen Haus Unterstützung erhielten. Ich bin davon überzeugt, dass es notwendig ist, auch nach den
Wahlen in Belarus dieses Land im Auge zu behalten und
gemeinsam darüber zu beraten, was wir tun können, um
das Land aus der Selbstisolation zu führen. Gerade weil
Belarus ein Nachbar der Europäischen Union ist, haben
wir dieses Interesse an seiner Entwicklung.
({2})
Die Hektik der parlamentarischen Beratungen im Vorfeld hat einen gemeinsamen Antrag nicht möglich gemacht. Aber ich denke, wir haben Einigkeit im Hohen
Hause über diese Ziele und über den Wunsch nach
freien, demokratischen Wahlen in Belarus. Im Wissen
über diese Einigkeit danke ich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Tatsache, dass zwei Tagesordnungspunkte zu Protokoll gegeben worden sind, verhindert, dass uns Herr
Lukaschenko eine weitere schlaflose Nacht bereitet. Leider habe ich nicht die kompletten Ausführungen der
Kollegin Nolte hören können. Aber ich glaube, dass wir
ihre Sorgen teilen.
Frau Nolte hat soeben gesagt, sie bedauere, dass wir
keinen gemeinsamen Antrag haben stellen können. Ich
bedauere das genauso. Wir haben uns schon darüber ausgetauscht.
Ich teile die Auffassung, dass dies nicht das letzte Mal
sein wird, dass wir uns mit diesem Land, das uns so nah,
aber gleichzeitig so fern ist, werden beschäftigen müssen. Denn wir tragen Verantwortung für die Gestaltung
von Politik in ganz Europa, auch bei Nachbarn, die sehr
widerspenstig sind und sich isolieren.
Unser Antrag beschränkt sich im Gegensatz zum Antrag der CDU/CSU, den Frau Nolte hier samt den konkreten Forderungen vorgetragen hat, auf die Situation
vor den Wahlen und auf das, was wir im Hinblick auf die
Durchführung dieser Wahlen erwarten und erhoffen. Es
gibt also keinen Unterschied zwischen den beiden Anträgen in der Beschreibung der politischen Situation. Das
ist deutlich geworden. Der Unterschied liegt darin, dass
Sie jetzt sehr konkrete Beschlüsse wollen. Ich denke, wir
sollten uns über diesen Teil nach den Wahlen, wenn die
Ergebnisse und die Analyse vorliegen, noch einmal unterhalten.
Manche Forderungen, die in dem CDU/CSU-Antrag
stehen, sind im Übrigen schon auf dem Weg oder erfüllt.
Über andere wird man noch sehr genau diskutieren müssen.
Ausschlaggebend für freie und faire Wahlen sind
nicht nur der Auszählungsprozess, sondern auch der
Aufstellungsprozess und der ganze Vorwahlprozess,
den wir im Moment sehen. Da gibt es doch Dinge, die
uns sehr bedrücken, zum Beispiel die Besetzung der
Wahlkommissionen, in denen die Opposition nur mangelhaft vertreten ist. Sie hat zwei Vertreter in der zentralen Wahlkommission. In den lokalen und regionalen
Wahlkommissionen ist sie nur in mikrobischen Spuren
zu finden.
Die Prozeduren der Zulassung von Kandidatinnen
und Kandidaten sind ausgesprochen mangelhaft, insbesondere wo es freie oder Oppositionskandidaten betrifft.
Der ungehinderte Wahlkampf unter gleichen Bedingungen für alle ist weiß Gott nicht gegeben. Wir beobachten Behinderungen der Opposition in hohem Maße
und gleichzeitig eine Förderung der loyalen Kandidaten,
die Lukaschenko anhängen.
Positiv ist - das begrüßen wir sehr -, dass ODIHR,
also das Büro für bürokratische Institutionen und Menschenrechte, eingeladen wurde, eine vollständige Wahlbeobachtung vorzunehmen, nachdem bei den Präsidentschaftswahlen 2001 nur eine begrenzte Wahlbeobachtung möglich war. Wir bedauern allerdings, dass die im
Vorbericht von ODIHR zu den Wahlen gemachten Vorschläge zur Organisation und zur Vorgehensweise nicht
umgesetzt wurden. Wir haben ja schon bedauert, dass
das Wahlgesetz nicht geändert wurde. Dies stellt wirklich einen gravierenden Mangel dar. Man wird sehen
müssen, wie sich dieses Defizit auswirken wird.
Ob es sich um freie und faire Wahlen handeln wird,
ist jetzt im Vorfeld noch nicht zu sagen. Ein Urteil darüber steht uns jetzt auch noch nicht zu, sondern erst
dann, wenn das endgültige Ergebnis vorliegt. Ich glaube
aber, dass ganz bestimmte Vorgänge, die wir im Vorfeld
der Wahlen schon jetzt beobachten können, uns Anlass
zur Sorge geben. Deshalb gehe ich darauf jetzt hier einmal etwas detaillierter ein. So sieht das Wahlgesetz vor,
dass Initiativgruppen Unterschriften für Kandidatinnen
und Kandidaten sammeln können und ein Kandidat dann
zugelassen wird, wenn eine gewisse Anzahl von Unterschriften gesammelt wurde. Das hat schon immer
Schwierigkeiten gemacht, weil zum Teil Unterschriften
nicht anerkannt wurden.
Diesmal hat man eine sehr subtile Methode gefunden,
die Aufstellung solcher Kandidatinnen und Kandidaten
im Vorfeld abzuwürgen. Man hat es nämlich so geregelt,
dass zunächst zehn Leute eine Initiativgruppe gründen
und ihre Bereitschaft erklären müssen, solche Unterschriften zu sammeln. Wenn diese zehn Initiativgruppenmitglieder namentlich benannt wurden, beginnt ein Prozess der Repression gegen sie, sodass die Gefahr besteht,
dass einige ihre Unterschrift zurückziehen und damit der
Kandidat nicht mehr ins Rennen geschickt werden kann.
Schon im Vorfeld wurden, wie ich meine, mit großer
Sorgfalt, entsprechende Druckmittel aufgebaut. Vor etwa
anderthalb Jahren hat Lukaschenko veranlasst, dass alle
Angestellten und Arbeiter in Staatsbetrieben nur noch
Einjahresverträge erhalten. Das heißt, diese Personen
sind, wenn sie sich bei solch einer Initiativgruppe engagieren, vom Verlust ihres Jobs und damit auch in ihrer
sozialen Sicherheit bedroht. Wir wissen, dass dies ein
ganz effektives Drohmittel ist. Wenn man eine Familie
hat und nicht weiß, ob man einen neuen Job bekommt,
wirkt ein solches Mittel natürlich besonders schnell.
Wir haben außerdem im Vorfeld der Wahlen beobachten können, dass die sehr lebendige Landschaft der zivilen
Organisationen - die OSZE hatte ja in ihrem Bericht
nach den Präsidentschaftswahlen diese Bestandteile der
Zivilgesellschaft als Träger einer möglichen Demokratisierung in Belarus hervorgehoben - extrem unter Druck
gesetzt wurde und Organisationen dieser lebendigen demokratischen Gemeinde verboten wurden. Seit 2003
wurden 56 Nichtregierungsorganisationen verboten. All
diese Organisationen haben sich bei den letzten Wahlen
beteiligt, von der Unterstützung von Kandidaten bis hin
zur Wahlbeobachtung. Diese Zivilgesellschaft wird also
systematisch zerschlagen. Das geht so weit, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das hoch renommierte belarussische Helsinki-Komitee jetzt unmittelbar von der
Schließung bedroht ist. Es ist zwar nicht das erste Mal,
aber bisher hat man nicht gewagt, daran zu rühren. Diesmal jedoch scheint man Ernst machen zu wollen.
Warum geschah dieses, liebe Kolleginnen und Kollegen? Dieses Helsinki-Komitee hat es gewagt, beim
obersten Gerichtshof eine Klage gegen das Referendum
einzureichen. Es will damit die Rechtmäßigkeit eines
solchen Referendums überprüfen lassen. Daraufhin hat
der oberste Staatsanwalt Anklage gegen das HelsinkiKomitee mit dem Ziel der Schließung dieser Organisation eingereicht. Dies zeigt ein Ausmaß von undemokratischem Verhalten, das auch bei vielen Kritikern und
Kritikerinnen, die Lukaschenko irgendwie in die Quere
kommen, zum Tragen kommt, indem kleinste Vorwände
zum Anlass genommen werden, Prozesse gegen sie anzustrengen, sodass sie ins Gefängnis wandern oder Ähnliches mit ihnen geschieht.
Die Zivilgesellschaft aber ist genau das, worauf wir
setzen müssen. Deshalb ist mit der Forderung, diese Zivilgesellschaft zu stärken und zu stützen und dabei zu
helfen, dass sich dort Demokratie entwickeln kann, eine
ganz wichtige Zukunftsaufgabe für uns verbunden.
({0})
Die weiter gehenden Forderungen, liebe Kollegin
Nolte, sollten wir erst einmal intern miteinander besprechen. Wir haben ja im Rahmen der OSZE-Parlamentariergruppe Gelegenheit, dieses Thema gemeinsam zu
behandeln. Wir könnten als Parlament einen wichtigen
Schritt machen, wenn wir an dieser Stelle eine gemeinsame Position entwickelten.
Lassen Sie mich noch zwei Worte zu gewiss enttäuschenden Prozessen sagen. 1999 hat Präsident
Lukaschenko beim Istanbuler Gipfel der OSZE im Vorfeld der Parlamentswahlen 2000 Verpflichtungen unterschrieben, zum Beispiel die Verpflichtung, der Opposition freien Zugang zu den Medien zu gewähren. Er hat
sogar ein Abkommen mit der Opposition geschlossen,
das aber kurz darauf gebrochen wurde. Jetzt hat es wieder ein solches Versprechen gegeben, mit dem eine genaue Anzahl von Minuten für einen Auftritt im Fernsehen und ein Platz in den offiziellen Staatszeitungen
festgelegt wurden, damit die Opposition dort für ihre
Politik werben kann. Wir werden aufmerksam beobachten, ob das geschieht. Das wird sich ja in Kürze erweisen; denn der Wahlkampf dauert nicht mehr allzu lang.
Wir als Parlamentarier haben aber auch einige Kriterien mit mehreren Resolutionen entwickelt, und zwar sowohl in der OSZE-Parlamentarierversammlung als auch
hier in der deutsch-belarussischen Gruppe und im gesamten Parlament. Darin wird gefordert, dass das Parlament in Belarus mehr Rechte erhält. Darin kommt aber
auch zum Ausdruck, dass wir im Auge behalten werden,
ob zum Beispiel das Wahlgesetz und das Mediengesetz
so gestaltet werden, dass sie den Kriterien der OSZE entsprechen.
All das ist noch offen, jedenfalls in Bezug auf die jetzt
anstehenden Wahlen. Die bisherige Entwicklung, liebe
Kolleginnen und Kollegen, macht mich allerdings sehr
traurig; denn ich sehe keine großen Fortschritte in diesem Land, das, wie Sie, Frau Nolte, sagen, eigentlich zu
uns gehört, das nicht isoliert sein sollte, das europäisch
ist, das in unserer Nachbarschaft liegt. Es ist traurig, dass
die Situation dort so ist. Aber wir alle können für uns sagen: Wir werden nicht aufhören, an der Demokratisierung dieses Landes zu arbeiten und diejenigen zu unterstützen, die die Demokratisierung in Belarus anstreben
und sich darum bemühen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit einer Delegation des Menschenrechtsausschusses habe ich
vor zehn Tagen gemeinsam mit der Kollegin Frau
Karwatzki Minsk besucht. Das war keine bequeme, aber
eine, wie ich meine, ungeheuer wichtige Reise. Wir sind
in Minsk mit allen bedeutenden Menschenrechtlern und
Oppositionellen zusammengetroffen, allesamt beeindruckende Persönlichkeiten, die nicht nur unter
Beobachtung, sondern unter direkter Verfolgung des
Lukaschenko-Regimes zu leiden haben und trotzdem unbeirrt und mutig an ihrem Kampf für Menschenrechte,
bürgerliche Freiheiten und Demokratie in Weißrussland
festhalten.
({0})
Diese überzeugten Demokraten schauen mit großer
Sorge auf den herannahenden Wahltag. Mit dem Verfassungsreferendum will Präsident Lukaschenko seinen
zweifelhaften Ruhm als letzter Diktator Europas festschreiben. Leider steht für die Wahlen und damit auch
für das Referendum aber schon heute fest, dass sie weder
frei noch fair sein werden. Insoweit erlaube ich mir, Ihnen etwas zu widersprechen, Frau Kollegin Zapf.
({1})
Von einer unabhängigen Presse, die für einen fairen
Wahlkampf unerlässlich ist, kann in Weißrussland ohnehin keine Rede sein.
Oppositionelle Parteien werden - genau wie die meisten kritischen NGOs - vom Regime an der Registrierung
gehindert oder mit Steuer- oder Verwaltungsvorschriften
bis an die Grenze ihrer Arbeitsfähigkeit malträtiert. Sie
haben zu Recht darauf hingewiesen, dass 56 NGOs oder
Vorfeldorganisationen verboten worden sind. Angesichts
dieser Tatsache kann man nicht mehr von freien oder fairen Wahlen sprechen.
Durch die Einführung des so genannten Kontraktsystems, demzufolge Arbeitsplätze nur noch mit Einjahresverträgen vergeben werden, können und werden kritische oppositionelle Stimmen unter zusätzlichen Druck
gesetzt werden. Die Oppositionsparteien sind in den
Wahlkommissionen vollkommen unterrepräsentiert.
Schließlich müssen viele Weißrussen, beispielsweise die
Studenten, schon zu vorgezogenen Wahlterminen ihre
Stimme abgeben. Diese liegen außerhalb jeglicher Wahlbeobachtung und sind daher mit erheblichen zusätzlichen Manipulationsmöglichkeiten verbunden.
Unser Eindruck vor zehn Tagen war, dass sich ein
ganz finsteres Bild ergibt. Aber wenn man mit den aufrechten, mutigen Demokraten in Belarus zusammentrifft, dann weiß man, dass Hoffnung besteht und dass
wir dieses Land in der Mitte unseres Kontinents nicht allein lassen dürfen. Insoweit sind wir uns alle im Parlament einig. Darüber freue ich mich. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass sich diese Einigkeit in einem
gemeinsamen Antrag ausgedrückt hätte. Das wäre die
richtige Antwort an Lukaschenko gewesen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die
Grünen, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/3811 mit dem Titel „Belarus vor den
Parlamentswahlen und dem Referendum“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Tagesordnungspunkt 16 b: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3802
mit dem Titel „Belarus vor den Parlamentswahlen
2004“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalition abgelehnt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang
Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Für eine demokratische und freie Präsidentenwahl 2004 in der Ukraine
- Drucksache 15/3799 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 12
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
13 Jahre sind seit der Unabhängigkeit der Ukraine vergangen. Man kann mit Recht sagen, dass es in all diesen
Jahren eine positive Entwicklung gegeben hat und dass
die Bilanz im Großen und Ganzen durchaus hoffnungsvoll stimmt.
Es wurde manches erreicht: Es bestehen stabile staatliche Strukturen und auch die wirtschaftliche Entwicklung ist gut; das merken wir in Deutschland an den verstärkten Handelsbeziehungen. Besonders unter der
Amtszeit des Ministerpräsidenten Juschtschenko sind
Wirtschaftsreformen erfolgreich durchgeführt worden.
Er hat sehr engagiert der Korruption den Kampf angesagt. Leider sind nach ihm diese Reformen ins Stocken
geraten.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sind die Ende
Oktober anstehenden Präsidentschaftswahlen besonders
wichtig. Es gibt zwei aussichtsreiche Kandidaten, nämlich Juschtschenko und der derzeitige Ministerpräsident
Janukowitsch, der Kandidat, der von dem jetzigen Präsidenten Kutschma favorisiert wird. Schon jetzt zeigt sich:
Es wird mit Sicherheit eine spannende Wahl. Derzeit
liegt Juschtschenko noch deutlich vor Janukowitsch. Ich
denke, dass viele Ukrainer seine Amtszeit als Ministerpräsident noch in guter Erinnerung haben. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass der derzeitige Ministerpräsident einen Amtsbonus mitbringt und in seinem
Regierungshandeln durch die eine oder andere politische
Maßnahme natürlich für gute Stimmung sorgen kann.
Positiv sehe ich, dass wir in der Ukraine Alternativen
haben. Das heißt, wir haben eine starke Opposition, die
auch Gewicht hat. Ich denke, das ist ein Zeichen dafür,
dass sich eine demokratische Gesellschaft entwickelt.
({0})
Umso entscheidender ist es nun, dass auch die Wahlen demokratisch sind. Das heißt, dass sie fair und frei
sind. Es gibt leider Anzeichen, die einen zumindest
skeptisch machen müssen. Schon 1999, bei den vorherigen Präsidentschaftswahlen, mussten Wahlbeobachter
auf deutliche Mängel hinweisen. Auch die Bürgermeisterwahl im Ort Mukachewo am 18. April dieses Jahres,
die als eine Art Testwahl angesehen worden ist, wies
Unstimmigkeiten und administrative Probleme auf.
Diese äußerten sich beispielsweise in dem Diebstahl der
Dokumente mit den Auszählungsergebnissen und Protokollen der Wahlkommission. Da sind also nicht irgendwelche Dinge passiert.
Der Wahlvorgang als solcher ist die eine Sache. Aber
auch hier gilt, was wir schon zu Belarus gesagt haben:
Das Vorfeld der Wahl ist die andere Sache. Auch da gilt
es, Fairness zu bewahren und Chancengleichheit herClaudia Nolte
zustellen. Auch hier müssen wir leider feststellen, dass
dies in der öffentlichen Wahrnehmung so nicht gegeben
ist. Wir haben eine reichhaltige Berichterstattung über
den Ministerpräsidenten; Juschtschenko kommt in den
Medien kaum vor - und wenn, dann eher negativ. Das
heißt, er wird in der Möglichkeit, für sich selber Wahlkampf zu machen, sehr beschnitten.
Nun begrüßen wir es sehr, dass auch die Ukraine
Wahlbeobachter der OSZE eingeladen hat und schon
jetzt Beobachter vor Ort sind, was aus besagten Gründen, wegen des Vorfeldes der Wahl, sehr wichtig ist. Es
werden circa 650 OSZE-Wahlbeobachter da sein und damit eine sehr hohe Präsenz sicherstellen. Das halte ich
für eine sehr wichtige Maßnahme und eine gute Entwicklung.
Ich finde es aber auch wichtig, dass die Wahlkommissionen, die die Verantwortung für die Stimmauszählung tragen, gleichermaßen demokratisch zusammengesetzt sind und ihrer Verantwortung gerecht werden
können. Es ist zwar derzeit möglich, dass auch die Opposition Vertreter entsenden kann. Aber die Frage ist natürlich, in welcher Stärke sie präsent sein werden und
welche Widerspruchsmöglichkeiten sie haben.
Derzeit befindet sich überdies ein Entwurf zur Änderung des Wahlgesetzes im Parlament, in dem vorgesehen ist, dass sich auch NGOs an den Wahlkommissionen
beteiligen können, was ja eine Chance dafür wäre, dass
auch im NGO-Bereich existierende demokratische
Gruppierungen an der Wahlauszählung teilnehmen. Wir
ermuntern das ukrainische Parlament, diese Reform
noch vor der Wahl in Kraft treten zu lassen, damit sie
Wirkung entfalten kann.
({1})
Ich persönlich finde es bedauerlich, dass wir in Bezug
auf die Ukraine solche Probleme erleben und darüber
sprechen müssen. Die Ukraine ist ein Land, dem wir uns
sehr verbunden fühlen, das sehr europäisch ist und gleichermaßen zu unseren Nachbarn gehört. Ich frage mich
ein Stück weit, wo unsere Verantwortung dabei liegt.
Wir konnten erleben, dass in den Ländern, die eine klare
europäische Perspektive erhalten haben, sehr große
Kräfte für demokratische Reformen freigesetzt worden
sind und sehr viel bewegt worden ist.
Ist nicht vielleicht eine Ursache für die Wankelmütigkeit in der politischen Ausrichtung und im klaren Bekenntnis zur Demokratie, dass diese klaren Perspektiven
für die Ukraine nicht vorhanden waren und die Angebote, die gemacht worden sind, für die Ukraine letztendlich nicht sehr überzeugend waren? Ich denke an das
Nachbarschaftskonzept, das recht spät entwickelt worden ist und das in den Augen der Ukraine bedeutet hat:
Man setzt sie mit Ländern gleich, für die eine europäische Perspektive ganz klar ausgeschlossen ist. Man hat
in der Ukraine das Gefühl, dass keine angemessene Bewertung der Ukraine vorgenommen worden ist.
Ich glaube schon, dass Europa mehr Anreize zur Stabilisierung der Demokratie in der Ukraine geben kann.
Ich hoffe, dass wir diesen Punkt im Ausschuss intensiver
betrachten und ihm mehr Aufmerksamkeit schenken
können. Vielleicht - das ist ja noch möglich - können
wir uns im Ausschuss auf einen gemeinsamen Antrag
verständigen. Ich würde das sehr begrüßend; denn ich
glaube, dass wir alle wollen, dass die Wahlen frei, fair
und demokratisch sind.
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Jelena Hoffmann sowie die Kollegen
Harald Leibrecht und Rainder Steenblock haben ihre Re-
den zu Protokoll geben.1)
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor eini-
gen Jahren hatte ich die Möglichkeit, an einer Veranstal-
tung der NATO im Rahmen des Programms „Partner-
schaft für den Frieden“ teilzunehmen. Bei einer
Diskussionsveranstaltung waren neben den Parlamenta-
riern und den Botschaftern der Staaten bei der NATO in
Brüssel auch Militärs, zum Beispiel aus Russland, aus
Kasachstan und aus Aserbaidschan, anwesend. Während
der Diskussion stand ein russischer General auf und
fragte, ob man denn nicht sehen würde, dass mit der EU-
Osterweiterung und mit der vorangegangenen NATO-
Osterweiterung die NATO und die EU in Richtung Osten
und damit in Richtung Russland vorrückten und es da-
durch zu einer Bedrohung Russlands käme. Es war span-
nend zu sehen, wer auf diese Frage antworten wollte. Ein
polnischer General stand auf und sagte: Nicht die NATO
und nicht die EU rücken nach Osten, sondern Europa
findet seine Mitte wieder.
Was für ein Bild, meine lieben Freunde! Europa fin-
det seine Mitte wieder, und zwar in einem Prozess, den
wir gemeinsam seit 15 Jahren in Europa und auch in
Deutschland beobachten können und der zu vielen und
sehr guten Ergebnissen geführt hat, wenn auch manches
anders wünschenswert und vorstellbar gewesen wäre.
Wir haben sicher kein Problem, zu dieser geistigen
Mitte in Europa Polen, Ungarn und die baltischen Staa-
ten zu zählen. Wir tun uns schon etwas schwerer, wenn
es um die Ukraine geht. Ich glaube, wir haben die
Ukraine betreffend von Europa und von Deutschland aus
ein Wahrnehmungsproblem. Wenn wir nach Osten
schauen, sehen wir Polen und das große Russland. Das
mag vielerlei Gründe haben: geschichtliche Ursachen,
wirtschaftliche Gründe und auch energiepolitische
Gründe. Dass aber zwischen diesen beiden Ländern die
Ukraine liegt, einer der flächenmäßig größten Staaten
Europas mit 48 Millionen Einwohnern und mit einer be-
merkenswerten Geschichte, sehen wir kaum.
1) Anlage 13
Das Magdeburger Stadtrecht war im Mittelalter in den
ukrainischen Städten die Kommunalverfassung. Das
ukrainische Herrscherhaus, die Kiewer Rus, war mit fast
allen europäischen Herrscherfamilien verbunden und
verheiratet. Nach der Eroberung Konstantinopels durch
die Türken 1453 war der Schwerpunkt der christlichen
Orthodoxie die Ukraine. Nun treten wir dem Gedanken
einer möglichen Erweiterung der EU in Richtung Türkei
viel näher, als uns gedanklich mit der Ukraine zu beschäftigen. Ich glaube, wir müssen unseren Blick auf die
Ukraine schärfen.
({0})
Es ist aber nicht nur diese Seite Europas, die sich ein
wenig in ihrer Darstellung ändern muss. Auch die
Ukraine muss bemüht sein, positive Signale in Richtung
Europa zu senden. Vieles, was uns an Informationen, an
Zeitungs- und Fernsehberichten erreicht - Frau Kollegin
Nolte hat darauf hingewiesen -, ist ziemlich negativen
Charakters, insbesondere was die politische Entwicklung betrifft. Frau Kollegin Nolte hat die Entwicklung
bei den Wahlen in Mukachewo angesprochen. Man
könnte auch die Behinderung der Oppositionsarbeit des
Wahlbündnisses „Nasha Ukraina“ nennen, das Anfang
dieses Jahres in Donezk, im Zentrum der Schwermetallindustrie und damit auch des russischen Einflusses, versucht hat, eine Parteiveranstaltung durchzuführen; sie
würde massiv gestört.
Vielerlei Dinge haben wir aus der Sicht unserer ziemlich eingespielten Demokratie an der Ukraine auszusetzen. Aber es sei auf Folgendes hingewiesen: Wir haben
es hier mit einer Präsidentschaftswahl zu tun, bei der
mehrere Kandidaten antreten, nicht wie bei der Wahl
in Russland, bei der auf dem Stimmzettel nur ein Kandidat stand. Zwei von diesen Kandidaten haben berechtigte Aussichten, in eine Stichwahl zu kommen. Es wird
spannend sein, wer gewinnt.
({1})
- Sie sagen: hoffentlich Juschtschenko. Aber der Ausgang der Wahl ist ziemlich offen.
Wir werden mit dem dann gewählten Präsidenten zusammenarbeiten müssen. Mit dem einen wird es uns etwas leichter fallen, mit dem anderen tut man sich vielleicht etwas schwerer. Wenn von dem dann gewählten
Präsidenten - vorausgesetzt die Wahlen sind frei, fair
und von der OSZE anerkannt - Signale in Richtung
Europa gesandt werden, sollten wir bereit sein, diese
Signale aufzunehmen und in einen fruchtbaren Dialog
mit einer demokratischen Ukraine einzutreten.
Ich freue mich auf die Beratungen zu diesem Antrag
und auf die Zusammenarbeit, die im Interesse Deutschlands und auch der Ukraine notwendig ist.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3799 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EG-Richtlinie über die Bewertung
und Bekämpfung von Umgebungslärm
- Drucksache 15/3782 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Die Kollegen Petra Bierwirth, SPD, Franz Obermeier,
CDU/CSU, Bundesminister Jürgen Trittin und Michael
Kauch, FDP, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/3782 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Oktober 2004,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Gästen auf
der Tribüne einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.