Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
({0})
Wir sind tief betroffen vom Tod unseres Kollegen
Hans Büttner, der am Samstag, dem 18. September
2004, einen Monat vor seinem 60. Geburtstag, verstarb.
Geboren am 18. Oktober 1944 in Ingolstadt, blieb er
seiner Heimat auch in seinem politischen Engagement
immer eng verbunden. Beständigkeit, Aufrichtigkeit und
Gerechtigkeitssinn: Diese Eigenschaften prägten seine
Arbeit als Parlamentarier und Gewerkschafter.
Als grundgütig und gerecht und als sehr menschlich
haben ihn alle empfunden, die mit ihm gearbeitet haben.
Zugleich setzte sich Hans Büttner seit mehr als
30 Jahren für die Interessen der Menschen in den Entwicklungsländern, für internationale Gerechtigkeit und
für ein gewaltloses Zusammenleben ein. Sein besonderes Engagement galt Afrika und insbesondere den Ländern des südlichen Afrikas, die er als Entwicklungsberater von 1978 bis 1982 auch persönlich kennen gelernt
hatte. Hans Büttner hat Afrika nicht nur intellektuell,
sondern auch mit dem Herzen verstanden.
Dem Deutschen Bundestag gehörte der Verstorbene
seit 1990 an. Auch hier hat er als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, als stellvertretender Vorsitzender und
als Sprecher des Unterausschusses Globalisierung und
Weltwirtschaft, als Vorsitzender der Parlamentariergruppe für das südliche Afrika und als Sprecher seiner
Fraktion wichtige Akzente für die Meinungsbildung des
Parlaments zur Entwicklungspolitik gesetzt. Als Mitglied
des Sportausschusses nahm er sich besonders der Förderung des Behindertensports und der Paralympics an.
Gleichgültig, ob sich Hans Büttner in Südafrika oder
in seinem Wahlkreis engagierte: Wichtig war ihm stets
die Nähe zu den Menschen und das Gespräch mit ihnen,
das er als wichtige Unterstützung und als Grundpfeiler
seiner Arbeit ansah. Das Wort Nein hat man von ihm nie
gehört. Er war immer für jeden da. Dieses unablässige
Bemühen um die Sorgen und Probleme von Mitmenschen hat Hans Büttner bisweilen angestrengt und an die
Grenzen des Machbaren stoßen lassen. Bedürftigen zu
helfen, ob in Botsuana oder in Bodenmais, war das Lebensmotto Hans Büttners. Er sprach nicht viel darüber, er
tat es.
Wir werden Hans Büttner in ehrender Erinnerung behalten. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Ehefrau und
seiner Familie.
Sie haben sich zu seinen Ehren erhoben. Ich danke Ihnen dafür.
Die Fraktion der FDP schlägt als Nachfolger für den
verstorbenen Kollegen Dr. Rexrodt den Kollegen
Hellmut Königshaus als stellvertretendes Mitglied im
Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft“ vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Hellmut
Königshaus als stellvertretendes Mitglied in das Kuratorium dieser Stiftung entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Positive Entwicklung
des Gewerbesteueraufkommens bei den Kommunen
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP zu den
Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen
auf Drucksache 15/3705: Äußerungen von Bundesminister
Schily zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Antrag auf Verbot der NPD
({1})
3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim
Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, HansChristian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei
Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ({3})
- Drucksache 15/3706 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Redetext
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({5}), Dirk Fischer ({6}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU: Radverkehr fördern - Fortschrittsbericht
vorlegen
- Drucksache 15/3708 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mandat für
Kabul und Kunduz/Faizabad trennen
- Drucksache 15/3712 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
4. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({9})
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Fleischhygienegesetzes und der Fleischhygiene-Verordnung
- Drucksache 15/2772 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
({11})
- Drucksache 15/3735 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Friedrich Ostendorff
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation vom 21. Mai 2003 zur Eindämmung
des Tabakgebrauchs ({12})
- Drucksache 15/3353 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Gesundheit und Soziale Sicherung ({14})
- Drucksache 15/3734 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/
CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
FDP: Für eine parlamentarische Dimension im System
der Vereinten Nationen
- Drucksache 15/3711 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Langfristig eine einheitliche Förderung der Selbständigkeit von Arbeitslosen
schaffen
- Drucksache 15/3707 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({15})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 11 - dabei geht es um den Schutz der kulturellen
Vielfalt - nach Tagesordnungspunkt 8 und Tagesordnungspunkt 13 bereits nach Tagesordnungspunkt 10 aufzurufen.
Des Weiteren sollen folgende Tagesordnungspunkte
abgesetzt werden: Tagesordnungspunkt 9, Tagesordnungspunkt 21 und Tagesordnungspunkt 24 b.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 102. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Otto Fricke, Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Privatisierung und
öffentlich-private Partnerschaften
- Drucksache 15/2601 überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({16})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Zu guter Letzt möchte ich dem Kollegen Hartmut
Schauerte, der am 13. September seinen 60. Geburtstag
beging, nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses übermitteln.
({17})
Auf der Tribüne hat soeben der Parlamentspräsident
al-Majali aus Jordanien mit seiner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie alle sehr, sehr herzlich.
({18})
Wir hoffen, dass Sie einen aufschlussreichen Eindruck
von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen können.
Für Ihren Aufenthalt heute hier in unserem Haus, für Ihr
weiteres parlamentarisches Wirken und auch für Ihr
Land wünschen wir Ihnen von Herzen alles Gute.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Arnold, Reinhold Robbe, Ulrike Merten, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried
Nachtwei, Volker Beck ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Durch Transformation die Bundeswehr zukunftsfähig gestalten
- Drucksachen 15/2656, 15/3125
Abgeordnete Rainer Arnold
Christian Schmidt ({0})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Günther Friedrich Nolting, Jürgen Koppelin,
Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen - Wehrpflicht aussetzen
- Drucksachen 15/2662, 15/3127 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Arnold
Christian Schmidt ({2})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Fraktion der CDU/
CSU
Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler einer verlässlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands
- Drucksachen 15/2388, 15/3126 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Arnold
Christian Schmidt ({4})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Birgit
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wehrpflicht aussetzen
- Drucksachen 15/1357, 15/2963 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Peter Bartels
Christian Schmidt ({6})
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Christian Schmidt ({8}), Ulrich Adam, ErnstReinhard Beck ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr
- Drucksachen 15/2824, 15/3263 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Kramer
Ernst-Reinhard Beck ({10})
Über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Wehrpflicht aussetzen“ werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn im Deutschen Bundestag Debatten über die Bundeswehr stattfinden, dann kann man ein bestimmtes
Ritual beobachten: Fast jeder Redner bringt irgendwann
seinen Dank und seinen Respekt für die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten zum Ausdruck. Danach geht es
aber meistens sehr schnell wieder in die Tiefebenen der
Tagespolitik. Diese Auseinandersetzung wird dann nicht
selten auf dem Rücken derer ausgetragen, denen man gerade seinen Dank ausgesprochen hat.
({0})
Ich möchte heute einen anderen Weg wählen. Ich
möchte meinen Dank und meinen Respekt nicht direkt,
sondern indirekt zum Ausdruck bringen, und zwar dadurch, dass ich auf einige Realitäten zu sprechen
komme. Dabei möchte ich ein Beispiel wählen.
Wenn wir von einer jungen Frau oder einem jungen
Mann hören, der oder die einen vollen Beruf ausübt, um
den Lebensunterhalt für sich selbst und vielleicht die eigene Familie zu verdienen, und daneben noch eine volle
Ausbildung oder ein volles Studium absolviert, dann
zollen wir ihm oder ihr häufig Respekt und Anerkennung. Manchmal haben wir auch Sorge, ob das nicht zu
einer Überforderung führt.
Wenn wir hier von Realitäten sprechen, so behaupte
ich: Exakt das ist schon seit langer Zeit die Realität in
der Bundeswehr. Dort üben viele Tausende von Frauen
und Männern in der Tat einen Full-Time-Job aus, seit
dem Jahr 1990 unter ständigen Umstrukturierungen und
seit dem Jahr 2000 auch in einem Prozess der vollen
Transformation, der geradezu verharmlosend Bundeswehrreform genannt wird. Nebenbei müssen sie sich
noch einem außerordentlich fordernden Lernprozess unterziehen, der mit einer kompletten Ausbildung oder einem kompletten Studium gleichzusetzen ist. Dabei wird
auch noch ein völliges Umstellen und Umdenken auf
neue Herausforderungen verlangt.
Während diese Transformation in diesem Umfang
stattfindet, haben wir eine Dauerhöchstbelastung der
Bundeswehr mit aktuell 7 180 Soldaten im Dienst von
schwierigen Auslandsmissionen zu verzeichnen, aber
auch - das dürfen wir nicht vergessen - mit ständig doppelt so vielen, die sich auf einen solchen Einsatz vorbereiten, und ebenso vielen, die einen solchen Einsatz hinter sich haben, ihn verarbeiten müssen, die Lehren
daraus zu ziehen haben und sich in der Regel auf eine
Wiederholung einer solchen Herausforderung einstellen
müssen.
Ich habe das Bild von einem voll Berufstätigen gebraucht, der neben seinem Beruf einen umfangreichen
Lernprozess in Form von Ausbildung oder Studium
durchmacht. Das Besondere bei der Bundeswehr ist,
dass es sich bei dieser Ausbildung auch noch um Neuland handelt. Was heißt das: Neuland? Ich meine damit
- lassen Sie mich das hier einmal offen sagen -, dass die
europäische Politik in den 90er-Jahren versagt hat, sodass es leider zu vier blutigen Kriegen auf europäischem
Boden in Südosteuropa gekommen ist. Je zweimal hat es
in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärische Interventionen gegeben. Die Akte der Terroristen in Afghanistan haben dann zu einer militärischen Intervention
an einem dritten Ort gezwungen. Im Ergebnis haben wir
seit 1995 in Bosnien-Herzegowina, seit 1999 im Kosovo
und seit dem Jahr 2002 in Afghanistan komplizierte, fordernde und schwierigste so genannte Nation-BuildingProzesse. Bei denen müssen mehr als 30 verschiedene
Nationen, internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, die NATO, die EU und die OSZE, internationale Finanzorganisationen und andere in einer völlig
neuen Form zusammenarbeiten und bei denen muss die
Bewältigung völlig neuer Aufgaben unter völlig neuen
Arbeitsformen erprobt werden. Das ist in der Tat Neuland.
In diese Situation haben wir die Bundeswehr praktisch zur Bewährung hineingeworfen, weil es nach solchen Interventionen eine nicht mehr abweisbare Verantwortung für uns gibt. Wir haben ihr gesagt: Ihr
übernehmt dort die Verantwortung für uns. Von eurem
Erfolg hängt das Ansehen der westlichen Welt, ja auch
unseres Landes ab - so ein bisschen nach dem Motto:
Wir wissen zwar nicht genau, wie Nation-Building-Prozesse ablaufen; aber wir werfen euch einmal in der Hoffnung ins kalte Wasser, dass ihr das Schwimmen schon
lernt. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist
es, was wir mit der Bundeswehr als politisch Verantwortliche machen. Wir tun das mit 1 150 Soldaten in
Bosnien-Herzegowina, mit über 1 300 im Kosovo und
mit circa 2 400 in Afghanistan und benutzen dabei solche flotten Abkürzungen wie SFOR, KFOR oder ISAF
und tun so, als ob wir genau wüssten, was das ist, während wir es in Wirklichkeit nicht wissen und auch gar
nicht wissen können.
Damit bin ich bei einem sehr aktuellen Thema, nämlich bei den Vorgängen um die außerordentlich tragischen Ereignisse am 17. und 18. März im Kosovo. Da
gab es Tote und Verletzte, Vertreibungen von Menschen,
brennende Häuser, Kirchen und Klöster. Objektiv war
das ein schwerwiegender Rückschlag bei einem dieser
außerordentlich komplizierten Nation-Building-Prozesse. Es hat Untersuchungen dazu gegeben. Sie haben ergeben, dass es bei diesem Rückschlag in der Kooperation und in der Kommunikation derjenigen, die Verantwortung vor Ort trugen, ebenso wie bei der Ausrüstung
Mängel gab und wahrscheinlich auch Fehler Einzelner
vorgekommen sind. Es hat umfangreiche Reaktionen des
Ministeriums und auch Maßnahmen zur Verbesserung
der Fähigkeiten vor Ort gegeben.
Der Bundesminister der Verteidigung Peter Struck
verfolgt bei diesen Vorgängen eine Position der uneingeschränkten Transparenz und Information des Deutschen
Bundestages.
({1})
Meine Fraktion unterstützt diese Politik der uneingeschränkten Information und Transparenz nachdrücklich.
Wir sind der Meinung, dass dies der richtige Weg ist.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt
mehrere Möglichkeiten. Natürlich kann das Parlament
sein Recht wahrnehmen und entsprechende Mittel einsetzen, um die Fehler Einzelner auszuleuchten und zu
schauen, ob sich daraus Folgen für die politische Verantwortungsebene ergeben. Man kann aber auch etwas anderes tun: Man kann die Fülle von Informationen, die
auf unseren Tischen liegen, als Chance nutzen, um einmal zu erfassen, wie die Situation bei den Nation-Building-Prozessen grundsätzlich ist und wo strukturelle
Verbesserungen notwendig sind. Man kann schauen, wo
eine bessere Abstimmung und eine bessere Kooperation
zu organisieren ist. Auch das wäre eine Möglichkeit, unserer politischen Mitverantwortung für diese außerordentlich schwierigen Aufträge gerecht zu werden und
anzuerkennen, unter welch schwierigen Umständen
- hinzu kommt der Stress durch die permanente Transformation der Bundeswehr - die Soldaten die schwierigen Aufgaben, die wir ihnen gegeben haben und die
Neuland bedeuten, erfüllen müssen.
Dieser ehrliche Umgang mit der Realität, der die Bundeswehr bei ihren Einsätzen begegnet, läge einmal außerhalb des formalen Dankes. In diesem ehrlichen Umgang mit der Realität wäre nach meiner Auffassung
mehr Respekt und Dank für die Soldaten enthalten als in
den üblichen formalen Dankesbekundungen. Deshalb
plädiere ich dafür.
({3})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen
und Bürger bleibt eine wichtige Aufgabe staatlicher
Sicherheitsvorsorge.
So steht es im Antrag der rot-grünen Regierungskoalition. Die Zielsetzung ist gut. Aber wie sagte schon
Cicero: „Epistula non erubescit“ - Papier ist geduldig. In
diesem Falle muss ich sagen: sehr geduldig.
({0})
Dieser Satz in Ihrem Antrag hat einen großen Fehler,
nämlich dass er offensichtlich nicht so gemeint sein
Dr. Karl A. Lamers ({1})
kann, wie er da steht. Es handelt sich um ein reines Lippenbekenntnis der rot-grünen Koalition. Denn faktisch
haben Sie die Landesverteidigung aus dem Aufgabenkatalog der Streitkräfte gestrichen, auch wenn die Verteidigungspolitischen Richtlinien anderes besagen - und
das in der heutigen Zeit, in der uns die Menschen zu
Recht fragen, wie sie vor Ort geschützt werden.
Wir fordern einen glaubhaften Schutz der Bürger vor
Bedrohungen aller Art, vor Bedrohungen von außen,
aber auch vor Bedrohungen durch Terroristen im Innern,
am Hindukusch ebenso wie in Heidelberg oder in Weinheim an der Bergstraße.
({2})
Deutschland braucht endlich ein verteidigungspolitisches Gesamtkonzept. Dazu gehört ein stringenter Plan
für den Einsatz deutscher Soldaten draußen in der Welt.
Wir führen zurzeit eine aktuelle Diskussion über den
Sinn und Zweck unseres Engagements auf dem Balkan,
speziell im Kosovo, und auch in Afghanistan. Damit Sie
mich richtig verstehen: Wir diskutieren nicht über das
Ob, sondern über das Wie unseres Engagements.
({3})
Wir sind es unseren Soldaten schuldig, dass wir klar
und deutlich Sinn und Ziel unserer Einsätze darlegen.
Der Wehrbeauftragte war vorgestern sehr nachdenklich.
Wir haben hier eine politische Bringschuld. Unsere Soldaten müssen zweifelsfrei wissen, was sie im Einsatz machen dürfen und was sie machen müssen. Was im März
im Kosovo geschehen ist, das darf es so nicht mehr geben.
Wenn die parlamentarischen Gremien jetzt daran gehen, diese Vorgänge zu erhellen, dann geschieht dies
zum Schutz unserer Soldaten.
({4})
Durch unsere Forderung nach Klarheit ihres Auftrags,
durch unsere Forderung nach einer besseren Vorbereitung und einer sachgerechteren Ausstattung stärken wir
ihnen den Rücken. Hier liegt vieles im Argen. Wir werden dies aufklären. Das ist unsere parlamentarische Verantwortung und Verpflichtung. Wir dürfen unsere Soldaten nicht im Stich lassen und wir werden dies auch nicht
tun.
({5})
Für die konkrete Durchführung und Einsatzgestaltung
tragen Sie, Herr Minister, die Verantwortung. Für den
Balkan und für Afghanistan gilt das Gleiche: Die Sinnhaftigkeit des Einsatzes ergibt sich aus der Einsehbarkeit
des Auftrags. Stabilität und Frieden werden wir auch in
Afghanistan nur erreichen, wenn die Weltgemeinschaft
dem Terror mit einem robusten Mandat die Stirn bietet
und nicht gleich beim ersten Schuss die Segel streicht.
Das Gleiche gilt für den Kampf gegen die Drogenbarone, vor deren Verbrechen wir nicht die Augen verschließen dürfen.
({6})
Herr Minister, ich frage Sie: Wie viele Soldaten brauchen Sie für den Einsatz in Kunduz und in Faizabad?
Wenn die bisherige Stärke nicht ausreicht, dann sollten
Sie dies heute dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit sagen. Dafür stehen Sie in der Verantwortung.
Deutschland braucht aber auch ein überzeugendes
Konzept zur Landesverteidigung. Richtig ist, dass die
Gefahr eines raumgreifenden, mit Panzern geführten
Krieges im Herzen Europas so nicht mehr gegeben ist.
Richtig ist aber auch, dass neue Bedrohungen und Risiken an seine Stelle getreten sind. Nach den Anschlägen
in New York und Washington und nicht zuletzt im März
dieses Jahres in Madrid kann keiner mehr sagen: Bei uns
kann so etwas nicht passieren.
Ich stelle Ihnen die Frage: Welche originäre Aufgabe
hat die Bundeswehr bei der Verteidigung unseres Landes
im Hinblick auf terroristische Bedrohungen? Offensichtlich keine bedeutende; denn ich lese nichts davon, dass
die Bundeswehr künftig im Innern die Rolle spielen darf,
die sie bei Auslandseinsätzen mit ihren spezifischen
Fähigkeiten und ihrer speziellen Ausrüstung längst
und selbstverständlich einnimmt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien sind nicht vom Kabinett beschlossen. Warum, Herr Minister?
Das heutige Bedrohungsszenario verlangt neue Antworten. Der Bürger hat das Recht, geschützt zu werden.
Ich meine, dies kann nur durch die Bündelung aller zur
Verfügung stehenden Kräfte und Ressourcen vor Ort geschehen.
Meine Damen und Herren, Verteidigung und Sicherheit haben ihren Preis. Verpflichtungen im Rahmen der
NATO, der EU und der UNO sind nicht zum Spartarif zu
haben. Ihr politischer Ansatz ist falsch. Sie fragen sich:
Was kann ich mit dem wenigen Geld, das ich zur Verfügung habe, machen? Die Frage muss aber ganz anders
lauten: Was brauche ich an finanziellen Mitteln und an
Ausrüstung, um dem Auftrag der Bundeswehr in einer
veränderten Welt mit neuen Risiken und Bedrohungen
gerecht zu werden? Das ist die richtige Frage.
({7})
Meine Antwort lautet: Wir brauchen viel mehr als die
23,9 Milliarden Euro, die Sie einplanen. Die Rechnung
der Bundesregierung kann nicht aufgehen: Auf der einen
Seite gibt es immer mehr Einsätze deutscher Soldaten
weltweit, immer mehr Verpflichtungen, immer mehr Zusagen in der Europäischen Union, in der NATO und in
großen Reden unseres Außenministers vor den Vereinten
Nationen.
({8})
Auf der anderen Seite hat die Bundeswehr immer weniger Geld zur Verfügung und gibt es immer weniger Soldaten, immer weniger Standorte und zu wenig moderne
Ausrüstung.
Als NATO-Parlamentarier bin ich es langsam leid,
mir insbesondere von unseren NATO-Bündnispartnern
Dr. Karl A. Lamers ({9})
anhören zu müssen, dass wir zu wenig in Zukunftstechnik investieren. Das berührt die Zusammenarbeit im
Bündnis und die Interoperabilität der Bündniskontingente. Deshalb meine Forderung: Der Modernisierungsstau in der Bundeswehr muss aufgelöst werden. Ich
fordere eine Technologieoffensive. Nur so ist unsere
Bundeswehr zukunftsfähig.
Deutschland braucht eine andere, eine bessere Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Innern und nach
außen. Das Gebot der Stunde heißt handeln. Dante
Alighieri hat es auf den Punkt gebracht: „Der eine wartet, bis die Zeit sich wandelt,
({10})
der andere packt sie kräftig an und handelt“, Herr
Schmidt.
({11})
Ich weiß: Wir können nicht alles tun; aber wir müssen
zumindest das tun, was wir können. Deutschland kann
mehr als das, was wir jetzt erleben. Aber dazu brauchen
wir eine andere Regierung. Dafür setze ich mich ein.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor gut einem halben Jahr, am 11. März, debattierten wir
zum ersten Mal die heute vorliegenden Anträge. Seitdem
hat sich in Sachen militärischer Sicherheitspolitik Einschneidendes getan:
Immer ernüchternder, ja katastrophaler sind die Resultate einer militärfixierten Art der Terrorismusbekämpfung. Wir sehen die katastrophalen Folgen im Irak.
Die März-Unruhen im Kosovo waren nicht nur ein
Gewaltausbruch ungeahnter Intensität und Organisiertheit. Sie offenbarten auch massive Defizite aufseiten von
KFOR und UNMIK.
Der bisher sehr breite Konsens bezüglich der gegenwärtigen Friedenseinsätze der Bundeswehr driftet offenkundig auseinander. In Zweifel gestellt werden zum Teil
ihre Notwendigkeit, ihre Wirksamkeit und ihre Verantwortbarkeit. Einige Beispiele: Der FDP-Fraktionsvorsitzende Gerhardt sprach in der „Frankfurter Rundschau“
von „wirklich schwachen Einsätzen“ in Kunduz und
Faizabad. Das ist offensichtlich ein Werturteil. - CDUKollege Börnsen warf ISAF und der Bundeswehr eine
Begünstigung des Drogenanbaus und -handels in Afghanistan vor und forderte den Abzug von ISAF insgesamt.
({0})
Demgegenüber betone ich sehr deutlich: Der Kosovowie auch der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr sind in
hohem, ja in höchstem Sicherheitsinteresse der internationalen Gemeinschaft, Europas und der Bundesrepublik.
({1})
Auch die Niederlage der internationalen Gemeinschaft vom März im Kosovo schmälert in keiner Weise
die jahrelangen Leistungen der dort eingesetzten Soldaten, Polizisten und Zivilexperten. Sie haben zumindest
ein Mindestmaß an Stabilität gewährleistet.
Schließlich bleibt auch die Philosophie der gegenwärtigen Friedenseinsätze richtig - trotz aller Defizite, die
es gegeben hat -: ihr Ziel der Gewalteindämmung, der
Stabilisierung und des Nation Building, ihre Legitimität
und Glaubwürdigkeit durch UN-Mandat und völkerrechtskonformes und verhältnismäßiges Auftreten, ihre
Multinationalität und ihre Multidimensionalität, also das
Zusammenwirken von militärischen, polizeilichen und
zivilen Säulen. Es geht nach dem März in keiner Weise
darum, dass in Zukunft von der Bundeswehr schneller
geschossen wird.
Ausdrücklich zu begrüßen ist, wie schnell Bundeswehr und NATO Konsequenzen aus den März-Unruhen
gezogen haben. Zugleich wird deutlich, dass die Transformation der Bundeswehr notwendiger denn je ist: Die
eine Seite ist die neue Differenzierung der Streitkräfte,
der Aufbau von Aufklärungs- und Führungsfähigkeit,
von Mobilität über große Distanz, die entsprechende
Umrüstung. Die andere Seite - über diese wird viel zu
wenig gesprochen - ist, dass sich mit dem veränderten
Auftrag die Dienst- und Einsatzmotivation und das Fähigkeitsprofil der Soldaten grundlegend gewandelt haben. Gefordert ist technische und soziale Kompetenz.
Gefordert sind die Bereitschaft und die Fähigkeit, gegebenenfalls zu schießen, zum militärischen Kampf, zugleich aber die Fähigkeit zur Kommunikation, zur Kooperation, interkulturelle Kompetenz - und das nicht nur
beim höheren Führungspersonal mit Silber oder Gold
auf den Schulterklappen, sondern auch bei den Unteroffizieren, beim Unterführerkorps. Diese Anforderung
ist enorm gewachsen. Es wird heutzutage eine Breite an
Verhaltenssicherheit gefordert, und zwar auch von den
einfachen Soldaten, wie man sich dies früher nicht vorstellen konnte.
Grundlegend verschoben hat sich auch der Kern der
Einsatzmotivation: weg von der Abwehr existenzieller
sichtbarer Bedrohungen, hin zum Einsatz gegen diffuse
Risiken für abstraktere Werte und Sicherheitsinteressen.
Mit dem Konzept des Staatsbürgers in Uniform sind in
der Bundesrepublik Deutschland besonders gute Voraussetzungen für diesen Wandel gegeben. Eine Bundeswehr, die zur Krisenbewältigung im System der Vereinten Nationen beiträgt, braucht nicht weniger, sondern
mehr solcher Staatsbürger in Uniform.
Der Auftragswandel der letzten Jahre ging mit einem
schleichenden Ausstieg aus der Wehrpflicht einher. Die
zentrale Begründung und Legitimation der Wehrpflicht,
nämlich Instrument der Massenmobilisierung, der Massenrekrutierung angesichts einer potenziell existenziellen Bedrohung zu sein, ist inzwischen hinfällig geworden. Um Sicherheit der Bundesrepublik und der Partner
zu gewährleisten, ist sie nicht mehr zwingend notwendig. Damit aber ist auch der massive Grundrechtseingriff, der mit der Wehrpflicht einhergeht, nicht mehr zu
rechtfertigen.
({2})
Wehrpflicht muss, so das Bundesverfassungsgericht,
gleich belastende Pflicht sein. Davon kann immer weniger die Rede sein, wenn überhaupt nur noch ein Drittel
eines Jahrgangs - Tendenz fallend - den Wehrdienst leistet.
({3})
Deshalb treten die Grünen und erfreulicherweise inzwischen also auch die FDP
({4})
für den Ausstieg aus der Wehrpflicht und für den verantwortungsvollen Umbau in Richtung Freiwilligenarmee
ein.
({5})
Es ist bekannt und auch ganz normal, dass in dieser
Frage Dissens in der Koalition besteht, und zwar eben
nicht einfach nur zwischen Grünen und SPD, sondern
zum Teil auch innerhalb der Fraktionen. Das ist, wie
gesagt, etwas ganz Normales. Wir haben uns in der
Koalition eindeutig darauf verständigt, diesen Dissens
gemeinsam anzugehen. Wir haben vereinbart, die Überprüfung der Wehrform vor Ende der Legislaturperiode
vorzunehmen.
({6})
Wir halten uns an diesen gemeinsamen Fahrplan. Deshalb können wir heute dem FDP-Antrag zur Aussetzung
der Wehrpflicht nicht zustimmen, auch wenn wir die
Position teilen.
({7})
Aber ich sage Ihnen: Viel wichtiger als ein Abstimmungsbekenntnis ist das, wofür wir arbeiten. Da bleibt
das Engagement der Bündnisgrünen für die Überwindung der Wehrpflicht unzweifelhaft, beständig und sicherlich für manche in der Koalition auch nervig; aber
das nehmen wir alle bestimmt in Kauf.
({8})
Immer wieder wird behauptet, die Wehrpflicht garantiere die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft. Abgesehen davon, dass hier ein Generalverdacht
gegen Zeit- und Berufssoldaten mitschwingt, der jeder
Grundlage entbehrt, sollten wir uns nichts vormachen:
Die immer weniger Wehrpflichtigen sind mit dieser
Integrationsaufgabe und „Zivilisierungsaufgabe“ heillos
überfordert.
Nein, hauptverantwortlich für die Streitkräfte, ihre Integration in die Gesellschaft und den zurückhaltenden
Einsatz dieser Streitkräfte sind als Erstes wir - wir, das
gesamte Parlament und die Bundesregierung. Dafür verantwortlich die gesamte Gesellschaft sind die militärische Führung und die Realität der inneren Führung, das
sind die Baustellen, auf denen wir noch viel zu tun haben.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt der Herr Fraktionsvorsitzende der
FDP, Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt gar keinen Zweifel, dass die Wehrpflicht
eine große Konstituante in der Nachkriegsgeschichte der
Bundesrepublik Deutschland gewesen ist; darüber muss
man nicht streiten. Sie hat die Verankerung einer Armee
in einer Demokratie herausgebildet, sie hat die Prinzipien der inneren Führung beachtet, sie hat das Bild des
Staatsbürgers in Uniform geprägt. Ohne die Wehrpflicht
wäre eine solche demokratische Tradition zweifelsohne nicht zustande gekommen.
({0})
Deshalb gilt auch für uns, die wir heute den Antrag gestellt haben, Respekt vor denen, die anderer Meinung
sind als wir.
Nach Überzeugung der Bundestagsfraktion der FDP
war die Wehrpflicht in diesem Abschnitt der Geschichte
gesellschaftspolitisch überlegen; sie war auch sicherheitspolitisch geboten. Heute aber, nach dem Ende der
alten bipolaren Welt, ist sie keine überzeugende Antwort
mehr.
({1})
Denjenigen, die sie weiter vertreten, müssen wir einige
Fragen stellen: Wie begründen Sie die unglaubliche
Ressourcenbindung in der Bundeswehr? 10 000 Ausbilder bilden 30 000 Wehrpflichtige in neun Monaten
aus, die wir in den Einsätzen, die immer wichtiger geworden sind, gar nicht einsetzen können. Dieses Ressourcenpotenzial behindert eindeutig die Modernisierung der Bundeswehr.
({2})
Wer die Wehrpflicht beibehalten will, muss dazu eine
Budgetantwort geben. Wenn sie nicht gegeben wird,
kann man die Wehrpflicht nicht mehr begründen.
({3})
- Richtig. Dann darf ich aber ein zweites Argument in
die Reihen der SPD hineintragen - in ihr werden ja
durchaus mehr und mehr Stimmen kenntlich, die die
Wehrpflicht argumentativ nicht mehr halten können;
man spürt ja die Unsicherheit -:
({4})
Wahr ist - jeder kann große Zeugen der Zeit anführen -,
dass Wehrpflicht mit Wehrgerechtigkeit verbunden
sein muss. Darüber kann es keinen Zweifel geben.
({5})
Helmut Schmidt hat sie als „zwei Seiten einer Medaille“
bezeichnet. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog
hat in einer auch für Nichtjuristen verständlichen Sprache ein verfassungspolitisches Gebot benannt, nach dem
gegenüber jeder Generation bei Einschätzung der sicherheitspolitischen Lage die Wehrpflicht eigentlich neu begründet werden muss. Sie kann nicht beibehalten werden, nur weil sie da ist und einmal beschlossen worden
war; jede Generation hat Anspruch darauf, dass sie ihr
gegenüber unter dem Gesichtspunkt der Wehrgerechtigkeit neu begründet wird.
({6})
Wenn heute nur noch weniger als 40 Prozent der Wehrpflicht und dem Zivildienst nachkommen und zugleich
40 Prozent der jungen Generation - auch diejenigen, die
wehrdiensttauglich sind - nicht mehr zum Pflichtdienst
herangezogen werden, wie will man nur aus der gesellschaftspolitischen Überzeugung heraus, man sei für die
Wehrpflicht, dem Teil der jungen Generation, der eingezogen wird, begründen, dass ein anderer Teil nicht eingezogen wird? Gerecht ist dies nicht.
({7})
Dies kann dann auch nicht mehr sicherheitspolitisch
und gesellschaftspolitisch begründet werden. Es ist einfach wahr, dass eine Wehrpflicht nicht akzeptabel ist,
wenn sie nicht mehr mit Wehrgerechtigkeit verbunden
ist. Das ist die jetzige Situation. Darauf müssen auch diejenigen Rücksicht nehmen, die, wie ich, gesellschaftspolitisch lange für die Wehrpflicht eintraten und, wenn
sie mit Wehrgerechtigkeit verbunden wäre, ihr auch
heute immer noch den Vorzug gäben. Wir können es
aber aus Gründen der Gerechtigkeit nicht mehr vertreten.
Diese Fragen müssen Sie schon beantworten. Mein
Gespür ist, dass diejenigen, die die Wehrpflicht befürworten, schwächer in der Zahl und schwächer in ihren
Argumenten werden, wenn sie die Wehrpflicht vor jungen Menschen begründen sollen.
({8})
Wir haben eine 300 000 Mann starke Armee, die
haushaltsmäßig schwach finanziert ist und angesichts
der neuen internationalen Gegebenheiten und der weltpolitischen Unebenheiten an ihre Grenzen stößt. Die Armee ist vom Budget her nicht in ausreichendem Maße
modernisierungsbereit. In dieser Gestalt der Wehrstruktur vergeuden wir ohne Ende Ressourcen.
({9})
Natürlich sind die Soldatinnen und Soldaten, die wir
in internationale Einsätze schicken, leistungsfähig. Sie
geben eine eminent gute Visitenkarte für die Bundesrepublik Deutschland ab. Aber dabei kann es bei der Bewertung, mit welcher Wehrstruktur wir in die Zukunft
gehen, nicht bleiben. Viele Beobachter sagen, in
Deutschland müsse alles immer bis zur Neige durchlebt
werden, bevor hier Entscheidungen fallen. In Kenntnis
dieser Sachlagen wäre es nun an der Zeit, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir sollten nun eine Entscheidung
treffen und den Bündnispartnern sowie der Bundeswehr
selbst sagen, mit welcher Strukturform die Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland und mit den Bündnispartnern zusammen auch die Sicherheit vieler Menschen auf
dieser Welt in Zukunft garantiert werden kann.
Herr Nachtwei, ich kenne Koalitionen. Aber ich weiß
auch, wie die gesellschaftliche und die politische Wirklichkeit aussieht. Sie können nicht dauernd zuwarten, bis
sich vielleicht auch noch die SPD entschließt, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, was die Wehrgerechtigkeit und die Strukturreform betrifft. Denn wir reden über
Tausende von Soldatinnen und Soldaten und über die zukünftige Generation von jungen Menschen, die dann aber auch nur zum Teil - zur Wehrpflichtleistung herangezogen wurden. Sie müssen etwas couragierter sein.
Wenn es sich so verhält, dass die Wehrgerechtigkeit
nicht mehr garantiert werden kann, sind die Grünen aufgerufen, das in der namentlichen Abstimmung nachher
auch zu sagen.
({10})
Allein auf ein Gremium zu warten, das in dieser Legislaturperiode zu einer Art innerer Koalitionsstreitschlichter
werden könnte, das reicht mir nicht aus.
({11})
- Frau Sager, ich sage Ihnen nur eines voraus: Sie als
Grüne werden im Wahlkampf 2006 das fordern, was wir
heute hier zur Abstimmung stellen.
({12})
Diese Strategie ist nicht glaubwürdig.
({13})
Wenn man eine Überzeugung hat, dann sollte man
dieser Überzeugung auch Ausdruck verleihen.
({14})
Unser Antrag auf Aussetzung der Wehrpflicht ist
nach unserer Auffassung bei der gegenwärtigen Sicherheitslage geboten; er ist wegen des Gesichtspunkts der
Wehrgerechtigkeit verfassungspolitisch geradezu zwingend. Wir können jetzt das machen, wozu die Politik ja
immer aufgefordert wird, nämlich nach vorn zu blicken
und zu sagen, wie wir in den nächsten Jahren hinsichtlich der Strukturreform vorangehen wollen. Heute ist der
Zeitpunkt, zu dem wir dieses Signal geben sollten. Wir
beantragen deshalb, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir
wollen damit der Bundeswehr sagen, wie wir ihre Struktur in Zukunft sehen; wir wollen der jungen Generation
signalisieren, dass wir den Gedanken der Wehrgerechtigkeit ernst nehmen, und wir bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin den Fraktionen des Deutschen Bundestages sehr dankbar dafür, dass wir einmal in einer Kernzeitdebatte über die Bundeswehr reden können.
({0})
Ich sage das auch im Namen meiner Soldatinnen und
Soldaten, die in Auslandseinsätzen in schwierigen Missionen sind.
({1})
Ich will insbesondere auf einige Punkte, die von Oppositionsrednern in dieser Debatte vorgebracht wurden, eingehen.
Zunächst zu dem Thema Kosovo. Herr Kollege
Lamers hat das angesprochen. Dass es bei dem Einsatz
der Soldatinnen und Soldaten des KFOR-Kontingents
- das KFOR-Kontingent besteht aus 17 000 Soldatinnen
und Soldaten, nicht nur aus den 3 000 Bundeswehrangehörigen ({2})
Kommunikationsprobleme mit der UNMIK, der Polizei
der Vereinten Nationen, mit dem Kosovo Police Service,
der eigenen kosovoalbanischen Einrichtung, gegeben
hat, das ist unbestritten. Dass wir daraus Konsequenzen
gezogen haben, ist ebenfalls unbestritten. Wir sagen
dazu: Lessons learnt. Das gilt für die NATO-Ebene und
für die bundesdeutsche Ebene. Dass es manchen Soldatinnen und Soldaten nicht im Bewusstsein war, dass ein
Haus, das nicht von uns überwacht wurde, das so genannte Priesterseminar - das war eigentlich ein leer stehendes altes Gebäude, in dem sich teilweise auch
Obdachlose aufgehalten haben -, mit zu unserem Kontrollbereich gehörte, das ist ein Fehler, der passiert ist
und den wir aufklären werden. Ich persönlich mache
aber keinem einzigen unserer Soldatinnen und Soldaten
vor Ort den Vorwurf, dass er bewusst etwas falsch gemacht hat. Ich stelle mich vor die Soldatinnen und Soldaten und sage: Sie haben bei diesen Unruhen am
17. März Menschenleben gerettet. Das muss man hier
doch einmal betonen.
({3})
Wir werden das im Verteidigungsausschuss ordentlich
bereden; die Unterlagen dazu haben wir vorgelegt. Wir
haben intern eigene Unterlagen zusammenstellen lassen,
die die Grundlage für die Antworten auf die Fragen der
Kollegen insbesondere der Opposition bildeten. Man
muss im Verteidigungsausschuss beraten, wie man weiter damit umgeht. Ich habe gar keinen Zweifel daran,
dass auch der Verteidigungsausschuss zu dem Ergebnis
kommen wird: Die Konsequenzen, die gezogen worden
sind, sind die richtigen. Wenn man zusätzlich noch etwas
machen muss, dann machen wir es halt. Darauf haben
die Soldatinnen und Soldaten auch und gerade im
Kosovo einen Anspruch.
Ferner müssen wir auch über das Thema des Statuts
des Kosovo reden. Das haben wir hier schon mehrfach
angesprochen, Herr Kollege Stinner.
({4})
Ich will betonen, dass ich da keinen Gegensatz zwischen
mir und dem Außenminister sehe. Die Fragen von Status
und Standard müssen zusammen behandelt werden;
denn ich frage mich: Wie lange sollen unsere Soldaten
zum Beispiel noch im Dorf Novake Häuser aufbauen
und die Menschen bewachen,
({5})
die sich nicht trauen, das Dorf zu verlassen? Wir kennen
dieses Thema; aber wir müssen es unter außenpolitischer
Perspektive gemeinsam mit dem Außenministerium intensiv beraten.
({6})
- Ja, ich weiß: im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss.
Ich will ganz kurz etwas zu Afghanistan sagen, weil
ich mich über Interviews, die Sie, Herr Kollege
Gerhardt, gegeben haben, geärgert habe.
({7})
In diesen Interviews haben Sie über Faizabad und
Kunduz gesprochen, obwohl Sie noch nie dort waren.
({8})
Wir haben Ihnen, Herr Gerhardt, angeboten, diese Orte
mit uns gemeinsam zu besuchen.
({9})
Würden Sie nach Kunduz fahren und mit den Menschen
in Afghanistan reden, würden Sie sehen, dass es richtig
ist, sich dort einzusetzen. Sehen Sie sich die Situation
vor Ort doch gefälligst einmal an!
({10})
Sie müssen nur einmal mit den kleinen Kindern oder
ihren Lehrerinnen reden, die zur Schule gehen können,
weil wir sie aufgebaut haben und schützen.
({11})
Ich halte es für falsch, einfach zu sagen: Dieses Mandat
bringt nichts; brechen wir unseren Einsatz also ab.
({12})
Am kommenden Wochenende werden wir Faizabad erneut besuchen. Auch ein Kollege von der FDP, Herr
Leibrecht, fährt mit. Ich hoffe, dass es Ihnen, Herr Kollege, danach gelingt, in Ihrer Fraktion mehr Sensibilität
für dieses Thema zu schaffen.
Was Afghanistan angeht, muss ich sagen: Die
Mission in Faizabad ist auch von der Union infrage gestellt worden.
({13})
Ich bin sehr dankbar für die Aussage des Kollegen
Schäuble, der in einem Interview gesagt hat, dass die
Union dieses Mandat natürlich unterstützt. Was ich auch
beklage, ist, dass die Beteiligung noch nicht so groß ist
wie auf verschiedenen NATO-Gipfeln, zum Beispiel in
Istanbul, vereinbart.
({14})
Aber das heißt doch nicht, dass wir, weil sich die anderen nicht beteiligen, wieder nach Hause gehen sollten.
So kann man doch nicht arbeiten.
({15})
Das Wiederaufbauteam - wir nennen es PRT - in
Faizabad ist erforderlich. Dort arbeiten zehn bis zwölf
NGOs, also Hilfsorganisationen aus dem privaten Bereich, deren Verantwortliche sich darüber freuen, dass
wir dort sind. Wir werden uns ansehen, was dort gemacht wird. Darüber hinaus ist es gelungen - das will
ich auch noch sagen -, durchzusetzen, dass aus dem
Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung entsprechende Projekte in Faizabad finanziert werden. Dabei handelt es
sich um ähnliche Projekte, wie wir sie auch in Kunduz
durchgeführt haben. Deshalb rate ich dringend dazu, sich
die Situation vor Ort anzusehen und unseren Einsatz
nicht infrage zu stellen. Denn auch andere NATO-Staaten werden noch zusätzliche PRTs in Afghanistan installieren.
({16})
Die Niederlande sind in Pol-e-Khomri - das ist in der
Provinz Baghlan, also in unserer Nähe - vertreten.
({17})
Die Neuseeländer sind ebenso anwesend. Die Briten und
wir sind mit jeweils zwei PRTs vertreten. Außerdem sind
die Amerikaner dort, allerdings im Rahmen einer anderen Konstruktion.
({18})
- Nein, die Briten haben dort zwei ordentliche PRTs, die
unserem Konzept entsprechen. Es macht doch keinen
Sinn, nur auf die anderen zu warten. Man könnte zwar
sagen: Sollen die anderen doch machen; wir beteiligen
uns erst später. Aber so arbeiten wir nicht.
({19})
Das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland ist durch
die Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan uneingeschränkt hoch. Man kann nicht hoch genug einschätzen,
wie angesehen wir dort durch die Arbeit unserer Soldaten sind.
({20})
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den Kollege Lamers in seiner Rede angesprochen hat: Er hat
mehr Geld für die Bundeswehr gefordert.
({21})
Ich wäre froh, wenn ich mehr Geld für die Bundeswehr
zur Verfügung hätte. Aber Sie müssen auch einmal an
die Aussagen des ehemaligen Kanzlerkandidaten der
CDU/CSU, Herrn Stoiber, denken. Sie dürfen nicht so
tun, als gebe es ihn nicht. Denn er wollte den Bundeshaushalt um 5 Prozent kürzen. Das würde für meinen
Etat eine Kürzung um 1,2 Milliarden Euro bedeuten. So
kann man nicht arbeiten. Man kann nicht auf der einen
Seite mehr Geld für die Bundeswehr und auf der anderen
Seite Kürzungen des Haushalts fordern.
({22})
- Kollege Glos, sind Sie gerade aufgewacht? Bitte sprechen Sie lauter.
({23})
- Ach so, Herr Stoiber ist nicht mehr ernst zu nehmen,
oder was?
({24})
Michael Glos sagt also: Herr Stoiber ist ein Kinkerlitzchen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Seriosität zurückkehren und ohne Polemik Folgendes sagen:
Unser Haushalt hat ein Volumen von 24 Milliarden
Euro. Wenn ich unterwegs bin, sagen mir viele Soldatinnen und Soldaten: Herr Minister, ich kann Ihnen sagen,
wo wir noch Geld sparen können. - Das geht Ihnen
sicher auch so, wenn Sie mit Bundeswehrangehörigen
sprechen. Jeder sagt: Da können wir noch sparen. Wir
müssen unsere Bundeswehr tatsächlich umstellen. Wozu
brauchen wir 4 000 Leopard-Panzer noch? Die kosten
Geld, auch wenn sie nur in den Depots stehen. Wozu
brauchen wir so viele Flugzeuge? Wir haben 80 Tornados außer Dienst gestellt; im Rahmen der Auflösung
eines Marineflieger-Geschwaders. Die neuen Aufgaben,
die wir haben, sind doch gar nicht strittig. Ich bin froh,
dass die Union wenigstens teilweise bereit ist, den Weg
der Transformation, der Reform der Bundeswehr weiter
mitzugehen.
Worüber wir uns nur „streiten“, ist die Frage: Sorgen
wir für genügend Heimatschutz oder nicht? Nach der
Konzeption, die wir vorgelegt haben - es gibt Eingreifkräfte, es gibt Stabilisierungskräfte und es gibt Unterstützungskräfte -, stand niemals infrage, dass die rund
145 000 Unterstützungskräfte auch für den Heimatschutz zur Verfügung stehen werden. Wer wäre ich denn,
wenn ich sagen würde: Wenn wir angegriffen werden,
gibt es keine Verteidigung für unsere Heimat? - Es ist
doch absurd, anzunehmen, wir würden unser Land nicht
verteidigen wollen. Der Streit ist also nur theoretischer
Natur.
Praktisch auswirken könnte sich dieser Streit allerdings, wenn die Union ihr Konzept jetzt durchsetzen
könnte - wenn sie die Mehrheit dazu hätte -, sämtliche
Standorte aufrechtzuerhalten; ich habe das in ihren Anträgen gesehen. Ich weiß ja, dass jeder Abgeordnete sich
Sorgen um die Bundeswehrstandorte in seinem Wahlkreis macht. Aber wenn wir - das ist nun einmal so 110 Standorte zu viel haben, weil wir die Bundeswehr
verkleinern, müssen eben Standorte geschlossen werden;
es geht doch gar nicht anders. Es sei denn, wir bekommen mehr Geld, um Standorte aus strukturellen Gründen
aufrechtzuerhalten; das ist aber nicht meine Aufgabe.
Herr Kollege Lamers hat vorhin gesagt: Sie, Herr
Minister, müssen handeln. - Das hat mir noch nie jemand vorgeworfen: dass ich nicht handle. Dafür bin ich
nicht bekannt - ich handle durchaus, auch kräftig und
energisch.
({25})
Ich will jetzt noch einmal zu den internationalen
Verpflichtungen kommen: Zu der schnellen Eingreiftruppe der NATO, der NATO Response Force, haben wir
Anmeldungen vorgenommen. Im Jahre 2005, also im
nächsten Jahr, werden auch die ersten Heereseinheiten
dabei sein. Unsere diesbezüglichen internationalen Verpflichtungen können wir auch einhalten. Dann gibt es
die Eingreiftruppe der Europäischen Union. Auch dafür
sind die Einheiten benannt und vorbereitet. Was wir jetzt
am vergangenen Wochenende in Nordwijk beschlossen
haben, sind die so genannten EU-Battlegroups - darüber
werden wir sicherlich im Verteidigungsausschuss noch
ausführlich diskutieren -, sozusagen die schnelle Eingreiftruppe in kleinerer Zusammensetzung verschiedener NATO-Staaten. Wir bilden mit den Holländern eine
Battlegroup - dazu habe ich mich vertraglich verpflichtet - und mit den Franzosen, die deutsch-französische
Brigade. Andere Staaten tun das auch. Die Konzeption
ist also folgende: Wenn ein Konflikt in Europa oder außerhalb von Europa auftritt, dann wollen wir schnell eine
solche Battlegroup einsetzen. Deutschland wird dazu
seinen Beitrag leisten und wir können diesen Beitrag
auch leisten.
Zur Wehrpflicht will ich nur sagen: Sie haben sich
lange darüber ausgelassen, Herr Kollege Gerhardt.
Meine Position kennen Sie. Die Position der SPD kennen Sie auch. Natürlich gibt es in ihr auch Stimmen, die
sagen: Brauchen wir so nicht mehr; einige, die diese
Meinung vertreten, sind hier im Saal anwesend. Die SPD
wird diese Frage, wie es üblich ist, in ihren Gremien beraten und dann eine Entscheidung treffen. Ich bin ganz
zuversichtlich, dass meine politische Position, bei der
Wehrpflicht zu bleiben, sich durchsetzen wird. Wenn
nicht, haben wir eine andere Situation; dann müssen wir
damit eben anders umgehen.
({26})
Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, was bedeutet, dass das gesamte Parlament auch die Verantwortung für die Bundeswehr hat, wenn sie in einer schwierigen Situation ist. Wir sind in Afghanistan - in Faizabad,
in Kunduz, in Kabul - in schwierigen Situationen, weil
dort Wahlen bevorstehen. Am 9. Oktober wird der Präsident gewählt; erster Wahlgang, es gibt 18 Bewerber.
Man muss mit Sicherheit davon ausgehen, dass es noch
einen zweiten Wahlgang geben wird, wahrscheinlich im
Dezember. Das bedeutet, die Gefahr von Anschlägen
durch Taliban wird noch lange Zeit permanent vorhanden sein. Wir haben unsere Soldaten so ausgestattet, dass
sie das haben, was sie brauchen; das sage ich auch in Bezug auf Faizabad und Kunduz. In Faizabad, wo zurzeit
nur 120 Soldaten stationiert sind, ist es auch nicht so einfach. Auch da müssen wir sie schützen und sehen, welches Gerät benötigt wird. Deshalb fahren wir ja jetzt
auch hin.
Sie werden im Kosovo bleiben. Sie müssen aber auch
mit dafür sorgen, dass die Albaner ihre politische Verantwortung wahrnehmen - auch dort wird es im Oktober
Wahlen geben -, um das zu erfüllen, wozu sie sich in
Dayton verpflichtet haben und was dort vereinbart
wurde.
Ich komme zum Schluss. Mein Freund Gernot Erler
hat ungefähr gesagt: Man dankt immer den Soldaten.
Danach wird oft darüber geredet, dass man die vergisst,
denen man vorher gedankt hat. - Ich sage aus voller
Überzeugung und aus ganzem Herzen: Ich habe großes
Vertrauen, dass meine 285 000 Soldatinnen und Soldaten
und die 115 000 Zivilbeschäftigten der Bundeswehr die
Aufgaben, die das Parlament ihnen auferlegt, gut
erfüllen können. Sie können sich an uns wenden, wenn
sie glauben, mit dem, was wir ihnen abverlangen, nicht
zurechtzukommen. Dafür sind der Generalinspekteur
und die Generale da, von denen ich annehme, dass sie
mir all das sagen, was sie denken, und dass sie mir nicht
nach dem Mund reden.
Herr Kollege Gerhardt, Herr Kollege Schmidt und als
Fraktionsvorsitzende Frau Kollegin Merkel und Franz
Müntefering, ich glaube, wenn wir das alles zusammennehmen, dann können wir alle gemeinsam sagen: Die
Bundeswehr macht einen guten Job und sie erfüllt das,
was wir von ihr verlangen, also den Auftrag, den wir ihr
geben. Sie mehrt das Ansehen unseres Landes in der
Welt. Deshalb sollten wir ihr außerordentlich dankbar
sein.
({27})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian
Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Debatte gibt tatsächlich Gelegenheit und
Anlass, den Soldaten, den Soldatinnen und auch den Zivilbediensteten zu danken. Kollege Erler, das ist keine
Formalie, die man gleich wieder vergisst. Man sollte
dies betonen: Menschen, die bis zum Einsatz ihres Lebens für den Auftrag unseres Landes stehen, verdienen
ein Dankeschön jenseits aller Dinge, die im Operativen
diskutiert werden müssen. Das empfangen und verstehen
die Menschen auch so. Das sollten Sie nicht klein reden
und auf die Seite stellen.
({0})
Wir sind doch auch hier, um den Einsatz möglichst
optimal zu gestalten. Es geht aber nicht nur darum. Natürlich möchten wir den Soldaten und Soldatinnen auch
sagen können, für was und warum sie diese Beschwerlichkeit auf sich nehmen müssen, die die Einsätze und
auch die Bereitschaft zu Hause in der Heimat mit sich
bringen. Es ist nicht klar, welche Rolle der Bundeskanzler - ich wiederhole die Frage: Wo ist er eigentlich bei
einer Debatte, bei der es insbesondere um die Menschen
bei der Bundeswehr, um die wir uns kümmern wollen,
geht? ({1})
und der Bundesaußenminister der Bundeswehr eigentlich zubilligen.
Herr Verteidigungsminister, was das Kosovo angeht,
so bin ich nicht der Meinung, dass der Außenminister
und Sie beim Thema „Standards vor Status“ die gleiche
Zielsetzung verfolgen. Das hört sich bei Ihnen beiden
nicht gleich an.
({2})
Ich habe eher den Eindruck, bei Ihnen ist es so wie seinerzeit beim Kaufhaussortiment des Moskauer Kaufhauses GUM: „Gemeinschaft Unabhängiger Minister“, der
eine sagt dies, der andere das. Das und nicht irgendeine
Kritik an der Ausübung ihres Dienstes beschwert die
Soldaten.
Es bedarf eines Weißbuches, in dem verbindlich festgeschrieben wird, wozu die Bundeswehr dienen soll.
Dann erst können sich Opposition und Regierung auseinander setzen. Das wird sicherlich streitig sein, aber
gegenwärtig weiß ich gar nicht so recht, mit wem in der
Regierung ich mich eigentlich auseinander setzen soll,
weil ich für jede Meinung einen Vertreter finde. Hier ist
der Bundeskanzler gefragt.
({3})
Es genügt nicht, dass er, wie gestern in einer Rede,
schnell etwas zu den Auslandseinsätzen sagt. Ich habe
eher das Gefühl, dass hier nach dem Motto Quodlibet
eingekauft wird: Wenn es wieder so weit ist, dann sagen
wir einen Einsatz zu, sofern uns gerade danach ist. - Das
ist keine Linie. Eine solche muss die Bundeswehr aber
bekommen.
({4})
Das ist das große Defizit dieser Bundesregierung. Sie
haben es in sechs Jahren nicht geschafft, das zu ändern.
Die Halbzeitbilanz in dieser Legislaturperiode weist deshalb einen ganz großen Fehlposten in diesem Bereich
auf. Einer Diskussion darüber können Sie nicht ausweichen. Diese Diskussion werden wir führen, und zwar
streitig.
({5})
Geändert hat sich bei der Frage, wo unsere Sicherheit
verteidigt werden muss, die Tatsache, dass die Sicherheit
unseres Landes nicht mehr an den Landesgrenzen verteidigt werden muss, sondern dass Gefahren wie der Terror
auch anderswo in der Welt bekämpft werden müssen.
Geblieben sind aber die Gefahren bei uns zu Hause, weil
Terrorgruppen oder bewaffnete Insurgenten auch hier
zuschlagen können. Verteidigung dagegen ist schwer,
aber nicht unmöglich. Eine schnelle, flexible Reaktion
einerseits und eine landesweit vernetzte Sicherheitsstruktur andererseits müssen gestaltet werden.
Sicherheit im eigenen Lande kommt nicht von selbst,
darum muss man sich kümmern. Es ist deswegen falsch,
die Strukturen der bisherigen Territorialverteidigung auf
das Niveau von Feierabendtreffs zu reduzieren. Die Verteidigungsbezirkskommandos darf man nicht komplett
abschaffen, wenn man Vorsorge für zivil-militärische
Zusammenarbeit bei Großschadenslagen und Bedrohungen von außen treffen will.
({6})
Gerade hier hat sich das Regionalprinzip bewährt. Man
müsste diese Kommandos vielmehr zu Regionalbasen
Heimatverteidigung ausbauen und darf sie nicht auf
eine bloße Funktion für hierfür nicht ausgerüstete oder
Christian Schmidt ({7})
ausgebildete Restposten derer, die gerade zu Hause sind,
reduzieren.
Dass Sie, Herr Verteidigungsminister, hier einen
Schnitt machen, indem Sie das Messer am gesunden
Körper ansetzen, ist falsch. Es kann nur mit dem Versuch, auf Kosten der Auftragserfüllung zu sparen, erklärt
werden, dass eine der eigentlich zukunftsträchtigen
Strukturen der Bundeswehr zerstört wird. Zudem werden
dann noch die Reservisten als Landsturm der Vergangenheit karikiert, obwohl wir sie als flexible Aufwuchskräfte für solche Aufgaben brauchen.
({8})
Das ist auch nicht mit dem Ausbruchsversuch zu beantworten: Wir haben kein Geld, daran ist auch trotz eurer Aufforderung nichts zu ändern. - Das Thema der
Haushaltskonsolidierung ist eine Sache. Das Thema,
Schwerpunkte zu setzen und mit den Mitteln in einer Situation, die Sie mit Ihren Haushalten selbst verschuldet
haben, klug umzugehen, ist eine andere Sache. Es geht
darum, die Triebe, die langsam wieder sprießen, nicht
abzuschneiden. Hier findet gerade eine völlig falsche
Entscheidung statt. Noch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministeriums liest
man manches Zustimmenswerte zum Thema eines nationalen Gesamtsicherheitskonzeptes. Leider ist in der Praxis der Auftrag Heimatschutz unter die Räder geraten.
Im Übrigen hängt dieses Thema eng mit der Zukunft
der Wehrpflicht zusammen. Für Auslandseinsätze sind
freiwillig länger dienende Wehrpflichtige ein wichtiges
Element. Allein damit wird man aber die Wehrpflicht
nicht begründen können. Es bedarf einer klaren Zuordnung von Aufgaben in einer gemischten Armee von Berufs- und Zeitsoldaten einerseits und Wehrpflichtigen
mit beruflicher Erfahrung und Kenntnissen andererseits.
Das relativiert allerdings, Kollege Gerhardt, Ihren Hinweis auf die Ausbildungsnotwendigkeit. Auch der spätere Berufssoldat kommt als Unausgebildeter zur Bundeswehr und bedarf der Ausbildung und Betreuung. Wir
haben bereits jetzt ein gemischtes System von Berufsund Zeitsoldaten sowie Wehrpflichtigen. Wir können
schließlich nicht eine eigene Teilstreitkraft Wehrpflichtige bilden. Das wäre in der Tat das Ende der Legitimation der Bundeswehr.
({9})
- Wenn Sie sich die Zahlen und die wirklichen, nicht die
politisch gefühlten Ergebnisse in den Ländern, die die
Wehrpflicht gerade abschaffen oder abgeschafft haben,
im Hinblick auf ihre Etatbelastung ansehen, dann werden Sie feststellen, dass mehr investiert werden muss.
Das hat nicht nur mit der Nachwuchsgewinnung zu tun,
sondern auch damit, dass die Attraktivität noch stärker
erhöht werden muss. Deswegen geht diese Rechnung
nicht auf.
Aber nicht nur die gefühlte Sicherheit unserer Mitbürger, sondern auch die reale Sicherheitslage unseres Landes gibt guten Grund, von unseren jungen Männern einen Beitrag zur Verteidigungsleistung zu erbitten, wenn
die Wehrpflicht als eine sicherheitspolitische Dienstleistung an uns allen verstanden wird und die Gebote der
Wehr- und Dienstgerechtigkeit in ausreichendem Maße
eingehalten werden.
Ich stimme den Worten Roman Herzogs, den Sie zitiert haben, völlig zu, dass man die Wehrpflicht als
scharfen Eingriff in die persönliche Freiheit jedes einzelnen Staatsbürgers nicht unter Verweis auf die Zeit von
vor 30 oder 40 Jahren legitimieren kann, sondern dass
sie mit den Veränderungen begründet werden muss. Ich
bin überzeugt davon, dass sie sich auch heute durch die
veränderten Strukturen und Aufgaben begründen lässt.
Nur wenn das stattfindet, lässt sich die Wehrpflicht guten
Gewissens weiter politisch vertreten. Dann wird man in
Diskussionen mit jungen Menschen bestehen können.
Darüber werden wir streiten.
Aber eines ist - das will ich unterstreichen - notwendig, nämlich die Ausschöpfung des Verfassungsrahmens des Art. 12 a des Grundgesetzes, der, wenn
man ihn genau liest, den Zivilschutz einbezieht. Es gibt
vielleicht ideologische Hemmnisse bei der jetzigen Regierung, weil sie angesichts der asymmetrischen Bedrohung Probleme hat, eventuell notwendige Gesetzes- und
Verfassungsänderungen zu vollziehen. Aber es findet
sich da eine überzeugende Begründung für unsere Mitbürger für eine mittelfristige Notwendigkeit der Wehrpflicht. Das Problem ist, dass wir zwar nicht eine
Betrachtung aus der Vergangenheit, aber auch keine Augenblicksbetrachtung machen können. Wehrpflicht kann
man nicht ein- und ausschalten wie eine Glühlampe. Wer
sie aussetzen will, kappt eine sicherheitspolitische Option, die uns nach meiner festen Überzeugung in den
nächsten Jahren fehlen wird. Deswegen werden wir seitens der CDU/CSU gegen die Anträge der FDP stimmen,
die keine Perspektive bieten, sondern die Weichen in
eine falsche Richtung stellen.
In einem Punkt aber stimme ich Ihnen, Herr Kollege
Gerhardt, in diesem Zusammenhang zu. Die Volte, die
die Grünen vollführen, ist schon beachtenswert. Dagegen sind unsere Begründungen für unsere Ablehnung
schlüssig und überzeugend. Man sollte sich an der Union
orientieren.
({10})
Eines muss der SPD klar sein: Wer nicht einmal in der
Lage ist, die sowieso bedürftige Einbindung der Wehrpflicht von heute in das Zahlenwerk der neuen Bundeswehrkonzeption vorzunehmen, der wird nicht durchhalten. Die Konzeption, die der Generalinspekteur
entwickelt hat, hat einige durchaus interessante Ansätze,
und zwar im Bereich der Neugliederung der Truppe in
Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte.
Wer aber schon jetzt mangels Mittel höchstens 80 Prozent der eigentlich vorgesehenen Wehrpflichtigenstellen
besetzt, der fährt in den roten Bereich. Was soll eigentlich ein Bundeswehrplan, der schon jetzt nicht durchgehalten werden kann? Nicht die Verwendungsmöglichkeit
der Wehrpflichtigen, sondern die Nutzung dieser Möglichkeit ist das große gefährliche Fehl in der jetzigen
Christian Schmidt ({11})
Regierungspolitik. Wir sind bereit, im konstruktiven Gespräch über die Wehrpflicht zu bleiben. Vorher erwarten
wir von Rot-Grün dazu aber ein faktisch ehrliches und
kein politisches Lippenbekenntnis. Wir werden hierüber
diskutieren und streiten müssen.
({12})
Transformation ist ein schöner Begriff. Reform sagt
man nicht mehr, weil Transformation so schön klingt,
dass jeder den Begriff in den Mund nimmt, obwohl keiner weiß, was damit gemeint ist. Der Verteidigungsminister hat Standortschließungen angesprochen, die wir
hier nicht im Einzelnen diskutieren. Es ist in der Tat so,
dass das Heimatschutzkonzept, das wir vorgelegt haben, den Erhalt einiger Standorte bedeuten könnte.
({13})
Wenn wir am 1. oder 2. November die entsprechenden
Informationen bekommen, dann müssen wir über dieses
Thema noch einmal ins Gespräch kommen. Ich bin nicht
derjenige, der sich hier hinstellt und sagt: Jeder Standort
kann die nächsten 100 Jahre so bleiben, wie er ist. - Seit
1990 haben sich einige Veränderungen ergeben. Wo aber
strukturell Möglichkeiten zum Erhalt bestehen, müssen
wir über dieses Thema reden. Wir sind der Meinung, es
gibt gute Gründe, gerade auch wegen der Differenzierung der Truppe, die auch mit der Wehrpflicht zusammenhängt, Standorte zu erhalten oder umzuwidmen.
Man kann sagen: Wenn schon zu Hause bei der Bundeswehr General Mangel und Oberst Fehl das Kommando führen, dann könnte das wenigstens bei den vielen Auslandseinsätzen der Bundeswehr anders sein. Die
Vorkommnisse im Kosovo belehren uns leider eines
Besseren. Die Informationen, die wir gestern erhalten
haben, zeigen - soweit wir sie bisher auswerten konnten - kein überzeugendes Bild von Führung, Ausrüstung
und Krisenbeherrschung. Das geht nicht gegen die
Hauptfeldwebel, die hervorragende Leistungen erbracht
haben; es geht vielmehr gegen die politische Führungsebene. Darüber muss geredet werden.
({14})
Wir wissen gar nicht, ob wir alle Informationen erhalten haben. Denn die schlampige Informationspraxis innerhalb Ihres Hauses, Herr Minister,
({15})
- schon gegenüber ihm selbst! - und uns gegenüber gibt
Anlass zur Sorge.
({16})
Ob dem mit Nachfragen oder Nacharbeiten alleine begegnet werden kann
Herr Kollege Schmidt, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
- oder ob eine Art parlamentarische Fallstudie über
die schwierigen Seiten der Auslandseinsätze am Beispiel
KFOR notwendig ist, wird sich in den nächsten Tagen
zeigen. Wir werden das sehr genau beobachten und dann
entscheiden.
Ein letztes Wort zu der Frage Faizabad -
Nein, Herr Kollege Schmidt, Ihre Redezeit ist überschritten. Das geht auf Kosten Ihrer Kollegen.
Die Kollegen werden mir das verzeihen.
({0})
Ich weiß, dass Ihnen die Frage, die ich Ihnen jetzt
stellen werde, unangenehm ist, meine Damen und Herren von der Koalition. Der Verteidigungsminister ist
vom Kollegen Lamers aufgefordert worden, klarzustellen, was er hinsichtlich der Struktur des Mandats
Faizabad beabsichtigt. Im ZDF hat er am 14. September
im „Heute-Journal“ gesagt, er wisse zwar, dass es zurzeit
keine Mehrheit gebe, um die Zahl der deutschen Soldaten aufzustocken, möglich sei jedoch, dass sich andere
Nationen beteiligen. Das heißt, die anderen Nationen
kommen nicht.
({1})
- Möglichkeit heißt nicht Wirklichkeit.
Ich halte es für eine Zumutung, dass der Verteidigungsminister die Parlamentarier beschimpft, sie würden ihm nicht mehr Soldaten bewilligen, obwohl er dies
nie gefordert hat. Gestern hat die Bundesregierung den
Beschluss gefasst, die Zahl der Soldaten nicht aufzustocken. Das muss aus der Welt geschafft werden. Reicht
die Zahl der Soldaten aus oder nicht?
({2})
Herr Kollege Schmidt, jetzt muss ich Ihre Rede abbrechen, es sei denn, die Geschäftsführer sagen etwas
anderes.
Alle, die meinen, dieses Thema abtun zu können,
werden sich wundern. Wir werden nächste Woche intensiv über dieses Thema reden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marianne Tritz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den letzten Jahren haben wir es in der Sicherheitspolitik mit völlig neuen Herausforderungen zu tun gehabt.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion, der Erweiterung der
Europäischen Union und der NATO konnte und kann
niemand mehr eine existenzielle Bedrohung unseres
Landes erkennen. Niemand glaubt ernsthaft, dass wir in
naher oder ferner Zukunft einen Angriff mit konventionellen Streitkräften auf deutschem Territorium zu erwarten haben.
Wer die Bundesrepublik Deutschland angreifen will,
wird sich dafür die weichen Ziele der Zivilgesellschaft
suchen und dafür andere Mittel wählen als eine Panzerdivision. Die Bedrohung ist subtiler und perfider geworden. Sie ist weniger fassbar. Sie richtet sich gegen die
Menschen in unserem Land, unsere Interessen, unsere
Werte und Normen. Sie gefährdet unsere offene Zivilgesellschaft und die unserer Bündnispartner. Unsere Informationsgesellschaft in ihrer Komplexität und mit ihren
vielen Abhängigkeiten benötigt eine andere Art von Sicherheit und Verteidigung, als wir es bisher kannten.
Das ist eine der Lehren, die wir aus dem
11. September ziehen mussten. Eine andere ist, dass wir
Krisen, Konflikten und Verteilungskämpfen möglichst
im Ursprungsland begegnen müssen, wenn wir sie frühzeitig eindämmen wollen.
Wir haben mittlerweile einen erweiterten Sicherheitsbegriff formuliert, der sich mit internationalen
Konflikten, asymmetrischen Bedrohungen und dem
Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf verschiedenen Ebenen auseinander setzt. Wir setzen dabei
auf einen ganzheitlichen Ansatz, auf wirtschaftliche,
politische, entwicklungspolitische, finanzielle und humanitäre Maßnahmen, um derartige Bedrohungen abzuwehren.
Unsere Stärken, die Stärken der Bundesrepublik
Deutschland, liegen eindeutig im Bereich der Konfliktlösung. Dementsprechend werden Krisenbewältigung
und Konfliktvorsorge bis hin zu Frieden schaffenden
Maßnahmen mehr denn je auch zentrale Aufgaben der
Bundeswehr sein. Auf diesen Gebieten engagiert sich
die Bundeswehr bereits jetzt auf vielfältige Weise.
Unsere internationalen Verpflichtungen, die wir zu erfüllen haben, und die Verantwortung, die wir eingegangen sind, haben dazu geführt, dass Anzahl, Intensität,
Umfang und Dauer der Einsätze der Bundeswehr stetig
zugenommen haben. Das war und ist mit der Bundeswehr alten Zuschnitts nicht mehr zu machen. Deshalb
begrüßt meine Fraktion ausdrücklich den Transformationsprozess der Bundeswehr.
({0})
Mit der Aufteilung in drei Kategorien kann die Bundeswehr die anstehenden Aufgaben besser bewältigen.
Sie wird damit den neuen Herausforderungen angepasst.
Die erste Kategorie sind die Eingreifkräfte für zeitlich
begrenzte, friedenserzwingende Einsätze und Evakuierungen in Kriegs- und Krisengebieten. Die zweite sind
die Stabilisierungskräfte für längerfristige, friedenserhaltende Einsätze. Dazu gehören die Überwachung der Einhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen genauso
wie der Schutz der Bevölkerung und das Absichern der
staatlichen Autorität im Einsatzland. Die dritte Kategorie sind die Unterstützungskräfte für die logistische Arbeit. In Verbindung mit anderen Maßnahmen ist damit
die Bundeswehr auf dem Weg zu mehr Effektivität.
Was wir nicht wollen - das unterscheidet uns von der
Opposition -, sind Einsätze der Bundeswehr im
Innern. Beim Katastrophenschutz ist eine weit gehende
Kooperation mit der Bundeswehr bereits jetzt möglich.
Für alle anderen Fälle haben wir die Polizei und den
Bundesgrenzschutz.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
- ich spreche insbesondere Sie, Herr Schmidt, an -,
wenn Sie ständig den Einsatz der Bundeswehr zur Territorialverteidigung fordern, dann müssen Sie auch einmal
sagen, wie das gehen soll. Wie, glauben Sie, kann uns
die Bundeswehr schützen, wenn die weichen Ziele der
Zivilgesellschaft bedroht sind? Es ist doch zweifelhaft,
ob zum Beispiel ein Giftgasanschlag wie in der U-Bahn
von Tokio oder die Geiselnahme von Kindern in einer
Schule durch das Aufmarschieren einer Armee zu verhindern gewesen wären. Herr Schmidt, die Idee, 19-jährige Wehrpflichtige im Rahmen von Heimatschutz zur
Terrorismusbekämpfung einzusetzen, lässt mir eher das
Blut in den Adern gefrieren. Das ist wirklich eine gruselige Vorstellung.
({2})
Dazu bedarf es anderer Instrumente, über die wir einmal
an anderer Stelle konstruktiv reden müssen.
Des Weiteren möchte ich von Ihnen endlich etwas
Konstruktives zu Afghanistan hören. Ihre Dauerbehauptung, für Afghanistan liege kein Gesamtkonzept
vor, wird durch ständiges Wiederholen auch nicht wahr.
({3})
Ich kann mir ja lebhaft vorstellen, dass es auf der Oppositionsbank manchmal richtig langweilig ist und dass
man dabei manchmal einschläft.
({4})
Das entschuldigt Sie irgendwie, aber auch nur irgendwie. Denn während Ihrer Tiefschlafphasen scheint Ihnen
entgangen zu sein, dass zwei Afghanistankonferenzen
stattgefunden haben
({5})
- wunderbar! Sie haben doch etwas gelernt -, auf denen
ein Gesamtkonzept definiert wurde, das auch noch in
eine Sicherheitsresolution umgesetzt wurde. Das bedeutet, dass wir nicht im luftleeren Raum agieren, sondern
dass wir unseren Beitrag zu dem leisten, was die internationale Staatengemeinschaft gemeinsam beschlossen hat.
Ich hoffe sehr, dass Sie demnächst der Mandatsverlängerung für Afghanistan zustimmen werden. Alles andere
würde nämlich die Vorbereitung und die Unterstützung
der Präsidentschafts- und der Parlamentswahlen unmöglich machen und alles, was die Bundeswehr und die
zahlreichen Hilfsorganisationen bisher in Afghanistan
geleistet haben, infrage stellen. Ich möchte Sie dann einmal sehen, wie Sie das vor diesen, vor Präsident Karzai
und vor der internationalen Staatengemeinschaft rechtfertigen würden.
({6})
Ein bisschen mehr Sensibilität in bestimmten Fragen
stünde Ihnen gut zu Gesicht. Die Art und Weise, wie Sie
politische Konflikte auf dem Rücken der Soldaten austragen wollen, ist nicht in Ordnung. Ich finde es richtig,
wenn man im Zusammenhang mit den Kosovo-Unruhen im März dieses Jahres auf einer lückenlosen Aufklärung der Ereignisse besteht. Dann muss man auch anerkennen, wenn der Minister und die Bundeswehr dem
nachkommen. Dann aber, wenn die Aufklärung erfolgt
ist und die Verantwortlichen selbst die Mängel benannt
haben, einen Untersuchungsausschuss zu fordern ist
schon ziemlich dreist. Da liegt der Verdacht nahe, dass
bei Ihnen nicht der Wunsch nach Aufklärung im Vordergrund steht, sondern dass Sie bereit wären, die Soldaten
vor Ort zu demontieren, nur um der Regierung eins auswischen zu können. Das finde ich billig und durchsichtig.
({7})
- Ja, ja.
An jenem Tag im Kosovo ist sicherlich vieles schief
gelaufen, aus dem man lernen muss. Das hat auch der
Minister zugegeben.
({8})
Dennoch können wir davon ausgehen, dass die Soldaten
damals in der aufgeheizten Stimmung alles getan haben,
um den Konflikt in den Griff zu bekommen.
In den letzten Jahren hat sich die Art und Weise der
Einsätze der Bundeswehr verändert. Jetzt wird es Zeit,
die Struktur und die Ausrüstung der Bundeswehr an die
veränderten Erfordernisse anzupassen. Wir alle wissen,
was der Minister der Bundeswehr abverlangt und dass er
einige schmerzhafte Wahrheiten verkünden muss. Aber
im Gegensatz zur Opposition, die ständig und in allen
Bereichen immer nur fordert, kritisiert und stets ein
Konzept oder eine Antwort schuldig bleibt, hat der Minister mit dem Transformationsprozess einen wirklich
mutigen Schritt getan, den man einmal ausdrücklich loben muss.
Danke.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Tritz, ich glaube, Sie haben mit Ihren Vorwürfen hier die falschen Fraktionen angesprochen. Wir wissen, welche Verantwortung wir gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern der
Bundeswehr zu tragen haben.
({0})
Wir tragen diese Verantwortung seit vielen Jahrzehnten,
im Gegensatz zu Rot-Grün, vor allen Dingen im Gegensatz zu den Grünen, aus deren Reihen Sie kommen. Wir
stellen unsere Soldatinnen und Soldaten, die Angehörigen der Bundeswehr nicht unter Generalverdacht, wie
Sie es 1998 getan haben, als Sie einen Untersuchungsausschuss bezüglich eines vermeintlichen Rechtsextremismus in der Bundeswehr gefordert haben. Sie waren
es, die die Bundeswehrangehörigen unter Generalverdacht gestellt haben. Daran sollten Sie sich erinnern.
({1})
Was ist eigentlich von dem ehrgeizigen Anspruch aus
dem Jahre 1998 geblieben, die größte Reform in der Geschichte der Bundeswehr einzuleiten? Nicht viel! Seit
sechs Jahren regiert Rot-Grün. Was ist passiert? Seit
sechs Jahren doktern Sie an der Bundeswehr herum. Ich
sage Ihnen: Rot-Grün bringt nicht einmal einen Strukturentwurf für die Streitkräfte zustande, der dieses Jahrzehnt überlebt. Ich bedauere alle Angehörigen der Bundeswehr in Uniform wie in Zivil: Sie wissen über Jahre
nicht, ob ihr Arbeitsplatz sicher ist oder ob ihr Wohnort
beibehalten werden kann. Ihnen ist jede Planungssicherheit seit 1998, seitdem Rot-Grün an der Regierung ist,
abhanden gekommen.
({2})
Natürlich muss die Bundeswehr reformiert werden.
Ihre Struktur und ihr Umfang entsprachen in keiner Beziehung mehr den Erfordernissen der neuen Zeit. Die
FDP-Bundestagsfraktion hat als einzige Fraktion bereits
vor Jahren ein eigenes Konzept vorgelegt. Vieles davon
finden Sie im Bericht der Weizsäcker-Kommission wieder. Wenn der damalige Verteidigungsminister diesen
Vorschlägen doch nur gefolgt wäre, dann hätte er der
Bundeswehr etliche Irritationen erspart und dann wäre
die neue Struktur jetzt weitgehend Realität.
({3})
Herr Minister, Ihre Verteidigungspolitischen Richtlinien gehen in die richtige Richtung. Wir unterstützen
viele Aussagen. Aber wir erwarten, dass endlich ein
Weißbuch vorgelegt wird. Das letzte Weißbuch gab es
1994. Seit dem Jahr 2000 versprechen Sie uns solch ein
Weißbuch. Wir wollen wissen, wie die gesamte Bundesregierung die sicherheitspolitische, die verteidigungspolitische Lage einschätzt und welche Konsequenzen die
gesamte Bundesregierung - nicht nur der Verteidigungsminister - daraus zieht.
({4})
Lassen Sie mich noch etwas zur allgemeinen Wehrpflicht sagen. Der Kollege Gerhardt hat sich dazu für die
FDP-Bundestagsfraktion geäußert. Herr Minister,
schauen Sie sich selbst Ihre Verteidigungspolitischen
Richtlinien noch einmal an! Sie selbst schreiben, dass
der Hauptauftrag nicht mehr Bündnis- und Landesverteidigung sind, sondern im Wesentlichen die internationalen Einsätze. Keiner hier im Hause - vielleicht bis auf
wenige Ausnahmen - will Grundwehrdienstleistende in
solche internationalen Einsätze schicken. Das können
wir aufgrund fehlender Ausbildungszeiten nicht verantworten. Wir können es aber auch grundsätzlich politisch
nicht verantworten.
Ich will auch hier noch einmal sagen: Wehrpflicht ist
kein ewig währendes Prinzip. Wehrpflicht muss ständig
überprüft werden: auf die Länge, auf die Kürze oder dahin gehend, ob sie insgesamt beibehalten werden muss.
Sie muss vor allen Dingen sicherheitspolitisch begründet
werden. Alle anderen Gründe sind zwar wichtig und
müssen berücksichtigt werden, aber sie sind Sekundärgründe und dürfen nicht zur Legitimation der Wehrpflicht herangezogen werden.
({5})
Die sicherheitspolitische Lage im konventionellen
Bereich hat sich in den letzten Jahren doch verbessert;
sonst säßen wir doch nicht hier, in Berlin. Die NATO hat
Staaten aufgenommen, die dem ehemaligen Warschauer
Pakt angehört haben, die zur ehemaligen Sowjetunion
gehört haben. Die NATO ist heute jedem potenziellen
Gegner um ein Vielfaches überlegen. Auch deswegen
brauchen wir die Wehrpflicht nicht mehr.
Herr Kollege Schmidt, ich will noch einmal das
Thema Wehrgerechtigkeit ansprechen. Wenn heute
keine 20 Prozent der jungen Männer eines Jahrgangs
mehr Wehrdienst ableisten, dann frage ich mich, woher
die Legitimation kommen soll. Ich kenne einige, die
mittlerweile den Zivildienst, den Ersatzdienst, zur Legitimation der Wehrpflicht anführen. Das kann nicht richtig sein. Auch darüber werden wir in den nächsten
Monaten noch streiten.
({6})
Herr Minister, Sie haben das Thema Afghanistan angesprochen. Eine Vielzahl der Kollegen aus der FDPBundestagsfraktion ist vor Ort in Afghanistan gewesen.
Auch insofern haben wir keinen Nachholbedarf. Was hat
sich in den letzten zwölf Monaten in Kunduz, in
Faizabad verändert? Es gibt immer noch kein mit den
Partnern abgestimmtes Gesamtkonzept für die Region.
({7})
Ich darf an Folgendes erinnern - damit komme ich
zum Schluss, Frau Präsidentin -: Es war General
Riechmann, der letztes Jahr mit einem Vorauskommando vor Ort war und nach seiner Rückkehr gesagt hat:
Ich brauche für ein PRT mindestens 230 Soldatinnen und
Soldaten. - Jetzt sind in Faizabad keine 100. Wie sieht es
da eigentlich mit dem Selbstschutz aus?
({8})
Auch dafür tragen wir eine Verantwortung. Dass wir ihr
nachkommen, kann ich leider nicht erkennen. Wir haben
auch für den Schutz unserer Soldaten zu sorgen.
Was den Kosovo angeht, so gibt es keine Vorwürfe
gegenüber den Soldaten vor Ort, überhaupt nicht. Frau
Kollegin Tritz, die Soldaten leisten gute Arbeit vor Ort,
aber ich mache der rot-grünen Bundesregierung Vorwürfe, weil sie ihrer Informationspflicht nur mangelhaft
nachkommt. Das haben wir gerade in den letzten Tagen
wieder erlebt. Wenn es nicht Druck aus der Opposition
gegeben hätte, hätten wir bis heute nicht die Informationen, die wir benötigen.
({9})
Herr Kollege Nolting!
Ich komme zum Schluss.
Wir sprechen von einer Parlamentsarmee. Von daher
muss das Parlament auch die Informationen erhalten, die
es benötigt, um urteilen zu können. Wir müssen uns
darauf verlassen können, dass das, was uns im
Ausschuss vorgetragen wird, auch richtig ist und der
Wahrheit entspricht.
Vielen Dank.
({0})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, bitte
ich allgemein darum, dass die Schlusssätze nicht noch
eineinhalb Minuten über das Ende der Redezeit hinausgehen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Arnold.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich ist es schade, dass bei einer Debatte, die die
Menschen stärker berührt als viele Themen, die wir hier
sonst bereden - weil es nämlich um die Frage der
Sicherheit jedes Einzelnen geht -, die Opposition in die
üblichen Rituale verfällt.
({0})
Damit wird eine Chance verspielt, was den größten Personalkörper angeht, für den der öffentliche Bereich Verantwortung trägt, mit Personal, das wir mit ganz besonders schwierigen Aufgaben ins Ausland schicken. Das
Personal hätte es verdient, dass wir uns seriös mit dem
auseinander setzen,
({1})
was im Augenblick an Transformation, an Wandel zu
bewältigen ist, und dass wir uns seriös und wahrheitsgemäß mit dem auseinander setzen, was die Soldatinnen
und Soldaten in den Einsatzgebieten erleben.
({2})
Besonders schade ist das deshalb, weil wir uns in der
Analyse eigentlich einig sind. Die Sicherheitslage in Europa hat sich verändert. Wir haben einen euroatlantischen Stabilitätsraum und erkennen, dass wir gleichzeitig mit neuen, nicht so genau definierbaren Risiken fertig
werden müssen, also andere Antworten brauchen. Herr
Schmidt, bei Ihrer Rede habe ich den Eindruck gewonnen: Sie erkennen in der Analyse zwar die Veränderungen richtig, aber an den Antworten, die Sie geben, zum
Beispiel zur Heimatschutzkomponente - Standorte
sollen nur wegen dieser Komponente weitergeführt
werden -,
({3})
merken wir, dass Sie in der Union diesen Wandel mental
gar nicht wirklich vollzogen haben.
({4})
Um es klar zu sagen, Herr Lamers: Die Soldatinnen
und Soldaten gestalten diese Reform nicht auf dem Papier, sondern sie sind in ihrer täglichen Praxis mitten in
dem Wandel. Die Reform ist Realität. Wir sind in der
Umsetzung. Die Soldatinnen und Soldaten sind in den
Köpfen viel, viel weiter als die Politik auf Ihrer Seite.
({5})
Herr Schmidt - ich kann Ihnen wirklich nicht ersparen, Herr Schmidt, dass ich das sage -, die Union zeigt
mit dem Finger auf die Regierung
({6})
und unterstellt vermeintliche Unterschiede in der Bewertung der Aufgaben. Ich habe mit Interesse gelesen, was
Sie, Kollege Schmidt, in den letzten Wochen gesagt haben. An einem Tag ziehen Sie das PRT in Faizabad in
Zweifel.
Am nächsten Tag erklärt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dr. Schäuble, dass die Regierung selbstverständlich bei dieser richtigen Maßnahme auf die Unterstützung der Opposition bauen kann. Am darauf
folgenden Tag erklären Sie, Herr Schmidt, eigentlich
bräuchten wir dort viel mehr Soldaten.
({7})
Ich glaube, Sie reagieren deshalb so gereizt, weil Sie
ganz genau spüren, dass Sie in Fragen der Außen- und
Sicherheitspolitik nicht vernünftig aufgestellt sind und
nicht konsistent argumentieren. Das ganze Themenfeld
stellt eine richtig offene Flanke der Opposition dar.
({8})
Sie haben vor allen Dingen eines nicht verinnerlicht,
nämlich dass Sicherheit mehr leisten muss als abschreckende Verteidigung. Sicherheit kann doch nur in einem
erweiterten Verständnis erreicht werden: Sie hat doch
ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Dimensionen. Die Streitkräfte spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige, aber eben nur eine Rolle unter
vielen. Zu all diesen Punkten steht in Ihren Anträgen
keine Zeile.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schmidt?
Gerne.
({0})
Meine Zwischenfrage gibt doch dem Kollegen die
Möglichkeit, sich noch einmal zur Sache zu äußern,
nachdem er dafür bisher nicht viel Zeit aufgewendet hat.
Herr Kollege Arnold, wie verhält es sich nun mit dem
PRT in Faizabad? Wie groß soll es sein? Welche Anzahl
wäre nötig?
({0})
Ist es so, dass der Verteidigungsminister aufgrund von
Aussagen aus Ihrer Fraktion bzw. von solchen aus der
Koalitionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen den Eindruck gewinnen konnte, die Anzahl der Soldaten für
Faizabad orientiere sich nicht an der Sicherheit und am
Team, sondern sei aufgrund von Begehrlichkeiten der
rot-grünen Koalitionsparteien begrenzt worden?
({1})
Zunächst einmal übersehen Sie, dass die Konzeption
der PRTs nicht auf nationaler deutscher Vorliebe beruht,
sondern die Staatengemeinschaft insgesamt diesen Weg
gewählt hat. Natürlich beruht dieses Vorgehen auf einem
Kompromiss zwischen den beiden Polen, entweder
70 000 bis 80 000 Mann nach Afghanistan zu schicken.
Ich sehe niemanden, der das will bzw. leisten kann oder allein den Weg über Nation-Building zu wählen
und ganz herauszugehen. Dieses fordert ja die FDP. Das
ist aber unverantwortbar gegenüber den Menschen in
Afghanistan.
({0})
Deshalb stellt das jetzige Vorgehen einen Kompromiss
dar, für den sich die NATO mit unserer Unterstützung
entschieden hat.
({1})
- Ich beantworte Ihre Frage schon konkret, Herr
Schmidt. - Die zweite Frage ist, wie viele Soldaten für
ein PRT nötig sind.
({2})
Diese lässt sich erst dann beantworten, wenn zuvor die
Frage geklärt wird, was ein PRT tun soll.
({3})
Wenn ein PRT auch Frieden schaffende Maßnahmen in
einer Großstadt durchsetzen soll, dann braucht man viele
Hundert Soldaten. Dies soll es aber nicht. Wenn ein PRT
einzelne Objekte und Menschen in der Stadt schützen,
kommunikativ Staatsgewalt aus Kabul auch in die Regionen tragen, Menschen zusammenbringen und mit den
Akteuren reden und verhandeln soll, zugleich dabei aber
ein Gewehr im Hintergrund hat, damit man in dieser Gesellschaft als Verhandlungspartner respektiert wird,
wenn das die Aufgabe des PRT ist - und das ist sie -,
dann ist die Größe, die wir gewählt haben, angemessen.
Wir machen dabei manchmal den Fehler, dass wir von
den Soldaten dann, wenn etwas schief läuft, plötzlich
verlangen, dass sie Aufgaben erfüllen sollen, für die wir
gar kein Mandat erteilt haben. So sollte man mit den Soldaten nicht umgehen, sondern die Aktionen präzise an
der vorliegenden Aufgabenbeschreibung messen.
({4})
Die Bundeswehr - das hat sich an dem PRT gezeigt wird dieser Aufgabenstellung längst gerecht. Ich will gar
nicht drum herumreden: Die Ausschreitungen im
Kosovo haben gezeigt, dass Fehler gemacht wurden. Es
ist notwendig, die nationalen und internationalen Kommunikationsketten zu überprüfen. Es wurden strukturell
falsche Einschätzungen vorgenommen. Die Schwachstellen wurden nicht richtig erkannt, insbesondere nicht
in ihrer politischen Brisanz. Das alles liegt auf dem
Tisch. Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Sie
tun so, als ob es, um dies zu erkennen, der Medienberichte im August bedurft hätte. Das ist falsch. Der dicke
Ordner, den der Verteidigungsminister gestern den Obleuten übergeben hat - ich bin froh, dass wir ihn haben;
da steht nämlich überhaupt nichts Spektakuläres drin -,
bietet eine saubere Aufarbeitung der Versäumnisse und
Fehleinschätzungen im Kosovo, die bereits im April und
Mai aufgestellt wurde und aufgrund derer der Generalinspekteur bereits im Mai klare Schlussfolgerungen gezogen und in Anweisungen umgesetzt hat.
Das heißt im Klartext: Durch die Informationen in
diesem Ordner werden keine Fragen aufgeworfen, sondern sie wurden zu einem viel früheren Zeitpunkt, als
Sie sie gestellt haben und versucht haben, einen Skandal
daraus zu machen, klar beantwortet. Ich bin froh und beruhigt über diese Informationen;
({5})
denn ich konnte erkennen, dass die Bundeswehr eine
lernfähige Organisation ist. Der Verteidigungsminister
stellt sich in dieser Frage - das ist ganz klar - zu Recht
vor seine Soldaten.
Ein altes Sprichwort sagt: Erfahrung hat man nicht
dann, wenn man sie braucht, sondern erst danach. Deshalb würde ich es für gut finden, wenn wir Politiker in
Berlin nicht anfangen, aus unseren warmen Büros heraus
operative Entscheidungen, die Soldaten treffen und
verantworten müssen, zu kritisieren. Und wir sollten
nicht meinen, wir alle könnten kleine Feldherren sein.
({6})
Das ist nicht unsere Aufgabe.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Selbstverständlich
muss die Politik die Auslandseinsätze unserer Streitkräfte verantwortungsvoll begleiten. Selbstverständlich
ist die Bundeswehr ein Parlamentsheer und die politische Führung hat gegenüber dem Parlament die Pflicht,
uneingeschränkt Bericht zu erstatten. Das hat sie auch in
diesem Fall getan. Der Generalinspekteur hat uns bereits
im Mai erklärt, welche Handlungsoptionen es gibt und
wie die Entscheidungen aussehen. Es liegt also alles auf
dem Tisch.
Es darf nicht passieren, dass die Politik, wenn Soldaten Fehler machen - das wird angesichts der schwierigen
Aufgaben immer wieder vorkommen -, einen Kompaniechef oder einen Bataillonskommandeur in den Verteidigungsausschuss nach Berlin zitiert - solche Überlegungen stellen Sie an -, damit er Rede und Antwort
steht. Eine solche Entscheidung hätte eine völlig falsche
Signalwirkung für die Truppe. Sie würde die Motivation
und die Verantwortungsbereitschaft mindern. Es kommt
aber darauf an, dass unsere jungen Soldaten die Bereitschaft zeigen, in schwierigen Situationen selbst zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen.
({7})
Die Soldaten werden dies nur tun können, wenn sie wissen, dass die Politik auch dann hinter ihnen steht, wenn
sie in schwierigen Situationen entscheiden müssen. Das
bedeutet ganz klar: Wir alle sollten darauf bedacht sein,
den jungen Truppenführern die richtigen Signale zu geben.
Ich sage sehr deutlich: Ihr Versuch, dieses Thema am
Kochen zu halten - zumindest manche in Ihren Fraktionen spielen mit dem „Kampfinstrument“ Untersuchungsausschuss -, zerstört die Bereitschaft in der
Truppe, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Über
die Soldaten würde im Grunde genommen Gericht gehalten werden. So würde es jeder Soldat letztlich empfinden. Dies können wir nicht wollen. Wir brauchen Soldaten, die sich ihrer Verantwortung stellen.
Ich füge noch hinzu: Ich habe überhaupt keinen
Grund und keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die
Soldaten die taktischen Spielräume - wie es militärisch
heißt -, die wir ihnen zur Erfüllung ihres Mandates geben müssen, verantwortungsvoll ausfüllen. Unsere Aufgabe ist, politische Vorgaben zu machen. Darüber können wir streiten und diskutieren. Wenn Fehler passieren,
dann reden wir darüber mit dem Verteidigungsminister
und mit den Inspekteuren. Aber wir sollten bitte nicht
kleine Operationen, die die Soldaten jeden Tag durchführen müssen, zum Anlass nehmen, ein Spektakel im
Verteidigungsausschuss zu inszenieren; denn das schadet
der Truppe insgesamt.
Herr Kollege Arnold, auch Sie bitte ich, zum Schluss
zu kommen.
Ich komme zum Ende.
Alles in allem: Die Reform der Bundeswehr ist viel
weiter, als Sie denken. Am Ende dieses Prozesses wird
die Bundeswehr eine Streitmacht sein, die zusammen
mit ihren Partnern - nicht allein - mehr Fähigkeiten hat
und im Hinblick auf die möglichen Aufgaben, die sie zu
erfüllen hat, noch besser ausgebildet ist. Sie wird am
Ende besseres und moderneres Gerät haben, als dies im
Augenblick der Fall ist. Dieser Prozess steht nicht am
Anfang; wir befinden uns mittendrin.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor
14 Tagen haben die Außen- und Verteidigungspolitiker
dieses Hauses ein Gespräch mit einem führenden
NATO-Diplomaten gehabt. Zwei Sätze aus diesem Gespräch sind mir in Erinnerung geblieben. Der erste Satz
hieß: Ich hoffe, dass das transatlantische Bündnis den
Irakkrieg überlebt.
Man sollte sich einmal überlegen, was das bedeutet.
Der zweite Satz lautete: Es gibt mittlerweile in der
NATO zwei Gruppen: die eine Gruppe, die ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommt, und die andere, die
das nicht tut und für die die erste mit einstehen muss.
Wir alle wissen: Wir gehören zur zweiten Gruppe. Ich
muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe mich anlässlich
solcher Sätze für diejenigen, die für unsere Bundeswehr
verantwortlich sind - nicht für die Soldaten; das muss
ich hier ausdrücklich sagen und das werde ich an anderer
Stelle noch einmal betonen -, geschämt. Denn dies wirft
ein bestimmtes Licht auf unsere Außen- und unsere Verteidigungspolitik und beeinträchtigt das Vertrauen, das
wir eigentlich haben sollten. Mit unserer Politik riskieren wir, an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Sie, Herr Verteidigungsminister, haben heute wiederholt, dass Sie davon ausgehen, dass die Opposition die
Reformpläne im Großen und Ganzen billigt. Das ist so
nicht richtig; denn wir stellen Bedingungen. Diese Bedingungen lauten, dass die Reform der Bundeswehr und
die Umwandlung in eine Einsatzarmee nur dann durchgeführt werden können, wenn wir zusätzliche Investitionen in neue Techniken und in Schutzausrüstungen der
Truppe, aber auch - darauf möchte ich mich konzentrieren - in Fürsorgemaßnahmen für unsere Soldaten tätigen. Anderenfalls erleiden wir einen Vertrauensverlust;
die Vorkommnisse der letzten Tage weisen sehr deutlich
darauf hin. Wir brauchen eine umfangreichere Versorgung unserer Soldaten, wenn wir sie in schnelle Einsätze
schicken. Wir brauchen mehr, um ihnen da wieder herauszuhelfen.
Herr Verteidigungsminister, seit über einem Jahr sagen Sie uns - und leider auch den Mitarbeitern von acht
Bundeswehrkrankenhäusern -, dass Sie etliche Krankenhäuser schließen werden. Jede Woche höre ich aus
demselben Munde unterschiedliche Pläne. Sie vergrätzen und verunsichern damit das Personal in den Bundeswehrkrankenhäusern. Nach all dem, was wir jetzt gehört
haben, reduzieren Sie circa 35 bis 40 Prozent der in diesen Krankenhäusern bestehenden Kapazitäten und somit
auch Ausbildungskapazitäten. Im Sanitätswesen wird
Personal in der Anästhesie, in der Kopf- und Kieferchirurgie und in vielen anderen einsatzrelevanten Disziplinen wie etwa der Neurochirurgie reduziert, deren
Kenntnisse wir in den zivilen Krankenhäusern nicht
kompensieren können. Interessante Modelle, die dazu in
einigen Städten erarbeitet worden sind, finden in Ihren
Verhandlungen keinen Platz.
Am 21. September dieses Jahres hat der Inspekteur
des Sanitätswesens von einem gigantischen Mangel an
Medizinern für den Einsatz gesprochen. Er hat Recht;
denn wir werden in Zukunft weltweit eingesetzte Truppen nicht mehr ausreichend medizinisch versorgen können.
Wenn Sie glauben, Krankenhäuser in den nächsten
Jahren auslaufend schließen zu können, dann wird Ihnen
das nicht gelingen. Denn sobald die Schließungen
bekannt werden, werden die guten Leute gehen und mit
denjenigen, die bleiben müssen, können Sie den laufenden Betrieb nicht mehr aufrechterhalten. Schon jetzt erlassen Sie Einstellungsstopps in den verbleibenden
Krankenhäusern. Das führt zu Problemen und Engpässen. Wir stellen immer wieder fest, dass der Vertrauensverlust in den entsprechenden Einrichtungen groß ist,
auch wenn man Ihnen das vielleicht nicht sagt.
Wir haben das alles in den letzten Jahren bei Schließungen von Standortverwaltungen miterlebt. Wir erleben das jetzt wieder. Sie werden die medizinische Versorgung unserer Soldaten im Einsatz und den guten Ruf
der Bundeswehr als Medical Lead Nation - und dies bezieht sich nicht nur auf das Sanitätswesen - nicht aufrechterhalten können.
Hinzu kommt, dass Reservisten im Sanitätswesen von
50 000 auf 14 000 reduziert werden sollen. Diese empfinden dies so, als ob wir gegenüber denjenigen, die jahrelang an unserer Seite gestanden haben, plötzlich kein
Vertrauen mehr haben. Sie ziehen dabei nicht in Betracht, dass wir sie als Verstärkungsgruppe für Kliniken
in Einsatzgebieten und bei der Rückführung verletzter
Soldaten, aber auch im Katastrophenfall dringend brauchen. Sie werden feststellen, dass die Schließung von
Reservelazaretten bei der zukünftigen Heimatverteidigung Probleme macht; wir haben darüber gesprochen.
Dann wollen Sie noch in den nächsten fünf bis sechs
Jahren zivile Mitarbeiter in einem hohen Ausmaß in
den vorzeitigen Ruhestand schicken oder auf andere
Stellen versetzen. Sie wollen so die Zahl der zivilen Mitarbeiter um 40 000 reduzieren. Wenn Sie sagen, dass Sie
das sozialverträglich und ohne betriebsbedingte Kündigungen machen werden, dann werden Sie erneut erleben,
dass die Menschen in der Bundeswehr Ihnen nicht mehr
glauben.
({0})
Ich denke, dass wir uns auf eine neue Bedrohungslage
einstellen müssen. Wir haben in diesem Land noch immer nicht begriffen, worum es eigentlich geht. Wir erinnern uns zu wenig daran, dass wir uns verpflichtet
haben, an der Seite unserer NATO-Partner im internationalen Kampf gegen den Terrorismus zu stehen. Ich erinnere an das Wort des Kanzlers von der uneingeschränkten Solidarität, die wir so von ihm gar nicht verlangt
haben.
Wir sind an vielen Einsatzorten in der Welt. Unsere
Soldaten erwarten von uns, dass wir hinter ihnen stehen.
In einem Interview haben Sie, Herr Verteidigungsminister, sogar einen Einsatz im Sudan nicht ausgeschlossen.
Ich denke, wir müssen dafür sorgen, dass unsere
Bündnispartner, aber auch unsere Soldaten wieder Vertrauen in uns haben. Wegen der Vorkommnisse im
Kosovo brauchen Sie den Soldaten keinen Vorwurf zu
machen, Herr Verteidigungsminister; denn es hat sich
gezeigt, dass die Vorkommnisse im Kosovo Führungsprobleme sind. Führungsprobleme löst man aber nicht
mit Maulkorberlassen. Sie löst man mit Vertrauen in die
Soldaten und mit deren Stärkung, durch ausgezeichnete
Ausrichtung, Ausbildung und Ausstattung. All das fehlt.
Vor diesem Hintergrund können wir dieser Reform nicht
zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
Im Antrag der Regierungsfraktionen zur Transformation der Bundeswehr findet sich folgende Passage, die
ich nur unterstützen kann:
Der grundlegend veränderte Auftrag und die Transformation der Bundeswehr müssen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen werden.
Dieser bedarf einer breiten sicherheits- und friedenspolitischen Debatte in Politik und Gesellschaft.
Das ist völlig richtig. Wo aber wird diese breite sicherheits- und friedenspolitische Debatte in Politik und Gesellschaft geführt? In welcher Frage haben Sie in der Gesellschaft einen Konsens in der Sicherheits- und
Friedenspolitik erreicht? Sie wissen, dass eine Mehrheit
der Bundesbürger den militärischen Einsatz der Bundeswehr in Ex-Jugoslawien und in Afghanistan abgelehnt
hat und noch immer ablehnt.
({0})
Es gibt auch eine Mehrheit in der Bevölkerung, die keine
Auslandseinsätze der Bundeswehr will, sondern
Konfliktprävention und verstärkte Bekämpfung der
Ursachen von Terror und Gewalt.
Die Bundesregierung regt diese Diskussion nicht an.
Sie verweigert sich dieser Diskussion sogar hartnäckig.
({1})
Sie schickt die Bundeswehrsoldaten von einem Krisenherd zum nächsten und setzt das Leben der Soldaten
leichtfertig aufs Spiel. Aus der Bundeswehr selbst ist zu
hören, dass diese Art der Sicherheitspolitik als „Gefechtsfeldtourismus“ bezeichnet wird.
({2})
Die Bundesregierung hat kein sicherheitspolitisches
Konzept. Das letzte Weißbuch, das eine Konzeption der
Bundeswehr enthielt, wurde 1994 von der Regierung
Kohl vorgelegt, also vor zehn Jahren. Bekanntlich hat
sich seitdem einiges in der Welt grundsätzlich verändert.
Der ehemalige Bundesminister der Verteidigung, Herr
Scharping, hatte bereits für 2001 ein Weißbuch angekündigt. Nun soll es, dem Antrag der Koalition entsprechend, im Jahre 2005 kommen. Der Kollege Schmidt
von der CDU/CSU ist darauf schon kritisch eingegangen.
Auch das bestätigt unseren Eindruck, dass Sie die
Bundeswehr in Krisengebiete dieser Welt schicken, ohne
die Folgen zu bedenken. Das ist gefährlicher Aktionismus.
({3})
Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die fehlende Strategie der Bundesregierung in Afghanistan anschaut: Niemand weiß, wo sich Bin Laden aufhält, die
alten Herrschaftsstrukturen in den Regionen sind bestehen geblieben, der Drogenhandel blüht und die Bundeswehr schaut weg. Afghanistan lebt nicht in Frieden und
ist weit von einer funktionierenden Demokratie entfernt.
Die Bundesrepublik läuft Gefahr, in Afghanistan in
einen lang andauernden, blutigen und extrem kostspieligen Konflikt verwickelt zu werden.
({4})
Der derzeitige Präsident der USA, Herr Bush, hat bereits
erklärt, dass er kein Ende des Krieges den Terrorismus
sieht. Ich glaube, in diesem Punkt stimmt er mit Bin
Laden überein. Herr Verteidigungsminister Struck erklärt gern, dass die deutschen Interessen am Hindukusch verteidigt werden müssen. Aber warum definiert
niemand öffentlich, worin die deutschen Interessen dort
bestehen? Was Afghanistan betrifft, so sehe ich vor allem die Interessen der USA und der afghanischen
Warlords und Drogenschmuggler.
Die Bundesregierung glaubt augenscheinlich, sich bei
den USA für die Nichtbeteiligung am Irakkrieg rechtfertigen zu müssen, und verkauft den USA den Afghanistaneinsatz als Kompensationsgeschäft. Wir müssen
uns aber nicht für die Nichtteilnahme am Irakkrieg bei
den USA entschuldigen oder rechtfertigen. Der Krieg
gegen den Irak ist illegal, wie Kofi Annan festgestellt
hat. Also bedarf es auch keiner Kompensationsgeschäfte.
Ich will noch zu einem anderen Punkt Ihres Antrags
kommen. Sie fordern in Punkt 5, dass Standortentscheidungen nach militärischen und betriebswirtschaftlichen
Kriterien getroffen werden. In diesem Zusammenhang
habe ich durchaus Fragen an die Grünen: Müssten nicht
auch ökologische Kriterien bei Standortentscheidungen
eine Rolle spielen? Wie stellen Sie sich einen transparenten Entscheidungsprozess unter Einbeziehung der
Betroffenen vor?
An dieser Stelle erinnere ich an das Bombodrom bei
Wittstock. Die Grünen und die lokale SPD haben sich
vor den Wahlen in Brandenburg gegen das Bombodrom
ausgesprochen. Jetzt sind die Wahlen vorbei und die
Bürger fragen sich natürlich, was aus dem Engagement
der Politiker geworden ist. Für die PDS kann ich allen
Bürgern, die sich für eine freie Heide engagieren, versichern, dass wir uns nach der Wahl genauso wie vor der
Wahl gemeinsam mit den Bürgern gegen das Bombodrom einsetzen werden.
({5})
Abschließend will ich die Position der PDS zusammenfassen: Erstens. Wir lehnen weltweite Einsätze der
Bundeswehr ab.
({6})
Die Bundeswehr ist für die Landesverteidigung da; wir
halten auch gar nichts von Bundeswehreinsätzen im Inneren.
Zweitens. Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten kann
auf 100 000 reduziert werden.
Drittens. Wir sind gegen jede Art von Zwangsdiensten und dazu gehören Wehrpflicht und Zivildienst.
Viertens. Bei Standortschließungen muss die Bundesregierung ein Konversionsprogramm für die betroffenen
Regionen vorlegen und es aus dem Rüstungsetat finanzieren.
({7})
Fünftens. Natürlich fordern wir den Verzicht auf Rüstungsprojekte, die weltweiten Militäreinsätzen dienen,
bzw. deren Abbruch.
Meine Damen und Herren, das wäre die richtige Richtung für die Transformation der Bundeswehr.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im nächsten Jahr kann unsere Bundeswehr auf
ihre 50-jährige Geschichte - ich füge hinzu: auf eine
50-jährige erfolgreiche Geschichte - zurückblicken. Im
nächsten Jahr wird Anlass für eine umfassende Würdigung all dessen sein, was mit unserer Armee verbunden
wird. Vor allen Dingen werden wir im nächsten Jahr
viele und hoffentlich auch schöne Gelegenheiten haben,
unseren Soldatinnen und Soldaten Dank zu sagen.
Es führte an dieser Stelle ein wenig zu weit und
würde unserer Debatte heute auch nicht ganz gerecht,
wollte man das vorwegnehmen, was im nächsten Jahr in
vielfältiger und interessanter Weise stattfinden wird.
Hierbei richten sich an den Deutschen Bundestag - damit meine ich ausdrücklich nicht nur den Fachausschuss,
also den Verteidigungsausschuss - recht hohe Erwartungen. Ich glaube, ich spreche im Namen aller, wenn ich
sage, dass unsere Soldatinnen und Soldaten es wirklich
verdient haben, wenn im 50. Jahr ihres Bestehens sehr
deutlich wird, dass unsere Bundeswehr den besonderen
Anspruch hat, eine Parlamentsarmee zu sein.
Für uns als Gesetzgeber und für die Bundesregierung
bietet sich eine hervorragende Möglichkeit, das
Jubiläum zu nutzen, um einerseits den verantwortungsvollen Auftrag der Bundeswehr herauszustellen und um
andererseits eine breite Diskussion in unserem Lande
mit dem Ziel anzuregen, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen.
Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis,
dass die Sicherheitspolitik und damit auch unsere Bundeswehr in der deutschen Öffentlichkeit leider nicht so
stark wahrgenommen wird, wie dies eigentlich wünschenswert wäre. Dieses mangelnde Interesse ist aber
kein deutsches Phänomen, sondern überall in Europa in
unterschiedlichen Ausprägungen anzutreffen.
Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, dass er sich lieber mit
weniger komplizierten Dingen beschäftigt und deshalb
entsprechend geringes Interesse für Dinge zeigt, die
nicht so einfach zu durchdringen sind. Die breiten Bevölkerungsschichten verlangen zwar von den politisch
Verantwortlichen eine allumfassende Sicherheit, wobei
nicht groß zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwischen Bundeswehr und Polizei oder zwischen Bundesgrenzschutz und Verfassungsschutz unterschieden wird.
Richtig intensiv möchte sich damit aber kaum jemand in
unserer Gesellschaft beschäftigen.
Andererseits ist das Vertrauen in unsere Sicherheitsorgane außerordentlich groß, was uns alle zusammen
vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch stolz machen
darf.
Derzeit befinden wir uns national und international in
einer Phase des Umbruchs. Die Sicherheitslage in der
Welt hat sich im Laufe der zurückliegenden Jahre vollkommen verändert. Der Kalte Krieg ist seit 15 Jahren
Geschichte. Seit etwa zehn Jahren steht die Bundeswehr
praktisch überall in der Welt in der Verantwortung. Seit
der ersten echten Auslandsmission im Jahre 1995 haben
wir uns daran gewöhnt, dass Verteidigungspolitik heute
anders als zu jenen Zeiten buchstabiert wird, in denen
unser Land ausschließlich auf die Sicherung der nationalen Außengrenzen fixiert war.
Der Umbruch in der Sicherheitspolitik macht sich
aber natürlich auch am Datum 11. September 2001 fest.
Der internationale Terror zwingt uns alle zum Umdenken. Selbst bei Clausewitz finden wir keine Antwort auf
die Frage, wie der Staat auf die Herausforderungen der
asymmetrischen Bedrohungen reagieren soll. Es gibt
keine Patentlösungen für die komplizierten Fragestellungen mit Blick auf Selbstmordattentate, auf Geiselnahmen oder auf entführte Flugzeuge durch Terroristen.
Die freie westliche Welt hat jedoch auf diese neuen
Herausforderungen politisch und militärisch reagiert.
Die UNO als wichtigste Trägerin des Völkerrechts hat
nie ihre Bedeutung verloren. Daran hat auch die Entwicklung des Irakkrieges nichts geändert. Die NATO
und alle Mitglieder haben mit der notwendigen Transformation begonnen, die dazu dient, sowohl die NATO insgesamt als auch die Bündnispartner in die Lage zu versetzen, mit den neuen Herausforderungen besser als in
der Vergangenheit klarzukommen.
Wenn wir uns anschauen, mit welchen Problemen wir
es aktuell in der Welt zu tun haben, so werden unsere eigenen sicherheitspolitischen Themen, die naturgemäß
von den Bundeswehrauslandseinsätzen bestimmt sind,
vom Irakkonflikt, von der äußerst labilen Lage im Kaukasus, dem nach wie vor ungelösten Nahostkonflikt und
zahlreichen Krisenherden von Afrika bis Südostasien
überschattet.
Diese zugegebenermaßen verkürzte Situationsbeschreibung wird von einem Thema begleitet, das alle
Politikfelder belastet, nämlich von der Tatsache, dass für
die vielen Notwendigkeiten zu wenig Geld zur Verfügung steht. Auch dies ist natürlich kein typisch deutsches Problem, macht sich jedoch vor dem Hintergrund
unserer besonderen Situation - ich nenne das Stichwort
Aufbau Ost - besonders stark bemerkbar. Aus dieser
Situationsbeschreibung ergeben sich meines Erachtens
folgende Konklusionen:
Erstens. Gerade weil sich überhaupt nicht abzuzeichnen scheint, dass sich die aufgrund unterschiedlichster
Ursachen labile Sicherheitslage in absehbarer Zeit positiv verändert, brauchen wir mehr Anteilnahme, mehr Interesse und mehr Bereitschaft für die brennenden Fragen
der Sicherheitspolitik. Dies gilt ganz allgemein für unsere Gesellschaft. Dies gilt im Übrigen aber in besonderer Weise für unser Parlament. Unsere im Prinzip vernünftige und bewährte Form der Fachbereiche und
Expertenfelder darf nicht dazu führen, dass die Sicherheitspolitik ausschließlich jenen überlassen wird, die im
Verteidigungsausschuss oder im Auswärtigen Ausschuss
tätig sind. Nur wenn es gelingt, der Sicherheitspolitik
einen höheren Stellenwert einzuräumen, werden wir für
die Notwendigkeiten Akzeptanz finden, und zwar sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht.
Deshalb sind wir allesamt gut beraten, das 50-jährige Jubiläum der Bundeswehr für eine breit angelegte öffentliche Diskussion innerhalb und außerhalb der politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten
und Schulen zu nutzen.
({0})
Zweitens. Innerhalb des Parlaments und der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen muss nach meiner Auffassung stärker als bisher über die Frage nachgedacht werden, wie wir es schaffen, Sicherheitspolitik
nicht isoliert, sondern eingebunden in die vielen sonstigen Politikfelder zu behandeln. Spätestens seit unserem
Engagement auf dem Balkan und in Afghanistan ist jedem klar geworden, dass Sicherheit und Verteidigung
auf keinen Fall losgelöst von der Außenpolitik, der Entwicklungshilfe, der Innenpolitik und weiteren Politikschwerpunkten betrachtet werden können.
Meine Damen und Herren, auch wenn ich nicht unbedingt denen Recht gebe, die für eine Zusammenlegung
beispielsweise der Bundestagsausschüsse für Verteidigung, Auswärtiges und wirtschaftliche Zusammenarbeit
plädieren, so halte ich eine wesentlich stärkere Kohärenz
auf diesem Feld für absolut notwendig.
({1})
Die komplexen und umfänglichen Fragestellungen und
Notwendigkeiten in der Sicherheitspolitik sollten nicht
von formalen Argumenten oder von Geschäftsordnungsfragen blockiert werden.
Drittens. Wer mit mir hinsichtlich einer besseren Verankerung der Sicherheitspolitik im öffentlichen Bewusstsein übereinstimmen kann, kann nach meiner festen und ehrlich gemeinten Überzeugung nicht für die
Abschaffung der Wehrpflicht sein.
({2})
Unabhängig von der Tatsache, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass eine Berufsarmee zurzeit gar nicht finanzierbar wäre, trägt die Wehrpflicht ganz wesentlich dazu
bei, den nachfolgenden Generationen ein Bewusstsein
für den Auftrag der Bundeswehr und damit gleichzeitig
auch für die sich ständig verändernden politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen zu vermitteln.
({3})
Vor diesem Hintergrund mutet es schon ein wenig
sonderbar an - wenn ich das sagen darf -, wenn gerade
eine so große und wichtige Institution wie der Bundesverband der Deutschen Industrie in einer Denkschrift die
Abschaffung der Wehrpflicht fordert - in der, wie ich
finde, naiven Erwartungshaltung, dass bei einer Abschaffung mehr Finanzmittel für den investiven Bereich
zur Verfügung stehen würden.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit.
Gerne. Ich komme sofort zum Ende, Frau Präsidentin.
Es wäre aus meiner Sicht ein gutes Signal - das sage
ich besonders an die Adresse der Kritiker der Wehrpflicht in allen Fraktionen -, wenn im Jubiläumsjahr der
Bundeswehr das eigentliche Markenzeichen unserer
Bundeswehr, nämlich die Wehrpflicht, langfristig festgeschrieben werden könnte.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard
Beck, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Robbe, ich
darf am Anfang sagen, dass ich persönlich den von Ihnen genannten drei Punkten, in denen sehr präzise eine
Position zusammengefasst wird, inhaltlich voll zustimme und Sie auch dabei unterstütze.
Lieber Kollege Erler, Sie haben am Beginn Ihrer
Rede davor gewarnt - und es auch ein bisschen angeprangert -, den Soldatinnen und Soldaten einen wohlfeilen Dank abzustatten. Ich gebe Ihnen darin Recht. Was
unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen, sind nicht
schöne Worte, sondern Respekt und Wertschätzung für
ihre wichtige und oft auch gefährliche Arbeit.
({0})
Zu dieser Arbeit - der Kollege Nachtwei ist gerade
nicht im Saal; er hat es vorhin bemerkenswerterweise
angesprochen -, zum Wesen des Soldaten zählt auch die
Fähigkeit zum Kampf. Gerade in kritischen Situationen,
wie wir sie im Kosovo hatten, verdienen sie unseren
Rückhalt. Dies scheint mir das eigentliche Problem zu
sein, nämlich dass die Bundeswehr nicht genügend
Rückhalt in dieser Bundesregierung findet. Nicht nur bei
den Verteidigungspolitischen Richtlinien lässt das Kabinett den Bundesminister der Verteidigung allein, sondern
auch bei den riskanten Auslandseinsätzen unserer Soldaten fehlt vielfach der Rückhalt durch den Außenminister,
durch die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung.
({1})
Vom Finanzminister und vom Bundeskanzler möchte ich
erst gar nicht reden.
({2})
Streitkräfte sind Instrumente der Politik und für alle
Mängel, die dieses Instrument im Kosovo gezeigt hat,
trägt die politische Führung die Verantwortung. Ich darf
hier vielleicht noch einmal die „Tagesschau“ vom
22. September in Erinnerung rufen: Da war von gravierenden Mängeln im Kosovo die Rede. So hätten Krisenpläne für eine solche Situation gefehlt; die Soldaten
seien unsicher in der Anwendung der Schusswaffen gewesen, ihre Englischkenntnisse ungenügend und ihre
Schutzausrüstung unzureichend. Ich wiederhole: Dafür
trägt nicht der Soldat, dafür trägt nicht die Bundeswehr,
dafür trägt die politische Führung die Verantwortung.
Wenn Kritik angebracht ist, dann ist sie zu kritisieren
und nicht die Soldaten.
({3})
Sehr geehrter Herr Minister Struck, Sie schulden uns
noch, wie ich meine, eine Antwort auf die Frage:
({4})
Wie stark muss das Kontingent für die PRTs in Afghanistan sein?
Ich zitiere eine Aussage von Ihnen: Der Minister
wisse zwar, dass es zurzeit keine Mehrheit gebe, um die
Zahl der deutschen Soldaten aufzustocken.
({5})
- Richtig.
Ernst-Reinhard Beck ({6})
Man muss hier doch fragen: Wie viele Soldaten brauchen Sie? Reichen die 450 oder brauchen Sie mehr, Herr
Minister? Wenn es so ist, dann müssen Sie es dem Deutschen Bundestag vorher sagen. Folgende Frage ist ebenfalls wichtig: Was sollen die PRTs machen? Davon hängt
es ab. Nachdem sie schon eine ganze Reihe von Monaten im Einsatz sind, kommt diese Frage etwas spät. Dies
kann doch nicht der Punkt sein. Es kann ebenfalls nicht
angehen, dass man sagt: Wir würden gern mehr tun, aber
dieses Parlament gibt uns nicht die nötigen Mittel. Herr
Minister, ich fordere Sie auf: Sagen Sie uns, was Sie
brauchen! Diese Frage muss beantwortet sein, bevor wir
in verantwortlicher Weise über die Verlängerung des
Mandats entscheiden können.
({7})
Notwendige Strukturveränderungen sind immer ein
schmerzlicher Prozess. Deshalb begleiten wir die Transformation mit großer Anteilnahme, aber auch mit Kritik.
Ich stehe nicht an zu sagen, dass in den Verteidigungspolitischen Richtlinien nicht viel Richtiges steht und
dass von der Bundesregierung und vom Bundesminister
der Verteidigung nicht viel Notwendiges in Angriff genommen wird. Ich konzentriere mich auf zwei Punkte,
bei denen ich tatsächlich erheblichen Klärungsbedarf
sehe und wo ich meine, dass die Weichen falsch gestellt
sind.
Sie haben zu Recht gesagt, dass die eigentlichen Fragen lauten: Wie wichtig und notwendig ist die Vorsorge
für den Heimatschutz? Tun wir wirklich das Notwendige
für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger? Wie sieht
die Sicherheitsvorsorge unter den Bedingungen eines erweiterten Sicherheitsbegriffs aus? Sind wir wirklich in
ausreichendem Maße auf potenzielle Gefahren vorbereitet?
Ich meine, dass wir die Weichen in zwei Bereichen
falsch gestellt haben. Der erste Bereich betrifft die territorialen Wehrstrukturen. Hier hat Kollege Schmidt
völlig Recht: Die VBKs sind nicht abzuschaffen, sondern als Zentren für Heimatschutz und Landesverteidigung auszubauen.
({8})
Den zweiten Bereich habe ich schon mehrfach angesprochen: Ich warne davor, alle nicht aktiven Truppenteile ersatzlos aufzulösen. Wenn 220 000 Reservisten
den Bescheid bekommen, dass sie nicht mehr gebraucht
werden, ist dies ein fatales Signal für die Wehrpflicht.
Das sollte man bedenken.
({9})
Wie ich sehe, ist meine Redezeit bereits fortgeschritten. Daher komme ich zum Schluss. Die künftige Bedeutung der Reservisten allein am operationellen und quantifizierbaren Auftrag zu messen, greift zu kurz.
Überhaupt meine ich, dass von der politischen Führung
überlegt werden sollte, ob man den Aspekten der Verteidigungsbereitschaft und der Motivation genügend Rechnung trägt. Die Erfahrungen und das Engagement von
Soldaten lassen sich nicht mittels der Expertisen von Unternehmensberatungen darstellen. Hier geht es, wie auch
bei der Wehrpflicht, um nicht weniger als die Verankerung der Streitkräfte in unserer Gesellschaft.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Bartels,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Transformation der Bundeswehr wird - das ist
heute schon mehrfach gesagt worden - vieles in unseren
Streitkräften sehr grundsätzlich ändern. Wir machen
15 Jahre nach der Implosion der Bedrohung aus dem Osten Ernst damit, die Bundeswehr in einem permanenten
Prozess auf ihre neuen Aufgaben auszurichten. Denn die
neuen Bedrohungen und Aufgaben wechseln heute häufiger als die Generalsekretäre der KPdSU in der Zeit des
Kalten Krieges.
Während bis zum Ende der Blockkonfrontation das
am wenigsten wahrscheinliche Szenario ein tatsächlicher
Einsatz der Bundeswehr war, sind Einsätze weit außerhalb unserer Grenzen heutzutage ständige Realität, ja
beinahe Normalität. Die Antwort auf diese neue Wirklichkeit ist die Transformation der Bundeswehr. Alle bisher gültigen Strukturen und Konzepte kommen auf den
Prüfstand. Sie müssen sich daran messen lassen, welchen Beitrag sie zur Aufgabenerfüllung der Bundeswehr
leisten. Darüber ist heute Morgen schon gesprochen
worden.
Lassen Sie mich auf einen Aspekt der aktuellen Diskussion eingehen, der besonders große öffentliche Aufmerksamkeit verdient: die Zukunft der Wehrpflicht in
diesem veränderten Umfeld. Einige Stimmen in diesem
Hause sind immer sehr schnell mit ihrer Forderung nach
dem Ende der Wehrpflicht zur Stelle. Sie passe nicht
mehr in unsere Zeit, hören wir dann. Die Argumente
wechseln: Einmal wird die angeblich mangelnde Wehrgerechtigkeit beklagt, dann heißt es wieder, die Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar.
Manchmal wird auch empirisch argumentiert: Die große
Mehrheit der NATO-Mitgliedstaaten - so die FDP in einem ihrer Anträge - habe die Wehrpflicht ausgesetzt
oder plane, dies zu tun. Deshalb müssten wir nun ebenso
handeln.
Mich überzeugt keine dieser Begründungen. Im Gegenteil: An der Wehrpflicht festzuhalten, wie der Verteidigungsminister das will, ist richtig. Ich glaube, dass die
Entscheidung für die Wehrpflicht, solange wir eigene,
deutsche Streitkräfte unterhalten, solange es noch keine
Europaarmee gibt, richtig bleibt.
({0})
Streitkräfte ohne Wehrpflichtige wären eine Armee,
die nach und nach nicht mehr zur Alltagserfahrung der
Menschen in Deutschland gehören würde. Das wäre eine
Bundeswehr, die viele dann nur noch aus der „Tagesschau“ kennen. Man soll die Zahlen nicht gering
schätzen: 8 Millionen junge Männer haben in den vergangenen fünf Jahrzehnten in der Bundeswehr gedient.
Im Jahr 2003 haben 120 000 Rekruten - W9er, FWDLer,
Zeit- und Berufssoldaten - ihren Dienst in der Bundeswehr angetreten und etwa genauso viele, 120 000, sind
ausgeschieden. Diese Fluktuation, dieser ständige Austausch ist eines der wichtigsten Bindemittel zwischen
Bundeswehr und Gesellschaft. Das wollen wir erhalten.
({1})
Die Wehrpflicht ist aber auch deshalb so wertvoll,
weil wir nicht wollen, dass die Bundeswehr zu einem beliebigen Dienstleister in Sachen Sicherheit wird. Gerade
in Zeiten, in denen unsere Soldaten in Einsätzen weit außerhalb unserer Grenzen ihren Dienst tun, ist es wichtig,
dass das Militärische dem Zivilen nicht fremd wird. Zusammen mit dem Prinzip der Parlamentsarmee gehört
die Wehrpflicht zu den Sicherungsmechanismen, die uns
davor bewahren, das Militär leichtfertig einzusetzen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Aber gerne.
Herr Kollege, Sie verteidigen so vehement die Wehrpflicht. Ich möchte gern Ihre Definition von Einberufungsgerechtigkeit hören. Wir haben ja keine
Wehrgerechtigkeit mehr. Wir haben eine eklatante Wehrungerechtigkeit, weil fast jeder Zweite nicht mehr zum
Wehrdienst oder Zivildienst einberufen wird. Das heißt,
die einen jungen Leute dienen und haben in unserer Republik Nachteile, andere, die sich davon freimachen
können und wegen Ihrer niedrigschwelligen Einberufungskriterien nicht gezogen werden, haben zum Beispiel die Möglichkeit, ein Jahr eher in den Beruf zu gehen.
Sie haben von Einberufungsgerechtigkeit gesprochen.
Meinen Sie, dass jetzt, im Jahr 2004, Einberufungsgerechtigkeit gegeben ist? Diese Frage möchte ich gerne
von Ihnen beantwortet haben.
Frau Kollegin, um auf den Mythos Wehrungerechtigkeit einzugehen: 100 Prozent haben wir nie gehabt,
auch in Zeiten des Kalten Krieges nicht. Ich habe es gesagt: Wir haben im Jahr 2003 120 000 Wehrpflichtige
zur Bundeswehr eingezogen; das sind die Zahlen, die
uns vorliegen. Darüber hinaus leisten 20 000 bis
30 000 in den Bereichen Bundesgrenzschutz, Polizei
und Katastrophenschutz ihren Dienst für die Sicherheit
unseres Landes und werden deshalb nicht zur Bundeswehr einberufen. Darüber hinaus haben wir die Kriegsdienstverweigerer, die Zivildienst leisten. Weit über die
Hälfte der Angehörigen eines Jahrgangs leistet ihren
Dienst - nicht nur Wehrdienst - für die Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus. Ich
finde das gut. Es enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, uns vor dem Hintergrund der demographischen
Entwicklung, aber auch geringerer Personalstärke der
Bundeswehr Gedanken über die Ausgestaltung der
Wehrpflicht zu machen und sie anzupassen. Aber wir haben heute nicht das Problem einer eklatanten Wehrungerechtigkeit. Wenn Sie die Zahlen zur Kenntnis nehmen,
die das Verteidigungsministerium veröffentlicht, werden
Sie sehen: Weit über die Hälfte tut ihren Dienst.
({0})
Ich will zu einem anderen Argument, das von Gegnern der Wehrpflicht verwendet wird, Stellung nehmen.
Das ist die sicherheitspolitische Legitimation, die zu
Zeiten des Kalten Krieges da war und heute angeblich
fehlt. Seit die Militärblöcke entfallen sind, so heißt es,
gebe es keine Legitimation mehr für die Wehrpflicht. Da
frage ich mich: Für die Bundeswehr auch nicht mehr?
({1})
- Ich sehe das ganz anders. Herr Nolting, ich gebe Ihnen
zu diesem „Quatsch“ jetzt einmal eine Erklärung. Ich
hoffe, Sie können sie nachvollziehen.
({2})
Nach Art. 87 a unseres Grundgesetzes stellt der Bund
Streitkräfte auf. Sie dienen der Verteidigung und jenen
Zwecken, die das Grundgesetz ausdrücklich zulässt.
Diese Zwecke sind in Art. 24 unter anderem beschrieben. Ich zitiere:
Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens
einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
einordnen;
Gemeinsame Sicherheit, das ist nicht Landesverteidigung allein. Ein solches Bündnis muss dazu dienen,
eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa
und zwischen den Völkern der Welt herbei[zu]führen und [zu] sichern.
Wir sind Mitglied solcher Bündnisse. Sie heißen UNO,
NATO und EU. Auf Beschluss dieses Parlaments stellen
wir ihnen zur Wahrung des Friedens deutsche Streitkräfte zur Verfügung. Das ist zwar etwas anderes als
Landesverteidigung, es ist aber einer der verfassungsmäßigen Daseinszwecke der Bundeswehr.
({3})
Das wird oft vergessen oder unterschlagen. Deshalb
sprechen wir heute im Übrigen von der Transformation
der Bundeswehr. Wenn es nur um Landesverteidigung
ginge, gäbe es nicht viel zu transformieren.
Die Bundeswehr ist laut Grundgesetz ein Instrument
zur Erfüllung unserer Verpflichtung, dazu beizutragen,
den Frieden in der Welt zu sichern oder wiederherzustellen. So ist es selbst in unserem Grundgesetz vorgesehen.
Um diese Bundeswehr optimal aufzustellen, haben
wir nach Art. 12 a des Grundgesetzes in Deutschland das
Instrument der allgemeinen Wehrpflicht. Wir müssen
nicht krampfhaft nach originellen Legitimationen für die
Wehrpflicht suchen.
({4})
Hier ist sie. Sie steht im Grundgesetz. Dies ist die wichtigste sicherheitspolitische Legitimation der Wehrpflicht
heute: Unser Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit, der
wir uns verpflichtet haben und die wir mitgestalten.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
dafür müssen wir übrigens nicht extra 25 neue Heimatschutzbrigaden aufstellen, damit der kritische Bürger
sagt: Oh, Heimatschutz, das hört sich nach Landesverteidigung an, also bleibt es bei der Wehrpflicht. Für mich
als Norddeutschen hört sich das eher ein bisschen nach
bayerischem Tüdelkram an. Unsere Verfassungsprinzipien, unsere Idee von einer friedlichen Welt, unser
Recht, ohne Terror zu leben, wird nicht nur in Hindelang
verteidigt, sondern - wo Struck Recht hat, hat er Recht auch am Hindukusch. So ist die sicherheitspolitische
Lage heute.
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die
Lage in jenen NATO-Staaten, deren Abschaffung der
Wehrpflicht uns ein Vorbild sein soll. Weder gewinnen
die Streitkräfte in diesen Ländern den besseren Nachwuchs - eher das Gegenteil ist der Fall - noch sind die
dortigen Berufsarmeen kostengünstiger.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja.
Lieber Herr Kollege Bartels, Sie haben gerade von
der Aufstellung von Heimatschutzbrigaden gesprochen.
Teilen Sie meine Auffassung, dass die vorhandenen Heimatschutzbataillone - möglicherweise umgestaltet für
neue Aufgaben - diese Aufgabe auch wahrnehmen
könnten?
Sie meinen die Reservebataillone?
Ich meine die gekaderten Heimatschutzbataillone, die
nicht aktiven Truppenteile, plus 200 andere nicht aktive
Truppenteile der Bundeswehr.
Darüber wird man reden können, wenn es um die Reservistenkonzeption der Bundeswehr geht. Ich bin jedenfalls dagegen, neue Einheiten aufzustellen, um damit die
Wehrpflicht zu rechtfertigen, die wir selbstverständlich
auch ganz anders rechtfertigen können, nämlich mit den
heutigen Aufgaben der Bundeswehr. Dafür brauchen wir
keine neuen aktiven Truppenteile.
({0})
Das Argument, andere NATO-Staaten schaffen auch
die Wehrpflicht ab und sind damit ein Vorbild, kann für
uns, wenn wir genau hinschauen, nicht gelten. Das ist
nicht kostengünstiger und nicht besser. Die Wahrheit ist,
dass selbst im Umfang reduzierte Berufsarmeen höhere
Kosten verursachen, etwa durch erheblich höhere Investitionen in Nachwuchsgewinnung und Personalbindung.
Schwierigkeiten gibt es auch bei der Gewinnung von
Mannschaften und Unteroffizieren. Weil die Haushaltsmöglichkeiten, junge Menschen über finanzielle Anreize
zum Dienst in der Armee zu bewegen, auch bei unseren
Nachbarn nicht unbegrenzt sind, kommt oft die zweite
Option zum Zuge, um die Reihen zu füllen: die Senkung
der Einstellungskriterien. Das ist nicht gerade der Königsweg zur Professionalisierung der Streitkräfte.
Im Übrigen sind die FWDLer, die freiwillig länger
dienenden Wehrpflichtigen, ganz professionell an Auslandseinsätzen der Bundeswehr beteiligt. Sie haben ihren Anteil am guten Ruf unserer Soldaten in den Einsatzgebieten.
Die Kontinuität liegt im Wandel. Die Wehrpflicht ist
kein Dinosaurier aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts.
Sie bleibt notwendig und wird im Sinne des Transformationsgedankens ständig den neuen Erfordernissen angepasst. Wir unterstützen den Bundesminister der Verteidigung auf diesem Weg.
Schönen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Herrmann,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Tag debattieren wir
über verteidigungspolitische Themen, die für die zukünftige Gestaltung der Bundeswehr und deren Auftrag
von elementarer Bedeutung sind.
Festzustellen ist, dass sich die Situation in den zurückliegenden Jahren für die betroffenen Soldatinnen
und Soldaten, aber auch für die „Organisation Bundeswehr“ vollkommen verändert hat. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes, der Grenzöffnung und
der Wiedervereinigung erlebte das starre System der
Bundeswehr, früher zielgerichtet auf den ausschließlichen Auftrag der Landesverteidigung, einen erheblichen
Wandel. Wie schwierig dieser Umbruch war, zeigt die
Debatte über die Vorkommnisse bei den Märzunruhen
im Kosovo oder die Diskussion um eine Mandatsverlängerung in Afghanistan. Aber gerade die heutige Diskussion über Fehler und Defizite ist sicherlich Anlass genug, auch über die notwendigen Veränderungen und
Korrekturen im Inland zu sprechen.
({0})
Um nochmals auf die veränderten Vorzeichen und
Anforderungen nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes zurückzukommen, muss ich feststellen,
dass viele zum damaligen oder späteren Zeitpunkt getroffene Entscheidungen richtig waren, aus heutiger
Sicht jedoch fatal sind. Der Abbau von sicherheitsrelevanten Strukturen beim Bevölkerungsschutz, angefangen von der Demontage von Sirenen bis hin zur deutlichen Verringerung von Dienstposten im Bereich der
Bundeswehr, war Folge der sich radikal verändernden
Sicherheitslage. Niemand konnte sich damals vorstellen,
welche Aufgaben, Gefahren und Herausforderungen auf
die internationale Staatengemeinschaft und somit auf die
Bevölkerung in Deutschland zukommen würden.
Ein Agendaschwerpunkt internationaler sicherheitsund verteidigungspolitischer Aufgaben stellt sicherlich
die Bekämpfung des internationalen Terrorismus sowie
die Stabilisierung der so genannten Failed States dar. So
richtig es ist, Sicherheitskrisen weltweit präventiv zu bekämpfen - von der Entwicklungshilfe bis zum UNOMandat -, so wichtig ist es, die eigentliche verfassungsrechtliche Grundlage der Bundeswehreinsätze - Landesverteidigung - nicht aus den Augen zu verlieren und
sie anlassbezogen den heutigen Erfordernissen anzupassen.
({1})
Die Terroranschläge von New York, Washington, Istanbul, Madrid und Beslan mahnen uns, heute zu handeln,
damit wir weitere Terroranschläge verhindern können
und bei der Bewältigung möglicher Anschläge zumindest ausreichend gewappnet sind.
Herr Kollege, ich darf Sie einen Augenblick unterbrechen.
Ich möchte den lieben Kolleginnen und Kollegen, die
noch Gespräche zu führen haben, raten, dies außerhalb
des Plenarsaales in der Lobby zu tun. Die beiden letzten
Redner haben noch zehn Minuten Redezeit und es ist unfair, wenn man sie nicht mehr verstehen kann.
({0})
Vielen Dank.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Wir dürfen somit nicht auf die Erhaltung sicherheitsrelevanter, umfassender Strukturen in der Heimat verzichten, sondern müssen sie stärken und ausbauen. Leider zeichnet sich jedoch in diesem Bereich eine
bedauerliche Entwicklung ab, die durch die Mitte
Mai 2003 veröffentlichten Verteidigungspolitischen
Richtlinien unterstützt wird. Zwar wird in dem Papier
auch auf die Landesverteidigung Bezug genommen, jedoch werden andere Schwerpunkte deutlich herausgehoben und deren Umsetzung forciert.
Wie ernst die Regierungskoalition das Thema Landesverteidigung nimmt, zeigt ein Beispiel im Zusammenhang mit der heute geführten Diskussion um die
Wehrpflicht. Ich zitiere aus den Verteidigungspolitischen
Richtlinien: „Aufgaben der Bundeswehr“ - hier wird auf
die besondere Bedeutung der Wehrpflicht hingewiesen -:
Angesichts der sicherheitspolitischen und strategischen Lage können die hierfür erforderlichen zusätzlichen Kräfte zeitgerecht wieder aufgestellt
werden. Diese Rekonstitution wird vor allem durch
die allgemeine Wehrpflicht sichergestellt.
Fakt ist jedoch, dass die Zahl der Wehrpflichtigen bis
zum Jahr 2010 weiter sinken soll. Ab dem 1. Januar
2005 werden die mit T3 gemusterten Männer nicht mehr
zum Wehrdienst herangezogen.
Dieser Weg, Herr Minister, ist falsch. Anstatt sich für
eine gerechte und effiziente Wehrpflicht stark zu machen, höhlen Sie sie immer weiter aus, bis sie auf kaltem
Wege abgeschafft wird. Herr Minister Struck, geben Sie
den Gegnern der Wehrpflicht nicht noch mehr Argumente für die Abschaffung der Wehrpflicht, sondern
stellen Sie sie auf ein starkes Fundament!
({0})
Herr Gerhardt und Herr Nolting, aufgrund der zuvor
genannten Gründe und der von Ihnen gemachten Aussagen zur Wehrpflicht habe ich Verständnis für einen
wachsenden Diskussionsbedarf in dieser Frage. Aber
- das muss deutlich gesagt werden - wer die Wehrpflicht
aussetzen will, will sie abschaffen. Herr Gerhardt hat
eben von den Grünen die Courage gefordert, heute dem
FDP-Antrag zuzustimmen.
({1})
Ich hätte mir von Ihnen die Courage gewünscht, dass Sie
Ihre Ziele klar formulieren und nicht die Aussetzung der
Wehrpflicht fordern, sondern ganz klar sagen, dass es Ihnen um die Abschaffung der Wehrpflicht geht.
({2})
Bereits im März dieses Jahres haben wir als Union die
Schaffung eines Organisationsbereiches „Landesverteidigung und Heimatschutz“ in der Bundeswehr und ein
flächendeckendes Netz von bis zu 50 „Regionalbasen
Heimatschutz“ gefordert. Diese Regionalbasen sollen
miteinander vernetzt und jeweils bis zu 500 Soldatinnen
und Soldaten stark sein. Dafür können bis zu 80 Prozent
Wehrpflichtige vorgesehen werden, die von Zeit- und
Berufssoldaten geführt werden. Die Verwendung von
Reservisten soll im Falle eines Einsatzes einen umfassenden Aufwuchs ermöglichen. Die Ausbildung dieser
Truppe soll katastrophenschutznah erfolgen. Die Soldaten
sollen nach ihrer Grundausbildung besondere Fähigkeiten in Objektsicherung, Fernmeldewesen, ABC-Abwehr,
Pionier- und Sanitätswesen erwerben.
Eine flächendeckende Verteilung der Regionalbasen
gewährleistet die schon angesprochene Zusammenarbeit
mit zivilen Behörden des Katastrophenschutzes. Daher
ist es besonders wichtig, die Diskussion über unsinnige
Standortschließungen sowie die Auflösung von VBKs
zu beenden; denn gerade der Verbleib der Bundeswehr in
der Fläche erlaubt es, ohne Zeit- und Reibungsverluste
eine erforderliche zivil-militärische Abstimmung vorzunehmen.
({3})
- Ich habe Ihnen eben gesagt: Wir haben damals auch
Fehler gemacht. Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht.
({4})
Bei den vorliegenden Vorschlägen geht es darum, unter Einbindung aller Kräfte ein Gesamtverteidigungsund Heimatschutzkonzept zu verwirklichen, das den
bestmöglichen Schutz unserer Bevölkerung gewährleistet. Hierbei sollen die Kräfte für innere und äußere
Sicherheit eng miteinander verschränkt werden, die
zivil-militärische Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gestärkt und Hilfsorganisationen
wie THW und Rotes Kreuz stärker in den Katastrophenschutz eingebunden werden. Dafür brauchen wir Strukturen, Ansprechpartner und eine verlässliche Zeitplanung.
Die Bundeswehr muss endlich in die Lage versetzt
werden, Aufgaben jenseits der Kriminalitätsbekämpfung
optimal wahrnehmen zu können, und zwar dort, wo Polizei, Technisches Hilfswerk und Rotes Kreuz allein nicht
mehr weiterkommen. Die hierfür erforderliche Grundgesetzänderung würde von uns getragen und ist im Übrigen
in diesem Jahr durch einen Gesetzentwurf unserer Fraktion zur Diskussion gestellt worden.
Sicherheitspolitik muss sich an den aktuellen Ereignissen orientieren und nicht an Haushaltsfragen. Ich
kann uns nur den guten Rat geben, jetzt vorzusorgen, damit wir in Zukunft Situationen, auf die wir keinen Einfluss haben, meistern können.
Herzlichen Dank.
({5})
Letzter Redner ist der Kollege Hans Raidel, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir erleben zum wiederholten Male
die Aufführung des Theaterstücks „Die heile Welt von
Rot-Grün in der Außen- und Sicherheitspolitik“.
({0})
Das einzige, was hieran wirklich stimmt, ist, dass unsere
Soldaten eine hervorragende Arbeit daheim und im Ausland leisten und wir ihnen dafür Dank schulden, den wir
von der CDU/CSU-Fraktion auch heute wieder abstatten
wollen.
({1})
Alles andere ist Wunschdenken, ist Traum von Rot-Grün
auf Wolke sieben und stimmt mit der Wirklichkeit nicht
überein.
Wer genau hinschaut und hinterfragt, stellt fest, dass
es in der Truppe immer mehr Frust gibt, weil Defizite
immer sichtbarer werden. Wo moderne Ausrüstung sein
sollte, herrscht Mangel. Der Bundeswehrplan des Herrn
Generalinspekteurs ist lesenswert. Er hat keine Perspektive, er hat keinen Optimismus, sondern er weist eher die
Fassung eines Mängelberichts auf.
Die Modernisierung der Ausrüstung klemmt an allen
Ecken und Enden. Mühsam gestaltet sich die notwendige Transformation der Streitkräfte. Der dringend
notwendige Heimatschutz wird zugunsten der Auslandseinsätze zurückgefahren und auch bei den Auslandseinsätzen stellen sich immer mehr Fragezeichen.
({2})
Die Regierung übernimmt immer mehr internationale
Aufträge, die die Bundeswehr erfüllen muss. Gleichzeitig schrumpft die Bundeswehr, die Armee wird verkleinert, Standorte werden aufgelöst, Rüstungsprogramme
werden gestrichen oder gestreckt, die Reservisten an den
Rand gedrängt und die Wehrpflicht infrage gestellt. Der
Katalog ließe sich fortsetzen.
({3})
Wo aufgrund einer seriösen Sicherheitsanalyse eine
stabile Armee geformt werden müsste, wird gestutzt. Wo
Geld für Forschung, Entwicklung, Beschaffung und Rationalisierung gegeben werden müsste, um die Attraktivität der Bundeswehr zu erhöhen, wird gekürzt.
Eines ist klar: Deutschland braucht eine tragende und
klar definierte Sicherheitsstrategie dringender denn je.
Wo stehen wir und wohin wollen wir? Unsere Interessen
müssen eindeutig formuliert werden. Dazu müssen
eigene Beiträge geleistet werden.
Deutschland muss seinen politischen Willen zur
Durchsetzung dieser Ziele unter Beweis stellen. Dafür
brauchen wir eine verlässliche Finanzplanung für die
Bundeswehr, eine Anschubfinanzierung für Investitionen und Planungssicherheit. Darüber hinaus ist ein integriertes Gesamtverteidigungskonzept notwendig, in
dem auch die Aufgaben der Bundeswehr im Heimatschutz definiert werden.
Unsere Bundeswehr hat Anspruch auf die bestmögliche Ausrüstung. Deshalb brauchen wir auch eine hervorragend aufgestellte wehrtechnische Industrie. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Schaffung der
Europäischen Rüstungsagentur, weil wir der Auffassung
sind, dass Europa eigenständige und gemeinsame rüstungstechnologische und -industrielle Fähigkeiten
braucht. Das setzt aber den politischen Willen zum Erhalt der Schlüsseltechnologien und Kernfähigkeiten der
deutschen wehrtechnischen Industrie voraus. Hier bestehen meiner Meinung nach bei der Regierung Defizite.
Wir müssen die Rüstungsindustrie wieder werthaltig
machen, damit sie beispielsweise mit Frankreich oder
England mithalten kann, sodass Fähigkeitslücken zwischen uns und der NATO bzw. den USA verkleinert werden können.
({4})
Wenn wir nicht umfassend investieren und rationalisieren, dann wird sich nichts ändern und wir werden die
militärische Transformation nicht zum Erfolg führen
können. Wenn wir nicht bereit sind, umzudenken und die
notwendigen Mittel in einem mittel- und langfristigen
Zeitrahmen zur Verfügung zu stellen, dann wird
Deutschland in sicherheitspolitischer Hinsicht in die
zweite Liga absteigen. Das können wir alle nicht wollen.
Der von Rot-Grün eingeschlagene Weg ist nicht konsequent. Wort und Tat stimmen, wie so häufig, nicht
überein.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 3 a: Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungs-
ausschusses auf Drucksache 15/3125 zu dem Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Durch Transformation die Bundeswehr zu-
kunftsfähig gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/2656 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenpro-
be! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen der CDU/CSU, der FDP und der beiden
PDS-Abgeordneten angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3127 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Zu-
kunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen - Wehrpflicht
aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2662 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU
und der beiden PDS-Abgeordneten gegen die Stimmen
der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 c: Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3126 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler einer verläss-
lichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutsch-
lands“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2388 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und der beiden
PDS-Abgeordneten gegen die Stimmen der CDU/CSU
angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 d: Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungs-
ausschusses auf Drucksache 15/2963 zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Wehrpflicht aus-
setzen“. Dazu liegen mir etliche Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung vor, und zwar von der Kollegin
Anna Lührmann, den Kollegen Alexander Bonde, Win-
fried Hermann, Hans-Josef Fell und weiteren Abgeord-
neten der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sowie
von den Kolleginnen Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch
und dem Kollegen Jens Spahn.1)
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 15/1357 abzulehnen. Es ist namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht
der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Deshalb bitte ich
alle Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen. - Ich bitte insbesondere die Kolleginnen und Kollegen im Mittelgang, sich zu ihren Plätzen zu begeben.
Sonst können wir nicht weiter abstimmen.
Tagesordnungspunkt 3 e: Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3263 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der
Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2824 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/
CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Arbeitsmarktstatistik aussagekräftig gestalten - Ausmaß der Unterbeschäftigung verdeutlichen
- Drucksache 15/3451 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Rechtsausschuss
1) Anlagen 2 bis 4
2) Siehe Seite 11475 C
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Eine korrekte Politik braucht korrekte Arbeitsmarktzahlen. Falsche Zahlen führen zwangsläufig zu einer fehlerhaften Politik und zu fehlerhaften Entscheidungen. Jedermann in Deutschland weiß,
({0})
dass es keine krummeren, keine falscheren, keine unsinnigeren, keine kritikwürdigeren Zahlen gibt als die in
der Arbeitslosenstatistik, die uns derzeit vorliegt.
Wir haben es mit folgender bizarrer Situation zu tun:
Die Bundesregierung preist Monat für Monat Erfolge in
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Als Beleg führt
sie diesen Zahlensalat an. Gleichzeitig sehen wir, dass
sich die Menschen - vor allem in den neuen Bundesländern - Tag für Tag schwerer tun, einen Job zu bekommen. Nirgendwo wird so geschönt, geföhnt, frisiert, gefärbt wie bei der Arbeitsmarktstatistik. Das beste
Beispiel sind die 80 000 Arbeitslosen, die zu Jahresbeginn in Trainingsmaßnahmen waren. Man hat sie im Januar mit einem Federstrich aus der Statistik entfernt. Allerdings ist keiner der 80 000 Menschen, die aus der
Statistik entfernt worden sind, zu einem Job gekommen;
das Statistikwunder hat nicht zu einem Jobwunder geführt.
Diese Manipulationen, dieses Schönreden der Statistik hat Tradition: 400 000 arbeitsfähige ältere Arbeitslose über 58 Jahre sind nach § 428 SGB III aus der Statistik entfernt worden, weil man sagt: Na ja, die haben eh
kaum noch Chancen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sie sind zwar aus der Statistik herausgenommen
worden, aber sie haben keinen Job. 670 000 arbeitsfähige Rentner, die ihr Altersgeld nicht aufgrund des Erreichens der Altersgrenze, sondern wegen Arbeitslosigkeit
bereits vor dem 65. Lebensjahr erhalten, sind ebenfalls
aus der Statistik gestrichen worden. Einen Job hat von
diesen Menschen kein Einziger gefunden.
Von den Teilnehmern an längerfristigen Maßnahmen
der aktiven Arbeitsmarktpolitik - Sie preisen sie immer
an -, wie JUMP, JUMP plus, aber auch ABM, taucht
niemand in der Statistik auf, obwohl es sich gerade bei
ihnen um klassische Arbeitslose handelt. Warum sind
solche Menschen denn in einer Fortbildungsmaßnahme?
Gerade weil sie keine Arbeit haben. Dennoch tauchen
sie in der Statistik nicht auf.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - wenn Sie uns schon
nicht glauben, dann glauben Sie zumindest diesem von
Ihnen eingesetzten Gremium - schätzt deshalb zu Recht,
dass die verdeckte Arbeitslosigkeit bei rund 1,7 Millionen Menschen liegt. Das heißt, nicht die offizielle Zahl
von 4,3 Millionen Arbeitslosen, sondern die Zahl von
6 Millionen arbeitslosen Menschen gibt ein realistisches
Bild.
Hinzu kommt - auch das will ich an dieser Stelle erwähnen - die so genannte stille Reserve. Darüber, wie
hoch die ist, herrscht Streit. Die einzelnen wissenschaftlichen Institute beziffern die Zahl derer, die in dieser stillen Reserve sind, auf 1 Million bis 2 Millionen. Das sind
Menschen, die sich gar nicht bemühen, sich bei der Arbeitsagentur zu melden, weil sie von vornherein glauben,
sie hätten ohnehin wenig Chancen. Ein Beispiel ist eine
Mutter, die nach einer Erziehungspause wieder in den
Erwerbsprozess zurück will, aber sieht, dass in ihrer
Umgebung ohnehin kaum Jobs frei sind. Sie meldet sich
gar nicht. Sie will arbeiten, aber sie unterlässt es, sich arbeitslos zu melden, weil sie glaubt, ohnehin wenig Chancen zu haben.
Wenn man dies alles zusammennimmt - jetzt folgt die
eigentlich Schrecken erregende Zahl, die aber realistisch
ist -, dann kommt man unter dem Strich auf rund
7 Millionen Menschen, die in unserem Land keine Beschäftigung haben, aber gern arbeiten würden.
Es gibt natürlich einen engen und unlösbaren Zusammenhang zwischen dem Verlust an Vertrauen in die
Politik, den wir über die Parteigrenzen hinweg immer
wieder beklagen, und der sicheren Erkenntnis der Menschen in unserem Land, dass die offizielle Arbeitslosenstatistik keine seriöse und realistische Beurteilung der
Lage auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht. Die Arbeitslosenstatistik ist zum Symbol für die Unkorrektheit und für
die Unübersichtlichkeit geworden sowie für die Unfähigkeit der Politik und gerade der rot-grünen Bundesregierung, die klaren Tatsachen auf den Tisch zu legen.
({1})
An die Bundesregierung gerichtet sage ich - Herr
Staatssekretär Andres, geben Sie es dem Herrn Wirtschaftsminister Clement weiter -: Wer sich bei dieser
Statistik etwas in die Tasche lügt und Deutschland etwas
vorlügt, zerstört Vertrauen und gewinnt kein Vertrauen
zurück.
({2})
Der Vorgänger von Minister Clement, Herr Bundesminister Riester, hat kurz vor der Bundestagswahl in diesem Hohen Hause erklärt, er wolle eine klare und transparente Statistik. Herr Staatssekretär Andres, wir
nehmen die Bundesregierung gern beim Wort. Wir haben mit unserem Antrag einen Vorschlag vorgelegt, der
Klarheit schaffen kann. Er wird Klarheit schaffen, wenn
Sie ihn übernehmen.
Das geht nicht nach dem Ritual, das viele kennen und
das den Bürgern schon unerträglich erscheint, nämlich
dass die Opposition die Zahlen grundsätzlich als zu niedrig ansieht und die Regierung die Zahlen gern etwas
schönredet, sondern wir schlagen Ihnen vor, zukünftig ein
ganz klares Zahlenpaar zu verwenden, ein Zahlenpaar,
das exakt über den Zustand unserer Wirtschaft Auskunft
gibt und das die Schicksalszahlen der Nation - das sind
die Arbeitslosenzahlen - ganz klar und auch nachvollziehbar dokumentiert.
Wir beginnen mit einer positiven Zahl. Die positive
Zahl ist in dem Fall die Zahl der Erwerbstätigen, also
derjenigen, die einen Job haben, sei es abhängig beschäftigt, sei es selbstständig. Sie liegt derzeit bei
38 Millionen. Sie wissen, dass es dazu noch eine andere
Zahl gibt, nämlich die der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten. Diese Zahl ist niedriger. Sie liegt bei
26 Millionen und ist in den letzten Jahren stark gesunken. Also zunächst die positive Zahl! Wir wollen die Situation nicht ständig schlechtreden, sondern wir beginnen mit der positiven Zahl, der der Erwerbstätigen.
Dem stellen wir die Zahl der Beschäftigungslosen
gegenüber, also nicht mehr die Zahl der Arbeitslosen, die
Sie in der Vergangenheit so verunstaltet haben. Dazu bedarf es einer entsprechenden Änderung im Sozialgesetzbuch III; dort brauchen wir eine andere Definition, die ein
realistisches Bild ermöglicht. Mit dieser klaren und eindeutigen Definition, nämlich dass derjenige, der arbeiten
will und arbeiten kann, dann, wenn er keine Arbeit findet,
als beschäftigungslos gezählt wird, wird ein realistisches
Bild der Situation in unserem Land gezeichnet. Damit
wird auch wieder eine Vergleichsmöglichkeit zum Vormonat, aber auch zum Vorjahr geschaffen. Durch die
ständigen Veränderungen der Statistik, die Sie vorgenommen haben, ist ein Vergleich mit den Vorjahresdaten und
den Vormonatsdaten immer weniger möglich und sinnvoll, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({3})
Die Statistik ist das eine; die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung ist das andere. Wir wollen neben einer realistischeren Statistik auch bessere Zahlen, damit
den 7 Millionen Beschäftigungslosen in unserem Land
und den vielen anderen, die nicht wissen, ob sie von diesem Schicksal betroffen werden, endlich wieder eine
Perspektive geboten wird. Wenn Sie also wirklich eine
bessere Statistik vorlegen wollen, müssen Sie auf Wirtschaftswachstum setzen. Wir brauchen ein Wirtschaftswachstum, das deutlich höher liegt als die 2 Prozent, die
Sie ansteuern und mit viel Glück vielleicht erreichen.
Wir brauchen ein Wirtschaftswachstum, das bei
3 Prozent oder höher liegt. Nur dann wird es zu spürbaren Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt kommen. Solange wir, wie auch in diesem September, noch jeden
Tag 1 000 Arbeitsplätze verlieren, wird sich trotz aller
Änderungen, die Sie in der Statistik noch vorhaben, real
überhaupt nichts bewegen. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die zu einem Aufwuchs von Arbeitsplätzen führt, die statt einem Verlust von 1 000 Arbeitsplätzen pro Tag jeden Tag 1 000 Arbeitsplätze neu schafft.
Damit wären wir auf einem guten Weg. Dann könnten
Sie auch in der Statistik bessere Werte erzielen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Aussagekräftig soll die Statistik gestaltet werden; Unterbeschäftigung soll verdeutlicht
werden. Richtig ist: Die Statistik ist aussagekräftig und
wir verdeutlichen die Unterbeschäftigung. Wir verdeutlichen sie nicht nur, sondern wir tun auch etwas dagegen,
dass die Unterbeschäftigung in diesem Land zurückgeführt wird.
({0})
- Also, um es klarzustellen: Wir tun etwas dafür, dass
die Unterbeschäftigung in diesem Land zurückgeführt
wird. Das unterscheidet uns von der Arbeit der Opposition in den vergangenen Jahren.
Der Antrag der CDU/CSU - ich glaube, meine Damen und Herren, das ist gerade sehr deutlich geworden will nichts anderes als Verunsicherung schaffen. Das ist
aus meiner Sicht bedauerlich, ja, das ist sogar scheinheilig.
({1})
- Das nehme ich nicht zurück, weil ich es auch belegen
kann, lieber Herr Hinsken.
Bedauerlich ist es, weil wir für das Gelingen der
Arbeitsmarktreformen Vertrauen brauchen. Auch die
Damen und Herren von der Union sind im Übrigen besser beraten, ihre Energie darauf zu verwenden, dass genau dieses Vertrauen hergestellt wird, denn die Wahlen
am letzten Sonntag sollten uns alle eine Lehre sein und
deutlich machen, dass solch ein Populismus, wie ihn gerade Herr Singhammer wieder vorgelebt hat, nicht dazu
führt, dass die demokratischen Kräfte in diesem Land
gestärkt werden.
({2})
Das nämlich, was Sie gesagt haben, heißt nichts anderes,
als dass Sie die Manipulationen, die Sie in der Vergangenheit vorgenommen haben, jetzt gesundreden wollen.
Scheinheilig an Ihrem Antrag, meine Damen und
Herren, ist, dass Sie uns auffordern, Regelungen zurückzunehmen, die Sie einst selbst vorgenommen haben. Sie
fordern, Teilnehmer in Maßnahmen sollen in die Arbeitslosenquote eingehen. Sie zählen hier ein buntes Allerlei an Maßnahmen auf: Trainingsmaßnahmen, Personal-Service-Agenturen, JUMP-Programm, ABM, also
alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die man sich
vorstellen kann.
({3})
Dabei wissen Sie genau, dass all diese Personen in der
monatlichen Statistik der Bundesagentur für Arbeit
auftauchen.
({4})
Die monatlich erscheinende Arbeitslosenquote bezieht
sich auf diejenigen, die dem Arbeitsmarkt auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Personen in Maßnahmen werden gesondert erfasst.
Ich will Ihnen dazu nur noch sagen: Alle Abgeordneten bekommen jeden Monat ein riesiges Kompendium
von der Bundesagentur für Arbeit geliefert. Sie lesen es
offenbar nur bis zur Seite 4.
({5})
Wenn Sie darüber hinaus weiterlesen würden, würden
Sie genau diese differenzierte Auflistung all dieser Maßnahmen finden. Wir könnten uns diese Debatte hier sparen. Es handelt sich um nichts anderes als heiße Luft,
was Sie hier losgelassen haben, Herr Singhammer. Es ist
bedauerlich, dass ich Ihnen das so deutlich sagen muss.
({6})
- Es passt uns nicht, weil die Fakten anders sind.
Sie fordern zum Beispiel: Die Zahlen von älteren
Arbeitslosen aus der so genannten 58er-Regelung sollen in die Arbeitslosenquote eingehen. Das ist schon bemerkenswert. Nur zu Ihrer Erinnerung: Norbert Blüm
hat in den 80er-Jahren bestimmt, dass dieser Personenkreis eben nicht zu den Arbeitslosen gezählt wird.
({7})
- Ja, er hat einen Fehler gemacht. Aber die FDP hat dabei mitgeholfen. Heute lehnen Sie die Verantwortung dafür ab. Aber genau das ist Ihre Politik gewesen.
({8})
Ganz abgesehen davon führen wir diesen Personenkreis in der Statistik auf. Ich sage ganz deutlich und
drastisch: Was von Herrn Singhammer vorgetragen
worden ist, ist in der Sache gelogen. Er hat behauptet,
dass genau die Maßnahmen, die ich gerade vorgetragen
habe, nicht in der Statistik auftauchen. Herr
Singhammer, ich muss Ihnen sagen: Sie tauchen auf.
Entweder haben Sie es nicht gewusst oder Sie hier haben bewusst gelogen. Das muss in diesem Hohen Hause
einmal gesagt werden.
({9})
Sie werfen uns Schönfärberei der Statistik vor.
({10})
Dabei schließen Sie von sich - das haben wir gerade erlebt - auf andere. Das muss deutlich festgestellt werden.
Ausgerechnet Sie fordern zum Beispiel, dass ältere
Personen, die eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit
beziehen, künftig als Arbeitslose in die amtliche Statistik
aufgenommen werden sollen. Ausgerechnet Sie! Ich
muss Ihnen sagen, dass diese Forderung an Populismus
kaum zu überbieten ist. Denn in den 90er-Jahren haben
Sie nichts anderes getan, als Menschen mit 58 oder
59 Jahren in die Arbeitslosigkeit und mit 60 Jahren in
die Rente abzuschieben. Damit haben Sie Folgendes bewirkt: Erstens haben Sie die Statistik geschönt. Zweitens
haben Sie diese Menschen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Drittens haben Sie die Rentenkassen geplündert.
Viertens sind Sie mitverantwortlich dafür, dass ältere Arbeitnehmer in dieser Gesellschaft schlechtere Chancen
haben.
({11})
Herr Singhammer hat ein Beispiel für Populismus
geliefert. Er hat gesagt, Manipulation und Schönreden
hätten Tradition in dieser Regierung. Hier ist der Beleg:
Manipulation und Schönreden haben Tradition in der
CDU/CSU.
({12})
Ich will mich an diesem Punkt nicht in Ihren Fehlern
verlieren, sondern nur kurz an eine Sache erinnern. Im
Wahljahr 1998 haben Sie kurzfristig die Zahl der ABMStellen - Sie wissen es - um fast 400 000 erhöht. Sie haben damit versucht, die Wählerinnen und Wähler zu täuschen. Diese Irreführung ist Ihnen zum Glück nicht gelungen. Der rot-grünen Koalition und mir ist es ein
Anliegen, dass eine ehrliche und transparente Arbeitslosenstatistik vorgehalten wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Singhammer?
Nein, jetzt nicht.
Arbeitslosenzahlen sind keine wahltaktische Manövriermasse. Es ist unsere tiefe Überzeugung, dass hinter
jeder einzelnen Zahl in der Statistik ein menschliches
Einzelschicksal steckt. Dessen sind wir uns bewusst und
deshalb handeln wir auch so konkret.
({0})
Wir wollen in der Statistik alle arbeitssuchenden Personen erfassen. Das haben wir in der Vergangenheit getan und das werden wir auch in Zukunft tun. Wir waren
es, die mit den Programmen JUMP und JUMP plus vielen Jugendlichen, die nicht in der Statistik erfasst waren, erstmals eine berufliche Perspektive gegeben haben.
({1})
Herr Singhammer, natürlich wissen wir, dass 20 Prozent
nicht in der Statistik erfasst waren. Das bedeutet, dass
wir die Menschen sozusagen aus der Versenkung geholt
haben. Aber Sie werfen uns heute vor, wir würden sie
verstecken. Wir haben ihnen geholfen. Diesen Erfolg haben Sie kleingeredet. Herr Schäuble hat davon gesprochen, dass es um nichts anderes gehe, als die Menschen
aufzubewahren. Wir haben den Menschen Perspektiven
gegeben und haben ihnen weitergeholfen. Das war notwendig, weil die Arbeitslosigkeit in diesem Land größere Ausmaße hatte, als wir es 1998 bei Übernahme Ihrer Zahlen erwarten mussten.
Die Erfassung der Arbeitslosen ist wichtig. Denn nur
wenn die entsprechenden Zahlen vorliegen, können wir
das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit erkennen
und entsprechend gegensteuern. Uns sind konkrete Hilfen und Engagement wichtiger als vorteilhafte Zahlen
und Politikgerangel.
Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe wird die Arbeitslosenstatistik zum 1. Januar ebenfalls ein ganzes Stück ehrlicher: Bislang waren
viele der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger eben
nicht bei der Arbeitsagentur gemeldet. Es handelt sich
schätzungsweise um 300 000 bis 400 000 Personen, die
jetzt ohne Arbeit sind, aber - wie gesagt - nicht in der
Statistik erfasst sind. Dieser Personenkreis wird dann der
Arbeitsagentur gemeldet werden. Trotz der medialen
Ausschlachtung - es wird von einem starken Anstieg der
Arbeitslosenzahlen gesprochen werden -, die wir zum
1. Januar 2005 erwarten, wird deutlich werden, dass dies
ein richtiger Schritt ist. Dabei ist nichts anderes gefragt,
als dass wir die Kraft und den Mut haben, den Umfang
der Arbeitslosigkeit in diesem Lande ehrlich darzustellen.
({2})
Das sollten Sie loben und nicht scheinheilig zerreden.
({3})
Ehrlichkeit zahlt sich langfristig aus, und zwar nicht nur
für uns als Regierungspartei, sondern auch - darum geht
es mir in erster Linie - für die Arbeitslosen, für diejenigen Menschen, die ohne eine Arbeitsperspektive sind.
Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt in Ihrem Antrag eingehen. Sie von der Union fordern in Ihrem Antrag, die stille Reserve der Arbeitssuchenden
besser zu erfassen. Das ist ein wichtiger Punkt; allerdings ist er, so wie er formuliert wurde, populistisch. Die
monatliche Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für
Arbeit kann natürlich nur diejenigen erfassen, die sich
arbeitslos melden. Eine stille Reserve zeichnet sich jedoch genau dadurch aus, dass sie „still“ ist.
Zur stillen Reserve gehören in großem Umfang
Frauen, die sich nach der Erziehungsphase nicht wieder
bei der Bundesagentur gemeldet haben. Uns ist dieser
Personenkreis wichtig. Deshalb haben wir gehandelt.
Mit Beginn des neuen Jahres veröffentlicht das Statistische Bundesamt monatlich ergänzende Arbeitslosenzahlen. Das geschieht parallel zur üblichen Statistik, von der
ich schon gesprochen habe und die an Deutlichkeit und
Transparenz nichts zu wünschen übrig lässt.
({4})
Das Statistische Bundesamt wird, wie Sie wissen, mit
Befragungen arbeiten und nicht wie die Bundesagentur
von der Registrierung ausgehen.
Warum machen wir das eigentlich? Erstens. Wir können dadurch die stille Reserve besser erfassen und uns so
ein Bild davon machen, wie viele Personen tatsächlich
Arbeit suchen. Zweitens. Unsere Arbeitsmarktzahlen
werden mit dieser Ergänzung international vergleichbar - und das, denke ich, fordern doch auch Sie. Deshalb
sollten Sie diesen weiteren Präzisierungsschritt in der
Statistik im Kern begrüßen.
Für uns steht fest: Eine ehrliche Statistik, eine Statistik ohne Manipulation ist nicht nur irgendein Ziel. Die
Erstellung einer solchen Statistik werden wir vielmehr
auch leisten und eine solche Statistik werden wir auch
vorhalten. Bei allen Diskussionen um die Richtigkeit
und Wichtigkeit von Statistiken dürfen wir aber am Ende
nicht aus dem Auge verlieren, was wirklich zählt: Wir
wollen und müssen die Zahl der Arbeitslosen senken,
ganz gleich, ob und in welcher Form sie in der Statistik
auftauchen.
Arbeitslosigkeit ist unser aller Problem. Wenn ich
„alle“ sage, meine ich nicht nur die rot-grüne Bundesregierung, sondern auch Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition. Ich meine Unternehmen und Arbeitgeber ebenso wie die Gewerkschaften und all diejenigen,
die in irgendeiner Form an der Umsetzung der Arbeitsmarktreformen mitwirken.
Wir sollten uns gemeinsam an einem Leitgedanken
orientieren, den uns die Hartz-Kommission mit auf den
Weg gegeben hat, nämlich dass wir einen Baustein stärker gemeinsam bearbeiten müssen: Es darf keinen Nachschub für Nürnberg geben. Ich meine damit ganz konkret, dass eine Facette der Politik sein muss, viel dafür
zu tun, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Diesen Prozess müssen wir unterstützen und begleiten. Die andere
Facette ist: Wir müssen alles dafür tun, dass die derzeitigen Arbeitsplätze in diesem Land erhalten bleiben. Wir
müssen die handelnden Parteien dazu auffordern, dies in
das Zentrum ihres Handelns zu rücken und den Personalabbau nicht leichtfertig und leichtsinnig hinzunehmen.
Wir alle müssen uns darum bemühen, Vertrauen zurückzugewinnen. Das gilt nach den Wahlen in Sachsen
und in Brandenburg ganz besonders für die etablierten
Parteien. Darum sollten wir uns solche Beiträge, wie sie
heute von der Opposition kamen und die allgemeine Verunsicherung schaffen, lieber versagen. Wir sollten stattdessen konkrete Sachpolitik betreiben.
({5})
Damit helfen wir den Arbeitslosen in diesem Land mehr.
Wir sorgen damit auch dafür, dass die Demokratie stabilisiert wird und nicht an den rechten und teilweise auch
an den linken Rändern ausgefranst wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 3 d zurück und
gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel
„Wehrpflicht aussetzen“ - das sind die Drucksachen 15/1357 und 15/2963 - bekannt. Abgegebene
Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 528, mit Nein haben gestimmt 44, Enthaltungen eine. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon
ja: 527
nein: 43
enthalten: 1
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Hans Martin Bury
Marco Bülow
Dr. Michael Bürsch
Sabine Bätzing
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Hans Eichel
Marga Elser
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({5})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({6})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Uwe Göllner
Karl-Hermann Haack
({7})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({8})
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gisela Hilbrecht
Stephan Hilsberg
Jelena Hoffmann ({9})
({10})
Iris Hoffmann ({11})
Frank Hofmann ({12})
Eike Hovermann
Christel Humme
Klaas Hübner
Gerd Höfer
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Renate Jäger
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Volker Kröning
Horst Kubatschka
Helga Kühn-Mengel
Dr. Uwe Küster
Dr. Heinz Köhler ({13})
Christine Lambrecht
Christian Lange ({14})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Gesine Multhaupt
Michael Müller ({15})
Christian Müller ({16})
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({17})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Walter Riester
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({18})
Michael Roth ({19})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({20})
Gerhard Rübenkönig
René Röspel
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Siegfried Scheffler
Horst Schmidbauer
({21})
Ulla Schmidt ({22})
Silvia Schmidt ({23})
Dagmar Schmidt ({24})
Wilhelm Schmidt ({25})
Heinz Schmitt ({26})
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Brigitte Schulte ({27})
Reinhard Schultz
({28})
Swen Schulz ({29})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Axel Schäfer ({30})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Ludwig Stiegler
Rita Streb-Hesse
Christoph Strässer
Joachim Stünker
Rolf Stöckel
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({31})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({32})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({33})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({34})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({35})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
({36})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Wolfgang Bosbach
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Georg Brunnhuber
Monika Brüning
Klaus Brähmig
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({37})
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({38})
Dr. Wolfgang Bötsch
Cajus Julius Caesar
Manfred Carstens ({39})
Peter H. Carstensen
({40})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({41})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({42})
Dirk Fischer ({43})
Axel E. Fischer ({44})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({45})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Georg Girisch
Michael Glos
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Markus Grübel
Hermann Gröhe
Karl-Theodor von und zu
Guttenberg
Olav Gutting
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Michael Hennrich
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Hubert Hüppe
Joachim Hörster
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({46})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Manfred Kolbe
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({47})
Dr. Karl A. Lamers
({48})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Walter Link ({49})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({50})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({51})
Stephan Mayer ({52})
Dr. Conny Mayer
({53})
Dr. Martin Mayer
({54})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({55})
Doris Meyer ({56})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Marlene Mortler
Stefan Müller ({57})
Bernward Müller ({58})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({59})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({60})
Volker Rühe
Dr. Norbert Röttgen
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Angela Schmid
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({61})
Andreas Schmidt ({62})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Anita Schäfer ({63})
Dr. Wolfgang Schäuble
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({64})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({65})
Gerald Weiß ({66})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zeitlmann
Willi Zylajew
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Marieluise Beck ({67})
Volker Beck ({68})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Peter Hettlich
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Fritz Kuhn
Undine Kurth ({69})
Markus Kurth
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({70})
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({71})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({72})
Werner Schulz ({73})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Hans-Christian Ströbele
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({74})
fraktionslose
Martin Hohmann
Petra Pau
Nein
FDP
Daniel Bahr ({75})
Angelika Brunkhorst
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({76})
Rainer Funke
Dr. Karlheinz Guttmacher
Joachim Günther ({77})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Hellmut Königshaus
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Günther Friedrich Nolting
({78})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Enthalten
CDU/CSU
Vera Lengsfeld
Nächster Redner in der jetzigen Debatte ist der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vertrauen ist der Schmierstoff der Demokratie,
schreibt Hans-Ulrich Jörges diese Woche im „Stern“.
Die Spiegelfechtereien der beiden immer kleiner werdenden so genannten Volksparteien beweisen immer
wieder: Egal wer regiert, die Arbeitslosenstatistik war
schon immer ein politisches Kampfmittel.
({0})
Wir sollten uns einmal Gedanken darüber machen, ob
wir nicht neue Wege gehen sollten: hin zu einem
System, welches das tatsächliche Ausmaß der Unterbeschäftigung aufzeigt.
({1})
- Herr Brandner, Sie sollten sich nachher einmal den
Versprecher in Ihrer Rede im Protokoll ansehen. Es handelt sich vermutlich nur um einen freudschen Versprecher. Aber Sie haben gesagt, dass Sie alles dafür tun, das
Ausmaß der Unterbeschäftigung nicht zurückzuführen.
Lesen Sie das einmal nach! Ich hoffe, Sie haben das
nicht ernst gemeint. Halten Sie sich aber einmal ganz bedeckt!
({2})
Wir sollten das tatsächliche Ausmaß der Unterbeschäftigung deshalb aufzeigen, weil es das notwendige
Kriterium ist, um den Einsatz finanzieller Mittel und
politische Entscheidungen richtig steuern zu können.
Natürlich hat Herr Brandner Recht, wenn er sagt, dass
in dem dicken Wälzer der Bundesagentur für Arbeit über
die Arbeitslosenstatistik die einzelnen Personengruppen
ausgewiesen werden. Sie tauchen aber nicht in der Arbeitslosenquote auf. Die Arbeitslosenquote aber ist es,
die jeden Abend in der „Tagesschau“ und im „HeuteJournal“ gezeigt wird und auch in den Zeitungen steht.
Wir haben 4,3 Millionen registrierte Arbeitslose. Zudem
befinden sich 82 000 Menschen in Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen, 140 000 in beruflicher
Weiterbildung und 90 000 in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, 79 000 sind Überbrückungsgeldempfänger,
157 000 bekommen Existenzgründungszuschüsse und
400 000 Ältere fallen unter die Regelung nach § 428
SGB III. Wenn Sie diese Gruppen hinzurechnen,
kommen Sie auf eine Arbeitslosenzahl, die weit über
1 Million höher liegt als die aktuelle Arbeitslosenzahl.
Dies sind unstreitig Menschen, die arbeiten wollen und
auch arbeiten können. Sie gehören in diese Statistik.
({3})
Wenn Sie jetzt Herrn Blüm anführen, sage ich Ihnen
mit der Gnade des Spätgewählten, der 1998 in den Bundestag eingezogen ist, klipp und klar: Das war schon damals falsch. Wenn man diese Erkenntnis gewonnen hat,
muss man es nicht weiterhin falsch machen. Deswegen
darf man das heute korrigieren.
({4})
Auf der anderen Seite werden Menschen in der Arbeitslosenstatistik aufgeführt, die nachweislich gar nicht
arbeiten wollen oder können. Es geht gar nicht mal um
diejenigen, die nicht arbeiten wollen, weil sie sich mit
den Transferleistungen gut eingerichtet haben; das ist
der deutlich kleinere Teil der Arbeitslosen. Es geht um
diejenigen, die sich arbeitslos melden müssen, um andere Transferleistungen beziehen zu können. So muss
sich zum Beispiel der so genannte Kindergeldarbeitslose
zwischen Schule und Bundeswehr bzw. Zivildienst beim
Arbeitsamt arbeitslos melden, damit seine Eltern weiterhin Kindergeld bekommen. Es gibt die Gruppe derer, die
keine Leistungsansprüche haben
({5})
und sich bei der Bundesagentur nur deshalb arbeitssuchend melden, weil dann die Ausfallzeiten bei der Rente
angerechnet werden. Es gibt diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, diesen aber vielleicht erst in zwei Wochen antreten und für die Zwischenzeit keinen anderen
Arbeitsplatz annehmen werden. Sie müssen sich in dieser Zeit arbeitslos melden, um den Leistungsbezug
sicherzustellen. Das sind keine Unterbeschäftigten. Es
handelt es sich um eine normale Friktionsarbeitslosigkeit
aufgrund des Wechsels des Arbeitsplatzes, die sogar teilweise wünschenswert ist. Diese Menschen müssen in der
Statistik nicht aufgeführt werden.
Warum nehmen Sie nicht den Vorschlag des Kollegen
Singhammer auf und vergleichen die Zahl der tatsächlich Beschäftigten, und zwar nicht nur die Erwerbstätigen, sondern auch das geleistete Arbeitsvolumen als
Hauptkriterium für ein mögliches Wirtschaftswachstum
in Deutschland, mit der Zahl der Nichtbeschäftigten, die
in Arbeit kommen wollen? Das wäre der richtige Weg
und würde ein Stück weit wieder zu Vertrauen auch in
die etablierten Parteien führen. Das wäre eine große
Chance.
({6})
Was das Vertrauen nicht fördern wird, ist das vom Kabinett beschlossene System der parallel geführten ILOStatistik. Man kann Statistiken natürlich auf zweierlei
Art manipulieren: einmal, indem man bestimmt, wer erfasst wird, und einmal, indem man bestimmt, wie erfasst
wird. Aufgrund der ILO-Kriterien gilt jemand, der eine
Stunde in der Woche arbeitet, nicht als arbeitslos. Ich
hätte gerne einen Stundenlohn, von dem ich mir durch
eine Stunde Arbeit in der Woche mein Existenzminimum finanzieren könnte.
({7})
Es ist doch für jeden, der einigermaßen gerade denken
kann, völlig klar, dass jemand mit einer Stunde wöchentlicher Arbeitszeit unterbeschäftigt ist. Das kann also
nicht das Kriterium sein, nach dem wir arbeiten.
Natürlich wird jetzt die Regierung behaupten - das
stimmt auch zu Beginn -, sie lasse die ILO-Statistik nur
parallel erheben. Wir wissen aber aus der Vergangenheit
- das mag es auch in Zeiten, in denen ich noch nicht im
Parlament war, gegeben haben -, dass parallel geführte
Statistiken irgendwann die erste Statistik ablösen, zumindest teilweise. Hier wird ein riesengroßer Betrugsversuch gestartet, der dazu führen soll, Ihre vermurkste
Wirtschaftspolitik hinterher als glorreichen Erfolg darzustellen. Das machen wir mit Sicherheit nicht mit.
({8})
Entscheidend in diesem Land ist es, überhaupt erst
einmal Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen
zu schaffen.
({9})
Eigentlich ist der große Skandal doch gar nicht, wie die
Arbeitslosenstatistik aufgebaut oder erhoben wird; vielmehr besteht der große Skandal in diesem Land doch
darin, dass wir überhaupt eine Arbeitslosenstatistik brauchen. Also brauchen wir, um diesen Skandal zu bekämpfen und um den Menschen, der arbeiten kann und will,
eine Chance dazu zu geben, eine andere Steuer-, Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in den
letzten sechs Jahren durchgeführt worden ist.
({10})
Damit Betriebe und Private Geld zum Investieren und
zum Konsumieren haben, brauchen wir eine klare, einfache, gerechte und transparente Steuerreform, die den
Menschen und den Betrieben mehr Geld in der Tasche
lässt.
({11})
Damit die Wirtschaft atmen kann, brauchen wir eine
Veränderung des Arbeitsrechts. Wir brauchen einen größeren Spielraum, um all das flexibel handhaben zu können, was Entlassung und Einstellung betrifft. Wir brauchen mehr Flexibilität bei der Lohnfindung in
unterschiedlichen Regionen. Wir brauchen weniger
starre Vorgaben. Wir müssen zu einem System kommen,
in dem Bürokratie ab- und nicht aufgebaut wird, wie es
in der gesamten Zeit der rot-grünen Bundesregierung
stattgefunden hat. Da wird groß geredet und von einem
Masterplan Bürokratieabbau getönt; passiert ist nichts.
Im Endeffekt sind die kleinen Betriebe diejenigen, die
- für den Staat kostenfrei - Statistik und VerwaltungsarDirk Niebel
beiten zu erbringen haben. Das geht zulasten von Arbeitsplätzen und das haben Sie zu verantworten.
({12})
Wenn Sie, die beiden immer kleiner werdenden
Volksparteien,
({13})
sich darauf einigen könnten, dass wir diesen Weg gehen
sollten, dann sollten wir das möglichst schnell tun; denn
allein Transparenz hinsichtlich der Frage, wie viel Arbeitsvolumen in Deutschland erbracht wird und wie viel
Unterbeschäftigung es in Deutschland gibt, wird das
Vertrauen der Bevölkerung in die deutsche Arbeitsmarktpolitik zurückbringen. Dann haben wir auch die
Möglichkeit, mithilfe der anderen Vorschläge, die ich
hier angesprochen habe, Chancen zu eröffnen, damit die
Rattenfänger in der Bundesrepublik nicht mehr den Zugriff auf andere Menschen haben.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Singhammer, ich war doch etwas erstaunt, wie wenig Sie bei Ihrer Rede zur Einbringung des Antrags rot
geworden sind, denn so etwas, wie Sie es hier heute veranstaltet haben, habe ich noch nicht erlebt:
({0})
Sie sagen hier, wir sollten systematisch all diejenigen zusammenrechnen, die keine Arbeit haben, inklusive der
stillen Reserve, die man übrigens nie genau bestimmen
kann. Damit wollen Sie den Eindruck erwecken, die Arbeitslosigkeit - im Volk draußen wird das Wort weiter
verwendet werden - läge bei 7 Millionen. Sie glauben,
wir seien so blöd, dieses Spiel mitzumachen. Sie greifen
das dann im Wahlkampf auf und plakatieren: Arbeitslosigkeit um 2 Millionen gestiegen. So einfach machen
Sie es sich; das haben wir in vielen Wahlkämpfen gesehen. Das hat keinen Sinn.
({1})
Jetzt einmal ganz praktisch, Herr Singhammer: Die
Arbeitslosenquote wird anhand derjenigen Menschen
errechnet, die keine Arbeit haben, bereit sind zu arbeiten
und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. So war es
in der Vergangenheit. Deswegen sind die stille Reserve
und diejenigen Menschen, die in Maßnahmen beschäftigt sind, nicht in die Quote eingerechnet. Im Übrigen ist
die Statistik der Bundesagentur viel restriktiver als etwa
die der ILO auf der europäischen Ebene; Kollege Niebel
hat es gesagt.
Wir rechnen als arbeitslos auch Menschen ein, die bis
zu 15 Stunden pro Woche arbeiten, aber mehr arbeiten
wollen; für sie haben wir eine andere Regelung als die
EU. Daran können Sie schon sehen, dass in Nürnberg
nicht, wie Sie unterstellt haben, versucht wird, so wenig
Leute wie möglich als arbeitslos zu erfassen.
Aber ich will Ihre Methode einmal ins Absurde treiben. Sie sagen: Weil Sie ein realistisches Nettobild wollen, rechneten Sie alle, die keine Arbeit haben, dazu.
Wie gehen Sie eigentlich mit der Schwarzarbeit um? Das
geschätzte Volumen von Schwarzarbeit in Deutschland
beträgt 5 Millionen Erwerbsarbeitsplätze. Sollen wir
diese Arbeitsplätze von Ihren 7 Millionen Arbeitslosen
wieder abziehen?
({2})
Dann wären wir bei 2 Millionen Arbeitslosen. An diesem Beispiel können Sie doch sehen, wie absurd Ihr Anliegen ist.
({3})
Wenn wir auf dieser Schiene noch etwas kreativer würden, rechneten wir Ihnen die Zahl der Arbeitslosen auf
Null.
({4})
Sie sehen also, dass das, was Sie hier vorgeschlagen haben, eine Absurdität ist.
Wer wie die Union 1998 systematische Manipulationen betrieben hat, etwa mit den 150 000 Wahl-ABM, die
Sie damals kreiert haben
({5})
- zusammen mit der FDP; bitte der lieben Ordnung halber keine Zwischenrufe von der Regierungsbank, Herr
Staatssekretär, obwohl der Zwischenruf gut war -, der
sollte doch insgesamt mit solchen Anträgen vorsichtiger
und zurückhaltender sein.
Hinsichtlich der Fragestellung, was wir eigentlich tun
können, damit die Arbeitslosigkeit in Deutschland ganz
aktuell stärker abgebaut wird - wir alle wissen, dass wir
zusehen müssen, dass auf dem Binnenmarkt mehr investiert wird und die Leute mehr Geld ausgeben,
({6})
weil wir uns beim Export an der äußersten Grenze befinden -, möchte ich zwei Punkte in den Vordergrund rücken, die mich mehr interessieren als der singhammersche Schnickschnack, den wir jetzt verhandelt haben.
Erstens. Die Preistreiberei, die uns von den Energiekonzernen in den letzten Wochen angekündigt worden
ist, darf nicht stattfinden. Es geht nicht an, dass man den
Energiepreis weit oberhalb der realen Kostensituation in
einer Größenordnung zwischen 3 und 4 Prozent anheben
will. Wer dies tut, setzt ein klares Signal gegen die
Binnenmarktentwicklung und droht, die tatsächliche
Wirkung der Steuersenkung, die wir zum 1. Januar 2005
vornehmen werden, kaputtzumachen. Wer Arbeitslosigkeit bekämpfen will - dies richte ich an das ganze Haus -,
der muss schauen, dass diese Preiserhöhungen unterbleiben.
({7})
Zweitens. Auch die angekündigten Preiserhöhungen
bei der Bahn wirken nicht anders als Kosten treibend
und damit den Binnenmarkt schwächend. Ich gehe davon aus, dass nach unseren gestrigen Beschlüssen, die
zum Inhalt hatten, dass der Börsengang nicht in dem
Zeitraster kommen wird, wie es Herr Mehdorn vorgesehen hat, die Preiserhöhungen noch einmal überdacht
werden.
({8})
Die Preiserhöhungen sind von der Seite der Energiepreise her höchstens in einer Größenordnung von 0,4 bis
0,5 Prozent vertretbar. Der Rest war eine Preiserhöhung,
die allein wegen des Börsengangs vorgesehen wurde,
um schnell zu einer stabilen schwarzen Null zu kommen.
Meine Fraktion fordert also die DB AG konkret auf,
nicht nur den Börsengang zu verschieben, sondern auch
auf diese Preiserhöhung zu verzichten.
({9})
Wenn wir die neuen Instrumente von Hartz I bis IV
wirklich effektiv umsetzen, dann werden wir auch einen
positiven Impuls für den Arbeitsmarkt bekommen. Dabei ist mir ein Punkt wichtig, den ich hier auch an die
Adresse der Bundesregierung anmerken will, Herr
Staatssekretär: Bei der Umsetzung von Hartz IV und bei
der Einrichtung der Jobcenter kommt es entscheidend
darauf an, dass so dezentral gearbeitet werden kann, wie
wir es in den Hartz-Reformen vorgesehen haben. Es soll
also das regional jeweils Beste gemacht werden und
nicht das, was sonst wo entschieden wird. In diesem Zusammenhang stelle ich Ihnen ein Beispiel vor, angesichts
dessen ich mir wirklich Sorgen mache, ob das, was wir
vorgesehen haben, funktionieren wird. Ich rufe in Erinnerung: Je dezentraler wir vorgehen, desto mehr Arbeitslose können wir in Jobs unterbringen.
Heute schreibt der „Tagesspiegel“, dass man in Berlin
immer noch Probleme mit den Gebäuden für die neuen
Jobcenter hat.
({10})
Im Bezirk Charlottenburg/Wilmersdorf wurde für das
neue Jobcenter ein Gebäude zur Verfügung gestellt, das
nun von Nürnberg mit der Begründung abgelehnt wird,
„die Verteilung der Steckdosen, die Türklinken, die
Oberlichter in den Räumen und die Fliesenhöhen in den
Toilettenräumen“ entsprächen nicht dem Pflichtenheft
der Nürnberger Zentrale.
({11})
An diesem Beispiel, Herr Staatssekretär, können Sie sehen, was sich manche in Nürnberg unter Dezentralisierung
vorstellen. Hier handelt es sich um ein groteskes Beispiel, weil es die Räumlichkeiten betrifft;
({12})
aber es ist auch ein symbolisches Beispiel für eine Denkweise, die wir überwinden müssen, wenn wir eine dezentrale Arbeitsorganisation wollen. Dies betrifft auch die
Regeln, was in den Jobcentern gemacht wird, wie gefördert wird, welche Beschäftigungsverhältnisse eingegangen werden, wie die 1-Euro-Jobs ausgestaltet werden
und wie dies in der Region abgestimmt und mit den Unternehmern und Gewerkschaften besprochen wird.
Im Klartext: Wir werden die positiven Instrumente
Hartz I bis IV nur praxiswirksam nutzen können, wenn
es gelingt, eine echte Dezentralisierung zu praktizieren.
Um dies zu erreichen, müssen wir den Mist verhindern,
der sich in dem von mir vorgelesenen Zitat widerspiegelt.
({13})
- Herr Niebel, mit Ihrem - wie soll ich es nennen? - liberalen Chaotenanarchismus kommen wir natürlich
nicht weiter. Sie sagen einfach: Weg mit dem Mist, auflösen, abschaffen! Aber Sie haben überhaupt keine konkreten Vorschläge gemacht, wie stattdessen die schwierige Arbeit geleistet werden soll, die vielen Arbeitslosen
in Jobs zu bringen und auch die Dauerarbeitslosen zu aktivieren. Da können wir nicht einfach liberal oder pseudoliberal mit den Schultern zucken und sagen: Da machen wir den Laden dicht.
Ich komme zum Schluss.
Kollege Kuhn, der Herr Kollege Niebel würde Ihnen
gern eine Zwischenfrage stellen.
Nein, das machen wir jetzt nicht. Ich hatte genügend
Redezeit. Herr Niebel, das wäre nicht nötig gewesen.
Vielen Dank!
({0})
Herr Singhammer, das, was Sie heute veranstaltet haben, ist, glaube ich, in die Hosen gegangen. Ich hoffe,
dass Sie beim nächsten Mal wieder mit mehr Intelligenz,
mehr Faktenwissen und mehr Kreativität die Debatte bereichern können.
Ich danke Ihnen.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Niebel.
Sehr geehrter Kollege Kuhn, nur mit grünem Gebläse
können Sie die Fakten natürlich nicht vom Tisch wehen.
Sie wissen ganz genau, dass ein Antrag der FDP-Bundestagsfraktion, in dem die Neuordnung der Bundesagentur durch Auflösung konkret dargestellt wird, in
diesem Hause vorliegt. Auch wenn Sie die Mär verbreiten, dass es dann hinterher keine Betreuung der Arbeitslosen gäbe - das ist trotzdem falsch.
Die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit, die
in ihrer jetzigen Form schlicht nicht reformierbar ist, ist
ein Terminus technicus. Durch die Auflösung besteht die
Behörde eine juristische Sekunde lang nicht mehr. Das
heißt, Sie können effektive Strukturen, übrigens auch die
von Ihnen geforderten dezentralen Strukturen, einziehen,
weil Sie die Vorschriften der Behörde nicht mehr berücksichtigen müssen, weil der Verwaltungsrat mit Frau
Engelen-Kefer nicht mehr da ist, weil die Beamten versetzt werden können, weil Angestellte mit Änderungskündigungen neue Strukturen einnehmen können. Damit
kann man ein Drei-Säulen-System aufbauen, mit dem
man den Arbeitsmarkt ordentlich ausgleichen und den
Menschen helfen kann.
Das wäre eine schmale Versicherungsagentur, die
nichts anderes als die Lohnersatzleistungen bearbeitet,
bei denen der Arbeitgeberanteil ausgezahlt wird, um Anreize für Wahltarife zu schaffen. Es wäre eine kleine Arbeitsmarktagentur mit ungefähr 200 Mitarbeitern, in der
das überregional Notwendige gemacht wird, in der man
sich insbesondere um die Transparenz der offenen Stellen und die bundesweite Vermittlung, aber auch um
Werkvertragsabkommen mit osteuropäischen Staaten
kümmert und in der entscheidungskompetente Ansprechpartner für Landesprojekte zur Verfügung stehen.
Vor Ort, in kommunaler Trägerschaft, würde, steuerfinanziert und im Grundgesetz abgesichert, die aktive Arbeitsmarktpolitik betrieben, weil die Menschen, die die
Arbeitsmarktpolitik brauchen, vor Ort sind und weil die
Arbeitsplätze in aller Regel ebenfalls einem konkreten
Ort zuzuordnen sind.
Von daher: Tun Sie nicht so, als hätten wir kein Konzept! Wir haben jede einzelne Aufgabe der heutigen
Bundesagentur kleinklein unter der Fragestellung durchdekliniert: Muss sie überhaupt noch gemacht werden?
Wenn sie gemacht werden muss: Von wem muss sie gemacht werden? Das liegt hier in diesem Hause vor.
Wenn Sie die Bundestagsdrucksachen nicht lesen, dann
sollten Sie gegenüber der Bevölkerung nicht so tun, als
gäbe es sie nicht, nur weil Sie Ihre Arbeit offenkundig
nicht richtig machen.
({0})
Herr Kollege Kuhn, Sie haben das Wort.
Auf die Frage, wer was liest, will ich hier nicht eingehen. Das ist mir zu albern. Natürlich kennen wir Ihre
Vorstellungen. Ich will einmal ernsthaft darauf antworten: Wir haben eine andere Grundannahme.
({0})
Deswegen haben wir die Hartz-Gesetze gemacht und die
vielen Reformen eingeleitet. Wir sind der Überzeugung,
dass auch diese Behörde mit 90 000 Beschäftigten, die
Bundesagentur für Arbeit, reformierbar ist. Wir sind ferner der Überzeugung, dass das am besten in der Konstruktion, wie wir sie heute haben, geschehen kann.
Diese sieht ja übrigens auch die Beteiligung von Unternehmen und Gewerkschaften vor. Da haben wir einfach
eine andere Grundüberzeugung; es ist letztlich eine andere ordnungspolitische Auffassung.
Ich habe darauf hingewiesen, dass diese Reform nur
dann funktionieren kann, wenn in Zukunft wirklich dezentral vorgegangen wird und wenn sich die Nürnberger
Zentrale auf das absolut notwendige Kerngeschäft der
Vereinheitlichung beschränkt und nicht vor Ort sagt, was
im Einzelnen gemacht werden muss. Das ist eine absolut
andere Konzeption, als Sie sie haben. Ich bin sehr skeptisch, ob Ihre Konzeption in der Praxis wirklich funktionieren würde, weil die ideelle Sekunde, mit der Sie argumentieren, eine Art Zerschlagung der bestehenden
Struktur bedeutet. Diese Zerschlagung hätte die einzelnen Mitarbeiter verunsichert und nicht die Möglichkeit
geschaffen, die neuen Reformen jetzt wirklich umzusetzen. Deswegen gehen wir einen anderen Weg.
Ich bin nicht überzeugt, dass es hilfreich ist, wenn Sie
jetzt immer von der Zerschlagung der Bundesagentur
sprechen.
({1})
- Auflösung der Bundesagentur. Sie kommen ja aus dem
Laden.
({2})
Deswegen erstaunt mich auch Ihr Frohsinn bei dem
Thema. Sie müssen sich vorstellen, dass da jetzt
90 000 Leute sitzen - dazu kommt noch die schwierige
Konstruktion, dass man in den Ländern nicht einen Wasserkopf belassen hat -, die die neue Konzeption umsetzen müssen. Da hilft es überhaupt nichts, wenn wir hier
in Berlin von Auflösung oder Zerschlagung sprechen.
Vielmehr müssen wir einen Umbau in Richtung einer
schnellen, dezentralen Reform anstreben. Für den Weg
haben wir uns entschieden. Dieser Weg wird auch gegangen, ganz egal, wie lange Sie noch von der Auflösung der Bundesagentur reden.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/
CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Herr Kuhn, eigentlich müsste man eine Rede
halten, die ausschließlich an Ihre Adresse gerichtet ist;
denn es ist enorm, wie viel Falsches Sie in so kurzer Zeit
vorgetragen haben. Wenn Sie davon sprechen, dass wir
hier Wahlkampf machen, muss ich Ihnen sagen: Das,
was Sie hier getan haben, war nichts anderes. Es macht
keinen Sinn, so unredlich miteinander umzugehen, wie
Sie es getan haben.
({0})
Sie sagen, den kleinen Leuten soll mehr Geld gegeben
werden. Warum bitte schön tun Sie das denn nicht?
Der Strompreis in Deutschland besteht mittlerweile
zu 40 Prozent aus staatlich ordinierten Kosten.
({1})
Das haben Sie zu verantworten. Im Wesentlichen war es
die Politik der Grünen, die dazu geführt hat,
({2})
dass jetzt dafür gesorgt werden muss, dass die Leute
mehr Geld in der Tasche haben. Durch Ihre Politik bekommen sie aber nicht mehr Geld. Deswegen sollten Sie
Ihre Politik ändern.
Nun ein Wort zu Ihnen, Herr Niebel. Aus meiner
Sicht sollte die Bundesagentur für Arbeit nicht aufgelöst
werden. Aber ebenso man darf sie nicht mit zusätzlichen
Aufgaben befrachten, wie es jetzt durch Hartz IV getan
wird. Deswegen haben wir immer dafür plädiert, dass
seine Umsetzung auf kommunaler Ebene durchgeführt
werden soll. Herr Kuhn, von diesem Standpunkt waren
Sie gar nicht weit entfernt, als Sie gesagt haben, dass
diese Arbeit auf lokaler Ebene geleistet werden muss,
weil dort die entsprechenden Kenntnisse vorhanden sind
und man näher bei den betroffenen Menschen ist. Es tut
mir Leid, dass Sie das, was Sie in Ihrer Rede im Prinzip
selbst gefordert haben, nicht umgesetzt haben. Nichtsdestotrotz brauchen wir eine Bundesagentur, die das
Ganze regelt, die aber nicht als Moloch mit zusätzlichen
Aufgaben befrachtet werden darf.
({3})
Nun will ich auf die Statistik zu sprechen kommen.
Auf dem Papier steht, dass derzeit 4,35 Millionen Menschen arbeitslos sind. Das ist wirklich nur die halbe
Wahrheit; Kollege Singhammer hat das eben erklärt.
Denn wenn man die stille Reserve berücksichtigt - dem
Frankfurter Institut zufolge liegt sie bei 1,7 Millionen -,
sind in Wirklichkeit über 6 Millionen Menschen arbeitslos. Diese Statistik zu manipulieren, halte ich für verantwortungslos. Früher nannte man ein solches Vorgehen
„Weimarer Verhältnisse“. Bei diesen Verhältnissen sind
wir in sehr kurzer Zeit wieder angekommen. Sie sind die
Folge rot-grüner Politik.
({4})
Lassen Sie mich Ihnen zwei Zitate ins Gedächtnis rufen: „Ziel des Masterplanes ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um 2 Millionen zu reduzieren.“ So
äußerte sich Peter Hartz am 16. August 2002. Der Kanzler sagte in seiner nebulösen Art: „Wir müssen aus dem
großen Wurf … eine neue Wirklichkeit für Deutschland
machen.“
({5})
Diese großen Ziele haben Sie verkündet; das ist genau
769 Tage her. Seitdem ist die Zahl der Arbeitslosen pro
Tag um durchschnittlich 460 gestiegen, Herr Brandner,
und 1 550 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind
pro Tag verloren gegangen.
({6})
Das sind die Folgen Ihrer Politik.
({7})
Wenn wir das, was Herr Hartz verkündet hat, noch
schaffen wollen, dann müssten ab jetzt pro Tag 6 415
neue Jobs geschaffen werden, damit die Zahl der Arbeitslosen bis Ende dieses Jahres um 2 Millionen zurückgeht.
({8})
Sie reden von „saisonbereinigter“ und „witterungsbedingter“ Arbeitslosigkeit. Wir müssten Ihre Politik von
ideologischen Vorstellungen bereinigen; denn dadurch
wird den Arbeitslosen kein bisschen geholfen.
({9})
Sie arbeiten mit Tricks. Herr Clement kommt mir
manchmal vor wie ein Zauberer. Während allerdings ein
Zauberer immer nur eine einzige Dame in einer Kiste
verschwinden lassen kann, hat Herr Clement einmal in
nur einer Nacht 81 000 Menschen aus der Statistik verschwinden lassen. Das waren diejenigen, die sich in
Trainingsmaßnahmen befunden haben. Diese Art der
Manipulation der Statistik kann nicht richtig sein; denn
dadurch wird kein einziger Arbeitsloser wieder in Lohn
und Brot gebracht. Das müsste aber unsere Aufgabe
sein.
Herr Brandner, wir müssen uns Gedanken darüber
machen, dass wir Wachstumszahlen in einer Größenordnung von 2 Prozent brauchen, um überhaupt neue Arbeitsplätze schaffen zu können. Warum das in anderen
Ländern schon bei einem Wachstum von nur 0,5 Prozent
möglich ist, ist mir bis jetzt verborgen geblieben. Daran
sollten wir arbeiten. Wir sollten uns aber nicht damit
beschäftigen, die Arbeitslosenzahlen zu manipulieren.
Und nichts anderes tun Sie.
Das wahre Ausmaß der strukturellen Krise, die wir in
Deutschland haben, kommt doch durch eine andere Zahl
viel besser zum Ausdruck - deswegen ist es richtig, was
der Kollege Singhammer gesagt hat, und deswegen gehört
diese Zahl für mich in die Statistik rein -, nämlich durch
die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Im Juni hatten wir gerade noch 26,4 Millionen.
({10})
Leider bekommen wir diese Zahl nicht zeitnäher, Herr
Brandner. Das wissen Sie. Durch Ihre Politik sind in den
letzten zwei Jahren 1,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen.
({11})
Das sind pro Monat 46 000 Arbeitsplätze. Frau Dückert,
das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das ist der Beweis
für das Scheitern Ihrer Politik.
({12})
1,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze
sind verloren gegangen. Nichts belegt die strukturelle
Krise, in der sich unser Land befindet, so sehr.
Daran zeigt sich für mich auch, dass wir das System
der Sozialversicherungen, das circa 70 Millionen Menschen umfasst, so mit ziemlicher Sicherheit nicht sanieren können. Deswegen sind die gesamten Versuche, die
Sozialsysteme auf diesem Weg zu sanieren, nicht gelungen und werden auch nicht gelingen.
Ich möchte noch einen Aspekt hinzufügen, der aus
diesen ganzen Statistiken auch nicht hervorgeht, aber
dennoch ein Beweis für Ihre gescheiterte Politik ist: Pro
Jahr scheiden mittlerweile circa 200 000 bis 250 000
Personen mehr aus dem Erwerbsleben aus, als eintreten.
Dieser demographische Effekt hätte in den sechs Jahren
Ihrer Regierung ja eigentlich zu einer Reduzierung der
Zahl der Arbeitslosen um circa 1,2 Millionen Menschen
führen müssen. Nichts ist davon zu spüren: Die Arbeitslosigkeit steigt permanent. Das kann einem hier schon
ganz gewaltig die Laune verderben.
({13})
Wie verhält sich dabei Ihr Bundeswirtschaftsminister? Er ist ja heute bei einer so wichtigen Debatte, in der
es um Arbeitslosigkeit, um die Schicksale der Menschen
geht, nicht einmal im Parlament und schickt Herrn
Andres vor, von dem wir ja gleich noch einiges hören
werden. Er lässt sich von solchen Zahlen nicht einmal
die Laune verderben. Die Manipulationen an der Arbeitsmarktstatistik bezeichnet er als „notwendige Klarstellung“. Wenn man 81 000 Menschen in der Trickkiste
verschwinden lässt, ist das also eine „notwendige Klarstellung“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür fehlen
mir die Worte! Dann sagt er in demselben Statement
weiter, dass er hoffe, dass sich die Konjunkturerholung
aufgrund der von der Bundesregierung eingeleiteten Reformen spürbar auf den Arbeitsmarkt auswirken werde.
Er hofft also. Gut, lassen wir ihn einmal hoffen, aber mir
wäre es lieber, hier würde gehandelt, damit etwas passiert.
Dazu muss die Arbeitsmarktpolitik verändert werden. Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden. Eine
Möglichkeit besteht zum Beispiel bei der Arbeitslosenversicherung. Wir müssen nur den Mut haben, in dem
Bereich ABM - der sowieso nichts bringt - endlich
wirksame Maßnahmen zu ergreifen und die Dinge, die
über Steuern zu finanzieren sind, auch über Steuern zu
finanzieren.
Können Sie mir einmal erklären, warum wir jetzt
auch noch Sprachkurse für Asylbewerber finanzieren?
180 Millionen Euro sind dafür in dem neuesten Etatentwurf der Bundesagentur vorgesehen. Sprachkurse für
Asylbewerber, also nicht etwa für Asylanten, die hier berechtigt bleiben dürfen, werden mit 180 Millionen Euro
gefördert. Dafür habe ich kein Verständnis.
Wenn Sie all diese Dinge verändern und den Arbeitsmarkt deregulieren sowie endlich betriebliche Bündnisse
für Arbeit zulassen würden, würden die Arbeitslosenzahlen positiv beeinflusst. Das Gleiche gilt, wenn Sie auf
dem Sektor Bürokratieabbau - der Kollege Niebel hat
das völlig zu Recht angesprochen - endlich etwas tun
würden, was den Namen verdient. Nehmen Sie doch nur
das Kleinunternehmerförderungsgesetz: Was Sie da an
Statistik verlangen, an Fragebögen, die diese Unternehmer ausfüllen sollen, ist ein Beschäftigungsprogramm
für Steuerberater, aber doch keine vernünftige Arbeit.
({14})
- Schauen Sie sich das bitte einmal selbst an, Herr
Brandner, dann werden Sie es auch kapieren.
Ich sage Ihnen noch eines voraus: Demnächst kommt
die nächste Manipulation. Im Oktober sollen 100 000
Langzeitarbeitslose mit Sprachkursen beschäftigt werden. Die werden wir dann auch nicht mehr in der Statistik finden.
({15})
Demnächst wird auch noch jeder, der einen 1-Euro-Job
hat, aus der Statistik verschwinden; dann haben wir
gleich 600 000 Arbeitslose weniger.
({16})
Das kann doch nicht die Lösung unserer Arbeitsmarktprobleme sein. Gehen Sie bitte hin und suchen Sie den
richtigen Weg.
Es war nicht in Ordnung - lieber Herr Brandner, ich
kann lauter schreien als Sie; ich habe ein Mikrofon -, dass
sich der Bundeskanzler am letzten Wochenende hingestellt
und den Menschen Mitnahmementalität vorgeworfen hat.
Wer verursacht denn diese Mitnahmeeffekte? Wer schafft
denn überhaupt die Möglichkeit dazu? Das sind doch Sie
als Gesetzgeber. Sie können es doch verhindern. Beschimpfen Sie nicht die Leute, die die Gesetze so anwenden, wie Sie sie gemacht haben, sondern machen Sie die
Gesetze so, dass sie vernünftig und sauber angewendet
werden können! Alles andere ist doch unsauber.
({17})
Ich darf Ihnen vielleicht die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Wahrheit und
Klarheit der Arbeitsmarktstatistik vorlesen: Die einzig
wahre Arbeitslosenzahl kann es angesichts unterschiedlicher Erkenntnisinteressen nicht geben. So hat die Bundesregierung auf unsere Anfrage geantwortet. Es ist eine
Unverschämtheit, uns so zu antworten. Einen besseren
Beweis als diesen kann es nun wirklich nicht geben. Wir
sollten hier wirklich dafür sorgen, dass vernünftige Politik gemacht wird, anstatt mit Nebelkerzen zu werfen.
Sie sollten Ihre Kräfte auf die Arbeitsmarktpolitik
konzentrieren. Tun Sie endlich das Richtige! Bekämpfen
Sie die Arbeitslosigkeit und verschönern Sie nicht die
Statistik!
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär für
Wirtschaft und Arbeit, Gerd Andres.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Während ich hier die ganze Zeit zugehört habe,
ist mir durch den Kopf gegangen, dass das wahrscheinlich meine dreißigste oder vierzigste Debatte über Arbeitsmarktstatistik hier im Bundestag ist.
({0})
Ich muss Ihnen einmal sagen, was mich langsam richtig anödet, nämlich dass in diesen Debatten nie die
Wahrheit gesagt, sondern je nach Interessenlage argumentiert wird. Man gaukelt sich etwas in einer Art und
Weise vor, dass es überhaupt nicht mehr auszuhalten ist.
({1})
Herr Fuchs, Sie waren ein beredtes Beispiel dafür.
({2})
Das, was Sie Herrn Kuhn vorgeworfen haben, kann ich
Ihnen gleich zurückgeben. Bei Asylbewerbern angefangen haben Sie in Ihre Rede alles hineingepackt, was Sie
hier gerne einmal loswerden wollten. Einen Teil der Positionen, die Sie hier genannt haben, finde ich außerordentlich bedenklich. Das will ich Ihnen einmal sagen.
Die Sprachkenntnis ist eine Schlüsselfunktion, um
Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten.
({3})
Sie können das bewerten, wie Sie wollen. Ich empfehle
Ihnen nur, in Ihrer Rede nachzulesen.
Sie sagen, die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten müssten in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen werden. Ich empfehle Ihnen, sich ein einziges Mal
eine solche Statistik anzuschauen.
({4})
Ich habe eine dabei. Die offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit beginnt mit dem geschätzten Sachstand am
Ende eines jeden Monats bezogen auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Für Juni stehen dort 26 440 800.
Herr Fuchs, das, was Sie hier beklagen, ist also längst
Wirklichkeit.
Damit haben Sie ein schönes Beispiel dafür geliefert,
dass die Statistikdebatten häufig sehr verlogen sind. Ich
sage Ihnen ganz offen: Ich kenne das selbst, da ich lang
genug in der Opposition war. Ein Interesse der Opposition ist es immer, der Regierung ständig vorzuwerfen,
dass die Statistik manipuliert wird. Es werde alles herausgerechnet, was nicht hineingehöre, und
({5})
es sei alles ganz schlimm. Die Arbeitslosenzahl wird
dann auf 5 Millionen, 6 Millionen oder 7 Millionen aufgeblasen. Wer hat noch mehr zu bieten? Ich habe mich
gewundert, dass hier noch niemand 8 Millionen gesagt
hat.
({6})
Herr Singhammer, eines kann ich Ihnen sagen: Lesen
Sie in Ihrer Rede nach! Alles, was Sie darin aufgelistet
haben, würde ich daraufhin überprüfen, ob das nicht zufälligerweise Herr Blüm eingeführt hat.
({7})
Um das hier abzuschließen: Ich streite sehr gerne darüber, ob die Teilnehmer an Trainingsmaßnahmen in
die Arbeitslosenstatistik gehören oder nicht. Für meine
Begriffe sind das keine Arbeitslosen. Deswegen sind sie
dort nicht hineinzurechnen. Darüber kann man aber
sach- und fachgerecht diskutieren. Das Schöne ist: Wenn
man unter Fachleuten außerhalb der Öffentlichkeit, also
intern diskutiert - Karl-Josef Laumann nickt -, dann geben sich alle gegenseitig Recht. Die Debatte hier wird
aber zu einer Schauveranstaltung genutzt. Dass die Menschen, die hier zuhören oder das an den Fernsehgeräten
mitbekommen, dadurch ein Stück weit Vertrauen in die
Politik verlieren, kann ich sehr gut verstehen.
({8})
Die Arbeitslosenzahlen der Bundesagentur für Arbeit
sind ein wichtiger Indikator zur Beobachtung des
Arbeitsmarktes. Wir alle sind es gewohnt, Monat für
Monat auf diese Zahlen zu warten und der überwiegende
Teil der Öffentlichkeit nimmt diese Arbeitslosenzahlen
als alleinigen Indikator zur Beurteilung der Arbeitsmarktentwicklung. Dabei sollte zumindest der überwiegende Teil derjenigen, die hier sitzen, wissen, dass die
Vorgänge am Arbeitsmarkt viel zu vielschichtig und
komplex sind, um sie mit einer einzigen Zahl beschreiben zu können. Daher ist es natürlich unverzichtbar, weitere Statistiken heranzuziehen. Dies gilt zum Beispiel für
die Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik und Personen im Vorruhestand, aber auch
für Zu- und Abgänge in und aus Arbeitslosigkeit sowie
die offenen Stellen und die Ausbildungsplatzsituation.
Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir haben uns angewöhnt, monatlich immer nur eine Zahl zu erfahren,
nämlich die der Arbeitslosen von zurzeit 4,35 Millionen.
Wer einmal genauer hinschaut, der weiß, dass diese monatlich veröffentlichte Zahl ganz wenig aussagt. Nur
dann, wenn man weiß, dass sich im vergangenen Jahr
7,7 Millionen Menschen neu arbeitslos gemeldet haben
und knapp 150 000 weniger aus der Arbeitslosigkeit herausfanden, sieht man, wie viel Bewegung auf dem Arbeitsmarkt ist. Solche Zahlen beschreiben viel mehr als
die Bestandszahl am Monatsanfang.
Um die Datenlage zum Arbeitsmarkt weiter zu verbessern, hat die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates im Frühjahr dafür gesorgt, dass das Statistische
Bundesamt demnächst monatliche Arbeitslosenzahlen
nach dem international vergleichbaren ILO-Standard erheben wird. Hierzu werden pro Monat 30 000 Bürger
per Telefon befragt. Die Umfrage hat am 10. September
dieses Jahres begonnen. Die ersten veröffentlichungsfähigen Ergebnisse wird das Statistische Bundesamt voraussichtlich im Februar 2005 für den Monat
Januar 2005 veröffentlichen.
Mit dieser neuen monatlichen Statistik werden wir
neue Einsichten über Umfang und Struktur der Arbeitslosigkeit gewinnen. Das Statistische Bundesamt will die
neue Umfrage außerdem dazu nutzen - sehr gut zuhören,
Herr Fuchs -, aktuelle Erwerbstätigenzahlen ohne Wartezeit zu veröffentlichen. Die bisherige Wartezeit von
zwei Monaten entfällt. Damit steht dieser wichtige Konjunkturindikator künftig unmittelbar und zeitnah zur
Verfügung.
Von einer Änderung der Definition der Arbeitslosigkeit
der Bundesagentur für Arbeit ist dagegen abzuraten; das
sage ich ganz ausdrücklich. Diese Definition folgt
zwangsläufig dem Leistungsrecht des Sozialgesetzbuches III; denn grundsätzlich kann nur derjenige Lohnersatzleistungen erhalten, der als arbeitslos registriert ist.
Nach unserer Definition ist arbeitslos, wer zur sofortigen
Arbeitsaufnahme verfügbar ist, sich bei einer Agentur
für Arbeit gemeldet hat und gleichzeitig keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder aber weniger als 15 Stunden pro
Woche arbeitet.
Die im CDU/CSU-Antrag aufgeführten Personengruppen, die zu den bisherigen Arbeitslosen addiert werden
sollen, sind aber nicht regelmäßig verfügbar, weil sie verrentet, im Vorruhestand oder in Weiterbildungsmaßnahmen sind. Möglich ist auch, dass sie einer anderen Erwerbstätigkeit nachgehen wie zum Beispiel Gründer einer
Ich-AG oder Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Eine solche Abgrenzung der Maßnahmeteilnehmer
von den Arbeitslosen entspricht übrigens auch dem EUStandard, den Eurostat gemeinsam mit den Mitgliedstaaten erarbeitet hat.
Für die Einbeziehung der so genannten stillen Reserve gilt, dass dieser Personenkreis in keiner Statistik
valid erfasst wird und die geschätzten Daten zwangsläufig nicht die Qualität der anderen Statistik erreichen. Die
stille Reserve zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass
sie sich gerade nicht beim Arbeitsamt meldet oder auf
andere Weise aktiv Arbeit sucht. Daher kann man sie
nicht einfach zu den registergeschützten Arbeitslosenzahlen addieren.
Dass die Erwerbstätigen im Zentrum der Arbeitsmarktberichterstattung bleiben müssen, ist für die Bundesregierung klar. Zwar ist die Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten für die Entwicklung der
Finanzen der Sozialversicherungen von großer Bedeutung, doch umfasst die Zahl der Erwerbstätigen neben
der der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch
die Minijobber, die Beamten und die Selbstständigen,
die zur Beurteilung der Entwicklung am Arbeitsmarkt
ebenso wichtig sind. Außerdem ist die Erwerbstätigenzahl neben der Zahl der Arbeitslosen internationaler
Standardindikator zur Beurteilung der Arbeitsmarktentwicklung.
Die Bundesregierung wird insbesondere vor dem
Hintergrund der Einführung einer neuen monatlichen
Arbeitsmarktstatistik nach ILO-Standard ihren Teil dazu
beitragen, um für mehr Klarheit in der Arbeitsmarktstatistik zu sorgen.
({9})
Sie hat dies mit ihrer ausführlichen Antwort auf die
Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Wahrheit
und Klarheit der Arbeitsmarktstatistik Ende März dieses
Jahres schon getan. Daraus stammt das Zitat, das Sie,
Herr Fuchs, benutzt haben. Ich sage Ihnen ganz ausdrücklich: Dieses Zitat ist richtig und die Bundesregierung hat damit Recht. Die Standardzahl zur Beschreibung der Arbeitslosigkeit gibt es nicht. Es benutzt jeder
die Zahl, die er gerade gebrauchen kann. Dafür waren
Sie in dieser Debatte ein leuchtendes Beispiel.
({10})
Natürlich steht die Bundesregierung auch mit dem
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - auch das ist angesprochen
worden, Herr Singhammer - und den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten in Kontakt. Zur Vorbereitung der Herbstprognosen wird die Bundesregierung mit
ihnen in der nächsten Woche unter anderem die Arbeitsmarktentwicklung und mögliche Indikatoren und Veränderungen der Arbeitsmarktstatistik diskutieren.
({11})
Zu Ihrer Aufforderung, wir sollten doch wenigstens dem
Sachverständigenrat glauben, dann sage ich Ihnen: Herzlichen Glückwunsch, Herr Singhammer, aufgewacht.
Vielleicht haben Sie das auch schon begriffen. Das hat
übrigens auch die alte Bundesregierung jedes Jahr gemacht. Sie hat jedes Jahr über den Arbeitsmarkt und
über die Statistik diskutiert. Eine Ihrer Forderungen ist
also erledigt. Die können Sie abhaken.
({12})
Eine Diskussion der Arbeitslosigkeitsdefinition des
SGB III führt allerdings nicht weiter, da sich diese Definition auch weiterhin am Leistungsrecht des SGB III
orientieren muss. Ich sage ganz deutlich: Letztendlich
müssen wir damit leben, dass es die eine wahre Zahl der
Arbeitslosen nicht gibt, sich die Öffentlichkeit dennoch
gern an eine einzige Zahl klammert. Die neue Statistik
nach ILO-Standard bietet die Chance, dies zu ändern.
Die Bundesregierung wird diese Chance gemeinsam mit
dem Statistischen Bundesamt und der Bundesagentur für
Arbeit nutzen.
({13})
Die Bundesregierung lehnt den Antrag der CDU/
CSU-Fraktion aus den genannten Gründen ab. Was Ihren
Zwischenruf betrifft, Herr Singhammer, so lesen Sie
doch die Antwort auf die Kleine Anfrage.
({14})
- Sie wissen es doch. Das ist ein großer Packen.
({15})
- Das glaube ich auch.
Ich habe für die Bundesregierung geantwortet. Eine
freundliche Diskussion über Statistik hilft überhaupt
nicht weiter. Das zeigt das Beispiel von heute Morgen
auch wieder. Wir werden so weitermachen, wie wir begonnen haben. Das halten wir für richtig.
({16})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Andres, auch Ihre Rede trägt nicht unbedingt
dazu bei, dass man weiterkommt.
({0})
Sie wirken immer ziemlich rechthaberisch und erwecken
den Eindruck, als ob alles außer dem, was Sie sagen, keinen Sinn habe. So einfach geht das nicht, Herr Andres.
({1})
Ich will an den Anfang stellen - ich hoffe, dass zumindest darin Übereinstimmung besteht -: Wer Arbeitslosigkeit bekämpfen will, muss Arbeitsplätze schaffen
und darf nicht die Statistik nach oben oder unten bereinigen. Darin sollten wir uns einig sein.
({2})
Diese Diskussion ist wirklich so alt, wie es die Arbeitsmarktstatistiken gibt. Ich will eine Äußerung des Bundeskanzlers aus dem Jahr 1998 zitieren. Damals hat er
gesagt, die Bundesregierung sei sich völlig im Klaren
darüber, dass sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung
verdanke, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen
zu können. Genau dieser Herausforderung werde sie sich
stellen. Er hat auch einmal gesagt, eine Regierung würde
nicht wieder gewählt, wenn sie das nicht schaffte. 2002
sah es so aus, als ob nichts passiere. Damals wurde die
Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen genannt. Davon
sind wir weit entfernt geblieben.
Es sah wirklich so aus, als ob es zu einem Regierungswechsel hätte kommen können. Aber dann kam die
Flut. Die Flut ist wieder gegangen, aber Schröder und
die Arbeitslosigkeit sind geblieben, und das auf einem
verstetigten Niveau. Das ist das Problem.
({3})
Ich will auf den demographischen Effekt hinweisen.
Seit dem Antritt der Regierung Schröder scheiden jährlich etwa 200 000 bis 250 000 Menschen mehr aus dem
Arbeitsmarkt aus, als junge Menschen nachrücken. Das
hat jedoch keinen Effekt. Die Zahl der Arbeitslosen liegt
- bei steigender Tendenz - nach wie vor bei über
4 Millionen.
Es ist in der Tat richtig, dass die Arbeitslosenstatistik
ständig frisiert wird. Es ist auch richtig, das Zusammenbringen der einzelnen Gruppierungen zu diskutieren und
in den Blick zu nehmen, wer wirklich arbeitslos ist. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, wer von den Arbeitslosen im ersten Arbeitsmarkt unterkommt.
Es gibt in der Tat viele längerfristige Maßnahmen
der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Der Kollege Niebel
hat sie eben aufgezählt; ich möchte nur einige Beispiele
nennen. Wer beispielsweise an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilnimmt, wird in der Statistik nicht
mehr geführt. Hinzu gekommen sind auch JUMP und
JUMP plus. Diese Programme gab es noch nicht, als wir
an der Regierung waren.
({4})
- Ja, aber es kommen ständig neue Maßnahmen hinzu
und die Betroffenen fallen aus der Arbeitslosenstatistik
heraus. Wir sollten uns in dieser Hinsicht nichts vormachen, sondern die Frage beantworten, wie groß die Lücke zwischen der Zahl der Menschen, die im ersten Arbeitsmarkt tätig sind, und der Zahl derjenigen ist, die
wirklich arbeitslos sind. Ich habe den Eindruck, dass die
Statistik dazu tendiert, diese Lücke ständig zu verringern.
({5})
Sie haben diese Tendenz fortgesetzt.
Das schlagendste Beispiel dafür sind die Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen - das ist ein
schöner Name -, die am 1. Januar neu hinzugekommen
sind. Das sind doch klassische Maßnahmen, an denen
man teilnimmt, damit man eine Stelle bekommt. Mithilfe
der Statistik wird aber so getan, als hätten die
80 000 Teilnehmer bereits einen Job.
({6})
Sie nehmen jedoch deshalb an diesen Maßnahmen teil,
weil sie einen Job suchen und dabei Hilfe benötigen.
Statistisch nimmt die Zahl der Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ständig zu. Das wird auch
aus der Antwort auf die Kleine Anfrage deutlich. Die
Statistik weist inzwischen 1,4 Millionen Menschen aus,
die an längerfristigen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik teilnehmen. Nimmt man die anderen Kategorien noch hinzu, ist die Zahl derjenigen, die aus der
Statistik wegretuschiert wurden, unwahrscheinlich hoch.
In diesem Punkt ist eine größere Klarheit notwendig,
weil sonst in den nächsten Wochen und Monaten sicherlich noch ganz andere Zahlen diskutiert werden.
Die Zahl der Arbeitslosen ist sehr wichtig. Die Frage,
wie hoch diese Zahl ist bzw. ob sie bei 4 Millionen,
4,3 Millionen oder 4,5 Millionen liegt, interessiert die
Menschen. Insofern ist es durchaus entscheidend, ob die
Zahl über Nacht um 80 000 gesunken ist, weil die betroffenen Personen statistisch nicht mehr als arbeitssuchend
gelten, sondern an den Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen teilnehmen.
Wir dürfen uns nichts vormachen: Das alles sind
Menschen, die letztlich noch arbeitslos sind und nicht im
ersten Arbeitsmarkt angekommen sind. Das ist der entscheidende Punkt.
Wozu brauchen wir die Statistik? Wir brauchen sie,
um deutlich zu machen, dass es den Arbeitsmarkt gibt,
der die Arbeitslosen aufnehmen soll, und wie hoch die
Zahl derjenigen ist, die noch Arbeit suchen. Dafür liefert
uns die Statistik sicherlich falsche Zahlen.
Ich will noch auf einige Punkte eingehen, mit denen
wir uns vielleicht in den nächsten Wochen beschäftigen
werden. Das ist zum einen die ILO-Statistik, die bekanntlich - Sie haben das eben bereits dargestellt, Herr
Staatssekretär - auf anderen Berechnungsgrundlagen beruht als unsere Statistik. Das wird dazu führen, dass die
Zahl der Arbeitslosen nach der ILO-Statistik um etwa
600 000 unter der in der BA-Statistik angegebenen Zahl
liegen wird.
Sie können die Statistiken gerne parallel führen, aber
mit der Einführung der ILO-Statistik darf nicht das Ziel
verfolgt werden, dass wir künftig nur noch über die niedrigere Zahl reden. Denn eigentlich ist diese Zahl uninteressant.
Bei der ILO handelt es sich um eine Organisation, in
der Menschen und Politiker
({7})
aus aller Herren Länder zusammenkommen. Möglicherweise gibt es Länder, in denen es entscheidend ist, ob
man eine Stunde in Arbeit ist. Aber in Deutschland kann
es doch für die Beurteilung, ob jemand nicht mehr als arbeitslos gilt, nicht ausschlaggebend sein, ob er mehr als
eine Stunde gearbeitet hat. Was die Erwartungen des
Einzelnen an den Arbeitsmarkt angeht, sollten wir unsere Standards beibehalten.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zu den Hartz-Gesetzen
und ihren Auswirkungen anmerken. Wir alle wissen inzwischen, dass die Hartz-Gesetze für den Arbeitsmarkt
nicht sehr viel bringen. Es ist alles groß angekündigt
worden. So sollten die Personal-Service-Agenturen jährlich 350 000 sozialversicherungspflichtige Jobs bringen. Sie bringen aber real - selbst an dieser Stelle stellt
sich die Frage, ob das tatsächlich der Fall ist - im ersten
Arbeitsmarkt nur 15 600 dieser Jobs. Das ist doch kein
großer Erfolg.
({9})
- Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Des Weiteren wurde angekündigt, dass es durch Existenzgründungen im Rahmen der Ich-AGs jährlich
500 000 Arbeitslose weniger geben werde. Bis jetzt gibt
es aber nur 180 300, wobei noch abzuwarten ist, wie
viele von diesen das zweite und dritte Jahr überstehen
werden. Außerdem wurde versprochen, dass durch das
Programm „Kapital für Arbeit“ jährlich 120 000 neue
Jobs entstünden. Entstanden sind bis jetzt gerade einmal
12 862. Das, was von den Hartz-Gesetzen bisher wirksam ist, hat also für den ersten Arbeitsmarkt relativ wenig gebracht. Aber was hat das für die Statistik gebracht?
Aus der Statistik sind viele Menschen herausgefallen. Es
wird so getan, als ob die Arbeitslosigkeit zurückgegangen wäre. Das kann man eigentlich nicht sagen.
An das, was von Hartz IV noch zu erwarten sein wird,
sollten wir mit Spannung herangehen.
({10})
Erstes Beispiel: Zu den 1-Euro- und 2-Euro-Jobs
- derjenige, der diesen Begriff erfunden hat, muss
schlecht geträumt haben; denn welche Wirkung hat wohl
die Vorstellung auf Menschen, für 1 oder 2 Euro zu arbeiten? -: Vor allem die Kommunen sollen Jobs einrichten, in denen man 1 oder 2 Euro stündlich verdienen
kann.
({11})
- Es ist völlig klar, dass es sich hier um eine Hinzuverdienstmöglichkeit handelt. - Wir wollen uns aber nichts
vormachen. Die Menschen, die solche Jobs haben, sind
doch nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt untergekommen.
Wenn die Inhaber von 1-Euro- bzw. 2-Euro-Jobs im
nächsten Jahr aus der Statistik herausfallen, dann sinkt
die Zahl der Arbeitslosen auf einen Schlag um 600 000.
So stellt sich Minister Clement das vor. Aber wollen wir
uns wirklich vormachen, dass diese Menschen auf dem
ersten Arbeitsmarkt untergekommen sind? Doch wohl
nicht! Die Statistik wird aber dann vortäuschen, dass die
Zahl der Arbeitslosen um 600 000 gesunken ist.
Zweites Beispiel für die mögliche Wirkung von
Hartz IV - das ist schon angesprochen worden -: Ein
Teil derjenigen, die bisher nicht als arbeitslos registriert
sind, wird sich sicherlich arbeitslos melden, weil sie hoffen, dadurch etwas mehr zu bekommen. Das führt möglicherweise dazu, dass die Zahl der Arbeitslosen steigt.
Drittes Beispiel - das hat noch niemand angesprochen -: Wie viele Menschen werden die 15 Seiten
umfassenden ALG-II-Formulare nicht ausfüllen? Einige
werden es sicherlich nicht rechtzeitig schaffen oder nicht
in der Lage sein, diese Formulare auszufüllen. Die Zahl
dieser Menschen wird wahrscheinlich nicht sehr hoch
sein. Andere wiederum werden sich sagen: Ich gebe dieses Formular nicht ab, weil ich dort so viel angeben
muss, obwohl ich letztendlich nichts zu erwarten habe.
Auch dadurch wird sich in der Statistik einiges verändern.
Ich glaube, es kommt für uns darauf an, das alles im
Blick zu behalten. Wir müssen aufpassen, dass die Statistik nicht dauernd frisiert wird und dass nicht ständig
neue Gruppen aus der Statistik herausfallen. Wir dürfen
uns nicht vormachen, dass die Zahl der Arbeitslosen bei
4,3 Millionen liegt. Die tatsächliche Zahl liegt wesentlich höher; das wissen wir alle. Das Einzige, was im
Hinblick auf den Abbau der Arbeitslosigkeit wirklich
hilft - das ist genau das, was bisher fehlt -, ist, eine Wirtschaftspolitik zu machen, die dafür sorgt, dass Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt entstehen. Sie arbeiten nur an der Statistik, bringen aber die Menschen nicht
in Arbeit, weil Sie eine falsche Wirtschaftspolitik machen.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte ebenfalls einen Ausflug zu den Wahlen in
Sachsen und Brandenburg am letzten Sonntag machen. Wir alle wissen, dass die großen demokratischen
Parteien dort alles andere als einen Sieg errungen haben.
Das Wahlergebnis der Rechten ist eine weitere Niederlage für unsere Demokratie. Das hat sicherlich verschiedene Ursachen. Ich denke, eine Ursache besteht auch in
dem Stil der öffentlichen Auseinandersetzung, wie man
ihn häufig auf allen Ebenen beobachten kann. Ich
möchte hier gerne einen Bogen zu unserer Debatte schlagen.
Nach meiner Meinung gab es ein paar Ausfälle, die
man nicht unkommentiert stehen lassen kann. Herr
Niebel, bei allen Unterschieden im Detail sollten Sie
vorsichtig sein. Sie haben gesagt - ich habe mir das mitgeschrieben -: Der Aufbau einer zweiten Statistik nach
ILO-Standards ist Betrug. Herr Niebel, wir ersetzen die
erste, die klassische Statistik nicht.
({0})
Vielmehr werden beide Statistiken parallel geführt. Es
gibt nun sowohl die Möglichkeit, aus der einen Statistik
Erkenntnisse zu gewinnen, als auch die Möglichkeit, aus
der anderen Erkenntnisse zu gewinnen. Mit beiden Statistiken sind Vorteile, aber auch gravierende Nachteile
verbunden. Ich finde es gut, dass es beide Statistiken gibt
und dass man die klassische Statistik nicht einfach ersetzt. Das Vorhandensein zweier Statistiken ist aber kein
Betrug, sondern eine Ausweitung des Erkenntnisinteresses in diesem Bereich. Bitte, seien Sie bei dem, was Sie
da sagen, ein bisschen vorsichtig.
({1})
Herr Fuchs, ich schätze Sie als einen Kollegen, der,
was die Zustandsbeschreibung angeht, häufig der gleichen Meinung ist wie ich. Aber die ganze Statistikdiskussion hat mit den Zuständen in der Weimarer Republik wirklich nichts zu tun. Das ist absoluter Unsinn.
Einen solchen Eindruck sollte man noch nicht einmal im
Spaß erwecken.
({2})
Walter Hoffmann ({3})
Der Redlichkeit halber muss hier noch einmal erwähnt werden, dass Sie die entsprechenden gesetzlichen
Grundlagen des Begriffs „Arbeitsloser“ in den 80er- und
in den 90er-Jahren zehnmal geändert haben. Die Ergebnisse waren immer wieder die gleichen:
Erstens. Wer nicht verfügbar war, wurde aus der Statistik herausgenommen.
Zweitens. Ganze Gruppen des Arbeitsmarktes wurden
mithilfe gesetzlicher Änderungen schrittweise aus der
Statistik herausgenommen.
Jetzt machen Sie auf einmal eine Wendung um
180 Grad, also eine Kehrtwendung. Das ist vielleicht
eine Neuorientierung Ihrer Politik; aber glaubwürdig,
meine Damen, meine Herren der Opposition, ist das in
der Tat nicht.
({4})
Staatssekretär Andres hat gesagt - ich will das einmal
ein bisschen flapsig formulieren -: Die einen wollen eine
große Zahl, die anderen wollen eine kleine Zahl. Ich
denke, darauf kommt es im Prinzip nicht an. Wir alle
wissen: Hinter der Statistik stehen individuelle Schicksale und Lebenssituationen. Genau deshalb ist so eine
Vergröberung und Vereinfachung der Statistik, wie Sie
sie fordern, von der Sache her unsinnig und bringt überhaupt keine weiteren Erkenntnisse.
Sowohl ältere Menschen, die dem Arbeitsmarkt vielleicht nicht mehr voll zur Verfügung stehen wollen, als
auch junge Menschen, die gerade versuchen, zum Beispiel durch eine Trainingsmaßnahme den Wiedereinstieg
in den regulären Arbeitsmarkt zu finden, haben ein Erwerbsproblem. Daher ist es wichtig, die entsprechenden
Arbeitsverhältnisse und die damit verbundenen Probleme differenziert zu betrachten. Darauf kommt es
letztlich an. Da der Arbeitsmarkt komplex ist, brauchen
wir unterschiedliche Modelle zur Lösung des Problems
der Arbeitslosigkeit. Es hilft nichts, alles in einen Topf
zu werfen, umzurühren und dann in die Welt hinauszugehen und über die hohen Arbeitslosenzahlen zu klagen.
Das führt uns in der Tat nicht weiter.
({5})
Übrigens, es ist auch international üblich - auch das
muss hier deutlich gesagt werden -, Personen, die an einer Fortbildung teilnehmen, für die Dauer dieser Maßnahme aus der Statistik herauszunehmen. Sie müssen
sich im Grunde genommen entscheiden, was Sie wollen:
Wollen Sie Zahlen, die einen internationalen Vergleich
ermöglichen, oder wollen Sie Zahlen, die den Eindruck
vermitteln, dass Deutschland im internationalen Vergleich möglichst schlecht abschneidet, weil im Grunde
genommen alle Gruppen völlig undifferenziert in die
Statistik hineingepresst werden?
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der in
den bisherigen Reden nicht thematisiert wurde. Mir ist
dieser Punkt wichtig, auch wenn er keinen rechtlichen
und keinen politischen Aspekt enthält. Was ich meine,
möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: Jemand
nimmt einen Job in einem gemeinnützigen Betrieb an.
Er arbeitet in einem Pflegeheim und bekommt dort
1 oder 2 Euro pro Stunde. Das heißt nichts anderes, als
dass diese Person zwar zu einem großen Teil von der
Bundesagentur für Arbeit finanziert wird, aber einen
Vollzeitjob ausübt und, wenn man so will, auch ein
Stück Verantwortung trägt, da sie jeden Tag mit viel Geduld und Fingerspitzengefühl ihre Arbeit erledigt. Eine
solche Person ist auf dem besten Weg, aus der Arbeitslosenstatistik herauszufallen. Nun wollen Sie, dass solche
Personen - ich habe nur einen Fall beschrieben - wieder
in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen werden. Sie
sagen: Das sind Arbeitslose.
({6})
Meine persönliche Auffassung ist, dass Sie diese Personengruppe mit einer solchen Maßnahme auch in der
Öffentlichkeit stigmatisieren. Sie stigmatisieren diese
Personen, die gerade aktiv geworden sind und auf einem
guten Weg sind, ihre Probleme selbstständig zu lösen.
Wenn Sie Menschen, die in solchen Beschäftigungsverhältnissen tätig sind, fragen, ob sie sich als arbeitslos
empfinden, dann werden Sie im psychologischen Bereich gewaltige Sperren feststellen.
Ich denke, wir müssen auch aus psychologischen
Gründen - ich sage noch einmal, dass das weder ein
rechtliches noch ein politisches Argument ist, sondern
ein sehr persönliches - bedenken, dass das Umsetzen Ihrer Forderung Millionen von Menschen dauerhaft, also
über eine lange Zeit, stigmatisiert und bei den Betroffenen auch einen Demotivierungsprozess herbeiführt. Wir
sollten den Menschen eher sagen, dass sie auf einem guten Weg sind und dass sie sich anstrengen müssen. Das
ist nach meiner Auffassung der richtige Weg.
Ich bin ein Anhänger unserer Statistik - bei allen
Mängeln, bei allen Kritikpunkten und bei allen Notwendigkeiten, sie zu verbessern. Diese Einschätzung fußt im
Wesentlichen auf drei Aspekten:
Der erste Aspekt. Sie wissen, dass die Basis für unsere Arbeitsmarktzahlen die Registerdateien sind.
Diese Registerdateien werden jeden Monat mit Zahlen
aus den regionalen Arbeitsagenturen gefüllt. Das heißt,
wir bekommen relativ zeitnah die aktuellen Zahlen, die
zu einem realistischen Bild unserer Arbeitsmarktsituation zusammengeführt werden. Das ist übrigens der Unterschied zur Erhebungsstatistik, die auf Stichproben
aufbaut und die ab 1. Januar für uns relevant wird.
Der zweite - positive - Aspekt ist die so genannte regionale Tiefe. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich
einmal die Statistiken anderer Länder anschauen, dann
werden Sie feststellen, dass man dort nicht ermitteln
kann, wie die Arbeitslosigkeit zum Beispiel in einer kleineren Kommune aussieht. Das funktioniert nicht. Das
ging auch bei uns bis in die 70er-Jahre nicht. Wir haben
mit der Bundesagentur heftige Kämpfe ausgefochten, bis
das endlich auch technisch umgesetzt wurde. Nun ist es
Walter Hoffmann ({7})
möglich, die Daten von der Gemeindeebene über die
Kreisebene und die Landesebene - alle Regionen, bis
auf die kleinste Einheit - nach Einzelaspekten zu erfassen. So können wir genaue Analysen durchführen und
genaue Aussagen treffen.
Der dritte Aspekt ist die enorme Dynamik des Arbeitsmarkts. Die Zahlen verschleiern im Grunde in der
Diskussion. Es gibt eine enorme Bewegung in diesen
Prozessen. Bei 5 Prozent Arbeitslosigkeit heute und
5 Prozent Arbeitslosigkeit in drei Monaten - theoretisch
die gleiche Zahl - werden die Personen komplett ausgewechselt sein. Diese Dynamik statistisch zu erfassen ist
sehr schwierig. Wenn Sie alles das in einen Topf werfen
und umrühren, kommt dabei nichts heraus.
Unser Ziel muss es sein, die vorhandenen Daten besser zu differenzieren. Die ILO-Statistik ab Januar gibt
uns die Chance, Veränderungen von Erwerbsverhältnissen endlich ein bisschen genauer zu erfassen. Das ist
sehr schwierig. Deswegen ist die Ergänzung eine sinnvolle und richtige Sache.
Wir haben in den letzten Wochen, Monaten und Jahren schon eine ganze Menge gemacht. Herr Niebel, noch
ein Hinweis: Sie wissen - vielleicht haben Sie es aber
auch übersehen -, dass seit dem Jahr 2003 für Eltern, die
Kindergeld in Anspruch nehmen, eine Meldung bei der
Bundesagentur ausreicht. Das kommt nicht mehr in die
Statistik hinein. Das haben wir im Jahr 2003 Gott sei
Dank geändert. Es war viel zu umständlich und gab auch
in der Sache ein völlig falsches Bild.
Wir haben eine ganze Reihe von Änderungen durchgezogen. Ich habe leider nicht mehr die Zeit, das alles
hier darzustellen. Wir haben eine neue Statistik zur
Teilzeitarbeit, zu Minijobs, zu sozialversicherungsfreien Jobs usw. Wir können uns bei dieser Debatte sicherlich auf die Aussage verständigen, dass nicht die
Statistik das Entscheidende ist, sondern eine aktive, offensive Arbeitsmarktpolitik. Wir sind gerade mittendrin.
Dabei können Sie uns weiterhin helfen.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3451 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 g sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf:
23 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan unter Führung der NATO auf
Grundlage der Resolutionen 1386 ({0}) vom
20. Dezember 2001, 1413 ({1}) vom 23. Mai
2002, 1444 ({2}) vom 27. November 2002,
1510 ({3}) vom 13. Oktober 2003 und 1563
({4}) vom 17. September 2004 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 15/3710 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten
Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({6})
- Drucksache 15/3655 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung von Verjährungsvorschriften an das Ge-
setz zur Modernisierung des Schuldrechts
- Drucksache 15/3653 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Transfusionsgesetzes und arz-
neimittelrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/3593 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. Dezember 2002 ({8})
- Drucksache 15/3641 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Vorschriften des gewerblichen Rechtsschutzes
- Drucksache 15/3658 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({10}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Maßnahmen für eine nachhaltige Energieversorgung im Bereich Mobilität“
- Drucksache 15/851 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 3 a)Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine
Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag,
Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian
Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs
auf rechtliches Gehör ({12})
- Drucksache 15/3706 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({14}), Dirk Fischer
({15}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Radverkehr fördern - Fortschrittsbericht vorlegen
- Drucksache 15/3708 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Helga
Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mandat für Kabul und Kunduz/Faizabad
trennen
- Drucksache 15/3712 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({17})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Die Kollegin Petra Pau hat zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in Afghanistan auf Drucksache
15/3710, für den eine Überweisung im vereinfachten
Verfahren vorgesehen ist, gemäß § 80 Abs. 4 der Geschäftsordnung eine Aussprache beantragt, mittlerweile
aber auf die Wortmeldung dazu verzichtet.
({18})
- Ja.
Ich lasse zunächst über den Antrag auf Aussprache
abstimmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag abgelehnt.
Somit können die Vorlagen, wie interfraktionell vorgeschlagen, an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 c bis
24 m sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf. Es handelt
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 19. August 1985 über Gewalttätigkeit und Fehlverhalten von Zuschauern bei
Sportveranstaltungen und insbesondere bei
Fußballspielen
- Drucksache 15/3354 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({20})
- Drucksache 15/3736 Berichterstattung:
Abgeordnete Tobias Marhold
Dorothee Mantel
Gisela Piltz
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3736,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Verwendung von Frontschutzbügeln an Fahrzeugen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
und zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG
des Rates
KOM ({22}) 586 endg.; Ratsdok. 13693/03
- Drucksachen 15/2028 Nr. 2.16, 15/3540 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({23})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung eines Abkommens in Form eines
Briefwechsels zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und der Republik Slowenien
über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich
vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April 2004
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Abschluss eines Abkommens in
Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik
Slowenien über das vorläufige Punktesystem
für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April
KOM ({24}) 835 endg.; Ratsdok. 5100/04
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung einer Verwaltungsvereinbarung in
Form eines Briefwechsels zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über das
vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Abschluss einer Verwaltungsvereinbarung in Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft über
das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich
KOM ({25}) 836 endg.; Ratsdok. 5102/04
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung eines Abkommens in Form eines
Briefwechsels zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und der Republik Kroatien
über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Abschluss eines Abkommens in
Form eines Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik
Kroatien über das vorläufige Punktesystem
für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich
KOM ({26}) 833 endg.; Ratsdok. 5103/04
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung eines Abkommens in Form eines
Briefwechsels zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im
Transit durch Österreich
Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über den Abschluss eines Abkommens in
Form eines Briefwechsels zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien
über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich
KOM ({27}) 837 endg.; Ratsdok. 5104/04
- Drucksachen 15/2519 Nrn. 2.18, 2.19, 2.20,
2.21, 15/3579 Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Brunnhuber
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({28}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertdritte Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 15/3282, 15/3393 Nr. 2.1, 15/3733 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - EnthaltunVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung des Zweiten Berichts des Ausschusses
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({29}) zu den Überprüfungsverfahren nach § 44 b Abgeordnetengesetz
({30})
({31})
- Drucksache 15/3608 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis
genommen haben. - Das ist der Fall.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte
24 g bis 24 m.
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
- Drucksache 15/3685 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 138 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 139 zu Petitionen
- Drucksache 15/3686 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 139 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 140 zu Petitionen
- Drucksache 15/3687 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 140 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 141 zu Petitionen
- Drucksache 15/3688 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 141 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 142 zu Petitionen
- Drucksache 15/3689 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 142 ist bei Enthaltung der FDPFraktion und Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 143 zu Petitionen
- Drucksache 15/3690 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/
CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 144 zu Petitionen
- Drucksache 15/3691 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes und der
Fleischhygiene-Verordnung
- Drucksache 15/2772 ({39})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({40})
- Drucksache 15/3735 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Friedrich Ostendorff
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3735, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSUFraktion angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Rahmenübereinkommen
der Weltgesundheitsorganisation vom 21. Mai
2003 zur Eindämmung des Tabakgebrauchs ({41})
- Drucksache 15/3353 ({42})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({43})
- Drucksache 15/3734 Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt auf Drucksache 15/3734, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSUFraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Für eine parlamentarische Dimension im System der Vereinten Nationen
- Drucksache 15/3711 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Positive Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens bei den Kommunen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara
Hendricks das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute haben wir ein wirklich positives Zwischenergebnis zu vermelden.
({0})
Aufgrund der positiven konjunkturellen Entwicklung
und zahlreicher Maßnahmen des Bundesgesetzgebers
sind nämlich die Gewerbesteuereinnahmen im ersten
Halbjahr im Verhältnis zum ersten Halbjahr des vergangenen Jahres um brutto 12,8 Prozent bundesweit gestiegen. Das sind im ersten Halbjahr 1,5 Milliarden Euro
mehr als im ersten Halbjahr des vorigen Jahres.
({1})
Übrigens ist das Aufkommen in den alten Ländern
um 11,6 Prozent und das in den neuen Ländern - zugegebenermaßen auf niedrigem Niveau - um 27 Prozent
gestiegen. Wir sehen also: Hier setzt sich der Aufholprozess fort. Das kann man an dieser Stelle beobachten.
({2})
- Die Zahlen, Herr Kollege Seiffert, stimmen.
({3})
Sie sind im Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums
nachzulesen, der am 20. September, also vor drei Tagen,
veröffentlicht worden ist. Er ist Ihnen als Mitglied des
Finanzausschusses sowie auch allen Kolleginnen und
Kollegen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich.
Sie werden die Zahlen nicht bestreiten können.
Es kam also in den neuen Ländern zu einem Mehraufkommen von 27 Prozent und bundesweit von 12,8 Prozent
und dies führte im ersten Halbjahr zu Mehreinnahmen von
1,5 Milliarden Euro. Dies sind Bruttoeinnahmen; das hat
noch nichts mit der veränderten Gewerbesteuerumlage
zu tun.
({4})
- Es kann sein, dass sie das noch nicht begriffen haben.
Das werden wir dann gleich in den Erwiderungen hören.
- Die Gewerbesteuerumlage wird ja in diesem Jahr zulasten des Bundes und der Länder und zugunsten der
Kommunen in einer Größenordnung von 2,5 Milliarden Euro gesenkt.
({5})
Das geschieht unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung und den übrigen gesetzlichen Maßnahmen.
Deswegen ist dies daneben als positiv zu betrachten
({6})
und nicht mit der Verbesserung der Lage der Kommunen
zu verwechseln, die wir aufgrund der positiven konjunkturellen Entwicklung und anderer gesetzlicher Maßnahmen der Bundesregierung im ersten Halbjahr beobachten
können. Selbst Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Oppositionsparteien, werden wohl oder übel nicht
vollständig die Augen davor verschließen können und
beobachten müssen,
({7})
dass die Entwicklung positiv ist.
({8})
Wie Sie wissen, steigt also im nächsten Jahr und fortlaufend allein wegen der Absenkung der Gewerbesteuerumlage zugunsten der Kommunen die Entlastung der
Kommunen auf 3 Milliarden Euro an. Dieses Jahr werden es 2,5 Milliarden Euro und ab dem Jahr 2005
3 Milliarden Euro sein. Dies ist für die Kommunen auf
jeden Fall gesichert.
Darüber hinaus haben wir, wie Sie alle wissen, den
Kommunen im Zusammenhang mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe mit festen
Überprüfungsdaten - ({9})
- Davon kann auch noch nichts angekommen sein, weil
sich diese Aufgabe erst zum 1. Januar 2005 ändert.
({10})
Herr Kollege Fromme, ich weiß aus Ihrem Lebenslauf,
dass Sie einmal Kreisdirektor waren. Eigentlich müssten
Sie wissen, wie öffentliche Finanzströme fließen und
dass man drei oder vier Monate im Vorhinein, bevor sich
also die Aufgabe tatsächlich ändert, nämlich ab Januar,
keine Entlastung gewähren kann.
({11})
Wie Sie wissen, haben wir den Kommunen Überprüfungsdaten fest zugesagt; dies steht im Gesetz. Die Entlastung von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr ist garantiert.
Das heißt, schon im nächsten Jahr wird sich bei den
Kommunen eine Entlastung von 5,5 Milliarden Euro ergeben. Zusammen mit anderen Maßnahmen, die ich Ihnen schon nannte und die einen weiteren Aufwuchs der
Mittel mit sich bringen, kann man ab dem Jahre 2007 im
Vergleich zum laufenden Jahr von einer Besserstellung
der Gesamtheit der Kommunen in der Bundesrepublik
Deutschland von 7 Milliarden Euro pro Jahr - und dies
wiederkehrend - ausgehen.
({12})
Herr Kollege Merz ist ja als nächster Redner angekündigt worden. Deswegen erlaube ich mir, schon einmal auf das einzugehen, was Sie, Herr Kollege Merz,
sicherlich sagen werden.
({13})
Es ist ja zu erwarten, Herr Kollege Merz, dass Sie hier
wieder der Abschaffung der Gewerbesteuer das Wort reden werden.
({14})
- Es ist ja auch nicht schwierig, Ihre einfach strukturierten Gedanken zu lesen.
({15})
- Herr Kollege Austermann, das können Sie allerdings
für meine klar strukturierte Rede, die auf klar strukturierten Gedanken beruht, nun wirklich nicht behaupten.
({16})
Oder wollten Sie das Gegenteil nachweisen?
Herr Kollege Merz wird also sicherlich wiederum der
Abschaffung der Gewerbesteuer das Wort reden. Diese
ist ja wie so vieles andere auf dem CDU-Parteitag in
Leipzig im November des vergangenen Jahres unter großem Jubel beschlossen worden.
({17})
Wie von so vielem anderen wird sich die Union davon
leise weinend, hinterrücks und heimlich verabschieden.
Im November des vergangenen Jahres war natürlich auf
dem Leipziger Bundesparteitag der CDU eine große Jubelfeier angesagt.
({18})
Wenn sich dann der eine oder andere aus Ihren Reihen,
der hier oder da, etwa auf der kommunalen oder auf der
Länderebene, oder der, wenn er genau nachdenkt, auch
auf Bundesebene Verantwortung trägt, die Beschlüsse
im Einzelnen ansieht, stellt er fest, dass zu dem 100-Milliarden-Risiko, das schon von Ihrem Kollegen Horst
Seehofer für die Politik der Union beziffert worden ist,
noch die Abschaffung der Gewerbesteuer käme, wofür
Sie überhaupt keinen Ausgleich geschaffen haben. Das
ist eine Größenordnung, die nach aktuellen Zahlen noch
einmal etwa 25 Milliarden Euro - und dies wegen der
guten konjunkturellen Entwicklung mit steigender Tendenz - beträgt.
({19})
Diese 100 Milliarden Euro, die Ihnen schon Ihr Kollege
Seehofer vorausgesagt hat, werden also durch die Abschaffung der Gewerbesteuer noch einmal um etwa
25 bis 27 Milliarden Euro erhöht werden. Sie sind also
ein Sicherheitsrisiko für den öffentlichen Gesamthaushalt. Das darf man wohl so sagen.
({20})
Nun werden Sie, Herr Kollege Merz, sicherlich sagen,
dass Sie die Gewerbesteuer nicht ersatzlos streichen
wollen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie auf diese Idee
kommen.
({21})
Dann werden Sie aber auch klar sagen müssen, wer stattdessen die Steuerlast in Höhe von 25 Milliarden Euro
pro Jahr zu tragen hat, auf welche Schultern Sie das zukünftig verteilen wollen. Darauf sind Sie bisher jede
Antwort schuldig geblieben. Das werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger nicht durchgehen lassen. Auch das
wird von Ihnen vor der Bundestagswahl hoffentlich noch
klargestellt werden; denn im Schlafwagen kommt man
bekanntlich nicht an die Macht.
({22})
All die Risiken, die in Ihrer unausgegorenen und in
sich nicht abgestimmten Politik offenbar werden, werden durch die Abschaffung der Gewerbesteuer noch potenziert. Deswegen kann ich die Menschen nur davor
warnen, sich von so genannten Einfachsteuerkonzepten
und der Abschaffung ganzer Steuerarten blenden zu lassen. Sie haben keine Lösung dafür, was Sie an die Stelle
der Gewerbesteuer setzen, und wenn Sie eine Lösung
haben, dann sind Sie nicht bereit, sie im Vorhinein zu
nennen, weil damit offenbar würde, dass Sie die Belastungen auf die Bürgerinnen und Bürger verschieben wollen, möglicherweise über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, was Sie hier und da schon einmal andeuten. Die
Bürgerinnen und Bürger werden Ihnen diese Politik, von
der Sie denken, sie über die nächsten zwei Jahre durchhalten zu können, und von der Sie vielleicht sogar erwarten, damit mehrheitsfähig sein zu können, nicht durchgehen lassen.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Merz von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns gestern gefragt, warum die SPD ausgerechnet für heute diese Aktuelle Stunde beantragt hat.
Im Verlaufe Ihrer Rede, Frau Kollegin Hendricks, wurde
deutlich, dass es der letzte Versuch zu sein scheint, den
im Wahlkampf befindlichen Kommunalpolitikern der
SPD in Nordrhein-Westfalen in den letzten Stunden
noch etwas Zuversicht mit auf den Weg zu geben. Ich
würde mich freuen, wenn es uns gelingen würde - und
das wird uns gelingen -, deutlich zu machen, dass dies
ein untauglicher Versuch ist.
Lassen Sie uns zunächst einmal über das Gewerbesteueraufkommen sprechen. Dies war ja wohl der Grund,
weshalb Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Sie
haben die Höhe des Gewerbesteueraufkommens in Verbindung gebracht mit einem wirtschaftlichen Wachstum,
das außergewöhnlich hoch ausfällt.
Wenn man sich das Gewerbesteueraufkommen einmal genau ansieht, so sieht man, Frau Hendricks, dass
das in diesen Monaten des Jahres 2004 zusätzlich entstehende Gewerbesteueraufkommen im Wesentlichen auf
den Steuererhöhungen der Jahre 2002 und 2003 beruht.
Dass Sie sich hier dieser Steuererhöhungen rühmen,
spricht für Sie. Es fällt aber auf Sie zurück; denn diejenigen, die davon betroffen sind, werden wissen, worauf
dies zurückzuführen ist: auf die Entscheidungen der rotgrünen Bundesregierung. Es sind Ihre Steuererhöhungen.
Ich kann Ihnen die Gründe für die Höhe des Gewerbesteueraufkommens auch etwas detaillierter darstellen:
Mindestbesteuerung auch in der Gewerbesteuer, der Verlustabzug, der auch bei der Gewerbesteuer begrenzt worden ist, die Gesellschafterfremdfinanzierung, die auf die
Gewerbesteuer durchschlägt, der Mindesthebesatz, den
Sie bei der Gewerbesteuer faktisch eingeführt haben, die
Drohverlustrückstellungen - wir haben lange darüber
gestritten, ob dies richtig oder falsch war; das spiegelt
sich jetzt in Steuererhöhungen wider -, die Teilwertabschreibungen, die Sie reduziert haben, und nicht zuletzt
die Nachzahlungen aus den Jahren 2001 und 2002. Das
alles steckt in den Gewerbesteuereinnahmen des Jahres
2004. Mit Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung haben sie - Entschuldigung, Frau Hendricks! - relativ wenig, wenn nicht sogar kaum etwas zu tun. Sie
wissen auch, dass das so ist.
({0})
Sie haben die Gelegenheit genutzt, noch einmal ein
flammendes Plädoyer für die Beibehaltung der Gewerbesteuer abzugeben. Gleichzeitig höre ich - das scheint
die Abwesenheit des Ministers zu erklären -, dass Ihr
Minister und Herr Poß sich jetzt endlich an die Arbeit
machen, ein Konzept zur Steuervereinfachung auf den
Weg zu bringen - man kann nur hoffen, dass Ihnen das
irgendwann gelingt -, denn Sie wollen die Diskussion
darüber - so lese ich es jedenfalls in den Zeitungen nicht allein der Union überlassen.
Nehmen Sie einmal Folgendes zur Kenntnis: Wir haben ein umfassendes Konzept zur wirklich durchgreifenden Vereinfachung unseres gesamten Ertragsteuersystems entwickelt.
({1})
Dazu gehört auch eine grundlegende Reform bezüglich
der Kommunalfinanzen. Das wissen Sie; sonst würden
Sie nicht vor sich hin lächeln, Frau Staatssekretärin.
Ohne die Integration der Gewerbesteuer in das Ertragsteuersystem können Sie den Anspruch einer grundlegenden Vereinfachung unseres Systems nicht realisieren.
({2})
Wer umgekehrt auf Beibehaltung der Gewerbesteuer
in ihrer heutigen Ausprägung besteht, der muss dann
auch sagen, dass eine wirklich grundlegende Vereinfachung des Steuersystems nicht möglich ist; um diesen
Sachverhalt geht es.
Wenn Sie heute so sehr darauf bedacht sind, die Einnahmeseite für die Kommunen zu sichern, dann sage ich
Ihnen: Dafür haben Sie unsere Zustimmung und uns auf
Ihrer Seite. Die Städte und Gemeinden in Deutschland
brauchen eine sichere finanzielle Grundlage für die Erfüllung der Aufgaben, die ihnen der Landesgesetzgeber
und in noch stärkerem Maße der Bundesgesetzgeber auferlegt. Es ist unstreitig, dass die Städte und Gemeinden
in Deutschland eine solche finanzielle Grundlage brauchen. Sie brauchen sie dauerhaft; sie müssen sich darauf
verlassen können, dass das, was der Bundesgesetzgeber
macht und entscheidet, von Dauer ist. Vor allen Dingen
müssen sie vor der Übertragung ständig neuer, zusätzlicher Aufgaben sicher sein, die sie nicht finanzieren können. Diesem Anspruch ist die rot-grüne Bundesregierung bis zum heutigen Tage nie gerecht geworden.
({3})
Ein zweiter Punkt: Frau Hendricks, Sie wissen - Sie
sind viel vernünftiger, wenn man mit Ihnen mal im Ausschuss oder unter vier Augen redet, als Sie sich heute
Mittag hier dargestellt haben;
({4})
jedenfalls sagen mir das meine Kolleginnen und Kollegen, die mehr mit Ihnen zu tun haben als ich; ob das ein
Vorteil ist, sei dahingestellt -, dass die Gewerbesteuer in
Deutschland im internationalen Kontext keine Zukunft
hat. Wenn wir uns daran begeben, die steuerliche Bemessungsgrundlage in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union zu vereinheitlichen, wenn wir uns daran begeben,
eine wettbewerbsfähige Einkommensteuer, ein wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht in Deutschland so
zu konzipieren, dass dies nicht nur bei der Höhe der
Sätze, sondern auch in der Ausgestaltung des Systems
wettbewerbsfähig und mit dem in anderen Staaten der
Europäischen Union vergleichbar ist, dann hat die Gewerbesteuer gegenwärtigen Zuschnitts in Deutschland
keine Zukunft. Sie wissen, dass das so ist.
Noch einmal: Unstreitig ist, dass an die Stelle der Gewerbesteuer in ihrer heutigen Form eine Beteiligung der
Gemeinden an den Ertragsteuern treten muss und dass
auch eine Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer erforderlich ist. Dazu kann man nun an verschiedenen Stellschrauben drehen; man kann verschiedene
Varianten und Variablen in das System einbauen. Deswegen sage ich Ihnen noch einmal: Wenn Sie und wir in
einen Wettbewerb eintreten mit dem Ziel, für Deutschland ein besseres Steuersystem zu etablieren, dann werden wir das nur mit einer Integration der Gemeindesteuern in das Ertragsteuersystem erreichen können, dann
müssen die Städte und Gemeinden in Deutschland mehr
als heute an der Einkommen- und an der Körperschaftsteuer beteiligt werden, dann müssen sie sicher sein können, als Kommunen dauerhaft an der Umsatzsteuer teilzuhaben. Daraus wird dann ein Konzept, daraus wird ein
Schuh und daraus wird auch mehr als nur vordergründiges Wahlkampfgeplänkel, wie wir es gegenwärtig erleben.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Merz, ich danke Ihnen, dass Sie noch einmal dargestellt
haben, wie sich diese 1,5 Milliarden Euro aus Ihrer Sicht
zusammensetzen und dass sie mit der Senkung der Gewerbesteuerumlage erst einmal nichts zu tun haben.
Ich zitiere aus einer Pressemitteilung, die heute von
der CDU herausgegeben worden ist:
Der Zuwachs an Gewerbesteuer in diesem Jahr ist
im Wesentlichen in der von der Union durchgesetzten Rücknahme der Gewerbesteuerumlage begründet.
({0})
Das ist grundlegend falsch. Tatsache ist, dass die Gewerbesteuer Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden Euro im
ersten Halbjahr 2004 gebracht hat. Die Umlage wird am
Schluss abgerechnet.
Das Ergebnis des ersten Halbjahres 2004 lautet: plus
1,5 Milliarden Euro bei der Gewerbesteuer. Davon bleiben den Kommunen 80 Prozent statt 70 Prozent. Durchgesetzt hat dies Rot-Grün - wenn auch in Zusammenarbeit mit der Union; das sei jederzeit eingeräumt - und es
ist falsch zu sagen, diese 1,5 Milliarden Euro hätten irgendetwas mit der Gewerbesteuerumlage zu tun.
({1})
Die Senkung der Gewerbesteuerumlage ist Teil eines
Programms für die finanzielle Stärkung der Kommunen;
ein anderer Teil ist Hartz IV, das 2004 noch nicht greifen
kann, aber 2005 greifen wird. Von Hartz IV erwarten wir
Entlastungswirkungen bei den Kommunen in Höhe von
2,5 Milliarden Euro. Wenn die Union nun behauptet, sie
habe diese 2,5 Milliarden Euro bei Hartz IV durchgesetzt, so ist auch das falsch.
({2})
- Rot-Grün hat von Anfang an gesagt: Entlastung für die
Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Das haben
wir durchgesetzt, weil für uns die finanzielle Entlastung
der Kommunen an erster Stelle stand.
Vor allem haben wir eine Revisionsklausel durchgesetzt, also eine Klausel, nach der die Kommunen Spitz
auf Knopf abrechnen und sagen können, ob das Geld
reicht oder nicht reicht, und nach der erforderlichenfalls
nachgeschossen wird.
({3})
Also: Das, was derzeit in manchen Bundesländern
passiert, ist unvereinbar mit der Aussage, man wolle die
Kommunen stärken. In Baden-Württemberg wird in diesem Jahr eine Mehreinnahme bei der Gewerbesteuer von
grob gerechnet 320 Millionen Euro prognostiziert. Was
macht Ministerpräsident Teufel? Er kürzt den Kommunen Zuschüsse in einer Größenordnung von 132 Millionen Euro. Dies hat nicht direkt etwas mit Hartz IV zu
tun; aber indirekt hat es natürlich etwas damit zu tun,
wenn man im Vermittlungsverfahren sagt, man gebe das
Geld weiter, und dann an anderer Stelle kürzt. Geld ist
Geld! Hier handelt es sich um ein unsägliches Verhalten
der Bundesländer.
({4})
Es verstößt gegen die Vereinbarungen, die im Vermittlungsausschuss getroffen wurden. Es ist genau das
eingetreten, was die Kommunen meinten, als sie darauf
hinwiesen, sie hätten Angst vor der Politik der klebrigen
Finger der Länder. Nach einer Pressemitteilung von
heute kürzt Thüringen Zuweisungen um 35 Millionen Euro. So ist nicht gewettet worden; das ist ein Unding! Ich kann nur an Sie appellieren, an Ihre Landesregierungen heranzutreten und sie daran zu erinnern, dass
etwas anderes ausgemacht war: Wir wollten die Kommunen finanziell unterstützen und stärken. Stellen Sie
sich aufrecht hin und setzen Sie das durch, was im Vermittlungsverfahren vereinbart wurde.
Die Revisionsklausel ist eingeführt worden, um klarzumachen, dass wir den Kommunen die finanzielle Entlastung wirklich verschaffen werden. Nun steigt die Gewerbesteuer. Im Gesetzentwurf war im Übrigen davon
die Rede, dass bei den Kommunen Gewerbesteuereinnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zusätzlich
verblieben. Nimmt man von den 1,5 Milliarden Euro
80 Prozent, dann ist man zur Jahresmitte fast exakt bei
der prognostizierten Wirkung der Gewerbesteuer, nämlich bei 1,25 Milliarden Euro. Was also die prognostizierten finanziellen Wirkungen für die Kommunen angeht, bringen die Gesetze im steuerlichen Bereich das,
was wir gesagt haben: Die Kommunen werden entlastet.
Auch bei Hartz IV bringt es die Entlastung, von der wir
gesprochen haben.
({5})
- Natürlich hätten wir gern ein besseres Konzept bei der
Gemeindefinanzreform gehabt. Natürlich wären wir lieber weiter in die Richtung der Vorschläge der kommunalen Spitzenverbände gegangen, was die Ausgestaltung
der Gewerbesteuer angeht. Aber es lag nicht an uns, dass
es so gekommen ist, sondern an der Union, die im Vermittlungsverfahren nicht bereit war, die Gewerbesteuer
grundlegend zu modernisieren.
({6})
Mein letzter Punkt ist auch hier wieder ein Appell.
Als Nächstes wird der Subventionsabbau anstehen, um
die Kommunen finanziell zu stärken. Natürlich wissen
alle, dass ein konsequenter Subventionsabbau am Ende
auch auf die Kommunen durchgreift. Auch hier muss ich
wieder sagen: Beim Subventionsabbau wirkt das SanktFlorians-Prinzip perfekt: Oh, heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an! Wo es um die eigenen
Subventionen geht, wird nichts durchgesetzt.
({7})
Ich appelliere daher an Sie, mit uns zusammen einen
konsequenten Subventionsabbau durchzusetzen. Das
stärkt auch die Kommunen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas
Pinkwart von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir über die Verbesserung der Gewerbesteuereinnahmen für die Kommunen sprechen, dann haben wir es mit drei Wirkungsbeziehungen zu tun, denen
ich hier nachgehen werde.
Die erste Wirkungsbeziehung besteht in der Absenkung der Gewerbesteuerumlage. Dadurch erhöhen sich
die Nettogewerbesteuereinnahmen der Kommunen. Das
ist gut so.
Ich halte hier aber fest - das ist mir wichtig, zumal
wir es auch in Form einer namentlichen Abstimmung
dokumentiert haben -, dass sich die Fraktionen von SPD
und Grünen im vergangenen Jahr einer Hilfe verweigert
haben, als das Defizit der Kommunen mit
8,4 Milliarden Euro am höchsten lag, in einer Zeit der
tiefsten Depression für die Kommunen in Deutschland.
Ich will nur erinnern: Noch 1998 haben Sie einen Finanzierungssaldo von plus 2,1 Milliarden Euro vorgefunden. Im vergangenen Jahr gab es zwei Abstimmungen in
diesem Hause zu diesem Thema. Anfang des Jahres, als
es um einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion ging, hieß
es noch, man könne hier viel fordern, wenn der Bundesrat dem nicht zustimme, mache es auch keinen Sinn, dies
vonseiten der Regierung zu unterstützen. Aber dann kam
zu einem Zeitpunkt, als in den Kommunen die Not am
größten war - und dies war auch für Sie erkennbar -,
eine Bundesratsinitiative, die zum Gegenstand hatte, die
Gewerbesteuerumlage abzusenken. Über den entsprechenden Antrag wurde hier namentlich abgestimmt. Die
Abgeordneten von SPD und Grünen haben dagegen gestimmt. Wir müssen also festhalten: Als Sie im vergangenen Jahr die Kommunen um über 2 Milliarden Euro
entlasten konnten, haben Sie nicht geholfen. Heute wollen Sie sich mit fremden Federn schmücken.
({0})
Der zweite Punkt betrifft die Konjunktur. Natürlich
spielt auch die Konjunktur mit hinein. Das wollen wir
gar nicht in Abrede stellen. Es ist auch gut, dass es wenigstens ein kleines bisschen wieder bergauf geht. Das
ist vor dem Hintergrund von 4,3 Millionen offiziell ausgewiesenen Arbeitssuchenden dringend notwendig. Wir
meinen, das ist noch viel zu wenig an Dynamik. Wenn
sich das in wie aus einem tiefen Tal kommenden, steigenden Einnahmen auch in diesem Bereich widerspiegelt, kann uns das alle nur freuen.
Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren - Herr
Merz hat es angesprochen -, die Wahl des Zeitpunkts für
diese Aktuelle Stunde hat ja möglicherweise auch etwas
mit dem kommenden Sonntag zu tun. Wenn Sie höhere
Kommunaleinnahmen auf das Wachstum zurückführen,
müssen Sie sich auch mit den Zahlen konkret auseinander setzen. Sie sagen, dass die Gewerbesteuereinnahmen
im Bundesdurchschnitt um über 12 Prozent angestiegen
sind. Wir wollen uns doch einmal anschauen, wie sie
sich in den einzelnen Bundesländern entwickeln. Wenn
wir daraus Wachstumsdynamik ableiten, freue ich mich,
hier für die FDP-Fraktion feststellen zu können: Sachsen-Anhalt plus 49,8 Prozent, Niedersachsen plus
25,6 Prozent, Rheinland-Pfalz plus 24,1 Prozent, BadenWürttemberg plus 22,7 Prozent. Diese Länder liegen
also ganz erheblich über dem Durchschnitt.
Jetzt kommen wir zu Nordrhein-Westfalen, wo Rot
und Grün seit neun Jahren in der Verantwortung sind.
Hier haben Sie eine ganz extrem unterdurchschnittliche
Entwicklung mit einem Zuwachs von gerade einmal
5,6 Prozent. In Schleswig-Holstein haben sich die Gewerbesteuereinnahmen sogar negativ entwickelt, in einem Land, in dem Sie seit Jahren Verantwortung tragen.
Das ist doch die Bilanz Ihrer Wachstumspolitik.
({1})
Lassen Sie mich einen dritten Wirkungsfaktor anführen. Wenn wir zu nachhaltigem Wachstum kommen wollen - und das sollte unser Interesse sein -, dann müssen
wir ein Steuerrecht schaffen, das es den Unternehmen
auch erlaubt, ihren Beitrag für Wachstum und Beschäftigung tatsächlich leisten zu können. Das heißt, wir müssen
die Unternehmen von einer Steuer befreien, die sich
nachweislich - auch, weil international unbekannt - wettbewerbsverzerrend auswirkt. Diese Steuer schwächt den
Standort, statt ihn zu stärken, und ist darüber hinaus ein
zentraler Hinderungsfaktor bei unserem Bestreben - auch
alle wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute in
diesem Land empfehlen das dringend -, endlich zu einem
Steuerrecht zu kommen, das einfach, niedrig und gerecht
ist. Ein solches Steuerrecht käme gerade den kleinen Betrieben zugute, den Existenzgründern, denjenigen, die
einsteigen wollen, die jungen Menschen einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz anbieten wollen.
Der uns vorliegende Sachverstand besagt, dass wir
unsere Ziele mit diesem Relikt aus früheren Tagen nicht
werden erreichen können. Wir müssen die Gewerbesteuer ersetzen. Die FDP hat dazu ein ganz klares Konzept vorgelegt, ein Zwei-Säulen-Konzept,
({2})
das die kommunalen Einnahmen konjunkturunabhängiger machen würde, das Verhältnis zwischen Wirtschaft
und Kommune und das zwischen Bürger und Kommune
wieder auf eine vernünftige Grundlage stellen würde und
das es erlauben würde, dass wir in diesem Saal nicht permanent über Steuervereinfachung nur reden, sondern
dass dies in Deutschland endlich auch Wirklichkeit wird.
({3})
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Pinkwart, wenn man Zahlen vorträgt,
dann sollte man sie auch vollständig vortragen. Sie haben sich die Länder ausgesucht, die Ihnen gerade passen.
Ich nenne Ihnen auch noch einige andere.
({0})
Wenn Sie daraus, wie das Gewerbesteueraufkommen in
den einzelnen Ländern wächst, Rückschlüsse hinsichtlich Ihrer Regierungsbeteiligung ziehen, dann heißt das,
dass Sie meinen, dass Sie dort eine gute Wirtschaftspolitik gemacht haben. Das widerspricht dem, was der Kollege Merz vorhin vorgetragen hat.
({1})
Er hat nämlich gesagt, mit Wirtschaftswachstum und guter Wirtschaftspolitik habe das gar nichts zu tun. Aber in
dem Punkt stimme ich Ihnen ja zu: Es hat mit der guten
Wirtschaftspolitik des Bundes zu tun; deswegen haben
wir die guten Zahlen.
({2})
Ich nenne einige Länderregierungen, an denen Sie
nicht beteiligt sind, und die entsprechenden Wachstumsraten: Berlin-West plus 11,2 Prozent - auch nicht übel -,
Bremen plus 31,3 Prozent. Bremen ist fast Spitzenreiter.
({3})
Jetzt nenne ich Ihnen die Zahlen für zwei ausschließlich
von der CDU regierte Länder. Fangen wir einmal mit
Hessen an, dem hoch gelobten Hessen: plus 1,9 Prozent.
Das ist außergewöhnlich schwach und weit unterdurchschnittlich. Der gerade wiedergewählte Peter Müller hat
minus 0,1 Prozent zu verzeichnen. Also hören Sie auf,
hier Rosinenpickerei bei den Zahlen zu betreiben und
daraus etwas abzuleiten. Insgesamt gilt: Wir haben eine
Steigerung bei den Gemeindefinanzen und insbesondere
bei der Gewerbesteuer festzustellen. Es geht mit den Gemeindefinanzen aufwärts und das ist gut so.
({4})
Besonders interessant ist die Dynamik dieser Entwicklung: Zwar verlief bereits das erste Quartal dieses
Jahres sehr gut, das zweite war aber fast doppelt so gut.
Im ersten Quartal betrugen die Mehreinnahmen bundesweit etwa 8,4 Prozent, im zweiten Quartal 16,7 Prozent.
Es wäre schön, wenn sich diese Entwicklung fortsetzen
würde. Selbst der Deutsche Städtetag, der mit seinen
Schätzungen vorsichtig ist, geht davon aus, dass am Jahresende Mehreinnahmen aus der Gewerbesteuer in Höhe
von etwa 9 bis 10 Prozent zu verzeichnen sein werden,
was etwa 26 Milliarden Euro entspricht. Dann hätten wir
fast wieder das Niveau des Jahres 2000 erreicht, in dem
es die höchsten Gewerbesteuereinnahmen gab, die in
dieser Republik jemals zu verzeichnen waren. Daran
zeigt sich, dass wir mit unseren Reformvorhaben auf
dem richtigen Wege sind.
({5})
An den Kollegen Merz gerichtet möchte ich sagen:
Wir sind stolz darauf, dass wir die Gewerbesteuer vor Ihnen gerettet haben.
({6})
Ihre CDU-Oberbürgermeister, -Bürgermeister und -Landräte
({7})
danken uns auf den Knien, dass wir das getan haben.
({8})
Denn sie trauen Ihrem Konzept, dem Konzept der CDU/
CSU, überhaupt nicht. Ich erinnere nur an die geplante
Demonstration in Bayern. Letztendlich ist sie zwar aus
anderen Gründen abgesagt worden. Aber die Oberbürgermeister in Bayern hatten vor, nach München zu marschieren und vor der Staatskanzlei für das Kommunalmodell zu demonstrieren, das Rot-Grün Ihnen vorgelegt
hat, das wir beschlossen haben und durch das die Gemeindefinanzen wirklich nachhaltig stabilisiert worden
wären.
({9})
Herr Professor Pinkwart, Sie haben darauf hingewiesen, dass wir dieses Modell zweimal abgelehnt haben.
Das haben wir aus voller Überzeugung getan, weil es nur
die zweitbeste Lösung ist. Die beste Lösung haben wir
Ihnen vorgelegt, aber Sie wollten uns nicht zustimmen.
Um das Entlastungsvolumen für die Gemeinden zu erzielen, mussten wir uns im Vermittlungsausschuss
zwangsweise mit Ihnen auf die Absenkung der Gewerbesteuerumlage einigen.
({10})
Aber das Entlastungsvolumen in Höhe von
2,5 Milliarden Euro hat sehr unsystematische Konsequenzen: Dadurch werden die Kommunen mit einer starken Wirtschaftskraft begünstigt und diejenigen benachteiligt, die sich in strukturschwachen Gebieten befinden.
Unsere Lösung wäre deutlich besser gewesen und hätte
in allen Kommunen zu sehr stabilen Einnahmen geführt.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Die Einbeziehung der
Freiberufler und Selbstständigen in die Gewerbesteuerpflicht hätte deutlich mehr Stabilität in das Gewerbesteueraufkommen gebracht. Dieses Vorhaben haben Sie abgelehnt, obwohl Sie wussten, dass mit der Einbeziehung
der Freiberufler und Selbstständigen für diese Personenkreise keine zusätzlichen Belastungen verbunden gewesen wären.
({11})
Denn Sie wissen, dass gleichzeitig eine Regelung eingeführt worden wäre, die für Personengesellschaften heute
bereits im Gewerbesteuerrecht gilt:
({12})
dass die Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer verrechnet werden kann.
({13})
Dieses System hätte dazu geführt, dass wir Einnahmen aus der Einkommensteuer in den Bereich der Gewerbesteuer hätten verschieben können. Das hätte für
die Gemeinden den Vorteil gehabt, dass sie diese Einnahmen in bestimmten Bandbreiten auch selbst hätten
beeinflussen können. Bei der Einkommensteuer können
sie dies nicht,
({14})
aber bei der Gewerbesteuer können sie ihre eigene Finanzsituation über die Absenkung bzw. Anhebung der
Hebesätze beeinflussen. Das wäre ein deutlicher Vorteil
unseres Reformvorschlages gewesen,
({15})
dem Sie leider nicht gefolgt sind.
({16})
Die aus der Absenkung der Umlage resultierenden
Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro sind zugesagt und werden dieses Jahr erzielt. Hinzu kommt, dass
aufgrund der besseren Gewinnerwartungen der Unternehmen höhere Vorauszahlungen fällig werden, Herr
Götz. Das sage ich, um auf das zurückzukommen, was
die Kollegin Kerstin Andreae von Ihnen zitiert hat. Denn
diese Mehreinnahmen haben mit der Absenkung der Gewerbesteuerumlage nichts zu tun. Es ist so: Die Gewerbesteuereinnahmen haben ein gewisses Volumen. Davon
wird ein bestimmter Prozentsatz auf die Länder und den
Bund umgelegt. Dieser Prozentsatz ist aber unabhängig
davon, ob die Einnahmen 20, 30 oder 100 Milliarden
Euro betragen, immer gleich. Wenn die Einnahmen steigen, kommt allerdings tatsächlich mehr Geld in den
kommunalen Kassen an.
Meine Redezeit ist gleich leider vorbei.
({17})
Zum Schluss möchte ich noch sagen: Ihr Modell wird
mit uns keine Zukunft haben. Wir werden Ihrem Modell
niemals zustimmen, weil es verschiedene Probleme mit
sich bringt. Ich möchte nur zwei dieser Probleme anführen, von denen eines eben angesprochen worden ist -
Herr Kollege Scheelen, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Bei der
Verlagerung der Zahllast von Unternehmen auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Verstärkung der
Stadt-Umland-Problematik werden wir nicht mitmachen.
Deshalb sage ich Ihnen: Denken Sie sich ein neues Modell aus, das zu stabilen Gewerbesteuereinnahmen führt.
Dann haben Sie uns an Ihrer Seite.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dietrich Austermann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sozialdemokraten versuchen offensichtlich, mit der Aktuellen Stunde das Trugbild aufzubauen: Die Gewerbesteuereinnahmen steigen, deswegen geht es den Kommunen
gut. Richtig ist, dass die Gewerbesteuereinnahmen über
denen des Vorjahres liegen. Die Ursache ist deutlich gemacht worden: Das Ganze hängt vor allen Dingen mit der
Absenkung der Gewerbesteuerumlage zusammen.
({0})
Das ist das Verdienst der Oppositionsparteien; ich rechne
Ihnen das gleich vor.
Falsch ist die Feststellung, dass es den Gemeinden
besser geht. Ich arbeite im Allgemeinen nicht mit Tabellen, Grafiken und Ähnlichem, vor allem nicht hier im
Plenum, weil man die so schlecht ins Protokoll übernehmen kann. Deswegen will ich Ihnen zu dem, was ich an
der Zeichnung zeige, auch die entsprechenden Zahlen
nennen. Sie können aus dieser Grafik die Entwicklung
der Finanzdefizite unserer Städte und Gemeinden seit
1998 ersehen. 1998 hatten die Gemeinden Überschüsse
von 2,5 Milliarden Euro. Das hat sich noch ein bisschen
fortgesetzt bis zum Jahre 2000. Dann ist das Ganze heruntergegangen.
({1})
Wir liegen jetzt, im Jahre 2004, nach Schätzung der
Kommunalverbände bei einem Minus von 8,5 Milliarden Euro. Die Differenz zwischen diesem Minus von
8,5 Milliarden Euro und dem Plus von 2,5 Milliarden Euro kann sich jeder ausrechnen. Jetzt unterstelle
ich einmal, die Gewerbesteuereinnahmen wären nicht
gestiegen. Dann wäre es zu einem weiteren Abfall gekommen. Für jedermann ist offenkundig, dass die Sozialdemokraten und die rot-grüne Regierung gemeinsam
einen Verfall der Kommunalfinanzen zu verantworten
haben, den es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nicht gegeben hat.
({2})
Jetzt den Eindruck zu erwecken, dass deshalb, weil
die Gewerbesteuereinnahmen im ersten halben Jahr im
Vergleich zum Vorjahr angezogen haben, erstens die
Wirtschaft brumme und es zweitens den Kommunen
besser ginge, ist völlig aus der Luft gegriffen. Jetzt sage
ich Ihnen die konkreten Zahlen, damit Sie nachvollziehen können, was die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung ist und welche Effekte auf die Entscheidung
zur Änderung der Gewerbesteuerumlage zurückgehen.
Wir hatten im letzten Jahr Gewerbesteuereinnahmen der
Kommunen von 17,05 Milliarden Euro. Es werden in
diesem Jahr möglicherweise 20 Milliarden Euro sein.
Das hört sich so an, als gebe es eine Verbesserung um
3 Milliarden Euro. Wenn Sie aber das abziehen, was
durch die wieder abgesenkte Gewerbesteuerumlage da
ist, bleibt nicht mehr viel übrig.
({3})
Sie können das auch nachvollziehen:
({4})
Schauen Sie sich doch bitte einmal die Situation der
Kassenkredite an! Das sind die Kredite - der Normalbürger nennt das „Dispo“ -, die man in Anspruch nimmt,
damit man überhaupt die Masse hat, um die Gehälter zu
bezahlen und bescheidene Maßnahmen, etwa im Bereich
der Schulsanierung, durchzuführen. Das Volumen dieser
Kassenkredite hat sich in Nordrhein-Westfalen - von
dort kamen die Vorredner der SPD ja alle - seit 1998
verzehnfacht, auf einen Betrag von 5,6 Milliarden Euro.
Den Schluss zu ziehen, dass es den Kommunen gut
ginge, nur weil die Gewerbesteuereinnahmen im ersten
Halbjahr dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr ein bisschen angestiegen sind, ist offensichtlich falsch.
({5})
Nun hat der Herr Müntefering darauf hingewiesen,
dass sich die Situation der Kommunen verbessert habe;
das sei insbesondere auch deshalb so, weil im nächsten
Jahr gewaltige Milliardenleistungen vom Bund an die
Kommunen gingen. Er hat vor allen Dingen den Ausgleich Ost einbezogen, der seit vielen Jahren in gleicher
Höhe läuft. Ich fühlte mich an eine Feststellung erinnert,
die der Kollege Rüttgers einmal getroffen hat: dass das,
was der Kollege Müntefering sagt, einer Wahrheitsprüfung mit einem Detektor selten standhält. In diesem Fall
war es genau das Gleiche: Die Situation der Finanzen
der Kommunen hat sich in den letzten Jahren - ich habe
das deutlich gemacht - dramatisch verschlechtert. Die
Zuwendungen des Bundes an die Kommunen haben sich
nicht erhöht. Insofern hat Herr Müntefering wieder eine
falsche Aussage gemacht. Diese falsche Aussage hat
drei Tage vor der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen natürlich ein besonderes Ziel; das ist bei dem ehemaligen Landesvorsitzenden der SPD in Nordrhein-Westfalen auch ganz verständlich.
Ich sage es noch einmal deutlich: Wir können, wir
dürfen den Bürgern keinen Sand in die Augen streuen,
was die tatsächliche Lage in unserem Land betrifft. Wenn
Sie die Beschäftigungsentwicklung ansehen, wenn Sie
die Lage auf dem Arbeitsmarkt ansehen, wenn Sie die
Steuereinnahmen insgesamt betrachten, nicht nur einen
kleinen Teil davon - demnächst beantragen Sie hier vielleicht eine Aktuelle Stunde zum Thema Biersteuern -,
({6})
werden Sie feststellen, dass die Entwicklung seit vielen
Jahren stagniert und dass Bund, Länder und Gemeinden
in der Summe für dieses Jahr von weniger Steuereinnahmen ausgehen als im Vorjahr. Das trifft über den kommunalen Finanzausgleich, über viele Schienen natürlich
auch die Kommunen. Deswegen werden Sie mit Ihrer
Politik die Lage der Kommunen nicht verbessern. Und
mit Gesundbeterei erreichen Sie das schon gar nicht.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Austermann, wer sich schon so schwer tut wie Sie,
das mit der Umlage zu begreifen, der tut sich bei anderen
finanzpolitischen Zusammenhängen noch schwerer. Das
muss man einfach einmal konstatieren.
({0})
Das, was Sie hier heute wieder geboten haben, zeigt,
dass Sie weder die Statistik vernünftig interpretieren
können noch in der Lage sind, zu reflektieren, welche
Veränderungen es in den letzten Jahren gegeben hat.
({1})
Schauen Sie sich die absoluten Zahlen an. Die Finanzeinnahmen der Kommunen sind für viele Kommunen
immer noch nicht befriedigend.
({2})
Für viele Städte sind sie gut, für manche Landkreise und
manche kleinen Kommunen ist die Situation aber immer
noch schwierig. Das muss man ehrlicherweise sagen. Allerdings - auch das muss man sehen - haben wir von
Rot-Grün gesetzliche Vorgaben gemacht, die zu wesentlich mehr Stabilität beigetragen hätten, wenn Sie sich im
Bundesrat und im Vermittlungsverfahren anders verhalten hätten.
({3})
Man muss an dieser Stelle einmal ganz klipp und klar
sagen, dass die Strategie der Union nicht funktioniert:
Auf der einen Seite sagt sie, dass die Kommunen vernünftige Einnahmen haben sollen, während sie auf der
anderen Seite nur bestrebt ist, die großen Konzerne zu
schützen. Die Leute draußen sind nicht blöd. Herr Merz
stellt sich hin und sagt, dass die Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen nichts mit der Konjunktur zu tun
habe. Alle wissen, dass sich das wirtschaftliche Bild in
den letzten Monaten langsam positiver gestaltet hat. Das
müssen Sie einfach konstatieren, auch wenn Ihnen das in
Wirklichkeit politisch - mit Blick auf die gesamtstaatliche Verantwortung sieht das wahrscheinlich anders aus vielleicht nicht gefällt.
({4})
Wir müssen auch sehen, in welcher Situation wir uns
befinden: Über Jahre hinweg hatten sich bei der Steuerberechnung Strukturen entwickelt, die man in Deutschland nicht akzeptieren konnte. Ich nenne ein Beispiel:
Der Bundeshaushalt hat eine Größenordnung von round
about 260 Milliarden Euro. Die Verlustvorträge der
Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland betragen geschätzte 370 Milliarden Euro; manche sagen, es
ist sogar noch mehr.
({5})
Ich frage Sie, ob es angesichts eines solchen Verhältnisses nicht legitim ist, dass die Politik sagt: Wer Gewinne
macht, muss wenigstens einen Teil dieser Gewinne versteuern, darf sich steuerlich nicht immer auf Null rechnen können.
({6})
Dies geht nämlich zulasten aller Ebenen, zulasten des
Bundes, der Länder und der Kommunen. Deswegen
stellt sich nicht die Frage, ob man die Wirtschaft zu stark
belastet. Viele Unternehmen zahlen nämlich überhaupt
keine Steuern. Auch die Wirtschaft ist in der Pflicht und
sie akzeptiert das ja auch.
Mittlerweile fließen wieder mehr Steuern. Wir alle
wissen, dass neben der anspringenden Konjunktur die
Einschränkung der steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten ursächlich für die Zunahme der Gewerbesteuereinnahmen ist. Wir stehen dazu, wir müssen dazu aber auch
gesamtstaatlich stehen.
Sie sagen, die Gewerbesteuer sei international nicht
konkurrenzfähig, in den anderen Ländern gebe es sie
nicht. Das stimmt nicht; denn auch in anderen Ländern
gibt es sie in vergleichbarer Art. Sie wird dort allerdings
nicht als Gewerbesteuer, sondern anders bezeichnet. Es
gibt dort aber auch Kommunalsteuern.
({7})
Das gilt für viele Länder, mit denen wir uns wirtschaftspolitisch immer vergleichen.
Sie überlegen, die Gewerbesteuer abzuschaffen und
in das Ertragsteuersystem zu integrieren. Dadurch wird
man veranlasst, darüber nachzudenken, ob das Sinn
macht. Im Rahmen dieser Überlegungen müssen Sie der
Ehrlichkeit halber sagen: Wenn man den Betrag von
20 Milliarden Euro - so viel sollte dieses Jahr an Gewerbesteuereinnahmen hereinkommen - in ein anderes System integrieren will, dann führt das natürlich zu Steuererhöhungen an anderer Stelle: bei der Einkommensteuer,
bei der Körperschaftsteuer und, je nachdem, wie Sie das
verteilen wollen, auch bei der Umsatzsteuer.
({8})
Man muss den Menschen sagen, dass dies keine Steuerentlastung ist, sondern eine Umschichtung.
({9})
Das bedeutet eine höhere Belastung für die Unternehmen und eine Entlastung für Normalverdiener und Rentner. Das ist die Wahrheit. Das ist die andere Seite der
Medaille. Wir können gerne darüber diskutieren - das
werden wir im Wahlkampf auch tun ({10})
welches System besser ist. Aber wenn Sie schon argumentieren, dann seien Sie bitte ehrlich und sagen ganz
klar, dass es hier nur um eine Umschichtung geht, bei
der diejenigen stärker belastet werden, die heute davon
ausgenommen sind, dafür aber diejenigen entlastet werden, die heute ihren Beitrag für das Gemeinwohl leisten.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Städte, Gemeinden und Kreise befinden sich in ihrer schwersten
Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Herr Scheelen und Frau Scheel, es ist schon mutig, hier
vorne genau das Gegenteil zu behaupten. Ich habe das
Gefühl, Sie haben schon lange nicht mehr mit den Kommunalpolitikerinnen und -politikern geredet.
({1})
Der Silberstreif im Bereich der Gewerbesteuer, der
sich jetzt am Horizont abzeichnet, hat ohne Frage viele
Ursachen. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen
Städte- und Gemeindebundes, das geschäftsführende
Präsidialmitglied Dr. Landsberg - Herr Scheelen, Sie
kennen ihn -, hat heute in der Presse erklärt: Eine
Schwalbe macht noch keinen Sommer. - Recht hat der
Mann. Was hier herumfliegt, ist eine Schwalbe. Was wir
aber brauchen, sind verlässliche Rahmenbedingungen
für die Kommunen.
({2})
- Entschuldigung. Sie inszenieren wenige Tage vor den
Kommunalwahlen diese Aktuelle Stunde. Das, was Sie
hier geboten haben, ist
({3})
schwach, durchsichtig und transparent für alle, die diese
Debatte heute erleben.
({4})
Ich nehme das Beispiel der Gewerbesteuerumlage,
weil sie in jedem Redebeitrag eine Rolle gespielt hat.
Jahrelang haben Sie die Rücknahme dieser anerkannten
Fehlentscheidung verweigert, eine Entscheidung, die
zulasten der kommunalen Haushalte geht. Lesen Sie einfach die Debatten der letzten Jahre. Oder soll ich Ihnen
vorlesen, wer in namentlicher Abstimmung unseren Antrag auf Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage abgelehnt hat?
({5})
Es sind die Namen der Kolleginnen und Kollegen der
SPD und der Grünen.
Es geht bei der Rücknahme der Gewerbesteuerumlage nicht um Geld, das der Staat den Kommunen gibt,
sondern es geht darum - und das ist nicht neu -, den
Kommunen das zu belassen, was ihnen gehört und was
Sie den Kommunen seit 2000 weggenommen haben.
({6})
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Seit Jahren
verteilt Rot-Grün Wahlgeschenke und lässt die Kommunen dafür bezahlen. Das ist unanständig. Die Ausgaben
für soziale Leistungen im kommunalen Bereich steigen
dramatisch. In 2000 waren es 26 Milliarden Euro, mittlerweile sind es 30 Milliarden Euro mit wesentlich steigender Tendenz. Gleichzeitig sinken die kommunalen
Investitionen mit allen negativen Folgen. Schulen, Bäder, aber auch andere öffentliche Einrichtungen verfallen. Was aber genauso schlimm, wenn nicht noch
schlimmer ist: Das mittelständische Handwerk vor Ort
bricht weg. Das heißt, eine der Krisen unserer Wirtschaft
liegt unter anderem darin begründet, dass das mittelständische Handwerk vor Ort keine Chance mehr hat, kommunale Aufträge zu erhalten, weil sich die Kommunen
keine Investitionen mehr leisten können.
({7})
Die Schere zwischen kommunalen Einnahmen und
Ausgaben geht immer weiter auseinander. Der Kollege
Dietrich Austermann hat dies anhand einer Skala eindrucksvoll aufgezeigt.
({8})
Das kommunale Defizit, das wir jetzt beklagen, einschließlich der Berücksichtigung der Veränderung im
Bereich der Gewerbesteuer steigt gegenüber dem vergangenen Jahr trotzdem weiter. Das sollten Sie einfach
zur Kenntnis nehmen.
Schauen wir nach Nordrhein-Westfalen; das war ja
der Anlass Ihrer Aktuellen Stunde. Wenige Tage vor den
Kommunalwahlen lassen sich die Menschen nicht täuschen. Wie sieht die Situation konkret aus? In NordrheinWestfalen waren im Jahr 2002 insgesamt 78 Städte und
Gemeinden der Haushaltssicherung unterworfen. Eine
große Zahl! Im Jahr 2003 waren es 139. Nach einer aktuellen Untersuchung des Städte- und Gemeindebundes
sind es in diesem Jahr 180 Städte und Gemeinden, die
der Haushaltssicherung unterliegen. Das als erfolgreiche
Politik verkaufen zu wollen ist ein durchsichtiges Manöver.
({9})
Schönreden nimmt Ihnen schon lange niemand mehr ab.
Diese Schönrederei schadet Ihnen selbst.
Die Forderung des SPD-Parteivorsitzenden Müntefering
gestern im „Handelsblatt“, die Länder sollten zur Lösung der kommunalen Krise die Fesseln der Haushaltssicherung lockern, ist ein Offenbarungseid rot-grüner Politik.
({10})
Das ist die gleiche Nummer, Frau Kollegin Andreae, als
wenn der Finanzminister öffentlich erklärt, dass die
Konvergenzkriterien von Maastricht nicht eingehalten
werden können, und er versucht, die Konvergenzkriterien zu verändern. Das sind falsche Signale. Mit dieser
Art von Politik treiben Sie die Kommunen und unser
Land noch weiter nach unten. Das haben die Menschen
in unserem Land nicht verdient.
Lassen Sie mich die Gelegenheit dieser Aktuellen
Stunde nutzen, den vielen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Kandidatinnen und Kandidaten, die sich um ein
kommunales Mandat bemühen, zu danken. Diese Persönlichkeiten, die sich dafür zur Verfügung stellen, wollen in ihrer Heimatgemeinde, in ihrer Stadt aktiv Kommunalpolitik gestalten. Von diesem Engagement lebt
unsere Demokratie. Wir sollten dafür dankbar sein und
diese Menschen unterstützen. Lassen Sie uns deshalb
politische Rahmenbedingungen setzen, damit kommunale Selbstverwaltung vor Ort überhaupt wieder stattfinden kann. Ich fordere Sie deshalb auf, sich nicht zurückzulehnen, sondern konstruktiv an einer dringend
notwendigen Gemeindefinanzreform mitzuwirken, einer Reform, die den Namen verdient. Die Rücknahme
einer Fehlentscheidung ist noch keine Reform. Ich bin
der festen Überzeugung: Wenn es den Kommunen in
Deutschland wieder gut geht und sie investieren können,
dann wird es in Deutschland wieder mehr Arbeitsplätze
vor Ort geben. Daran sollten wir arbeiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke meinem Vorredner ausdrücklich für die
guten Wünsche für die Kommunalwahl, denn ich gehöre
zu denen, die zurzeit draußen im Land unterwegs sind.
({0})
Ich bin gar nicht so erfreut, dass wir jetzt diese Aktuelle
Stunde haben, weil ich lieber zu Hause wäre, um einige
Missverständnisse auszuräumen, die unter anderem von
Ihren Kollegen in Nordrhein-Westfalen verursacht werden.
({1})
In der letzten Woche gab es in meinem Heimatort ein
CDU-Plakat, auf dem eine leere Kasse abgebildet war,
über der stand: Rot-Grün plündert die kommunalen Kassen.
({2})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir tun eine ganze Menge
in diesem Wahlkampf, aber wir würden nie die Unverschämtheit besitzen, solche Lügen zu verbreiten.
({3})
Es ist durch meine Vorredner ganz klar zum Ausdruck
gekommen, was wir für die Kommunen getan haben.
Trotzdem ist es notwendig, dass wir all das den Leuten
permanent erzählen. Wir sind bei den Leuten draußen im
Land. Ich erzähle den Leuten, was wir alles mit unserer
Steuerpolitik für sie getan haben. Nehmen Sie zur
Kenntnis, dass eine Familie mit zwei Kindern im Jahr
2005 erst dann Steuern zahlen muss, wenn ihr Bruttoeinkommen 37 000 Euro übersteigt.
({4})
Diese Familie hat 1998 2 900 Euro Steuern gezahlt. Das
ist ein sehr großer Fortschritt und widerspricht dem, was
Sie uns unterstellen.
({5})
Das Problem, das wir haben, ist, dass die Stimmung
durch Ihre Parolen nach unten gedrückt wird und wir mit
Mühe und Not dagegen anreden müssen. Die Entlastung
der privaten Haushalte beträgt seit 1998 mehr als 40 Milliarden Euro. Das müssen wir den Leuten immer wieder
sagen. Wir müssen sie zum Konsum anregen, damit sie
nicht der Verunsicherung erliegen, der Sie sie aussetzen.
({6})
- Nein, wir haben den Eingangssteuersatz und den Spitzensteuersatz und damit die gesamte Tarifkurve gesenkt.
Sie wissen das ganz genau. Sie sollten endlich aufhören,
etwas anderes zu erzählen. Wir haben dafür gesorgt, dass
Ihre Klientelpolitik endlich aufhört, und gegen den massiven Widerstand von Union und FDP unsere steuerpolitischen Maßnahmen durchgesetzt.
Jetzt komme ich zu den Kommunen. Es ist schon gesagt worden, dass wir diesbezüglich umfangreiche Maßnahmen gestaltet haben. Wir hatten dabei das Problem,
ab einem gewissen Zeitpunkt gegen den Bundesrat agieren zu müssen. Das war nicht immer erfolgreich. Wir haben allerdings - insofern möchte ich meinen Vorredner
ausdrücklich ergänzen - mit dem KfW-Infrastrukturprogramm geholfen, die Bäder und Sporthallen in den Kommunen zu erhalten. Ich denke, wir haben damit sehr viel
für die Kommunen tun können.
({7})
Außerdem kann ich mich an eine Aufstellung erinnern, die ich für meine Kommune erarbeitet habe, aus
der hervorgeht, was es für jede einzelne Kommune bedeutet hat, dass sie aus dem Flutopferhilfefonds herausgenommen wurde. Auch das Geld ist den Kommunen
geblieben. Es war nicht in ihrer Haushaltsplanung berücksichtigt und konnte als Geschenk angenommen werden.
({8})
- Nein, das haben wir ihnen nicht weggenommen. Sie
wissen genau, dass es den umfassenden Konsens gab,
dass jeder seinen Anteil leistet. Wir haben die Kommunen davon entlastet.
Was wir jetzt zusätzlich tun, halte ich für sehr wichtig.
Mit dem Geld, das wir durch Hartz IV einsparen, 2,5 Milliarden Euro, tun wir endlich etwas für die Kinderbetreuung in diesem Land. Sie haben es jahrelang versäumt,
ein Thema wie die Ganztagsbetreuung anzugehen. Wir
haben das jetzt getan und dafür insgesamt 4 Milliarden
Euro in die Hand genommen.
({9})
Wir haben die tausendste Ganztagsschule eingeweiht.
Ich denke, das ist ein Riesenerfolg.
Wir werden in den nächsten Jahren mit den Geldern,
die bei den Einsparungen im Zusammenhang mit
Hartz IV übrig bleiben, die Betreuung der unter Dreijährigen ausbauen. Ich denke, das ist ein Erfolg, auf den wir
im Nachhinein stolz sein können. Dann werden die Bürger auch merken, dass es ein Riesenunterschied ist, ob
sie CDU/CSU oder Rot-Grün wählen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Seiffert von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich
Ihre Redebeiträge höre, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, dann frage ich mich, wie weit Sie von der
Realität entfernt sind.
({0})
Unterhalten Sie sich nie mit Ihren Genossen, die als Bürgermeister, Gemeinderäte oder Oberbürgermeister in
den Rathäusern Verantwortung tragen?
({1})
Von ihnen müssten Sie doch hören, wie die Lage draußen ist. Oder glauben Sie ihnen nicht? Halten Sie die alle
für Schwarzmaler oder Pessimisten?
Es ist doch leider eine Tatsache, dass den Kommunen
die finanzielle Basis dramatisch weggebrochen ist. Die
Steuereinnahmen waren in den vergangenen Jahren
rückläufig. Die Ausgaben - vor allem im sozialen Bereich - sind explodiert, und die Investitionen, die für die
mittelständische Wirtschaft und das Handwerk so wichtig sind, befinden sich im freien Fall.
Die große Mehrheit der Städte und Gemeinden kann
seit drei Jahren im Verwaltungshaushalt die gesetzliche
Mindestzuführungsrate nicht mehr erwirtschaften. Viele
mussten Vermögen veräußern und neue Schulden machen, nur um die ordentliche Kredittilgung leisten zu
können.
Ich will das am Beispiel der Stadt Ulm, die in meinem
Wahlkreis liegt, deutlich machen. Ulm ist eine Universitätsstadt mit gemischten Gewerbestrukturen, 115 000 Einwohnern und einem SPD-Oberbürgermeister.
1995 betrug das Gewerbesteueraufkommen 44 Millionen Euro netto. 2004 werden nach den erzielten Verbesserungen voraussichtlich wieder 44 Millionen Euro
netto erreicht. 2005 sollen es sogar 47 Millionen Euro
werden. Aber - das ist der springende Punkt - 1995 betrug die Nettoinvestitionsrate 15,5 Millionen Euro; nach
den vorläufigen Planungen für 2005 liegt sie bei minus
5,1 Millionen Euro. Die Stadt wird also neue Schulden
machen müssen - vielleicht kann sie auch noch etwas
von ihrem Vermögen verscherbeln -, nur um die ordentliche Tilgung erbringen zu können. Ulm ist leider kein
Einzelfall, sondern kommunale Normalität.
({2})
In vielen kleineren Gemeinden kommt noch hinzu,
dass die Kreisumlagehebesätze so angestiegen sind, dass
sie den Kommunen völlig die Luft zum Atmen nehmen.
Das ist die kommunale Wirklichkeit, nicht die Schönfärberei, die Sie hier bisher geboten haben!
Durch die Politik von Rot-Grün ist die kommunale
Selbstverwaltung zur reinen Worthülse verkommen. Was
soll denn ein Stadtrat noch entscheiden, wenn ihm vom
Bund finanziell das Wasser so abgegraben wird? Ein
Stadt- oder Gemeinderat hat doch nur noch die Wahl,
welche Grausamkeit als erstes beschlossen werden soll.
Das ist doch in den von Ihnen regierten Städten genauso.
Sie aber kündigen jetzt goldene Zeiten an.
Gestern Abend hat Bundeswirtschaftsminister
Clement öffentlich davon gesprochen, dass die Kommunen 2005 um insgesamt 8 Milliarden Euro entlastet werden. Das würde für die bereits beispielhaft angeführte
Stadt Ulm - umgerechnet auf die Einwohnerzahl - ein
Einnahmeplus von 11,2 Millionen Euro bedeuten. Schön
wäre es! Aber das glaubt doch kein Mensch. Gibt es in
Ihrem Haus niemanden, der dem Minister eine Plausibilitätsrechnung aufmacht, bevor er so etwas sagt? Offenbar nicht! Sonst hätten Sie gemerkt, dass das nicht sein
kann. Herr Clement, Sie sollten sich nach Ihrem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt richten, der Ihnen
dringend empfohlen hat, den Menschen endlich die
Wahrheit zu sagen.
({3})
Die bescheidenen Mehreinnahmen beim Gewerbesteueraufkommen sind - das ist bereits mehrfach gesagt
worden - auf Steuererhöhungen und die Senkung der
Gewerbesteuerumlage zurückzuführen.
({4})
- Natürlich ist es so. - Drei Jahre haben Sie den Kommunen ohne jeden sachlichen Grund jährlich etwa
2,2 Milliarden Euro vorenthalten bzw. aus den Kassen
geraubt. Jetzt wollen Sie gefeiert werden, nur weil Sie
auf unseren massiven Druck das Diebesgut wieder zurückgeben.
({5})
Die Gewerbesteuer ist ein Relikt von gestern. Sie ist
kein Finanzierungsinstrument, auf das man sich verlassen kann, und sie ist auch nicht aufkommensgerecht.
Herr Kollege Scheelen, das möchte ich Ihnen wieder am
Beispiel der Stadt Ulm darlegen. In Ulm gibt es 8 500
gewerbesteuerpflichtige Betriebe. Von diesen zahlen tatsächlich nur 1 550 Betriebe Gewerbesteuer. Von diesen
wiederum bestreiten ganze 118 Betriebe über 75 Prozent
des Gewerbesteueraufkommens. Das sind hauptsächlich
Mittelständler, die ihre Gewinne nicht verlagern können.
Eine solch schmale Gewerbesteuerbasis gibt doch keinem Kämmerer Planungssicherheit. Hier hilft auch eine
systematisch völlig blödsinnige und volkswirtschaftlich
falsche Mindeststeuer nicht weiter.
({6})
Wir brauchen eine komplette Neuordnung des Steuerrechts. Dabei muss zu einer Einkommensteuerreform
eine Reform der kommunalen Finanzen hinzukommen,
wie es vom Kollegen Friedrich Merz bereits dargestellt
worden ist. Das ist die Lösung. Dieser sollten Sie sich
nicht länger verschließen. Solche rückwärts gewandten
Diskussionen, wie Sie sie heute angezettelt haben, führen nicht weiter und bringen Ihnen - darauf können Sie
sich verlassen - keine Stimmen in Nordrhein-Westfalen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Simone Violka von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schlechte Nachrichten verbreiten sich wie ein
Lauffeuer. Aber auf gute Nachrichten muss man immer
und immer wieder hinweisen, damit sie überhaupt wahrgenommen werden. Damit bin ich bei dem Grund für die
heutige Aktuelle Stunde. Es geht nämlich um gute Nachrichten, um die steigenden Einnahmen bei der Gewerbesteuer.
({0})
- Herr Fromme, die Lautstärke garantiert noch nicht die
Qualität und die Richtigkeit des Inhaltes.
({1})
Die Nachrichten von den steigenden Einnahmen bei
der Gewerbesteuer haben nicht nur wir, sondern auch die
Kommunalvertreterinnen und -vertreter gern gehört. Die
Länder haben diese guten Nachrichten ebenfalls positiv
aufgenommen. So äußerte sich zum Beispiel der noch
amtierende sächsische Finanzminister Metz, der erstaunlicherweise der CDU angehört, wie folgt - wenn man
Herrn Austermann und Herrn Merz genau zugehört hat,
dann weiß man, dass sie Herrn Metz schon im Vorhinein
als inkompetent bezeichnet haben -:
Die sächsischen Kommunen können 2004 gegenüber der Novemberschätzung 2003 mit 89 Millionen Euro höheren Steuereinnahmen rechnen. Für
2005 sind es 81 Millionen, für 2006 sind es 111 Millionen mehr als bei der letzten Maischätzung prognostiziert. Für die Kommunen werden 2005 um 5,7
höhere Steuereinnahmen geschätzt als bei der
Maischätzung 2003. Das sind positive Nachrichten
für die sächsischen Kommunen.
So weit Herr Metz. Ich frage Sie: Wie passt denn diese
Äußerung eines Ihrer Kollegen zu den Äußerungen Ihrer
Kollegen hier? Ist der Mann nun inkompetent oder sind
es Ihre Redner?
({2})
Ich sage: Recht hat Herr Metz. Aber ich frage mich
schon, warum er nicht dafür gesorgt hat, dass die künftige finanzielle Lage in den Kommunen noch besser aussieht. Die Einnahmen könnten nämlich noch besser sein,
wenn die Union die Einbeziehung der Freiberufler in die
Gewerbesteuer und unseren Vorschlag zur Mindestgewinnbesteuerung, eine 50:50-Regelung, verhindert hätte.
({3})
Nicht zu vergessen, dass die jetzigen spürbaren Entlastungen der Kommunen überhaupt nur gegen den massiven Widerstand von Union und FDP durchzusetzen
waren. Sie wollten die Gewerbesteuer sogar komplett
abschaffen.
({4})
Aufgrund der Zahlen zeigt sich jetzt allerdings, wer
Recht hatte. Eigentlich fehlt in der Pressemitteilung von
Finanzminister Metz nur der Dank an die rot-grüne Bundesregierung; denn ohne unsere politischen Entscheidungen auf diesem Gebiet würde er heute keine positiven Meldungen über die Gewerbesteuereinnahmen in
Sachsen verkünden können - ganz im Gegenteil.
({5})
Hätte die Unionsmehrheit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz und dem Haushaltsbegleitgesetz 2004 in der
von uns beschlossenen Fassung im Bundesrat zugestimmt, hätten alle Gebietskörperschaften in den
Jahren 2004 bis 2006 insgesamt 25 Milliarden Euro
mehr in ihren Kassen gehabt. Warum Sie dagegen waren, müssen Sie den Kommunalvertretern einfach einmal
erklären. Das ist Geld, das alle Ebenen dringend brauchen, auch für Zukunftsinvestitionen.
Ganz besonders drollig ist die FDP. Sie brüstet sich
im Internetportal damit, dass die Gewerbesteuereinnahmen überall dort, wo sie mitregiert, angeblich besonders
hoch seien. Gleichzeitig fordert sie aber - ich zitiere „die Abschaffung des Bürokratiemonsters Gewerbesteuer“. Ja, was denn nun?
({6})
Ihre Alternative, das ruinöse Konzept, das Sie hier vorgestellt haben und das Sie so nebulös durch die Lande
tragen, ist nun wahrlich keine ernst zu nehmende Lösung.
({7})
Sie müssen den Leuten aber auch sagen, welche Steuererhöhungen auf sie zukommen. Sie können nicht immer nur sagen, wo Sie entlasten wollen. Sie müssen auch
die Finanzierung klarstellen.
({8})
Wenn Sie das nicht tun, dann ist Ihre Vorgehensweise
nebulös und unseriös.
({9})
Kommunen brauchen verlässliche und stabile Steuereinnahmen. Die Gewerbesteuer ist nun einmal die
Hauptfinanzierungsquelle der Kommunen. Müssten sie
sich einzig und allein auf Zuweisungen aus den Ländern
verlassen, so wären sie in vielen Fällen verlassen. Ich
brauche nur noch einmal nach Sachsen zu schauen: Der
Freistaat brüstet sich mit einer niedrigen Verschuldung,
lässt aber völlig außen vor, wie die Verschuldung in den
Kreisen und Kommunen aussieht. Deren Verschuldung
kommt aber nicht durch die Verschwendungssucht von
Bürgermeistern und Landräten zustande, sondern durch
das finanzielle Ausbluten durch den Freistaat. Er kürzt
an allen möglichen und unmöglichen Zuweisungen und
überträgt immer mehr Landesaufgaben auf die kommunale Ebene - natürlich ohne finanziellen Ausgleich.
({10})
Das geschieht häufig auch dort, wo Gelder aus Berlin für
solche Aufgaben zur Verfügung gestellt werden.
Aber die klebrigen Finger so manchen Finanzministers sorgen regelmäßig dafür, dass diese Gelder eben
nicht zu 100 Prozent, wie von Berlin abgeschickt, bei
den entsprechenden Stellen ankommen. Vorhin kam
einmal der Einwurf, auch der Bund habe den Kommunen nicht mehr Geld zur Verfügung gestellt. Ich frage
mich schon: Ganztagsschulenprojekt, Fluthilfe,
Goldener Plan Ost, Stadtumbau Ost - schon vergessen?
Damit kommen den Kommunen ganz erhebliche Gelder
direkt zugute, die sie dringend brauchen. Gerade auf den
Freistaat Sachsen kann man sich in dieser Beziehung
überhaupt nicht mehr verlassen.
({11})
Frau Violka, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir brauchen die Kommunen als Investitionskraft
und als unverzichtbaren Partner für den Mittelstand. Hören Sie einfach auf, die zarten Pflänzchen namens „wirtschaftliche Erholung“ und „Aufschwung“ verbal zu zertreten, noch bevor daraus Pflanzen werden konnten. Das
nützt niemandem, erst recht nicht den Kommunen, die
als letztes Glied in der Kette Ihre politischen Fehlentscheidungen häufig auszubaden haben.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Elke Wülfing von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon interessant, wie hier argumentiert wird und
welche Themen hier vor oder nach Wahlen behandelt
werden. Wenn es so ist, dass die SPD und die Grünen
diese Aktuelle Stunde wegen der Kommunalwahl in
Nordrhein-Westfalen beantragt haben,
({0})
dann frage ich mich natürlich ganz besorgt: Wo sind
denn all die 60 Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, die
hier eigentlich sitzen sollten? Das ist doch etwas merkwürdig. Sie scheinen sich von dieser Aktuellen Stunde
und von ihrer Wirkung doch nicht ganz so viel zu versprechen.
Wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, gibt es
durchaus einen Bumerangeffekt. Er besteht darin, dass
die Finanzsituation der Kommunen nicht besonders gut
ist. Selbst die leicht steigenden Gewerbesteuereinnahmen - Frau Hendricks, auch Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen - ändern daran kaum etwas.
Ich will einmal zitieren, was Dr. Landsberg vom
Deutschen Städte- und Gemeindebund gesagt hat, heute
veröffentlicht in einer Meldung der Deutschen PresseAgentur:
Insgesamt werden die Kommunen auch im Jahr
2004 ein Defizit von 8 bis 9 Mrd. Euro zu verzeichnen haben. Gleichzeitig explodieren die kommunalen Kassenkredite, mit denen die Kommunen die
Löcher in ihren Verwaltungshaushalten stopfen
müssen. Die Kassenkredite haben sich allein im
größten Bundesland NRW verzehnfacht. Im
Jahre 2000 betrugen sie dort 507 Millionen Euro
und werden im Jahr 2004 voraussichtlich 5,6 Mrd.
Euro betragen.
({1})
Man kann, glaube ich, nicht sagen, dass NordrheinWestfalen da ein gutes Renommee hat.
({2})
Ich bin inzwischen wirklich der Meinung, dass bei
den kommunalen Finanzen etwas geschehen muss. Ich
bin lange Zeit, 15 Jahre, Kommunalpolitikerin gewesen
und ich weiß, wie schwierig es ist, die kommunalen
Finanzen in den Griff zu bekommen. Ich bin erfreut darüber, dass es der Deutsche Städte- und Gemeindebund
genauso sieht wie wir, dass nämlich die Gewerbesteuerumlage auf unsere Initiative hin von 28 Prozent auf
20 Prozent gesenkt worden ist. Von den steigenden Gewerbesteuereinnahmen oder -vorauszahlungen - so muss
man ja sagen - zahlen die Kommunen nicht 28 Prozent
- das war Ihr Bier -, sondern 20 Prozent; das ist unser
Bier.
({3})
Sie wissen sehr genau, dass Sie diese Senkung in namentlicher Abstimmung - Herr Götz hat es vorhin erwähnt - abgelehnt haben.
Ich darf dazu noch einmal Herrn Dr. Landsberg in
dieser Pressemeldung zitieren:
Ein großer Teil der zusätzlichen Gewerbesteuereinnahmen resultiert aus der vom DStGB seit langem
geforderten Senkung der Gewerbesteuerumlage an
Bund und Länder von 30 % auf 20 %.
Das können Sie im Ticker nachlesen.
({4})
Das ist gut für die Kommunen. Wir haben dafür gesorgt, dass von dem, was sich die Kommunen selbst erwirtschaften, wirklich etwas bei ihnen bleibt.
Betrübt stimmt mich, dass man die Bemessungsgrundlage für die Unternehmen derart verbreitert hat,
und zwar gegen unseren erklärten Willen. Um eine Senkung der Gewerbesteuerumlage für die Kommunen zu
erreichen, mussten wir uns auf diesen Pfad begeben.
Durch die Gesetzgebung aus den Jahren 2002/2003 und
2004 ist die Grundlage für die Bemessung von Steuern
bei den Unternehmen verbreitert worden, Frau
Hendricks, und dadurch ist ihnen eine zusätzliche Belastung von immerhin fast 8 Milliarden Euro entstanden.
Das sind Ihre Zahlen aus dem Finanzministerium, veröffentlicht heute mit der Broschüre vom BDI.
Man kann mit Fug und Recht sagen, dass das in der
gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation für die Kommunen natürlich nicht günstig ist. Das ist nicht gut für
Arbeitsplätze. Lassen Sie doch die Unternehmen in
Ruhe!
({5})
Natürlich ist es so, dass steigende Gewerbesteuerzahlen
für die Kommunen gut, aber für die Unternehmen
schlecht sind. Deswegen hat man dabei immer ein lachendes und ein weinendes Auge.
Alles, was Arbeitsplätze schafft, ist sozial.
({6})
Deswegen ist es wichtig, denke ich, dass die Kommunen
in Deutschland wieder investieren können. Deshalb darf
man ihnen vorher nicht alles Mögliche abgraben, vor allem nicht das Geld,
({7})
das sie dringend für Investitionen brauchen. Investitionen schaffen Arbeitsplätze. Dann haben auch die Kommunen wieder stetige Gewerbesteuereinnahmen.
Wenn Sie nachlesen wollen, wie nach unserer Vorstellung eine Gemeindefinanzreform aussehen soll, dann
schauen Sie bitte in unseren Antrag. Friedrich Merz hat
das vorhin erwähnt. Er hat ihn ausgearbeitet und er ist
von der CDU und CSU gemeinsam in den Bundestag
eingebracht worden. Machen Sie es so, wie es da steht!
Ein Beteiligungsmodell mit Hebesatzrecht ist eine sehr
vernünftige Lösung, die wir gemeinsam mit den Kommunen erarbeiten sollten. Damit hätten wir eine sichere
Finanzgrundlage für die Kommunen und nicht eine derartig volatile Grundlage wie die Gewerbesteuer, die mit
der Konjunktur ständig rauf und runter geht. Das werden
wir noch erleben
Frau Kollegin Wülfing, kommen Sie bitte zum
Schluss.
({0})
- ja, ich bin fertig -: Die derzeitigen Gewerbesteuervorauszahlungen können sich am Ende des Jahres bei
der Gewerbesteuerabrechnung wieder verringern, wenn
die Konjunktur nicht so läuft, wie sich das zum Beispiel
Herr Finanzminister Eichel vorstellt.
Bitte, Frau Kollegin Wülfing.
Ich denke, dass wir deswegen eine andere Finanzgrundlage brauchen als die, die Sie hier vorgestellt haben.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Horst Schild von SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin jetzt ein bisschen verunsichert, weil ich keinen roten
Faden in der Argumentation der Opposition erkennen
kann.
({0})
Was haben wir denn, Frau Kollegin Wülfing? Wir
stellen fest: Die Gewerbesteuereinnahmen haben sich im
ersten Halbjahr 2004 deutlich positiv entwickelt.
({1})
Nun können wir darüber streiten, woran das im Einzelnen gelegen hat. Dass es aber eine deutlich positive Entwicklung, wenn auch regional durchaus differenziert
- das ist bei der Gewerbesteuer ja immer so gewesen -,
gegeben hat, ist unstrittig. Eines ist auch klar - das war
eine Forderung der kommunalen Spitzenverbände -:
Wenn wir die Gewerbesteuer zu einer dauerhaften und
tragfähigen kommunalen Einnahmequelle machen wollen, dann reicht es nicht aus, nur die Umlage zu senken
- wir haben frühzeitig signalisiert, dass wir dazu bereit
wären, wenn es innerhalb eines Gesamtkonzeptes erfolgt -,
({2})
sondern dazu gehört auch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Das schafft Verlässlichkeit und Stabilität auch für die kommunale Seite.
({3})
- Ich komme auch noch auf Sie zurück.
Wir haben nun Mehreinnahmen bei den Kommunen.
Das ist zu begrüßen. Wir haben Ihnen mit dieser Aktuellen Stunde die kleine Chance gegeben, zu sagen: Auch
wir als Opposition haben im Vermittlungsverfahren
etwas dazu beigetragen, dass die Kommunen heute besser dastehen als im letzten Jahr.
({4})
Nun gut, Sie wollten das nicht.
Dann müssen wir uns aber über einen anderen Punkt
unterhalten: Sie negieren, dass es den Kommunen besser
geht und malen die kommunale Situation schwarz.
({5})
- Niemand sagt ja, dass wir aus dem Gröbsten heraus
sind. - Nun schauen wir uns aber einmal an, was einige
Bundesländer machen, und erklären Sie mir einmal, wie
das vor dem Hintergrund dieser katastrophalen finanziellen Situation in den Kommunen zu verantworten ist. Das
Land Thüringen geht hin und kürzt den kommunalen
Finanzausgleich im nächsten Jahr um 35 Millionen.
({6})
Kollegin Andreae hat vorhin gesagt, das Land BadenWürttemberg geht hin und kürzt den kommunalen
Finanzausgleich um 123 Millionen. Nun geht das Land
Niedersachsen hin und kürzt den kommunalen Finanzausgleich um 150 Millionen.
({7})
Wenn eine Regierung die Verantwortung für ein Land
trägt, dann kann sie nicht den Gemeinden so ohne weiteres einmal 150 Millionen wegnehmen.
({8})
Das sehen ja nicht nur wir so. Den Kollegen Fromme,
der sich mit seinen Zwischenrufen inzwischen völlig
verausgabt hat, möchte ich wenigstens lobend als einen
der verantwortlichen Kommunalpolitiker im Lande Niedersachsen erwähnen, der vehement kritisiert hat, dass
die niedersächsische Regierung, an der die FDP beteiligt
ist, den kommunalen Finanzausgleich gekürzt hat. Auf
diese Weise fallen natürlich die positiven Effekte, die
wir den Kommunen zukommen lassen, wieder weg,
wenn Sie Geld an anderer Stelle streichen.
({9})
Nachdem der Kollege Seiffert von Diebesgut gesprochen hat, das wir zurückgegeben haben, sollten Sie sich
einmal selbst überlegen, wie Sie den Fischzug einiger
CDU-geführter Landesregierungen klassifizieren wollen, die den Kommunen an anderer Stelle das wieder
wegnehmen, was wir ihnen gerade haben zukommen
lassen.
Kollege Fromme, ich hoffe, Sie behalten noch ein bisschen von dem Engagement, das Sie bei meinen Vorrednern durch Zwischenrufe an den Tag gelegt haben, zurück, damit Sie noch genügend Kraft haben, um Seit an
Seit mit den Kommunen in Niedersachsen zu verhindern, was die niedersächsische Landesregierung mit den
Kommunen vorhat.
({10})
Ich will noch zwei, drei Sätze sagen: Hier wird doch
von der CDU/CSU das Konzept vertreten - der Kollege
Merz hat das auch wieder getan -, dass sie Gewerbesteuer in der jetzigen Form nicht mehr wollen. Darüber
kann man ja gegebenenfalls reden.
({11})
Aber dann muss man eine Alternative haben.
({12})
- Herr Kollege Pinkwart, Sie haben sie nicht. In Ihrem
Konzept ist eine Umverteilung bei der Umsatzsteuer in
Höhe von 12 Prozentpunkten enthalten. Sie haben aber
nirgendwo gesagt, woher das Geld kommen soll.
({13})
- Gerechnet reicht nicht. Irgendeiner muss doch zahlen.
({14})
Wenn Sie den Kommunen 12 Prozentpunkte mehr geben
wollen,
({15})
dann müssen Sie diesen Anteil dem Bund und den Ländern wegnehmen. Aber diesen Punkt lassen Sie offen.
Das Gleiche gilt für das, was der Kollege Merz vorhin
gesagt hat. Er hat in verräterischer Weise von der Beteiligung der Gemeinden gesprochen. Was gilt denn nun:
Hebesatzrecht oder Beteiligung?
({16})
Bleibt es bei Art. 28 des Grundgesetzes? Was wollen Sie
eigentlich?
Weiterhin muss man fragen, wie Sie die Stadt-Umland-Problematik lösen wollen. Die Mehrheit der CDU/
CSU-regierten Länder im Bundesrat ist unseren Weg
mitgegangen, weil sie in kluger Vorausschau wussten
- auch Herr Faltlhauser hat das gesagt -, dass Ihr Modell
nicht ausgereift ist und dass damit die Probleme Stadt/
Umland nicht zu lösen sind.
Ich bitte Sie: Wenn Sie schon Vorschläge machen,
dann feilen Sie sie so aus, dass nicht mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden.
Ich danke Ihnen.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
Die „taz“ titelte am Dienstag im Bezug auf die SPD
sehr zutreffend: „Wahlverlierer in Siegerlaune“. Ein bisschen empfinde ich auch diese Debatte so. Sie, meine
Damen und Herren von der SPD, tun so, als hätten Sie
die Gemeinden aus ihrer Finanznot gerettet. Es müsste
Ihnen doch aufgefallen sein, dass die Vertreter der Kommunen die von der Bundesregierung verbreitete Euphorie nicht teilen können.
Am Mittwoch hat Bundesminister Stolpe viele warme
Worte zum Stand der deutschen Einheit und zur wirtschaftlichen Entwicklung im Osten gesagt; die Bundesregierung hat gar die wirtschaftliche Wende entdecken
wollen. Das Konjunkturbarometer des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle spricht jedoch eine andere
Sprache. Die Wirtschaft in Ostdeutschland hat im ersten
Halbjahr mit der konjunkturellen Entwicklung im Westen Deutschlands und im Ausland nicht mithalten können. Der gravierende Unterschied zwischen den Kommunen in Ost und West bleibt. Die Steuereinnahmen
ostdeutscher Kommunen erreichen im Vergleich mit denen westdeutscher Städte und Gemeinden nur ein Niveau von 30 Prozent.
Aber auch die westdeutschen Kommunen leiden
finanzielle Not. Es kann doch wohl nicht als Erfolg verrechnet werden, dass die kommunalen Investitionen im
vergangenen Jahr weiter gefallen sind und um ein Drittel
unter dem Stand des Jahres 1992 lagen. Ganz im Gegensatz zu den gesunkenen Investitionen sind die Sozialausgaben in den Kommunen dramatisch gestiegen. Ich
nehme noch einmal das Jahr 1992 als Bezugspunkt, obwohl ein Redner neulich gesagt hat, dass man mit dem
Nennen jeder neuen Zahl ein Drittel seiner Zuhörer verliert:
({0})
Im Jahr 2004 werden die Sozialausgaben der Kommunen um 45 Prozent über dem Niveau von 1992 liegen. Es
gibt also eine totale Schieflage.
Ich glaube, es ist eine gefährliche Illusion, zu glauben
- das wird verbreitet -, dass im Ergebnis von Hartz IV
die Kommunen entlastet werden. Das Gegenteil wird der
Fall sein.
({1})
Auch deshalb gehört Hartz IV grundlegend korrigiert.
Die Folgekosten von Hartz IV werden die Kommunen
empfindlich belasten.
Wenn jetzt der Anstieg der Einnahmen aus der Gewerbesteuer im letzten halben Jahr als Erfolg gefeiert
wird, halte ich das für kurzsichtig. Dem stellvertretenden
Geschäftsführer des Sächsischen Städte- und Gemeindetages ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Kassensturz wird
erst zum Jahresende gemacht.“
Wir, die PDS, sind der Auffassung, dass die strukturelle Schieflage der kommunalen Finanzausstattung dauerhaft und nachhaltig überwunden werden muss.
({2})
Wir fordern eine Reform der Kommunalfinanzen, die
diesen Namen auch wirklich verdient. Wir wollen, dass
die Kommunen Planungssicherheit haben.
({3})
Die Ergebnisse der Landtagswahlen am letzten Wochenende sind heftig und kontrovers diskutiert worden.
Wie eingangs schon zitiert, liefen Wahlverlierer in Siegerlaune umher. Ich finde, die geringe Wahlbeteiligung
ist eine Niederlage für die demokratischen Parteien. Gerade die Wahlenthaltung in kleinen Kommunen zeigt,
dass viele Menschen von der Politik dort nichts mehr erwarten. Wenn die Kommunen vor Ort zu wenig Geld haben, um zu investieren und das Leben vor Ort lebenswert
zu gestalten, ist das auch eine Gefahr für die Demokratie.
Stabile und gesicherte Kommunalfinanzen sind eine
Frage der Demokratie. Ein halbes Jahr mit leicht steigender Tendenz bei den Gewerbesteuereinnahmen reicht da
nicht aus.
Vielen Dank.
({4})
Als letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde hat die
Kollegin Bettina Hagedorn von der SPD-Fraktion das
Wort.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Es ist immer wieder erstaunlich, dass in diesem Haus selbst hervorragende Botschaften von Ihnen
so schlechtgeredet werden.
({0})
Das lassen wir Ihnen wirklich nicht durchgehen. Dazu
braucht man auch keine rosarote Brille.
({1})
Ich selbst bin bis vor anderthalb Jahren 20 Jahre lang
Kommunalpolitikerin, Bürgermeisterin und Amtsvorsteherin gewesen; Herr Kollege Kampeter, Sie wissen das.
({2})
Insofern betrachte ich die Kommunalfinanzen mit großem Interesse. Ich weiß, dass es im Hinblick auf die
Kommunalfinanzen grundsätzlich noch keine Entwarnung gibt.
({3})
Aber da gleich mehrere Ihrer Redner fälschlicherweise gesagt haben, dass die Gewerbesteuerumlagesenkung irgendetwas mit der jetzigen Botschaft von den guten Zahlen zu tun habe, müssen wir wirklich an Ihrem
finanzpolitischen Sachverstand zweifeln.
({4})
Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen sagen, dass
es natürlich unbestritten ist - dies wird in einem Artikel
im „Handelsblatt“ vom 16. September dieses Jahres
bestätigt -, dass die konjunkturelle Entwicklung der
eigentliche Faktor für die jetzt positiven Zahlen ist.
({5})
Im Zusammenhang mit der Gemeindefinanzreform, die
wir gemeinsam im Vermittlungsausschuss beschlossen
haben, zeitigt die Mindestgewinnbesteuerung, die der
Kollege Merz vorhin als eine zusätzliche Steuererhöhung gegeißelt hat, jetzt bei den Kommunen erste Erfolge.
({6})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
sollten sich schon entscheiden: Auf der einen Seite kritisieren Sie öffentlich vor Mikrofonen - ich muss Sie daran erinnern -, dass ein Großunternehmen wie Vodafone
versucht, die Verluste aus den Vorjahren mit dem Gewinn zu verrechnen. Auf der anderen Seite geißeln Sie
unsere Mindestgewinnbesteuerung als eine Steuererhöhung. Sie sollten sich überlegen, wie Sie das den Bürgerinnen und Bürgern erklären wollen.
({7})
Darüber hinaus ist es völlig unbestritten, dass sich neben den Einnahmen aus der Mindestgewinnbesteuerung
und den Auswirkungen der positiven Konjunktur die
Senkung der Gewerbesteuerumlage bis zum Jahresende
bei den Kommunen positiv bemerkbar machen wird. Dabei ist mit 2,5 Milliarden Euro zu rechnen.
({8})
Es hätte natürlich aus unserer Sicht noch viel besser
kommen können; an uns hat es aber nicht gelegen. Wenn
man in die Gewerbesteuerreform, so wie wir sie gewollt
hätten, zusätzlich die Freiberufler einbezogen und man
die Bemessungsgrundlage verbreitert hätte, dann wären
gerade in Kommunen in strukturschwächeren Regionen
mehr Gelder angekommen.
({9})
Ich möchte aber Ihren geschätzten Blick ein bisschen
darauf richten, dass für das kommende Jahr unter anderem im Zusammenhang mit Hartz IV eine zusätzliche
Verbesserung der Kommunalfinanzen ansteht. Die
Staatssekretärin hat die entsprechenden Summen genannt; sie werden in der Summe bei mehr als 6,5 Milliarden Euro liegen.
({10})
Ein entscheidender Punkt ist: Was machen die Kommunen jetzt mit diesem Geld? Wenn sie nämlich auf Sie hören, die Sie unseren Standort weiter schlechtreden,
({11})
dann wird dieses Geld in erster Linie - dies ist von Ihrer
Seite bereits angekündigt worden - zur Entschuldung
der Kommunen genutzt.
({12})
- Nein, das ist völlig unvernünftig. Es ist nämlich nicht
so, dass wir als Bund in unsere Tasche greifen, damit die
Kommunen dann letzten Endes eine Entschuldungspolitik betreiben. Nein, das Geld wird für öffentliche Aufträge vor Ort bzw. zur Ankurbelung der Wirtschaft gebraucht.
({13})
Es wird, Herr Kampeter, wenn ich mir diese Bemerkung
erlauben darf, vor allen Dingen zur Verbesserung von
Bildung und Betreuung in den Kommunen gebraucht; da
ist sich Rot-Grün mit der Wirtschaft vollkommen einig.
({14})
Auch da hören wir schon, dass die Kommunen die
feste Vereinbarung, die es hier gegeben hat, nämlich von
den 2,5 Milliarden Euro, die im Zusammenhang mit
Hartz IV bei den Kommunen verbleiben werden,
1,5 Milliarden Euro insbesondere in die Betreuung der
unter Dreijährigen zu investieren, nicht einhalten wollen.
Für dieses Programm haben wir in Deutschland nicht nur
die Unterstützung der Wirtschaft, sondern auch führender gesellschaftlicher Kräfte und im Übrigen auch die
Unterstützung vieler Frauen aus Ihren Reihen.
({15})
Nun bringen wir in diesem Zusammenhang einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein. Frau Gönner aus Baden-Württemberg hat ja schon angekündigt, das Gesetz
nicht in Kraft treten lassen zu wollen.
({16})
Dazu muss ich Ihnen sagen: Damit stellen Sie sich ein
Armutszeugnis aus.
({17})
Von den über 6 Milliarden Euro, mit denen die Kommunen ab dem kommenden Jahr durch die Kombination
von Gewerbesteuerreform, Hartz IV und anderen Gesetzen besser gestellt werden
({18})
- ich kann Ihnen die Zahlen einmal in Ruhe darlegen,
Herr Kampeter -, sollen 1,5 Milliarden Euro für die Betreuung der unter Dreijährigen bereitgestellt werden. Wir
streben nach dem Gesetz 230 000 zusätzliche Betreuungsplätze bis zum Jahr 2010 an, 60 000 im nächsten
Jahr und durchschnittlich 34 000 in den Folgejahren. Die
Kommunen sind frei in der Gestaltung, in welchem Umfang sie diese Plätze pro Jahr bereitstellen werden.
Der entscheidende Punkt ist, dass wir bei der Schaffung der 230 000 zusätzlichen Plätze auf die Finanzsituation der Kommunen Rücksicht genommen haben.
Frau Kollegin Hagedorn!
Wenn im nächsten Jahr 400 Millionen Euro investiert
werden, verbleiben noch 1,1 Milliarden Euro
Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten. Ich muss
leider intervenieren.
- bei den Kommunen, um die Erfüllung öffentlicher
Aufträge zu gewährleisten bzw. um im Rahmen der
Ganztagsbetreuung - wir haben 4 Milliarden Euro für
bessere Bildung und Betreuung zur Verfügung gestellt ergänzend tätig zu werden.
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Ich appelliere an die Kommunen, das Geld in die
Hand zu nehmen -,
Vielen Dank!
und zwar zugunsten der Familien.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz
({1}), Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Peter Hettlich, Volker Beck
({2}), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Deutsche und europäische Raumfahrtpolitik
zukunftsorientiert gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Georg
Nüßlein, Katherina Reiche, Thomas Rachel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Stärkung der wissenschaftlichen Zukunftsund wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit
des Raumfahrtstandorts Deutschland in Europa
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann
({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Stärkung der europäischen Raumfahrtpolitik - Gewinn für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Weißbuch
Die Raumfahrt: Europäische Horizonte einer erweiterten Union
Aktionsplan für die Durchführung der europäischen Raumfahrtpolitik
KOM ({4}) 673 endg.; Ratsdok. 14886/03
- Drucksachen 15/2394, 15/2334, 15/1230,
15/2373 Nr. 2.2, 15/3539 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Swen Schulz ({5})
Peter Hettlich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Swen Schulz von der SPD-Fraktion
das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Heute möchte ich
mich als Hellseher betätigen. Ich sage voraus, was die
Swen Schulz ({0})
CDU/CSU hier im Wesentlichen zum Thema Raumfahrt
vortragen wird.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
werden deutlich machen, dass Sie zur Raumfahrt stehen,
und einige gute und vollkommen unkontroverse Erläuterungen dazu abgeben. So weit, so gut. Dann werden Sie
aber betonen, dass Deutschland die Chancen der bemannten Raumfahrt nicht verpassen dürfe. Konkret: Sie
wollen gemeinsam mit US-Präsident Bush zum Mars
fliegen.
({1})
Das würde mich an sich nicht weiter stören. Sie wollen
das aber natürlich auf Kosten der Steuerzahler machen.
Das bereitet Probleme, die Sie nicht lösen können, ja,
leider auch gar nicht erst lösen wollen. Sie werden nicht
erklären, woher das Geld für die Programme der bemannten Raumfahrt kommen soll. Sie merken es: Ich
sage auch voraus, was Sie nicht sagen werden.
Diese inhaltliche Lücke wird Sie aber nicht daran hindern, die Regierungskoalition anzugreifen, weil für die
Raumfahrt, insbesondere im Rahmen des nationalen
Programms, zu wenig Geld zur Verfügung gestellt
werde.
Der Reihe nach: Über die Bedeutung der Raumfahrt
muss ich hier wohl nicht mehr viel sagen.
({2})
Sie ist von großer strategischer Bedeutung, Motor des
wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts,
schafft Arbeitsplätze und hilft, Probleme auf der Erde zu
lösen: vom Umweltschutz über Kommunikation und Navigation, Katastrophenschutz usw.
Wir brauchen aufgrund der Bedeutung der Raumfahrt einen eigenen, einen unabhängigen Zugang zum Weltraum.
Wir dürfen uns in diesem Schlüsselbereich nicht von anderen Staaten abhängig machen. Die bringen doch die
eigene Konkurrenz nicht in den Weltraum, und wenn,
dann nur zu härtesten Bedingungen.
Natürlich schaffen wir Deutsche das nicht allein. Wir
benötigen die enge Zusammenarbeit mit unseren europäischen Freunden. Wir wollen darum - das ist einer der
wichtigen Punkte unseres Antrages - die EU stärker einbeziehen. Damit erhalten wir eine breitere Basis für die
europäische Raumfahrt und können insbesondere die anwendungsorientierten Aktivitäten durch Beteiligung der
Nutzer bei Konzeption und Finanzierung stärken.
({3})
Wir dürfen darüber aber nicht die nationalen Anstrengungen vernachlässigen. Wir können nicht einfach so
tun, als ob Europa das alles für uns erledige. Nur wer in
der ersten Reihe mitmischt, wird auch richtig von der
Raumfahrt profitieren können.
({4})
Um das sicherzustellen, müssen wir Prioritäten setzen, also herausarbeiten, wo wir Spitze sind oder werden
können, und uns auf diese Felder konzentrieren, anstatt
überall ein wenig zu machen und damit ins Mittelmaß zu
rutschen.
Wir haben uns in der europäischen und deutschen
Raumfahrt eine Menge vorgenommen. Die drei wohl
größten Herausforderungen will ich benennen: das Trägersystem Ariane 5, das Satellitennavigationssystem Galileo und die internationale Raumstation ISS. Das sind
wirklich dicke Brocken, die einen Großteil der zur Verfügung stehenden Ressourcen in Anspruch nehmen.
Wir müssen unbedingt die Ariane flott bekommen;
sonst haben wir nicht den angesprochenen unabhängigen
Zugang zum Weltraum und können die Raumfahrt dann
im Grunde genommen sowieso abhaken.
({5})
Bundesministerin Bulmahn hat in diesem Feld ein wirklich glanzvolles Verhandlungsergebnis erreicht
({6})
und den Trägerbereich neu strukturiert, die deutschen
Ausgaben begrenzt und darüber hinaus den Abbau des
Rückflussdefizits vereinbart. Ich fürchte, das gehört zu
den wichtigen Dingen, die die CDU/CSU verschweigen
wird.
({7})
Galileo bietet eine riesige Chance für Europa und gerade auch für Deutschland. Die Bundesregierung hat hier
einen weiteren tollen Erfolg zu verzeichnen, denn sie hat
Deutschland die Führung des Projektes erstritten.
({8})
Doch wir dürfen uns damit nicht zufrieden geben, sondern müssen die daraus resultierenden Möglichkeiten
nutzen. Wir müssen das System auf die Beine stellen und
darauf achten, dass die Zusammenarbeit von öffentlicher
und privater Seite funktioniert und dass Unternehmen in
Deutschland Nutzen daraus ziehen.
Bei dem vielleicht Schwierigsten, der internationalen Raumstation ISS, können wir derzeit allerdings
nicht viel mehr machen als warten: warten auf die
USA, darauf, ob die Vereinigten Staaten zu ihrem Wort
stehen und die Raumstation mit dem Space Shuttle anfliegen und dann die ISS mit unserem Forschungsmodul Columbus fertig stellen. Erst dann können wir die
ISS auch richtig nutzen.
Um auch von den Finanzen her die Dimension klar zu
machen: Deutschland ist der größte europäische Beitragszahler für die Raumstation. Jährlich werden dafür
etwa 100 Millionen Euro aus deutschen Steuermitteln
verwendet. Insgesamt wurden dafür von uns bereits
heute über 1 Milliarde Euro ausgegeben. Das kann man
begrüßen oder auch kritisch sehen; das ist aber nicht
mein Punkt. Mein Thema ist, dass es vollkommen von
den USA abhängt, ob unsere Ausgaben irgendwann auch
Swen Schulz ({9})
einmal einen Nutzen bringen. Wir bauen Columbus und
das Teil wartet in irgendeiner Halle darauf, dass sich der
US-Präsident erbarmt und es mit nach oben auf die
Raumstation nimmt.
({10})
Ich will mich nicht zu lange mit den Fehlleistungen der
Regierung Kohl aufhalten; wir können das heute nicht
mehr ändern. Wir sind vertragstreu und fordern auch die
USA dazu auf.
({11})
Dafür allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, dass Sie nach dieser Erfahrung jetzt mit
den Amerikanern offenbar ein neues Abenteuer der bemannten Raumfahrt eingehen wollen, fehlt mir jedes
Verständnis.
({12})
Sie stellen sich hier hin, befreit von jedwedem lästigen
Realitätssinn, und fordern, dass wir im Himmel einen
Jahrmarkt veranstalten. Das geht nicht.
({13})
Sie wissen dabei genau, dass wegen des Aufwandes für
Sicherheit und Überlebenssysteme die Kosten für
bemannte Raumfahrt um ein x-faches höher sind als
für unbemannte Raumfahrt. Aber selbst wenn Sie den
ganzen Aufwand bewältigen, die technischen Probleme
lösen und alles bezahlen können, stellt sich immer noch
eine kleine, aber nicht ganz unwichtige Frage: Wenn Sie
einen Menschen auf den Mars gebracht haben, was soll
der dann da bitte schön machen? Die europäische Fahne
in roten Sand rammen und dann wieder nach Hause fliegen?
({14})
Ich bitte alle: Bleiben Sie auf dem Teppich! Die Kosten-Nutzen-Relation der unbemannten Raumfahrt ist
nicht zu schlagen. Es steht das schöne Wort von Bundesministerin Bulmahn: Die Amerikaner können ja gerne
zum Mars fliegen - unser Roboter wird ihnen die Tür
aufmachen.
({15})
Sie mögen einwenden, dass wir Visionen brauchten.
Okay, aber leider verwechseln Sie wie so oft Visionen
mit Spinnerei
({16})
und kümmern sich dabei nicht darum, dass wir zunächst
die real vor uns liegenden Herausforderungen bewältigen müssen. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche,
wir stellen die Grundlage her, auf der dann neue Vorhaben verantwortbar konzipiert werden können, keine
fragwürdigen Prestigeprojekte, sondern effiziente Forschung, Entwicklung und Anwendung.
Zum Abschluss natürlich noch ein paar Worte zum
Geld. Gestern im Ausschuss haben wir gehört, dass Sie
300 Millionen Euro mehr für Bildung und Forschung haben möchten, gegenfinanziert durch den Abbau der
Steinkohlesubventionen.
({17})
Das geht so natürlich gar nicht. Sie wissen das auch,
aber Sie glauben, es höre sich gut an. Sie haben sich
nicht zu dem Vorschlag von Edmund Stoiber verhalten,
gewissermaßen mit dem Rasenmäher überall die Ausgaben zu kürzen.
({18})
Das hörte sich nicht mehr so gut an und vertrüge sich natürlich auch nicht mit Ihren ständigen Forderungen nach
mehr Ausgaben.
Wir haben einen Weg vorgeschlagen, der nicht leicht,
aber tatsächlich gangbar ist, nämlich in die Köpfe anstatt
in Beton zu investieren. Wir geben heute Milliarden für
die Eigenheimzulage aus, Geld, das wir dringend für
Bildung und Forschung benötigen, auch für die Raumfahrt.
In unserem Antrag steht, dass insbesondere die nationale Raumfahrt finanziell gestärkt werden muss; ich
hatte schon auf ihre Bedeutung hingewiesen. Wir haben
in dieser schwierigen Haushaltslage eine Stabilisierung
der Ausgaben erreicht. Aber es ist richtig, wir benötigen
einen Aufwuchs. Ich schlage Ihnen daher eine Abmachung vor: Sorgen Sie dafür, dass die CDU/CSU der Abschaffung der Eigenheimzulage zustimmt, und ich sorge
dafür, dass die Ausgaben für die Raumfahrt steigen.
({19})
Eine solche Zusage von Ihnen würde mich freuen,
ebenso, wenn Sie hier erklärten, dass Sie keine Abenteuer fordern, oder wenigstens sagten, woher die Milliarden kommen sollen. Es würde mich überraschen, aber
freuen. Dann könnte ich auch verschmerzen, dass es mit
meinen hellseherischen Fähigkeiten doch nicht so weit
her ist.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich finde es zunächst spannend,
dass der geschätzte Kollege Schulz hier Astrologie und
Astronomie vermischt hat. Nicht spannend finde ich das,
was Sie uns vorhergesagt haben, weil hier im Hause bekannt ist, dass Sie die Probleme und Schwierigkeiten
sehr wohl kennen, nur nicht an deren Lösung arbeiten.
({0})
Angesichts dessen sind Vorhersagen alles andere als eine
Kunst.
Nun sind Vorhersagen hier auch deshalb nicht schwierig gewesen, weil wir uns bei der letzten Debatte scheinbar weitgehend und fraktionsübergreifend über die Bedeutung der Raumfahrt einig waren. Natürlich muss man
bei so viel Einigkeit ein bisschen zwischen den Zeilen
lesen. Es spricht Bände, wenn der Kollege Hettlich von
den Grünen in der letzten Debatte relativiert hat:
Die technologischen Fortschritte durch die Raumfahrt wurden und werden auch heute noch etwas
überschätzt.
({1})
- Nein, das haben Sie nicht gesagt. Das ist im Protokoll
nachzulesen.
Ich bin froh, dass trotzdem die Schlussfolgerungen aller Beteiligten ähnlich ausfallen: Wir wollen den nationalen Etat aufstocken, kleine und mittlere Unternehmen
nach wie vor an der Raumfahrt beteiligt wissen, den wissenschaftlichen und technischen Nachwuchs fördern und
die europäische und internationale Zusammenarbeit ausbauen. Nun ist es ein halbes Jahr her, dass wir an dieser
Stelle diskutiert haben. Daher dürfen wir die Frage stellen, was in diesem halben Jahr passiert ist.
({2})
Die Regierung hat ziemlich zeitgleich mit der letzten
Debatte eine Innovationsoffensive angekündigt.
({3})
Dass seit sechs Jahren keine innovativen Impulse aus der
Politik kommen, bildet sich mittlerweile in der Wirtschaft deutlich ab. Im Jahr 1999 waren 60 Prozent der
Unternehmen mit Produktinnovationen auf dem
Markt, 2002 waren es nur noch 53 Prozent. Bei den Patentanmeldungen wurde Deutschland nach 13 Jahren
Vorreiterrolle im Jahre 2003 erstmals von Japan überrundet. Der Anteil forschungsintensiver Erzeugnisse am Export sinkt. Im Jahr 2000 importierte Deutschland im Bereich der Spitzentechnologie erstmals mehr, als es
exportierte.
({4})
- Auf diese Bemerkung komme ich noch zurück.
Ihre Innovationsoffensive, meine Damen und Herren,
ist und bleibt eine Ankündigungsoffensive. Mir persönlich stellt sich die Frage, was Sie noch ankündigen könnten, wenn Sie all das, was Sie in den letzten sechs Jahren
angekündigt haben, auch umgesetzt hätten. Gar nichts!
Genauso viel ist passiert. Als ein Stichwort nenne ich die
Eliteuniversitäten. Es wäre gut, wenn wir uns um die
Eliten kümmerten. Allein am Deutschen Luft- und
Raumfahrtzentrum rangeln momentan 400 Doktoranden
um eine Festanstellung, die sie nicht bekommen werden.
Die Frage, wohin sie gehen werden, ist schnell beantwortet. Wenn sie ins Ausland gehen, werden sie nicht
mehr zurückkommen.
({5})
Nach aktuellen Umfragen sind 70 Prozent der deutschen
Wissenschaftler in den USA nicht gewillt, nach Deutschland zurückzukommen.
({6})
- Das ist so wie mit dem Schwarzgeld: Nur zum Steuerzahlen, Herr Tauss, kommt niemand nach Deutschland
zurück.
({7})
Die Innovationsoffensive nimmt man dieser Regierung nicht ab. Wer bei der Kernenergie Experten aus
dem Land treibt oder die Grüne Gentechnik im Keim erstickt, dem nimmt man so etwas nicht ab. Bei der Raumfahrt habe ich - auch nach Ihrer Rede, Herr Schulz - den
Eindruck, dass es gerade einmal darum geht, bestehenden internationalen Verpflichtungen nachzukommen, aber
nicht darum, weiterzudenken und sich die Frage zu stellen, wie man in diesem Bereich der Spitzentechnologie
in Deutschland langfristig vorankommt.
({8})
- Daran arbeiten Sie schon sechs Jahre.
Wir haben das letzte Mal eine langfristige Strategie
angemahnt. Da kam reflexartig der Verweis auf Ihr
Raumfahrtprogramm. Das ist nichts Langfristiges; das
endet im Jahr 2006. Die Raumfahrt denkt aber in ganz
anderen Zyklen.
({9})
Das wissen Sie. Die Rosetta-Mission zum Beispiel
wurde Mitte der 80er-Jahre gestartet. Der Start der Rakete war heuer und die Landung auf dem Kometen wird
im Jahre 2014 stattfinden. Heutige Haushaltsschwierigkeiten sind nicht die Haushaltsschwierigkeiten von
Helmut Kohl; das sind Ihre Haushaltsschwierigkeiten.
({10})
Sie können nicht die Strategie in der Luft- und Raumfahrt auf alle Zeiten dominieren.
Es geht doch um Fragen der kompetenten Standortsicherung, um Wachstum. Ich muss mir doch, wenn ich
über Strategie rede, erst einmal die Frage stellen: Wo
will ich hin?
({11})
Und dann: Mit welchen Mitteln kann ich das erreichen?
Jetzt sage ich einmal etwas Positives - das haben Sie
vorhin ja angemahnt; ich hätte es aber auch so gemacht -: Deshalb finde ich es gut, Frau Ministerin, dass
das Ministerium und das DLR am Freitag darüber diskuDr. Georg Nüßlein
tieren werden. Ich bitte Sie nur: Machen Sie keinen
Dauerlutscher daraus, nicht etwas, was ewig dauert, sondern etwas, was auch zu konkreten Ergebnissen führt.
Denn die Wirtschaft braucht ganz dringend Verlässlichkeit der Politik. Das gilt besonders für die kleinen und
mittleren Unternehmen, die in der schwierigen Situation
sind, dass auf der einen Seite Impulse des Staates und
der Politik für den Bereich der Raumfahrt fehlen und
dass auf der anderen Seite die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland momentan so schlecht sind,
dass man sich schwer tut, durch Anwendungsorientierung Standbeine zu schaffen.
({12})
- Ich weiß nicht, was die Eigenheimzulage mit der
Raumfahrt zu tun hat.
({13})
Ich sage Ihnen eines:
({14})
Wenn Sie ein Wohnungsbauprojekt auf dem Mond planen würden, dann wäre das visionär. Mit dieser Eigenheimzulage - das ist die einzige diesbezügliche Debatte,
die wir momentan im Bundestag führen - versuchen Sie,
alle Probleme, die sich im Haushalt aufgetürmt haben,
zu lösen.
({15})
Die Größenordnung, um die es sich bei der Eigenheimzulage handelt, ist dafür überhaupt nicht geeignet.
({16})
Im letzten Jahr wollten Sie mit diesem Geld nicht forschen; im letzten Jahr wollten Sie noch konsolidieren.
Heute wollen Sie forschen. Ich bin gespannt, was Sie
übermorgen mit der Eigenheimzulage machen wollen.
So können wir natürlich die Probleme in diesem Land
nicht lösen.
({17})
Neben der Eigenheimzulage gibt es auch noch einen
anderen Punkt: Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, dann
fordern Sie immer die Mitverantwortung der Industrie
und der Wirtschaft ein.
({18})
Pflicht ist offenbar, meine Damen und Herren, das, was
Sie von den anderen erwarten. Ich sage: Tun Sie Ihre
Pflicht! Schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit die
Wirtschaft wieder läuft und Investitionen wieder möglich sind! Schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit Unternehmen in der Luft- und Raumfahrt in Deutschland
eine Zukunft haben!
({19})
Ich sage auch deutlich, warum wir hier darüber diskutieren. Ich bin der Überzeugung, dass auf dem Gebiet der
Raumfahrt der Staat in ganz besonderer Weise in der
Pflicht ist. Ich habe schon bei der letzten Debatte darüber versucht, zu betonen, dass es Grenzen der Kommerzialisierbarkeit gibt. Das gilt für die Grundlagenforschung - da sind wir uns einig -; das gilt aber auch für
den Bereich der Anwendungsorientierung.
Sie haben das Stichwort Galileo gebracht. Da geht es
ja auch weiter. Wir erkennen den Erfolg sehr wohl an,
der sich darin zeigt,
({20})
dass der Sitz von Galileo Industries in München ist auch deswegen, weil ich aus Bayern komme. Ich sehe
ebenfalls, dass in den neuen Bundesländern Leute auf
Impulse rechnen, etwa auf ein Geoforschungszentrum
für Potsdam. Das sind alles wichtige Themen. Aber das
ist nicht das Allheilmittel für die Raumfahrt.
Die Arbeitsplätze, die im Rahmen von Galileo entstehen, werden im Endgerätebereich entstehen. Wir tun uns
dabei noch etwas schwer mit der Umsetzung. Es kann
doch niemand genau sagen, ob die Investition 2,6, 2,7 oder
vielleicht sogar 3,5 Milliarden Euro ausmachen wird.
Das ist aufzubringen, wenn man absehen kann, dass es
zu Rückflüssen kommen wird, dass Geld verdient wird.
Es können nicht die Autofahrer allein sein, die das über
das Navigationssystem bezahlen werden. Weitere Kunden könnten sein: die Bahn, die Schifffahrt und die Luftfahrt. Aber wir werden auch das Militär benötigen.
Da sind wir schon an einem Punkt, an dem wir uns
reichlich schwer tun. Das Militär nutzt noch bis 2015
kostenlos GPS. Wir werden in diesem Haus die Frage
beantworten müssen, was uns die Unabhängigkeit von
den USA in diesem Bereich wert ist. Der Staat wird darüber hinaus sicherstellen müssen, dass dieses Signal
dauerhaft vorhanden ist, dass Galileo also dauerhaft führend ist. Das ist nur durch staatliche Bürgschaften möglich. Insofern wird sich der Staat hier nicht aus der
Pflicht nehmen können.
Sie haben angesprochen, dass all dies eine Frage der
Finanzierung ist. Das ist richtig. Es ist nicht so, dass wir
diesen Aspekt ausblenden. Aber ich sage ganz deutlich:
An der Finanzmisere, in der wir uns momentan befinden,
ist einzig und allein diese Regierung schuld.
({21})
Sie haben sie zu verantworten.
({22})
- Durch die Streichung der Eigenheimzulage kann man
an dieser Situation, allein aufgrund der Größenordnung,
null Komma nichts ändern.
({23})
- Herr Schulz, nachdem Sie nun sechs Jahre an der Regierung sind, können Sie nicht immer noch nach der Manier „Haltet den Dieb!“ verfahren und sagen, die Regierung Kohl sei schuld.
({24})
Ich sage Ihnen: Schaffen Sie finanz- und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen, die zu Wachstum führen!
Nun konkret zum Haushalt: Wir waren einhellig der
Meinung, dass das nationale Programm gestärkt werden muss, weil es der Schlüssel ist, mit dem in Europa
mehr Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden kann. Aber
wie sieht die Realität aus? In Deutschland beträgt das
Verhältnis zwischen den Mitteln für das nationale Programm und dem ESA-Beitrag 20 zu 80. In Frankreich ist
das Verhältnis umgekehrt, 65 zu 35, und zwar auf deutlich höherem Niveau. In Italien beträgt es etwa 50 zu 50.
Unsere Partner bereiten sich auf die neuen EU-Kompetenzen schlicht und einfach besser vor. Ich habe den
Eindruck, wir wollen all unsere Probleme und Einschränkungen wieder „wegeuropäisieren“ bzw. wegharmonisieren. Aber wir werden erleben, dass der Wettbewerb der Volkswirtschaften auch in einem geeinten
Europa bestehen bleibt. Das wird auch für die Luft- und
Raumfahrt gelten.
Was ist also aus unserer gemeinsamen Forderung
nach Aufstockung des nationalen Programms geworden?
Herr Schulz, meine Prognose war richtig: Die Fraktionen von SPD und Grünen fordern eine Aufstockung des
nationalen Raumfahrtprogramms, die Regierung aber
stockt die Schulden auf.
({25})
Seit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 erodiert
das nationale Programm zunehmend: Die Mittel wurden
von 167 Millionen Euro im Jahr 1998 scheibchenweise
auf 138,3 Millionen Euro reduziert.
({26})
Jetzt werden Sie zwar einwenden, dass sie im Moment
145,5 Millionen Euro betragen. Aber ich sage Ihnen:
Von diesen 145,5 Millionen Euro sind derzeit noch
18 Millionen Euro gesperrt. Gelder, die im Oktober
eines Jahres noch gesperrt sind, stehen faktisch nicht zur
Verfügung. Das ist reine Augenwischerei und Makulatur.
Das muss man in dieser Deutlichkeit sagen.
({27})
Wenn sich am nationalen Programm künftig nichts
ändert, dann stellen sich die Fragen: Wie sollen wir die
von der EU geforderte Kofinanzierung aufbringen? Wie
sollen wir im Rahmen des 6. Forschungsrahmenprogramms erfolgreich sein? Dann zieht auch der Einwand,
mit dem ich eigentlich gerechnet habe, nicht, dass der
ESA-Beitrag seit 1998 von 494,4 Millionen Euro auf
561,75 Millionen Euro aufgestockt wurde.
({28})
Denn abgesehen davon, dass dieser Betrag nicht ausreicht, werden sich durch Galileo, ISS und Launcher
außerordentlich hohe Mehrkosten ergeben.
Im nächsten Jahr wollen Sie den ESA-Beitrag gegenüber der Anforderung des BMBF um 10 Millionen Euro
und gegenüber dem Finanzplan für das Jahr 2003 um
20 Millionen Euro reduzieren. Man könnte sagen: Das
ist wunderbar! Das war unser Vorschlag. Es ist ja nicht
so, dass wir keine Finanzierungsvorschläge machen. Das
ist ein Vorschlag, wie man die Mittel für das nationale
Programm schrittweise anheben könnte. Aber was passiert? Genau das Gegenteil: Die Einsparungen kommen
der Aufstockung des nationalen Programms nicht zugute. Die Millionen verschwinden im schwarzen Loch
des rot-grünen Haushalts.
({29})
- Geld ist nicht alles und die Zurufe von Herrn Tauss
sind es Gott sei Dank auch nicht. Es ist schon traurig,
dass der liebe Gott Sie mit so einer lauten Stimme ausgestattet hat. Da sieht man, dass unser Herrgott auch nicht
unfehlbar ist.
Es ist nicht immer nur eine Frage des Geldes, meine
Damen und Herren. Diese Erfahrungen haben der Herr
Staatssekretär Dudenhausen und einige Kollegen gemeinsam mit mir bei einem Raketenstart in Kourou gemacht. Es gab dort erst nach Drängen der CDU/CSUMitglieder eine deutsche Führung. Die Franzosen konnten oder wollten nicht erklären, welche Raketenteile aus
Deutschland kommen. Jetzt kann man sagen: Das ist alles entschuldbar. Nur eines muss man klar sehen: Frankreich finanziert etwa 27 Prozent der ESA, wir etwa
25 Prozent. Deshalb ist eine französische Dominanz in
diesem Ausmaß nicht gottgegeben und wir sollten alles
daransetzen, daran etwas zu ändern. Das ist eine Frage
des Auftretens, der Ansprüche und des Selbstbewusstseins.
Mir ist daran gelegen, dass wir unsere Wettbewerbsposition verbessern und ausbauen und dass wir unseren
Blick nicht zu sehr einschränken. Wir dürfen unsere sehr
gute Ausgangsposition, wie ich meine, nicht leichtfertig
aufs Spiel setzen,
({30})
insbesondere mit Blick auf die internationale Raumstation ISS, an deren Nutzung Deutschland ein außerordentliches Interesse haben muss.
Unabhängig davon, wie ernst man Ankündigungen
von
Die bemannte Basis auf dem
Mond mag teuer und visionär sein, ich weiß aber, dass
sie hier im Saal manchem weniger zu teuer als vielmehr
zu visionär ist. Dennoch sollten wir nicht von vornherein
Themen ausschließen, nur weil nicht sein kann, was in
den Augen von Rot-Grün nicht sein darf.
({0})
Meine Damen und Herren, Herr Tauss, als die Lokomotive erfunden wurde, haben skeptische Mathematiker
präzise nachgewiesen, dass sie nicht auf glatten Schienen fährt, weil die Räder durchdrehen. Präzise falsch.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In einem sind wir uns sicherlich einig: Die
Raumfahrt ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten in vielen
Bereichen, manchmal sogar unbemerkt, unverzichtbare
Funktionen übernommen, sodass es uns heute gar nicht
mehr möglich ist, zum Beispiel ohne Wetter-, Telekommunikations- oder Fernsehsatelliten auszukommen. Eng
verknüpft ist damit die Raumfahrtforschung, die durch
ihre technologische und wissenschaftliche Arbeit vielen
Innovationen auch den Weg in andere Technologiefelder
bereitet hat. Aber - das möchte ich Herrn Nüßlein ins
Stammbuch schreiben - die bemannte Raumfahrt konnte
viel dazu beitragen, weil es in erster Linie um die Verlässlichkeit von Bauteilen ging! Das war nämlich lebensnotwendig für die Astronauten. Die Technologie von
Apollo und dem Space Shuttle ist zum Teil auch heute
noch regelrecht archaisch.
Die Raumfahrt leistet aber auch einen unverzichtbaren Beitrag zur Beantwortung der Menschheitsfragen
nach der Entstehung und Zukunft unserer Welt oder unseres Universums. Von zentraler Bedeutung ist dabei
auch die Frage, ob es Leben - in welcher Form auch immer - außerhalb unseres Planeten gibt bzw. gegeben hat,
womöglich sogar in unserem Sonnensystem. Als langjähriger engagierter und begeisterter Amateurastronom
verfolge ich über das Internet beinahe täglich die aktuellen Expeditionen auf dem Mars und am Saturn. Die Produktion täglich neuer, fantastischer Bilder des Mars Express, des Mars Rover oder der Saturnsonde Cassini ist
nur die eine Seite.
({0})
- Machen wir, gerne, vielleicht sogar im Bundestag.
Ich bin einmal gespannt, welche Redezeiten die Fraktionen dafür anmelden.
Diese Missionen haben uns darüber hinaus bereits
jetzt einen riesigen Erkenntnisgewinn gebracht - ich
kann es nur jedem empfehlen, diese Internetseiten einmal aufzurufen -: So haben uns die Bilder des Mars
Rover „Opportunity“ nicht nur die faszinierende Welt
der Landestelle „Meridiani Planum“ näher gebracht,
sondern mithilfe des an Bord befindlichen MössbauerMassenspektrometers auch den Nachweis führen können, dass in diesem Gebiet vor langer Zeit eine große
Lagune mit salzhaltigem Wasser existiert haben muss.
Den Beweis, dass es tatsächlich Leben auf dem Mars gegeben hat, sind uns diese Sonden zwar noch schuldig geblieben, aber ein bisschen spannend darf es aber ruhig
noch bleiben: Schließlich regt das die Fantasie an.
({0})
Warum bin ich jetzt etwas ausführlicher auf diese aktuellen Missionen eingegangen? Sie sind für mich zum
einen ein Beweis dafür, dass deutsche und europäische
Raumfahrttechnologie und -forschung absolute Weltspitze darstellen, und zum anderen zeigen diese Missionen deutlich, dass wir zur Erforschung ferner Welten
keine bemannten Missionen brauchen.
Das vorgenannte Mössbauer-Massenspektrometer auf
dem US-amerikanischen Mars Rover wurde beispielsweise von der Universität Mainz entwickelt und gebaut.
Die jetzt schon legendäre Stereokamera auf der europäischen Mars-Express-Sonde stammt aus der Schmiede
von Professor Neukum von der FU Berlin. Auch an der
Saturnmission Cassini ist Europa - und damit auch
Deutschland - mit dem Mondlander Huygens beteiligt.
({1})
Diese ausgewählten Beispiele sind nur ein kleiner
Ausschnitt, aber ein Beweis für die hohe Anerkennung,
die deutsche und europäische Raumfahrtexperten international - auch bei den Amerikanern - genießen. Sie zeigen uns aber auch, dass wir trotz einer von uns gewollten
und geförderten gemeinsamen europäischen Raumfahrtpolitik weiterhin ein nationales Raumfahrtprogramm
benötigen. Daher ist es auch wichtig, dass wir in unserem Antrag fordern, dass wir unsere mittelfristige Finanzplanung auf eine Neuorientierung der programmatischen Zielsetzung des nationalen Raumfahrtprogramms
mit dem Ziel einer Verstetigung des Mittelflusses und
damit einer Absicherung und des Erhalts deutscher
Kompetenzen abstimmen.
Ich will an dieser Stelle aber betonen: Wir können
und wir werden uns nicht in einen nationalen Wettlauf
mit anderen Staaten begeben. Es kommt vielmehr auf
die Konzentration auf diejenigen Kerngebiete an, die mit
Blick auf unsere Fähigkeiten und kommerziellen Perspektiven die höchsten Potenziale bieten. Dabei ist es
wichtig, dass wir die Kompetenz kleiner und mittelständischer Unternehmen in der Raumfahrtindustrie erhalten. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass ihre Interessen bei der Vergabe von Entwicklungsprogrammen und
Aufträgen auch im europäischen Rahmen angemessen
berücksichtigt werden.
({2})
In den vergangenen Monaten habe ich diesbezüglich
einige Gespräche geführt. Dabei habe ich die Erkenntnis
gewonnen, dass deutschen Unternehmen in den USA
zum Teil fairere Chancen bei der Mitwirkung geboten
wurden als im Rahmen von europäischen Projekten. Angesichts unseres hohen finanziellen Beitrages zur ESAFinanzierung hat es nichts mit nationalem Egoismus zu
tun, wenn ich an dieser Stelle die Forderung nach einem
fairen Projektzugang in den Raum stelle.
Die Gemeinsame Initiative für einen starken Luft- und
Raumfahrtstandort in Ostdeutschland - Staatssekretär
Staffelt hat sie ins Leben gerufen - soll deutlich machen,
dass wir ein großes Potenzial für ein drittes Zentrum der
Raumfahrtindustrie neben Hamburg/Bremen und
München an den Standorten Berlin-Adlershof, Jena oder
im Raum Dresden haben. Ziel muss es sein, eine übergreifende Zusammenarbeit und eine stärkere Vernetzung
der bestehenden Kompetenzzentren anzuregen und zu
organisieren. Das könnten wir mit der anstehenden Neuordnung der Förderinstrumente beim Aufbau Ost übrigens gezielt unterstützen. Das bedeutet für mich auch,
dass die beiden westdeutschen Standorte nicht in allen
Fällen und bei allen Projekten die erste Geige spielen
müssen.
Die Frage des unabhängigen europäischen Zugangs
zum Weltall und die europäischen Trägersysteme habe
ich bereits im Februar angesprochen. Dazu muss ich
heute nichts mehr sagen. Swen Schulz hat ja auch ausführlich etwas dazu gesagt.
An dieser Stelle will ich noch einmal explizit auf die
bemannte Raumfahrt eingehen. Wir leisten mit dem
europäischen Beitrag an der ISS bereits einen großen
Beitrag zum Aufbau dieser Orbitalstation und stehen
auch zu den erheblichen internationalen Verpflichtungen.
({3})
Allerdings stellt sich für mich zunehmend die Frage
nach dem Sinn der bemannten Raumfahrt, wenn sogar
die Raumfahrtnation Nummer eins, die USA, erfolgreiche Projekte wie das Hubble-Space-Telescope für zweifelhafte Zukunftsprojekte wie zum Beispiel eine bemannte Marsexpedition regelrecht opfern will. Für uns
lag und liegt die Zukunft daher in der unbemannten
Raumfahrt. Wer die bemannte Raumfahrt weiterhin fordert und fördern will, sollte auch so ehrlich sein und uns
verraten, wo er künftig die Prioritäten setzen möchte und
wo er die Mittel dafür herbekommen will.
({4})
Zum Schluss noch etwas in eigener bündnisgrüner
Sache: Wenn wir als Bündnisgrüne einmal der Stationierung von deutschen Soldaten im Kosovo und in Afghanistan zugestimmt haben - zugegebenermaßen unter
Schmerzen -, dann stehen wir auch dazu, dass wir damit
eine Verwendung von Raumfahrttechnologie im Rahmen
des Dual Use, zum Beispiel bei der Luftüberwachung,
der Luftaufklärung sowie der Kommunikation und im
Rahmen des Global Positioning Satellite Systems bzw.
später bei Galileo, akzeptiert haben.
Mit Blick auf die aktuelle Situation und die Pläne für
eine noch weiter gehende Militarisierung des Weltalls
möchte ich aber deutlich sagen: Wir wollen diese nicht
und erteilen daher insbesondere der Entwicklung und
Stationierung von Waffensystemen im Weltraum eine
klare Absage.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Pieper, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Tauss, der Kollege von der SPD-Fraktion möchte auf
den Mars fliegen. Ich dachte, Sie sind gegen die bemannte Raumfahrt.
In dem Bericht des Ausschusses zu den Anträgen aller hier im Haus vertretenen Fraktionen, den Sie vorliegen haben, wird anerkennend hervorgehoben, dass die
Initiative der FDP-Bundestagsfraktion, die jetzt über ein
Jahr zurückliegt, der Förderung der Raumfahrtstrategie
dient und eine intensive Raumfahrtdebatte hier im Parlament überhaupt erst ermöglichte.
({0})
Das ist gut so. Dazu haben wir eine intensive Diskussion
im Forschungsausschuss gehabt. Es gab zu strategischen
Punkten große Übereinstimmung, die ich hier noch einmal hervorheben möchte.
Was uns offensichtlich alle eint, ist die Auffassung,
dass Raumfahrt und Raumfahrtforschung aus unserer
modernen Wissensgesellschaft nicht mehr wegzudenken sind. Dabei ist uns allen klar, wie wichtig es für
Deutschland als eine der weltweit führenden Wirtschaftsnationen ist, mit seinen europäischen Partnern einen eigenen Zugang zum Weltraum zu besitzen. Wir alle
sind der Meinung, dass Europa über das autarke und sehr
präzise Satellitennavigationssystem Galileo verfügen
muss, um einerseits die zivilen Möglichkeiten der Satellitennavigation für neue innovative Technologien breit
zu nutzen und um andererseits den Sicherheitsbedürfnissen Europas Rechnung zu tragen.
({1})
Aber auch der Beitrag Deutschlands für friedenserhaltende und Frieden schaffende Maßnahmen der Vereinten Nationen erfordert ein störungsfreies, zeitgenaues
und präzises System. Ich freue mich deswegen auch,
dass alle Fraktionen dieses Hauses ihr Bekenntnis für
eine Ausweitung von Galileo auf die militärische Nutzung satellitengestützter Technologien abgelegt haben.
Ich anerkenne in diesem Zusammenhang auch die konsequente Haltung der Bundesregierung beim Streit mit
den Vereinigten Staaten von Amerika um die Frequenzfrage und den gefundenen Kompromiss, der die berechtigten sicherheitspolitischen Interessen beider Seiten berücksichtigt.
({2})
Ich möchte auf ein weiteres gemeinsames Ziel, das im
Ausschuss zwischen allen Fraktionen diskutiert und das
auch schon angesprochen wurde, hinweisen: Wir alle anerkennen die Rolle der Weltraumforschung und -technik
im Rahmen des nationalen Raumfahrtprogramms und
fordern dessen Stärkung und anschließende Verstetigung. Das haben alle Redner vor mir zum Ausdruck gebracht. Ich kann hier nur mit Erich Kästner sagen: Es
gibt nichts Gutes, außer man tut es.
({3})
Ich kenne außer dem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion keinen weiteren Antrag zur Aufstockung des nationalen Programms im Haushalt, der gerade in den Ausschüssen beraten wird. Wir haben gefordert, dass das
nationale Programm um mindestens die Beträge aufgestockt wird, um die Sie es in den letzten vier Jahren gekürzt haben.
({4})
Alles andere würde bedeuten, dass wir die Spitzenforschung und unseren Technologievorsprung in der Raumfahrt aufgeben.
Doch dieses Bekenntnis allein - das sage ich noch
einmal - nutzt recht wenig. Schauen wir uns doch einmal den Einzelplan 30 für 2005 an. Das nationale Programm ist für die Regierungskoalition ein Steinbruch für
haushaltspolitische Kürzungen. Im laufenden Haushaltsjahr muss das nationale Programm nicht nur eine globale
Minderausgabe von 8,2 Millionen Euro verkraften.
Nein, es wurden vom Haushaltsausschuss zugleich noch
10 Millionen Euro gesperrt. Der Ansatz für 2005 ist wieder zu gering und gefährdet unserer Auffassung nach die
Kernfähigkeiten der deutschen Raumfahrtforschung und
Raumfahrtentwicklung.
({5})
Er lässt keinerlei Spielraum für die Vorbereitung
neuer Projekte nach dem Auslaufen des Programms im
Jahre 2006; auch das will ich hier einmal sagen. Für uns
ist es ungeheuer wichtig, dass wir den Technologievorsprung in bestimmten Kernfeldern und die Spitzenforschung, die wir in der Raumfahrt erreicht haben, auch
nach 2006 halten. Wir regen eine strategische Diskussion an, wie es mit dem deutschen Raumfahrtprogramm
nach 2006 weitergehen soll. Ich glaube, dass das außerordentlich wichtig ist.
({6})
Herr Tauss, wir sind bereit, über alle Subventionen,
die es gibt, nachzudenken.
({7})
Wir sind bereit, hier in diesem Haus auch im nächsten
Jahr Initiativen für den Haushalt zu starten, so wie wir es
auch bisher gemacht haben, um die Mittel für Zukunftsinvestitionen zu erhöhen, insbesondere für den Haushalt
Forschung und Entwicklung.
Die FDP hat Sie bei der mittelfristigen Finanzplanung
dafür kritisiert - das haben wir sehr deutlich gemacht -,
dass Sie das große und strategische Ziel, bis 2010 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und
Forschung bereitzustellen, haushaltspolitisch nicht umsetzen. Das wird auch beim Ansatz für die Raumfahrtforschung wieder einmal deutlich. Ich kann nur sagen:
Lippenbekenntnisse reichen hier nicht aus. Wir brauchen
mehr.
({8})
Lassen Sie mich auf Folgendes hinweisen: Wir stehen
im Wettbewerb mit anderen, auch hier in Europa. Sie haben einen Bogen darum gemacht. Frankreich und Italien
setzen klare Schwerpunkte bei ihren nationalen Vorhaben, was die Raumfahrt anbelangt. Frankreich zum Beispiel gibt 63 Prozent der Gesamtaufwendungen für die
Raumfahrt für nationale Vorhaben aus, Italien 57 Prozent. In Deutschland sind es lediglich 31 Prozent.
Das alles hat auch etwas mit der Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu tun. Das alles hat auch
mit der Stärkung insbesondere der mittelständischen
Wirtschaft zu tun. Ich will darauf hinweisen, dass es immer unser Anliegen war, insbesondere die kleinen und
mittelständischen Unternehmen am Standort Deutschland mit Projekten und Aufträgen aus diesem Bereich zu
stärken. Ich sage bewusst auch im Interesse der ostdeutschen Standorte: Es geht überhaupt nicht darum, zulasten von Bayern oder Bremen, wie es im Antrag der
Union formuliert worden ist, Standorte aufzugeben. Es
geht vielmehr darum, die Vernetzung der Raumfahrtkapazitäten der neuen Bundesländer mit den nationalen
und europäischen Forschungs- und Entwicklungskompetenzen herzustellen und zu effizienten Strukturen zu
kommen.
Ich glaube, dass wir diese Diskussion brauchen. Wir
laden Sie dazu ein, diese Diskussion im Ausschuss fortzuführen. Bitte stimmen Sie dem Antrag in den Haushaltsberatungen zu. Dann werden Sie das umsetzen können, was Sie selber gefordert haben.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Bundesministerin Edelgard
Bulmahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Raumfahrt fasziniert die Menschen
heute noch genauso wie bei der Landung des ersten
Menschen auf dem Mond. Das war in der Debatte hier
im Deutschen Bundestag gerade sehr deutlich spürbar.
Das war auch am Tag der Raumfahrt am letzten Wochenende und bei der Nacht der langen Sterne spürbar,
die von Hunderttausenden von Menschen genutzt worden sind. Hunderttausende von Menschen haben sich
voller Faszination und Begeisterung mit den Ergebnissen und den neuen Erkenntnissen, die wir durch die
Weltraumforschung gewonnen haben, auseinander gesetzt. Ich sage ausdrücklich: Das gilt sowohl für Jung als
auch für Alt.
Herr Nüßlein, lassen Sie mich eine Bemerkung hinzufügen. Wenn Sie Deutschland so schildern, als ob Wissenschaft und Forschung keine Bedeutung hätten, dann
leben Sie offensichtlich in einer anderen Welt.
({0})
Das, was man am Wochenende erleben konnte, zeigt
ganz deutlich, wie begeistert viele Menschen in unserem
Land von Wissenschaft und Forschung sind und mit
welch hohem Interesse und großer Neugier sie die Möglichkeiten nutzen, diese kennen zu lernen.
({1})
Gestatten Sie mir noch eine zweite Bemerkung, auch
wenn sie nicht direkt zum Thema gehört. Wenn Sie, Herr
Nüßlein, sich hier hinstellen und beklagen, dass der
Wettbewerb der Spitzenuniversitäten noch nicht gestartet sei,
({2})
dann frage ich mich, welch ein gespaltenes Bewusstsein
jemand besitzen muss, dessen eigene Partei verhindert,
dass dieser Wettbewerb startet. Wenn es nach der Bundesregierung und den SPD-geführten Ländern gegangen
wäre, dann hätten wir den Wettbewerb im Juli dieses
Jahres starten können.
({3})
Die CDU- und CSU-geführten Länder waren es, die das
verhindert haben.
Das gleiche gilt für die Juniorprofessur.
({4})
Wir haben hier im Parlament alle mit großer Entschiedenheit für die Einführung der Juniorprofessur gestritten, am Anfang auch Sie. Irgendwann haben Sie sich
dann still und heimlich davon distanziert. Sie wollten
das nicht so richtig offen tun. Das gilt nicht für die FDP.
({5})
Das gilt für die CDU. Dann haben drei Ihrer Länder dagegen geklagt. Wir haben Jungwissenschaftler über die
Juniorprofessur wieder vom Ausland zurückgewonnen.
Der Anteil der Berufungen aus dem Ausland beträgt
15 Prozent. Das stellen Sie wieder infrage. Dazu muss
ich sagen: Schaffen Sie Ordnung in Ihrer eigenen Partei!
Dann können wir weiterreden.
({6})
Natürlich ist Raumfahrt nicht nur Faszination der
Wissenschaft. Raumfahrt ist heute Triebfeder für wissenschaftliche und technologische Entwicklungen und ein
wichtiger Eckpfeiler auch des Industriestandorts
Deutschlands. Für Märkte mit Milliardenumsätzen ist
die Raumfahrttechnologie inzwischen unverzichtbar.
Das gilt nicht nur für die Fernsehbilder, die uns übermittelt werden, sondern auch für die gesamte weltweite Datenkommunikation.
Die Informationsmöglichkeiten, die das Internet bietet, sind ohne Satellitenkommunikation nicht denkbar.
Das gilt für die Kenntnisse, Bilder und Daten im Zusammenhang mit Wetterentwicklungen - zum Beispiel die
Wege, die ein Hurrikan nimmt -, über die wir inzwischen verfügen, wie auch für Informationen, die wir
durch Erdbeobachtung über Waldbrände, die Umweltverschmutzung der Meere etc. erhalten. Die Raumfahrttechnologie ist also nicht mehr wegzudenken. Das alles
zeigt, dass die Raumfahrt inzwischen Bestandteil unseres Alltags geworden ist.
Die drei vorliegenden Anträge zur Raumfahrtpolitik
zeigen - das ist erfreulich -, dass es ein großes Maß an
Übereinstimmung zwischen allen Parteien gibt. Das ist
vielleicht in den Redebeiträgen nicht so deutlich geworden wie in den Anträgen.
({7})
Meines Erachtens zeigt sich auch, dass Sie durchaus das
anerkennen, was die Bundesregierung in den vergangenen Jahren in der Raumfahrtpolitik erreicht und durchgesetzt hat. Tatsache ist, dass wir inzwischen eine gute
Grundlage für die Weiterentwicklung der Raumfahrt in
Deutschland geschaffen haben.
Mit den Entscheidungen der ESA-Ministerkonferenz in Paris unter deutschem bzw. meinem Vorsitz hat
die Bundesregierung den europäischen Trägersektor
wieder auf eine solide Basis gestellt.
({8})
Diese solide Basis gab es leider in den 90er-Jahren nicht
mehr. Wir haben sie wieder geschaffen.
({9})
Frau Ministerin, der Kollege Tauss möchte Ihnen
überraschenderweise gerne eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Meinem Kollegen Tauss würde ich niemals eine Zwischenfrage verwehren.
Nun ist die Verblüffung komplett und der Kollege
Tauss erhält das Wort zu einer Zwischenfrage.
Vielen herzlichen Dank. - Sie haben die verlässlichen
Grundlagen angesprochen, Frau Ministerin. Der Kollege
Dr. Nüßlein hat uns in beeindruckender Weise von seinem Ausflug nach Kourou berichtet. Wir freuen uns darüber, dass er wieder zurückgekehrt ist. Das ist anderen,
die früher auf der Teufelsinsel waren, nicht gelungen.
Ich komme zurück zum Ariane-Start und den verlässlichen Grundlagen, die Sie angesprochen haben. Können
Sie angeben, welche Finanzplanungen Sie bei Ihrem
Amtsantritt im Zusammenhang mit der Ariane und der
internationalen Raumfahrt vorgefunden haben?
Ich habe eine Finanzplanung vorgefunden, derzufolge der Raumfahrttitel in den Jahren 1992 bis 1998 von
824 Millionen auf 661 Millionen DM gekürzt worden
ist.
({0})
Das hat im Ergebnis zu dem großen Problem geführt,
dass Deutschland in der ESA keine wichtige Rolle mehr
spielte. Das gilt zum Beispiel auch für die Reorganisation, die dringend notwendig war. Ich habe das geändert.
Wir haben durch sehr schwierige und zähe Verhandlungen - das sage ich ganz offen - erreicht, dass zum einen die Industrie jetzt mehr Verantwortung trägt und
dass es zum anderen in der ESA klare Entscheidungsstrukturen gibt. Das war und ist eine sehr wichtige Voraussetzung dafür, dass die Ariane nicht nur in technologischer Hinsicht ein Erfolg wird, sondern auch ihre
Position am Markt behauptet. Das haben wir durch die
klare Strukturierung von Entscheidungen und Verantwortung erreicht.
Wir haben zudem seit 1998 den Raumfahrttitel erhöht. Statt jedes Jahr aufs Neue Kürzungen vorzunehmen, haben wir finanzielle Sicherheit geschaffen.
Ich will auch in dieser Runde deutlich zum Ausdruck
bringen, dass wir alles dafür tun werden, gerade auch das
nationale Programm aufzustocken.
({1})
Wir brauchen dazu aber auch die Bereitschaft der
Opposition, die Mittel aus dem weitaus größten Subventionstitel im Bundeshaushalt, nämlich der Eigenheimzulage, zugunsten von Forschung und Bildung umzuwidmen.
({2})
Die Mittel werden dringend für die Forschung und Bildung benötigt. Das gilt für den Bundeshaushalt genauso
wie für die Länderhaushalte. Deshalb ist das für Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, die Nagelprobe, ob Sie hier etwas fordern, das Sie in der Realität aber nicht ernst meinen, oder ob Sie es wirklich ernst
meinen und bereit sind, diesen Schritt mitzugehen. Das
Angebot von unserer Seite steht. Ich hoffe, Sie nutzen
es.
({3})
Wir haben es mit diesen Entscheidungen auf der
ESA-Ministerkonferenz in Paris geschafft, die Ariane
wieder zukunftssicher zu machen. Wir haben aber noch
etwas anderes geschafft. Wir haben das deutsche Rückflussdefizit, das sich unter der Kohl-Regierung über
viele Jahre bei der ESA gebildet hatte - der Kollege
Hettlich hat darauf bereits hingewiesen -, wieder ausgeglichen. Wir haben jetzt also eine ausgeglichene Bilanz.
Kurz gesagt: Unter der SPD-geführten Regierung werden mit den Steuergeldern, die an die ESA gezahlt werden, Standorte in Deutschland gestärkt. Das war meine
Verhandlungszielsetzung und das haben wir auch erreicht.
({4})
Wir haben es nach harten Verhandlungen ebenfalls geschafft, für die Entwicklung des europäischen Satellitennavigationssystems Galileo die Systemführung und
den Sitz des Unternehmens nach Deutschland zu holen.
Die Federführung für das wichtigste Zukunftsprojekt der
europäischen Raumfahrt liegt damit in Deutschland.
Der konkrete Nutzen für die Menschen steht für die
Bundesregierung im Vordergrund ihrer Raumfahrtpolitik. Wir werden uns in Zukunft in der nationalen Förderung noch stärker auf die deutschen Kernkompetenzen
konzentrieren. Ich befinde mich zurzeit darüber im
Gespräch mit der Wissenschaft und der Industrie. Ich bin
gerne bereit, darüber auch im Forschungsausschuss mit
den Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren. Deutschland besitzt eine ganze Reihe von Stärken. Genau diese
wollen wir weiterentwickeln, um nach entsprechender
Umsetzung in der europäischen Raumfahrtpolitik die
Früchte zu ernten.
({5})
Wir wollen weiterhin dafür sorgen, dass die Ergebnisse der Raumfahrtforschung zügig in Anwendungen
überführt werden. Auch hier sind wir erheblich vorangekommen. Mit Projekten in Public Private Partnership
wie zum Beispiel Terra-SAR und Rapid-Eye haben wir
zusammen mit der Forschung den Einstieg in die Kommerzialisierung der Erdbeobachtung eingeleitet. Solche
Partnerschaften sind nicht nur für gute Forschungsergebnisse, sondern auch für kommerzielle Markterfolge
entscheidend. Mit dem Projekt GATE stellen wir eine in
Europa einzigartige Infrastruktur bereit, die beste Voraussetzungen dafür schafft, Anwendungen für Galileo
zu entwickeln und sie kommerziell zu nutzen. Davon
werden wir profitieren. Einen weiteren Schwerpunkt setzen wir bei der Telekommunikation, die schon jetzt der
kommerziell wichtigste Bereich im Zusammenhang mit
der Raumfahrt ist.
Kurz gesagt: Raumfahrtgestützte Infrastruktur ist bereits heute die Grundlage für zahlreiche kommerzielle
Anwendungen auf Hochtechnologiemärkten, die weiter
wachsen werden. Da wir unsere entsprechenden Möglichkeiten in vollem Umfang ausschöpfen wollen, brauchen wir einen weiteren Investitionsschub. Deshalb ist
die Umwidmung von Mitteln, beispielsweise für die Eigenheimzulage, in Mittel für die Forschungsförderung
und in Bildungsinvestitionen so notwendig und wichtig.
({6})
Lassen Sie mich noch eine kurze Anmerkung zur
Neuordnung der europäischen Forschungspolitik machen; denn ich glaube, wir stehen hier vor einer wichtigen Entscheidung, über die auch im Parlament diskutiert
werden sollte. Sie wissen, dass die EU-Kommission mit
dem Weißbuch zur Raumfahrt einen Aktionsplan vorgelegt hat, der die Raumfahrt für die Bürger Europas besser nutzbar machen soll. Bisher ist dieser Plan - leider teilweise nicht viel mehr als eine große Wunschliste, die
sehr viele Felder enthält, auf denen die Kommission aktiv werden möchte. Ich halte es für entscheidend und
wichtig, dass wir sicherstellen, dass der Ansatz einer
starken Anwendungsorientierung der gemeinschaftlichen Raumfahrtpolitik in der Kommission verfolgt wird.
Dafür ist Folgendes wichtig: Erstens. Zwischen der ESA
und der EU muss es nicht nur eine enge Zusammenarbeit, sondern auch eine klare Arbeitsteilung geben.
({7})
Es darf nicht sein, dass wir Infrastruktur- und Anwendungsprojekte parallel über die ESA und die EU fördern.
Es ist nicht sinnvoll und nicht hilfreich. Das ist sicherlich auch nicht im deutschen Interesse.
({8})
Zweitens. Wir brauchen realistische Finanzierungsansätze. Drittens. Auch in der EU ist eine klare Prioritätensetzung erforderlich. Viertens. Schließlich muss die
Industriepolitik die Besonderheiten der Raumfahrtindustrie berücksichtigen.
Ich bin sehr optimistisch, dass das mit Kommissar
Verheugen, der künftig auch für die Raumfahrtpolitik
der EU zuständig sein wird, gelingen wird.
({9})
Wir werden gut kooperieren. Ich freue mich deshalb auf
eine sehr engagierte Diskussion - zumindest im Fachausschuss, wenn nicht auch hier im Parlament - über die
Neustrukturierung der europäischen Raumfahrtpolitik.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ilse Aigner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Das weiß ich schon. - Sehr geehrter Herr Präsident!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang ist
es schon angebracht, herauszustellen, dass gerade die
Raumfahrtpolitik über viele Jahre ein gemeinsames Ziel
hatte. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit auf diesem
Gebiet gut war. Man sieht auch an den Anträgen, dass es
im Prinzip sehr viele Gemeinsamkeiten gibt.
Ich will einige Aspekte der jetzigen Situation, insbesondere was die haushaltstechnische Ausstattung betrifft, ansprechen.
Es sei mir erlaubt, auf die Eigenheimzulage einzugehen. Es ist wirklich beachtlich, wie oft Sie die durch den
Wegfall der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel
schon verbraten haben.
({0})
- Wenn Sie mich ausreden lassen, dann kann ich es Ihnen erklären. - Ich weiß, dass in den gesamten Haushalt
dieses Jahres schon 95 Millionen Euro eingestellt sind.
Davon entfallen allein 63 Millionen Euro auf den
Einzelplan 30. Egal wie es mit der Eigenheimzulage
weitergeht: Am Raumfahrtetat wird sich nichts ändern.
Wenn die Eigenheimzulage nicht wegfällt, dann - das
hat das Berichterstattergespräch über den Haushaltsplan
am Dienstag gezeigt - werden die gemeinsamen Mittel
für den Hochschulbau abgesenkt. In jedem Fall wird
kein Cent mehr in die Raumfahrt fließen.
({1})
- Herr Schulz, Sie müssten vielleicht einmal mit Ihren
Haushältern sprechen. Sie müssen sich irgendwann entscheiden, wofür Sie die durch den Wegfall der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel verwenden wollen.
Sie können sie nicht zehn- oder 15-mal verwenden. Das
funktioniert einfach nicht.
({2})
- Sie sollten einmal mit den Haushältern reden. Die können es Ihnen genau erklären.
Unabhängig davon gilt in Bezug auf die bisherige
Finanzplanung auf dem Gebiet Raumfahrt - die Ministerin weiß das sehr genau -: Beim ESA-Budget wurde
um 20 Millionen Euro gekürzt, während im nationalen
Bereich um 3 Millionen Euro aufgestockt wurde. Die
Finanzplanung - auf sie verlassen sich letztendlich auch
diejenigen, die das Ganze irgendwie umsetzen sollen sieht also 17 Millionen Euro weniger vor. Was die
Finanzplanung bis 2010 angeht - ich habe alle infrage
kommenden Zahlen vorliegen; auch Sie kennen sie -,
gehen für den Bereich Raumfahrt insgesamt 170 Millionen Euro verloren. Frau Ministerin, ich kann es Ihnen
vorrechnen: Für die ESA sah der Finanzplan fünfmal
582 Millionen Euro vor; in der mittelfristigen Finanzplanung ist der entsprechende Betrag auf 552 Millionen Euro abgesenkt worden. Man kann eine Hochrechnung vornehmen und erkennen, wie es um diese Gelder
steht.
Ich will Ihnen verdeutlichen: Die Raumfahrt ist eine
langlebige Geschichte. Man kann nicht nach dem Motto
„Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ vorgehen. Man muss auch längerfristig planen können.
({3})
Projekte im Bereich der Raumfahrt gehen - der Kollege
Nüßlein hat schon darauf hingewiesen - über viele
Jahre. Deshalb ist eine Strategie nötig. Wenn man Mittel
abzieht, dann muss man sagen, wo man einsparen will.
Es macht keinen Sinn, überall häppchenweise zu kürzen;
vielmehr muss man auch Schwerpunkte setzen. Dass Sie
das tun, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
({4})
Man muss den Zusammenhang der ESA mit der EU
sehen. Wie Sie selbst wissen, wächst die Bedeutung der
EU immer mehr: zunächst Galileo, danach GMES usw.
usf. Bei der EU ist allein die Wettbewerbsfähigkeit ausschlaggebend. Deshalb ist dieses nationale Programm
für uns so wichtig. Umso trauriger ist es, dass Sie die
Mittel, die Sie der ESA nicht mehr zukommen lassen,
nicht in das nationale Programm investieren.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass uns der
frühere Kollege Lothar Fischer - heute sitzt er als Zuschauer auf der Besuchertribüne - 1998 verteufelt hat,
als der Anteil für das nationale Programm auf 25 Prozent
abgesenkt wurde. Momentan liegt dieser Anteil bei
20 Prozent. 80 zu 20 Prozent! Ich muss Ihnen das leider
in Erinnerung rufen; denn ich halte das für besonders tragisch.
Ich finde es durchaus begrüßenswert, dass sich die
EU in den Bereich Raumfahrt einmischen will. Aber anders als bei der ESA gibt es dort keine Rückflusskriterien. Das heißt, dass wir im Prinzip - in gewisser Weise
handelt es sich um Industriepolitik - keine Arbeitsplätze
auf deutschem Boden gewährleisten können. Diese
Arbeitsplätze können wir nur dann gewährleisten, wenn
wir unsere Kompetenzen im nationalen Bereich ausbauen.
({5})
Diese Kompetenzen erhalten wir durch diese Politik gerade nicht.
Frau Ministerin, ich erkenne durchaus an, dass Sie dafür gesorgt haben, dass die Rückflüsse verstärkt werden.
({6})
Ich glaube, das war im Interesse der Raumfahrt. Das ist
überhaupt keine Frage.
Ich erkenne auch an, dass Sie mit der Ariane die
Struktur verändert haben. Das ist ein gemeinsames Bemühen gewesen. Dabei haben wir Ihnen meines Erachtens auch nichts in den Weg gelegt,
({7})
sondern Sie unterstützt. Dass die Ariane in diese
Schwierigkeiten gekommen ist, ist nicht die Schuld der
Politik, sondern ein Ergebnis der Marktentwicklung; Satellitenmärkte sind eingebrochen usw. usf.
({8})
Dafür kann die Politik nichts.
Noch einmal: Diese Herausforderungen sind auf uns
zugekommen. Natürlich sind zusätzliche Mittel erforderlich. Momentan schaut es so aus - Frau Ministerin, das
wissen auch Sie genau -, dass es bei der ESA eine kreative Haushaltsführung gibt, sodass wir nach der jetzigen
Planung in 2005 bei der ESA insgesamt mit über
170 Millionen Euro in der Kreide stehen.
Diese Bugwelle - das ist das Nächste - schieben wir
über viele Jahre vor uns her. Das heißt, dass wir in späteren Jahren eine Dauerlast haben. Was hier passiert, ist im
Prinzip nichts anderes als eine verdeckte Kreditaufnahme. Das wird uns irgendwann einholen, vielleicht
nicht mehr Sie, vielleicht eine andere Regierung, vielleicht eine andere Ministerin; ich weiß es nicht. Es wird
uns auf alle Fälle einholen und das ist das eigentlich Bedauerliche.
({9})
Es ist schon über Schwerpunkte gesprochen worden.
Herr Schulz, Sie haben irgendetwas davon erzählt, dass
wir auf den Mars fliegen wollen. Ich weiß nicht, woraus
Sie das entnehmen.
({10})
- Ich kann Ihnen daraus vorlesen. Da steht nur „an der
bemannten Raumfahrt festzuhalten und ISS zu stützen“.
Ich weiß nicht, ob Sie das nicht auch für sinnvoll halten.
({11})
Ich glaube, dass die bemannte Raumfahrt wichtig
ist. Wenn wir mit vielen Mitteln, auch Steuermitteln,
eine Raumstation aufgebaut haben, dann müssen wir die
auch entsprechend nutzen. Deshalb werden wir auf diesem Gebiet weiter forschen müssen; sonst wäre es ein
ziemlicher Blödsinn.
({12})
Dass das Columbus-Modul momentan auf dem Boden steht, bedauern wir alle sehr. Es hätte nach den Planungen im Oktober starten sollen. Für diese Situation
können wir nichts. Dafür können auch Sie nichts. Dass
der Shuttle abgestürzt ist, ist wirklich ein bedauerlicher
Unfall. Aus forschungstechnischer Sicht schmerzt uns
massiv, dass wir dieses wunderbare Modul, das wir oben
für Forschungsaktivitäten einsetzen könnten, momentan
nicht nutzen können.
Abschließend will ich noch etwas sagen, weil immer
so getan wird, als wenn wir irgendwelche Waffensysteme im All stationieren wollten; ich glaube, der Kollege
vom Bündnis 90/Die Grünen hat darauf hingewiesen;
möglicherweise haben Sie es auch getan.
({13})
- Ich habe das so verstanden, dass uns das unterstellt
wird -. Wir sind uns aber doch insgesamt darüber einig,
glaube ich, dass die Raumfahrt aus der bloßen Forschungsecke raus muss, dass es eine Nutzung über alle
Bereiche der Politik geben muss, die hier in Deutschland
vertreten sind.
({14})
Das geht von der Verteidigung über die Umwelt bis zur
Landwirtschaft; da kann man sich alles Mögliche vorstellen.
Da kann ich mich eigentlich nur an den Staatssekretär
Staffelt wenden - er ist der Koordinator für die Luft- und
Raumfahrt; er wird nach mir sprechen -; wir sind uns,
glaube ich, weitestgehend einig. Ich wünsche Ihnen,
Herr Staffelt, noch etwas mehr Macht innerhalb der Bundesregierung,
({15})
sodass Sie die Kollegen aus den anderen Ressorts aktivieren könnten, mehr Gelder zur Verfügung zu stellen.
Ich glaube nämlich, dass manche Anwendungsprobleme
in anderen Bereichen mittels der Raumfahrt wesentlich
besser und effektiver gelöst werden könnten. Sie haben
leider das Problem, dass Sie die anderen Minister nicht
anzapfen können. Dass Sie es könnten, würde ich mir in
der Hinsicht manchmal wünschen.
Das gemeinsame Ziel aber können wir, glaube ich, in
den Vordergrund stellen. Raumfahrt ist wichtig für die
Forschung, aber auch in vielen Nutzungen für die Menschen auf der Erde. Ohne Raumfahrt könnten wir mittlerweile viele Probleme nicht mehr lösen. Wenn wir
einen Tag alle Satelliten usw. ausschalten würden, würde
einiges auf der Erde nicht mehr funktionieren. Das allein
zeigt schon, wie wichtig die Raumfahrt auch für uns hier
auf dem Boden ist.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun der Koordinator der Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrt, der Parlamentarische
Staatssekretär Ditmar Staffelt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst durften Sie, Herr Nüßlein, eben erfahren, dass jene, die Erfahrung in den Fragen der Luft- und
Raumfahrt haben, ein sehr viel sachlicheres Verhältnis
zu den Dingen haben, als das in Ihrer Rede zum Ausdruck gekommen ist.
({0})
Sie müssen eines wissen: Diejenigen, die in der Luftund Raumfahrt zu Hause sind, können sich in der Sache
auseinander setzen, aber sie verlieren den roten Faden
nicht. Bei Ihnen habe ich schwerste Bedenken - das
muss ich ganz ehrlich sagen -, ob Sie wirklich zum richtigen Tagesordnungspunkt geredet haben.
({1})
Ich habe mir Ihren Antrag, den Antrag der CDU/
CSU, noch einmal angesehen. Darin steht - das sollten
Sie laut und deutlich sagen -:
Auch die deutsche Raumfahrt kann auf eine vielfältige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Ihr Beitrag
zum gemeinsamen europäischen Erfolg, vor allem
bei Ariane, war beachtlich und verdient Anerkennung.
Deutsche Ingenieurleistungen … haben wesentlich
zum Ruf des made in Germany beigetragen.
({2})
Deutschland ist an den oben aufgeführten europäischen Raumfahrtinitiativen als zweitgrößter Beitragszahler der ESA und in der industriellen Führungsrolle bei Galileo in wesentlichem Umfang
beteiligt und spielt nach wie vor eine tragende Rolle
in der europäischen Raumfahrtpolitik.
Völlig richtig beschrieben! Das teilen wir voll und ganz.
({3})
Deshalb wäre es viel richtiger gewesen, Sie hätten bei aller Kritik und der Sorge, die man immer äußern kann,
erst einmal diesen Aspekt in den Mittelpunkt Ihrer Rede
gestellt. Wenn Sie in Kourou ähnlich verwirrt geredet
haben sollten, kann ich verstehen, dass die französischen
Ingenieure Ihnen keine Geheimnisse der Ariane-Rakete
haben preisgeben wollen.
({4})
Ich füge hinzu, dass eine solche Äußerung im deutschen
Parlament wirklich nicht akzeptabel ist. Ich ärgere mich
darüber, denn wir haben eine hervorragende Kooperation mit den Franzosen und den französischen Ingenieuren. Es gibt überhaupt keinen Grund, in einem deutschen Parlament die Vermutung zu äußern, dass hier
etwa so genannte Geheimnisse nicht preisgegeben worden wären. Sie hätten sich schlicht und einfach informieren sollen.
({5})
Das ist ja überhaupt kein Thema. Darüber hätte Sie nämlich auch die deutsche Industrie vorher informiert. Die
wissen da ebenso wie die Frau Ministerin ganz genau
Bescheid. Sie sollten hier also wirklich noch ein Stück
hinzulernen. Das kann ich Ihnen nur raten.
({6})
- Passen Sie einmal auf, ich will Ihnen eines sagen: Sie
waren bei der Rede vorhin nicht dabei.
({7})
So etwas, was uns hier vorgetragen worden ist, habe ich
im Bereich der Luft- und Raumfahrt, Kolleginnen und
Kollegen, bisher noch nicht gehört: weit entfernt von
den Realitäten, weit entfernt von dem, was wir wollen.
Wir wollen nämlich, dass Deutschland eine wichtige
Rolle spielt. Das wollen wir mittragen und auch gegenüber der Öffentlichkeit in positiver Weise darstellen, damit wir unsere Kompetenzen weiterentwickeln können.
Mehr will ich zu dem Thema jetzt aber nicht mehr sagen.
({8})
Wir haben heute gehört - das ist mir sehr wichtig -,
dass wir die Systemführung bei Galileo haben. Deutschland hat, wie ich denke, ein gewichtiges Wort bei der
Formulierung des EU-Forschungsrahmenprogrammes
mitzusprechen. Die „Ariane“ ist saniert. Wir haben einen
Auftragnehmer, der diese Sanierung auch voranbringt,
und zwar erfolgreich. Darüber hinaus gibt es die Zusammenarbeit im Trägersektor mit den Russen; hier werden
Synergieeffekte erzielt. Das ist ein ganz wesentliches
Feld, das mit dazu beigetragen hat, dass hier auch ein
Stückchen mehr betriebswirtschaftliche Vernunft einkehrt. Hinzu kommt die strategisch-politische Dimension dieses Unterfangens. Wir sind dabei, ein Stück mehr
Kommerzialisierung und damit auch mehr Verantwortung der Privatwirtschaft in die Raumfahrt zu implantieren - ein ganz wichtiges Thema. Darüber hinaus
haben wir von der Ministerin gehört - bitte vergessen
Sie das nicht -, es geht heute um Straffung und
Effizienzsteigerung bei der ESA-Programmplanung
und -durchführung. Hier hat Frau Bulmahn in den vergangenen Monaten eine ganz gewichtige Rolle gespielt.
Das können Sie doch nicht einfach wegdiskutieren.
({9})
Meine Damen und Herren, es steht auch überhaupt
nicht infrage, dass wir in Deutschland nach wie vor einen harten Kampf um Workshares in der internationalen
Zusammenarbeit führen. Da sollte nun gerade jemand,
der aus Bayern kommt, nicht allzu große Beschwerde
führen, denn eine Vielzahl der Investitionen, die von
staatlicher und insbesondere von bundesstaatlicher Seite
unterstützt werden, kommt genau in Ihrem Lande an. Ich
bin überhaupt nicht dagegen, um das einmal klar zu sagen. Ihr Land hat große Kompetenzen, aber Sie sollten
das auch einmal berücksichtigen. Herr Wiesheu hätte im
Übrigen mit der Rede, die Sie hier gehalten haben, überhaupt nichts anfangen können. Er sieht die Dinge nämlich in sehr viel besserem Licht, als Sie es hier dargestellt haben.
({10})
Noch ein Wort zu den Zahlen. Frau Aigner, ich habe
eben noch einmal Rücksprache mit Frau Ministerin
Bulmahn genommen. Eines ist klar: Die BMBF-Ausgaben für die ESA und für den nationalen Bereich der
Raumfahrt werden von 2005 bis 2008 stabil bei
697,3 Millionen Euro bleiben. Die Voraussetzung hierfür ist - so hat die Ministerin mir gesagt -, dass entsprechende Regelungen bei der Eigenheimzulage, die der
Freisetzung von Ressourcen dienen und die hier schon
angesprochen worden sind, von Ihnen mitgetragen werden.
({11})
Möchten Sie Ihre Redezeit durch die Beantwortung
einer Zwischenfrage der Kollegin Aigner verlängern?
({0})
Ja, bitte schön, wenn sie möchte.
Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, dass
ich mich auf die Finanzplanung 2005 bis 2008, die in
dem Haushaltsgesetz 2004 enthalten ist, bezogen habe?
Für die ESA sind demnach Ausgaben in Höhe von
572 Millionen Euro in 2005 und 582 Millionen Euro in
den Folgejahren vorgesehen. Aber die aktuelle Finanzplanung - ich habe eine entsprechende Liste gestern bekommen - sieht für das Jahr 2005 und auch für die folgenden Jahre Ausgaben in Höhe von 552 Millionen Euro
vor. Das sind also 30 Millionen Euro weniger pro Jahr.
Ich habe nichts anderes gesagt, als dass im Vergleich zur
Finanzplanung des letzten Jahres ein Minus von
170 Millionen Euro besteht. Können Sie mir das bestätigen?
Mir liegt die gleiche Zahl vor. Ausgaben in Höhe von
551,8 Millionen Euro für die ESA und in Höhe von
145,5 Millionen Euro auf der nationalen Ebene ergeben
zusammen 697,3 Millionen Euro. Das ist die Zahl, die
mir Frau Ministerin Bulmahn zur Klarstellung mit auf
den Weg gegeben hat. Wenn Sie auf der Grundlage von
100 Jahren rechnen würden, dann würde das Defizit
noch weiter wachsen. Wir können dies natürlich tun,
aber es wäre nicht hilfreich. Nichtsdestotrotz ist eines
klar: Es wird Jahr für Jahr um Ansätze gerungen werden.
Frau Kollegin Aigner, wir sind uns in folgendem
Punkt doch völlig einig. Wir wissen, dass es auf diesem
Gebiet weltweit einen harten Wettbewerb gibt. Wir wissen auch, dass sich die Europäer auf diesem Feld strecken müssen. Wir tun alles, was wir tun können. Aber
wir müssen Prioritäten setzen; wir werden sie auch setzen. Auch was die Budgetbemessung angeht, ist die
Raumfahrt bei Frau Ministerin Bulmahn in guten Händen. Lassen Sie uns gemeinsam über die Frage reden,
wie wir die Ansätze weiter hochfahren können. Wir alle
gehen doch vom gleichen Kuchen aus. Diese Tatsache
sollten Sie in Ihren Betrachtungen einmal mit berücksichtigen.
({0})
Ich möchte ebenfalls erwähnen - das ist auch schon
gesagt worden -, dass wir zum einen in Deutschland am
Selbstverständnis der Luft- und Raumfahrt weiter arbeiten müssen. Da sollten alle mithelfen. Zum anderen
- das ist ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt - müssen
wir den KMUs helfen, im Geschäft zu bleiben. Ich sage
ganz ausdrücklich, dass sie nicht nur an einem Unternehmen hängen dürfen. Wir wollen ihnen weltweit den Zugang zu anderen Systemanbietern und zu anderen Märkten öffnen. Wir müssen allerdings Wert darauf legen,
dass sie einen Restrukturierungsprozess mitmachen, der
sie fit hält und wettbewerbsfähig macht.
Darüber hinaus - auch diesen Punkt möchte ich ansprechen - gilt unser Blick der Förderung des fachlichen Nachwuchses, also der Human Resources, die so
unendlich wichtig sind, um auf einem solch hohen Level
weiterhin eine wichtige Rolle in der Welt spielen zu können. Ich denke, dass unser Ansatz auch da der richtige
ist.
Ich fasse zusammen. Die drei wesentlichen Elemente,
denen wir uns widmen müssen, sind: erstens der Aufbau
einer integrierten und selbstständig wettbewerbsfähigen
Unternehmensstruktur, zweitens die technologische Führungsrolle und drittens die Koordinierung der nationalen
und europäischen Forschungsförderung. Herr Nüßlein,
die Fraktionen dieses Hauses sollten, so gut es eben geht,
in diesen Punkten zusammenarbeiten.
Schönen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf der Drucksache 15/3539. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2394 mit dem Titel „Deutsche und
europäische Raumfahrtpolitik zukunftsorientiert gestalten“ in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf der Drucksache 15/2373 Nr. 2.2 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2334 mit
dem Titel „Stärkung der wissenschaftlichen Zukunftsund wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Raumfahrtstandorts Deutschland in Europa“ in Kenntnis der
Unterrichtung durch die Bundesregierung abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch
diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 15/3539, den
Antrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 15/1230
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
mit dem Titel „Stärkung der europäischen Raumfahrtpolitik - Gewinn für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland“ in Kenntnis der Unterrichtung
durch die Bundesregierung abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika
Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Anerkennung von Berufsqualifikationen von
Handwerk, freien Berufen und Industrie
- Drucksachen 15/1378, 15/2236 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Ernst Hinsken für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Bereits im Juli 2003, also vor eineinviertel Jahren, hat meine Fraktion die heute zur Debatte stehende Große Anfrage gestellt, um frühzeitig die Position
der Bundesregierung in Erfahrung zu bringen. Die Antwort kam sachgemäß im Dezember des gleichen Jahres.
Seit dem haben wir schon wieder eine neue Situation
und dies deshalb, weil die Europäische Kommission im
Frühjahr einen geänderten Richtlinienvorschlag vorgelegt hat.
Ich möchte gleich vorweg anmerken: Es war richtig,
dass die Bundesregierung im Europäischen Rat zusammen mit Griechenland gegen diese Richtlinie gestimmt
hat. Dies war auch deshalb richtig, weil die Qualitätsprüfungen bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen
gerade beim Handwerk nicht weit genug gehen. Deshalb
meine ich, dass sich die Bundesregierung in unserem Interesse im weiteren Verfahren nachhaltig einbringen
muss und hierzu eine ganze Reihe von Hausaufgaben zu
erledigen hat. Herr Dr. Staffelt, Sie als Parlamentarischer
Staatssekretär und Vertreter der Bundesregierung stehen
in der Pflicht, entschieden für die deutschen Interessen
einzutreten.
({0})
Die EU will die Anerkennung von Berufsqualifikationen vereinfachen. Das ist zwar verständlich; das Ergebnis ist aber das genaue Gegenteil: Die überarbeitete
Richtlinie ist noch komplizierter, noch bürokratischer und
noch unverständlicher geworden, als sie es ohnehin schon
war. Für mich ist einfach nicht nachvollziehbar - ich halte
dies in einer solch wichtigen Angelegenheit auch nicht für
vernünftig -, dass eine Richtlinie gleichermaßen für den
Handwerksmeister und den Arzt gelten soll. Man kann
doch nicht alle Berufe in einen Topf werfen. Diese Frage
möchte ich daher in diesem Zusammenhang besonders
herausstellen.
Meine Damen und Herren, erst vor fünf Jahren wurde
für die Industrie und das Handwerk eine Richtlinie zur
Anerkennung von Berufsqualifikationen verabschiedet
und bereits jetzt wird wieder gesetzlich herumgefummelt.
({1})
Es ist weder im Interesse der EU noch im Interesse der
mittlerweile 25 Mitgliedstaaten, wenn die Anerkennung
von Berufsqualifikationen in schneller Folge geändert
werden muss. Das sorgt für Verunsicherung in den Unternehmen und bei den Beschäftigten, die flexibel und
mobil sein müssen, aber angesichts der ständigen Veränderungen bei der Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen einfach den Überblick verlieren.
Es besorgt mich, dass die Europäische Union die bewährten sektoralen Anerkennungsrichtlinien ohne Not
aufgegeben hat. Sie haben doch Jahrzehnte funktioniert.
Ich meine, verehrte Kolleginnen und Kollegen: An Bewährtem sollte man festhalten.
({2})
Die Bundesregierung ist in der Pflicht, die drohende
Entwertung deutscher Berufsabschlüsse durch die EU
zu verhindern; denn unser Ausbildungssystem mit den
jeweiligen Abschlüssen ist nach wie vor das beste in Europa und weit darüber hinaus. Um weltweit bestehen zu
können, brauchen wir ein Mehr an Qualität in der Ausbildung und nicht eine immer stärkere Absenkung der
Anforderungen. Zu der bereits zu verzeichnenden Niedriglohnkonkurrenz durch die EU-Osterweiterung darf
nicht auch noch ein Qualitätsdumping bei den Berufsabschlüssen treten. Wir müssen und wollen besser sein als
die anderen.
Ein Handwerker, Arzt oder Architekt legt in Deutschland mit seiner Prüfung ein Bekenntnis zu Leistung und
Können ab; dies ist der vollen Anerkennung wert. Wenn
jemand das Gefühl hat, dass das, was er geleistet hat, etwas wert ist, dann ist er viel stärker motiviert. Diese Motivation brauchen wir dringend auch in der Zukunft.
Das Handwerk und die freien Berufe haben meiner
Meinung nach nur dann eine Zukunft, wenn es tüchtigen
und gut ausgebildeten Nachwuchs gibt. Der Nachwuchs
ist der Hoffnungsträger für unser aller Zukunft. Deshalb
ist jeder Versuch, den Meisterbrief weiter auszuhöhlen,
entschieden abzulehnen.
({3})
Zwar wird in der Richtlinie festgeschrieben, dass bei
der Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen,
zumindest bei besonders sensiblen Berufen aus den Bereichen der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit, der
Aufnahmestaat auch weiterhin ein Qualitätsprüfungsrecht
hat. Die Richtlinie schweigt sich aber darüber aus, welche Berufe hier genau gemeint sind. Das ist einfach
stümperhaft und kann nicht hingenommen werden.
Gerade für das Handwerk ist diese Situation überhaupt nicht akzeptabel. Das möchte ich als Handwerksmeister besonders unterstreichen. Aus guten Gründen ist
für die Ausübung eines gefahrgeneigten Gewerkes der
Meisterbrief erforderlich. Bewusst haben wir dies bei
der Handwerksnovelle so beschlossen; denn nur so können Sicherheit und Qualität für den Verbraucher garantiert werden. Dessen Interessen sind hier in besonderer
Weise zu sehen.
Deshalb ist die Bundesregierung nachhaltig aufgefordert, dafür zu sorgen, dass dies nicht seitens der Europäischen Union unterlaufen wird. Ansonsten - das prophezeie ich Ihnen - ist eine Prozesslawine der Betroffenen
bis hin zum Europäischen Gerichtshof zu befürchten.
Handwerk und Mittelstand haben doch etwas anderes zu
tun, als die Qualität der Ausbildung in diesen Bereichen
auch noch gerichtlich durchsetzen zu müssen. Sie haben
doch schon genug Probleme. Sie sind zum Beispiel genügend mit Bürokratie behaftet. Bauen wir diese Bürokratie ab und reden wir nicht nur immer darüber!
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass
derzeit nicht zwischen grenzüberschreitenden Dienstleistungs- und Niederlassungsvorgängen unterschieden wird.
Dies soll nach den Vorschlägen für die neue Anerkennungsrichtlinie anders werden. Die Begründung hierfür ist
aber nicht einleuchtend. Die EU sieht dies nämlich als
notwendig an, um nach der Lissabon-Strategie in Europa
bis zum Jahre 2010 den dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu schaffen.
Dies ist als Ziel richtig. Dazu sind jedoch keine Sonderregelungen bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden
Dienstleistungsvorgängen erforderlich. Deshalb stellen
sich doch folgende Fragen: Aus welchem Grund sollen
eigentlich die Anerkennungsvoraussetzungen bei den
grenzüberschreitenden Dienstleistungen geringer sein
als bei der Niederlassung? Wird hier nicht eine neue Ungerechtigkeit geschaffen, anstatt sie beiseite zu schieben? Die Sicherung von Qualitätsstandards muss identisch sein, unabhängig davon, ob der Leistungserbringer
seine gewerbliche Niederlassung im In- oder im Ausland
hat.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bereits das derzeitige System der Anerkennung von Berufsqualifikationen sichert eine Mobilität der Selbstständigen und der
abhängig Beschäftigten innerhalb der EU. Leider ist in
den letzten Jahren vermehrt eine Tendenz seitens der Europäischen Kommission festzustellen, Regelungen vorzuschlagen, die über dasjenige hinausgehen, was zur
Verwirklichung des Binnenmarktes tatsächlich erforderlich ist.
Ich fordere deshalb auch im Namen meiner Fraktion
die Bundesregierung auf, nachhaltig dafür zu sorgen,
dass qualitativ hochwertige Ausbildungen, wie wir sie in
Deutschland mit dem Meisterbrief oder bei den freien
Berufen nun einmal haben, durch die EU nicht immer
mehr ausgehöhlt werden.
({5})
Unsere Nachbarn sind gefordert, ihr Niveau anzuheben,
nicht aber wir, unser Niveau zu senken.
({6})
Wenn Europa mit der Konkurrenz in der ganzen Welt
wirtschaftlich Schritt halten will, dann muss sich unsere
Wirtschaft auf ihre Stärken besinnen, die sie einmal groß
gemacht haben. Durch gute Ausbildung in Handwerk,
Gewerbe und Industrie sowie bei den freien Berufen
wurde gerade die Bundesrepublik Deutschland zu einer
der führenden Wirtschaftsnationen der Welt.
Werte Kolleginnen und Kollegen, nicht nur Juristen
ist einleuchtend, dass einige Berufe so beschaffen sind,
dass bestimmte Prüfungen und Lehrgänge zwingend
vorgeschrieben sind und es bleiben müssen.
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit.
Jawohl, ich bin schon beim Schluss, Herr Präsident.
Ich bleibe jetzt so weit wie möglich in der Zeit.
Das sollte jedoch nicht in Brüssel, sondern muss in
den einzelnen Ländern entschieden werden. Gerade die
Unterschiede zwischen den Rechtssystemen der einzelnen Staaten rechtfertigen solche Regelungen. Es muss
doch jedem einleuchten, dass eine Ausbildung mit Diplomen, Zeugnissen und sonstigen Leistungsnachweisen
aus dem Herkunftsland nicht unbedingt die rechtlichen
Kenntnisse abzudecken hat, die im Aufnahmeland auf
diesem Rechtsgebiet verlangt werden.
Lassen Sie mich zum Abschluss Folgendes sagen: Ich
meine, bestimmte Begriffe müssen genau definiert werden.
({0})
Nach deutschem Vorbild müssen sie in den Richtlinientext aufgenommen werden. Dazu gehört, dass vor allen
Dingen auch weiterhin die Voraussetzungen geschaffen
werden, bei der beruflichen Qualifikation nicht nur zu
verlangen, man müsse wissen, was Sache ist; vielmehr
muss die Grundlage für uns sein, darauf zu drängen, dass
man sich sprachlich etwas näher kommt. Wenn das der
Fall ist, dann ist mir nicht bange, dass man auch die anderen Herausforderungen leichter bewältigen kann, als
es bislang der Fall ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Es wäre ja zu schön, wenn die Geschäftsführer ihren
Rednern die gleichen Redezeiten angeben könnten wie
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
dem Präsidenten, um die Unstimmigkeiten, die es in den
jeweiligen Vorgaben gibt, in Grenzen zu halten.
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Christian Lange, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Hinsken, leider war Ihre
Rede wieder einmal ein Beitrag zum Politikverdruss.
({0})
Erstens haben Sie den Eindruck erweckt, als hätten
wir vonseiten der Regierungskoalition den Zeitpunkt für
diese Debatte hinausgezögert. Das ist falsch. Sie haben
das Aufsetzungsrecht.
({1})
Im Dezember 2003 kam die Antwort. Sie hätten also seit
Januar dieses Jahres diese Debatte hier führen können.
Zweitens haben Sie den Eindruck erweckt, als gäbe es
eine Differenz zwischen Bundesregierung, SPD-Fraktion, Grünen-Fraktion, CDU/CSU-Fraktion, FDP-Fraktion und den Verbänden in Deutschland zur Position der
Bundesregierung;
({2})
denn Sie haben einen ganz wichtigen Punkt verschwiegen: dass wegen ihrer Argumente, die sie hier vorgetragen hat, die politische Einigung im Wettbewerbsfähigkeitsrat am 18. Mai 2004 mit qualifizierter Mehrheit
gegen die Stimmen der deutschen und der griechischen
Delegation erzielt worden ist.
({3})
Meine Damen und Herren, ich frage mich wirklich,
warum wir diese Debatte, wenn wir sie schon führen
müssen, an dieser Stelle in dieser Form führen, da wir
uns doch in der Sache einig sind. Ich hätte zumindest erwartet, dass Sie die Einigkeit, die in diesem Hohen
Hause besteht, entsprechend betonen und darstellen.
Darf Ihnen der Kollege Hinsken eine Zwischenfrage
stellen, Herr Kollege Lange?
Ja.
Bitte schön.
Ich bin dankbar, Herr Präsident, dass ich diese Zwischenfrage stellen darf, weil ich zu meinem großen Bedauern feststellen muss, dass die schlechte Qualifizierung durch den Kollegen Lange darauf zurückzuführen
ist, dass er nicht aufgepasst hat. Anderenfalls wüsste er
genau, dass ich hier die Bundesregierung sogar gelobt
habe, weil sie mit der griechischen Regierung zusammen
versucht hat, einiges an Unheil abzuwenden. Hätten Sie
aufgepasst, Herr Kollege Lange, dann bräuchten Sie dies
von mir jetzt nicht einzufordern.
Dann bedanken wir uns für die Unterstützung durch
die Opposition, Herr Kollege Hinsken. Wir wünschen
uns aber, dass Sie dies in Zukunft nicht nur in diesem
Hohen Hause, sondern auch dann klar und deutlich zum
Ausdruck bringen, wenn Sie über das Handwerk und die
Anerkennung unserer Handwerksberufe in der Europäischen Union sprechen. Sie wissen genau, dass bei der
Novelle der Handwerksordnung die Haltung der Europäischen Union einer der zentralen Gründe war, warum
wir diesen Weg gemeinsam gegangen sind.
Meine Damen und Herren, der Richtlinienvorschlag
bezieht sich dabei auf reglementierte Berufe, also auf
Berufe, bei denen der Berufszugang oder die Berufsausübung an den Nachweis einer bestimmten Qualifikation
gebunden ist. Davon sind insbesondere solche Berufe
betroffen, bei denen aus Gründen des Allgemeininteresses, zum Beispiel Gesundheit und Verbraucherschutz,
Berufszugang bzw. Berufsausübung an den Nachweis
bestimmter Voraussetzungen geknüpft ist. - So weit die
Richtlinie.
Die Bundesregierung vertritt die Auffassung - sie tat
dies in ihrer Antwort bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem
sie sich im Rat noch nicht festgelegt hatte -, dass jeder
Mitgliedstaat weiterhin die Möglichkeit behalten soll,
diese Nachweise von jedem EU-Staatsbürger zu fordern,
der auf seinem Gebiet tätig werden möchte. Die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs und des Niederlassungsrechts in der Gemeinschaft ist grundsätzlich
zu begrüßen; Liberalisierung darf aber nicht zulasten der
Schutzbedürftigen, insbesondere der Verbraucher, gehen. Auch darin sind wir uns, wie ich denke, einig. Unbeschadet des notwendigen Kompromisses wird die
Mobilität der Fachkräfte in Europa gefördert, ohne aber
den Verbraucherschutz oder den Wettbewerb wesentlich
zu vernachlässigen.
Angesichts der divergierenden Interessenlagen der
Ratsmitglieder halte ich das, was als Ergebnis herausgekommen ist, zumindest für vertretbar, wenn auch nicht
für unterstützenswert. Übrigens haben auch die betroffenen Verbände des Handwerks, der freien Berufe und der
Industrie bislang keinerlei Einwände gegen das von der
Bundesregierung im Rat erzielte Verhandlungsergebnis
erhoben.
Lassen Sie mich deshalb die wichtigen Regelungen,
die trotz der Ablehnung noch erreicht worden sind, hier
darstellen:
Erstens. Die bewährten Regelungen zur Niederlassung bleiben von der Diplomanerkennungsrichtlinie
weitgehend unberührt. Das heißt, dem Aufnahmemitgliedstaat steht weiterhin das Recht zur Qualifikationsprüfung der betroffenen Person zu.
Christian Lange ({0})
Zweitens. In dem umstrittenen Bereich grenzüberschreitender Dienstleistungen konnte erreicht werden,
dass zumindest für die besonders sensiblen Berufe aus
dem Bereich der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit
dem Aufnahmemitgliedstaat auch weiterhin ein Qualifikationsprüfungsrecht zusteht.
Drittens. Welche Berufe hiervon erfasst sind - in diesem Punkt hat der Kollege Recht - wurde in der Richtlinie allerdings nicht festgelegt; dies bleibt späteren Einzelentscheidungen vorbehalten. Hier teile ich Ihre
Meinung: Es wird wahrscheinlich Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs geben. Aber so ist es, wenn
man sich gegen eine überwältigende Mehrheit nicht
durchsetzen kann.
Viertens. An dieser Stelle geht der Bundesregierung
insbesondere im Hinblick auf das Handwerk die Beschränkung der Qualifikationsüberprüfung auf die vorgenannten Berufsgruppen nicht weit genug. Deshalb hat
sie im Rat auch gegen die Richtlinie gestimmt. Sie war
aber mit Ausnahme von Griechenland insoweit isoliert.
Meine Damen und Herren, allerdings braucht das
Handwerk die europäische Konkurrenz nicht zu fürchten; denn dank der großen Handwerksordnungsnovelle,
die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, ist es
bestens gerüstet. Dies zeigen übrigens auch die jüngst
veröffentlichten Zahlen des Zentralverbands des Deutschen Handwerks zur Entwicklung des Handwerks in
der ersten Jahreshälfte 2004. Der jahrelange Abwärtstrend im deutschen Handwerk konnte gestoppt und umgekehrt werden. Die Zahl der Handwerksbetriebe nimmt
wieder zu, die Zahl der Ausbildungsplätze auch. Fast
2 Prozent oder über 16 200 Betriebe mehr zählt der ZDH
im ersten Halbjahr 2004.
Die Hauptursache für diese positive Entwicklung ist
das neue Handwerksrecht, das seit 1. Januar in Kraft ist.
Ziel der Novelle war und ist es nämlich, mehr Existenzgründungen durch weniger Handwerksberufe mit Meisterzwang zu ermöglichen. Was wurde bisher erreicht?
Die Zahl der Existenzgründungen bei den Handwerksberufen, die jetzt nicht mehr dem Meisterzwang unterliegen - Anlage B -, ist um knapp 16 Prozent oder gut
11 700 Betriebe gestiegen.
Die Handwerksordnungsnovelle wollte mit dem
neuen Handwerksrecht einen wirksamen Beitrag zur
Verringerung der Schwarzarbeit leisten. Was wurde bislang erreicht? Neugründungen nach der Anlage B sind
vor allem in den typischen Schwarzarbeitgewerken erzielt worden, wie bei den Fliesenlegern, den Gebäudereinigern, den Damen und Herren Schneidern oder den Parkettlegern.
Die Novelle wollte Gesellen mit langjähriger Berufsausübung im Handwerk mit Meisterzwang - der
Anlage A - die Chance einräumen, sich wirksam, früher
und schneller selbstständig zu machen. Was wurde seither erreicht? 60 Prozent aller Existenzgründungen im
Handwerk mit Meisterzwang, also 2 100 von 3 500 Neugründungen, wurden von berufserfahrenen Gesellen
ohne Meisterbrief vorgenommen.
({1})
Die Handwerksordnungsnovelle wollte auch durch
mehr Freiheit und Wettbewerb die Attraktivität des
Handwerks gerade für junge Leute erhöhen. Was wurde
bislang erreicht? Die Zahl der Ausbildungsverträge
nahm im August 2004 um 2,4 Prozent gegenüber dem
Vorjahresmonat zu. Das ist, denke ich, ohne Zweifel ein
Erfolg des Ausbildungspaktes - da ist insbesondere das
Handwerk ganz positiv hervorzuheben -, aber auch der
neuen Handwerksordnungsnovelle. Trotz nach wie vor
schwacher Handwerkskonjunktur und einer beispiellosen Verunsicherungskampagne steht fest: Das neue
Handwerksrecht wirkt und zeitigt bereits nach kurzer
Zeit beachtliche Erfolge.
({2})
- Aber Herr Kollege, Sie haben doch sogar zugestimmt.
({3})
Ich bitte Sie, wenigstens nachdem Sie zugestimmt haben
- hier im Deutschen Bundestag haben die Fraktionen
von CDU/CSU und FDP zugestimmt -, zu den Erfolgen
zu stehen, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Ich gehe sogar so weit, dass ich mich bei Ihnen
herzlich dafür bedanke, dass Sie diesen Weg zur Novellierung der Handwerksordnung und damit zur Öffnung
des deutschen Handwerks nach Europa mitgegangen
sind. Das ist ein guter Weg und Ihnen gebührt eigentlich
Dank dafür, dass Sie ihn mitgegangen sind. Diesen Weg
sollten wir gemeinsam vertreten, so wie wir ihn auch gemeinsam beschlossen haben.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass die Diplomanerkennungsrichtlinie
gerade im Handwerk vor dem Hintergrund der EUOsterweiterung von Bedeutung war. Die Richtlinie wird
nach ihrer Verabschiedung zum gemeinschaftsrechtlichen Besitzstand zählen und muss somit auch von den
neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsländern umgesetzt
werden. Dass es an dieser Stelle zu keinen weiteren Unstimmigkeiten mit dem Handwerk kam, liegt auch maßgeblich an der Durchsetzung von Übergangsfristen im
Bereich der Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit
von bis zu sieben Jahren durch die Bundesregierung. Für
die sonstigen Berufsgruppen ist aber vorgesehen, dass
bei der erstmaligen Dienstleistungserbringung ein Nachweis über die rechtmäßige Niederlassung im Herkunftsstaat sowie Unterlagen über die Berufsqualifikation und
Berufserfahrung gefordert werden können.
Lassen Sie mich noch festhalten, dass das Diplomanerkennungsrecht keinen Einfluss auf das jeweilige nationale Bildungssystem hat. Das in der Richtlinie festgelegte Anerkennungssystem dient lediglich dazu, dass
trotz der unterschiedlichen Bildungssysteme in den Mitgliedstaaten die Freizügigkeit auf dem Wege der gegenseitigen Anerkennung von Qualifikationen und des AusChristian Lange ({5})
gleichs wesentlicher Unterschiede gesichert wird. So
können die nationalen Eigenheiten bewahrt werden und
stellen gleichzeitig kein Hindernis auf dem Wege der
Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs und der
Niederlassungsfreiheit in Europa dar.
Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich fürchte
- auch deshalb habe ich mit dem Satz angefangen, dass
wir hier einen Beitrag zum Politikverdruss haben -, dass
wir uns noch in einem Verfahren befinden.
({6})
Das heißt, auch das, worüber wir heute diskutieren
- Herr Kollege Hinsken, Sie haben das vorhin schon kritisiert -, ist wieder nur ein Zwischenstand. Denn wir
wissen: Gegen Ende 2004 wird mit der Vorlage des gemeinsamen Standpunktes des Rates gerechnet, der dann
dem Europäischen Parlament zur zweiten Lesung vorgelegt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass sich daran ein
Vermittlungsverfahren zwischen Rat und Europäischem
Parlament anschließt.
Die Positionen der Bundesregierung und des Hohen
Hauses sind klar: Wir ziehen an einem Strang. Das sollten wir auch heute zum Ausdruck bringen.
({7})
In diesem Sinne freue ich mich auf einen konstruktiven
Verlauf der weiteren Debatte.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Für die FDP-Bundestagsfraktion kann ich erklären,
dass unsere Beurteilung des heute vorliegenden Zwischenstandes hinsichtlich der Anerkennung von Berufsqualifikationen von Handwerk, freien Berufen und Industrie recht positiv ausfällt. Es ist zu erkennen, dass an
der Richtlinie bis zum heutigen Tag entscheidende Verbesserungen vorgenommen worden sind.
Wer möchte, dass die EU bis zum Jahr 2010 zum
dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum wird, der muss für Liberalisierungen offen sein,
die für den Binnenmarkt zu mehr Wettbewerb, auch bei
den Qualifikationen, führen - allerdings nicht ohne
Grenzen, auch nicht völlig uferlos und schon gar nicht
um den Preis von Qualifikationsdumping. Das wollen
wir nicht.
({0})
Aber wir müssen sagen: Es geht um die Flexibilisierung der Arbeits- und Dienstleistungsmärkte im Binnenmarkt. Wir vermerken positiv, dass 15 Einzelrichtlinien
zu einer zusammengeführt werden und dass es um die
Vereinfachung von Vorschriften, den Abbau von Bürokratie und eine verbesserte Umsetzung der europäischen
Vorgaben geht. Das ist in der Tendenz positiv zu bewerten.
Wir als FDP sagen, dass bei aller Liberalisierung und
allem Änderungsbedarf, den auch wir sehen, auf eines
hingewiesen werden muss: Die Besonderheiten eines bestimmten Landes, die auch Gegenstand des Wettbewerbs
sind, dürfen nicht komplett eingeebnet werden. Diese
Besonderheiten muss man beachten, damit sich jedes
Land wieder findet. Es wäre - wenn es so bleibt, wie es
sich bisher abzeichnet - ein positives Ergebnis, dass für
Handwerk, freie Berufe und Industrie auch in Zukunft
funktionierende und weitgehend unbürokratische Aufsichtsmechanismen erhalten bleiben. Wichtig ist uns,
dass dadurch die alleinige Kontrolle von Qualität und
Kompetenz durch den Entsendestaat ausgeschlossen
wird. Insofern ist auch dies positiv.
Jetzt komme ich zu dem Teil, den ich etwas kritischer
bewerte. Die Änderung der Handwerksordnung war mit
Blick auf die EU notwendig. Wir haben gemeinsam um
dieses Ergebnis gerungen. Wir finden, dass sich auch
hier eine ganz positive Tendenz abzeichnet. So haben
wir zum Beispiel die Altgesellenregelung gemeinsam
beschlossen.
Aber, Kollege Lange, Sie haben eben die Anzahl der
Unternehmen genannt, die neu gegründet wurden. Hier
muss man ein bisschen genauer hinschauen. Wir als FDP
haben ausdrücklich gesagt: Wir nehmen wahr, dass es
beim Handwerk nach wie vor problematische Entwicklungen gibt. So meldete zum Beispiel das Statistische
Bundesamt erst vorgestern einen Rückgang der Beschäftigtenzahlen im Handwerk um 4 Prozent gegenüber Juni
des Jahres 2003.
Schauen Sie sich einmal an, welchen Anteil Ich-AGs,
die staatlich subventioniert werden,
({1})
an allen Firmenneugründungen haben.
({2})
Gestern haben wir im Wirtschaftsausschuss diesbezüglich eine sehr interessante Zahl gehört: Bislang sind
157 000 Ich-AGs gegründet worden, für die im Haushalt
850 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wurden.
({3})
Allein im August 2004 sind 6 200 dieser Ich-AGs vom
Markt verschwunden.
({4})
Eine seriöse Evaluierung nach Branchen und Bestand
- ohne staatliche Subventionierung - steht noch aus.
({5})
Es ist sehr fraglich, wie das aussehen wird.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an uns selbst,
insbesondere aber an die rot-grüne Bundesregierung gerichtet sagen, dass die Tragfähigkeitsbescheinigung, die
jetzt eingefordert wird - also etwas Ähnliches wie ein
Businessplan, der von den Kammern auszustellen ist -,
ein ganz wichtiges Element immer noch nicht enthält,
nämlich die Notwendigkeit für Ich-AGler, sich selbst gegen Regressansprüche zu versichern. Wir erleben derzeit Betriebsgründungen, ohne dass bedacht würde, dass
Regressansprüche abgesichert sein müssen. Das ist
wichtig für den Menschen, der sich selbstständig macht,
aber auch wichtig für seine Kundschaft. Hierauf wird zu
wenig Sorgfalt verwendet.
Ich sage abschließend: Grundsätzlich sehen wir die
Beratungen zu dieser Richtlinie in der Tendenz positiv.
Wir müssen natürlich abwarten, was hier noch folgt.
Aber ich sage auch noch einmal, dass sich die rot-grüne
Bundesregierung wirklich anstrengen muss,
({6})
um eine bessere Wirtschaftspolitik für den Mittelstand
zu machen. Wir brauchen passende Rahmenbedingungen, nämlich Kostensenkungen. Wir müssen darauf achten, dass wir tatsächlich Entbürokratisierung schaffen.
Diesbezüglich ist es mit der Reformfähigkeit dieser Regierung immer noch nicht weit her. Mittelständische Unternehmen müssen sich am Markt wirklich entfalten
können. Es geht um echte Existenzen von Dauer und von
Qualität. Hier bleibt für Sie noch sehr viel zu tun.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wohl kaum jemand möchte heute den freien Warenfluss zwischen den Ländern der EU missen. Als exportorientierte Nation profitieren wir auch volkswirtschaftlich davon: Rund 60 Prozent unserer Exporte gehen in
die EU. Wir können uns freuen über offene Grenzübergänge ohne Warteschlangen und inzwischen auch über
das Ende der Wechselstuben.
Mit dieser positiven Grundhaltung sollten wir auch
weitere Chancen, die uns die Europäische Union bietet,
ergreifen. So sollten wir es auch mit der gegenseitigen
Anerkennung von Berufsqualifikationen in Europa halten. Bisher regelt ein Wust von EU-Richtlinien die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Die Kommission
will dies nun endlich ändern und mehr Transparenz und
Mobilität für Dienstleistungen erreichen. Aus europapolitischer und wettbewerbspolitischer Sicht ist dieses Anliegen grundsätzlich begrüßenswert. Die Frage ist jetzt,
inwieweit die geplante Regelung den Verbraucherschutz,
die Qualitätssicherung - zum Beispiel im Gesundheitsbereich - und faire Wettbewerbsbedingungen für die Anbieter gewährleistet.
Wir sehen die neue EU-Richtlinie zur Anerkennung
von Berufsqualifikationen mit den in den Verhandlungen
inzwischen erreichten Änderungen auf einem guten und
praktikablen Weg. Der überwiegende Teil der bisherigen
Richtlinien geht nun in der neuen Richtlinie auf. Die so
verbesserte Transparenz hilft Antragstellern und Verwaltungen. Eigene Richtlinien bleiben nur für die Berufe
Rechtsanwalt sowie Wirtschafts- und Steuerprüfer bestehen; diese werden von der neuen EU-Richtlinie ausgenommen. Dies halten wir für gerechtfertigt; denn welcher deutsche Rechtsanwalt würde sich schon in die
englische Prozessordnung hineinwagen?
Gegenüber dem ursprünglichen Kommissionsentwurf sehen wir in dem inzwischen erreichten Verhandlungsergebnis deutliche Verbesserungen.
({0})
Die Anmeldung bei gewünschter Niederlassung und
bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen erfolgt
künftig im Aufnahmeland und nicht, wie ursprünglich
geplant, im Herkunftsland. Die Kontrollmöglichkeiten
des Aufnahmelandes werden dadurch erheblich verbessert. Ob eine grenzüberschreitende Tätigkeit oder eine
Niederlassung vorliegt, entscheiden die zuständigen Behörden des Aufnahmelandes wie bisher im konkreten
Einzelfall. Sie behalten den erforderlichen Ermessensspielraum. Das ist viel besser als eine starre zeitliche
Fristsetzung, wie sie die EU-Kommission ursprünglich
vorgeschlagen hatte. Die Behörden werden sich bei der
Prüfung, ob eine Tätigkeit als gelegentlich oder vorübergehend einzustufen ist, wie bisher daran halten, ob der
Antragsteller noch fest in der Wirtschaft des Herkunftslandes verankert bleibt. Die bewährten Regelungen zur
Niederlassung bleiben nach dem jetzigen Verhandlungsstand weitgehend unberührt: Der Aufnahmestaat hat
weiterhin das Recht zur Qualifikationsprüfung, wenn ein
Europäer die Niederlassung beantragt.
Für Menschen, die grenzüberschreitende Dienstleistungen anbieten, wird die neue Richtlinie dagegen eine
große Erleichterung sein. Für die meisten Berufe gilt
dann nicht mehr das Qualifikationsprüfungsrecht des
Aufnahmelandes. Dienstleister aus einem anderen EULand müssen nur noch den Nachweis ihrer rechtmäßigen
Niederlassung im Herkunftsland sowie Unterlagen über
ihre Berufsqualifikation und Berufserfahrung vorlegen.
Davon ausgenommen werden die Bereiche Gesundheit
und öffentliche Sicherheit. Wir Grüne halten das durchaus für richtig.
Die aktuelle Diskussion um die Qualität der Pflege in
Deutschland zeigt, dass wir hier besonders auf die berufliche Qualifikation achten müssen. Dort, wo es um die
Gesundheit der Menschen geht, müssen wir gegebenenfalls Anpassungsmaßnahmen fordern können, wie etwa
Fortbildungslehrgänge für Pflegekräfte.
Nicht ausgenommen sind dagegen 41 Handwerksberufe, die in Deutschland aus sicherheits- und/oder ausbildungstechnischen Gründen an den Meisterbrief gebunden sind. Unserer Meinung nach muss dies auch nicht so
sein. Für einige Berufe wäre eine Ausnahme zwar durchaus begründbar gewesen, aber nicht für alle 41.
Bei der Liberalisierung der Dienstleistungen in der
EU sollten wir nicht ängstlich auf die Konkurrenz aus
anderen EU-Staaten schauen. Die gemeinsame Regelung
zur Anerkennung von Berufsqualifikationen nützt auch
deutschen Dienstleistern. Das betrifft etwa Physiotherapeuten und andere Anbieter im Gesundheitsbereich und
in Handwerksberufen, die in manchen EU-Staaten eine
akademische Ausbildung erfordern.
Europa bedeutet mehr als nur freier Warenfluss und
fehlende Wechselstuben. Bei dieser Neuregelung geht es
um die Schaffung einer gemeinsamen Arbeitswelt für
die Menschen. Wir alle in diesem Haus wollen die Berufsausbildung in Deutschland fit für Europa machen.
Dafür müssen wir den europäischen Weg in der Berufsanerkennung aber auch konsequent gehen.
Danke schön.
({1})
Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Gunther Krichbaum,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen
spielt für die wirtschaftliche Entwicklung der EU unbestrittenermaßen eine herausragende Rolle. Aus diesem
Grund sollen Berufsqualifikationen in der EU automatisch anerkannt werden. Gerade für uns als exportorientierte Nation ist es wichtig, dass wir nicht nur unsere
Waren in andere Länder ungehindert liefern, sondern
dort auch Dienstleistungen erbringen können.
({0})
Gerade hier haben wir Deutsche Nachholbedarf, da wir
hier hinter den USA und Großbritannien liegen. Umgekehrt gilt freilich, dass auch Dienstleister aus anderen
Ländern der EU hier tätig werden können.
Das Handwerk und die freien Berufe haben bei uns
eine jahrzehntelange Tradition und sind zwei der tragenden Säulen unserer Wirtschaft. Gerade das Handwerk
unternimmt in einer Zeit, in der Ausbildungsplätze
knapp sind, enorme Anstrengungen, um jungen Leuten
eine Berufsqualifikation zu vermitteln und ihnen damit
eine Zukunftschance zu geben. Das kann nicht oft genug
gewürdigt werden.
({1})
In einer zunehmend europäisch werdenden Wirtschaft
brauchen sie deshalb verlässliche Rahmenbedingungen
und uns als politische Partner.
Seit nunmehr über zwei Jahren wird in Brüssel an einer
Richtlinie gearbeitet. Die in zahlreichen Einzelrichtlinien
enthaltenen Regelungen zur Anerkennung beruflicher
Befähigungsnachweise sollen in einer einzelnen Richtlinie gebündelt und zusammengefasst werden. Das Ziel
soll eine Vereinfachung sein. Wenn ich mir aber den
Umfang des jetzigen Richtlinienvorschlages anschaue,
dann sind hier Zweifel und Skepsis angesagt.
({2})
Vonseiten der CDU/CSU-Fraktion haben wir bereits
Mitte letzten Jahres einen erheblichen Klärungsbedarf
gesehen und mit einer Großen Anfrage an die Bundesregierung den Fokus vor allem auf drohende Wettbewerbsverzerrungen und Gefahren für den Verbraucherschutz
gelegt. Bedingt durch den Umstand, dass zeitgleich auch
die Dienstleistungsrichtlinie verhandelt wird, drohen
Grenzziehungen zu verwischen und ein Kompetenzwirrwarr zu entstehen. Gerade bei der Dienstleistungsrichtlinie sind noch manche Fragen offen. So ist in dieser beispielsweise das Herkunftslandprinzip vorgesehen.
Damit wäre der Herkunftsstaat für eine Kontrolle seiner
Staatsangehörigen im ausländischen Tätigkeitsstaat zuständig. Kontrollen liefen damit aber ins Leere, weshalb
dadurch allenfalls die Schwarzarbeit begünstigt würde.
({3})
Insoweit besteht bei der Dienstleistungsrichtlinie erheblicher Klärungsbedarf.
Soweit der Vorschlag der Kommission im Rahmen
der Anerkennungsrichtlinie das Ziel verfolgt, die Freizügigkeit qualifizierter Personen im Binnenmarkt zu erleichtern, ist dagegen nichts einzuwenden. Die Union
steht einer Liberalisierung der Dienstleistungs- und
Niederlassungsfreiheit positiv gegenüber. Schließlich
gilt es, im Rahmen der Lissabonner Strategie für eine
dynamischere EU-Wirtschaft die Erbringung von
Dienstleistungen zu erleichtern. Hierbei müssen aber
auch bestimmte und bewährte Standards eingehalten
werden.
({4})
Als Union legen wir deshalb erheblichen Wert darauf,
dass Dienstleister aus anderen EU-Staaten den qualitativen Anforderungen entsprechen, die wir unseren eigenen Erwerbstätigen abverlangen. Ansonsten laufen wir
Gefahr, eine unzulässige Inländerdiskriminierung vorzunehmen.
({5})
Für die Berufe in den Bereichen des Gesundheitswesens
und der öffentlichen Gewalt ist dies bereits gelungen.
Gleiches muss aber auch für die freien Berufe, beispielsweise der Rechts- und Steuerberater wie auch der Wirtschaftsprüfer, gelten. Im Interesse eines aktiven Verbraucherschutzes fordern wir deshalb die Bundesregierung
auf, in den weiteren Gesprächen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um dieser Interessenlage nachhaltig Rechnung zu tragen.
({6})
Keinesfalls sollte es genügen, dass wir uns mit der
Regelung eines Nachweises entsprechender Berufshaft11536
pflichtversicherungen begnügen, die bei einer mangelhaften Leistung Schäden der Verbraucher ausgleichen
sollen. Allein diese Sichtweise ist schon verkehrt; denn
es geht hierbei um mehr. Es geht darum, dass wir unsere
Qualitätsstandards, auf die unsere Verbraucher seit
Jahren vertrauen, sicherstellen. Die Güte der Beratungsund Dienstleistungen darf nicht zum Spielball im Feld
der europäischen Harmonisierungsbestrebungen werden.
Für jene, die sich hier in Deutschland dauerhaft niederlassen wollen, sieht Art. 14 der Richtlinie vor, dass
der Staat, in dem sich der Dienstleistende niederlässt,
eine entsprechende Eignungsprüfung oder wahlweise
entsprechende Lehrgänge verlangen kann. Es ist deshalb
wichtig, dass die Bundesregierung schon jetzt entsprechende Vorkehrungen trifft, damit nach Verabschiedung
der Richtlinie eine zügige Umsetzung erfolgen kann.
Leider ist es in den Verhandlungen nicht gelungen,
eine Regelung durchzusetzen, um die eben beschriebenen Maßnahmen auch auf jene anwenden zu können, die
sich nur zeitlich befristet hier bzw. in einem anderen
Mitgliedstaat aufhalten. Wie eben erwähnt, ist dies nur
für Gesundheitsberufe und die Berufe im Bereich der öffentlichen Gewalt gelungen. Diese Einschränkung ist im
Interesse der deutschen Verbraucher zu bedauern. Vonseiten der CDU/CSU-Fraktion hätten wir uns hier mehr
gewünscht. Gleichwohl wissen wir, dass dieses Ansinnen nicht an der Bundesregierung, sondern vielmehr am
Widerstand der Kommission und anderer EU-Partnerstaaten scheiterte.
Wir begrüßen es, dass die Mitgliedstaaten in Zukunft
die Möglichkeit haben, von Dienstleistern aus anderen
EU-Staaten vor ihrer erstmaligen Leistungserbringung
eine Anmeldung zu verlangen. Dabei gehen wir davon
aus, dass ein entsprechendes Meldeverfahren tatsächlich installiert wird, das auf unbürokratische, aber effiziente Weise den Schutz der Verbraucher in Deutschland
sicherstellt.
Schließlich sei noch das Problem der so genannten
gemeinsamen Plattformen erwähnt, wonach in Zukunft
ausschließlich die Berufsverbände den Katalog für einen
Verzicht auf die oben erwähnten Ausgleichsmaßnahmen
- sprich: Qualifikationstest oder Lehrgang - bestimmen
können. Hierbei bestünde nach dem jetzigen Richtlinienvorschlag kein Mitspracherecht des Parlaments mehr,
also weder des Bundestages noch des Europäischen Parlaments. Hierbei besteht nun die Gefahr, dass der Anforderungskatalog der europäischen Verbände hinter unseren qualitativen Standards zurückbleibt. Dies bedeutet
einerseits, dass wir den hiesigen Handwerkern und Freiberuflern Standards abverlangen, die ein EU-Dienstleister nicht erbringen müsste, und es zu einer Benachteiligung inländischer Dienstleister käme. Andererseits darf
dieser Umstand nicht dazu führen, dass wir uns mit unseren Qualitätsstandards nach unten orientieren und damit das Dienstleistungsniveau abgesenkt würde.
({7})
Ein „race to the bottom“ darf es nicht geben.
Festzuhalten bleibt, dass das Ziel einer automatischen
Anerkennung von Berufsqualifikationen innerhalb der
EU ein Schritt in die richtige Richtung ist. Gerade wir
als Exportnation von Waren und Dienstleistungen werden hier in besonderer Weise profitieren. Im Interesse
der Bürgerinnen und Bürger ist es aber auch wichtig,
dass diese auf die Güte der Leistungen weiterhin vertrauen dürfen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Lebensmittel- und des Futtermittelrechts
- Drucksache 15/3657 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Hierzu ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung
eine Aussprache von 45 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Bundesministerin Renate Künast.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Lebensmittel- und Futtermittelrechts ist eines der Kernstücke des aktualisierten, modernen Lebensmittelrechts
und auch ein wichtiger Baustein in der Verbraucherpolitik der Bundesregierung. Man kann sagen, er ist ein weiterer Meilenstein für mehr Lebensmittelsicherheit in
Deutschland.
Halten wir uns noch einmal die Probleme der vergangenen Jahre vor Augen: Blei in Paprika, Dioxin in Futtermitteln bis hin zu Lasalocid in Eiern. Das ist bei weitem nicht die ganze Liste. Dahinter stecken folgende
Probleme: Einmal wurde bei der Produktion zu oft nur
auf Masse statt auf Klasse und Qualität gesetzt.
({0})
- Ich finde gut, dass Sie behalten haben, dass ich das öfter sage. Das war auch meine Absicht.
({1})
- Bei manchen muss man es oft wiederholen, bei anderen weniger oft. Sie haben es behalten und das ist okay.
({2})
- Ministerin! So viel Zeit muss sein.
Zum anderen geht es um die Futtermittel. Die meisten oder nahezu alle Lebensmittelskandale haben ihren
Ausgang bei Futtermitteln genommen. Das heißt, dass in
der Futtermittelwirtschaft etwas falsch gelaufen ist. Das
hatten die Bauern zumindest bei den Preisen auszubaden. Mit jeder neuen Hiobsbotschaft haben die Verbraucherinnen und Verbraucher Vertrauen verloren.
Wir haben deshalb - ich weiß, dass das zu großen Teilen gemeinsam und fraktionsübergreifend geschehen ist die Organisation des Lebensmittelbereichs auf den Prüfstand gestellt. Wir haben die Prävention und den Vorsorgegedanken beim Verbraucherschutz als Leitbild verankert. Wir haben damit dem Verbraucherschutz
Priorität eingeräumt, weil das Problem so groß war, dass
er vor kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen Vorrang
haben musste. Ich betone: kurzfristigen; denn langfristig
lebt jeder davon, dass man auf die Verbraucher und ihre
Gesundheit Rücksicht nimmt. In der Konsequenz bedeutet das, dass das Lebensmittelrecht am gesundheitlichen
Verbraucherschutz ausgerichtet wird.
Zudem haben wir mit dieser Vorlage ein einheitliches
Konzept im Lebensmittelbereich, das die gesamte Lebensmittelherstellung vom Acker - das betrifft die Bestandteile des Futters oder auch des Brotes - über die
Verarbeitung bis hin zur Theke und den Teller umfasst.
Das entspricht übrigens auch den Grundsätzen des Weißbuchs der Europäischen Union.
Mit unserem Gesetzentwurf leisten wir auch einen
Beitrag zur Entbürokratisierung und Vereinfachung,
weil wir aus elf Gesetzen eines machen. Das erleichtert
in Zukunft die Rechtsfindung. Wir alle reden davon, die
Situation für die Wirtschaft einfacher zu machen. Für
mich heißt das, dass man gut beraten ist, aus elf Gesetzen eines zu machen.
Wir haben mit diesem Gesetzentwurf einen Paradigmenwechsel vollzogen. Futtermittel werden als erstes
Glied der Lebensmittelherstellungskette verstanden und
konsequent in diese einbezogen. Spätestens seit BSE
weiß das jedes Kind. Damit entspricht der Gesetzentwurf den hohen Erwartungen der Verbraucherinnen und
Verbraucher an gesunde Lebensmittel in der gesamten
Kette.
Er trägt übrigens auch dem Recht auf Information
Rechnung, weil wir in den Gesetzentwurf eine Art
Verbraucherinformationsgesetz implementieren. Da
die Opposition angekündigt hat, dass sie sich in Zukunft
auch um die Verbraucherinnen und Verbraucher - und
zwar alle; auf dem Land wie in der Stadt - kümmern
will, dürfte dies in den weiteren Beratungen, auf die ich
mich freue, kein Problem darstellen. Möglich ist allenfalls, dass Sie mehr fordern. Aber dann sollten Sie nicht
immer sagen „Später in Brüssel“. Sie sollten es hier auf
Erden statt später im Himmel fordern.
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Lebensmittel- und des Futtermittelrechts schafft einheitliche Standards und wird bis hin zu der Straf- und Bußgeldbewehrung von der Wirtschaft begrüßt. Er greift den
gesundheitlichen Verbraucherschutz als Thema auf, erleichtert die Verbraucherinformation, schafft Transparenz und verhindert die Rechtszersplitterung, wie sie unglücklicherweise im Lebensmittel- und Futtermittelrecht
besteht.
Ich glaube, dass sich in diesem Gesetzeswerk die
Grundüberzeugungen aller Fraktionen - wenn ich sie
beim Wort nehme - wiederfinden. Insofern müssten eigentlich alle zustimmen, wenn es darum geht, etwas Gutes für die Gesundheit der Verbraucher und für die
Lebensmittelsicherheit zu tun. In diesem Sinne dürften
die Beratungen einfach werden.
({4})
Ich erteile der Kollegin Marlene Mortler von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren!
Man kann sagen, er
- der Gesetzentwurf ist ein weiterer Meilenstein für mehr Lebensmittelsicherheit in Deutschland.
Diese Aussage von Ministerin Künast ist maßlos übertrieben.
Tun Sie doch nicht immer so, als ob es erst seit Beginn Ihrer Regierungszeit in diesem Land Verbraucherschutz gäbe.
({0})
Sie täuschen mit diesen Aussagen, die mit der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der Menschen in unserem Land wenig zu tun haben, die Verbraucher.
({1})
Denn mit der formalen Verschmelzung von bisher
eigenständigen Gesetzen in den Bereichen Lebensmittelhygiene, Futtermittel, Bedarfsgegenstände und Kosmetika in einem Gesetzbuch wird die Lebensmittelsicherheit nicht automatisch erhöht.
({2})
Im Gegenteil: Die Art und Weise der Zusammenlegung
der verschiedenen Regelungen erleichtert weder die
Rechtsanwendung noch erhöht sie die Transparenz.
Es ist abzusehen, dass sich in der praktischen Anwendung des neuen Gesetzes ähnliche Schwierigkeiten wie
beim Vollzug des Arzneimittelgesetzes ergeben, in dem
die Bereiche Humanarzneimittel und Tierarzneimittel
ebenso undurchsichtig wie praxisfern geregelt sind.
Eine andere Gestaltung des Gesetzbuches - nämlich
ein Aufbau mit mehreren in sich geschlossenen Kapiteln
für die Regelungsbereiche Lebensmittel, Futtermittel
und Bedarfsgegenstände - würde aus meiner Sicht für
alle Betroffenen die Durchführung erheblich vereinfachen.
Einen einfachen Weg ist in diesem Zusammenhang
wieder einmal Österreich gegangen. Österreich fühlt
sich dem gemeinschaftlichen Konzept „Vom Acker bis
zum Teller“ genauso verpflichtet wie wir. Das Lebensmittelgesetz und das Futtermittelgesetz wurden dort
nicht verschmolzen, sondern jeweils an das EU-Recht
angepasst.
Mag auch der Ansatz der Zusammenführung von Lebensmittel- und Futtermittelrecht nach dem Konzept des
EU-Weißbuchs 2000 geboten sein und eine echte Juristenseele erfreuen, so ist doch eines klar: Keine Verbraucherin und kein Verbraucher wird sich je ohne fachjuristischen Beistand in dem Labyrinth des einschlägigen
EU-Lebensmittel- und -Futtermittelrechts, des vorliegenden Gesetzentwurfs und der darauf gestützten nationalen Durchführungsverordnungen zurechtfinden können.
({3})
Wenn das aber unbestreitbar ist, dann sollten Sie, Frau
Ministerin, nicht das Gegenteil behaupten, erst recht
nicht in der Gesetzesbegründung und mit demselben
Wortlaut in der Gegenäußerung der Bundesregierung
zur Stellungnahme des Bundesrats. In beiden Texten ist
nämlich zu lesen:
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die
Wirtschaftsbeteiligten und die Verwaltung wird es
einfacher, die geltenden nationalen Vorschriften im
Lebensmittel- und Futtermittelbereich zu ermitteln;
die Rechtsanwendung wird so erleichtert.
Der geneigte Leser fühlt sich getäuscht, wenn nicht sogar verhöhnt. Sollten wir nicht endlich ehrlich zugeben,
dass das Ganze kein Volkslesebuch werden kann?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Priesmeier?
Bitte.
Bitte, Herr Dr. Priesmeier.
Frau Kollegin Mortler, da Sie die Österreicher so loben, ist Ihnen sicherlich bekannt, dass Teile der österreichischen Regelungen vor allem betreffend das In-Verkehr-Bringen und die Kennzeichnung letztendlich
keinen Bestand gehabt haben. Wenn Sie also ausländische und insbesondere österreichische Regelungen als
Vorbild darstellen, kann ich nur sagen: Gemach, gemach! Gehen Sie in dieser Ansicht mit mir konform?
Sehr geehrter Herr Dr. Priesmeier, Österreich gibt uns
so viele Steilvorlagen - ich denke nur an die Maut -,
dass ich überzeugt bin, dass man dort trotzdem auf einem besseren Weg ist.
({0})
Leider weicht der vorliegende Gesetzentwurf an vielen Stellen bei Begriffsdefinitionen und materiellen Regelungen unnötigerweise von den einschlägigen EURichtlinien ab. Solche Abweichungen führen zu Auslegungsschwierigkeiten und beeinträchtigen die EU-weite
einheitliche Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen
Vorschriften. Weitere Wettbewerbsverzerrungen zulasten
unserer Wirtschaft sehe ich hier vorprogrammiert.
({1})
Die teilweise von Rot-Grün geschürte BSE-Hysterie
ist schon lange abgeklungen. Die Diskussion hat sich inzwischen versachlicht. Deswegen wird es aus meiner
Sicht allmählich Zeit, zu überprüfen, ob das allein in
Deutschland gültige Verbot der Verfütterung tierischer
Fette beibehalten werden sollte; denn es ist doch der
Gipfel der Schizophrenie, wenn solche Fette in der Verfütterung verboten, aber für die menschliche Ernährung
zugelassen sind. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen steht fest, dass von der Verfütterung tierischer Fette
keine Gefahr für die menschliche oder die tierische Gesundheit ausgeht. Ansonsten wäre ein solches Verfütterungsverbot auch auf EU-Ebene erlassen worden.
({2})
- Ich will damit erklären, dass das wieder ein nationaler
Alleingang ist, liebe Frau Wolff.
Andererseits gehen in Deutschland verbotene Lebensmittel aus anderen EU-Ländern mit niedrigeren Standards über unsere Ladentheken. Das ist weder logisch
noch fair.
Bei allen Meinungsverschiedenheiten bezüglich Aufbau, Gliederung und Ausgestaltung sollten wir in einem
übereinstimmen: Entscheidend für den vorbeugenden
gesundheitlichen Verbraucherschutz sind die Anwendung und die Kontrolle der lebensmittel- und der futtermittelrechtlichen Vorschriften. Es ist nicht ihre Zusammenführung zwischen zwei Buchdeckeln.
({3})
Ich komme zum Schluss. Was eine effizient arbeitende amtliche Lebensmittelüberwachung leisten kann,
zeigt der soeben vorgestellte Jahresbericht des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in Erlangen. Danach sind bayerische
Lebensmittel ausgesprochen sicher. Nur 0,46 Prozent
der 79 000 untersuchten Lebensmittel und Bedarfsgegenstände waren als gesundheitsschädlich einzustufen.
({4})
Diese geringe Quote ist ein deutlicher Beleg für eine gut
funktionierende Lebensmittelkontrolle und entzieht jeder Panikmache die Grundlage.
Vielen Dank.
({5})
Nun erhält das Wort die Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Mortler, auch wenn Sie es nicht
gerne hören: Die Neuordnung des Lebensmittel- und des
Futtermittelrechts ist verbraucherpolitisch ein wichtiger
und konsequenter Schritt hin zu mehr Lebensmittelsicherheit in Deutschland.
({0})
Wir begrüßen diese Initiative ausdrücklich.
({1})
Was ist neu an dem Gesetz? - Ich greife drei wesentliche Änderungen heraus:
Erstens. Lebensmittel- und Futtermittelrecht werden
in ein Gesetzbuch zusammengeführt. Nach dem Motto
„Aus elf mach eins“ wurden elf bisher eigenständige Gesetze zusammengefasst. Überflüssige Passagen wurden
herausgenommen oder an anderer Stelle geregelt. Von
200 Paragraphen sind jetzt nur noch 70 übrig geblieben.
Das nenne ich Transparenz! Das nenne ich Abbau von
Bürokratie!
({2})
Zweitens. Durch die Zusammenführung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts machen wir den Weg für
eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Lebensmittelkette frei. Das war bisher nicht der Fall: Futtermittel und
Lebensmittel wurden als eigenständige, voneinander getrennte Bereiche betrachtet. Das ist jetzt anders: Futtermittel werden im neuen Gesetzbuch als erstes Glied in
der Kette der Lebensmittelherstellung manifestiert. Warum ist dieser Paradigmenwechsel so wichtig? - Erinnern wir uns - es wurde schon darauf hingewiesen - an
die Lebensmittelskandale der Vergangenheit! Die Ursache lag häufig bei den Futtermitteln, zum Beispiel beim
BSE-Skandal, aber auch beim Dioxin- und beim Nitrofenskandal.
Jetzt haben wir einen neuen, einen ganzheitlichen verbraucherpolitischen Ansatz: „From stable to table“. Auf
Hochdeutsch: Vom Stall bis auf den Teller. Dieser neue
Ansatz bietet den Bundesländern die Möglichkeit, ihre
Zuständigkeiten in diesem Bereich besser zu koordinieren. Die Bundesländer sind für die Lebensmittel- und
Futtermittelkontrollen zuständig. Sehr geehrte Frau Kollegin Mortler, nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass das neue Gesetz den Ländern eine solide
Grundlage dafür bietet, die Kontrollen der beiden Bereiche besser zusammenzuführen, dadurch Reibungsverluste zu vermeiden und ihr Krisenmanagement zu optimieren!
({3})
Brandenburg hat diesen Schritt bereits getan. Die anderen Länder müssen diesem Beispiel nun folgen.
({4})
Drittens. Der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Täuschung bei Bedarfsgegenständen wird
verbessert. Irreführende Bezeichnungen und irreführende Werbung sollen zukünftig per Verordnung verboten werden. Das heißt, der Schmuckhändler, der die Verbraucher mit angeblich nickelfreien Ohrsteckern täuscht,
macht sich strafbar. Ebenso ist es dem Spielzeughersteller verboten, damit zu werben, dass Spielzeug PVC-frei
ist, wenn dies irreführend ist.
Inzwischen hat sich auch der Bundesrat in erster Lesung mit dem neuen Gesetzbuch befasst. Er begrüßt im
Grundsatz die Neuordnung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts. Das ist schon einmal eine gute Ausgangslage für eine Einigung. Es gibt aber auch Kritik.
Ich nenne drei Kritikpunkte:
Erstens. Das Gesetz sei zu unübersichtlich und nur etwas für Experten. - Wir nehmen die Kritik aus dem Bundesrat in der Regel sehr ernst. An dieser Stelle ist sie jedoch für uns nicht nachvollziehbar. Das Gesetz - da hat
der Bundesrat sicherlich Recht - liest sich nicht so leicht
wie ein Krimi, doch ich kenne, ehrlich gesagt, kein einziges Gesetz, das diesem Anspruch Genüge tun würde.
Das neue Gesetzbuch zeichnet sich doch gerade durch
seine Übersichtlichkeit und durch seine klare Gliederung
aus. Frau Mortler, ich empfehle Ihnen wirklich: Werfen
Sie einen Blick in das neue Gesetzbuch!
({5})
Dann werden Sie sehen: Diese Kritik ist wirklich nicht
angebracht.
({6})
Zweitens. Der Gesetzentwurf enthalte zu viele Verordnungsermächtigungen. Das führe zu einem Machtverlust des Bundestages. - Es ist schon interessant, dass
sich ausgerechnet der CDU/CSU-dominierte Bundesrat
so große Sorgen um unsere Handlungsfähigkeit hier im
Bundestag macht. Oft genug ist es gerade der Bundesrat,
der unsere Handlungsfähigkeit einschränkt.
Was hat es nun mit den Verordnungsermächtigungen auf sich? Verordnungsermächtigungen geben der
Verwaltungsebene Spielräume,
({7})
zum Beispiel dem Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Es wird ermächtigt, in bestimmten, im Gesetz fest umrissenen Bereichen
Verordnungen zu erlassen. Warum ist das notwendig?
Können wir darauf verzichten? Nein, das können wir
nicht. Verordnungsermächtigungen sind erstens wichtig,
um schnelles Handeln sicherzustellen. Von der EU wird
auch immer wieder eingefordert, dass wir schneller werden. Durch die Verordnungsermächtigungen können wir
zweitens flexibler auf neue Anforderungen der EU-Gesetzgebung reagieren, ohne jedes Mal das Gesetz ändern
zu müssen.
Wir freuen uns natürlich über die Fürsorglichkeit des
Bundesrates uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern gegenüber, finden es aber doch schon erstaunlich,
dass die Kritik gerade jetzt angebracht wird. Laut Ministerium wurden - vom Bereich Fleischhygiene abgesehen überhaupt keine neuen Verordnungsermächtigungen in
den Entwurf aufgenommen. Es gibt sie also fast alle
schon. Sie sind im neuen Gesetzbuch lediglich zusammengeschoben worden. Sie haben sich nicht vermehrt,
aber durch das Zusammenschieben erhalten wir einen
viel besseren Überblick.
Drittens. Der Bundesrat meint, die Verbraucherinformation komme in dem neuen Gesetz zu kurz. Was
heißt das? Für den Fall etwa, dass eine größere Menge
von Lebensmitteln in Verkehr gekommen ist, die zum
Verzehr nicht geeignet sind, fordert der Bundesrat nach
dem Vorbild Baden-Württembergs das Recht, die Öffentlichkeit zu informieren. Wir werden diese Anregung
aus dem Bundesrat sehr genau prüfen. Natürlich - das ist
doch ganz klar - sind auch wir an guter, an besserer Verbraucherinformation interessiert. Gerade aus diesem
Grund haben wir doch in der letzten Legislaturperiode
wie die Löwen für ein eigenständiges umfassendes Verbraucherinformationsgesetz gekämpft. Fast hätten wir es
auch hinbekommen. Sozusagen in letzter Sekunde ist es
am Widerstand der CDU/CSU im Bundestag und vor allem nachher im Bundesrat, also an Ihnen, meine Damen
und Herren von der Opposition, gescheitert.
({8})
Sie waren es, die das Verbraucherinformationsgesetz
und damit mehr Rechte für Verbraucherinnen und Verbraucher ausgebremst haben.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Heinen?
Sie hat nachher die Möglichkeit, sich zu äußern. Ich
möchte jetzt weitermachen.
({0})
Sich jetzt hier hinzustellen, den dicken Maxen zu machen und mehr Informationsrechte einzufordern, wirkt
nicht sehr überzeugt, meine Damen und Herren.
({1})
Frau Kollegin Heinen, ich hoffe aber, dass uns in dieser Legislaturperiode doch noch der große Wurf gelingen wird und wir ein eigenständiges Verbraucherinformationsgesetz gemeinsam auf den Weg bringen.
({2})
Unsere Verhandlungsbereitschaft steht.
Geben Sie sich also einen Ruck, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU! Helfen Sie mit, Ihre Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat zu überzeugen! Die
Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland werden es Ihnen danken.
Wie geht es nun mit der Neuordnung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts weiter? Im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft haben
wir in dieser Woche eine Anhörung zu diesem Themenkomplex beschlossen. Sie soll am 20. Oktober stattfinden. Dann können die Fraktionen Änderungsanträge einbringen. Im Januar 2005 soll das neue Gesetz in Kraft
treten.
Ich hoffe sehr, dass wir diese Zeitschiene halten werden und dass uns der Bundesrat nicht wieder die Suppe
versalzt. Wir brauchen die Neuordnung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts. Das ist ganz wichtig, um den
vorsorgenden Verbraucherschutz in Deutschland weiter
nach vorn zu bringen.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will doch noch einmal in dieser Diskussion daran erinnern: Es ist Aufgabe der Landwirtschaft wie auch der
Ernährungsindustrie, gesunde Lebensmittel zu produzieren. Sie tun dieses, und zwar, Kollegin Mortler, nicht nur
in Bayern. Sie tun das im gesamten Bundesgebiet. Lob
dafür gebührt den Betrieben und nicht der Politik, die
keine weitere Aufgabe als die der Kontrolle hat.
({0})
Ich will weiter daran erinnern, alle angeblichen Skandale der letzten Jahre - nehmen wir Nitrofen, nehmen
wir Acrylamid - haben die Gesundheit der Menschen
nicht gefährdet. Diese so genannten Skandale haben
nichts weiter als ein Rauschen im Blätterwald erzeugt
und sind nur ein Ausdruck der Unsicherheit der Menschen,
({1})
aber nicht von Unsicherheiten der Nahrungsmittel. Diese
sind sicher. Alle Institute, auch die von dieser BundesDr. Christel Happach-Kasan
regierung beauftragten, bestätigen uns dies. Wer Menschen schützen will, muss sie auch davor schützen, sich
um die falschen Dinge Sorgen zu machen. Die wirklichen Gefahren liegen nicht in der Qualität der Lebensmittel, sondern in der Auswahl der Lebensmittel. Eine
Diät aus Chips und Cola ist nicht gesund, auch wenn die
Produkte einwandfrei sind. Wir sind uns bewusst, dass
die Gesetzgebung darauf allenfalls minimalen Einfluss
haben kann.
In einem zusammenwachsenden Europa ist es konsequent, die Lebensmittel- und Futtermittelgesetzgebung zu vereinheitlichen. Die in der EU entwickelte
Strategie „vom Acker auf den Teller“ ist ein umfassender Ansatz, der griffig beschreibt, was wir wollen. Der
gesunde Jungbulle soll einmal als saftiges Steak, die
Mohrrübe in einem knackigen Salat auf dem Teller landen. Dafür sind wir alle.
({2})
- Wie ich sehe, hat mein Kollege sie schon vor Augen.
Die Regierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
verschiedene Gesetze bündelt. In der Zielbeschreibung
heißt es: Das Lebensmittelrecht soll transparenter, die
Anwendung vereinfacht werden. Dieser Zielsetzung
stimmen wir zu. Die Anhörung wird zeigen, ob dies tatsächlich erreicht wird. Für die FDP will ich auch noch
einmal hinzufügen: Wir wollen in einem solchen Gesetz
keine den Wettbewerb verzerrenden Vorschriften. Sie
sind durch nichts zu rechtfertigen.
Wir müssen leider feststellen: Wie immer versucht die
Bundesregierung unter dem Deckmantel der Umsetzung
einer EU-Richtlinie, den Wettbewerb verzerrende Vorschriften und Sonderregelungen einzuführen. Genau dieses lehnen wir ab.
({3})
Wir haben ein sehr hohes Maß an Lebensmittelsicherheit. Frau Hiller-Ohm, ich hätte mich gefreut, Sie
wären auch darauf einmal eingegangen, denn um unsere
Lebensmittel geht es. Jeder, der dieses leugnet, zerstört
bestehendes Vertrauen und verunsichert die Menschen.
Das kann nicht Ziel eines Verbraucherschutzes sein, der
die Eigenverantwortung der Bürger stärken will.
({4})
Alle Betriebe der Landwirtschaft und der Ernährungsindustrie sind sich ihrer hohen Verantwortung bewusst.
Das ist der beste Garant für eine durchgängig hohe Qualität der Lebensmittel. Wir können nämlich nicht alles
prüfen. Wir müssen darauf setzen, dass die Betriebe ihrer Verantwortung gerecht werden.
Vor diesem Hintergrund gibt es keinerlei Begründung
für die Einführung von Sonderregelungen in Deutschland, die die Position unserer Betriebe im Wettbewerb
schwächen. Wir brauchen vielmehr Rahmenbedingungen, die die Betriebe stärken, die so zum Erhalt der bestehenden Arbeitsplätze beitragen und die Möglichkeit
eröffnen, neue zu schaffen. Es entsteht einmal wieder
der Eindruck, die Regierung will die Misstrauenswelle
gegen Lebensmittel, die durch allgemeine Unsicherheit
gespeist wird, zu ihren Gunsten nutzen.
({5})
Lebensmittel werden so zu einem Spielball innerhalb ihrer politischen Strategie. Das lehnen wir ab.
({6})
- Das Thema ist ein wenig umfangreicher, als Sie es in
Ihrer Gläubigkeit an die Regierung überhaupt erfassen.
({7})
Das vorliegende Gesetz umfasst 150 Einzelermächtigungen für Verordnungen. Teilweise sollen durch Gesetze geregelte Tatbestände zukünftig über Verordnungen geregelt werden. Das lehnen wir ab.
({8})
Wir können erstens nicht erkennen, dass ein Gesetz mit
150 Verordnungen die Rechtsanwendung erleichtert. Wir
sind zweitens der Auffassung, dass eine so umfassende
Verlagerung der Regelungskompetenz vom Parlament in
die Hände der Regierung eine Entmachtung des Parlaments bedeutet. Dem können wir nicht zustimmen.
({9})
Drittens haben wir - das will ich auch hinzufügen - kein
Vertrauen darin, dass diese Regierung mit dieser Ermächtigung ordentlich umgeht.
({10})
- Das ist kein Unfug, sondern ein Erfahrungstatbestand.
Im Hinblick auf die Rechtsanwendung ist überhaupt
fraglich, ob die vorgenommene Bündelung von Gesetzen wirklich zu mehr Transparenz und einer Vereinfachung der Anwendung führt. Sollte nicht beispielsweise
ein originäres Gesetz für Tabakerzeugnisse entwickelt
werden, das im Namen deutlich macht, was geregelt
wird? Ist die Einbeziehung der Kosmetika in diesem Gesetz im Hinblick auf den Anwender des Gesetzes wirklich zielführend? Weiterhin haben wir eine Fülle von
Einzelregelungen, die im Vergleich zu Formulierungen
in anderen Ländern - es wurde schon auf das Beispiel
Österreich verwiesen - komplizierter sind und das Verständnis des Gesetzes erheblich erschweren.
Die FDP fordert eine sehr sorgfältige Gesetzesberatung mit einer umfangreichen Anhörung, um das Gesetz
vollzugsfähig zu gestalten. Nur so kann es seinem Ziel
gerecht werden, nämlich Transparenz zu schaffen und
die Rechtsanwendung zu erleichtern.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin manchmal sozusagen ganz
platt, wenn ich sehe, mit welcher unglaublichen Arroganz die Kolleginnen und Kollegen der FDP in ihren Reden real existierende Probleme ignorieren und sich über
den Verbraucherschutz hinwegsetzen. Wollen Sie Anarchie und großes Chaos? Genau das ist die Politik der
FDP.
({0})
So etwas darf es in der Verbraucherpolitik nicht geben.
Frau Mortler, wir wollen keine blühenden Landschaften versprechen. Wir wollen auch kein Buch, das man,
wie Gustav Herzog sagt, beim Einkaufen mitnimmt.
Dieses Gesetz für den Bereich des Lebensmittel- und
Futtermittelrechts stellt eine Anpassung an EU-Vorgaben dar. Es bedeutet sowohl eine deutliche Rechtsvereinfachung
({1})
als auch eine Strukturreform.
Selbstverständlich brauchen wir darüber hinaus weitere Maßnahmen. Frau Künast hat in diesem Zusammenhang einen langfristig angelegten und vorbeugenden
Verbraucherschutz skizziert. Er wird mit diesem Gesetz geschaffen: mit mehr Transparenz und mehr Sicherheit. Dieses Instrument ist Teil einer konsequenten Strategie, die wir gemeinsam fahren.
Darüber hinaus geht es natürlich um die Herkunft,
Herstellungsbedingungen und die Verwendung von Zusatzstoffen. In Bezug auf die Allergene muss es bis zum
November ebenfalls zu einer Umsetzung ins nationale
Recht kommen. Auch bei den Health Claims müssen wir
endlich vorankommen. Wichtig ist daneben die AVV
RÜb. Damit komme ich auf den Bundesrat zu sprechen.
Es kann doch angesichts der globalen Märkte einfach
nicht sein - da müssen Sie Farbe bekennen, sehr geehrte
Damen und Herren der Opposition -, dass die Länder
weiterhin Eigenbrötelei betreiben. Auch von Ihrer Seite
wird doch angesichts der globalen Märkte die Importproblematik immer wieder aufgezeigt. Wir teilen Ihre
Auffassung, dass es in der Lebensmittelüberwachung einen ungeheuren Koordinationsbedarf gibt. Genau dieser
Bedarf soll mit der AVV RÜb gedeckt werden. Damit
schaffen wir endlich - das war schon längst überfällig einheitliche Untersuchungsstandards. Ich bitte Sie inständig, morgen im Bundesrat Ihren Einfluss geltend zu
machen, dass wir diesen Teil des Verbraucherschutzes
endlich beschließen können.
({2})
Die anderen Anregungen des Bundesrates - die Informationsrechte hat meine Kollegin schon angesprochen nehmen wir gerne auf. Wenn der Bundesrat zu dem
steht, was er sagt, werden wir die Gespräche über das
Verbraucherinformationsgesetz weiterführen und entsprechende Maßnahmen umsetzen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Uda Heller, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren
auf den Tribünen! Neuordnung des Lebensmittel- und
Futtermittelrechts - das klingt wie eine Verheißung und
weckt große Hoffnungen, dass endlich vernünftige
Strukturen in das Dickicht dieses unübersichtlichen und
komplexen Bereichs kommen.
Wir alle wissen aus vielen Lebensmittel- und Futtermittelskandalen nur zu gut um die Komplexität dieses
Bereiches unserer Arbeit und die Schwierigkeiten, hier
vernünftige Eingriffsmöglichkeiten des Gesetzgebers zu
schaffen. Die Folge ist eine schier unüberschaubare Flut
von Richtlinien, nationalen und europäischen Gesetzen,
Verordnungen und anderen gesetzlichen Regelungen,
um diesen Bereich in den Griff zu bekommen. Hinzu
kommt, dass diese Regelungen international abgestimmt
werden müssen.
So ist der zugrunde liegende Gedanke dieses Gesetzes, dass das Herstellen von Futtermitteln ganz am
Anfang der Produktionskette von Lebensmitteln steht,
durchaus richtig und nachvollziehbar. Klar und unbestritten ist auch, dass dem Futtermittelhersteller damit
die gleiche Verantwortung für die Sicherheit und die Beschaffenheit unserer Nahrungsmittel zukommt wie dem
späteren Lebensmittelhersteller. Dennoch ist fraglich, ob
man diese beiden bislang eigenständigen Bereiche, die
auch in der Praxis, im Vollzug, in der Rechtsprechung, in
der Rechtsberatung und auch in der Überwachung deutliche Unterschiede aufweisen, einfach zusammenfügen
kann und soll, so wie Sie dies in dem vorliegenden Gesetzentwurf getan haben.
({0})
Ich weiß sehr wohl, Frau Ministerin Künast, wie
schwierig für Sie und Ihre Mitarbeiter die Aufgabe war,
die beiden großen Bereiche Futtermittel und Lebensmittel mit ihrer Vielzahl von Einzelregelungen in ein komplexes Gesetzeswerk zusammenzufügen, das sämtliche
Stufen in der Lebensmittelkette erfassen soll. Dennoch
sei angemerkt, dass dies durchaus schon früher und letztlich auch besser hätte geschehen können.
({1})
In diesem Bereich sind einige Bundesländer schon weiter, insbesondere Baden-Württemberg.
Den hochgesteckten Zielen einer Anpassung an das
Gemeinschaftsrecht sind Sie nach dem ersten Eindruck,
den Experten gewinnen konnten, leider nicht nachgekommen. Noch immer hapert es für viele Anwender an
der Transparenz und der Verständlichkeit; Frau HillerOhm, hier haben wir unterschiedliche Meinungen.
Ein weiterer Kritikpunkt sind die von Ihnen im Gesetzestext verwandten Definitionen. Hier weichen Sie des
Öfteren von den im europäischen Recht verwendeten
Definitionen ab, beispielsweise bei kosmetischen Mitteln oder bei Verarbeitungshilfsstoffen. Hierdurch sind
Probleme bei der Abstimmung des nationalen Rechts mit
dem europäischen Recht abzusehen, liebe Kollegen von
der Koalition. Besonders möchte ich hierbei die Hygienevorschriften erwähnen, für die Brüssel die Maßstäbe
festsetzt und nicht Berlin. Deshalb unsere Forderung an
die Bundesregierung: Gleichen Sie diese Vorschriften
unbedingt mit denen aus Brüssel ab! Ansonsten ist das
Chaos vorprogrammiert und davon haben wir zurzeit eigentlich genug.
({2})
Allein eine Orientierung an den in der EU-Verordnung
festgelegten Sicherheitsstandards würde die Übersichtlichkeit der Rechtsanwendung in einem ausreichenden
Maße gewährleisten.
Ein wenig Augenwischerei sehe ich bei diesem Gesetz aus einem Guss in einem weiteren Punkt: Auch
wenn Sie das neue Lebensmittel- und Futtermittelrecht
aus elf früheren Gesetzen geformt haben, so darf das
nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie einen Großteil
bisheriger gesetzlicher Vorschriften einfach auf die
Ebene von Verordnungen heruntergeholt haben; das haben auch schon einige Vorredner so gesehen. Hier stört
nicht nur uns die Flut von unklar gefassten Ermächtigungsgrundlagen zum Erlass von Rechtsverordnungen.
Man kann hierbei, wie ich meine, sicher nicht von Transparenz sprechen. Vielmehr sollten wir die Verordnungsermächtigungen auf ihre Erforderlichkeit hin überprüfen. Frau Hiller-Ohm, Sie haben gesagt, das sei nicht
nötig. Ich denke aber, Frau Happach-Kasan hat es richtig
dargestellt: 150 Einzelermächtigungen sind einfach zu
viel.
({3})
Sie verlagern damit zudem in bedenklicher Weise Regulierungskompetenzen von der Legislative zur Exekutive und schalten damit bei den so wichtigen Fragen des
Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit den
Bundestag einfach aus. Dies wird nicht nur von der Lebensmittelwirtschaft durchaus kritisch gesehen, Frau
Ministerin. Auch wir als Parlamentarier haben hier ein
Wörtchen mitzureden. Ich denke, hierüber wird in der
Anhörung im Oktober noch zu sprechen sein.
Unübersichtlich ist auch, dass sich in Ihrem Entwurf
wesentliche und zum Teil gleich gelagerte materielle
Vorschriften in unterschiedlichen Abschnitten befinden,
sodass die Reichweite mancher Verbote nicht immer eindeutig bis zum Anwender nachzuverfolgen ist. Transparenz und Rechtssicherheit stelle ich mir etwas anders
vor.
Erhebliche Probleme sehe ich auch beim Gesetzesvollzug. Ein bundeseinheitliches Vollzugsniveau stellt
der Gesetzentwurf in keinster Weise dar. Dies zeigt beispielsweise das Nebeneinander von § 39 und § 47 des
Entwurfes. Hier sind noch einige Klarstellungen vonnöten. Bei über 1 Million registrierter Lebensmittelbetriebe
sind im täglichen Gebrauch des Gesetzes schon jetzt verschiedene Missstände vorprogrammiert.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Fazit
festhalten: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist
im Kern zu begrüßen und richtig.
({4})
- Ich bin noch nicht fertig.
({5})
Denn der Gesetzentwurf geht entschieden zu weit. Im
Vorwort Ihres Gesetzes steht das Ziel der Vereinfachung
und Erleichterung. Diesem Ziel wird Ihr Gesetzentwurf
leider nicht gerecht, im Gegenteil.
Wir sollten uns im weiteren Gesetzgebungsverfahren
um mehr Übersichtlichkeit und Verständlichkeit bemühen, damit dieses neue Gesetz für Anwender tatsächlich
eine Erleichterung in ihrer Arbeit bringt. Auf Ihrer
Agenda, meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, steht doch das Wort „Entbürokratisierung“. Lassen Sie uns dies an diesem Gesetz beispielhaft durchführen. Wir arbeiten gern mit.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe, als
ich mir Gedanken darüber gemacht habe, was heute zu
diesem Gesetzentwurf zu sagen ist, rückschauend auf
meine eigene Biografie geblickt: Vor 24 Jahren habe ich
mich mit der gleichen Problematik beschäftigt. Damals
befand ich mich im Staatsexamen und habe mich mit
dem Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, dem
Futtermittelgesetz, dem Lebensmittelbuch und dem
Fleischhygienegesetz beschäftigt. Für viele war es
wirklich ein Grauen, sich mit dieser Materie auseinander
setzen zu müssen.
({0})
Einige meiner damaligen Kommilitonen sind aus diesem
Grunde gar nicht erst zur Prüfung angetreten. Ich halte
es von daher schon für einen erheblichen Fortschritt,
dass sich die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen
meines Berufsstandes im nächsten Jahr nur noch mit einem einzigen Gesetz zu beschäftigen haben.
Aber Spaß beiseite. Kommen wir nun, abweichend
von den Debattenbeiträgen, die wir heute gehört haben,
zum eigentlichen Kern der Angelegenheit und lassen wir
die politischen Plattitüden einmal ein bisschen außen
vor.
({1})
- Das ist eine Aufforderung, die im Allgemeinen gilt.
Ich selber habe vielfach erlebt, welche dramatischen
Auswirkungen gerade Kontaminationen von Futtermitteln haben, und zwar lange vor BSE. In meiner Praxis
zum Beispiel hat es einen Fall mit Lindan gegeben. Davon waren, wie ich glaube, zehn Betriebe betroffen; sie
konnten dauerhaft keine Milch abliefern. Damals gab es
keine entsprechenden gesetzlichen Regelungen, zum
Beispiel keine vernünftigen Höchstgrenzen für Futtermittel. Das ist zwar schon einige Jahre her - zwischenzeitlich ist in diesem Bereich einiges in der Gesetzgebung erfolgt -, zeigt aber, dass sich letztendlich auch der
gesetzgeberische Prozess, den wir hier zu vollziehen haben, den Gegebenheiten anpassen muss. Dies ist die
Folge dessen, was wir im Rahmen der Futtermittelskandale und auch von BSE erlebt haben.
Wer sich das Weißbuch der EU angesehen hat, der
weiß, dass dies die Grundlage für all das ist, was wir umsetzen. Es ist auch die Grundlage für die Betrachtungsweise, die wir zwischenzeitlich entwickelt haben. Wir
sehen die einzelnen Bereiche auch im Rechtssystem
nicht mehr solitär, sondern fassen die verschiedenen Bereiche zusammen, weil es sinnvoll ist, vom Anfang bis
zum Ende zu denken. Bei Ihnen habe ich manchmal das
Gefühl, dass Sie gelegentlich nicht über den Anfang hinaus denken.
({2})
Wer sich die Komplexität dieser Materie anschaut,
der erkennt, dass man die Vorgaben, die man vereinfachen möchte, nicht zu viel vereinfachen kann. Ansonsten
wird es bei der Umsetzung ein Problem geben. Wir
haben in diesem Zusammenhang kein Problem bei der
Gesetzgebung. Das Problem liegt ganz woanders. Das
Problem liegt in der Umsetzung vor Ort, in der Überwachung, also im Wesentlichen auf der Ebene der Länder.
Darüber können wir uns lange unterhalten.
Ich nenne als Beispiel die AVV RÜb. Wir haben lange
darüber gestritten und es wird immer noch darüber gestritten. Ich nehme einmal an, dass es jetzt zu einem guten Ende kommen wird. - In diesen Bereichen steckt das
eigentliche Problem, das wir im Augenblick beim Verbraucherschutz haben. Es geht darum, dass länderübergreifend nach einem Gesamtkonzept, basierend auf gemeinsamen Grundlagen, Verbraucherschutz und auch
Kontrolle betrieben werden.
Es mangelt doch schon bei den Veterinärämtern, wo
die Kolleginnen und Kollegen den einen oder anderen
Lebensmittelkontrolleur abgezogen bekommen, und das
bei steigenden Vorgaben. Das ist nicht die Ebene, über
die wir diskutieren. Ich möchte nur einmal darauf hinweisen, wie die Realität faktisch aussieht. Ich selber
habe jahrelang im Rahmen des Fleischhygienegesetzes
entsprechende Kontrollen vorgenommen. Ich kann Ihnen
sagen, wie das aussieht. Die Probleme stecken im Detail.
Deshalb ist es sinnvoll, diese beiden Bereiche - im
Wesentlichen geht es um Futtermittelrecht und Lebensmittelrecht - so zusammenzuführen, wie wir es jetzt tun.
Die Tatsache, dass andere Bereiche wie die Bedarfsgegenstände dabei einbezogen werden, ergibt sich aus der
Tradition des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes. Das wollen wir hier nicht vollständig vom Tisch
wischen; es ergibt sich aus unserer Rechtsetzungssystematik. Aus diesem Grunde ist die im Augenblick vorgesehene Vorgehensweise mehr als sinnvoll.
Probleme mit diesem Gesetzentwurf habe natürlich
auch ich, so mit § 40, der Möglichkeit zur Tötungsanordnung bei Tieren, denen wissentlich oder unwissentlich Substanzen verabreicht worden sind, die letztendlich unter die Kategorie Arzneimittel fallen und nicht zur
Anwendung kommen dürfen. Konkret finde ich es problematisch, wenn allein das Faktum der Anwendung eines Mittels wie Clenbuterol - das hatten wir alles schon
einmal -, das im Bereich der Humanmedizin zugelassen
ist, hundertprozentig verstoffwechselt wird und keine
Rückstände hinterlässt, die Tötung rechtfertigt. Hierbei
stellt sich für mich auch als Tierschutzbeauftragten die
Frage, ob es moralisch zu rechtfertigen ist, ein Tier nur
aufgrund der Tatsache ins Jenseits zu schicken, dass ihm
jemand etwas unerlaubt gefüttert hat.
({3})
Das könnte man vielleicht im Rahmen all dieser Vorgänge noch einmal angehen.
Wichtig ist, dass wir hier das Prinzip der Aktionsgrenzwerte verankern. Das bedeutet Tätigwerden im
Vorfeld, sodass wir hier im Rahmen des Futtermittelrechts das Vorsorgeprinzip ebenso konsequent wie in anderen Bereichen umsetzen. Wenn man schon im Vorfeld
bei dem einen oder anderen Produzenten tätig werden
kann, bei dem es Probleme gibt - selbst wenn die Grenzwerte nicht erreicht werden -, hilft dies, wirtschaftliche
Schäden zu verhindern.
Darüber hinaus sollte man unter Umständen auch darüber nachdenken, unsere gesamte Struktur der Lebensmittel- und der Futtermittelüberwachung, die man jetzt
zwangsläufig zusammenführen muss, entsprechend neu
zu organisieren, um sie den modernen Erfordernissen
anzupassen. Das in der Verwaltung bestehende System
rührt von Anfang bzw. Mitte der 50er-Jahre her. Insofern
ist es an der Zeit, einmal darüber nachzudenken, nicht
nur das Gesetz zu novellieren, sondern auch die Systematik der Lebensmittelüberwachung zu modernisieren.
Hinsichtlich dieser Überwachungsvorgänge muss dem
Bund meiner Einschätzung nach ein größeres Maß an
Kompetenz und Verantwortung zukommen.
In diesem Sinne möchte ich Sie, meine Damen und
Herren, bitten, dieses Gesetz mitzutragen und sich hier
nicht querzulegen. Dieses Gesetz ist sinnvoll. Es wird
sich auch in der Zukunft bei seiner Umsetzung als sehr
praktikabel erweisen; davon bin ich überzeugt.
Vielen Dank.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ursula Heinen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal eine Anmerkung zum Thema
Verbraucherinformationsgesetz, weil dies vorhin in der
Debatte angesprochen worden ist: CDU und CSU haben
im Frühjahr vergangenen Jahres einen Antrag zugunsten
einer besseren Verbraucherinformation in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Dieser Antrag von uns, der auch
Eckpunkte für ein Verbraucherinformationsgesetz vorsah, wurde von Ihnen abgelehnt und niedergestimmt.
Wir hatten kaum eine Aussprache dazu und wir warten
bis heute auf die erneute Vorlage eines Entwurfs für ein
Verbraucherinformationsgesetz.
({0})
Vonseiten der Bundesregierung ist in dieser Legislaturperiode bislang nichts dergleichen erfolgt. Wir stehen zu
Gesprächen darüber bereit,
({1})
aber Sie scheinen es tatsächlich nicht zu wollen.
({2})
Aber da uns jetzt ein Gesetzentwurf vorliegt, hat das
Land Baden-Württemberg in der Bundesratsdebatte einen Vorschlag zur Verbraucherinformation gemacht, den
man aufnehmen kann. Dieser Vorschlag umfasst eine
wesentlich umfassendere Informationsregelung, als das
heute der Fall ist; denn im vorliegenden Entwurf zieht
sich die Bundesregierung auf EG-Recht zurück und sagt,
eine Information der Öffentlichkeit unter Nennung von
Produkt- oder Herstellernamen sei nur als Maßnahme
zur Gefahrenabwehr möglich, also nur dann, wenn der
hinreichende Verdacht eines Risikos für die Gesundheit
von Mensch oder Tier besteht. Namens des Landes Baden-Württemberg schlägt Minister Stächele wiederum
vor, jetzt Vorschriften in das Gesetz aufzunehmen, die
sich bereits seit 1991 im Verwaltungsvollzug beispielsweise in Baden-Württemberg bestens bewährt haben.
Dies ist auch in der Stellungnahme des Bundesrates zu
lesen. Es wäre sinnvoll, wenn Sie sich dem anschlössen
bzw. sich damit auseinander setzten.
Wir stimmen Ihnen zu, dass die Entwicklung des Lebensmittelrechts in den letzten 20 Jahren zu einem komplizierten Nebeneinander verschiedener nationaler und
europäischer Gesetze geführt hat. Es ist in der Tat
höchste Zeit, hier eine Flurbereinigung vorzunehmen.
Doch die Umsetzung der zugrunde liegenden europäischen Verordnungen in den vorliegenden Gesetzentwurf
entspricht in weiten Teilen in der jetzt vorliegenden Fassung überhaupt nicht unseren Vorstellungen; denn der
praktische Umgang und die Orientierung innerhalb dieses Regelwerkes sind sehr schwierig: so schwierig, dass
von Transparenz, einfacher Handhabung und Anwenderfreundlichkeit keine Rede mehr sein kann.
({3})
Es gibt über eine Million registrierter Lebensmittelbetriebe in Deutschland, die mit diesem Gesetz umgehen
müssen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband
führte in einer ersten Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf aus:
Erhebliche Probleme haben wir … mit der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit des Gesetzestextes insgesamt.
({4})
Ich nenne Ihnen gern ein Beispiel, das auch meine
Kollegin Mortler eben schon erwähnt hat und das deutlich macht, wie schwierig es für die Verbraucher wird,
dieses Gesetz zu lesen. Am Anfang des Gesetzes werden
Lebensmittel definiert:
Lebensmittel sind Lebensmittel im Sinne des
Artikels 2 der Verordnung ({5}) Nr. 178/2002.
({6})
- Haben Sie das verstanden, Herr Herzog? Dann erklären Sie es mir doch bitte einmal.
({7})
Wenn Sie diesen Gesetzentwurf so verabschieden,
dann muss der Verbraucher bzw. der Lebensmittelbetrieb
immer einen Juristen an der Hand haben, der ihn durch
dieses Gesetz führt.
({8})
Sie werben mit einer Verringerung von 200 auf
72 Paragraphen. Aber selbst diese wenigen Paragraphen
müssen auch von den Unternehmen und den Verbrauchern, also von den Anwendern, verstanden werden. Ansonsten ist die vorgebliche Vereinfachung nur eine Mogelpackung.
({9})
Die Einzelermächtigungen sind schon erwähnt worden. Hier findet eine Beteiligung des Parlaments nicht
statt. Das ist Ihr Demokratieverständnis. Aber auch hier
gibt es eine Ihnen nahe stehende Organisation, die dies
kritisiert. Ich zitiere Foodwatch, die nicht uns nahe stehen, sondern eher für die Grünen als Beispiel herhalten:
Der Gesetzentwurf enthält großzügige ministerielle
Verordnungsermächtigungen.
({10})
- Ich zitiere weiter; hören Sie gut zu.
Ob ein höheres Schutzniveau erreicht wird, hängt
damit von Verwaltungsakten ohne parlamentarische
Kontrolle ab.
Dies sagt Foodwatch.
({11})
Nun noch ein letzter Punkt: Zurzeit gibt es noch ein
erhebliches Durcheinander von faktisch nebeneinander
stehenden Aufhebungen und vorläufigen Fortgeltungen
von Gesetzen. So heißt es einmal, das Säuglingsnahrungswerbegesetz werde aufgehoben, wenig später wird
es für fortbestehend erklärt, bis von der Verordnungsermächtigung Gebrauch gemacht worden ist. Sie sehen,
dieses Gesetz ist in der jetzt vorliegenden Fassung ein
wirkliches Durcheinander, das überhaupt nicht zur Klarheit beiträgt.
({12})
Deshalb gibt es jetzt auch Kritik von allen Seiten: von
Foodwatch über die Verbraucherzentralen bis hin zum
Bauernverband.
({13})
Sie alle haben Ihnen schon oft geschrieben, wo es schief
läuft.
({14})
Daher kann ich Ihnen zum Schluss nur empfehlen, die
Vorschläge anzunehmen, die der Bundesrat in einer umfangreichen Stellungnahme gemacht hat. Wir sind bereit,
sie mit Ihnen entsprechend einzuarbeiten.
({15})
Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden es Ihnen
danken, wenn es zu einem anwender- und leserfreundlichen Gesetz käme.
Danke schön.
({16})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/3657 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({0}), Eduard Oswald, Dr. Klaus
W. Lippold ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Luftverkehrsstandort Deutschland sichern
- Drucksache 15/3312 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
2002 gab es auf deutschen Flughäfen 137 Millionen
Fluggäste. Nahezu alle Bevölkerungsschichten nutzen
heute das Flugzeug. Die Benutzung des Flugzeugs ist,
nicht zuletzt durch die Billiganbieter, erschwinglich geworden und trägt ganz selbstverständlich zur beruflichen
und privaten Mobilität bei. Darüber hinaus besteht ein
enger Zusammenhang zwischen Luftverkehr und Wohlstand. In Flughafenregionen liegen die Einkommen weit
über dem Landesdurchschnitt, die Arbeitslosenquote
deutlich darunter. Rund 750 000 Arbeitsplätze hängen
direkt oder indirekt vom Luftverkehr und der Luftfahrtindustrie ab. Dabei ist die Tourismusbranche noch nicht
einmal berücksichtigt.
Die Luftfahrtbranche ist heute eine der wenigen Jobmaschinen. Die Mitarbeiterzahlen steigen kontinuierlich. Dabei gelten folgende Faustformeln: 1 Million zusätzliche Fluggäste schaffen rund 1 000 neue Jobs; im
Frachtbereich sorgen 100 000 Tonnen zusätzliche Fracht
für rund 2 600 neue Jobs.
Außerdem besitzt die Luftverkehrsbranche eine herausragende Bedeutung für unseren Status als zweitgrößte Exportnation dieser Welt: Wertmäßig werden
rund 40 Prozent der deutschen Ausfuhren per Luftfracht
abgewickelt.
Die positive Wirkung der Luftverkehrswirtschaft auf
Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung dürfte damit
wohl unbestritten sein. Ohne einen leistungsfähigen
Luftverkehr kann Deutschland im globalen Wettbewerb
nicht bestehen. Daher müssen wir alles tun, um den LuftNorbert Königshofen
verkehrsstandort Deutschland zu sichern, nicht zuletzt
deshalb, weil Wirtschaftsexperten gerade jetzt von einer
entscheidenden Phase in der Entwicklung der globalen
Luftverkehrswirtschaft sprechen. Für Daniel Stelter,
Flughafenexperte bei der Boston Consulting Group,
werden - ich zitiere - „die internationalen Flughafenmärkte jetzt verteilt“.
Dabei entscheiden zunehmend die Fluggesellschaften bzw. Allianzen wie Star Alliance, One World oder
Wings, wo der internationale Luftverkehr startet und landet. Sie wählen den in ihrem Sinne besten Flughafen aus.
Daher müssen unsere internationalen Drehkreuze, unsere Hubs Frankfurt und München bedarfsgerecht ausgebaut werden.
({0})
Ansonsten verlieren wir im internationalen Wettbewerb entscheidend an Boden, zumal unsere Flughafenkapazitäten schon jetzt nicht mehr ausreichend sind. Das
gilt besonders für das Drehkreuz Frankfurt.
Eine Studie der Boston Consulting Group warnt
gleichzeitig aber auch davor, unkoordiniert öffentliche
Mittel in Regionalflughäfen zu investieren. Der Grund:
Die meist dort ansässigen Billigfluggesellschaften sind
in ihrer Flugplangestaltung nicht stetig. Dementsprechend ist es für die Regionalflughäfen schwierig, überhaupt in die Gewinnzone zu kommen. Wir beobachten
zurzeit, dass überall dort, wo früher Militärflughäfen waren, die Gemeinden glauben, durch die Ansiedlung von
Billigfliegern ein Geschäft zu machen. Das wird auf
Dauer nicht gehen.
({1})
Da ist natürlich die Regierung gefragt, da ist der Bund
gefragt. Wir fordern deswegen die Bundesregierung auf,
im Rahmen der Luftverkehrsinitiative Deutschland einen
Masterplan vorzulegen. Das Ziel muss eine bundesweite,
mit den Ländern abgestimmte, verbindliche Flughafenplanung sein.
Nachdrücklich unterstützen wir auch das Vorhaben,
das Fluglärmgesetz von 1971 zu novellieren. Die darin
festgelegten Grenzwerte werden dem veränderten Verkehrsaufkommen und dem gestiegenen Lärmbewusstsein der Menschen nicht mehr gerecht. Sie müssen angepasst werden, zumal auch deutsche Gerichte die
Grenzwerte schon längst für unzureichend erklärt haben.
Allerdings kommt die Bundesregierung ihrem 1998 abgegebenen Versprechen, das Gesetz endlich zu novellieren, bis heute nicht nach. Offensichtlich kann sich das
Kabinett seit sechs Jahren nicht auf einen gemeinsamen
Vorschlag einigen. Auch der jetzt vorliegende Referentenentwurf ist bisher nicht abgestimmt. Er trägt einmal
mehr die einseitige, ideologische Handschrift des Herrn
Trittin. Die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls wird diesem
Entwurf nicht zustimmen.
({2})
Hier muss nachgearbeitet werden.
({3})
Dazu biete ich unsere Mitarbeit an.
Von Ihrem grünen Koalitionspartner wird ja in regelmäßigen Abständen die Forderung nach Einführung einer Kerosinsteuer ins Spiel gebracht. Die Begründung
lautet, dass sich der Luftverkehr durch die Steuerfreiheit
auf Flugbenzin vermeintliche Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Verkehrsträgern erschleiche.
({4})
Das ist nachweislich falsch.
Richtig ist hingegen, dass sich der Luftverkehr als
einziger Verkehrsträger ausschließlich nach dem Nutzerprinzip über Gebühren und Entgelte finanziert und dadurch seine Kosten für die Benutzung von Flughäfen, für
die Flugsicherung und den Wetterdienst abdeckt. Die
Einführung einer Kerosinsteuer würde daher zu einer
Doppelbelastung des Luftverkehrs durch Gebühren und
Steuern führen. Das würde die deutschen Luftverkehrsunternehmen benachteiligen, Arbeitsplätze kosten und
letztlich auch die Fluggäste belasten. Kurzum: Die Einführung einer Kerosinsteuer wäre ein Desaster für die
deutsche Luftverkehrswirtschaft und für die deutsche
Wirtschaft insgesamt. Zudem wäre Deutschland dann
das einzige Land, in dem es diese Steuer gibt.
Durch unseren Antrag wollen wir den Luftverkehrsstandort sichern. Wir wollen erreichen, dass die deutsche
Luftverkehrswirtschaft ihre internationale Bedeutung
festigen und ausbauen kann. Wir wollen erreichen, dass
der Luftverkehr seine Schlüsselfunktion für den Export
sichern und ausbauen kann. Wir wollen erreichen, dass
die deutsche Luftverkehrswirtschaft ihre nationale Rolle
als Wohlstands- und Jobmotor verstetigen und ausbauen
kann.
({5})
Daher bitte ich Sie, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, um Ihre Unterstützung. Stimmen
Sie unserem Antrag zu!
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nina Hauer, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Unionsfraktionen!
Sie haben einen netten Antrag vorgelegt.
({0})
Darin fordern Sie die Bundesregierung auf, sich für den
Ausbau des Frankfurter Flughafens einzusetzen. Sie
sagen, dies sei eine „Infrastrukturmaßnahme von nationaler Bedeutung“.
({1})
Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Diese Auffassung
teile ich.
({2})
Denn der Flughafen Frankfurt ist, wenn man die Zahl
der Passagiere zugrunde legt, der zweitgrößte Flughafen
in Europa; er ist der größte Frachtflughafen, den es in
Europa gibt, und mit den 62 000 Menschen, die dort arbeiten, die größte Arbeitsstätte Deutschlands.
Ich bin eine Abgeordnete, die aus der Rhein-MainRegion kommt. Ich unterstütze den Ausbau des Flughafens ausdrücklich.
({3})
Denn in dieser Region lebt die Hälfte der Menschen in
Hessen. Zwei Drittel der hessischen Arbeitsplätze bestehen dort und drei Viertel des hessischen Bruttosozialprodukts werden in der Rhein-Main-Region erwirtschaftet.
An dieser wirtschaftlichen Leistung hat der Frankfurter
Flughafen als Verkehrsdrehkreuz und als Wirtschaftsmotor erheblichen Anteil. Der Ausbau des Flughafens
wird diesen Umstand zusätzlich befördern.
Aber Sie verkennen völlig den Adressaten Ihres Antrags. Sie fordern die Bundesregierung auf, sich dafür
einzusetzen, dass der Flughafen ausgebaut wird. Dabei
ist die Bundesregierung für das Planungsverfahren nicht
verantwortlich.
({4})
Verantwortlich dafür ist das CDU-geführte Land
Hessen.
({5})
Auch ist die Bundesregierung nicht für die erheblichen
Planungsfehler, die dort gemacht werden, verantwortlich. Verantwortlich dafür ist das CDU-regierte Land
Hessen.
({6})
Ebenfalls ist die Bundesregierung nicht verantwortlich
dafür, dass Verzögerungen eingetreten sind, die dem
Flughafenausbau schon seit zwei oder drei Jahren im
Wege stehen. Verantwortlich dafür ist die CDU-Regierung in Hessen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der hessische Ministerpräsident Roland Koch ist der eigentliche Adressat
Ihres Antrags. Denn er und nicht die Bundesregierung
hätte dazu beitragen können, dass der Flughafen Frankfurt schneller ausgebaut wird.
Ende März dieses Jahres hat die Europäische Kommission dem Land Hessen bescheinigt, dass sein Plan
der Flughafenerweiterung, die Nordwest-Variante, nicht
mit europäischem Recht zu vereinbaren ist. Die „Störfall-Kommission“ des Bundes hat das auch bestätigt.
Nun liegt ja Wiesbaden bekanntermaßen näher am
Frankfurter Flughafen als Brüssel, aber muss denn erst
ein Rüffel aus Brüssel kommen, damit der hessische Ministerpräsident sieht, dass er da einen erheblichen Fehler
gemacht hat, der zu Verzögerungen führt? Das passt, mit
Verlaub, nicht zu den Ausführungen, die Sie hier machen, nämlich dass Sie den Luftverkehr in Deutschland
unterstützen.
Am Ende wird es so sein, dass wir auf den Ausbau
Jahre länger warten müssen, weil Schlampereien, Fehleinschätzungen und offensichtlich auch riesige Tomaten
auf Ihren Augen dazu geführt haben, dass die hessische
Landesregierung das Planungsverfahren an die Wand gefahren hat, weil das Chemiewerk Ticona, das bei der
Nordwest-Variante im Wege steht, dem hessischen Ministerpräsidenten vorher nicht in den Sinn gekommen
ist.
({8})
Er hat ja vorgeschlagen, die Eigner zu enteignen. Liebe
Kollegen von der CDU/CSU, da kann ich nur sagen:
Wenn das die „neue soziale Marktwirtschaft“ Ihrer Parteivorsitzenden ist, dann wünsche ich viel Vergnügen.
({9})
Der hessische Wirtschaftsminister hat zu diesem ganzen
Verfahren nichts anderes zu sagen als „Gründlichkeit
geht vor Schnelligkeit“. Das ganze Verfahren ist gründlich verdorben, lieber Herr Rhiel. Darunter leiden wir
alle, vor allen Dingen das Bundesland Hessen, aber auch
die Bundesrepublik Deutschland. An diesem Infrastrukturprojekt zeigen Sie, dass Sie nicht in der Lage sind,
Wirtschaftspolitik so zu gestalten, dass ein Land auch
zukunftsfähig wird.
Ein weiteres Beispiel sind die neuerlichen Urteile des
Verwaltungsgerichtshofs zu Planung und Ausbau der
Halle für den Airbus A380. Auch das haben Sie verzögert, in diesem Falle durch juristische Schlampereien innerhalb des hessischen Wirtschaftsministeriums. Das
wird zu einer neuerlichen Debatte darüber führen, ob die
Lufthansa ihre Halle nicht lieber gleich in Bayern baut.
Wenn Sie dem bayerischen Ministerpräsidenten Wirtschaftshilfe leisten wollen, kann ich das aus Ihrer Sicht
verstehen - aus hessischer Sicht kann ich das nicht begrüßen. Ich plädiere dafür, dass Sie sich an die eigene
Nase fassen und dafür sorgen, dass Ihr Parteifreund
Roland Koch dieses Verfahren so gestaltet, dass wir uns
in Zukunft darauf verlassen können, dass die Planung ordentlich läuft. Wir brauchen den Ausbau des Flughafens,
für Hessen, aber auch für die Bundesrepublik Deutschland.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann für die FDP dem, was Sie, Herr Kollege
Königshofen, über die Bedeutung der Luftfahrt in
Deutschland gesagt haben, in weiten Teilen vorbehaltlos
zustimmen. Ich gebe allerdings zu, ich habe ein paar
Probleme mit den von Ihnen aufgestellten Forderungen.
Auch wenn Kollegin Hauer die Tatsachen, was den
Flughafen Frankfurt angeht, geschickt verdreht hat, so
muss Folgendes schon nachdenklich machen: Als die Erweiterung des Chemiewerkes anstand, hat der Gutachter
die Frage, ob der Flughafen ein Gefahrenpotenzial darstellt, im Planfeststellungsverfahren verneint; jetzt, da
umgekehrt der Flughafen eine neue Landebahn plant,
stellt derselbe Gutachter das bestehende Chemiewerk
auf einmal als große Gefahrenquelle dar - und das, obwohl schon bei der bestehenden Situation über das Chemiewerk angeflogen wird. Da feiert die Ideologie natürlich fröhliche Urständ. So einseitig sollte man es nicht
darstellen.
({0})
Völlig unabhängig davon ist die Entscheidung, wo die
Lufthansa letztendlich ihre Hallen für den Airbus A380
platziert. Das ist natürlich zum einen eine Entscheidung
des Flughafens, aber es ist auch eine Entscheidung des
Unternehmens. Die Flugzeuge der Typklasse A380 werden dort stationiert werden, wo die Wartungshalle in absehbarer Zeit installiert werden kann. Das muss man natürlich abwägen. Wenn das Land Hessen, wie gesagt
- insofern teile ich Ihre Meinung, Frau Hauer -, nicht zu
einer rechtzeitigen Planfeststellung kommt, ist niemand
daran zu hindern, schon gar nicht die Lufthansa, zu überlegen, ob sie diese Hallen nicht zum Beispiel am zweiten
Hub in Deutschland, in München, installiert. Das ist aber
eine Entscheidung, die das Unternehmen treffen muss.
Nun bin ich im Detail bei den Überlegungen der Kollegen von der Union. In mehreren Spiegelstrichen stellen
Sie in dem zu debattierenden Antrag Forderungen auf,
so zum Beispiel:
den Ausbau des Flughafens Frankfurt/Main als Infrastrukturaufgabe von nationaler Bedeutung zu unterstützen.
Was heißt das, liebe Freunde? Sollen wir das planungsrechtlich machen? Das können wir nicht. Dafür haben
wir keine Zuständigkeit; das hat die Kollegin Hauer richtigerweise dargestellt. Sollen wir es finanziell machen?
Das können wir auch nicht. Dafür fehlt die Gesetzesgrundlage. Ideell können wir es gerne machen; das haben wir auch schon. Es wird aber nichts weiter nützen,
da es irgendwann entschieden werden muss.
Ich habe allerdings nichts dagegen, aus den ganzen
Initiativen, Masterplänen und sonstigen Vorschlägen betreffend die Luftfahrt - vieles davon ist Semantik - ein
in sich stimmiges Konzept zu machen, das dem Bund in
diesen Fragen mehr Kompetenz zubilligt; denn wir sind
ja ohnehin gefragt, wenn es darum geht, Straßen, Autobahnen und Schienenwege zu bauen. Hier müssen wir
dann tatsächlich tätig werden. Deswegen halte ich das
für eine der entscheidenden Fragen. Man muss sie aber
detailliert beantworten.
Es ist auch schon angesprochen worden, dass wir
noch etwas anderes zu klären haben. Wir müssen dafür
sorgen, dass die neue Gesetzgebung zum Lärm die
Luftfahrt in Deutschland nicht verhindert, sondern ein
Auskommen im wohl ausgewogenen Interesse zwischen
der Luftfahrt, den Flughäfen und den Anwohnern
schafft, das über das hinausgeht, was in dem ersten Referentenentwurf des Umweltministeriums vorgelegt
wurde. Dies würde nämlich die Verhinderung von Luftfahrt bedeuten. Dazu geben wir uns nicht her; das muss
verändert werden. Den Antrag der CDU/CSU muss man
sicherlich noch ein wenig unterfüttern, um ihn wirklich
ernsthaft beraten zu können.
Danke sehr.
({1})
Das Wort hat der Kollege Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich mit einem für manche von Ihnen vielleicht überraschenden Bekenntnis beginnen:
Auch wir Grünen wissen, dass Flugverkehr in modernen
Gesellschaften wichtig und notwendig ist.
({0})
Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Die meisten von uns
wissen, dass man nicht mit dem Fahrrad nach Amerika
kommt,
({1})
und kaum einer fährt mit dem Zug von Berlin nach
Istanbul.
({2})
Ein solches Bekenntnis muss sein. Sie haben Recht, die
Luftfahrt ist ökonomisch bedeutungsvoll.
Ich komme jetzt zu unserem Herzensanliegen. Wenn
man über den Flugverkehr in Deutschland spricht, ist es
nicht angemessen, dies ausschließlich aus der Perspektive und durch die Brille einer Standortpolitik zu tun. In
Ihrem Falle kommt noch hinzu, dass Sie einen Antrag
geschrieben haben, in dem manche Sätze identisch sind
mit den Ausführungen des Vorsitzenden der Fraport, die
er im Verkehrsausschuss getätigt hat. Ich muss sagen:
Das ist ein völlig falsches Verständnis von Verkehrspolitik, eine einseitige und verkürzte Sichtweise auf die
Standortinteressen und auf die Wirtschaft. Sie blenden
dabei das aus, was auch zum Flugverkehr gehört, dass
Flugverkehr nämlich umweltbelastend ist, dass die
Menschen, die im Umfeld von Flughäfen wohnen,
schwere Belastungen beim täglichen Leben erfahren und
dass Luftverkehr auch klimaschädliche Aspekte hat.
Darüber müssen wir genauso reden.
Wenn wir über eine Perspektive nachdenken - ich
teile hierbei Ihre Einschätzung, dass es in den nächsten
Jahren zu einem weiteren starken Wachstum des Flugverkehrs kommen wird -, kann diese nur lauten: Wir
müssen den Flugverkehr nachhaltig, sozialverträglich,
umweltverträglich und ökonomisch sinnvoll gestalten.
({3})
Was heißt das jetzt? Ich komme nun zu den Vorschlägen in Ihrem Antrag. Ich bin wie Sie durchaus der Meinung, dass es ein wichtiger Schlüssel zur Lösung des
Problems ist, die Verkehrsmittel - Schiene und Flughäfen - besser miteinander zu verzahnen. Die Flughäfen
müssen auch über die Schiene besser miteinander verbunden werden. Es gibt einige gute Aspekte - das gilt
beispielsweise für die Strecke Frankfurt-Köln -, es gibt
aber auch noch einiges zu tun.
({4})
- Es ist ein teures Beispiel, da haben Sie Recht; es ist
aber kein schlechtes Beispiel.
({5})
Ich teile Ihre Einschätzung, dass wir einen Masterplan brauchen; das ist keine Frage. Durch einen Masterplan müssen wir dafür sorgen, dass endlich Schluss mit
dem Provinzialismus gemacht wird, dass nämlich jeder
Landrat auf irgendeinem ehemaligen Militärflughafengelände einen eigenen privaten oder regionalen Flughafen entstehen lässt. Wir brauchen nicht noch mehr Regionalflughäfen.
({6})
Es muss auch Schluss mit der unsinnigen Konkurrenz
unter den Flughafenbetreibern und mit billiger Standortpolitik für einen Standort gemacht werden. Ich finde es
nicht angemessen, dass man vor allen Dingen über den
Flughafen Frankfurt spricht, wenn man über den Flugverkehr in Deutschland redet.
({7})
Es geht darum, die verschiedenen Verkehrsträger besser
aufeinander abzustimmen und dafür die entsprechenden
Instrumente zu entwickeln.
Jetzt komme ich zu dem Punkt, der schon angesprochen wurde, nämlich dass wir Grünen wieder einmal die
Einführung der Kerosinsteuer fordern. Es ist doch unerträglich, dass die Autofahrer und selbst die Bahnfahrer
Mineralölsteuer und Ökosteuer zahlen, also einen finanziellen Beitrag für die Belastung der Umwelt durch den
Verkehr leisten. Aber der Verkehrsträger, der die Atmosphäre, in Relation betrachtet, am meisten belastet und
besonders klimaschädlich ist, ist von der Steuer befreit.
Das kann ökologisch und auch ökonomisch nicht gut
sein.
({8})
Wir müssen dem Flugverkehr die externen Kosten ein
Stück weit anlasten.
Ich komme zu der Behauptung, die immer wieder aufgestellt wird: Der Flugverkehr trägt sich doch selber,
während für den Ausbau der Infrastruktur bei Bahn und
Straße immer wieder Geld zur Verfügung gestellt wird.
Dazu kann ich nur sagen: Da gibt es einen kleinen Unterschied. Das Geniale beim Fliegen ist, dass in den Wolken keine Infrastruktur benötigt wird, die daher auch
nicht bezahlt werden muss. Für das Fliegen wird nur der
Flughafen gebraucht, das entspricht in etwa dem Bahnhof. Für den Flughafen ist zwar die Zufahrt wichtig, aber
die entsprechende Infrastruktur ist in der Regel öffentlich. Insofern ist es nicht ehrlich, zu sagen, dass sich der
Flugverkehr selbst trägt. Die Zufahrt zum Flughafen ist
Teil der öffentlichen Infrastruktur, die gefördert wird. Es
wäre gut, wenn die Flugwirtschaft selber einen Teil der
Kosten dadurch bezahlt, dass sie sich daran beteiligte.
({9})
Wir sind auch der Meinung, dass die Privilegierung
des Flugverkehrs bei der Mehrwertsteuer endlich aufgehoben werden muss. Wir haben zwar im Bundestag
verabschiedet, dass die Privilegierung aufgehoben wird,
aber Sie haben die Umsetzung im Bundesrat mit Ihrer
Mehrheit blockiert. Hier können Sie für Gleichheit sorgen. Sie können etwas für die Bahn tun, indem Sie auch
den Flugverkehr belasten. Wir würden das dann eingenommene Geld gerne dafür verwenden, den Mehrwertsteuersatz für die Bahn zu senken.
({10})
Es gibt ein schönes Projekt, das wir vom Bundestag
unterstützen können. Ich meine das Projekt Atmosfair,
auf dessen Internetseite mit dem Emissionsrechner die
klimaschädlichen Wirkungen des Fliegens dargestellt
werden können. Einen Teil der durch das Fliegen verurWinfried Hermann
sachten Schäden kann man über Investitionen in Projekte, die einen Ausgleich herbeiführen sollen, finanziell
kompensieren. Übrigens liegt beim Bundestagspräsidenten der Antrag eines Kollegen vor, dass sich der Bundestag insgesamt daran beteiligt.
Lassen Sie mich zum Schluss in aller Kürze noch etwas zum Fluglärmgesetz sagen.
Herr Kollege, bitte fassen Sie sich wirklich kurz; Ihre
Redezeit ist vorbei.
Das ist schade, weil der Kollege Willsch gerade eine
Zwischenfrage stellen will.
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil die Redezeit abgelaufen ist. Herr Kollege, Sie müssen zum
Schluss kommen.
Gut, ich komme zum Schluss. - Ich kann zum Fluglärmgesetz nicht mehr viel sagen, ich möchte nur noch
darauf hinweisen, dass dieses Fluglärmgesetz in Arbeit
ist, wir voraussichtlich noch in diesem Jahr einen Entwurf einbringen werden und wir gerne mit Ihnen über
einen ausgewogenen Ansatz diskutieren würden, der die
Interessen der Bewohner und der Umwelt auf der einen
Seite und der Flugwirtschaft auf der anderen Seite berücksichtigt. Aber da müssen Sie sich bewegen; denn Sie
haben bisher im Wesentlichen nur die Position der Flugwirtschaft vertreten.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Minkel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Frau Hauer, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Sie an das glauben, was Sie hier vorgetragen haben. Sie haben vergessen, zu erwähnen, dass sich
der frühere hessische Ministerpräsident Eichel mit seiner
rot-grünen Regierung acht Jahre lang um das Thema
Flughafenerweiterung herumgedrückt hat.
({0})
- Es wurde nur geschwätzt, aber es wurde nicht geschafft.
Sie haben auch vergessen, zu erwähnen, dass die planungsrechtlichen Probleme bei der Landebahn durch die
rot-grüne Mehrheit in der regionalen Planungsversammlung und durch eine rot-grüne Prozessserie zustande gekommen sind.
({1})
Hätte es in diesen Gremien eine Unterstützung für den
Flughafen gegeben, dann hätte die Landesregierung die
prozessualen Schwierigkeiten vermeiden können. Die
Landesregierung ist aber dabei, diese Hürden zu überwinden.
Es wird ein neuer Landesentwicklungsplan erarbeitet,
der auch die planungsrechtliche Seite umfasst. Von den
Risiken im Zusammenhang mit dem Ticonawerk versprechen sich manche Flughafengegner mehr, als dieses
Werk halten kann.
({2})
Es ist nämlich geplant, künftig die Abflüge wegfallen zu
lassen und sie durch Anflüge zu ersetzen. Die gefährlichsten Chemikalienbehälter können für wenig Geld
eingekapselt werden. Dann wird die Sicherheitslage dort
besser als zuvor sein und nicht schlechter.
({3})
Was die Wartungshalle für den A380 anbelangt, so
habe ich höchstpersönlich mit meinen Kollegen von der
CDU und der FDP in der regionalen Planungsversammlung im Abweichungsverfahren die Hand zugunsten dieser Wartungshalle gehoben. Wenn wir das nicht getan
hätten, hätte es für diese Wartungshalle keine Mehrheit
gegeben. Denn die Grünen waren dagegen und die SPD
war nur zur Hälfte dafür. Das ist die Wahrheit.
({4})
Die Rhein-Main-Region ist durch Rot-Grün wirklich
schon genug geschädigt worden. Es war eine hessische
Spezialität, vor jeder Wahl einen kleinen Störfall bei der
Hoechst AG hochzuziehen, damit man sich hinterher als
Schützer von Mensch und Umwelt produzieren konnte.
Das Ergebnis davon ist, dass die einst größte Pharmafirma der Welt ins Ausland verduftet ist. Das Ausland
stellt künftig die teuren Rechnungen an Deutschland aus.
({5})
Wir müssen aufpassen, dass uns beim Luftverkehr und
beim Flughafenstandort Frankfurt nicht dasselbe passiert.
({6})
Mit dem Frankfurter Flughafen spielen wir noch in der
Weltliga mit. Wir müssen alles daran setzen, dass wir
uns diesen Trumpf erhalten und das nicht alles verstolpern.
({7})
- Wer hier kaspert, will ich Ihnen gleich erläutern.
Schauen wir uns einmal die Wirklichkeit an. Die
K-Gruppen und die Putztruppen waren mit ihren bürgerkriegsähnlichen Umtrieben die entschiedensten Gegner
der Startbahn West. Diese Kasper sind bei den Grünen
sehr spät sozialisiert worden. Inzwischen haben sich gerade die Grünen in Berlin zu Vielfliegern entwickelt.
Joseph Fischer, Herr Trittin, Frau Künast, Rezzo
Schlauch und Cem Özdemir können gar nicht genug von
der Fliegerei bekommen, wenn es sie nichts kostet und
es auf Staatskosten geht.
({8})
Unter solchen Verhältnissen gehen wir von der CDU/
CSU-Fraktion selbstverständlich davon aus, dass auch
die Grünen unserem guten Antrag zustimmen. Alles andere wäre Heuchelei und scheinheilig.
({9})
Natürlich hat auch der Gesamtstaat einen Anteil an
diesem Projekt. Die Bundesrepublik Deutschland hat
nämlich den rechtlichen Rahmen für Großprojekte aller
Art geschaffen. Die Wirklichkeit ist, dass wir einen
Rechtsstaat haben wollten, aber im Grunde genommen
einen Rechtsmittelstaat bekommen haben.
({10})
Das heißt, die wahren Kosten entstehen nicht wegen der
Verfahren, sondern aufgrund der langen Verfahrensdauer. Wir, der Bundestag, sind aufgerufen, diese langwierigen Abläufe zu reformieren, damit es in diesem
Lande schneller vorangeht und damit wir keinen Tempoverlust erleiden. Denn das Ausland schläft nicht. Es wartet darauf, dass wir unsere Pflicht und Schuldigkeit nicht
tun.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Hans-Günter Bruckmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Minkel, wir haben
jetzt hessisches Lokalkolorit gehört. Wir haben gehört,
wie Sie über den Rechtsmittelstaat gesprochen haben,
wir haben gehört, wie Sie die Bürgerinteressen, die
wahrgenommen worden sind, im Grunde genommen ad
absurdum geführt haben,
({0})
aber wir haben wenig darüber gehört, wie man den Luftverkehr in seiner Gesamtheit organisiert und unter welchen Rahmenbedingungen wir das zu tun haben.
({1})
Deshalb werden Sie jetzt von mir hören, sehr geehrter
Herr Minkel, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass vor
knapp 100 Jahren die Gebrüder Wright mit ihrem Motorsegler Luftfahrtgeschichte geschrieben haben.
({2})
- Das ist genau 100 Jahre her. - Damals war man skeptisch, was die Fortbewegung eines Menschen in der Luft
angeht. Heute ist der Luftverkehr - das wird von allen
Seiten dieses Hauses bestätigt - ein fixer Bestandteil unserer Mobilität. Aufgrund dieser Tatsache hat der Verkehrsträger Luftfahrt ein enormes Wachstum zu verzeichnen.
In der Luftverkehrsbranche war eine Reihe von Problemen im Zusammenhang mit dem 11. September
2001, mit SARS und dem Krieg im Irak zu verzeichnen.
Eine Reihe von Luftverkehrsgesellschaften - vor allem
in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa - war
diesen Schwierigkeiten nicht gewachsen. In der Frage
der Sicherheit stehen wir vor ganz anderen Herausforderungen - die wir gemeinsam zu meistern haben -, als es
Ihren Redebeiträgen in dieser Debatte zu entnehmen
war.
Ein Blick auf die aktuelle Situation und in die Zukunft zeigt die Wachstumsraten und die Anzahl der
Menschen, die direkt oder indirekt in der Luftverkehrswirtschaft beschäftigt sind. Der Kollege Königshofen
hat bereits die richtige Zahl von 750 000 genannt. Ich
gehe nun noch etwas weiter und betrachte die Perspektiven. Ich greife das auf, was Winfried Hermann deutlich
gemacht hat, nämlich dass ein Wachstum im Luftverkehr
in den nächsten Jahren auch unter veränderten Rahmenbedingungen zu erwarten ist und dass in diesem Bereich
bis zu 100 000 neue Arbeitsplätze entstehen können.
Ich gehe davon aus, dass wir als Land in der Mitte
Europas mit einer sehr hohen Wirtschaftskraft und einem hohen Exportanteil diese Infrastruktur brauchen.
Deshalb begrüßen wir, dass die Luftverkehrswirtschaft
mit der Frage an das Ministerium herangetreten ist, ob
die Bundesregierung bereit ist, sich an der Initiative
„Luftverkehr für Deutschland“ zu beteiligen. Der Verkehrsminister hat, vertreten durch die Staatssekretärin,
die Schirmherrschaft für die Initiative der Luftverkehrswirtschaft „Luftverkehr für Deutschland“ übernommen.
({3})
Wenn es darum geht, die Weichen für einen zukunftsfähigen und nachhaltigen Luftverkehr zu stellen, dann
müssen wir uns neben den positiven Aspekten der Luftverkehrswirtschaft auch mit der Frage auseinander setzen, welche negativen Folgen auftreten. Ohne jeden
Zweifel hat die Luftverkehrstechnik dazu beigetragen,
dass trotz des Wachstums eine Verringerung der Umweltbelastung erfolgt ist.
Im Ergebnis bietet die Luftfahrtindustrie allen Beteiligten gleichermaßen eine Perspektive. Das gilt zum
einen für die Menschen, die vom Luftverkehr betroffen
sind, und zum anderen für diejenigen, die ihn nutzen
wollen.
Eben ist vom Fluglärmgesetz gesprochen worden. In
der vorletzten Woche wurden die Verbände angehört.
Wir werden die Ergebnisse dieser Anhörung auswerten
und dann zu entscheiden haben. Wir werden sehen, inwiefern Sie und wir die Belange der Menschen, die in
den Einflugschneisen wohnen, berücksichtigen. Auf der
einen Seite steht die Wirtschaft und auf der anderen
Seite stehen die Interessen der Menschen. Beidem muss
man gleichermaßen gerecht werden.
Was die Frage angeht, wie die Verkehrsträger miteinander vernetzt werden, greife ich die Äußerung des
Kollegen Hermann auf, es mache Sinn, die unterschiedlichen Stärken der Verkehrsträger miteinander zu vernetzen, damit der Luftverkehr stattfinden könne. Es macht
auch Sinn, den Kurzstreckenluftverkehr auf die Schiene
zu verlagern; das steht außer Frage. Die dadurch frei
werdenden Slots können möglicherweise von denjenigen
genutzt werden, die den Luftverkehr als Carrier organisieren.
({4})
Wir wissen selber, dass eine optimale Vernetzung
den Ausbau von Flughäfen nicht ersetzen kann. Aber
sollte dies nur deutschlandweit oder darüber hinaus
europaweit erfolgen? Diese Frage betrifft die deutsche
Ebene, auf der wir uns zu organisieren und unsere Interessen zu vertreten haben. Das gilt gleichermaßen für
den europäischen Rahmen. Es reicht nicht aus, internationale Drehkreuze zu fördern. Es geht vielmehr auch
um die Erstellung eines länderübergreifenden Konzepts.
Hier sind wir auf der Bundesseite genauso gefordert wie
die Länder selbst.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen Aspekt
der heutigen Diskussion aufgreifen. Es ist davon gesprochen worden, dass es im Regionalverkehr teilweise
Kannibalismus gibt. Dieser mag vielleicht aus örtlicher
Sicht nachvollziehbar sein. Aber für uns bedeutet das,
dass es unbedingt notwendig ist, die Initiative „Luftverkehr für Deutschland“ dahin gehend zu unterstützen,
dass es einen abgestimmten Masterplan für den Luftverkehr in Deutschland gibt. Lieber Horst Friedrich, ich
teile deine Einschätzung. Es macht Sinn, wenn wir darüber reden und uns abstimmen. Es macht aber auch Sinn,
beispielsweise auf die Kommunen zuzugehen, die in ihren Bebauungsplänen eine so flughafennahe Bebauung
vorsehen, dass der schon vorhandene Protest automatisch verstärkt wird.
Wir unterstützen die Initiative „Luftverkehr für
Deutschland“ und das Bemühen der Bundesregierung, in
dieser Frage zu einem Konsens zu kommen. Nach unserer Meinung macht es Sinn, das Ganze auf der Bundesund der Landesebene so abzustimmen, dass wir zu einem Masterplan für den Luftverkehr kommen, der ein
Flughafenkonzept einbindet.
Frau Präsidentin, ich sehe, dass ich zum Ende kommen muss. Das werde ich gerne tun. - Nur noch so viel:
Wir werden das alles im Fachausschuss begleiten und
diskutieren. Rot-Grün wird einen gemeinsamen Antrag
einbringen. Wir werden versuchen, unsere Vorschläge
mit den Intentionen der Opposition zu synchronisieren.
Vielleicht bringen wir so etwas Gemeinsames zustande.
Ich würde mich darüber freuen. Ich freue mich auf jeden
Fall auf die Diskussion im Fachausschuss.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3312 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Griefahn, Eckhardt Barthel ({1}),
Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Antje Vollmer, Volker Beck ({2}), Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schaffung eines internationalen Instruments
zum Schutz der kulturellen Vielfalt unterstützen
- Drucksachen 15/3054, 15/3584 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Griefahn
Günter Nooke
Hans-Joachim Otto ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Guten Abend, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Es wurde höchste Zeit, den
Schutz der kulturellen Vielfalt auf internationaler Ebene
in Angriff zu nehmen. Das ist nun im letzten Jahr unter
deutschem Vorsitz im UNESCO-Exekutivrat geschehen.
Die Arbeiten sind in vollem Gange. In der laufenden
Woche tagt erstmals ein Expertengremium der Regierungen in Paris, um über den Entwurf der UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt zu diskutieren. Die Debatte kommt zu einer sehr guten Zeit; denn
gerade wird in der EU über eine Dienstleistungsrichtlinie
diskutiert, die einen Einstieg bietet, auch die kulturellen
und die audiovisuellen Dienstleistungen dem Marktgeschehen zu unterwerfen. Damit besteht zumindest eine
Gefahr für die kulturelle Vielfalt.
Wovon reden wir? Was sind kulturelle Dienstleistungen und Güter und wie können wir ihren Schutz garantieren? Wir vertreten einen weiten Kulturbegriff. Danach ist jede Erscheinungsform künstlerisch-kreativen
Handelns ein kulturelles Gut: Literatur, Musik, Schauspiel, Malerei, Architektur, Kunsthandwerk, Film,
Video, Rundfunk, neue Medien und nicht zuletzt so
genannte kulturelle Dienstleistungen wie bürgerschaftliches und freiwilliges Engagement, die Kochkunst, Kulturtourismus, Sport sowie soziokulturelle Arbeit. Sie sehen, wie vielfältig dieses Politikgebiet ist. Allein aus
dieser Vielfalt ergibt sich die Notwendigkeit des Schutzes. Diese Vielfalt ist das gemeinsame Erbe der Menschheit. Sie ist das Hauptelement tragfähiger Entwicklungen. Ihr Schutz ist deshalb ebenso wichtig wie der Erhalt
der Artenvielfalt.
Die UNESCO hat in ihrem Entwurf betont, dass diese
Besonderheit zu beachten ist und dass kulturelle Güter
als Träger von Identitäten, Wertvorstellungen und Sinn
nicht einfach als Waren und Konsumgüter betrachtet
werden können.
In der EU wird uns aber genau diese Frage im Rahmen der GATS-Verhandlungen noch intensiv beschäftigen. Ich glaube, dieser Zusammenhang wird zu wenig
beachtet: Das eine hat etwas mit dem anderen zu tun.
Deshalb sollte jedem Staat überlassen sein, im Rahmen
internationaler Verpflichtungen seine eigene Kulturpolitik zu definieren und umzusetzen. Zum Beispiel muss
die nationale Förderung von einheimischen Musik- und
Filmproduktionen weiterhin möglich sein.
({0})
Ich betrachte deshalb den Erhalt des kulturpolitischen
Gestaltungsspielraums eines Mitgliedstaates angesichts
des fortschreitenden Liberalisierungsdrucks und der zunehmenden Globalisierung als vorrangige Aufgabe. Das
ist übrigens auch Konsens im Kulturausschuss des Bundestages. Wir haben diesen Punkt auch in die EU-Verfassung eingebracht, denn Europa gestaltet sich gerade
durch die Einheit in der Vielfalt. Genau das ist unsere
Stärke und das müssen wir hierbei auch zeigen.
({1})
Bei den Verhandlungen im Rahmen der World Trade
Organization und im Zusammenhang mit dem „General
Agreement on Trade in Services“, dem berühmten
GATS, halte ich deshalb eine kontinuierliche und angemessene Berücksichtigung der Besonderheiten des Kulturbereiches für unverzichtbar. Deshalb muss für die EU,
die in den GATS-Verhandlungen mit einer Stimme
spricht, die Einstimmigkeit in den Kulturfragen erhalten
bleiben. Es darf wie gesagt nicht wieder auf dem Basar
der Begehrlichkeiten hin- und hergeschoben werden.
({2})
Wir brauchen deshalb in der UNESCO-Konvention
Mindestanforderungen an die Kulturverträglichkeit, die
völkerrechtlich und bindend festgeschrieben und mit den
GATS-Regelwerken rechtlich verschränkt werden, damit
kulturpolitische Maßnahmen nicht von vornherein als
handelspolitisch unerwünschte Hemmnisse eingestuft
werden können. Das ist ganz wichtig, denn bislang laufen diese Regelwerke nebeneinander und sind rechtlich
noch nicht miteinander verwoben. Hier müssen wir Veränderungen erreichen. Darauf müssen wir unser Augenmerk richten.
Der wirtschaftliche und technologische Wandel eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für Kreative und für die
Schaffung von Innovationen. Dem müssen wir Rechnung tragen. Deshalb müssen wir uns besonders um Fragen des Urheberrechts und des geistigen Eigentums
kümmern. Wie wichtig das ist, habe ich gerade auf der
Reise mit dem Außenminister in China gemerkt, wo Urheberrecht noch überhaupt keine Rolle spielt. Wenn dem
freien Markt der Umgang mit geistigem Eigentum überlassen wird, dann bekommen wir große Probleme. Auch
darauf müssen wir unser Augenmerk richten.
({3})
Zivilgesellschaft und Wirtschaft in Europa sollen in den
Diskussionsprozess eingebunden werden. Ich glaube, die
Arbeit der bundesweiten Koalition, die sich für die Konvention zur kulturellen Vielfalt engagiert, ist wichtig.
Eine wichtige Frage ist mit der Vielfalt der Medien
verbunden. Besonders der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann sehr gefährdet sein. Es wird nämlich angesichts sich ändernder Kommunikationsgewohnheiten der
Bevölkerung und der Nutzung des Internets und anderer
Kommunikationstechnologien immer wichtiger, ihre
Rolle klar zu definieren. Wir erleben gerade die Debatte
um die Neustrukturierung des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks. Bei aller Diskussion um die Gebühren muss
eines sicher bleiben: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk
muss den freien Fluss von Ideen in Wort und Bild in allen Bereichen gewährleisten. Er stellt sicher, dass sich
alle Kulturen ausdrücken und bekannt machen können.
Unter diesem Gesichtspunkt novellieren wir gerade das
Deutsche-Welle-Gesetz. Das ist ganz wichtig.
Was kann aber passieren? Wir dürfen in der Fortentwicklung der Ergebnisse der GATS-Verhandlungen nicht
an einen Punkt kommen, an dem das gegenseitige Geben
und Nehmen auf dem Basar dazu führt, dass zum Beispiel die Zulässigkeit unserer Rundfunkgebühren von
WTO-Regeln bestimmt wird. Das würde dazu führen,
dass in dem Fall, dass sich ein anderer Staat über uns beschwert, ein Expertenpanel der WTO, das aus drei Experten besteht, entscheiden könnte, ob unsere Gebühren
dem internationalen Handelsrecht entsprechen oder
nicht. Wird ein Verstoß festgestellt und wir bestehen
trotzdem auf unseren Gebühren, so kann der Beschwerdeführer gegen uns Handelssanktionen verhängen, und
zwar in jedem Bereich.
Das muss man sich einmal lebhaft vor Augen führen.
Solch eine Entwicklung müssen wir abwenden. Deswegen ist unsere gemeinsame Erklärung, die wir im Ausschuss verabschiedet haben und heute hier gemeinsam
verabschieden werden, auch ein Stück weit Rückenwind
für die Bundesregierung in ihren Verhandlungen im Zusammenhang mit dem GATS, mit den EU-Dienstleistungsrichtlinien sowie mit der UNESCO-Konvention zur
kulturellen Vielfalt. Ich freue mich, dass wir das gemeinsam verabschieden können.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Griefahn, ich will es vorwegnehmen: In der Tat
unterstützen wir von der FDP-Fraktion diesen Antrag.
Wir halten es für unerlässlich, dass der Bundestag in dieser kulturpolitisch wirklich wichtigen und folgenreichen
Frage international mit einer Stimme spricht.
({0})
Die nationale Allianz, die Sie eben beschworen haben,
steht also.
Ich möchte meine drei Minuten Redezeit nutzen, um
ein bisschen vor Übertreibungen zu warnen. Ich warne
insbesondere davor - das habe ich auch schon im Ausschuss getan -, die wirtschaftlichen Überlegungen und
Interessen, die in dieser Frage betroffen sind, völlig über
Bord zu werfen. Die Bedenken, die die Länder USA,
Großbritannien, Niederlande und Australien gegen eine
UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt erheben, müssen wir ernst nehmen. Was sie im Blick
haben, ist in bestimmtem Umfang durchaus auch in unserem Interesse. Wenn wir den Handel, den Kunsthandel, dadurch lähmen würden, dass der Schutz der kulturellen Vielfalt zu starr ist, dann hätte niemand etwas
davon. Eine solche Regelung wäre kontraproduktiv.
Wir sollten eines nicht vergessen: Es gibt nicht nur öffentlich geförderte Kultur, sondern es gibt auch Kulturwirtschaft. Die Kulturwirtschaft schafft mehr Arbeitsplätze als die öffentlich geförderte Kultur. Deswegen
sind die Bedenken der vier genannten Länder ernst zu
nehmen.
Sie haben folgende Forderungen: Erstens. Die Handelbarkeit von Kulturgütern und Dienstleistungen muss
gesichert bleiben. Das sollten wir akzeptieren und auch
übernehmen. Zweitens. Die geplante Konvention darf
keine neuen Hürden für Kulturaustausch und Informationsfluss aufbauen. Drittens. Die Marktmechanismen zur
Sicherung kultureller Vielfalt müssen ebenso anerkannt
werden wie staatliche Intervention. Wir dürfen also nicht
vergessen, dass Kultur und Wirtschaft keine Gegensätze
sind, sondern miteinander in Einklang gebracht werden
müssen.
Eines möchte ich noch zu bedenken geben. Vielfalt,
die wir alle wollen, setzt Austausch voraus. Liberalisierung, liebe Frau Griefahn, ist also nicht der Gegensatz
zur Vielfalt, sondern Liberalisierung ermöglicht Vielfalt.
({1})
Nationale Quoten aber bauen Mauern auf und behindern
internationalen Kulturaustausch.
({2})
- Liebe Frau Vizepräsidentin, Sie erhalten nach mir das
Wort. Sie können sich dann äußern.
Wir haben in der nächsten Woche im Ausschuss eine
öffentliche Anhörung zum Thema einer Quote für
Musik in Deutschland. Wenn es um gesetzliche Quoten
geht - liebe Frau Vollmer, Sie haben sich schon im Vorfeld für gesetzliche Quoten ausgesprochen -, müssen wir
dafür sorgen, dass Kulturaustausch dadurch nicht behindert wird. Um das klarzustellen: Wir wollen nicht einen
Einheitsbrei von amerikanischen Charts in den Radiosendungen. Aber Vielfalt bedeutet das Bekenntnis zu internationaler Vielfalt, das heißt kein Einheitsbrei, sondern internationale Mischung. Die schafft man nicht
zwangsläufig durch Mauern oder Quoten, sondern durch
Liberalisierung und durch offene Auseinandersetzung.
Zusammengefasst Folgendes - meine Redezeit ist leider zu Ende; das ist mir bewusst -: Wir müssen einen
Ausgleich zwischen den Interessen der Wirtschaft und
den Notwendigkeiten für Kultur schaffen. Ich bin nicht
so blauäugig, zu glauben, dass die Interessen der Kultur
eine stärkere Durchsetzungskraft haben als die Interessen der Wirtschaft. Weil das so ist und weil wir alle uns
natürlich für eine Stärkung der Kultur einsetzen, setzen
wir uns auch für diese Konvention ein. Aber wenn sie
zum Erfolg führen soll, dürfen wir die Bedenken der genannten Länder nicht über Bord werfen. Wir brauchen
diese Länder zur Durchsetzung der UNESCO-Konvention. Ich möchte an sie appellieren, mitzumachen, damit
es wirklich zu dieser UNESCO-Konvention kommt.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unsere einzigartige Kulturlandschaft schützen wir bisher
in unterschiedlicher Form. Wir schreiben zum Beispiel
Filmpreise aus, unterstützen durch staatliche Finanzierung Museen, Theater und Opern, unterhalten staatlicherseits Projekte und Institutionen, steuern und fördern
durch rechtliche Rahmenbedingungen - zum Beispiel
durch die Buchpreisbindung tragen wir dazu bei, dass es
eine eigene Literatur gibt - und richten möglicherweise
auch Quoten ein. Herr Otto, wenn neu erschienene Musik, die hier produziert wurde, 1 Prozent der Sendezeit
unserer Sender, und zwar der öffentlich-rechtlichen und
der privaten, ausmacht, haben wir eine Einheitsquote
von 99 Prozent dagegen. Dagegen müssen wir, wie ich
glaube, vorgehen.
Möchten Sie eine Frage stellen? Von mir aus sehr
gerne, denn dann bekomme ich Zeit.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Ja, gerne.
Liebe Frau Vizepräsidentin bzw., da Sie ja in dieser
Eigenschaft nicht sprechen, liebe Frau Dr. Vollmer, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass alle Untersuchungen, die es gibt - die werden wir ja sicherlich in
der Anhörung noch einmal präsentiert bekommen -, auf
wesentlich höhere Anteile von in Deutschland produzierter und sogar von deutschsprachiger Musik in den
Radiosendungen hier in Deutschland kommen? Ich bitte
Sie also, die Ergebnisse der Anhörung, die wir am Mittwoch nächster Woche haben werden, nicht vorwegzunehmen.
({0})
Sind Sie also bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
sich um einen zigfach höheren Anteil handelt als dieses
eine Prozent?
Ich bin sehr gerne bereit, mit Ihnen dann über die
konkreten Zahlen zu streiten. Wir werden ja auch sehen,
auf welcher Basis diese verschiedenen Untersuchungen
beruhen. Da ich mich nun schon sehr lange intensiv mit
diesem Thema beschäftige wie übrigens auch Ihr FDPKollege Koppelin, der ein großer Befürworter der Quote
ist
({0})
und im Gegensatz zu Ihnen etwas von dem Markt versteht, weil er darin so lange gearbeitet hat, glaube ich,
dass wir zu guten Ergebnissen kommen werden.
({1})
Die Globalisierung aller Bereiche der Gesellschaft,
nicht zuletzt durch die modernen Wege der Kommunikation, hat ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Über die Vorzüge haben wir schon sehr viel diskutiert, gerade über
die im Informationsbereich. Es gibt aber auch die Gefahr
der Vereinheitlichung und Nivellierung der Kulturen.
Die Tendenz dazu gibt es schon jetzt. Allein durch die
starken Einflüsse der USA sind die einzelnen unterschiedlichen Kulturen der Nationen in ihrem Bestand gefährdet. Am größten ist jedoch die Gefahr, die von der
Vereinnahmung der Kultur durch wirtschaftliche Interessen auf globaler Ebene ausgeht. Kulturelle Güter können
eben nicht wie industrielle Güter von allen Handelsschranken und anderen Barrieren befreit werden, wenn
man einzelne nationale und regionale Kulturen erhalten
will.
({2})
Viele Länder diskutieren übrigens, wenn ich noch einmal auf meine geliebte Musikquote zurückkommen darf,
darüber, wie sie ihre Kultur erhalten können. Wenn ich
es richtig sehe, haben schon ungefähr 20 Länder, darunter Uruguay, Polen und Kanada, solche Quoten eingeführt. Das heißt, in ganz vielen Ländern gibt es das
Bewusstsein, dass eigene Identität und Kultur zusammenhängen und dass hier auch bestimmte eigene Wurzeln zu erhalten sind.
Deswegen ist es auch grundfalsch, kulturelle Dienstleistungen unter ein Abkommen wie das des GATS fassen zu wollen. Frau Griefahn hat dazu schon eine Menge
gesagt. Denn sobald der Handel mit kulturellen Dienstleistungen unumkehrbar liberalisiert wird, ist die
einzelne nationale Kultur durch die übermäßige Konkurrenz für immer verloren. Freier Marktzugang für alle, Inländerbehandlung für alle Marktteilnehmer und die
Meistbegünstigungsklausel, Unumkehrbarkeit der einmal gemachten Zugeständnisse, alle diese typischen
Merkmale der Dienstleistungen, die unter dem Namen
GATS bereits liberalisiert worden sind, eignen sich nicht
für den Kulturbereich, genauso wenig übrigens für die
Bildung.
({3})
Eindrucksvoll war ja für alle Kollegen das Beispiel
Mexikos, das 1994 mit seinem Beitritt zur Nordatlantischen Freihandelszone auch seine gesamte Filmindustrie
und Verlagslandschaft unumkehrbar der blanken Marktkonkurrenz ausgeliefert hat. Als Mexiko hinterher versucht hat, diese Gebiete durch nationale Gesetzgebung
zu schützen, durfte es das nicht mehr. Mexiko stellt für
uns ein warnendes Beispiel dar. Kanada, übrigens ebenfalls Mitglied der NAFTA, war da viel weitsichtiger und
schaffte es, den Kultursektor von diesen Verhandlungen
ausdrücklich auszuklammern. Ich muss offen sagen,
dass für viele Kollegen aus dem Kulturausschuss gerade
Mexiko ein warnendes Beispiel ist und wir gesagt haben:
So darf es uns bei den GATS-Verhandlungen nicht ergehen.
({4})
Die Globalisierungsbewegung ist sehr stark. Um gesellschaftliche Bereiche davon auszunehmen, bedarf es
einer weltweit flächendeckenden Information, einer starken Lobby und vor allen Dingen der Aufmerksamkeit aller verhandelnden Parteien. Nicht zuletzt deswegen diskutieren wir hier darüber. Wir möchten nämlich nicht,
dass die Kultur zu einer Verhandlungsmasse wird und
am Ende der Verhandlungen Zugeständnisse gemacht
werden, um andere Ziele durchsetzen zu können. Wir
wollen gemeinsam mit Ihrer Unterstützung klarstellen,
dass wir in diesem Punkt keine Abstriche hinnehmen
wollen.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass weder
unser Antrag noch die UNESCO-Konvention eine weltweit rechtliche Bindungswirkung entfalten können. Sie
können nur als Referenz für Argumentationslinien und
als Grundlage für nationale Verhandlungsprinzipien dienen. Um aber diese minimale Wirkung zu entfalten, ist
es sehr wichtig, dass wir nicht auf die Forderungen der
angelsächsischen Länder eingehen.
Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen: Kulturgüter dürfen eben nicht anderen Handelsgütern
gleichgestellt werden.
({5})
Gerade im Kulturbereich müssen wir Hürden und
Hemmnisse aufbauen dürfen, die wir in der sonstigen
Wirtschaft nicht mehr haben wollen; denn jedes Land
hat seine eigene kulturelle Tradition. Soweit es möglich
ist, muss die Konvention auch eine völkerrechtliche Bindungswirkung haben. Genau über diese Punkte wird gestritten. Deswegen wünschen wir uns, dass mithilfe der
großen Unterstützung des Parlaments unsere Verhandlungsführer in diesen Punkten Rückgrat zeigen können.
Das ist der Sinn dieser Debatte.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion, hat
seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Der nächste Redner
ist der Kollege Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Vollmer hat
es gerade angesprochen: Es ist wichtig und ein gutes
Zeichen, wenn der heute zu beschließende Antrag von
allen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen
und unterstützt wird.
({0})
Das wird unsere Position in der internationalen Gemen-
gelage sicherlich stärken.
Nach den doch etwas relativierenden Ausführungen
von Herrn Otto möchte ich in dieser Debatte Gelegenheit
nehmen, einige grundsätzliche Positionen meiner Frak-
tion zu skizzieren, die sich auch in diesem Antrag wider-
spiegeln.
Bei aller Bedeutung der Kulturwirtschaft ist Kultur
mehr als ein Wirtschaftsfaktor. Sie haben zu Recht die
Bedeutung der Kulturwirtschaft hervorgehoben. Kul-
tur, Bildung und Medien sind als öffentliche Güter we-
sentliche Elemente unseres Staatsverständnisses. Sie le-
gitimieren sich nicht ausschließlich nach den Regeln von
1) Anlage 5
Angebot und Nachfrage und sind daher den Marktmechanismen nur bedingt zugänglich.
Der freie Zugang zur Kultur, unabhängig von sozialen Schranken, ist der Humus, aus dem sich Demokratie
und Emanzipation entwickeln können.
({1})
Deshalb müssen die staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten gewahrt bleiben. Ob Buchpreisbindung, Filmförderung oder auch das Gemeinnützigkeitsrecht - Kollegin
Vollmer hat bereits darauf aufmerksam gemacht -: Diese
Instrumente sichern, dass sich gewachsene nationale und
regionale Kulturlandschaften weiter entwickeln können.
Über die UNESCO-Konvention müssen daher nationale
Ausgestaltungsmöglichkeiten völkerrechtlich „wetterfest“ gemacht und gegenüber lupenreinen Liberalisierungsstrategien abgefedert werden.
({2})
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die von mir
skizzierte grundsätzliche Position stellt nicht darauf ab,
vermeintliche Besitzstände in Strukturen und Finanzierungsmodalitäten zu wahren. Die Praxis der Kulturarbeit belegt, dass hier vieles im Fluss ist und sich immer wieder neu legitimieren muss. Dies beobachten wir
im Übrigen in der Arbeit unserer Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ sehr genau.
Es ist gut, dass diese Debatte hier und heute geführt
wird. Aber ebenso wichtig ist, dass sich die Zivilgesellschaft ebenfalls in dieses Thema einklinkt.
({3})
Herzlichen Dank an die Initiatoren der „Bundesweiten
Koalition zur kulturellen Vielfalt“, die Mitte des Jahres
mit einer Auftaktveranstaltung das Thema in die Öffentlichkeit getragen hat. Dies fördert den zivilgesellschaftlichen Diskurs. Diese Initiative ist weltweit vernetzt. Ich
erhoffe mir, dass die anstehenden internationalen Beratungen von einer kritischen Öffentlichkeit begleitet werden.
Im Oktober wird die „Bundesweite Koalition zur kulturellen Vielfalt“ in einem weiteren Fachgespräch das
Thema vertiefen. Nach Durchsicht des Veranstaltungsprogramms bin ich sehr sicher, dass wir aus dieser Veranstaltung sehr viel Honig für unsere Debatte saugen
können. In Köln geht es unter anderem darum, solche
kultur- und medienpolitischen Prinzipien, Instrumente
und Marktanreize zu sichten und zu entwickeln, die kulturelle Vielfalt sichern und erzeugen.
({4})
Dabei wird es nicht um eine abstrakte akademische
Debatte gehen; auch das mag ganz interessant sein. Vielmehr werden aus der Sicht vieler kommunaler und freier
Träger, aber auch aus der Sicht der Kulturwirtschaft konkrete Fallbeispiele betrachtet. Das wird sicherlich eine
spannende Veranstaltung.
Zur EU-Binnenmarktrichtlinie ist zwar bereits einiges
gesagt worden; aber auch ich will zum Schluss darauf
eingehen. Erwähnt wurde, dass diese Richtlinie auch die
grenzüberschreitenden audiovisuellen und kulturellen
Dienstleistungen erfasst. Im Übrigen wird in dieser
Richtlinie klargestellt, dass nicht marktbestimmte, vom
Staat erbrachte soziale, kulturelle und bildungspolitische
Tätigkeiten nicht unter diese Richtlinie fallen. Dies gilt
allerdings nicht für den Rundfunk. Vor dem Hintergrund
der Debatte um die UNESCO-Konvention ist die deutsche Forderung an die EU, audiovisuelle Dienstleistungen - ob Fernsehen, Hörfunk oder Film - aus dieser
Richtlinie herauszunehmen, zwingend.
({5})
Andernfalls wäre die besondere meinungsbildende und
Vielfalt sichernde Funktion dieser Medien extrem gefährdet.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/3584
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Schaffung eines internationalen Instruments zum Schutz der kulturellen Vielfalt unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 15/3054 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Reform der Umsatzsteuer - Durch Umstellung
von der Soll- auf die Istbesteuerung Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen und unnötige Liquiditätsbelastungen der Wirtschaft
vermeiden
- Drucksache 15/2977 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Volker Wissing, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Ifo-Institut schätzt die Umsatzsteuerausfälle auf jährlich etwa 20 Milliarden Euro allein in
Deutschland und auf 60 Milliarden Euro in Europa Tendenz steigend. Das Hinterziehungsvolumen bei der
Umsatzsteuer liegt damit bei 19,4 Prozent. Die Ausfälle
entsprechen dem Aufkommen aus der Erbschaftsteuer
von sechseinhalb Jahren.
Bereits seit dem Jahr 1999 bleibt die Entwicklung der
Einnahmen aus der Umsatzsteuer hinter der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung deutlich zurück. Grund dafür
ist neben der ständig zunehmenden Schwarzarbeit der
international organisierte Betrug durch so genannte
Karussellgeschäfte. Die EU-Osterweiterung wird zu einem weiteren Anstieg dieser kriminellen Aktivitäten
führen.
Alle Maßnahmen der Bundesregierung, die Übertragung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger, die
Schaffung neuer Haftungstatbestände und die Gewährung des Vorsteuerabzugs nur gegen Sicherheitsleistung,
hatten keinen Erfolg. Im Gegenteil: Sie bedeuten mehr
Bürokratie und höhere Kosten, was besonders die mittelständischen Unternehmer belastet. Ganze Unternehmenszweige wie etwa die Bauindustrie geraten unter den
Generalverdacht des Betruges. Diese Maßnahmen müssen zurückgenommen werden.
({0})
Um das Problem aber in den Griff zu bekommen,
muss das System generell umgestellt werden. Die FDP
schlägt vor, bei der Umsatzsteuer von der Sollbesteuerung auf die Istbesteuerung überzugehen.
({1})
Das bedeutet auf der einen Seite, dass der Unternehmer
die Umsatzsteuer erst dann anzumelden und abzuführen
hat, wenn er den Rechnungsbetrag vom Kunden erhalten
hat. Auf der anderen Seite entsteht der Vorsteueranspruch erst dann, wenn die entsprechende Rechnung
bezahlt ist.
({2})
Von einer solchen Umstellung würden alle profitieren. Die Istbesteuerung ist wesentlich unternehmerfreundlicher, weil die Umsatzsteuer nicht mehr für den
Staat vorfinanziert werden muss. Die Liquidität der Unternehmen gerät nicht unter Druck, wenn wegen der
schlechten Zahlungsmoral viele Rechnungsbeträge verspätet eingehen.
Wenn der Vorsteuerabzug erst nach Rechnungseingang geltend gemacht wird, können bei auffälligen Beträgen schneller als bisher Kontrollmaßnahmen durch
die Finanzverwaltung eingeleitet werden. Der Staat kann
sich durch unseren Vorschlag auf stabilere Einnahmen
bei der Umsatzsteuer verlassen.
Es werden auch andere Möglichkeiten diskutiert, wie
die Umsatzsteuer zu reformieren sei, beispielsweise das
Reversed-Charge-Modell oder das Cross-Check-Verfahren, über das im Bundesfinanzministerium nachgedacht
wird. Auch der rheinland-pfälzische Finanzminister hat
Vorschläge unterbreitet. Vielleicht liegt die Lösung auch
in einer Kombination verschiedener Modelle. Die FDP
wird sich einer Diskussion hier nicht verschließen.
Aber eines ist klar: Es muss endlich etwas passieren.
({3})
Der EU-weite Umsatzsteuerbetrug gehört endlich auf die
Tagesordnung des Ecofin-Rates. Es ist Sache von Bundesfinanzminister Eichel, dafür zu sorgen.
Statt die Bürger ständig mit Steuererhöhungen oder
der Ankündigung von Steuererhöhungen zu drangsalieren,
({4})
hat die rot-grüne Bundesregierung die Pflicht, erst einmal die bestehenden Steuern richtig zu erheben. Es ist
unnötig, die Wiedereinführung der Vermögensteuer zu
fordern
({5})
oder die Erhöhung von Erbschaftsteuer oder Mehrwertsteuer ins Spiel zu bringen, wenn endlich die wirksame
Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs forciert wird.
Dann steigen - darin sind sich alle Fachleute einig; auch
Sie, meine Damen und Herren, wissen das hoffentlich die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden um einen zweistelligen Milliardenbetrag. Die FDP
will dieses Geld den Steuerbürgern im Rahmen einer
umfassenden Einkommensteuerreform zurückgeben.
Ich danke Ihnen.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Lydia Westrich,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Erst im
Juli haben wir in diesem Haus über die Umsatzsteuer geredet. Ich glaube, sie wird uns noch eine ganze Weile beschäftigen. Sie ist einfach unsere größte Einnahmequelle.
Schon deswegen bedarf sie erhöhter Aufmerksamkeit.
Die Umsatzsteuer in der Bundesrepublik Deutschland
sei der Shootingstar in der Steuerhinterziehungsszene,
sagt die Deutsche Steuer-Gewerkschaft. Leider ist daran
etwas Wahres. Wir haben hier schon öfter darüber gesprochen. Auch Herr Dr. Wissing hat das noch einmal
angesprochen.
Umsatzsteuerhinterziehung ist deutlich einfacher,
lukrativer und risikoärmer als ein Banküberfall. Die
Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung ist viel geringer als
das Risiko eines Bankraubes. Was in manchen Fällen an
Geld herauszuholen ist, wird man kaum in einem normalen Banktresor finden. Die Entdeckung und die Weitergabe des Wissens um die vielfältigen Möglichkeiten der
Umsatzsteuerhinterziehung hat zusammen mit der relativ risikoarmen Ausführung zu einem drastischen Einbruch der Einnahmen und gleichzeitig zu bedrohlichen
Wettbewerbsverzerrungen zulasten der vielen Unternehmen geführt, die selbstverständlich steuerehrlich sind.
Deshalb ist es notwendig, die Entwicklung in den
Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu stellen. Das tun
wir eigentlich schon seit geraumer Zeit. Die Koalitionsfraktionen haben diesem Phänomen durchaus nicht tatenlos zugeschaut. Wir haben eine Reihe gesetzgeberischer Maßnahmen gegen Ihren Widerstand, gegen den
Widerstand der Oppositionsfraktionen,
({0})
auf den Weg gebracht.
({1})
So haben wir der Finanzverwaltung in unseren Augen
wirksame Instrumente zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs in die Hände gegeben.
({2})
Die Länder, die sie konsequent anwenden, können
durchaus Erfolge vorweisen, zum Beispiel RheinlandPfalz, aber auch Nordrhein-Westfalen. Ich kann alle
Länder nur auffordern, über den Schatten des Länderfinanzausgleichs - an dem hängt es oft - zu springen und
die Umsatzsteuersonderprüfungen hinreichend zu verstärken. Dabei geht es nicht nur ums Geld, sondern auch
um ein Signal an die kriminellen Elemente, dass der
Staat sich nicht einfach ausplündern lässt.
({3})
Richtig ist, dass die Betrugsanfälligkeit im jetzigen
System selbst begründet ist.
({4})
Deshalb zielt Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen aus
der FDP-Fraktion, auf eine Reform der gesamten Umsatzsteuer. Darüber haben wir schon verschiedentlich
im Finanzausschuss und im Sommer auch hier im Plenum geredet. Es gibt schon seit einiger Zeit das Modell
von Finanzminister Gernot Mittler, das die Umsatzsteuer
erst auf der Endverbraucherstufe erheben will. Alle anderen Lieferungen und Leistungen im zwischenunternehmerischen Bereich erfolgen danach steuerfrei.
Dieser Lösungsansatz hat wirklich beträchtlichen
Charme, da er nicht nur die zurzeit gebräuchliche Steuerhinterziehung unterbindet, sondern natürlich auch beträchtliche Steuervereinfachungspotenziale für die Unternehmen und für die Verwaltung enthält. Allerdings
stößt dieses Modell durchaus nicht überall auf Begeisterung, weder hier in Berlin noch und besonders in Brüssel. Ohne Zustimmung des Bundesrates und der
europäischen Ebene können wir neues Recht im Bereich Umsatzsteuer leider nicht umsetzen. Natürlich hat
dieses Modell auch seine Tücken, die gründlich durchdacht werden müssen.
Der Vorschlag der FDP-Seite, von der Soll- auf die
Istbesteuerung überzugehen, wird seit geraumer Zeit im
Finanzministerium überprüft.
So wie Finanzminister Mittler bereits 2001 mit seinen
neuen Überlegungen seinen Beitrag zur Bekämpfung des
Umsatzsteuermissbrauchs geleistet hat, gibt es auch
schon seit diesem Zeitpunkt, nämlich seit 2001, eine
Bund-Länder-Expertengruppe, die an der Entwicklung
des Reverse-Charge-Modells arbeitet, das die Umkehr
der Steuerschuldnerschaft beinhaltet. Das Modell wurde
der EU-Kommission bereits vorgetragen; Eichel hat hier
seine Arbeit also schon geleistet. Derzeit läuft ein Planspiel zur Folgenabschätzung. Mitte 2005 werden wir uns
mit dessen Ergebnissen beschäftigen können. Wie Sie
wissen, hat die Wirtschaft ein hohes Interesse daran und
sie ist in die Arbeit eingebunden.
Das Gleiche gilt auch für das zweite Modell, die von
Ihnen geforderte Istbesteuerung. Auch daran arbeiten
bereits Experten des Bundes und der Länder, des Bundesrechnungshofes und der Wirtschaft. Die EU ist über
diese Konzeption natürlich ebenfalls informiert worden.
Das heißt, Sie laufen mit Ihrem Antrag nicht nur bei
uns, sondern sicherlich auch bei den Kollegen aus der
CDU/CSU-Fraktion offene Türen ein,
({5})
soweit es die Überlegungen als solche betrifft. Außerdem hatten wir uns bereits im Sommer verabredet, dass
wir uns diesem Thema im Ausschuss ausführlich widmen. Was soll dann jetzt dieser Schnellschuss mit InKraft-Treten zum 1. Januar 2005?
({6})
Das ist doch wirklich Populismus pur.
({7})
Die Umsatzgrenze, die Sie in Ihrem Antrag eingezogen haben, betrifft 94 Prozent aller Unternehmer. Selbst
die Wirtschaftsverbände reden von einer grundlegenden
Reform und warnen vor erheblichen Kontrollproblemen
bei einer Umstellung, die natürlich auch sie selbst beträfen; Sie aber fordern, das in wenigen Wochen durchzuziehen. Ich weiß nicht, wie das machbar sein sollte. Das
ist nicht ernst zu nehmen,
({8})
sondern wirklich nur - das ist schade - rein populistisch,
ganz abgesehen von der erforderlichen Sondergenehmigung durch die EU, die wir vielleicht erhalten, aber nur
dann, wenn wir nachweisen, dass die neue Regelung der
Bekämpfung von Steuermissbrauch dient. Das jedoch
können wir alle nur vermuten; wir können es im Moment
nicht belegen. Sonst beschweren Sie sich ständig über zu
kurze Beratungszeiten und nun wollen Sie eine grundlegende Reform quasi ohne Debatte machen, denn dafür
stünden nur noch wenige Wochen zur Verfügung.
Wenn ich Sie in Ihrer fachlichen Qualifikation ernst
nehmen soll, dann kann es bei Ihrem Antrag eigentlich
nur darum gehen, die geltenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung, die wir mühsam
durchgesetzt haben, wieder rückgängig zu machen. Das
machen wir natürlich nicht mit.
({9})
Selbst das Ifo-Institut, dessen Studie Sie vorhin zitiert
haben, hat zur besseren Sicherung der Staatseinnahmen
empfohlen, alle Kontrollmöglichkeiten des bisherigen
Systems erst einmal auszuschöpfen. Sie halten das für
eine bessere Methode, als auf die Schnelle neue, unerprobte Systeme einzuführen, die dann natürlich an irgendeiner anderen Stelle auch wieder betrugsanfällig
sein werden.
Wenn Sie wirklich die Sicherung der Umsatzsteuereinnahmen im Sinn haben, dann kann ich Ihnen nur
empfehlen, diesen Antrag zurückzuziehen.
({10})
Wir können uns im Ausschuss im Wege der Selbstbefassung sehr schnell über den Stand der derzeit laufenden
Arbeiten informieren lassen. Wir können die Meinung
der EU-Kommission dazu einholen. Wir können uns mit
Gernot Mittlers Modell befassen. Wir können in Gesprächen mit der Wirtschaft, dem Bundesrechnungshof und
den Experten im Haus das Planspiel und die Machbarkeitsstudie begleiten. Wir haben für den November bereits entsprechende Gespräche dazu geplant.
Wir alle haben ein hohes Interesse daran, die betrugsanfällige Sollbesteuerung im Umsatzsteuerbereich auf
den Prüfstand zu stellen und neue Lösungsansätze zu
finden. Ein Hauruckverfahren, wie Sie es jetzt wollen,
dient weder den Interessen der Wirtschaft noch den
Staatseinnahmen. Deshalb müssen wir diesen ungeeigneten Antrag jetzt leider ablehnen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Peter Rzepka, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Umsatzsteuer mit einem Aufkommen von etwa 137 Milliarden
Euro im Jahre 2003 gehört zu den wichtigsten Steuerquellen des Staates. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt
in den Jahren 2000 bis 2003, wenn auch bescheiden, gestiegen ist, ist das Umsatzsteueraufkommen im gleichen Zeitraum entgegen allen Prognosen gesunken. Die
neuesten Statistiken aus dem Bundesfinanzministerium
zeigen, dass sich dieser Trend auch 2004 fortsetzen wird.
Als eine der Ursachen für diese negative Entwicklung
gilt die Hinterziehung von Umsatzsteuer, insbesondere
durch den Umsatzsteuerkarussellbetrug, der hier schon
angesprochen worden ist.
Durch Umsatzsteuerbetrug werden dem Fiskus jährlich Beträge in zweistelliger Milliardenhöhe entzogen;
allein für 2003 wird der Betrag für die Bundesrepublik
Deutschland und ihre Gebietskörperschaften auf über
17 Milliarden Euro geschätzt. Die Berichte des Ifo-Instituts und des Bundesrechnungshofs sind uns allen bekannt; wir hatten bereits Gelegenheit, darüber im Plenum und in den Ausschüssen zu diskutieren.
Schwächen im Umsatzsteuersystem werden von Betrügern ausgenutzt. Der Bundesrechnungshof hat ermittelt, dass Vorsteuern geltend gemacht werden, denen
keine Erwerbsgeschäfte mit entsprechenden Umsatzsteuerzahlungen gegenüberstehen, Firmen als Subunternehmer sich vor der Zahlung von Steuern und Sozialabgaben dem Fiskus entziehen, während die Auftraggeber
Vorsteuern und Betriebsausgaben abziehen, Scheinunternehmen nur zum Zweck der Ausstellung von Rechnungen gegründet werden, Scheinunternehmen gezielt in die
Insolvenz geschickt werden, um bei der Rückabwicklung von Geschäften die ausgezahlten Vorsteuern behalten zu können, Scheinunternehmen in der Insolvenz Umsatzsteuern aus ausgestellten Rechnungen nicht bezahlen
können, für die die Abnehmer Vorsteuern bereits geltend
gemacht haben, und Unternehmen zwar Rechnungen
ausstellen, die geschuldeten Steuern aber nicht erklären
und abführen.
Vor dem Hintergrund der dramatischen Haushaltslage
des Bundes ist dies ein unerträglicher Zustand.
({0})
- Ich stelle fest, dass wir alle uns in diesem Hause einig
sind. Geschädigt werden nicht nur Bund, Länder und
Kommunen; betroffen sind auch alle ehrlichen Unternehmen, die letztlich die hohe Steuerlast tragen müssen,
durch gesetzgeberische Maßnahmen zur Bekämpfung
des Umsatzsteuerbetrugs mit zusätzlicher Bürokratie
und Haftungsrisiken überzogen werden und von Wettbewerbsverzerrungen betroffen sind. Ziel einiger Täter war
es, eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen, um so
die Konkurrenz auszuschalten. Eine solche Entwicklung
schädigt unsere Volkswirtschaft und beeinträchtigt die
Steuermoral, denn der Ehrliche meint, wieder einmal der
Dumme zu sein.
({1})
Zu dem Thema des Umsatzsteuerbetrugs habe ich bereits mehrmals Stellung bezogen. In meiner Rede vom
26. September 2003, also vor fast genau einem Jahr,
habe ich in diesem Hause dargelegt, dass es meines Erachtens lohnenswert sein dürfte, zur Bekämpfung des
Umsatzsteuerbetrugs über die Ausweitung der Istbesteuerung nachzudenken. Wir haben dazu vor kurzer
Zeit auch Ansätze vorgelegt. Damals ging es mir übrigens auch darum, weitere Komplizierungen des Steuerrechts und zusätzliche Risiken für die große Anzahl der
ehrlichen Unternehmer als untaugliche Mittel zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs zu vermeiden.
({2})
Nach dem geltenden Steuerrecht ist die Umsatzsteuer
grundsätzlich nach vereinbarten Entgelten, der so genannten Sollbesteuerung, zu berechnen. Die Steuer entsteht also schon mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistung ausgeführt wurde. Bei der
Istbesteuerung entsteht die Steuer dagegen erst mit der
Vereinnahmung des Entgelts, also regelmäßig zu einem
späteren Zeitpunkt.
Allerdings war mein damaliger Hinweis, über die
Ausweitung der Istbesteuerung nachzudenken, so gemeint, dass vor einem Systemwechsel mit hinreichender
Sicherheit feststehen muss, dass die beabsichtigten Ziele
in der Praxis auch erreichbar sind und der Systemwechsel nicht zu unverhältnismäßigen bürokratischen Anforderungen an die Finanzverwaltung und an die Unternehmen führt.
Drei Tage nach der Debatte vom September des vorigen Jahres hat Frau Staatssekretärin Hendricks in einer
Rede auf einer Gemeinschaftskonferenz des Finanzministeriums Rheinland-Pfalz und des Ifo-Instituts, als es
um das Thema „Mehrwertsteuerhinterziehung und Modellansätze zu ihrer Vermeidung“ ging, dargelegt, dass
im Finanzministerium ebenfalls über einen Wechsel von
der Soll- zur Istbesteuerung nachgedacht wird, verbunden mit dem elektronisch unterstützten Kontrollverfahren eines Cross-Checks. Dabei wird der Ausgangsumsatz
eines leistenden Unternehmens mit dem entsprechenden
Eingangsumsatz aufseiten des Leistungsempfängers abgeglichen, um festzustellen, ob die Voraussetzungen für
den Vorsteuerabzug vorliegen.
Hinsichtlich der Einführung des Cross-Check-Verfahrens hat die Staatssekretärin schon damals auf den
erheblichen technischen Aufwand für Finanzverwaltung
und Unternehmen hingewiesen, diese aber damals noch
mit dem Interesse an einer sichereren Steuererhebung
gerechtfertigt. Im Juni dieses Jahres wurden in den Antworten auf meine Fragen im Finanzausschuss die damaligen Aussagen allerdings relativiert. Vor dem Hintergrund einer laufenden Machbarkeitsstudie - auch
darüber war hier schon die Rede - teilte die Staatssekretärin mit, dass das Cross-Check-Verfahren voraussichtlich nicht umsetzbar sei. Insgesamt kam der Finanzausschuss einvernehmlich zu dem Ergebnis, dass noch
erheblicher Beratungsbedarf im Zusammenhang mit
dem Umsatzsteuerbetrug besteht.
Der vorliegende FDP-Antrag ist danach weder besonders originell,
({3})
noch berücksichtigt er den gegenwärtigen Stand der Diskussion. Es wäre besser gewesen, das Ergebnis der
laufenden Machbarkeitsstudie abzuwarten; denn die Probleme liegen in der Kontrolle, ohne die eine Umstellung
keinen Sinn machen würde, wenn das Ziel, den Umsatzsteuerbetrug wirksam zu bekämpfen, erreicht werden
soll.
({4})
In der Beschlussvorlage der FDP-Fraktion heißt es dann
auch, dass der Anspruch auf Vorsteuerabzug erst dann
entstehen solle, wenn der Unternehmer eine Rechnung
nachweislich gezahlt habe - nachweislich. Die FDPFraktion bleibt uns aber mit ihrem Antrag eine Antwort
auf die Frage schuldig, wie diese Nachweise in der Praxis erbracht und geprüft werden sollen.
Es geht also um die praktische Durchführung und die
ist nach meiner Einschätzung nur mit erheblichem bürokratischen Aufwand in der Finanzverwaltung und in
den Unternehmen zu leisten.
({5})
Die „Financial Times Deutschland“ zitiert in einem Bericht vom 20. September einen Datenexperten, der mindestens 1 000 zusätzliche Beamte in der Finanzverwaltung für erforderlich hält. 60 Millionen Kontrollen
müssten, wenn Rechnungen ab 5 000 Euro geprüft würden, im Jahr bewältigt werden. Erwartet wird eine riesige Bugwelle von Zweifelsfällen, die die Finanzämter
vor sich herschieben würden. Auch aufseiten der Unternehmen wird - nach allem, was wir wissen - mit einer
erheblichen Komplizierung der Buchhaltung gerechnet,
sodass zusätzliche Personalkapazitäten vorgehalten werden müssten, um diese Aufgaben zu bewältigen.
Dass die Umstellung auf die Istbesteuerung im Übrigen nicht nur Liquiditätsvorteile für die Unternehmen
mit sich bringt - wie Sie von der FDP offenbar meinen -,
sondern auch zu Liquiditätsnachteilen führen kann,
möchte ich nicht unerwähnt lassen. Dies gilt für die Unternehmen, die bisher Vorsteuerüberhänge geltend machen können.
Schließlich müssten alle Unternehmen zur Durchführung des Cross-Checks zur monatlichen Abgabe von
Umsatzsteuervoranmeldungen verpflichtet werden, was
bei Unternehmen, die bisher nur jährlich oder vierteljährlich die Umsatzsteuer anmelden müssen, zu zusätzlicher Bürokratie führen und damit den sonst immer betonten Intentionen der FDP zuwiderlaufen würde.
Ich schlage deshalb vor, dass wir erst einmal abwarten, zu welchen Ergebnissen die Bund-Länder-Kommission gelangt
({6})
und ob die Kommission einen praktikablen Lösungsweg
aufzeigt. Zudem sollten wir unsere Vorgehensweise mit
der EU-Kommission und den europäischen Partnern abstimmen; denn die Systemumstellung setzt die Zustimmung der EU-Kommission voraus, wie Sie wissen und
offenbar auch in Ihrem Antrag voraussetzen und unterstellen.
Aus den vorgenannten Gründen scheint eine Zustimmung zu dem FDP-Antrag zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Lassen Sie uns gemeinsam unsere
Überlegungen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs weiter vorantreiben! Nehmen wir uns aber andererseits auch die Zeit, einen Systemwechsel erst dann
durchzuführen, wenn alle damit zusammenhängenden
Fragen und Probleme hinreichend geklärt sind.
({7})
Die Union fordert die Bundesregierung deshalb erneut auf, das bestehende System betrugssicher zu machen, das geltende Recht konsequent anzuwenden und
die jetzt möglichen Kontrollen durchzuführen. Es wird
notwendig sein, die Finanzverwaltung dafür mit besser
geschultem und zusätzlichem Personal sowie mit neuester Technik auszustatten. Möglicherweise macht es auch
Sinn, eine auf Bundesebene angesiedelte Ermittlertruppe
einzurichten, wie sie die Deutsche Steuer-Gewerkschaft
gefordert hat. Sie könnte länderübergreifend effektiv gegen international operierende Banden vorgehen.
Die Bundesregierung ist weiterhin aufgefordert, mit
Nachdruck an einem bundeseinheitlichen EDV-Risikomanagement zur Unterstützung der Umsatzsteuersachbearbeitung und an einer Ergänzung des bestehenden automatisierten Besteuerungsverfahrens im Hinblick auf
die Umsatzsteuer zu arbeiten. Entscheidend ist, dass gehandelt wird und dass die personellen Ressourcen der Finanzverwaltung auf diese wichtige Aufgabe konzentriert
werden.
Unseres Erachtens könnte die Finanzverwaltung bei
der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs wesentlich
wirksamer sein, wenn sie durch eine entscheidende Vereinfachung des Steuerrechts von anderen Aufgaben
entlastet würde. Denn schon jetzt sind die Fehlerquoten
in den Finanzämtern Untersuchungen zufolge, die wir
alle kennen, unerträglich hoch. Deshalb brauchen wir
endlich eine umfassende Reform des deutschen Steuerrechts, wie sie von den Unionsparteien vorgeschlagen
worden ist. Helfen Sie mit, unser Steuersystem einfacher, unbürokratischer und damit gerechter zu machen!
Sie entlasten dadurch auch die Finanzbeamten und ermöglichen es ihnen, sich verstärkt den wichtigen Aufgaben wie der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs zuzuwenden.
({8})
Während man in unseren Nachbarstaaten, beispielsweise in den Niederlanden, an ausgefeilten Risikoanalysesystemen gearbeitet hat, mit denen man selbst Scheinfirmen bei uns in Deutschland aufdecken und damit
unseren Ermittlungsbehörden Anhaltspunkte für ein Tätigwerden geben kann, ist in der Bundesrepublik nichts
oder zu wenig geschehen. Das ist Ihnen, Frau Staatssekretärin, immer wieder durch die Berichte des Bundesrechnungshofes bestätigt worden. Dies hat der Bundesrechnungshof auch schon im Jahre 2000 beanstandet.
Dennoch haben wir von einer gesetzgeberischen Maßnahme abgesehen, die unseres Erachtens nur zusätzliche
Bürokratie mit sich bringen würde, aber das Thema an
seiner eigentlichen Wurzel nicht bewältigen könnte.
Die Bundesrepublik Deutschland scheint sich zu einem Eldorado für Umsatzsteuerbetrüger zu entwickeln.
Es gibt Befürchtungen, dass sich durch die Erweiterung
der EU neue Betätigungsfelder für Umsatzsteuerhinterziehung eröffnen, wodurch zusätzliche Risiken für den
deutschen Fiskus entstehen können.
Einerseits ist ein Rechtsstaat, der gegen Steuerbetrug,
der zu Steuerausfällen in zweistelliger Milliardenhöhe
führt, nicht effizient vorgeht, unglaubwürdig. Andererseits dürfen aber die Maßnahmen, die wir gegen derartige Betrügereien anwenden, nicht unverhältnismäßig
sein. Wir werden den Antrag der FDP-Fraktion im Finanzausschuss intensiv beraten. Die Union bietet jede
Hilfe bei einer effektiven Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges an. Schon heute einen Systemwechsel bei der
Umsatzsteuer zu beschließen ist aus unserer Sicht jedoch
nicht verantwortbar.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Trotz eines jährlichen Umsatzsteuerbetrugs in
der Größenordnung von 20 Milliarden Euro sieht es so
aus, als wären die Abgeordneten dieses Hauses an dieser
Thematik nicht sehr interessiert. Wir sind hier unter uns,
wie man auch im Finanzausschuss unter sich ist. Vielleicht liegt das daran - Kollege Rzepka hat das auf beeindruckende Weise dargelegt -, dass über diesen Antrag
im Augenblick noch ohne ernsthaften Hintergrund, über
den wir seitens des BMF noch unterrichtet werden sollen, diskutiert wird. Deswegen sage ich gleich zu Beginn, dass er auch von uns abgelehnt wird.
Richtig ist aber: Die Finanzierung staatlicher Aufgaben soll gerecht erfolgen. Dafür ist nicht nur die Steuergesetzgebung verantwortlich, sondern das muss auch
durch die tatsächliche Um- und Durchsetzung des Steuerrechts durch die Finanzverwaltungen erfolgen. Der jährliche Umsatzsteuerbetrug in Höhe von 20 Milliarden Euro
entspricht ungefähr dem Fünffachen des jährlichen Erbschaftsteueraufkommens. Dabei handelt es sich also um
eine enorme Größenordnung. Der durch Umsatzsteuerbetrug entstehende volkswirtschaftliche Schaden ist enorm.
Gäbe es diesen Betrug nicht, würde das deutsche Defizit
deutlich unter dem Maastricht-Kriterium von 3 Prozent
liegen; das muss man ja auch sehen.
Das Ausmaß der kriminellen Energie, die hier aufgebracht wird, ist enorm. Eine Aufzählung macht deutlich,
wo die Kontrolle und vor allem Zusammenarbeit - national und international - vonnöten ist, um wirksam einzugreifen: Wir bekommen fingierte Rechnungen. Scheinfirmen werden in dem einen Bundesland gegründet und
in dem anderen sofort wieder abgemeldet; bis die Länder
die Daten miteinander abgeglichen haben, ist der Steuerkriminelle schon weg. Karussellgeschäfte werden getätigt, um Vorsteuern zu erschleichen.
Der Betrug muss mit allen Mitteln bekämpft werden.
Jetzt ist natürlich die Frage: Was sind die richtigen Mittel? Aus unserer Sicht gehört dazu die internationale
Zusammenarbeit. Da tut sich viel. Seit dem 1. Mai,
also dem EU-Beitritt, sind die neuen EU-Staaten in Programme eingebunden, die EU-weit laufen. Davon versprechen nicht nur wir uns Wirkung, sondern auch die
EU-Kommission betont immer wieder, dass der Betrug
dann eingedämmt werden kann, wenn die Mitglieder kooperieren.
Ich möchte auf die Idee einer Bundessteuerverwaltung eingehen. Wir unterstützen explizit den Vorschlag,
der im Finanzministerium entwickelt wird, weil auch wir
glauben, dass dieser organisierte Steuerbetrug durch die
streng getrennten Finanzverwaltungen der Länder begünstigt wird. Wenn die Daten der einzelnen Länderfinanzverwaltungen nicht kompatibel und damit nicht austauschbar sind, dann hat das Konsequenzen, die sich
auch in solchen Betrugstatbeständen äußern. Zumindest
was den Umsatzsteuerbereich angeht, ist zu prüfen, ob
diese Verwaltungskompetenz auf der Bundesebene nicht
besser aufgehoben wäre. Da unterstützen wir das Vorgehen des Ministeriums.
({0})
Die FDP schreibt in ihrem Antrag:
Der Missbrauch … kann erheblich eingeschränkt
werden, da der Unternehmer nachweisen muss,
dass er eine Rechnung bezahlt hat.
Aber eine Rechnung und ein Kontoauszug sind in Zeiten
von Onlinebanking genauso betrugsanfällig wie sonst irgendetwas. Das heißt, wir brauchen ein Kontroll- und
Prüfverfahren; ohne das geht es nicht. Es geht nicht
durch Stichproben, es geht nicht nach dem Motto „hier
mal prüfen, da mal prüfen“.
Zu welchen Ergebnissen das BMF auch immer
kommt, diese Ergebnisse brauchen wir, um in dieser
Frage voranzukommen. Ich stimme ja mit Ihnen überein,
dass die Istbesteuerung aus der Sicht der Unternehmen
durchaus interessant und von Vorteil ist. Nur, ohne ein
Prüfverfahren wollen wir das Richtige und tun das Falsche, weil wir die Betrugsbekämpfung in keiner Weise
angehen.
({1})
Insofern ist es absolut richtig, sich die Zeit zu lassen, die
wir brauchen, um das zu prüfen. Im Moment gibt es
auch noch keine geeignete Software. Wir werden darüber zusammen intensiv diskutieren; wir liegen ja nicht
weit auseinander.
Unser Fazit: Umstellung der Besteuerung - ja. - Diese
Zielsetzung ist unserer Ansicht nach richtig. Gleichzeitig
brauchen wir ein effizientes Kontrollverfahren. Das eine
geht nicht ohne das andere. Wir müssen die internationale Zusammenarbeit ebenso wie die nationale
Zusammenarbeit verbessern. In diesem Zusammenhang
müssen wir eine Verlagerung von Kompetenzen auf die
Bundesebene prüfen. Wir unterstützen das Ministerium
in seinem Vorgehen und halten die effektive und wirksame Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs für eine der
ganz großen Aufgaben, die wir in der kommenden Zeit
haben werden. Ich bin mir sicher, dass wir da gut zusammenarbeiten können, aber mit der nötigen Zeit und Ruhe.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2977 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neugestaltung des UIG
- Drucksachen 15/3406, 15/3680 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sieht
eigentlich die Kosten-Nutzen-Rechnung für die weitere
Vertiefung der Elbe aus und wie verändert sie sich, wenn
man den Jade-Weser-Port in Betrieb nimmt? Dazu gibt
es eine Studie im Verkehrsministerium. Künftig wird
diese Studie für jedermann einsehbar sein.
Ich nenne ein anderes Beispiel. Was steht in dem
Pflege- und Entwicklungsplan - ein schrecklicher Begriff - für das Naturschutzvorhaben Spreewald? Das
können Sie schon heute im Bundesamt für Naturschutz
nachlesen. Künftig wird das Bundesamt verpflichtet
sein, diesen Pflege- und Entwicklungsplan im Internet
zu veröffentlichen. Das ist eine Folge des Umweltinformationsgesetzes, durch das der Zugang der Bürgerinnen
und Bürger zu Umweltinformationen verbessert wird.
Künftig gilt: Wir erweitern den Kreis der informationspflichtigen Stellen. Nicht nur das Umweltministerium, sondern auch das Verkehrsministerium und das
Wirtschaftsministerium müssen also umweltrelevante
Informationen herausgeben. Wir verkürzen die Frist,
weil wir alle ja etwas gegen lange Verwaltungsverfahren
haben. Künftig müssen diese innerhalb eines Monats geklärt sein. Wir stellen die Informationen für alle kostenfrei zur Verfügung und wir verpflichten die Bundesverwaltung, solche Informationen auch unter Nutzung des
Internets und anderer Medien umfassender zu verbreiten.
Durch den Gesetzentwurf setzen wir die Umweltinformationsrichtlinie der Europäischen Union rechtssicher um. Damit wollen wir vermeiden, dass sich das
wiederholt, was der alten Bundesregierung 1998 passiert
ist, als der Europäische Gerichtshof ihr Umweltinformationsgesetz gestoppt hat. Deswegen haben wir auch alle
Anliegen der Bundesländer, die sich gegen die Richtlinie
gewandt haben, leider - oder Gott sei Dank - nicht aufnehmen können.
({0})
In einem Punkt sind die Länder aber noch in der
Pflicht: Sie müssen nämlich genau das gleiche Recht und
die Richtlinie bei ihnen in ein Landesgesetz umsetzen.
Hier stehen wir wieder einmal vor dem Problem, dass
16 Bundesländer das Gleiche machen. Ich würde mir
wünschen, dass wir diesen Zustand, 16-mal das Gleiche
zu machen - 17-mal, wenn man den Bund hinzunimmt -,
beenden. Eine einheitliche Kompetenz für die Umwelt
sollte ein gemeinsames Anliegen als Ergebnis der Beratungen der Föderalismuskommission sein, um solche bürokratischen Verfahren bei der Umsetzung europäischen
Rechts zu unterbinden.
({1})
Ich glaube, man täte dem Gesetz Unrecht, wenn man
es über das Verfahren, durch das es zustande gekommen
ist, beurteilen würde. Wir brauchen dieses lebendige Gesetz für Transparenz. Es führt dazu, dass sich die Bürger
qualifiziert und erfolgreich an öffentlichen Entscheidungen beteiligen können und dass sie schon im Vorfeld,
also bereits während der Entscheidungsfindung, Einfluss
nehmen können. Hier kommt es zu einer Wirkung auf
das Verwaltungshandeln: Eine gut informierte Öffentlichkeit spornt die Verwaltung nämlich zu anspruchsvollem Handeln an. Für mich ist der Zugang zu Informationen ein Schlüssel zu dem, was wir in internationalen
Verfahren oft Good Governance nennen. Wir wollen das
umsetzen. Je informierter ein Bürger ist, desto umweltgerechter wird er sich verhalten. Wer teilhat, kooperiert
und gehorcht nicht; er nimmt eben teil.
Insofern wird durch dieses Gesetz Schluss mit dem
Missstand gemacht, dass für die Umwelt engagierte Bürger vor den verschlossenen Türen des Amtsgeheimnisses
stehen. Mit dem Umweltinformationsgesetz setzen wir
auf ein neues Verständnis von Verwaltung. Wir setzen
auf transparente Dienstleistung anstatt auf Fortschreibung des alten preußischen Amtsgeheimnisses.
Ich diesem Sinne wünsche ich uns allen produktive
Beratungen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eberhard Gienger von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Politisches Handeln setzt in
einer Demokratie Urteilsfähigkeit des Bürgers voraus.
Davon kann aber nur dann ausgegangen werden, wenn
dieser die Möglichkeit hat, sich umfassend über staatliche Zusammenhänge zu informieren. Durch die Neufassung des Umweltinformationsgesetzes wird der Zugang
zu Umweltinformationen für Bürgerinnen und Bürger
deutlich verbessert.
({0})
So werden alle Stellen der öffentlichen Verwaltung
des Bundes zur Herausgabe von Umweltinformationen
verpflichtet, unabhängig davon, ob sie nun im Bereich
des Umweltschutzes spezielle Aufgaben wahrzunehmen
haben. Der Informationsbegriff wird wesentlich erweitert. Die Fristen für die Beantwortung von Anfragen zu
Umweltinformationen werden halbiert und dürfen in der
Regel nur noch einen Monat betragen. In begründeten
Ausnahmefällen kann es aber auch bis zu zwei Monaten
dauern.
Außerdem wird die Bundesverwaltung verpflichtet,
umfassender als bisher von sich aus aktiv Umweltinformationen zu verbreiten, zum Beispiel indem Verzeichnisse mit Übersichten von zugänglichen Informationen
veröffentlicht oder öffentlich zugängliche Informationsnetze und Datenbanken eingerichtet werden. Das Internet soll hierbei ein schnelles und modernes Medium sein
und zunehmend genutzt werden. Um damit wirklich ein
breites Spektrum in der Bevölkerung zu erreichen, müssen bei der Bereitstellung von Informationen die technischen Anforderungen berücksichtigt werden. Minimalvoraussetzungen müssen ausreichen, um an diese
Informationen gelangen zu können.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden für die
Bundesverwaltung die Anforderungen der neu gefassten
Umweltinformationsrichtlinie vom 14. Februar 2003 der
Europäischen Gemeinschaft umgesetzt. Mit der Neufassung des Umweltinformationsgesetzes werden zugleich die
Verpflichtungen des von Deutschland 1998 unterzeichneten
Aarhus-Abkommens über den Zugang zu Umweltinformationen erfüllt. Diese Aarhus-Konvention - nach der dänischen Stadt benannt, in der 1998 das Abkommen unterschrieben wurde - ist der erste völkerrechtliche Vertrag,
der jeder Person Rechte im Umweltschutz zuschreibt.
Informationen und Zugang zu den entsprechenden Informationen sind der Schlüssel zur Bürgergesellschaft. Nur
wer als Bürger informiert ist, kann auch öffentliche Entscheidungen mittragen, sich beteiligen, die Verwaltungen
wirksam kontrollieren und Entscheidungen nachvollziehen. Ich möchte an die Adresse der Bundesregierung sagen, dass ich diese Bürgernähe bei einigen Ihrer Gesetze
vermisse.
({1})
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden alle
Stellen der öffentlichen Verwaltung des Bundes zur
Herausgabe von Umweltinformationen verpflichtet,
unabhängig davon, ob sie im Umweltschutz spezielle
Aufgaben wahrnehmen. Die Veröffentlichung von Umweltinformationen versetzt den Bürger in die Lage, in
Ergänzung der Aufsichtstätigkeit von Behörden Umweltbelastungen zu erkennen und gegebenenfalls dagegen vorzugehen. Bürger werden nach diesem Konzept zu
Sensoren und Partnern und bekommen die Möglichkeit,
Aufsichtsbehörden zu kontrollieren. Die frühzeitige Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in umweltrelevante Planungsprozesse dient dem möglichst frühen Erkennen und Moderieren von Konflikten.
Der Informationszugang wird durch die Novelle auf
solche Daten erweitert, die die Behörden zwar nicht in
den Akten haben, von Dritten aber anfordern können.
Dies ist im Grunde zu begrüßen. Damit sind alle Daten
erfasst, die in den Betrieben durch verbindliche Eigenmessungen entstehen, der Behörde aber nur auf Verlangen herausgegeben werden müssen. In diesen Fällen
richtet sich der Informationsanspruch weiterhin an die
Behörde, die dann für Auskunftszwecke die Daten bei
den Unternehmen anfordert.
Zudem wird durch die Neufassung der Begriff der
Umweltinformation erweitert. Er bezieht sich zukünftig
unter anderem auch auf Informationen aus den Bereichen Gentechnik und Verbraucherschutz.
Die Verwaltungen werden verpflichtet, die Bürgerinnen und Bürger durch Benennen von Auskunftspersonen
oder Veröffentlichung von entsprechenden Verzeichnissen beim Stellen von Anträgen zu unterstützen. Die Verwaltungen werden des Weiteren ausdrücklich darauf hingewiesen, beim Zusammenstellen der Informationen
darauf zu achten, dass diese aktuell, korrekt und vergleichbar sind.
Es gibt aber durchaus noch Probleme. Die Umsetzung
der EU-Richtlinie ist die eine Sache. Aber muss man
denn gleich wieder einen deutschen Sonderweg mit verschärften Anforderungen einschlagen?
({2})
Denken Sie an die Spritzmittelverordnung oder auch das
Kioto-Protokoll. Ich möchte anhand eines Beispiels dokumentieren, dass dieser Gesetzentwurf an manchen
Stellen zu weit geht.
({3})
Bei Art. 1 § 8 Abs. 1 Nr. 1 kann von dem Prinzip der
Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie nicht mehr die
Rede sein. Während in der Richtlinie der Anspruch auf
den Informationszugang bereits dann abgelehnt werden
kann, wenn die Herausgabe der Umweltinformation negative Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit
hätte, schränkt der hier vorliegende Gesetzentwurf diesen Ausschlussgrund ein. Es wird hier ohne Not über das
Ziel hinaus geschossen.
({4})
Die Neuregelung verlangt, dass sich die Bekanntgabe
der Umweltinformationen auf genau definierte bedeutsame Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit nachteilig
auswirken muss, wie zum Beispiel die internationalen
Beziehungen oder die Verteidigung. Statt dieser stärkeren Einschränkung sollte man, wie ich finde, den Wortlaut der Richtlinie übernehmen und das Prinzip der Einszu-eins-Umsetzung anwenden.
({5})
Ich stelle hier auch noch die Frage nach den Kosten.
Sie gehen in dem vorliegenden Gesetzentwurf nur vage
auf eventuelle Kosten ein. Wenn ich mir den Aufwand
für die Bereitstellung der Informationen, vor allem die
Digitalisierung von Plänen und Entwürfen sowie den
Aufbau und die Pflege von Datenbanken vorstelle, dann
sehe ich einen erheblichen finanziellen Aufwand. Wie
diese Mittel durch Aufgabenbündelungen und Umschichtungen in stark gekürzten Etats ausgeglichen werden sollen, kann ich mir momentan beim besten Willen
nicht vorstellen.
Auch teile ich den Optimismus der teilweisen
Refinanzierbarkeit durch die Kostenregelung nicht. Wie
soll ein Teil der nicht zu beziffernden Ausgaben mit unbekannten Einnahmen ausgeglichen werden? Diesen
Ansatz finde ich gewagt. Hier sollten mehr Zahlen und
Fakten auf den Tisch. Dort steht zum Beispiel, dass bei
der „Erteilung einer umfassenden schriftlichen Auskunft
auch bei der Herausgabe von Duplikaten“ Gebühren bis
zu 250 Euro anfallen oder bei der Erteilung einer schriftlichen Auskunft bei Herausgabe von Duplikaten, die im
Einzelfall außergewöhnlich aufwendige Maßnahmen erfordern, Gebühren bis zu 500 Euro anfallen. Ich finde,
hier ist der Willkür der Ämter Tür und Tor geöffnet. Da
muss eine andere Kostenregelung herbeigeführt werden.
({6})
Es ist noch nicht einmal die genaue Zuständigkeit
zwischen Bund und Ländern geklärt, wer konkret für
die Regelung der Informationspflicht für bestimmte private Stellen unter Kontrolle des Bundes zuständig ist.
Diese Zersplitterung beeinträchtigt den Anspruch des
nach Informationen suchenden Bürgers. Die Regelung
hinsichtlich der auskunftspflichtigen Privatunternehmen,
etwa der Telekom als Betreiberin von Mobilfunksendemasten, soll laut Gesetzentwurf selbst dann ausschließlich den Ländergesetzgebern überlassen bleiben, wenn
sie der Kontrolle der Bundesbehörde unterliegen. Die
Regelungskompetenz für die Telekom liegt aber beim
Bund. Es ist mir aus diesem Grunde nicht ganz begreiflich, einen solchen Fall der Ländergesetzgebung zu unterwerfen.
In dem Gesetzentwurf stecken gute Ansätze. Wir von
der CDU/CSU werden dem Gesetzentwurf gerne näher
treten. Es besteht aber nach wie vor erheblicher Diskussionsbedarf.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bierwirth von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innerhalb der
Europäischen Union ist in den vergangenen Jahren viel
dafür getan worden, die Mitwirkungsmöglichkeiten der
Bürgerinnen und Bürger und Nichtregierungsorganisationen im Umweltbereich Schritt für Schritt auszubauen.
Angefangen hat dieser Trend 1985 mit der UVP-Richtlinie. Wir erinnern uns sicherlich alle an die noch nicht
allzu lange zurückliegenden Diskussionen im Deutschen
Bundestag im Zusammenhang mit der Umsetzung der
Richtlinie in nationales Recht. Mit dem vorliegenden
Entwurf des Umweltinformationsgesetzes wird dieser
Trend fortgesetzt.
Der Entwurf eines Umweltinformationsgesetzes dient
der Umsetzung der Umweltinformationsrichtlinie der
EU vom Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und der weiteren Umsetzung der Anforderungen der Aarhus-Konvention in Gemeinschaftsrecht. Die Aarhus-Konvention ist 1998 von
der Bundesregierung gezeichnet worden. In der Koalitionsvereinbarung von 2002 wurde ihre zügige Ratifizierung festgelegt. Ich denke, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf sehr gut im Zeitplan liegen.
Deutschland hat auf dem Gebiet der Information über
Umweltdaten gegenüber den Bürgern allerdings heute
schon einiges vorzuweisen. Ich denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an das Internetportal gein.de.
Ihre Bedenken, dass es kostenaufwendig ist, digitalisierte Pläne ins Internet zu stellen, teile ich nicht. In dem
Internetportal gein.de können Sie schon heute auf solche
Pläne zurückgreifen. Das Umweltinformationsnetz besteht seit Juni 2000. Hinter diesem Angebot stehen über
250 000 einzelne Webseiten und neun Schnittstellen zu
Datenbanken. Es ist von Bund und Ländern unter der
Hoheit des Umweltbundesamtes gemeinsam erarbeitet
worden. Wenn Sie dieses Informationsnetz näher betrachten, dann werden Sie erkennen, dass kein allzu großer Arbeitsaufwand erforderlich ist, um dem Umweltinformationsgesetz gerecht zu werden.
Ein weiteres Beispiel ist das Schadstofffreisetzungsregister, mit dem der Öffentlichkeit Emissionsberichte
von Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. Für
den Bürger ist es interessant, zu erfahren - das kennen
wir auch aus unserer eigenen Arbeit -, welche Schadstoffe in welcher Konzentration aus dem Schornstein des
Unternehmens von nebenan ausgestoßen werden.
Vergleicht man das bereits bestehende Umweltinformationsrecht mit der neu gestalteten Gesetzgebung, so
fallen einige Verbesserungen auf: Alle Stellen der Verwaltungen des Bundes werden zur Herausgabe von Umweltinformation verpflichtet. Das gilt also nicht mehr
nur für das Umweltministerium, sondern beispielsweise
auch für die Verkehrsbehörden. Die Fristen für die Beantwortung von Anfragen der Bürgerinnen und Bürger
werden verkürzt. Die Anfragen müssen künftig innerhalb von einem Monat beantwortet werden. Des Weiteren werden die Bundesverwaltungen verpflichtet, Umweltinformationen ausführlicher als bisher zum Beispiel
auf ihren Webseiten darzustellen und zu verbreiten. Die
Auskunftspflichten von Landesbehörden werden in landesrechtlichen Vorschriften zur Umsetzung der neuen
Umweltinformationsrichtlinie geregelt.
Auch der Bundesrat hat schon sehr intensiv über den
Entwurf des Umweltinformationsgesetzes diskutiert. Die
Länderkammer hat vorgeschlagen, die Informationspflicht auf private Stellen, die unter der Kontrolle des
Bundes stehen, auszudehnen. Damit werden - das wurde
bereits angesprochen - in Zukunft auch die Telekom und
die Deutsche Bahn auskunftspflichtig in Bezug auf Umweltbelange. Wir begrüßen das sehr und unterstützen
diesen Vorstoß der Bundesländer.
({0})
Ohne die Bereitstellung zuverlässiger Daten und wissenschaftlich fundierter Informationen ist es für die Bürgerinnen und Bürger nicht möglich, sich ein eigenes Urteil über den Zustand ihrer Umwelt zu bilden. Das neue
Umweltinformationsgesetz schafft die Voraussetzungen
dafür; denn nur wer Informationen über den Zustand der
Umwelt bekommt, kann sich aktiv für den Schutz der
Umwelt einsetzen. Wir wissen aus unserer Arbeit, dass
die Bürgerinnen und Bürger von diesem Recht sehr aktiv
Gebrauch machen.
Der leichte Zugriff der Öffentlichkeit auf umweltrelevante Daten und Informationen bildet meiner Ansicht
nach eine unverzichtbare Grundlage für eine bürgernahe und transparente Umweltpolitik. Ich freue mich
deshalb auf die Diskussion über den vorliegenden Gesetzentwurf im Ausschuss. Ich denke, wir werden das
Ganze zu einem positiven Abschluss bringen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
Neugestaltung des Umweltinformationsgesetzes wird
das UIG nicht nur an die Vorgaben der EU-Richtlinie
angepasst. Es wird vielmehr auch ein Schritt zur Umsetzung der Aarhus-Konvention getan. So wird die Verwaltung verpflichtet, die Verbreitung von Umweltinformationen aktiv zu betreiben, und zwar gerade durch den
Einsatz moderner elektronischer Mittel. Die Öffentlichkeit kann somit umweltrelevante Entscheidungen wirksamer als bisher beurteilen. Wir Liberalen begrüßen
diese Zielsetzung ausdrücklich.
Ich möchte nun auf einen Punkt eingehen, den Herr
Gienger angesprochen hat und den Frau Bierwirth dann
- zu Recht - korrigiert hat, nämlich die Informationspflicht privater Stellen. Nach einem übernommenen
Änderungswunsch des Bundesrates richtet sich der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger nun nicht nur an alle
Stellen der Bundesverwaltung. Informationspflichtig
sind vielmehr auch Unternehmen, die umweltbezogene
Dienstleistungen erbringen und der Kontrolle des Bundes unterliegen. Hier liegt die Krux in der Formulierung.
Was bedeutet „umweltbezogen“? Aus dem geänderten
Gesetzestext erschließt sich nicht klar genug, welche
Unternehmen denn das konkret sind. Sind Telekom und
die Deutsche Bahn erfasst oder nicht? Die jetzt gefundene Gesetzesformulierung ist zu unbestimmt und führt
zu Rechtsunsicherheit. Sie muss deshalb präzisiert werden.
({0})
Auch für die Neufassung des UIG gilt das, was wir
schon bei anderen Richtlinienumsetzungen gesagt haben: kein deutscher Sonderweg, sondern eine Eins-zueins-Umsetzung europäischer Vorgaben, keine zusätzlichen Belastungen durch bürokratische Regelungen,
sondern schlanke und effiziente Lösungen. Diesen Vorgaben wird der Gesetzentwurf noch nicht in allen Punkten gerecht. Ein Beispiel: Nach dem Entwurf liegt eine
Ablehnung des Antrages auch dann vor, wenn der Antragsteller auf einen anderen Informationszugang verwiesen wird, zum Beispiel auf eine Internetdatenbank.
Die Folge ist, dass der Antragsteller einen Anspruch auf
ein Vorverfahren erhält, das in einem gerichtlichen Verfahren überprüft werden kann, obwohl er die verlangten
Informationen bekommt, wenn auch auf einem anderen
Zugangsweg. Eine solche Regelung wird von der EURichtlinie nicht verlangt und belastet die Verwaltung
durch ein unnötiges Verfahren.
({1})
Die FDP begrüßt die Weiterentwicklung des Umweltinformationsgesetzes. Gerade die Stellungnahme des
Bundesrates hat aber einige Fragen aufgeworfen. Über
diese sollten wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren
konstruktiv diskutieren. Wir, die FDP, sind dazu gerne
bereit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/3406 und 15/3680 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Katherina
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Reiche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Gesamtkonzept zur Abwehr bioterroristischer
Gefahren vorlegen
- Drucksache 15/3487 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Jörg van Essen, Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Evaluierungsbericht zu dem Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus
vorlegen
- Drucksache 15/3386 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Beatrix Philipp von der
CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist kein
angenehmes Thema, mit dem wir uns hier befassen müssen. Die letzten Monate und Jahre haben gezeigt, dass es
für terroristische Anschläge keine geographische Begrenzung und - was noch bedeutsamer ist - keine moralischen Hemmschwellen mehr gibt. Der neue Typ des
Terroristen, dem das eigene Leben nichts wert ist, lässt
mögliche Katastrophenszenarien zu wahren Horrorvorstellungen werden. Es hat auch nichts mit Panikmache
zu tun, wenn wir im Bundestag das Thema „Bioterror“
thematisieren und debattieren. Im Gegenteil: Es ist unsere Pflicht gegenüber den Menschen in unserem Land,
offen und ehrlich, aber auch schonungslos sachlich über
die Probleme in diesem Bereich zu sprechen.
Wir alle wissen, dass es fast unmöglich ist, terroristische Anschläge völlig auszuschließen. Wir müssen uns
aber damit befassen und darauf vorbereitet sein. Wir
müssen also auch für den Fall eines Terrorangriffs mit
biologischen und chemischen Stoffen gewappnet sein.
Wir sind es nicht. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, endlich ein Gesamtkonzept vorzulegen.
({0})
Ich möchte mich auf ein paar Schwerpunkte unseres Antrags beziehen.
Terrorangriffe mit biologischen, chemischen oder atomaren Stoffen - mit so genannten schmutzigen Bomben - sind Anschläge von mindestens bundesweiter Dimension, die eine enorme Zahl von Menschen betreffen
können. Das muss besonders bedacht werden.
Erstens. Es bedarf zwingend eines bundesweit einheitlichen Führungssystems für alle Rettungs- und
Hilfskräfte, und zwar inklusive der Bundeswehr.
({1})
Es bedarf daher eines gemeinsamen Einsatzzentrums des
Bundes und der Länder, damit wirklich alle Kräfte unseres Landes optimal und ohne Koordinierungsverluste
zum Einsatz kommen können. Wir haben schon in einem
anderen Zusammenhang darüber gesprochen, etwa bei
der Flutkatastrophe. Dort gab es Tausende von helfenden
Händen, aber es gab zu viele Köpfe. Das könnte auch besonders auf solche kaum denkbaren Großschadensereignisse zutreffen.
({2})
Das angesprochene Einsatzzentrum muss als überregionaler, gemeinsamer Führungsstab die notwendigen,
gut ausgestatteten Arbeitsplätze und Führungsmittel vorhalten, die zum gemeinsamen Einsatz erforderlich sind:
alle Kräfte des Bundes, zum Beispiel der Bundeswehr,
des Bundesgrenzschutzes und des Technischen Hilfswerks, alle Kräfte der Länder, zum Beispiel Polizeien
und Feuerwehren.
({3})
- Ich finde es toll, dass wir uns hier so einig sind. Ich
kann dann eine kürzere Rede halten und wir können über
den Antrag gleich beschließen. Dann hätten wir die Sache gleich erledigt. Ich habe aber das Gefühl, dass es
doch Unterschiede in den Auffassungen darüber gibt,
was notwendig ist und vor allem darüber, was bezahlt
werden muss, wenn man solche Vorbereitungen treffen
will. Wie immer steckt der Teufel im Detail. Natürlich
bekommen wir das, was wir brauchen, nicht kostenlos.
Schließlich brauchen wir - neben den Kräften der
Länder, also den Polizeien und Feuerwehren - natürlich
auch die Kräfte der zahlreichen nicht staatlichen Hilfsorganisationen, der Malteser, der Johanniter, des Roten
Kreuzes usw.
Die Betonung liegt in diesem Zusammenhang auf
„gemeinsam“. Ausnahmsweise sind für entsprechende
Regelungen Gott sei Dank keine Grundgesetzänderungen erforderlich. Das würde uns daran hindern, hier aktiv zu werden.
Zweitens. Damit solche sofortigen Reaktionen überhaupt möglich werden, muss zwingend auch ein
bundesweiter Sofortmaßnahmen- und Einsatzplan
erstellt werden. Dazu gehören die Erstellung von Impfplänen, die Ausweisung von Quarantänegebieten, eventuell Stufen der Beschränkung der Mobilität der Bevölkerung usw. Wenn man in seinem Büro sitzt und nicht
weiß, wie man sich ablenken soll, kann man einmal im
Internet schauen, wie die Amerikaner das auf ihren
Homepages darstellen. Mit unseren Vorbereitungen sind
wir meilenweit davon entfernt. Wir haben noch nicht einmal alles bedacht, was dort schon ausgeführt worden ist.
Drittens. Die aufgestellten Notfallpläne müssen unter
Einbeziehung der gemeinsamen Führung mit allen beteiligten Hilfskräften richtig geübt werden. Auch darüber
ist hier schon einmal gesprochen worden. Erinnern Sie
sich an die Debatte um das Flugzeug, das über Frankfurt
flog! Nur durch den Mut der handelnden Person konnte
- nicht durch Gesetze abgedeckt - das Schlimmste verhindert werden. Hilfreich war, dass der Flieger nicht
wirklich Böses im Schilde geführt hat. Großübungen
sind nicht angenehm, aber sie müssen durchgeführt werden, um derartige Ereignisse zu simulieren.
({4})
- Herr Reichenbach, Sie sagen immer, dass für alles gesorgt ist. Wenn Ihrer Meinung nach alles in Ordnung ist,
dann müssten wir mit solchen Dingen bereits befasst
worden sein. Das ist leider nicht der Fall. Selbst wenn
man nachschaut, egal ob auf der Homepage der Bundesregierung oder auf der Seite des Robert-Koch-Instituts,
erkennt man nur, dass große Defizite vorliegen.
Großübungen sind also erforderlich, um die Wirksamkeit der Planung zu überprüfen und Schwachstellen
offen zu legen. Sie werden doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass wir auf all das, was wir in unserem Antrag
erwähnen, vorbereitet sind. Streuen Sie den Leuten keinen Sand in die Augen! Bei uns schaffen Sie das schon
einmal gar nicht, weil wir mit der Sache befasst sind.
Viertens. Bei den Großkatastrophenszenarien, von
denen wir hier sprechen, ist auch die unverzügliche
Warnung und Information der Menschen in unserem
Lande von essenzieller Bedeutung. Die Bundesregierung
verweist jetzt auf das satellitengestützte Warnsystem.
Wir halten eigentlich von den altbekannten Alarmsirenen sehr viel mehr. Wir haben solche Sirenen in Düsseldorf wieder eingeführt, weil die Leute eben nicht - Sie
behaupten das - immer in geschlossenen Räumen oder
auf der Straße anzutreffen sind. Ich kann nur sagen: Die
Installation solcher Sirenen ist nicht einmal teuer, aber
sie muss angeordnet oder angeregt werden. Es ist jedenfalls notwendig, in diesem Bereich zu handeln.
({5})
Fünftens. Wir brauchen auch ein Konzept für die Versorgung einer großen Zahl Schwerstinfizierter oder
durch chemische Stoffe geschädigter Menschen. Darauf
sind wir nicht vorbereitet. Die Krankenhäuser haben aus
unterschiedlichen Gründen Bettenabbau in großer Zahl
betreiben müssen. Wenn man einmal in den einzelnen
Städten nachfragt, wie viele Notfallbetten vorgesehen
sind, dann kann einem angesichts der Zahlen nur angst
und bange werden. Wenn es zutrifft, was heute Morgen
im Zusammenhang mit der Debatte des Deutschen Bundestages über die Bundeswehr besprochen wurde, nämlich dass die Reservelazarette aufgelöst werden sollen,
dann ist das nicht nur bedauerlich, sondern ausgesprochen fahrlässig.
({6})
Sechstens. Die Katastrophenschutzkräfte - das alles
wissen wir ja - sind zurzeit nicht ausreichend mit geeigneter Schutzausrüstung und Fahrzeugen ausgestattet.
367 ABC-Erkundungswagen sind zwar bestellt worden das ist in Ordnung; das begrüßen wir; wir loben auch
gern einmal die Bundesregierung,
({7})
wenn es sich nun gar nicht vermeiden lässt -, aber die persönliche Schutzausstattung der Helfer, Herr Staatssekretär,
hat - das wird immer wieder betont - große Mängel. In diesem und im kommenden Jahr werden 6 250 Schutzausrüstungen beschafft. Herr Reichenbach, 78 000 wären notwendig.
({8})
Man höre und staune: Die Innenministerkonferenz hat
das Ende 2002 auch beschlossen. Jetzt muss es nur noch
gemacht werden.
({9})
Auf Jahre hinaus also sind die Katastrophenschutzhelfer
nicht ausreichend geschützt.
({10})
- Sie können das alles gleich vom Mikrofon aus sagen.
Quaken Sie nicht immer dazwischen! Das ist ja fürchterlich.
Der Bedarf an Fahrzeugen für den Katastrophenschutz wird von der Bundesregierung selbst auf 1 363 Fahrzeuge beziffert. Beschafft werden 95.
({11})
Deswegen finde ich den Zwischenruf: Es ist alles in Ordnung! schlichtweg - um es ganz vorsichtig auszudrücken
und mir keine Rüge einzuhandeln - nicht in Ordnung.
Last, but not least: Die Zusammenarbeit von Kräften
des Katastrophenschutzes mit den Streitkräften muss vorangetrieben werden. Frau Tritz - Sie sind im Moment
im Präsidium -, Sie haben sich heute Morgen auch zu
dieser Frage geäußert. Ich hatte das Gefühl, dass Sie
nicht verstanden haben, worum es geht.
({12})
Sie meinten ausführen zu müssen, dass es zweifelhaft ist,
ob zum Beispiel ein Giftgasanschlag wie in der U-Bahn
von Tokio durch das Aufmarschieren einer Armee zu
verhindern wäre. So blöd sind wir alle nicht! Wenn Sie
sich einmal mit den Folgen auseinander setzen, dann erkennen Sie, was eigentlich alle wissen - vielleicht kann
das von Ihnen noch dazugelernt werden -: Wir brauchen
auch die Hilfe der Bundeswehr für die Folgen eines solchen Anschlages.
Ich bedanke mich herzlich.
({13})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Fritz Rudolf Körper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
einen Zielsatz formulieren: Umfassenden Schutz zu bieten und Vorsorge zu treffen ist das Ziel und die Aufgabe
unseres politischen Handelns im Bereich des Zivil- und
Katastrophenschutzes. - An dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, erwarte ich eigentlich Applaus.
({0})
- Das war aber ein bisschen wenig.
({1})
- Sehr schön.
Es liegen heute zwei Anträge zu diesem Thema vor.
Der FDP-Antrag „Evaluierungsbericht zum Gesetz zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus vorlegen“
ist relativ schnell abzuhandeln. Lieber Herr Stadler, wir
werden in Kürze einen solchen Bericht vorlegen. Ich
bitte aber um Verständnis dafür, dass wir ein Stück Gesetzespraxis brauchen, um einen solchen Bericht in guter
Qualität vorlegen zu können. Wir alle wissen genau, seit
wann diese gesetzlichen Maßnahmen in Kraft sind. Wir
brauchen einfach ein Stück praktischer Erfahrung. Das
wird erledigt. Wir hätten keine Aufforderung gebraucht.
({2})
Aber sie schadet auch nicht. Wir machen es trotzdem
Zum CDU/CSU-Antrag. Ich will an ein paar Beispielen deutlich machen, dass dieser Antrag eigentlich am
Geist der Zeit vorbeigeht.
({3})
Man hat nicht zur Kenntnis genommen oder hat nicht zur
Kenntnis nehmen wollen, was in diesem Bereich vorhanden ist. Ich mache das nur kurz und stichwortartig.
In dem Antrag wird beispielsweise eine umfassende
Gefährdungsanalyse gefordert. Meine Damen und Herren, die Aufgabe einer Analyse möglicher Gefährdungen
durch den internationalen Terrorismus wird längst durch
das Bundeskriminalamt erledigt. Dabei werden beispielsweise auch Gefährdungen durch bioterroristische
Anschläge einbezogen. Die Nachrichtendienste werden
bei der Erstellung von Gefährdungslagebildern eng eingebunden und die Ergebnisse werden sogar den Ländern
zur Verfügung gestellt.
({4})
Es wird also eine umfassende Gefährdungsanalyse erstellt.
({5})
Wir gehen auch einen Schritt weiter, indem wir das Analyse- und Informationszentrum des BKA und des BfV in
Berlin-Treptow einrichten. Entsprechende Maßnahmen
wurden also getroffen.
Dann, liebe Frau Philipp, habe ich die herzliche Bitte,
dass Sie zur Kenntnis nehmen, dass es in unserem föderalen System eine Aufgabenteilung zwischen dem Bund
auf der einen Seite und den Ländern auf der anderen
Seite gibt. Der Bund ist für den so genannten Zivilschutz
zuständig, die Länder für den so genannten Katastrophenschutz. Da muss man auch die Mitarbeit und Zusammenarbeit von den Ländern einfordern. Ich denke,
das ist dringend notwendig.
({6})
Sie haben das Thema Zivilschutzfahrzeuge angesprochen. Ich kann nur festhalten: Wir haben 650 Zivilschutzfahrzeuge angeschafft. Darauf ist diese Regierung
stolz. Wir sagen dem Haushaltsgesetzgeber Dank, dass
er das zugelassen hat. Wir haben eine hervorragende
Ausstattung im Bereich von ABC-Erkundungsfahrzeugen. Jetzt kommt es konzeptionell darauf an, diejenigen,
die solche Fahrzeuge bedienen, mit entsprechenden
Schutzanzügen auszustatten. Dieser Bereich stellt in diesem Haushalt einen Beschaffungsschwerpunkt dar.
Liebe Frau Philipp, das ist hervorragend. Danke, dass
wir das auch umsetzen können.
({7})
Wir haben weiterhin ein Gemeinsames Melde- und
Lagezentrum in Bonn im Rahmen des Bundesamtes für
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eingerichtet.
Ein solches Gemeinsames Melde- und Lagezentrum ist
allerdings nur so gut, wie es die Beteiligten zulassen.
Deswegen appelliere ich an die Länder, hier auch mitzumachen. Das ist, wie ich denke, ganz wichtig.
({8})
Wenn Sie, liebe Frau Philipp, sagen, es werde nicht
richtig geübt, dann kann ich Ihnen nur raten, sich einmal
die Arbeit unserer Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz in Bad Neuenahr-Ahrweiler
anzuschauen. Da geht es genau darum, Großübungen
vorzubereiten und sie sorgfältig umzusetzen sowie alle
Beteiligten, nicht nur die auf Bundesebene, bei diesen
Übungen mit einzubeziehen. Das ist, wie ich denke, der
richtige Weg. Dass wir diesen beschreiten müssen, hängt
mit den föderalen Strukturen zusammen. Innerhalb dieses Systems ist aber genau das der richtige Weg.
Wir waren es schließlich, die das Bundesamt für
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eingerichtet haben. Dass dieses Amt nur eine koordinierende
Funktion wahrnehmen kann, liegt doch nicht an der
Bundesebene, also an der Bundesregierung und am
Deutschen Bundestag, sondern daran, dass die Länder es
nicht zugelassen haben, dass uns auch nur ein Hauch
operativer Kompetenzen zugestanden wird.
({9})
- Das muss man hier sagen und das kann man nicht oft
genug sagen. - Nehmen Sie das doch bitte einmal zur
Kenntnis. Ich bin stolz darauf, dass uns zumindest dieser
Schritt gelungen ist.
({10})
Ich gehe auch noch einmal auf das Technische Hilfswerk
ein. Schauen Sie sich einmal die Haushaltsansätze an!
Trotz schwierigster Situation der öffentlichen Haushalte
auf Bundesebene sind wir stolz darauf, dass wir zwar nur
leicht, aber immerhin steigende Haushaltsansätze haben.
Dass uns das möglich ist, darauf sind wir stolz. Der Beweis dafür, dass das richtig ist, wird dadurch erbracht,
dass das Technische Hilfswerk eine hervorragende Arbeit leistet. Auch das muss man hier einmal deutlich machen.
({11})
Letzte Bemerkung: Sie haben das Alarmierungs- bzw.
Warnsystem angesprochen. Ich rufe Ihnen da einmal in
Erinnerung, dass es unsere Vorgängerregierung und die
sie tragenden Fraktionen gewesen sind, die zwar die Sirenen abgeschafft, aber nicht für eine Alternative gesorgt
haben.
({12})
Wir haben für eine Alternative gesorgt. Am 15. Oktober
2001 haben wir ein erstes System installiert. Wir werden
weiter daran arbeiten.
Leider ist meine Redezeit abgelaufen. Ich könnte Ihnen noch eine Menge Beispiele nennen, die Ihre Kritik
widerlegten. Ich glaube aber, auch das bisher Gesagte
reicht dazu aus.
Schönen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion hat in den vergangenen Monaten
wiederholt eine Evaluierung - so sagt man heute; besser
wäre es vielleicht, von einer Auswertung zu sprechen der Anti-Terror-Gesetze von Anfang 2002 verlangt.
Aber es ist nichts passiert, Herr Staatssekretär. Deswegen haben wir heute einen Antrag gestellt. Ich nehme
mit Befriedigung zur Kenntnis, dass Sie aufgrund unseres Antrages unserem Anliegen Rechnung tragen werden.
({0})
Es müsste eigentlich ein selbstverständliches Anliegen
sein, dass eine Politik der inneren Sicherheit betrieben
wird, die sich auf die Auswertung von Fakten und Tatsachen stützt und nicht nur auf Meinungen.
({1})
Wir haben den Antrag auch deswegen gestellt, weil
wir mit der Art und Weise der Gesetzgebung in der
letzten Zeit nicht zufrieden sein können. Es gibt ganz
eindeutig eine anlassbezogene Gesetzgebung. Wenn
- bedauerlicherweise - etwas Schlimmes passiert, dann
kommt die Gesetzgebungsmaschinerie in Gang und die
Parteien überbieten sich mit Vorschlägen für neue Gesetze. Das ist die Situation. Wir wollen aber eine rationale und an den Rechtstatsachen orientierte Innenpolitik. Dies zu erreichen ist der tiefere Grund unseres
Antrags.
({2})
Ich darf daran erinnern, wie das Verfahren nach den
furchtbaren Anschlägen vom 11. September 2001 gewesen ist. Die bis dato umfangreichste Änderung der Gesetze zur inneren Sicherheit ist von Rot-Grün im Bundestag mit einem raschen Tempo - weitgehend mit
Zustimmung der CDU/CSU - verabschiedet worden.
Dabei hat es sich nicht nur um eine umfangreiche quantitative Änderung der Gesetze, sondern auch um eine
qualitative Änderung unseres Rechtsstaates gehandelt. Ich sage das nicht bewertend; es ist vielmehr ein
Faktum. Denn wir sind im Polizeirecht von der klassischen Aufgabe der Verfolgung begangener Straftaten
oder der Verhütung von konkret bevorstehenden Straftaten weggekommen hin zu einem auf Prävention ausgerichteten Staat,
({3})
in dem die Polizei immer mehr eingreift, ohne dass es
dafür konkrete Anlässe gibt.
({4})
Vielleicht ist dies notwendig. Aber es muss im Zuge
einer Evaluierung einmal geklärt werden, was diese
Maßnahmen gebracht haben
({5})
und wo vielleicht Lücken sind. Diese Evaluierung muss
natürlich ergebnisoffen sein und sie muss jetzt stattfinden.
Denn die Debatten, die damals geführt worden sind, entwickeln sich fortlaufend weiter. Ich nenne einige Beispiele.
Erstes Beispiel ist die zukünftige Rolle des Bundeskriminalamtes. Herr Schily will, dass es mehr Kompetenzen bekommt.
({6})
Die Länder sagen, dass es die von Schily behaupteten Sicherheitslücken nicht gibt.
({7})
Das ist ein typisches Beispiel für einen Fall, in dem man
eine Evaluierung braucht.
({8})
Ich nenne als weiteres Beispiel den Grundsatz der
Trennung von Geheimdiensten und Polizei. Dies ist
seit 50 Jahren ein eherner Grundsatz des Rechtstaates. Er
wird heute leichterhand zur Disposition gestellt.
Ich nenne weiterhin die Debatte um die Sicherheitsarchitektur. Wir von der FDP sagen, dass wir im Zuge
der Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der inneren
Sicherheit dem Staate das geben, was des Staates ist nicht weniger, aber auch nicht mehr.
({9})
Um dies rational zu klären, brauchen wir - um mit
den Worten von Erhard Denninger, dem bekannten
Frankfurter Staatsrechtler, zu sprechen - nicht nur eine
Überprüfung der schon geltenden Gesetze auf ihre Effizienz und auf ihre Lücken hin, sondern auch eine Überprüfung unter dem Gesichtspunkt, ob die Balance von
innerer Sicherheit und Freiheit noch gewährleistet ist.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Evaluierung der Sicherheitsgesetze - da können Sie sicher
sein, Herr Kollege Stadler - liegt unserer Fraktion genauso am Herzen wie Ihnen.
({0})
Deswegen haben wir damals diese Möglichkeit im Gesetz aufgenommen. Es ist für uns völlig selbstverständlich, dass wir die Gesetze, die wir hier beschließen, auch
umsetzen. Seien Sie versichert, es wird an der Evaluierung der Sicherheitsgesetze gearbeitet. Für uns ist völlig
selbstverständlich: Eine Evaluierung bedeutet, dass das
ergebnisoffen ist.
In den Abendstunden des Donnerstags, in denen wir
die Debatten zu Themen der inneren Sicherheit häufig
führen, wird mir immer wieder deutlich: Ich bin froh,
dass Rot-Grün eine verlässliche Innenpolitik macht und
dass wir eine stabile Mehrheit für die Durchsetzung unserer Politik, unserer Konzepte und unserer Ideen haben.
Völlig klar ist: Die CDU/CSU hat für die Durchsetzung
ihrer Vorstellungen keinen Partner. Die CDU/CSU ist
nicht mehrheitsfähig und das wird sie auch nach 2006
nicht sein.
({1})
Deswegen, Herr Kollege Stadler: Unterstützen Sie weiter den Bürgerrechtsansatz der Grünen! Dann tun Sie etwas Gutes. Rot-Grün wird weiter eine verlässliche
rechtsstaatliche Innenpolitik mit Augenmaß machen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Antrag
der CDU/CSU; wir debattieren ja heute über zwei Anträge. Wir sind uns in der Analyse einig: Angriffe mit
Biowaffen sind eine reale Bedrohung. Aber ich denke,
man muss in diesem Zusammenhang auch einmal sagen,
wo diese Bedrohung angefangen hat. Richtig ist: Biologische Waffen haben wir nur, weil insbesondere die
westlichen Regierungen irgendwann entschieden haben,
diese Waffen zu entwickeln.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch festhalten: Seit der Unterzeichnung der Biowaffenkonvention im Jahre 1972 wird erfolglos über Kontrollmechanismen verhandelt. Die USA haben eine Gewehrgranate
patentieren lassen, die zum Abschuss von Biowaffen geeignet ist. Ich denke, wir sollten in unserer Außenpolitik
auch deutlich machen, dass die Biowaffen, die uns heute
real bedrohen, nicht in Bagdad, aber mit Sicherheit in
Baltimore in den USA zu finden sind.
({2})
Welche tollen Maßnahmen die rot-grüne Regierung
durchgeführt hat, hat Herr Körper ausführlich dargestellt. Ich gehe darauf nicht weiter ein, da ich nur noch
wenig Redezeit habe.
Lassen Sie mich daher ein anderes Reizthema ansprechen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz, das wir
eingerichtet haben, muss sich derzeit auf die Planung
und Koordinierung von Maßnahmen im Bereich des Zivilschutzes beschränken. Ansonsten haben wir es hier
mit 16 Ländern, 16 unterschiedlichen Gesetzen und
16 unterschiedlichen Qualitäten in der Umsetzung dieser
Gesetze zu tun, weil die Länder für den Katastrophenschutz zuständig sind. Wenn wir uns schon einig darin
sind, dass wir eine neue Bedrohungslage haben, dann
sollten wir meiner Meinung nach auch darin übereinstimmen, dass die Zweiteilung einerseits in den Zivilund andererseits in den Katastrophenschutz nicht mehr
zeitgemäß ist. Diese Zweiteilung wird den neuen Herausforderungen nicht gerecht.
Was den Zivil- und Katastrophenschutz angeht,
sage ich: Wir brauchen uns hier nicht über einen erweiterten Einsatz der Bundeswehr im Innern zu unterhalten;
das ist für diese Bereiche geregelt. Aber die Unvernunft
des Föderalismus wird gerade durch die Aufteilung des
Zivil- und Katastrophenschutzes deutlich. Sie fordern
hier etwas von der Bundesregierung, was unsere Verfassung überhaupt nicht zulässt. Ich habe noch immer die
gute Hoffnung, dass in der Föderalismuskommission
doch noch sachliche Gespräche über Grundgesetzänderungen in Bezug auf den Zivil- und Katastrophenschutz
geführt werden.
({3})
Ich hoffe, dass auch das Land Bayern über seinen Schatten, über seine föderale Eigensinnigkeit springt, damit
wir gemeinsam für die Gewährleistung der Sicherheit
unserer Bevölkerung sorgen können.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Die Bekämpfung des Bioterrorismus ist eine Aufgabe,
die nicht nur die organisatorischen und Zuständigkeitsregeln angeht, sondern auch die technologischen Grundsätze betrifft. Auf diesen Bereich möchte ich an dieser
Stelle einmal eingehen. Ich meine, dass die Bundesregierung an dieser Stelle bisher eindeutig nicht ausreichend
aufgestellt ist.
Es geht nicht nur um vorhandene Waffensysteme, die
meine Vorrednerin in den Mittelpunkt gestellt hat. Es
kann doch gar nicht davon abgelenkt werden - und wir
sind uns doch alle darüber im Klaren -, dass es noch zu
keiner Zeit zuvor technisch machbar war, so umfassende
Veränderungen an Organismen gezielt vorzunehmen.
Das betrifft nicht nur Wissenschaftler weltweit, sondern
leider auch Akteure mit böswilligen Absichten.
Vor diesem Hintergrund ist die nach wie vor zu geringe Forschungsaktivität in diesem Bereich ein Kernproblem. Hier fehlt es ganz entscheidend an Unterstützung durch die Bundesregierung. Herr Staatssekretär, die
wachsenden Haushaltsansätze, die Sie eben ins Feld geführt haben, kann ich nicht erkennen.
Ich will einige Beispiele herausgreifen. Es fehlen
Hochsicherheitslabors der so genannten Stufe 4, in denen man solche Forschungen überhaupt vornehmen
kann. Da sieht es leider nicht so erfolgreich aus, wie Sie
es gerne darstellen wollen. Nach unseren Initiativen im
vergangenen Jahr ist jetzt immerhin - so sind meine letzten Informationen; man höre und staune! - die Bauplanung für ein solches S-4-Labor am Robert-Koch-Institut
in Gang gekommen. Da sind wir schon einen tollen
Schritt vorangekommen. Das zweite Labor, das wir in
Deutschland haben, nämlich das am Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg, wird inzwischen immerhin renoviert.
Auch das ist sicherlich etwas, aber nun wirklich nicht
der Fortschritt, den wir auf diesem Gebiet so dringend
benötigen.
Die Schaffung eines erhöhten Wissensstandards auf
unserer Seite ist einer der wichtigsten Beiträge zur Abwehr solcher Gefahren für die Bundesrepublik Deutschland. Um noch einmal die angeblich wachsenden Haushaltsansätze aufzunehmen: Der Vergleich mit den USA
macht mehr als nachdenklich. Dort stehen rund
7 Milliarden Dollar zur Verfügung, um Strategien gegen
den Bioterror zu entwickeln. Bei uns lassen sich gerade
einmal 4 Millionen zusammenrechnen. Zudem werden
dem Robert-Koch-Institut im Rahmen der künastschen
Umgestaltung gerade auch noch wesentliche Kompetenzen im Bereich der Bio- und Gentechnik entzogen. Damit wird dieses Institut nicht gerade leistungsfähiger gemacht.
In besonderem Maße fehlt aber - darauf hat schon die
Frau Kollegin Philipp hingewiesen - ein konzeptionell
entwickelter und dem Thema angemessener Forschungsauftrag und Forschungsumfang, der eine kontinuierliche
Arbeit über Jahre hinweg ermöglicht und zu entsprechenden Erfolgen führen kann. Dabei könnte Deutschland doch gerade hier im internationalen Kontext - er
wird in unserem Antrag angesprochen - eine Führungsrolle übernehmen und im Zusammenwirken mit anderen
Nationen die Rolle eines Kompetenzzentrums ausfüllen.
Das gilt zum Beispiel für die Entwicklung diagnostischer Verfahren, für schnelle, automatisierte Erkennungssysteme und für andere Voraussetzungen, die ein
schnelles Handeln überhaupt erst möglich machen.
Hier braucht es endlich ein Gesamtkonzept und nicht
nur - wie in Ihrer Antwort auf unsere Anfrage im letzten
Jahr geschehen - die Umdefinition von Projekten, die eigentlich für ganz andere Dinge vorgesehen sind, und von
Einrichtungen, die bisher für ganz andere Ziele gearbeitet haben, zu Elementen des Kampfes gegen den Bio11574
terrorismus. Die Bundesregierung ist vielmehr gefordert,
von der Analyse bis zum Einsatzkonzept, das eben schon
breit diskutiert worden ist, langfristig zu projektieren
und auch zu finanzieren und zudem eine international erkennbare Positionierung vorzunehmen, statt dieses
Thema in den Debatten - wie auch eben wieder - mehr
oder weniger auszuklammern.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Frank Hofmann von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Stadler, zu dem Antrag, den Sie eingebracht haben:
Wenn Sie einmal in das Gesetz geschaut hätten, dann
hätten Sie gewusst, dass wir das von Ihnen Geforderte
sowieso machen. Wenn Sie die Koalitionsvereinbarung
gelesen hätten, wüssten Sie, dass es auch darin steht;
wenn es darin steht, dann werden wir es auch tun. Sie
wissen, dass wir bei der Evaluierung Wert darauf legen,
dass es ein guter Bericht wird, mit dem man etwas anfangen kann. Wir werden das so tun; es wäre auch sonst
geschehen, aber der Antrag ist selbstverständlich unschädlich.
Mit diesem Antrag hatte ich auch keine Probleme,
aber mit dem der CDU/CSU. Dieser Antrag hat mich
doch sehr verwundert. Hier wird gleich am Anfang unterstellt, die Bundesregierung verdränge die Möglichkeit
bioterroristischer Angriffe. Ich frage Sie: Wer tut das?
Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört. Warum unterstellen Sie so etwas?
Dann schreiben Sie weiter, die CDU/CSU fordere die
Bundesregierung auf, „jenseits von Panikmache“ die
Herausforderungen anzunehmen und die notwendigen
Planungen für einen eventuellen Ernstfall vorzulegen.
Ich nehme Ihnen nicht ab, dass es Ihnen nicht auch um
Panikmache geht.
({0})
Hinsichtlich der Einschätzung bioterroristischer
Gefahren wissen Sie genauso gut wie ich, dass es sich
dabei nicht um den wahrscheinlichsten Fall eines terroristischen Anschlages handelt, sondern um einen eher
unwahrscheinlichen Fall. Das sagen uns die Sicherheitsbehörden. Für diesen Fall hat die Bundesministerin für
Gesundheit und Soziale Sicherung bereits am
29. November 2001 festgestellt, dass im Falle einer Bedrohung durch einen bioterroristischen Anschlag für
Deutschland umfassend Vorsorge getroffen wird. Deshalb ist auch die Forderung in Ihrem Antrag, Maßnahmen einzuleiten - nicht die Forderung, Forschungsaufträge zu vergeben -, um die Bevölkerung besser vor
möglichen bioterroristischen bzw. ABC-Angriffen zu
schützen, längst erledigt.
({1})
Das wurde bereits getan und wird ständig optimiert.
Haben Sie sich nicht mit dem Konzept „Neue Strategien zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ befasst, das ein Jahr vor Ihrem Antrag auf Initiative des
Bundesinnenministers auf den Weg gebracht und von
der IMK verabschiedet wurde? Ich frage mich und frage
Sie: Weshalb befassen Sie sich in Ihrem Antrag vor diesem Hintergrund isoliert mit den Gefahren des Bioterrorismus?
Ich habe Ihren 19 Punkte umfassenden Forderungskatalog genau geprüft und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass vonseiten des Bundes kein Punkt mehr zu erledigen ist. Alles ist geplant oder läuft bereits.
Um die wirklichen Probleme bei der Abwehr terroristischer Gefahren drücken Sie sich. Die Verbesserung
der Sicherheitsstrukturen erwähnen Sie mit einem
Halbsatz, drücken sich aber davor, überhaupt Forderungen aufzustellen, weil Sie erstens wissen, dass Sie bei
den Ländern damit auf Granit stoßen, und es zweitens
keine abgestimmte Position innerhalb der CDU/CSU
gibt.
({2})
Das Rüttgers-Papier vom März 2004 lässt sich mit Positionen von Herrn Beckstein, CSU, nie und nimmer in
Einklang bringen.
Bundesinnenminister Otto Schily und die Innen- und
Rechtspolitiker der Koalitionsfraktionen drücken sich
nicht um dieses Thema. Wir tun uns zugegebenermaßen
schwer, zu einer gemeinsamen Linie zu finden, wir drücken uns aber nicht. Wir diskutieren und suchen noch
nach einer vernünftigen Lösung. Dabei könnten Sie mithelfen. Erfüllen Sie Ihre Aufgaben, statt Feuerchen zu
schüren. Halten Sie sich doch noch einmal die Folgewirkungen vor Augen, die die mit Anthraxsporen kontaminierten Briefsendungen in den USA hier bei uns hatten.
({3})
In Deutschland gab es 4 000 Verdachtsfälle und
27 Festnahmen von Tatverdächtigen, ohne dass Anthrax
nachgewiesen wurde.
Ich appelliere an Ihre Verantwortung, mit einem derartig heiklen Thema nicht zu spielen und kein parteipolitisches Süppchen zu kochen. Spielen Sie nicht mit dem
Feuer!
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Die Rede der Kollegin Petra Pau nehmen wir zu Pro-
tokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/3487 und 15/3386 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
1) Anlage 6
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. September 2004,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.