Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/8/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben. ({0}) Am 19. August hat uns alle vollkommen unvorbereitet die Nachricht vom Tode unseres Kollegen Dr. Günter Rexrodt erreicht. Wir wussten von seiner schweren Krankheit, hielten sie aber für überwunden. So kam sein Tod plötzlich und traf uns wie ein Schock. Seine tatkräftige und lebensbejahende Art hat er sich auch in einer Zeit bewahrt, in der ihm seine Krankheit viel Kraft abverlangte. Am 12. September 1941 in Berlin geboren, blieb Günter Rexrodt seiner Geburtsstadt lebenslang verbunden. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft an der Freien Universität Berlin arbeitete er in einem großen Berliner Industriebetrieb und bei einer Bank. 1968 nahm er seine Tätigkeit bei der Berliner Industrie- und Handelskammer auf, wo er 1974 Mitglied der Geschäftsführung wurde. Günter Rexrodt wechselte 1979 zum Senator für Wirtschaft und begann seinen politischen Weg 1982 als Staatssekretär des Wirtschaftssenators und übernahm 1985 als Senator das Finanzressort. 1989 ging er zu einer großen Bank - erst nach New York und dann nach Frankfurt am Main als Vorstandsvorsitzender. 1991 kam der Ruf in den Vorstand der Berliner Treuhandanstalt. Kurze Zeit später führte ihn sein Weg in die Bundespolitik. Günter Rexrodt übernahm 1993 das Amt des Bundeswirtschaftsministers, das er, 1994 als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt, bis Oktober 1998 innehatte. 1998 wieder in den Bundestag gewählt, wurde er haushaltspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Günter Rexrodt gehörte dem Präsidium der FDP seit 1999 an und übernahm im Jahr 2001 das Amt des Schatzmeisters der Bundespartei. Die, die ihm begegneten, beeindruckte seine zupackende Art und die Fähigkeit und Bereitschaft, auf andere Menschen zuzugehen. Er war ein engagierter, in der politischen Auseinandersetzung streitlustiger Parlamentarier, der trotz aller Meinungsunterschiede seinen politischen Gegnern freundlich und charmant begegnete. Er wusste, wie wichtig dies in der Politik ist. Wir betrauern den Tod unseres Kollegen Günter Rexrodt. Wir werden ihn in ehrender Erinnerung behalten. Seiner Witwe und seinem Sohn drücken wir unser tiefes Mitgefühl aus. Ich danke Ihnen. Meine Damen und Herren, für den verstorbenen Kollegen Rexrodt hat der Abgeordnete Hellmut Königshaus am 20. August 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ferner hat für die Kollegin Tanja Gönner, die am 13. Juli 2004 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat, die Abgeordnete Angela Schmid am 28. Juli 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Für den Kollegen Albert Deß, der am 19. Juli 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat, hat der Abgeordnete Artur Auernhammer am 29. Juli 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin und die neuen Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit. ({1}) Sodann möchte ich nachträglich Bundesminister Otto Schily, der am 20. Juli dieses Jahres seinen 72. Geburtstag beging, sowie der Kollegin Barbara Wittig und dem Kollegen Hans-Peter Uhl jeweils nachträglich sehr herzlich zum 60. Geburtstag gratulieren. ({2}) Dann teile ich mit, dass die Kollegin Petra Selg ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen benennt als Nachfolgerin Redetext Präsident Wolfgang Thierse die Kollegin Marianne Tritz. Sind Sie damit einver- standen? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Tritz zur Schriftführerin gewählt. Wir setzen nunmehr die Haushaltsberatungen - Ta- gesordnungspunkt 1 - fort: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2005 ({3}) - Drucksache 15/3660 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008 - Drucksache 15/3661 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige Aussprache insgesamt achteinhalb, für morgen neun und für Freitag dreieinhalb Stunden beschlossen haben. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Das Wort hat Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. ({4})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor knapp zwei Jahren sind die Deutschen an die Wahlurne gerufen worden. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, eine Halbzeitbilanz zu ziehen. Wie sieht unser Land, Herr Bundeskanzler, ({0}) nach sechs Jahren Ihrer Regierung zusammen mit dem gefährlichsten Minister, was die Wirtschaft anbelangt, mit Herrn Trittin, aus? Ich würde, wenn ich von der Wirtschaft ausgehe, die Regierung gerne Schröder/ Trittin-Regierung nennen, weil sich dann gleich zeigt, wo die Schwachstellen liegen. ({1}) Wir haben in unserer Wirtschaft leider - niemand kann sich darüber freuen - einen Trend zum Substanzabbau zu verzeichnen, der erschreckt. Führende deutsche Unternehmen wie VW und Bayer scheiden aus dem Euro Stoxx 50 aus. Nun kann man sagen: Das ist eine Nachricht, die nur die Börsianer interessiert. In Wirklichkeit ist das ein Zeichen des Abstiegs der deutschen Wirtschaft innerhalb Europas. Der Euro Stoxx 50 enthält die am stärksten kapitalisierten Unternehmen Europas. Wenn jetzt auf einmal zwei deutsche Traditionsunternehmen ausscheiden, dann muss das auch mit der Politik zu tun haben und dann kann das nicht allein an der mangelnden Fähigkeit der Unternehmensführer liegen. ({2}) Ich frage mich: Warum regt das eigentlich niemanden bei uns im Land mehr auf? ({3}) Weil wir, seitdem Sie regieren, schlechte Nachrichten gewohnt sind, nach dem Motto, Herr Schmidt: Es hätte ja alles noch schlimmer kommen können. Es hätten ja auch gleich fünf Unternehmen ausscheiden können. Da nur zwei ausgeschieden sind, ist also alles prima. Traditionsreiche deutsche Großbanken sind - Sie müssen sich nur die Börsenkurse anschauen - in ihrer Börsenkapitalisierung weit abgeschlagen. Sie werden als Fusionskandidaten gehandelt und es wird berichtet, Sie, Herr Bundeskanzler, würden sich für solche internationalen Fusionen einsetzen. Ein weiteres Beispiel. Es erfolgt derzeit ein Ausverkauf deutscher Wohnungen an internationale Fondsgesellschaften, offensichtlich weil ansonsten niemand mehr bereit ist zu kaufen. Ich erinnere mich, dass man sich, als Theo Waigel überlegt hat, die GAGFAH, die der Bundesversicherungsanstalt gehört, zu verkaufen, um die Eurostabilitätskriterien zu erfüllen, sehr darüber aufgeregt hat. Was war da alles los! Jetzt ist das Ganze verramscht worden und der Herr Gerster, den Sie als Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit geschasst haben, hat dabei noch Geld verdient. Niemand regt sich darüber auf. Ich glaube, das alles gehört zu den Momentaufnahmen der heutigen Zeit. Bei mir war unlängst ein Mensch, der sein Geld damit verdient, dass er große Kreditpakete von angeschlagenen Großbanken - er sagt, in Deutschland seien fast alle angeschlagen - an amerikanische Fonds vermittelt. Im Moment gibt es in diesem Bereich einen gewaltigen Ausverkauf. Es handelt sich dabei nach dem Nominalwert um zig Milliardenbeträge - wie teuer verkauft wird, weiß man nicht -, da sich die Großbanken entlasten und diese Pakete ins Ausland verramschen. ({4}) Das heißt aber auch, dass indirekt Firmen mitverkauft werden und ein Arbeitsplatz- und möglicherweise auch ein Wissenstransfer erfolgt, weil mittelständische Firmen, die Bestandteil dieser Pakete sind, plötzlich nicht mehr eine bestimmte deutsche Großbank als Partner haben, sondern die Anwälte amerikanischer Fondsgesellschaften. - Ich glaube, das alles sollte uns eigentlich umtreiben. ({5}) Herr Bundeskanzler, die Firma, die Sie einmal zum Opernball nach Wien eingeladen hat - seinerzeit waren Sie Mitglied im Aufsichtsrat; das alles war korrekt; es ist ja auch ein schöner Ball; auch ich war schon dort -, ({6}) die Firma VW, verkauft sich selbst zum Teil nach Abu Dhabi. Der Wirtschaftspresse hat man entnehmen können, dass für die Ölscheichs der Kaufpreis wegen der zwischenzeitlichen Börsenentwicklung der VW-Aktie um 10 Prozent billiger wird, als man kalkuliert hat. Ich kann nur sagen: Offensichtlich hat der Vorstand schlecht gearbeitet. Zu diesem gehört auch Herr Hartz; er hätte sich besser um die Personalplanung kümmern sollen, um rechtzeitig umzuschalten. ({7}) - Herr Schmidt, dass Ihnen das nicht gefällt, kann ich sehr gut verstehen. Sie sind der unflätigste Zwischenrufer. ({8}) Ich würde gern dem Publikum all das vorlesen, was Sie an Unflätigkeiten während meiner Reden dazwischenrufen. Wenn Sie aber glauben, mich damit durcheinander zu bringen, dann täuschen Sie sich ganz gewaltig. ({9}) Ob sich die Ölscheichs bei Herrn Hartz bedanken werden, wird sich erst zeigen. Deutschland wird aber immer mehr zum Schnäppchenmarkt. Man geht heutzutage auf Schnäppchenjagd. „Geiz ist geil!“, Herr Bundeskanzler, auch bezüglich des Ausverkaufs der deutschen Wirtschaft. ({10}) - Ich weiß, Sie wollen das verdrängen, Sie nehmen es nicht zur Kenntnis. Aber die Wähler nehmen es zur Kenntnis. Schauen Sie sich einmal Ihre Wahlergebnisse an. Darauf komme ich noch zu sprechen. Genauso schlimm ist, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland anhält. Sie hat inzwischen den Mittelstand erfasst. Das Hauptargument sind die politisch verantworteten Lohnzusatzkosten oder Arbeitskosten in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Deutsche Industrie- und Handelstag sagt. Der beispiellose Niedergang Ihrer Partei, Herr Bundeskanzler, setzt sich fort. Ich erinnere an die Wahlen in Hessen, in Niedersachsen und in Bayern - in Bayern ist es kein Wunder, weil dort die Konkurrenz so gut ist -, aber auch die Wahlergebnisse in Hamburg und im Saarland sind beredtes Beispiel dafür, dass zumindest die Wählerinnen und Wähler das Ganze zur Notiz nehmen. ({11}) Wer jetzt die Schuld an diesen Debakeln allein auf Oskar Lafontaine schiebt, macht sich die Sache zu einfach. Sein ehemaliger Kumpel, Joschka Fischer - der Umgang ({12}) ist symptomatisch -, hat gesagt: „Lafontaine litt an einem akuten Überforderungssyndrom und ist einfach davongelaufen.“ Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrem Tun nicht auch manchmal ähnlichen Symptomen begegnen; aber eigentlich wollte ich sagen: Es ist richtig, dass Lafontaines Politik als SPD-Chef und Finanzminister Jobs in Deutschland gekostet hat; er hat falsche Weichenstellungen zu verantworten. Richtig ist aber auch, Herr Bundeskanzler: Die größten, durchschlagendsten Fehler durfte sich Lafontaine unter Ihrer Richtlinienkompetenz erlauben. ({13}) Er war nämlich derjenige, der die Reformen in Deutschland, die auf Wachstum angelegt waren, wieder zurückgenommen hat. Sie haben dabei zugesehen. ({14}) Seit Lafontaines Steuerpolitik stottert der Wachstumsmotor im Mittelstand; das muss ich nicht einzeln aufzählen. Für die Beteiligungsmärkte war Deutschland keine erste Adresse mehr. Die Finanzmärkte schüttelten den Kopf über Lafontaines Attacken auf den Stabilitätspakt und seinen Feldzug für Wechselkurszielzonen. Ich will noch einmal daran erinnern: Das alles hat er unter Ihrer Ägide gemacht. Die Nachricht von seinem Rücktritt hat ein Kursfeuerwerk an den Börsen und Devisenmärkten ausgelöst. Herr Bundeskanzler, falls Sie so etwas vorhaben, sagen Sie es uns rechtzeitig. ({15}) Ich kann mir vorstellen - ich weiß natürlich, dass die Verbreitung von Insiderwissen verboten ist -, dass es dann nicht nur ein Feuerwerk geben wird, dann wird es Kursraketen an den internationalen und deutschen Märkten geben. ({16}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich Erhard Eppler. ({17}) - Jetzt hören Sie erst einmal zu! - Er hat über Sie gesagt - wo er Recht hat, hat er Recht -: ({18}) Schröder - das ist reine Lotterie. In der Lotterie haben die Wähler bei der letzten Wahl leider eine Niete gezogen. ({19}) Wenn es ernst wird, Herr Bundeskanzler - es sind in unserem Land leider sehr ernste Zeiten -, dann setzen die Menschen auf Verlässlichkeit. Sie sind aber kein Kanzler der Verlässlichkeit. Deshalb erlebt die SPD ein Debakel nach dem anderen. Die Mitglieder und die Wähler - das steht fest - befinden sich auf einer Massenflucht. Willy Brandt - er war eine Zeit lang auch im Amt des Parteivorsitzenden Ihr Vorgänger - hat 1990 gesagt: „Nun wächst zusammen, was zusammengehört.“ Unter Ihrer Kanzlerschaft und unter dem Parteivorsitz von Müntefering - beides in der Nachfolge von Willy Brandt - brechen im Grunde genommen die Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland, die zugeschüttet waren, wieder auf. Es gibt eine nie gekannte Enttäuschung der Menschen. Ich finde, das ist eigentlich etwas ganz Schreckliches. Es muss Sie nachdenklich machen, wenn jetzt bei den Demonstrationen - - Ich weigere mich, sie Montagsdemonstrationen zu nennen; ich finde das ganz makaber, weil es damals um etwas ganz anderes ging. ({20}) Ich habe da jetzt ein Plakat gesehen, auf dem stand: „Wenn Lügen kurze Beine hätten, wären die Politiker Liliputaner.“ Wenn man es speziell auf Sie münzte, würde das Wort „Zwerg“ wahrscheinlich noch besser zutreffen. Man mag das noch ein Stück weit lustig finden. ({21}) Es wendet sich aber letztendlich gegen uns alle - auch gegen die Schreihälse auf der linken Seite -, weil das Vertrauen in die demokratischen Politiker dadurch ungeheuer geschwächt wird. ({22}) Ich kann nur sagen: Seitdem der Aufbau Ost zur Chefsache erklärt worden ist, fühlen sich unsere Freunde in Ostdeutschland schlecht behandelt. ({23}) Chefsache bei Schröder zu sein ist mehr Drohung als Verheißung. Ich glaube, man ist da im Osten ganz besonders empfindlich. Herr Bundeskanzler, es gelingt Ihnen nicht, Ihre eigenen Reihen zu überzeugen. Wenn es nur um die Schreihälse hier ginge, würde das keine große Rolle spielen. Es geht aber auch um die Mitglieder und Anhänger, um die Menschen, die Vertrauen in die Sozialdemokratische Partei haben. Die müssen Sie mitnehmen! Sie müssen auch das unselige Theater mit den DGBGewerkschaften beenden. Gestern gab es wieder ein Treffen, über das ich - wie über Fischers Reisen - nur sagen kann: Außer Spesen nichts gewesen! Da läuft doch ein Spiel ab, das jedes Mal das gleiche Strickmuster trägt: ({24}) Um die Sympathisanten - die Beitragszahler - bei der Stange zu halten - sie zahlen beim DGB hohe Beiträge -, geht man, wenn es darauf ankommt, kräftig gegen die Regierung vor. Wenn Wahlen kommen, schiebt man wieder Millionen herüber, unterstützt die gleiche Regierung und sagt, die Opposition habe alles noch sehr viel schlimmer gemacht. Wir werden das Strickmuster wieder beobachten, wenn es auf die Wahlen zugeht. Insofern ist all das unglaubwürdig. Ich kann nur sagen: Wenn man solche unglaubwürdigen Spiele spielt, dann kann man die Menschen nicht überzeugen. In der SPD gibt es genug Spaltpilze. Ich beneide Sie in dieser Hinsicht nicht. Ich beneide auch nicht Herrn Müntefering, der in seiner Eigenschaft als SPD-Vorsitzender überhaupt keine Erfolge aufzuweisen hat. Ich meine, die Regierungskoalition gleicht zwei Jahre nach der Bundestagswahl einer gescheiterten Selbsthilfegruppe. Obwohl Sie von einer selbst gegrabenen Grube zur anderen stolpern, beklagen Sie die Undankbarkeit der getäuschten Wähler. Sie betreiben Selbstbeschwichtigung, verkünden Durchhalteparolen, schwören sich bei den Klausurtagungen an den verschiedensten Orten - von Palais Schaumburg bis Neuhardenberg - gegenseitig Beistand. Die Grünen gehen gleichzeitig in Luxushotels; sie mögen es nicht mehr so gewöhnlich wie die anderen Menschen. ({25}) All das bringt unser Land nicht weiter. Wenn immer mehr Menschen am Wahltag zu Hause bleiben und wenn dadurch die Parteien am rechten und am linken Rand gestärkt werden, dann muss das uns allen Sorgen machen. Deswegen kann ich nur sagen: Zur Halbzeit der Legislaturperiode präsentiert sich das Bundeskabinett kraftlos und ausgelaugt. ({26}) Eichel ist verschlissen. Man muss heute nur einmal eine führende Boulevardzeitung aufschlagen: Sie hat den Kern seiner Versprechungen wiedergegeben. All das ist jetzt eingestampft worden. Wo ist der ausgeglichene Haushalt 2006? ({27}) Eichel ist inzwischen Weltmeister im Schuldenmachen geworden. Der Marsch in den Schuldenstaat hält an. Das alles müssen einmal die Jungen in Deutschland bezahlen. ({28}) Die Bundesgesundheitsministerin wäre ohne die Unterstützung und Zuarbeit der Opposition überfordert. ({29}) Der für Verkehr und den Aufbau Ost zuständige Minister - da kann ich nur sagen: Nomen est omen „stolpert“ ideenlos über die Politbühne. Seine Hilflosigkeit ist greifbar, wenn man sieht, wie er mit dem Desaster von 3 Milliarden Euro pro Jahr umgeht, das er selbst bzw. sein Haus durch Toll Collect verursacht hat. ({30}) Der für Arbeit und Wirtschaft zuständige Minister, Herr Clement, wird zunehmend als vermeintlicher Neoliberaler und Turbokapitalist diskreditiert. ({31}) Er dient den Gewerkschaften als Buhmann und Sündenbock. Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen einen Tipp geben, wie Sie Herrn Sommer und Ihre Genossen befrieden können: Führen Sie Herrn Clement doch einmal gefesselt mit sich und lassen Sie sie, während er gefesselt bleibt, einfach die Aggressionen des DGB an ihm austoben. ({32}) - Vielen Dank für Ihren Hinweis. ({33}) Ich bin der Meinung, dass sich Herr Clement lieber um das Thema Wettbewerb kümmern sollte. Wir haben vorhin Günter Rexrodts gedacht. Günter Rexrodt ist mit dafür verantwortlich, dass es auf den Energiemärkten Wettbewerb gibt; denn er hat den Wettbewerb auf dem Strommarkt eingeführt. Sie versuchen jetzt, das alles über die Genossenschiene in einem beispiellosen Genossenfilz wieder ein Stück weit rückgängig zu machen. Ich finde es makaber: Ihr Staatssekretär Tacke - ich weiß nicht, wohin Sie dieser Gipfelsherpa noch führen soll - war vom früheren Wirtschaftsminister Müller - das war Ihr Freund, den Sie mitgebracht haben - beauftragt, die Fusion zwischen Eon und Ruhrgas, die vom Kartellamt und von Gerichten abgelehnt worden war, durch eine Ministererlaubnis zu genehmigen. Jetzt wird ausgerechnet dieser Staatssekretär, der noch im Amt ist, im gleichen Konzern und vom Aufsichtsratsvorsitzenden Müller in diesem Bereich zu einem gut dotierten Vorstandsvorsitzenden gemacht. Ein solches Vorgehen kann sich eine seriöse Regierung eigentlich nicht leisten. ({34}) Auch Herr Fischer hat die letzten Monate damit verbracht, vor der Innenpolitik wegzutauchen, nach dem Motto: Da lassen sich keine Lorbeeren ernten. Er ist durch Entwicklungsländer getingelt, die er sonst nie besucht hat. Ich habe vermutet, er macht gleichzeitig seinen Antritts- und Abschiedsbesuch. Aber er hat vorgegeben, dort zu sein, weil er für einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat kämpft. Diese Großmannssucht ist jetzt wieder in sich zusammengebrochen. Ich glaube, wir haben ganz andere Sorgen in Deutschland. Herr Bundesminister, wir sollten gemeinsam versuchen, auf europäischer Ebene voranzukommen, statt dass Sie durch die Welt tingeln, um für eine Schimäre zu werben. Ich meine, Ihr Bundestagswahlkampf hat die Menschen über die wahre Lage im Land hinweggetäuscht. Mit unhaltbaren Versprechungen sind die Perspektiven schöngeredet worden. Nach der Wahl herrschten Hektik und Konzeptionslosigkeit. Beides ist Deutschland wirtschaftlich teuer zu stehen gekommen. Ein besonderer Rohrkrepierer - ich habe dieses Thema schon gestreift - ist inzwischen die so genannte Wunderwaffe Hartz. Ich erinnere mich noch daran, dass auch wir, die Opposition, zu einer Weihehandlung im Französischen Dom in Berlin eingeladen worden sind. Man hat so getan, als ob eine neue Ära bzw. Epoche anbricht, als ob jetzt jemand da sei, der den Stein der Weisen gefunden hat. Dadurch sind die Deutschen kurz vor der Wahl noch einmal getäuscht worden. Rechnen Sie doch einmal nach, was aus den so genannten Hartz-Reformen geworden ist. Bei der praktischen Umsetzung wurden kapitale Fehler gemacht. Durch ständiges Nachbessern und permanente Flickschusterei ist der rote Faden verloren gegangen. Die Menschen wissen nicht mehr, wie sie darüber denken sollen. Die Folgen sind Enttäuschung und Frust. Die Menschen in den neuen Bundesländern sind aus Enttäuschung und Frust auf der Straße. ({35}) Herrn Hartz muss man sagen: Wer sich als Messias feiern lassen will, der muss sich nicht wundern, wenn er bei einem Scheitern seiner Projekte als falscher Prophet gesteinigt wird. So ist die Geschichte der Menschheit schon immer verlaufen. ({36}) Ich meine, er hätte besser daran getan, vornehmlich da zu arbeiten, wo er bezahlt wird, nämlich für die Aktionäre von VW. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das heillose Durcheinander von Vorschlägen und wiederholten Änderungen hat natürlich einen sehr hohen Preis. ({37}) Wenn jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird - wie Franz Josef Strauß einmal gesagt hat -, von der Mindeststeuer bis zum Mindestlohn, dann fehlt den Leuten das Mindestvertrauen und sie wenden sich von der Politik ab. Ich meine, hierin liegt auch der entscheidende Grund dafür, dass das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform in wesentlichen Teilen, das wir möglich gemacht haben, einfach verpufft ist, statt konjunkturelle Wirkung im Inland zu entfalten. Unser Problem ist die Kaufzurückhaltung, die wir gegenwärtig erleben. Volkswirtschaftlich ist sie zunächst gut - wir haben eine stark steigende Sparquote -, sie geht aber zulasten des Mittelstands, des Einzelhandels und mittlerweile auch der Automobilindustrie: Die Deutschen lieben auch ihr liebstes Kind, das Auto, nicht mehr so wie früher. Weil sie Angst haben vor der Zukunft, sparen sie das Geld an und das wirkt sich natürlich verheerend auf den Inlandskreislauf aus, ganz abgesehen davon, dass die Bauwirtschaft am Krückstock geht. Ich muss Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler: Wer diese Vertrauenskrise überwinden will, der braucht Mut zur Wahrheit ({38}) und der braucht vor allen Dingen Realismus. Es beginnt bei der Wahrheit. ({39}) - Sie können mich der Unwahrheit nicht überführen. Unwahrheit - dein Name ist SPD, liebe Genossinnen und Genossen: ({40}) Seit Jahren werden illusionäre Konjunktur- und Wachstumsprognosen präsentiert. Wir sagen jedes Mal: Es stimmt so nicht. Sie aber halten an Ihren Prognosen fest. Alle Arbeitsmarktversprechungen haben sich als unhaltbar erwiesen. 2 Millionen Arbeitsplätze sollte Hartz binnen ein paar Jahren bringen. Wir sind immer noch beim Stand von 4 Millionen offiziellen Arbeitslosen; in Wirklichkeit gibt es ja viel mehr, was nicht sichtbar ist. Reformpolitisch, Herr Bundeskanzler und meine verehrten Herren von der rot-grünen Regierung, stehen wir ungefähr da, wo die Koalition der Mitte bereits 1998 gewesen ist. Fast zehn Jahre sind verloren gegangen, zehn verlorene Jahre für Deutschland. Damals wurden wichtige Reformen von Ihnen blockiert: Bei der Steuer konnten wir unsere Vorstellungen nicht durchsetzen, weil wir den Bundesrat gebraucht hätten; deswegen ist das Petersberger Modell dann verschwunden. Wir haben den demographischen Faktor bei der Rentenversicherung eingeführt, wir haben die Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen eingeführt, wir haben erste Lockerungen im Arbeitsrecht gemacht, zum Beispiel die mehrmalige Befristung von Arbeitsverträgen. Nach der Wahl ist das alles mit einem Federstrich wieder zurückgenommen worden. Mit unseren Reformen im Sozialsystem und vor allen Dingen mit steigenden Beschäftigungszahlen und einer Defizitquote von circa 2 Prozent war der richtige Weg beschritten. Sie haben von Theo Waigel ein hervorragendes Erbe hinterlassen bekommen. Das steht fest. ({41}) - Wissen Sie, Frau Kollegin, auf Ihrer Seite sitzen viele Leute, die alles bestreiten; sie bestreiten ja zum Teil nicht einmal ihren eigenen Lebensunterhalt. Aber diese Fakten müssen Sie zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie wehtun. Ich muss zwischendrin zu meinem parlamentarischen Geschäftsführer sagen, er soll einmal die Redezeit anders melden; denn die Uhr irritiert mich ständig. Wir haben in den zurückliegenden Jahren im Gegensatz zu Ihnen nicht blockiert, sondern wir haben Ihre reformpolitischen Bemühungen konstruktiv unterstützt. ({42}) Was in den letzten Jahren erfolgreich verlaufen ist, trägt - das müssen Sie zur Kenntnis nehmen - die Handschrift der Union. Ohne unsere Mitarbeit stünden wesentliche Elemente des Hartz-Konzeptes nicht im Gesetzblatt. Ohne unsere Initiativen bei den Minijobs hätten wir heute keinen Beschäftigungsboom auf dem Gebiet. Ohne die Erfahrungstransfusion von Horst Seehofer zur Bundesgesundheitsministerin Schmidt gäbe es jetzt keine Überschüsse in den Kassen der Krankenversicherung. ({43}) Bei den Irritationen um Hartz IV tragen Sie die Schuld: Ihre Propagandaabteilung hat geschlafen. Sie haben viel zu spät über die Wirkungen von Hartz IV aufgeklärt. Sie haben das Ausfüllen der Fragebögen in den neuen Bundesländern hauptsächlich den Funktionären der PDS, die ihre Hilfestellung angeboten haben, überlassen. Da ist es dann kein Wunder: Diese Hetzer, mit denen Sie gleichzeitig in zwei wichtigen Bundesländern regieren, haben natürlich überhaupt kein Interesse daran, dass es vertrauensbildende Maßnahmen gibt. Wenn man es sich genau anschaut, dann ist ja angeblich vieles nicht so schlimm. Ich kann nur sagen: Die Leute ärgern sich auch, weil sie das Gefühl haben, sie seien einer Mogelpackung aufgesessen. Man nannte das Ganze Arbeitslosengeld II, in Wirklichkeit ist es eine Variante der Sozialhilfe. Man soll die Menschen vorher nicht täuschen, sondern ihnen klipp und klar sagen, was man vorhat und wo die Grenzen liegen. Wir müssen das alles sicherlich tun, weil die öffentlichen Kassen schon lange nicht mehr die Leistungsfähigkeit haben, die sie einmal hatten. Deswegen sind wir ja auch für alle Sparmaßnahmen. Herr Bundeskanzler, ich komme zu Ihrer ökonomischen Bilanz. Ich habe vorhin ein paar Beispiele aus der Praxis gebracht; das hat Ihnen nicht gefallen. Global und allgemein klingt das alles viel vornehmer. Der Hintergrund ist aber genauso schwach. Die Bundesregierung spricht von einem robusten Wachstum. Das Gegenteil ist heute der Fall. Die Frühindikatoren mahnen zur Vorsicht. Das angepeilte Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent, das Sie regierungsamtlich propagieren, wird nur erreicht, wenn Deutschland weiterhin gut exportieren kann. Der Inlandskreislauf ist noch lange nicht angesprungen. Wir segeln im Windschatten der Konjunkturprogramme anderer, nämlich im Windschatten der USA und des Booms in China. Wenn dieser Boom aus irgendwelchen Gründen nachlassen sollte, dann brechen bei uns die Prognosen wieder in sich zusammen. Wie gesagt: Das Hartz-Konzept hat nicht gegriffen. Ihre Wahlkampfwunderwaffe hat sich als Rohrkrepierer erwiesen. Herr Bundeskanzler, am 16. August 2002 haben Sie die neue Wirklichkeit versprochen. Inzwischen kennen wir die wirkliche Wirklichkeit. Die wirkliche Wirklichkeit ist - ich sage es noch einmal -: Nach wie vor gibt es offiziell über 4 Millionen Arbeitslose. Das ist die Wirklichkeit bei uns im Land und das spüren immer mehr Menschen. Der Haushalt wird als „Schicksalsbuch der Nation“ bezeichnet. Ich kann nur sagen: Wenn das, was Herr Eichel vorgelegt hat, das Schicksalsbuch ist, dann geht unser Volk einem sehr ungewissen Schicksal entgegen, ({44}) weil es geschönt und gefälscht ist. Kollege Austermann hat, nachdem Eichel vom Treffen von Nobelpreisträgern und Nachwuchswissenschaftlern am Bodensee berichtet hat, zu Recht gesagt, dass Eichel erst dann eingeladen wird, wenn es einen Nobelpreis fürs Schuldenmachen gibt. Dann ist auch Eichel nobelpreisverdächtig. Herr Bundeskanzler, wir befinden uns inzwischen in einer Schuldenfalle. Es hat keinen Sinn, das Ganze schönzureden. Die Schuldenlawine nährt sich aus sich selbst. Es entsteht ein Teufelskreis, der über kurz oder lang die politische Gestaltungsfähigkeit unseres Landes infrage stellt. Deutschlands Staatsfinanzen steuern längst nicht mehr wie versprochen in den Ausgleich, sondern sie steuern leider in den Abgrund. Deswegen müssen wir auch mit dem Stabilitätspakt sehr vorsichtig sein. Ich will Ihnen nur einmal vorlesen, was die „FAZ“ vorgestern geschrieben hat. ({45}) - Da nicht alle Zuhörer das gelesen haben, möchte ich es doch vorlesen. Sie können mich dadurch nicht abhalten. ({46}) Unter „Kaschierte Schuldenpolitik“ steht dort: Eine Sorge allerdings dürfte Eichel nun los sein. Im Zusammenspiel mit Paris hat es die Bundesregierung geschafft, dem von Deutschland initiierten Stabilitätspakt die Verbindlichkeit zu rauben. Sanktionen für überbordende Schulden sind daher kaum noch wahrscheinlich. Darauf hat Kanzler Gerhard Schröder mit Eichels Hilfe hingearbeitet, frei nach dem Motto: Ist der Pakt erst ruiniert, verschuldet es sich ungeniert. ({47}) Wir brauchen diesen Stabilitätspakt auch, damit die Menschen ausreichend Vertrauen in die neue Währung haben. Den knappen EU-Finanzen droht neues Ungemach. Günter Verheugen ist ja inzwischen Ihr Mann fürs Grobe. Er ist nicht in der Türkei, um zu überprüfen, ob alle Kriterien, die man aufgestellt hat, erfüllt werden, sondern um Ihre Weisung auszuführen. Deswegen ist er ja auch in die neue Kommission berufen worden. ({48}) Er soll seine Arbeit zu Ende machen und ohne Wenn und Aber testieren - so wird es kommen -, dass die Türkei für die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union bzw. für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen infrage kommt. ({49}) Ich meine ganz ernsthaft: Auch hier geht es noch einmal gegen unsere Finanzen. Wer soll das Ganze denn bezahlen? Die EU der 25 ist doch schon heute finanzpolitisch pleite. Es würde doch steigende deutsche Zahlungen bedeuten, wenn wir ein wirtschaftlich so rückständiges Land zusätzlich hereinholen würden. Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich noch weiter zitieren, aber so empfehle ich Ihnen, das Ganze nachzulesen. ({50}) - Jetzt hören Sie doch auf. Herr Präsident, wird mir diese Unruhe, die Sie nie unterbinden, auf meine Redezeit angerechnet? ({51}) Stefan Kornelius hat in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ einen sehr nachdenklichen Artikel über das Für und Wider eines Beitritts der Türkei verfasst. ({52}) - Ich lese ihn nicht vor. Sie können ihn selber nachlesen. Kornelius warnt auch vor zu hohen Erwartungen auf der türkischen Seite. Herr Bundeskanzler, warum fürchten Sie ein Referendum über den EU-Verfassungsvertrag wie der Teufel das Weihwasser? Der Grund ist, dass Sie genau wissen, dass dann die Deutschen auch über die Zukunftsperspektive der Europäischen Union abstimmen, in der die Türkei Vollmitglied würde, sodass die Menschen aus Anatolien einen direkten Zugang zu unserem Arbeitsmarkt bekommen würden. Das schafft doch bei den Menschen neue Ängste. ({53}) Durch die Vollmitgliedschaft der Türkei würde Europa plötzlich undefinierbar gemacht. Deshalb gibt es keine Abstimmung. Sie müssen uns noch die Frage beantworten, ob denn Herr Chirac, mit dem Sie sehr intensiv verbunden sind, mit Ihnen abgesprochen hat, dass er nun in Frankreich ohne Notwendigkeit verkündet hat, das französische Volk solle direkt über den Verfassungsvertrag abstimmen. Wie sehen Sie das als deutscher Bundeskanzler? Frankreich und Deutschland müssen im Gleichklang marschieren. Die Europäische Union ist nichts mehr wert, wenn sich Deutschland und Frankreich nicht mehr abstimmen. Haben Sie das gleiche Vertrauen ins deutsche Volk, wie der französische Präsident es offensichtlich ins französische Volk hat? Was hat er Ihnen darüber erzählt? Darauf sind wir alle sehr gespannt. Ich meine, auch Deutschlands Rolle auf der globalen Ebene muss hinterfragt werden. Abkoppelungsversuche im Irakkonflikt haben in den USA ein tiefes Misstrauen gegenüber Deutschland zurückgelassen. Das, Herr Bundeskanzler, müsste Sie besorgt machen. Wir können den Kampf gegen den Terror in Europa langfristig nur in Zusammenarbeit mit den USA gewinnen. Es hat keinen Wert, auf einem Auge blind zu sein. Herr Parteivorsitzender Müntefering, die Pöbeleien der Damen und Herren aus Ihren Reihen - die eine ist noch in der Regierung, die andere nicht mehr; dafür ist sie zur Belohnung Ausschussvorsitzende geworden - gegenüber den Amerikanern - jüngst von Frau WieczorekZeul, vorher von Frau Däubler-Gmelin - sind nicht in Ordnung. ({54}) Herr Bundeskanzler, angesichts der schrecklichen Ereignisse und Bilder in Ossetien, die wir alle vor Augen haben, gilt unser ganzes Mitgefühl natürlich dem russischen Volk; die Osseten sind Teil des russischen Volkes. Daher ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, mit Besserwisserei zu kommen. ({55}) Der ganze Unsinn mit der GSG 9, die angeblich alles besser gemacht hätte, war überflüssig. Menschenrechtsverletzungen muss man gleichmäßig in der ganzen Welt verurteilen. Nur dann wird man glaubhaft. ({56}) Ein letzter Punkt. In der Bibel steht, die Linke soll nicht wissen, was die Rechte tut. ({57}) Danach wird bei Ihnen regiert, Herr Bundeskanzler. Ihre Bundesminister arbeiten gleichzeitig mit- und gegeneinander. Ich bringe ein Beispiel - die beiden Herren sitzen nebeneinander -: Schily hat sich abgemüht, zusammen mit der Union ein restriktives Zuwanderungsrecht für Deutschland zu verabschieden. Ich meine, das ist auch gut so. Was macht gleichzeitig der neben ihm sitzende Fischer? Er lässt bei der Visaerteilung die Schleusen öffnen. Demnach halten sich circa 5 Millionen Menschen rechtswidrig in der Europäischen Union auf. Die allermeisten sind mithilfe deutscher Konsulate eingereist. Das finde ich nicht in Ordnung. Das ist ein Skandal erster Größenordnung. ({58}) Herr Bundeskanzler, was machen Sie als Regierungschef in diesem Fall? Sie grinsen den einen so freundlich an wie den anderen. Das ist die Regierungskunst der Beliebigkeit. Ich meine, dass das die Deutschen inzwischen satt haben. Deswegen brauchen wir in Deutschland einen Neuanfang, der mit Klarheit und Wahrheit Ernst macht. ({59}) Es gibt in Deutschland ermutigende Zeichen. Darunter fällt aber nicht die Tatsache, dass Sie, Frau Sager, wieder mit einem guten Ergebnis zur Vorsitzenden der Grünen gewählt worden sind. Es ist auch kein ermutigendes Zeichen, dass die Grünen ihrem heimlichen Führer Fischer folgen. Da er inzwischen ein Besserverdiener geworden ist, sind auch die Grünen die Partei der Besserverdiener geworden. ({60}) Insofern gibt es weiterhin einen Gleichklang zwischen Ihnen, Herr Fischer, und Ihrer Partei. Ein ermutigendes Zeichen ist für mich die auch von den Arbeitnehmern getragene Lohnzurückhaltung bei Daimler Chrysler und bei Siemens, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder zu stärken. ({61}) Wir als Politiker, und Sie als Bundesregierung müssen das aufnehmen. Wir müssen die Lohnzusatzkosten weiter begrenzen. Wir müssen den Arbeitsmarkt entrümpeln und wir müssen Deutschland zu einem konkurrenzfähigen Standort machen. ({62}) Dazu gehört eine grundlegende Reform der Sozialsysteme. Wir wollen, dass dieses Land wettbewerbsfähig bleibt. ({63}) Herr Bundeskanzler, dazu ist - ob Sie wollen oder nicht, das kann man auch nicht delegieren, das kann man auch nicht teilen - politische Führung aus einem Guss gefordert. Ihr Job ist ein harter Job. Ich hätte viel lieber, da ich manchmal Mitleid mit Ihnen habe, Gutes über Sie gesagt. Menschlich tue ich das gern, ({64}) aber bei Ihrer Regierungstätigkeit gibt es dazu leider keinen Anlass. Ich bin der Meinung, man kann die Zukunft nur gewinnen, wenn man auf der Basis von Klarheit und Wahrheit bleibt. ({65}) Ich empfehle Ihnen ganz zuletzt Abraham Lincoln. ({66}) - Jetzt hören Sie doch noch einen Satz lang zu. Ich weiß, es ist für Sie schwer zu ertragen, aber die Wahrheit ist nun einmal schwer zu tragen. Ich zitiere Abraham Lincoln. Er hat gesagt: „Man kann alle Leute für einige Zeit und einige Leute für alle Zeit, nicht aber alle Leute für alle Zeit hinters Licht führen.“ Danke schön. ({67})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({0})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Glos, früher waren Ihre Auftritte überwiegend lustig und selten peinlich. Heute war es umgekehrt. ({0}) Das sage ich mit der gleichen freundlichen menschlichen Sympathie, die ich Ihnen entgegenbringe. Aber politisch war das, was Sie hier abgeliefert haben, wirklich daneben. ({1}) Ich will das nur an einem Beispiel, das Sie gebracht haben, näher erläutern. Sie haben sich über Volkswagen verbreitet und über die Tatsache, dass Volkswagen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammenarbeitet, die sich an Volkswagen beteiligen wollen. Aus meiner langen Tätigkeit im Aufsichtsrat von Volkswagen weiß ich, dass nach der Satzung und dem VW-Gesetz, das ja, jedenfalls bei Ihnen, nicht unumstritten ist, gegen die niedersächsische Landesregierung relativ wenig läuft. Die niedersächsische Landesregierung wird aber nicht von Sozialdemokraten gestellt. Ich bedauere das sehr. Im Präsidium des Aufsichtsrates von Volkswagen sitzt Herr Wulff und im Aufsichtsrat sitzt Herr Hirche. Auch Sie von der FDP sind beteiligt. Gegen beider Stimmen würde eine im Übrigen durchaus vernünftige Beteiligung der Emirate nicht laufen. Wen kritisieren Sie da eigentlich? ({2}) Ich glaube, es ist an der Zeit, zu den Problemen im Lande zurückzukommen, über die man in diesem Hohen Haus zu debattieren hat. Unser Land ist, wie übrigens andere europäische Länder auch, drei großen Herausforderungen ausgesetzt, mit denen wir fertig werden müssen. Dabei haben wir uns auf den Weg gemacht. Zunächst stellt sich die Herausforderung in der internationalen Lage. Wir haben Grund, über die Herausforderung zu reden, die Terrorismus heißt - und nicht nur zu reden. Wir haben daneben ungelöste regionale Konflikte, mit denen auch deutsche Politik fertig werden muss. Die Stationen des Terrors, einer Bedrohung, die nach der des Kalten Krieges neu ist und mit der die zivilisierte Welt fertig werden muss, sind doch bekannt: New York und Wash-ington, Djerba und Bali, Madrid und jetzt Moskau und Beslan. Ich plädiere dafür, Terrorismus nicht danach zu unterscheiden, wo er örtlich stattfindet, sondern Terrorismus als eine Angelegenheit zu betrachten, die bekämpft werden muss, und zwar gleichgültig, wo sie stattfindet. ({3}) Das hat meine Position zu dem, was in Russland geschehen ist, bestimmt und das wird meine Position weiter bestimmen. Wenn man über die Ursachen redet, dann darf man nicht Täter zu Opfern machen. Gelegentlich lese ich Ähnliches. Ich sage nicht, dass das hier gesagt worden ist, aber gelegentlich habe ich den Eindruck, dass man je nachdem, wo Terrorismus stattfindet, unterschiedliche Maßstäbe ansetzt. Natürlich - da sind sowohl der französische Präsident als auch ich mit dem russischen Präsidenten einig muss es in Tschetschenien eine politische Lösung geben. ({4}) Aber diese Lösung muss doch ganz bestimmten Kategorien folgen, zum Beispiel der, ({5}) dass wir ein Interesse daran haben, dass die territoriale Integrität der Russischen Föderation nicht infrage gestellt wird. Wir haben ein eigenes Interesse daran, dass das nicht passiert. Was würde denn wohl die Folge sein, wenn die territoriale Integrität Russlands über diesen Konflikt infrage gestellt würde? Jedenfalls keine, die mehr an Stabilität in der Welt und in Europa bedeutete. Das gilt es doch zu beachten, wenn man diese Frage beantworten will. ({6}) Wenn man politische Lösungen will, dann muss es Gesprächspartner geben. Will mir jemand wirklich erklären, dass diejenigen, die für den Mord an unzähligen Kindern verantwortlich sind, Gesprächspartner für eine politische Lösung sein können? Das kann doch niemand erklären. ({7}) Deswegen meine Bitte dort wie überall: Terrorismus, der das Leben unschuldiger Menschen, von Kindern zumal, nicht achtet, darf nirgendwo eine Chance haben und ist nirgendwo Partner für seriöse internationale Politik. ({8}) Es ist richtig: Dieser Herausforderung, die in der internationalen Politik liegt, kann man nur mit einem multilateralen Ansatz begegnen. Es wird doch immer klarer in der internationalen Politik, dass ein anderer nicht geht. Das ist der Grund, warum der Bundesaußenminister und die ganze Regierung diesen multilateralen Ansatz sowohl beim Kampf gegen den Terrorismus als auch bei der Lösung oder bei der Mithilfe zur Lösung regionaler Konflikte stützen. Wir erleben doch gerade, dass wir alle ein Interesse daran haben müssen, dass im Irak nicht weniger, sondern mehr Stabilität ist. Deutschland leistet seinen Beitrag. Wir leisten unseren Beitrag, indem wir helfen, eigene Sicherheitskräfte, ob Polizei oder Militär, auszubilden. Natürlich geschieht das nicht im Irak; denn es gilt das, was ich gesagt habe, nämlich dass wir dort keine Soldaten hinschicken. Aber wir helfen doch bei der Lösung solcher Fragen. ({9}) Wir haben deshalb keinen Grund, uns irgendwelche Vorwürfe machen zu lassen, übrigens auch, Herr Glos, uns Selbstvorwürfe zu machen. Es gibt keinen Grund dafür. Deutschland ist das Land, das seine internationalen Pflichten, seine Bündnispflichten auf Punkt und Komma erfüllt. Ich füge hinzu: Wir können stolz darauf sein. Wir stehen selber materiell dafür ein, dass diese Pflichten erfüllt werden. Das ist nicht überall so. ({10}) Das gilt nach wie vor auf dem Balkan, das gilt in Afghanistan. Wir werden demnächst darüber zu reden haben, wenn es um die Verlängerung der Mandate geht. Das gilt auch für das, was Deutschland bei neuen regionalen Konflikten leistet, zum Beispiel im Iran. Dieser Konflikt ist höchst besorgniserregend. Wer ist es denn, der mit dem französischen und dem englischen Außenminister versucht, diesen Konflikt zu dämmen, ihn nicht ausbrechen zu lassen? ({11}) Es ist doch der Bundesaußenminister und kein anderer, der sich im Iran darum bemüht, dieses Land dazu zu bewegen, den Brennstoffkreislauf nicht zu schließen. Es ist viel über die Zusammenkunft in Sotschi geredet worden. Dabei ist aber auch eines klar geworden, nämlich dass die Russen das gleiche Interesse wie wir daran haben, dass es keine neue atomare Macht gibt, die Iran heißt. Diesem Interesse dienen wir. Diesem Interesse dienen die Reisen, die der Bundesaußenminister macht. Sie sollten stolz darauf sein und sie nicht diskreditieren, meine Damen und Herren. ({12}) Ich denke, dass angesichts der neuen Herausforderungen klar ist, dass es diese Bundesregierung gewesen ist - wir reden schließlich über Halbzeitbilanzen und Bilanzen im Allgemeinen -, die selbstbewusst und in eigener Verantwortung definiert hat, was sie international zu leisten imstande und bereit ist. Wir haben auf dem Balkan, in Afghanistan und anderswo zusammen mit unseren Bündnispartnern gegen den internationalen Terrorismus gekämpft, auch mit militärischen Mitteln. Es war doch schwierig genug, das in diesem Hohen Haus - und zwar im gesamten Hohen Haus - durchzusetzen. Daran kann ich mich noch erinnern. Aber weil wir unsere Pflichten erfüllen, haben wir auch das Recht, dann Nein zu sagen, wenn wir von der Sinnhaftigkeit nicht überzeugt sind. Das ist es, was eigenes Handeln ausmacht. ({13}) Die zweite Herausforderung heißt Globalisierung. Sie heißt Globalisierung und meint eine Einbindung in die internationale Arbeitsteilung, wie es sie niemals gegeben hat, mit der Folge eines verschärften ökonomischen Wettbewerbs, wie er auch noch nie der Fall gewesen ist. Wir haben eine europäische und eine innenpolitische Antwort darauf zu geben. Das gilt übrigens gleichermaßen für die dritte große Herausforderung, nämlich den radikal veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft. Zuzugeben ist doch, dass das schon in den 90er-Jahren sichtbar war. Es haben nicht alle so darauf reagiert, wie darauf hätte reagiert werden müssen und wie zum Beispiel in Schweden reagiert worden ist. Aber tun Sie doch jetzt nicht so, als ob in den 90er-Jahren nur die Sozialdemokraten und die Grünen für die Tatsache verantwortlich gewesen wären, dass nicht zureichend reagiert worden ist! Das waren doch allemal auch Sie. ({14}) So viel Nachdenklichkeit sollte man schon erwarten können. Beides - die Globalisierung und der veränderte demographische Aufbau unserer Gesellschaft - sind die zwei großen Herausforderungen neben der internationalen. Es ist richtig, dass die ökonomische und die politische Antwort auf beide Herausforderungen, die in den europäischen Ländern gleich groß sind, heißen muss: Europa auf der einen Seite und Umbau unserer Gesellschaft nach innen auf der anderen Seite. In beiden Bereichen handelt diese Regierung und sie handelt durchaus viel versprechend, auch, was die europäische Dimension angeht. Wer ist es denn gewesen, der veranlasst hat, dass in Europa wieder über Industriepolitik geredet wird, und zwar nicht in dem Sinne, dass der Staat anzuordnen hätte, was geschieht, sondern in dem Sinne, dass man sich auch wieder um das Rückgrat einer Wirtschaft, nämlich die industrielle Produktion, kümmert, statt sich nur auf die Situation von Finanzmärkten und Ähnliches zu beziehen? ({15}) Das waren doch wir Deutschen zusammen mit den Franzosen und Engländern. Wer ist es denn gewesen, der gesagt hat, wir brauchen jemanden in der Kommission, der in allererster Linie für die Frage verantwortlich ist, wie es industriell weitergeht, und der für einen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie verantwortlich ist? Dazu ist ein deutscher Kommissar - der Stellvertreter des Kommissionspräsidenten - berufen worden. Das hat etwas mit der Europapolitik zu tun, die wir machen und die durchaus erfolgreich ist. Das kann man auch an solchen Punkten ablesen. Ich gestehe zu, dass es hilfreich war, Frau Merkel, dass auch Sie sich engagiert haben. Warum sollte ich das denn nicht zugestehen? Natürlich war das hilfreich. Aber es ist doch ein Erfolg der deutschen Politik, den man nicht einfach wegdiskutieren kann, weil es in die bayerische Volksseele passt. ({16}) Eine europäische Verfassung hätte es außerdem ohne deutsche Initiativen nicht gegeben. Der Verfassungsprozess ist auf unseren Vorschlag in Nizza in Gang gesetzt worden. Ich sage Ihnen: Wir werden die Ersten bzw. unter den Ersten sein, die den Verfassungsentwurf zu ratifizieren haben. Ich habe jedenfalls den Anspruch, dass das in Deutschland passiert. Ich möchte kurz über die Frage reden, wie das geschehen soll. Herr Glos, das, was Sie beabsichtigen, ist doch allzu durchsichtig. Sie sagen mit Bezug auf die Abstimmung über den Verfassungsentwurf: Wir wollen das deutsche Volk direkt beteiligen. Sie wollen es also nur an einem einzigen Punkt beteiligen. Sie sagen das natürlich auch in der Hoffnung, dass Sie dann sozusagen den Fuß in die Tür für Regierungshandeln bekommen; denn die Entscheidung, ob Beitrittsverhandlungen mit einem Land aufgenommen werden oder nicht, gehört zum Regierungshandeln und ist nichts anderes. Das, was Sie machen, ist doch, wie gesagt, allzu durchsichtig. Ich finde es in Ordnung, dass die Koalition sagt: Wenn schon direkte Beteiligung, dann aber gründlich. ({17}) Natürlich sind auch diejenigen ernst zu nehmen, die sagen, das müsse man sich gut überlegen. Gar keine Frage, ich bin für einen entsprechenden Diskussionsprozess. Aber es ist scheinheilig, das deutsche Volk nur bei der Abstimmung über den Verfassungsentwurf direkt beteiligen zu wollen und ansonsten nicht. Das wird mit uns nicht zu machen sein. ({18}) Wie immer diese Diskussion endet, der Ratifikationsprozess wird frühzeitig eingeleitet. Das ist die feste Vereinbarung der Regierungskoalition. Das ist auch notwendig und stünde Deutschland gut an. Übrigens läge es in der Tradition der Europapolitik aller deutschen Regierungen, wenn wir hier besonders drängen würden. Das sollten wir tun. ({19}) - Was Jacques Chirac angeht: Der französische Präsident wird in eigener Verantwortung entscheiden, ob ein Referendum in Frankreich durchgeführt wird oder nicht. Im Übrigen können Sie ganz beruhigt sein. Natürlich hat er mich informiert, bevor das öffentlich wurde. Aber das ist eine souveräne französische Entscheidung, aus der wir uns heraushalten sollten. Eines ist besonders wichtig: Wie auch immer ratifiziert wird, ob rein parlamentarisch oder im Rahmen direkter Demokratie, man sollte keine unterschiedlichen qualitativen Maßstäbe an das jeweilige Verfahren anlegen. ({20}) Die zweite und dritte Herausforderung in Deutschland, aber auch in allen anderen europäischen Ländern, bestehen, wie gesagt, in der Globalisierung und im demographischen Wandel. Unsere Antworten darauf haben wir mit der Agenda 2010 - dieser Prozess ist zwar auf den Weg gebracht worden, aber keineswegs abgeschlossen - und mit unserer Steuerpolitik gegeben. Damit überhaupt keine Missverständnisse aufkommen: Ich verteidige ausdrücklich das, was der Bundesfinanzminister mit unser aller Zustimmung in der Steuerpolitik macht. ({21}) Da Sie von Wahrheit und Klarheit geredet haben, möchte ich gerne ein paar wenige Daten nennen. Als wir in die Regierung kamen, lag der Spitzensteuersatz - dieser interessiert Sie augenscheinlich besonders - bei 53 Prozent. Im Jahre 2005, also in ein paar Monaten, wird er bei 42 Prozent liegen. Ich gebe zu, dass er bei 43 Prozent gelegen hätte, wenn wir seinerzeit nicht miteinander hätten reden müssen, Herr Brüderle. Das ist zuzugestehen. Immerhin wird er bald 10 Prozentpunkte unter dem damaligen Niveau liegen. Das reicht. Mehr Spielraum haben wir nicht, wenn wir die Staatsaufgaben noch finanzieren wollen. ({22}) Wenn wir über Gerechtigkeit in der Steuerpolitik reden, dann ist etwas anderes - das wird hier nie erwähnt noch viel wichtiger. Als wir 1998 in die Regierung kamen, lag der Eingangssteuersatz bei 25,9 Prozent. 25,9 Prozent! Dafür war Herr Waigel verantwortlich. Am 1. Januar 2005 wird er bei 15 Prozent liegen. Das ist gerecht, weil dies den Geringverdienenden nutzt. Das wollen wir. ({23}) - Stimmt, das wolltet ihr schon zehn Jahre vorher. Aber ihr habt es nicht gemacht. ({24}) - Entschuldigung, ich habe doch das gleiche Problem. Aber ihr habt es nicht gemacht. Wir haben das durchgesetzt. Das, was wir erreicht haben, lassen wir uns nicht durch eure Sprüche kaputtmachen. ({25}) Sie hätten doch Gelegenheit gehabt, dafür zu sorgen, dass die Gewerbesteuer - sie betrifft die kleinen und mittleren Unternehmen besonders - bei Personengesellschaften auf die zu zahlende Einkommensteuer angerechnet wird. Das habt ihr doch nicht gemacht; daran habt ihr noch nicht einmal im Traum gedacht. Das hat diese Koalition durchgesetzt. Das ist wirtschaftsfreundlich und nichts anderes. ({26}) In puncto Steuer, Unternehmensbesteuerung, aber auch Besteuerung der Privatpersonen hat die Koalition überhaupt keinen Grund, in Sack und Asche zu laufen und sich von Ihnen eine Debatte aufdrängen zu lassen, die mit der Wirklichkeit nun überhaupt nichts zu tun hat. ({27}) Jetzt reden wir über das, was in dem Prozess, der mit Agenda 2010 beschrieben ist, ansteht. Wir sind es doch gewesen, die bereits in der letzten Legislaturperiode dafür gesorgt haben, dass neben der Umlagefinanzierung bei der Rente eine Kapitaldeckung aufgebaut werden kann. Der Prozess, die Säule Kapitaldeckung, die neben der Umlagefinanzierung das Dach der Rentenversicherung hält, dicker zu machen, als sie gegenwärtig ist, dauert natürlich länger. Das geht nicht von heute auf morgen. Das kann auch niemand wirklich erwarten. Aber wir sind es doch gewesen, die das gemacht haben. Zum Nachhaltigkeitsfaktor habe ich etwas gesagt. In der Tat, er musste sein. Wir sind es gewesen, die einen Fehler - das ist zuzugeben - korrigiert haben. ({28}) Ich weise nur darauf hin, dass das, was Sie seinerzeit vorgehabt haben, zu den Wirkungen, die der Nachhaltigkeitsfaktor hat, nicht geführt hätte. ({29}) Beschäftigen wir uns doch einmal mit der Gesundheitspolitik. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie das so gelaufen ist, als die Seele wegen der 10 Euro im Quartal für einen Arztbesuch kochte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Ulla Schmidt standhaft verteidigt hat, was gemeinsam beschlossen worden ist und wie sich viele von Ihnen zur Seite gedrückt, um nicht zu sagen: in die Büsche verkrochen haben. ({30}) Da wir gerade bei der Gesundheitspolitik sind: Das System ist mittlerweile transparenter. Es gibt Ansätze - aber eben nur Ansätze -, dafür zu sorgen, dass die Kassen mit den Ärzten Verträge abschließen können. Dass allerdings weniger Transparenz als nötig und weniger Freiheit als möglich in diesem System sind, das haben doch Sie zu verantworten. ({31}) Der Versuch der FDP, den Besitz von Apotheken auf vier zu beschränken, das heißt, den Markt in diesem Bereich nicht freizugeben, grenzt schon ans Lächerliche. Das ist eine marktwirtschaftliche Orientierung, bei der es einem kalt den Rücken herunterläuft. ({32}) Ich bin im Übrigen dafür, dass man den Menschen deutlich macht, dass mehr Transparenz im System und die Tatsache, dass wir gemeinsam - das ist zuzugeben eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung einerseits und Solidarität andererseits geschaffen haben, ({33}) Wirkungen zeitigen. Das ist doch bereits gestern deutlich geworden. Erstes Halbjahr 2003: Defizit der gesetzlichen Krankenkassen 2 Milliarden Euro. Das hätte doch auf die Beitragssätze gedrückt, wenn man es so gelassen hätte. Erstes Halbjahr 2004: Überschuss der gesetzlichen Krankenkassen 2,5 Milliarden Euro. Das ist ein Turnaround von 4,5 Milliarden Euro. Das hat mit der neuen Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität, die gefunden worden und die in sich durchaus gerecht ist, zu tun. Solidarität ist nicht aufgegeben worden. Angesichts der Situation unserer Gesellschaft - das hat mit dem Altersaufbau zu tun - musste das gemacht werden; sonst wären die Systeme auf Dauer nicht finanzierbar geblieben. Das wird uns auch noch bei anderen Punkten begegnen. Ich komme darauf zurück. ({34}) Wir haben gesagt - wir haben darüber ein Telefongespräch geführt -: Um eine Gemeinsamkeit zu erreichen, machen wir beim Zahnersatz das, was die Union vorgeschlagen hat. Sie wissen das. Ich habe mich darauf eingelassen und die Koalition hat sich auch darauf eingelassen. Jetzt stellen wir zusammen fest, ({35}) dass diese Variante, die eingeführt worden ist, den Kassen in jedem Fall ein Maß an Verwaltungskosten aufbürdet, das wirklich nicht vernünftig ist. Wenn das so ist, dann muss man auch die Kraft haben, zu sagen: Wir korrigieren das. Wir haben das gemeinsam gemacht, also korrigieren wir es auch gemeinsam. ({36}) Ich warne nur davor, dann, wenn es ein besseres System gibt - das hat die Ministerin vorgeschlagen -, zu sagen: Wir wissen noch nicht so richtig, ob wir uns darauf einlassen können; das können wir erst im Oktober entscheiden. Das ist nicht der richtige Umgang mit der Problematik, meine Damen und Herren. ({37}) Notwendig wäre dagegen, zu sagen: Lassen Sie uns das, was wir mit zu viel an Verwaltungskosten befrachtet haben - durchaus gemeinsam -, gemeinsam korrigieren und eine vernünftigere Lösung finden! Lassen Sie es uns bald machen; denn es eilt, zum einen, weil es in die Maastricht-Kriterien eingeht, zum anderen aber auch, weil Klarheit über den weiteren Weg herrschen muss. Lassen Sie uns das gemeinsam machen und zögern Sie das nicht hinaus! ({38}) Ich verstehe die Abstimmungsnotwendigkeiten in Ihren beiden Parteien. Aber im Laufe des parlamentarischen Prozesses müsste es zu schaffen sein, ({39}) so weit zu kommen, dass die Abstimmung vollzogen wird und wir miteinander eine vernünftigere Lösung durchsetzen können. ({40}) Auch dort wird die Reform weitergehen müssen, ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht, was mehr Transparenz und mehr Markt - auch bei den Apotheken - angeht. Diese Frage wird Sie, meine Damen und Herren, noch einholen; ich bin ganz sicher. ({41}) - Wer sich da vor Ihnen fürchten soll, muss mir noch erklärt werden, Herr Westerwelle. ({42}) Sie werden gleich darstellen, wie furchterregend Sie sein können. Ich komme zu dem dritten Punkt, der Teil der Agenda ist. Das ist das, was mit dem Namen Hartz IV verbunden ist. Die Notwendigkeit, Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen, ist von niemandem bestritten worden. Im Blick auf die Debatte darüber, wer wann Aufklärung geleistet hat, habe ich einmal herumgefragt, wann denn das Gesetz abschließend im Bundesrat beschlossen worden ist. Kaum einer - außer mir natürlich ist auf Mitte Juli gekommen. Als wir wussten, wie das Gesetz aussehen würde - es war ein schwieriges Vermittlungsverfahren, das nicht im letzten Dezember, kurz vor Weihnachten, sondern im Juli 2004 endete -, begann sozusagen die Phase der Umsetzung in die notwendigen Verordnungen und Richtlinien. Das musste auch schnell gemacht werden; denn zum 1. Januar 2005 muss Klarheit herrschen. Jetzt ein paar Bemerkungen zu den Wirkungen und zu der Art und Weise, wie damit umgegangen wird. Ich glaube, dass die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe richtig ist. Darüber, denke ich, gibt es auch keine großen Unterschiede in den Auffassungen in diesem Hause. Wenn das so ist, reduziert sich das Ganze doch auf die Frage, ob die Umsetzung so, wie sie im Gesetz vorgesehen ist und die erst zum 1. Januar 2005 beginnen soll, dem gemeinsamen Anliegen entspricht. Dann sollte man einmal buchstabieren, was denn im Moment so diskutiert wird, insbesondere von der verehrten Opposition. ({43}) - Von dem auch; das stimmt. ({44}) Da wird gesagt, das Schonvermögen sei nicht großzügig genug angesetzt. Ich will Ihnen dazu nur zwei Beispiele nennen. Dass ein Ehepaar, die Ehegatten jeweils 45 Jahre, mit zwei Kindern neben Haus und Hausrat, was bei der Transferzahlung nicht berücksichtigt wird, 47 500 Euro an Schonvermögen hat, gibt es - wir haben das überprüft - in keinem anderen europäischen Sozialstaat. ({45}) Ich füge hinzu: Das neue Arbeitslosengeld II, die frühere Arbeitslosenhilfe also, ist eine steuerfinanzierte Leistung. Dieses Geld wird keineswegs nur von den Spitzenverdienern aufgebracht. Dieses Geld wird auch aus den Steuern der Verkäuferin, des Gesellen im Handwerk, des Krankenpflegers, von wem auch immer aufgebracht. Angesichts dieser Tatsache durch die Gegend zu laufen ({46}) - das sind doch Ihre Ministerpräsidenten; fragen Sie doch einmal Herrn Milbradt! ({47}) und zu sagen, das sei zu wenig, wird der Lage nicht gerecht. ({48}) Besonders makaber ist es im Übrigen, dass die gleichen Ministerpräsidenten, die jetzt Veränderungen durchführen wollen - ob sie Müller, Meier oder Schulze heißen -, im Vermittlungsverfahren dafür gesorgt haben, dass nicht weniger, sondern mehr an Schärfe und Druck ins System gekommen ist. Das ist doch keine Art, Politik zu machen. ({49}) Dann fordern die Gleichen, dass das Arbeitslosengeld I je nach Dauer der Beitragszahlung länger bezahlt werden muss. Sie bestreiten mit dieser Aussage Landtagswahlkämpfe. Dabei hätten Sie doch im Vermittlungsverfahren etwas sagen können. ({50}) Keiner von denen, die jetzt die Fahne hoch reißen, hat dazu ein einziges Wort gesagt. So kann man doch nicht politisch arbeiten, insbesondere dann nicht, wenn man sich angeblich das Prinzip Verlässlichkeit auf die Fahne geschrieben hat. Das geht doch nicht. ({51}) In den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss ist es unter der nächsten Ziffer um den Zuverdienst gegangen. Jetzt wird von allen gesagt, hier müsse mehr ermöglicht werden. Ich erinnere mich noch an das Vermittlungsverfahren; wir waren doch alle dabei. Wie ist es da denn gelaufen? Diejenigen, die weniger Zuverdienstmöglichkeiten gefordert und angesichts der Machtverhältnisse im Bundesrat auch durchgesetzt haben, laufen jetzt herum und sagen, sie hätten sich bessere Zuverdienstmöglichkeiten vorgestellt. ({52}) Das ist doch nicht auf einen Nenner zu bringen, meine Damen und Herren. Doch die gleichen Leute reden davon, dass sie Vertrauen schaffen wollen. ({53}) Richtig makaber wird das vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Herr Koch aus Hessen öffentlich und in den Vermittlungsgesprächen gefordert hat, dass es überhaupt keine Zuverdienstmöglichkeiten geben dürfe; dabei hat er auf Erfahrungen in Wisconsin, also auf ein amerikanisches Beispiel, hingewiesen. Die gleichen Leute, die so etwas gesagt haben, laufen jetzt durch die Republik und diskreditieren das ganze Vorhaben, indem sie Forderungen nach weiter gehenden Möglichkeiten stellen, obwohl sie das vorher abgelehnt haben. Sie glauben doch selber nicht, Herr Glos, dass man das als vertrauensbildend bezeichnen kann. ({54}) Ich will auch, damit das nicht einseitig wird, ein Wort zu der Frage der von uns vorgesehenen zumutbaren Arbeit, die angenommen werden muss, sagen. Ich glaube, dass es ungeheuer schwierig wäre, für alle denkbaren Fälle abstrakt im Gesetz zu definieren, wann eine Arbeit zumutbar ist und angenommen werden muss. Deswegen hat der Bundesarbeitsminister dafür gesorgt - und das ist richtig -, dass die Fallmanager, also diejenigen, die die Vermittlungstätigkeit ausüben - in Zukunft wird einer 75 junge Leute betreuen; bei den Älteren sind wir noch nicht so weit, da kommt einer auf 140 Fälle; aber das ist auch schon ganz gut -, einen möglichst weiten Ermessensspielraum haben. So können sie selber im Einzelfall eine Definition vornehmen und mit dem Arbeitslosen in einer Eingliederungsvereinbarung aushandeln, was zumutbar ist und was nicht. Ich setze darauf, dass damit verantwortlich umgegangen wird. Die Beispiele, die jetzt in die Welt gesetzt werden, sind absurd. Natürlich wird es Aufgabe im Rahmen der Monitoringprozesse sein, zu kontrollieren, ob das vernünftig gemacht wird und ob Gruppen oder Einzelne so vom Gesetz betroffen werden, wie es vorgesehen ist. Wenn nicht, muss man über die Prüfung von Einzelfällen und über das Monitoringverfahren dafür sorgen, dass die Ziele des Gesetzes erreicht werden. Das ist unsere Aufgabe. Aber mit dieser Aufgabe kann doch erst begonnen werden, wenn das Gesetz in Kraft ist, wenn es wirkt, nämlich ab 2005. Das kann man nicht prophylaktisch machen. Ich glaube, dass man sich wirklich die Zeit nehmen sollte, eine der größten Sozialreformen, die in der Geschichte der Bundesrepublik gemacht worden sind, weil sie gemacht werden musste, sehr sorgfältig auf ihre Wirkungen abzuklopfen, und bereit sein sollte, korrigierend einzugreifen, wenn Wirkungen erzielt werden, die das Gesetz nicht vorsieht. Aber schon vorher über die Veränderung der Reformen zu reden halte ich für ganz falsch und deswegen wird das auch nicht geschehen. ({55}) Falsch wäre es indessen, diese große Reform, die wir brauchen, um unsere eigene Zukunftsfähigkeit sicherzustellen und die sozialen Sicherungssysteme in Ordnung zu bringen und zu halten, nur auf den Leistungsbereich und die dort notwendigen Veränderungen zu beschränken. Im Übrigen kann sich auch dieser im europäischen Maßstab sehen lassen. Ziel des Gesetzes ist doch etwas ganz anderes, nämlich die stetig anwachsende Langzeitarbeitslosigkeit besser als in der Vergangenheit zu bekämpfen. Das ist das eigentliche Ziel des Gesetzes. ({56}) Dieses Ziel erreichen wir durch Fördern. Im ersten Schritt wollen wir die ständige Zufuhr in die Langzeitarbeitslosigkeit bei denen, die jung sind, abstellen. Deutschland steht im europäischen Maßstab, was Jugendarbeitslosigkeit angeht, sehr gut da. Aber wir wollen noch besser werden. Deswegen schaffen wir ab 1. Januar 2005 einen Rechtsanspruch für junge Leute unter 25 Jahren auf entweder Ausbildung oder Arbeit oder Qualifizierung. Das dient dem Ziel, die Zufuhr in die Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen. Ein Wort zum Fördern im Zusammenhang mit der Debatte in Deutschland. Wir werden im nächsten Jahr alles in allem und flexibel einsetzbar knapp 10 Milliarden Euro - ich glaube, es sind genau 9,63 Milliarden Euro zur Verfügung haben, von denen 42 Prozent dort eingesetzt werden, wo die Arbeitslosigkeit größer ist als anderswo, nämlich im Osten unseres Landes. ({57}) Wie man vor diesem Hintergrund behaupten kann, für den Osten des Landes werde nichts Spezielles getan, entzieht sich nun wirklich jedem Verständnis. ({58}) Aber eines ist genauso klar: Die gewaltige Aufgabe, die wir vor uns haben, lässt sich nur durchführen, wenn Kommunen, Länder und Bund, und zwar unabhängig von der parteipolitischen Färbung der jeweiligen Regierung, in dieser Frage zusammenarbeiten. Hier geht es um ein Stück Zukunftsfähigkeit des Landes. Wer meint, darüber aus parteipolitischem Kalkül oder angesichts von Wahlkämpfen hinwegsehen zu können, der tut etwas gegen die Interessen unseres Landes und nicht dafür. ({59}) Die Aufgabe kann nur gemeinsam durchgeführt werden und das muss unabhängig von der parteipolitischen Färbung von Landes- oder Kommunalregierungen geschehen. Das ist eindeutig. Abschließend ein paar Bemerkungen zu den Folgen dessen, was wir an Umbauarbeit in den sozialen Sicherungssystemen aus den Gründen, die ich genannt habe - verschärfter Wettbewerb, Stichwort: Globalisierung, und radikal anderer Altersaufbau unserer Gesellschaft -, geleistet haben. Wichtig ist, dass niemand glauben darf, wenn die Gesetze beschlossen sind, kann man sich zurücklehnen. Das geht aus zwei Gründen nicht: Es wäre ein Irrtum, zu glauben, Reformprozesse in reichen Gesellschaften - entgegen dem, was Herr Glos gesagt hat, ist dies eine Gesellschaft, die wohlhabend ist und voller Kraft steckt, auch und gerade im internationalen Maßstab; ich werde noch ein paar Punkte dazu nennen - ließen sich bewerkstelligen, indem man hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz verabschiedet. Die Erfahrung, die wir gegenwärtig machen, ist doch, dass bei einer so großen und wichtigen Reform die Umsetzung in der Gesellschaft die eigentliche Aufgabe jeglicher reformerischen Arbeit ist. Das ist, glaube ich, ein Gesichtspunkt, dem man sich ganz neu widmen muss, ({60}) weil das ganz andere Arbeitsweisen als die hier gepflegten verlangt. Wir befinden uns mitten in dem Prozess, das zu verklaren. Die zweite Erkenntnis muss sein: Angesichts der fortschreitenden und immer schnelleren Veränderung der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften sind Reformprozesse nie am Ende. Es ist vielmehr eine permanente Aufgabe, zu überprüfen, ob die Überbausysteme in der Politik noch mit den radikalen, schnellen Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften Schritt halten können. Das ist das eigentlich Entscheidende, worum es geht. Wir tun das, damit die sozialen Sicherungssysteme auch in Zukunft haltbar bleiben, ({61}) damit auch unsere Kinder und deren Kinder noch in den Genuss einer - in unseren Gesellschaften ist es immer eine relative - Sicherheit kommen. Immerhin ist es eine Sicherheit, die in der Geschichte unseres Landes noch nie erreicht worden ist. Darum machen wir jetzt die Umbauarbeit und darum nehmen wir die Schwierigkeiten in Kauf. Ich weiß sehr wohl um die Schwierigkeiten, die Sie genannt haben. Ich weiß auch - das ist keine Frage um die schmerzhaften Wahlniederlagen. Aber ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir jetzt nicht handeln würden, dann würde es zu spät sein, wer auch immer das Heft des Handelns dann in der Hand halten würde. ({62}) Wir tun das, weil die Agenda 2010, wie seinerzeit angekündigt, auch ein anderes Gesicht, sozusagen die Kehrseite der Medaille, hat. Dieses Gesicht bedeutet schlicht: Der Umbau ist nicht nur nötig, um die Sicherungssysteme in Ordnung zu halten. Er ist auch nötig, damit wir gesellschaftliche Ressourcen freisetzen, um sie in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu investieren. Das ist der andere Teil der Agenda 2010. ({63}) Dieser andere Teil beinhaltet die Notwendigkeit, dass wir in Forschung und Entwicklung investieren. ({64}) Wir müssen das 3-Prozent-Ziel erreichen. Aber angesichts der Schwarzmalerei will ich sagen: Für Forschung und Entwicklung werden im europäischen Durchschnitt 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben. In Deutschland sind es rund 2,5 Prozent. Schweden hingegen gibt 4,3 Prozent dafür aus. Wir kommen nicht auf diese Zahl, aber wir müssen in diese Richtung gehen. ({65}) Wir sind zwar schon besser als der Durchschnitt, aber wir müssen noch besser werden und müssen sehen, dass wir schnell das Ziel von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen. Wie geht das? Es geht durch Subventionsabbau. Da sind auch Sie gefordert. Denn Subventionsabbau heißt, Ressourcen, die man in der Vergangenheit für Subventionen eingesetzt hat, für Zukunftsinvestitionen auszugeben. ({66}) Damit bin ich bei der Eigenheimzulage. Sie können unter Beweis stellen, dass Sie mithelfen wollen, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen, ({67}) indem Sie die Blockade aufgeben, mit der Sie die Eigenheimzulage belegt haben. ({68}) Wir müssen - das ist nur innerhalb des föderalen Systems zu schaffen - mehr in Bildung investieren. Das gilt übrigens auch für die Ausbildung. Damit bin ich beim Ausbildungspakt. Natürlich gibt es noch eine Lehrstellenlücke. Niemand bedauert das mehr als wir. Aber dass 10 000 Ausbildungsverträge mehr als im letzten Jahr bereits jetzt unterschrieben sind, ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Die rechnerische Lücke von 30 000, die es immer noch gibt, muss bis zum Jahresende geschlossen werden. Das ist Aufgabe der Wirtschaft. ({69}) Die Tatsache, dass große angelsächsische Zeitungen Deutschland inzwischen als Investitionsstandort Nummer eins ansehen - das können Sie in „Newsweek“ nachlesen; ich bin auch bereit, Ihnen das vorzulesen, Herr Kollege Glos -, ({70}) hat eminent mit der Qualifizierung unserer Leute zu tun. Diese hat wiederum mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zu tun, Ausbildungsplätze bereitzustellen. Das ist etwas, was wir im eigenen Interesse und auch im Interesse der Wirtschaft leisten müssen. ({71}) Der dritte Punkt. Wir brauchen die Ressourcen, um sie vor allen Dingen in Betreuung zu investieren. Wir brauchen sie, weil es sich diese Gesellschaft überhaupt nicht leisten kann - in Zukunft noch viel weniger -, die Qualifikation, die Kreativität und die Leistungsbereitschaft von Frauen nur deshalb ökonomisch nicht zu nutzen, weil es an Betreuungsplätzen fehlt. Das können wir uns nicht leisten. Außerdem kommt hinzu, dass es nicht gerecht ist. ({72}) Das sind die Bereiche, um die es schwerpunktmäßig geht und für die wir Ressourcen mobilisieren müssen und Ressourcen mobilisieren werden. Wenn man sich einmal anschaut, was von dem Schauergemälde übrig geblieben ist, das Herr Glos gemalt hat, und wenn man die Zahlen wirklich betrachtet, dann sieht man, dass wir zwar keinen Anlass haben, euphorisch und selbstgerecht in die Zukunft zu blicken, dass wir aber Anlass haben, selbstbewusst und entlang eigener entwickelter Stärke die Zukunftsaufgaben anzugehen. Wir haben beim Wachstum zur Eurozone aufgeschlossen. Die Industrieproduktion in Deutschland wächst deutlich schneller als im europäischen Vergleich. Übrigens, dass wir Exportweltmeister sind, hat doch auch etwas mit der Kraft der deutschen Wirtschaft und nicht mit ihrer Schwäche zu tun. Warum sagen wir das nicht? ({73}) Dies hat auch etwas mit der Lohnpolitik der deutschen Gewerkschaften zu tun, die dazu geführt hat, dass die Lohnstückkosten schon die ganzen 90er-Jahre über, auch in der Phase der Stagnation, im Grunde gleich geblieben sind - es gab eine Steigerung von 0,1 Prozent pro Jahr und dass damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in einem Maße wie nie zuvor zugenommen hat. Wir haben auch in der schwierigsten Phase der Weltwirtschaft, in der Stagnationsphase, die Gott sei Dank überwunden ist, abzüglich der Wechselkursbereinigung real Marktanteile gewonnen. Das ist doch ein Zeichen von Kraft, auf die wir stolz sein und worauf wir unabhängig von allen parteipolitischen Auseinandersetzungen auch einmal hinweisen sollten. ({74}) Wir haben das bei einer Inflationsrate erreicht, die die stabilste und geringste in Europa ist, was uns bei den Zinsen gelegentlich Schwierigkeiten macht. Weil wir eine so geringe Inflationsrate haben, haben wir das höchste reale Zinsniveau. Das ist ein Problem, was die Refinanzierung unserer Unternehmen angeht. Aber es ist doch auch etwas, worauf man hinweisen kann, was man nicht einfach vergessen darf. Wie sieht es schließlich - darüber wird immer wieder geredet - bei den Patenten aus? Wir liegen im europäischen Maßstab weit an der Spitze. Wir sind besser als die Konkurrenten, auch besser als die großen europäischen Konkurrenten. Ja, es ist wahr: Amerika und Japan sind noch besser. Wir sollten und wollen dazu aufschließen. Deswegen investieren wir in Forschung und Entwicklung. ({75}) Meine Damen und Herren, ich gehöre wirklich nicht zu denjenigen, die nicht wüssten, wie schwer die Arbeitslosigkeit auf diesem Land lastet und wie sehr uns das umtreiben muss. Wir sind deswegen weit davon entfernt, nur ein rosiges Bild zu malen. Aber zu sagen, dieses Land sei ein einziges Jammertal, nur weil Ihnen die Regierung nicht passt, das ist hanebüchener Unsinn. ({76}) Was wir tun müssen und was wir tun werden, ist, die Positionierung Deutschlands als eines selbstbewussten, bündnistreuen Landes in der internationalen Politik nicht aufzugeben. Was wir nach innen tun müssen, ist, den Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme voranzubringen, weil sie nur so auf Dauer zu sichern sind. Was wir im Übrigen zu tun haben, ist, Ressourcen in den Bereichen einzusetzen, die ich genannt habe. Dabei können wir auf eine ungeheure Kraft in der deutschen Gesellschaft und auch in der deutschen Wirtschaft bauen - nicht in dem Sinne, dass man sich damit zufrieden geben könnte, aber schon in dem Sinne, dass man sie als Ausgangspunkt für eine Zukunft nutzt, die wir nun wirklich nicht schwarz in schwarz malen müssen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({77})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben viele bemerkenswerte Sätze in Ihrer Rede gesagt, aber einer war besonders bemerkenswert. Sie haben gesagt: Diese Regierung handelt vielversprechend. ({0}) Das ist das Problem dieser Regierung: Sie verspricht viel, aber sie hält nichts. Deswegen laufen Ihnen auch die Menschen davon. ({1}) Es ist bei Ihnen jedes Jahr dasselbe Ritual. ({2}) - Herr Müntefering, das war ein fabelhafter Zwischenruf. Heute habe ich schon etwas über Zwischenrufe gehört. Herr Schmidt sitzt jetzt nicht neben Ihnen, aber Sie, Herr Müntefering, und Herr Schmidt - Frau Kumpf, Sie sind schöner als Herr Schmidt, das muss man ausdrücklich sagen - sitzen hier regelmäßig wie die beiden Opas auf dem Balkon in der Muppet-Show und rufen dazwischen. Das ist wirklich bemerkenswert. Darüber, was Sie mit Innovation zu tun haben, wollen wir ein andermal reden. ({3}) Herr Bundeskanzler, es gibt immer - das ist das Entscheidende - das gleiche Ritual. Es wechselt aus meiner Sicht nur jedes Jahr der Verantwortliche. In einem Jahr sagen Sie, dass die Weltwirtschaft für die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich ist, und im nächsten Jahr sagen Sie, dass die Opposition dafür verantwortlich ist. Dann verweisen Sie auf die angeblich mangelnde Mitwirkung der Oppositionsparteien hier im Bundestag oder im Bundesrat. Tatsache ist aber etwas ganz anderes. Tatsache ist, dass sich diese Opposition, zum Beispiel im Vermittlungsverfahren, um ein Vielfaches konstruktiver verhalten hat und verhält, als Sie das zu Ihrer Zeit in der Opposition jemals getan haben. ({4}) Sie haben gesagt, Sie wollen den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent senken. Dazu merke ich - wir haben heute Morgen des verstorbenen Kollegen Günter Rexrodt gedacht - an: Wir hätten längst auf der Grundlage der Petersberger Beschlüsse ein völlig neues, einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigeren Sätzen. Es waren die Ministerpräsidenten Schröder und Eichel, die das blockiert haben; denn durch den Bundestag war es durch. Sie haben als Ministerpräsidenten aus Wahlkampfgründen gegen die Interessen Deutschlands gearbeitet. ({5}) Sie sagen, Sie hätten sich der Probleme der demographischen Entwicklung angenommen, Sie hätten erkannt, dass die Sozialstaatsreformen notwendig sind. Wir wollen aber nicht vergessen, dass der demographische Faktor in der letzten Legislaturperiode der alten Regierung in das Rentensystem eingeführt worden ist, doch abermals waren Sie es, die blockiert haben. ({6}) Wir wollen auch nicht vergessen, wie es bei den Arbeitsmarktreformen zugegangen ist. Sie sagen, Sie müssten heute durchfechten, dass es zu einer Vereinfachung und Liberalisierung auf dem Arbeitsmarkt kommt. Dort, wo Sie das tun, haben Sie unsere Unterstützung. Wir weisen aber darauf hin: Das war alles längst beschlossen und Gesetz. Wenn das Trio Schröder, Eichel und Lafontaine damals anders gehandelt hätte, hätten heute Hunderttausende von Arbeitslosen Arbeit. Das möchte ich an dieser Stelle festhalten. ({7}) Ich habe mich schon gewundert, dass Sie, als Sie über die Sozialstaatsreformen sprachen, uns und nicht die Mitglieder der Regierungsfraktionen angeschaut haben. Uns müssen Sie doch nicht erzählen, dass angebotene Arbeit auch angenommen werden muss. Uns müssen Sie doch nicht erzählen, dass sich Leistung wieder lohnen muss. ({8}) Sie müssen uns doch nicht erzählen, dass Demonstrationen, wenn sie von Demagogen von der PDS aufgehetzt werden, in die falsche Richtung weisen. Auch ich kritisiere das, was Herr Milbradt dazu gesagt hat, aber wir wollen doch festhalten, dass bei diesen Montagsdemonstrationen die PDS vorne mitläuft. Das ist Ihr Koalitionspartner, nicht unserer! ({9}) An der Spitze dieser Montagsdemonstrationen steht doch kein Freidemokrat und hält wie am letzten Montag die Rede, sondern es war Ihr Genosse, Ihr früherer Parteivorsitzender Oskar Lafontaine, der dort gesprochen hat. In den Reihen der Montagsdemonstrationen gehen doch keine Freidemokraten und unterstützen auch noch diejenigen, die dort aufhetzen. In Wahrheit ist es doch so, dass Herr Ströbele und Herr Bsirske von den Grünen dort demonstrieren. Das ist der Grund, warum Ihnen die Leute weglaufen. ({10}) Wollen wir hier einmal wiedergeben, wer von Ihnen sich wie - über das Verständnis, das man für jemanden, der in Sorge ist und demonstriert, haben muss, hinaus geäußert hat? Wollen wir das allen Ernstes wiedergeben? Alles, was an marktwirtschaftlichen Reformen im Deutschen Bundestag und im Dezember im Vermittlungsverfahren beschlossen worden ist, ist von uns befördert und immer wieder verteidigt worden. ({11}) Das Problem ist, dass Ihre eigenen Leute permanent mit neuen Vorschlägen kommen; übrigens auch der stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Thierse. Es sind doch Ihre Leute, die die Stimmung machen und die meinen, sie könnten damit für sich selbst einen Vorteil erreichen. Das wollen wir an dieser Stelle einmal festhalten. ({12}) - Ich habe den stellvertretenden Parteivorsitzenden angesprochen; das ist erlaubt. Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das nächste Problem ist, dass Sie gar keine Linie haben. Sie meinen, Sie bekämen Widerstand in der Bevölkerung, weil Sie Reformen durchsetzen. Sie bekommen Widerstand, weil Sie keine verlässliche Politik machen. Das ist der Unterschied. ({13}) Wie ist es denn abgelaufen? Sechs Jahre lang gab es keine einzige Klausur. Jetzt jagt eine die nächste. Angefangen haben Sie Anfang des Jahres, im Januar, mit einer Klausur der Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten. Daher kommt der berühmte Satz des Bundeskanzlers - damals war er noch SPD-Vorsitzender -: Das Jahr 2004 muss ein Jahr der Innovation werden. ({14}) Die einzige Innovation, die stattgefunden hat, ist die, dass mittlerweile Herr Müntefering der alten Tante SPD die Rheumadecke auflegen kann. Das ist Ihre Innovation. ({15}) Was ist mit dem, was in der Bildungspolitik, in der Forschungspolitik und der Wissenschaftspolitik stattfinden müsste? Wohin sind Sie denn da? Weggetaucht? ({16}) - Herr Tauss, in jedem Raum ist einer der Dümmste, aber melden Sie sich doch nicht freiwillig. ({17}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Frau Bulmahn hat doch Anfang des Jahres damit angefangen - eine sehr bemerkenswerte Sache -: Mal waren es fünf, mal waren es zehn Eliteuniversitäten. Anfang des Jahres haben wir noch gedacht, wunders was da kommt. Was ist denn aus dem Programm für Eliteuniversitäten geworden? - Nichts! Vertagt, vertagt, vertagt! ({18}) Das ist das Entscheidende. Wissen Sie, warum das möglich ist? Das ist in der Tat auch aufgrund föderaler Strukturen möglich, die wir gemeinsam korrigieren wollen. Ich glaube, darüber sind wir uns in diesem Hause einig. ({19}) Das ist aber auch deshalb möglich, weil Sie keine politische, geistige Meinungsführerschaft mehr ausüben. Sie reden von Eliten, beschließen aber gleichzeitig in diesem Hause ein Verbot von Studiengebühren, das den Universitäten quasi per staatlichem Diktat verbietet, GeDr. Guido Westerwelle bühren zu erheben. Mehr Freiheit ist die Innovation und nicht mehr staatliche Regulierung. Das gilt auch und gerade in der Bildungspolitik. ({20}) Dann kam die nächste - eine fabelhafte, hochinteressante - Klausurtagung, die sich mit den Folgen von Hartz beschäftigen sollte. Dort wurde entsprechend nachgebessert. Es dauerte dann keine zwei Tage, bis sich Minister aus Ihrer Bundesregierung mit Herrn Stolpe an der Spitze zu Wort gemeldet und gesagt haben: Es muss aber auch die Nachbesserung wieder nachgebessert werden. Der arme Herr Clement musste seinen Urlaub unterbrechen - mein Mitleid hält sich in Grenzen - und zu dieser Klausur- bzw. Krisensitzung anreisen. Anschließend sagte Herr Stolpe wie auch andere aus Ihrer Koalition, dass das, was zwei Tage zuvor gerade nachgebessert worden war, noch einmal nachgebessert werden muss. ({21}) Sie haben in den wesentlichen Bereichen keine Linie. Erst haben Sie die Hartz-Reformen beschlossen. Im Kern ist vieles davon richtig. Dafür haben Sie auch die Unterstützung der Opposition bekommen. ({22}) Dann haben Sie gesagt, es müsse nachgebessert werden, weil die Reformen handwerklich so dilettantisch umgesetzt wurden. Dann kam es zur Nachbesserung der Nachbesserung. Auf der Klausursitzung in Bonn verabschieden Sie sich dann für den Rest der Legislaturperiode von allen weiteren Reformprojekten. Sie verwalten die Krisen, aber Sie gestalten nicht die Zukunft. Das spüren die Menschen. ({23}) Nun komme ich zu dem, was Sie angesprochen haben, zuerst zur Ausbildungsplatzabgabe. ({24}) In Ihrer Agenda-2010-Regierungserklärung hieß es zunächst: keine Ausbildungsplatzabgabe. ({25}) Anschließend wurde die Ausbildungsplatzabgabe ({26}) von Ihren beiden Parteitagen beschlossen. Nach dem Führungswechsel in der SPD führten Sie dann die Ausbildungsplatzabgabe ({27}) ein, damit Herr Müntefering gegenüber den Linken in seiner Partei etwas vorzuweisen hat. Daraufhin nahmen Sie die Ausbildungsplatzabgabe ({28}) wieder zurück und sagten, wir bräuchten einen Ausbildungspakt. ({29}) Meine Damen und Herren, die Menschen sind bereit, auch einen harten Weg mitzugehen. ({30}) Aber sie wollen ein Ziel haben. Sie wollen wissen, wohin es geht. Sie wollen sehen, dass gerecht und verlässlich vorgegangen wird. Sie sind eine Bundesregierung, die sich verhält wie ein Hase auf der Flucht: Sie schlagen Haken, aber Sie haben keinen Kurs. Das ist Ihr Problem. ({31}) In der letzten Debatte, die hier stattgefunden hat, ging es um das Thema Mindestbesteuerung. Sie haben gesagt, dass wir durch die Wiedervereinigung Europas, über die wir hier gesprochen haben, eine Mindestbesteuerung brauchen. Anschließend wurde eine Reihe von Papieren erarbeitet. Von den Grünen wurde ein Vorschlag zur Vermögensteuer vorgelegt. Mittlerweile haben Sie dazu ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Herr Kuhn fasste es so zusammen, dass Ihre Steuererhöhungspläne in Wahrheit nur mehr Verwaltungskosten, aber gar nicht mehr Steuereinnahmen bringen würden. Daher wurden sie zurückgezogen. Nachdem diese Vorschläge gestern von Ihnen und von Herrn Kuhn zurückgezogen worden sind, sagt am heutigen Tag der Parteivorsitzende der Grünen, Herr Bütikofer: Die Mindestbesteuerung muss kommen und die Instrumente sind die Vermögen- und die Erbschaftsteuer. Genau das ist der Fehler, der uns in Deutschland zur Kapitalflucht treibt und den wir bekämpfen müssen. Wir müssen mit immer neuen Steuererhöhungsdiskussionen Schluss machen. Ich nenne noch einmal die Debatten über die Vermögensteuer, die Mindestbesteuerung und die Erbschaftsteuer. Jetzt dreht sich die Diskussion auch um die Mehrwertsteuer. Sie machen immer neue Steuererhöhungsvorschläge. Aber mit Steuererhöhungsvorschlägen treiben Sie die Menschen in Schwarzarbeit und Kapitalflucht. Wir brauchen die Investitionen hier in Deutschland. Deswegen ist ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem das erste Vorhaben, das die Freien Demokraten bei einer Regierungsbeteiligung durchsetzen wollen. ({32}) Es ist richtig, dass wir dabei auch die Sozialstaatsreformen durchsetzen müssen. Wir wissen das. Wir wissen, dass wir Sozialstaatsreformen brauchen. ({33}) Wer nicht arbeiten kann, dem muss geholfen werden. Wer aber nicht arbeiten will, der kann nicht damit rechnen, dass Familienväter und allein erziehende Mütter abends länger arbeiten, damit er sich einen lauen Lenz machen kann. ({34}) Hier geht es um die Frage der Treffsicherheit des Sozialstaates. Wir haben ein anderes Verständnis vom Sozialstaat als Sie. ({35}) Sie sehen darin einen Wohlfahrtsstaat, der zur Beruhigung an alle ein wenig verteilt. Wir wollen einen Sozialstaat, der seine Hilfen auf die wirklich Bedürftigen konzentriert. Das ist der feine Unterschied. ({36}) All Ihre Reformen - ob Agenda 2010, bei der Sie in Wahrheit auf halbem Wege stehen geblieben sind, oder Hartz I bis IV - werden nicht tragen und nicht ausreichen, wenn Sie Ihre Wirtschaftspolitik nicht korrigieren und an die Stelle Ihrer Verteilungsstrategie eine Wachstumsstrategie setzen. Ihre ganzen Reden drehen sich in Wahrheit im Kern um die Frage: Wie verteilt der Staat an wen etwas am besten? Ein Bundeskanzler in diesen Zeiten müsste hier stehen und müsste sagen: Wachstum schaffen wir durch: erstens, zweitens, drittens, durch folgende Rahmenbedingungen des Staates. Das Wort „Wachstum“ kommt in Ihren Reden überhaupt nicht mehr vor, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das gibt es überhaupt nicht mehr! ({37}) Sie können noch so sehr vorhandene Arbeit durch eine Sozialstaatsreform besser verteilen - und es ist notwendig, dass angebotene Arbeit auch angenommen wird -, Sie müssen aber Ihre Politik ergänzen: durch eine Wirtschaftspolitik, die auf Wachstum setzt. Dazu zählen vor allen Dingen auch die neuen Technologien. Sie sprachen doch selbst von der Innovation. Sie sprechen hier von den Patenten und setzen sie auf Ihre Erfolgsliste, so als ob Sie ein einziges Patent angemeldet hätten. ({38}) In Wahrheit ist es so, dass Ihre Bundesregierung dazu beiträgt, dass Patente, die in Deutschland angemeldet werden und die hier Arbeitsplätze schaffen könnten, ins Ausland verlagert werden. ({39}) Wir haben das doch beim Transrapid als moderner Verkehrstechnologie erlebt: Die Richtlinien der Politik kamen nicht von Herrn Schröder; Herr Trittin hat die Richtlinien bestimmt und der Transrapid durfte hier nicht gebaut werden. Mittlerweile wollen Sie auf jeder Chinareise mindestens einmal im Transrapid fotografiert und gefilmt werden. Dasselbe erleben wir jetzt wieder bei der Bio- und Gentechnologie. Es ist doch nicht nur eine ökonomische Frage, es ist doch auch eine moralische und eine ethische Frage. Wenn die Forschung für Bio- und Gentechnologie in Deutschland immer mehr durch die Gesetzgebung, die Frau Künast zu verantworten hat, ins Ausland vertrieben wird, dann gehen uns nicht nur Chancen für Arbeitsplätze verloren, in Wahrheit gehen uns auch Chancen verloren, Krankheiten zu bekämpfen und etwas gegen den Welthunger zu tun. Ihre Blockadehaltung gegen die Grüne Gentechnik, mit der man zum Beispiel schädlingsresistente Pflanzen herstellen kann, sodass man nicht mehr Millionen von Tonnen von Chemie braucht, um in der Dritten Welt Felder zu bearbeiten, diese Ihre Blockade gegen die Grüne Gentechnik hat einen Vorläufer: Ihre Blockade gegen die Rote Gentechnik. Beides ist grottenfalsch. Wer heute moderne Technologien wie Gen- und Biotechnologie blockiert, der verhält sich unmoralisch, weil er nicht seinen Beitrag leistet im Kampf gegen Krankheiten und gegen den Welthunger. ({40}) Das ist die Auseinandersetzung, die wir führen wollen und führen müssen. Sie haben von der Energie gesprochen. In der Tat ist es richtig, dass die hohen Energiepreise und die Entwicklung, die wir dort haben, uns allen Sorgen machen; das ist gar keine Frage, das wissen wir auch. Ob die Vorschläge aus den Reihen der Union kommen oder von anderen - ich glaube, dass die Vorstellung, man könnte staatlich die Preise festsetzen, zu kurz gedacht ist, um es ganz höflich zu formulieren. ({41}) - Die kommen nicht von der CDU, ja. Auf der anderen Seite, meine sehr geehrten Damen und Herren, will ich Ihnen genauso sagen: Wenn der Bundeskanzler sich hierhin stellt, auf die hohen Energiepreise hinweist und sagt, es fehle ja an Wettbewerb und deswegen sei diese Preisentwicklung gefährlich, ({42}) dann weise ich darauf hin, dass es Ihre Bundesregierung, Ihr Staatssekretär Tacke war, der gegen das Votum des Kartellamtes gerade für weniger Wettbewerb auf dem Energiesektor gesorgt hat. Dass dieser Herr Tacke jetzt auch noch zu dem Unternehmen wechselt, das er mit Verwaltungsentscheidungen begünstigt hat, das stinkt zum Himmel, und das werden wir aufklären. ({43}) Da sind viele Fragen zu klären; das wissen wir. Sie sprechen von Subventionen, Sie sprechen davon, dass die entsprechenden steuerlichen Ausnahmetatbestände beseitigt werden müssen. Da haben Sie unsere Zustimmung. Wenn Sie hier einfügen, dass Sie das bisher für Subventionen aufgewendete Geld brauchen, um es für Bildung und Innovation auszugeben - einverstanden. Fangen wir doch einmal gleich bei dem an, was am einfachsten geht. Der Bundeskanzler, der hier sagt, wir brauchen diese Gelder, um sie in die Bildung zu stecken, hat vor nicht einmal einem Jahr auf dem Steinkohletag gerade 16 Milliarden Euro an Subventionen zusätzlich zugesagt - für die Verlängerung von Vergangenheit, statt dass man daraus Arbeitsplätze in Forschung, Bildung und Wissenschaft macht. ({44}) Nichts kommt von Ihnen dazu. Jetzt kommen Sie mit Ihrem „Jäger 90“, der Eigenheimzulage. Es ist sehr bemerkenswert, wie Sie an die Eigenheimzulage herangehen. Hermann Otto Solms hat Ihnen das gestern in der Debatte gesagt und wir stehen dazu: Wir sind doch bereit, an die ganzen verschiedenen steuerlichen Ausnahmetatbestände heranzugehen. Wir werden das aber nicht tun, damit Herr Eichel seine selbstverschuldeten Haushaltslöcher stopfen kann. Wenn wir an die steuerlichen Ausnahmetatbestände herangehen, dann müssen die Auswirkungen durch Steuersenkungen eins zu eins an die Steuerzahler weitergegeben werden. Ansonsten ergibt sich keine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage; in Wahrheit ergeben sich dann nämlich nur Steuererhöhungen. Das wäre Gift für die Wirtschaft und brächte noch mehr Arbeitslosigkeit. Das unterscheidet uns. ({45}) Sie haben über die Außenpolitik gesprochen. Dies möchte ich mit zwei Bemerkungen aufgreifen. Herr Bundeskanzler, ich glaube, dass wir alle in diesem Hause gestern diese schrecklichen Terrorattentate und diese grausamen Morde an den Kindern in Russland mit derselben Betroffenheit verurteilt haben. Ich glaube, niemand ist irgendeiner anderen Meinung dazu. Jeder ist hier als Mensch tief darüber betroffen. Diejenigen, die Kinder morden, Geiseln nehmen und Unschuldige in den Tod schicken oder mitnehmen, sind keine Freiheitskämpfer, sondern Kriminelle, die zur Verantwortung gezogen werden müssen. Darin sind wir alle uns einig. Es geht aber um etwas anderes, nämlich um die Frage, ob der Terrorismus weltweit bekämpft werden kann. Wenn er bekämpft werden kann, dann stellt sich die Frage, wie. Aus unserer Sicht als Oppositionsfraktion kann der Terrorismus in der Welt mit Sicherheit nicht bekämpft werden, indem man bei Menschenrechtsverletzungen schweigt. ({46}) Deswegen sage ich Ihnen und dem Bundesaußenminister hierzu: Sie kritisieren an der amerikanischen Regierung, an Washington, alles - und vieles davon zu Recht. Gleichzeitig an Moskau aber nichts zu kritisieren und die Menschenrechtsverletzungen sowie die mangelnde Rechtsstaatlichkeit zu übersehen, ({47}) das ist eine erschreckende Einäugigkeit in der Außenpolitik, die wir korrigieren werden. ({48}) Die Menschenrechte sind unteilbar. Ich will Ihnen beiden, Herrn Kollegen Glos und Herrn Bundeskanzler Schröder, die Sie bisher gesprochen haben, in einem Punkt widersprechen: Sie beide haben von der Halbzeitbilanz gesprochen. Nein, das ist eine Dreiviertelbilanz; denn in spätestens zwei Jahren ist dieser Spuk nach acht Jahren vorbei. ({49})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Westerwelle, Sie haben mich persönlich angesprochen. Da ich nicht die Möglichkeit zu einer Kurzintervention habe, andererseits aber ein Interesse daran habe, ein Missverständnis nicht bestehen zu lassen, will ich nur - ({0}) - Einen Moment. Warten Sie doch ab. Ich will doch nur eine ganz freundliche Bemerkung machen. ({1}) Weil mir daran liegt, möchte ich hier nur darum bitten, dass wir genau dieses Missverständnis in einem persönlichen Gespräch aufklären. ({2}) Nun erteile ich Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle, wir haben in den 20 Minuten, in denen Sie uns angeschrieen haben, versucht, Ihnen zuzuhören. ({0}) Ich gebe zu: Wir waren ein bisschen abgelenkt, Herr Westerwelle, weil wir uns als Fans der Muppet-Show die ganze Zeit überlegt haben, wer die anderen Besetzungen sind. Ich will das aber nicht weiter ausführen, denn das, was Sie gemacht haben, hat mit dem Ernst der Situation, in der wir uns befinden, nichts zu tun. ({1}) Zu dem, was Sie zum Thema Halbzeit und dazu, dass wir auf dem halben Weg sind, ausgeführt haben, kann ich nur sagen: Sie haben Recht. Wir sind auf dem halben Weg, aber wir werden nicht stehen bleiben, sondern wir müssen weitergehen. Wir werden das, was wir erreicht haben, nutzen, um darauf aufzubauen. Was haben wir in der ersten Halbzeit erreicht? Wir haben bei der Rentenversicherung und bei den Rentenbeiträgen Stabilität erreicht. Ich glaube, dass das ein großer Erfolg ist. Ich halte - ehrlich gesagt - nichts davon, dass Sie in jeder Debatte aufs Neue erklären, Sie hätten ja damals den demographischen Faktor eingeführt. Du meine Güte, ja, Sie haben den demographischen Faktor eingeführt und er hätte zu weit höheren Rentenbeiträgen geführt, als wir sie heute tatsächlich haben. Auch das gehört zur Erkenntnis der Realität. ({2}) Sie profilieren sich immer dann, wenn es um Steuern geht. Die Bilanz Ihrer Regierungsbeteiligung ist ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent und ein Eingangssteuersatz von 25 Prozent. ({3}) In dem Fall kann man sich hier nicht hinstellen und ständig hervorheben, wie toll man es gemacht hat. Lassen Sie mich auf noch etwas hinweisen: Ich habe die Debatte zu den Haushaltsberatungen ganz intensiv verfolgt und habe auf das gewartet, was die Union zum Thema Steuern sagt. Dabei fällt mir ein, dass ich letztes Jahr zu Weihnachten, am 24. Dezember, in der „Bild“Zeitung gelesen habe, dass Herr Merz damals erklärte: Bis zum Sommer legen wir ein neues Steuerkonzept vor. ({4}) Inzwischen ist der Sommer vorbei, Herr Merz. Ich frage mich, wo jetzt die Steuerehrlichkeit der Union geblieben ist. Ich kann Ihnen sagen, wo sie geblieben ist. Ihre Ideen zu Steuersenkungen sind bei all dem verschwunden, was im Zusammenhang mit der Kopfpauschale an Finanzierungs- und Steuerlöchern entstanden ist. Genau das ist Ihr Problem. ({5}) Wenn wir über Ihre weiterführenden Ideen zur Gesundheitspolitik reden - bei der Gebisspauschale sind Sie gerade dabei, sich aus dem Staub zu machen -, dann stellt man fest, dass Sie eines nicht geschafft haben. Sie haben ein Konzept vorgelegt, es mit großem Tamtam verabschiedet und sich dafür bejubeln lassen. Dann haben Sie gesagt: Die Sache mit dem Sozialausgleich machen wir später. Ich frage mich, wann später ist. Herr Seehofer hat ausgerechnet, dass 60 Milliarden Euro fehlen. Diese 60 Milliarden Euro haben Sie noch immer nicht finanziert. Wie wollen Sie es denn machen? Mit Steuererhöhungen? Oder erklären Sie irgendwann, dass die Sache mit dem Sozialausgleich nicht mehr wichtig ist? Ich habe das Gefühl, dass Sie zuerst die Gebisspauschale aus dem Konzept herausgenommen haben, um dann die Kopfprämie hinterherzuwerfen. Vor allem eines ist klar: Mit sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und einem stabilen System hat all das gar nichts mehr zu tun. ({6}) Wir haben eine Gesundheitsreform gemacht. Sie hat Erfolge gezeigt, wenn man davon absieht, dass die Klientelpartei FDP verhindert hat, dass es bei den Apotheken wirkliche Konkurrenz gibt. Immerhin bestehen heute 800 Versandapotheken. Da tut sich was beim Wettbewerb. Trotzdem sind wir hier noch lange nicht fertig. Wir werden weitermachen müssen. Deswegen sagen wir ganz klar: Wir wollen die Bürgerversicherung. Aus welchen Gründen? Erstens. Die Bürgerversicherung ist dafür da, eine Antwort auf das demographische Problem zu geben, das im Gesundheitssystem immer deutlicher wird. ({7}) Wir wollen eine Versicherung für alle und keine Einheitskasse. Das ist ein Unterschied. Wir wollen mehr Wettbewerb zwischen den Kassen, aber auch mehr Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern. Ohne das wird es nicht gehen. Wettbewerb im System muss sein. Sie werden darauf verzichten müssen, immer ein schönes Gärtchen um diejenigen zu bauen, von denen Sie hoffen, gewählt zu werden. ({8}) Zweitens. Wir wollen, dass die Solidarität zwischen allen stattfindet, nicht nur zwischen denen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben müssen. Auch darauf wird es ankommen; denn wir müssen die reale Lebenssituation in der Zukunft berücksichtigen. Die Menschen werden nicht mehr mit 18 Jahren die Ausbildung abschließen und dann immer bei VW arbeiten. Nein, wir werden eine andere Situation haben: Die Menschen werden eine Zeit lang abhängig beschäftigt sein und dann vielleicht selbstständig tätig oder auch einmal Beamter sein. Sie werden in ihrem Leben in Zukunft hoffentlich sehr viele Berufe ausüben, in Anstellungsverhältnissen und als Selbstständige. Genau deswegen brauchen wir die Bürgerversicherung. Sie gibt den Menschen auch in diesen Situationen, mit der neuen Flexibilität, die wir wollen und brauchen, Sicherheit. Bürgerversicherung heißt eben auch: eine Versicherung für alle. Darauf kommt es uns an. ({9}) Herr Glos, Sie haben hier heute Morgen in Ihrem sehr bewegenden Auftritt - ich weiß nicht, warum Frau Merkel uns das immer gönnt - gesagt, die Grünen seien in einem Luxushotel gewesen. Ich kann Ihnen das Hotel sehr empfehlen, weil es einen sehr guten Service bietet, aber ein Luxushotel ist es nicht. ({10}) Es zeigt aber eines, Herr Glos: Wir sind nach Bad Saarow in Ostdeutschland gefahren und haben dort Erfahrungen sammeln können, die Sie wahrscheinlich nie maKatrin Göring-Eckardt chen werden, weil Sie mit der Realität in Ostdeutschland eben leider nichts zu tun haben. Das gilt übrigens auch für Herrn Westerwelle, der hier wieder von denen geredet hat, die nicht arbeiten wollen und sich einen lauen Lenz machen. Erzählen Sie das einmal auf einer dieser Demonstrationen in Ostdeutschland! Das ist menschenverachtend gegenüber denjenigen, die 250 und 300 Bewerbungen geschrieben und eben keinen Job gefunden haben, meine Damen und Herren. ({11}) Natürlich gehen viele Menschen in Ostdeutschland heute auf die Straße, weil sie verunsichert sind, weil sie berechtigte Ängste haben. Das müssen wir ernst nehmen und wir müssen genau hinhören. ({12}) Wenn wir genau hinhören, werden wir feststellen: Das Gesetz ist richtig und wir müssen es nicht verändern. Aber wir müssen bei der Umsetzung darauf achten, dass das Fördern tatsächlich die zentrale Rolle spielt. Auf der anderen Seite sollten wir aber nicht verkennen, was die Populisten dieser Republik machen. Zu denen gehören Gysi, Lafontaine und Bisky, aber es gehören auch Leute wie Herr Milbradt und viele andere dazu, die erst Ängste schüren und sie dann gern wieder nehmen. Dass dieser Populismus auf dem Rücken der Leute, die wirklich berechtigte Sorge haben, ausgetragen wird, können wir nicht akzeptieren. ({13}) Man muss sich auch anschauen, wie Sie versuchen, darunter durchzutauchen, Frau Merkel. Herr Milbradt ist ja keine Ausnahme. Am Sonntagabend kam Herr Seehofer zu mir und sagte: Ich verstehe überhaupt nicht, dass man jetzt weniger dazuverdienen kann als früher. Dazu sage ich nur: Guten Morgen! Wann haben Sie eigentlich einmal für das geworben, was wir mit Hartz IV umsetzen? Schließlich haben Sie dem zugestimmt und wollten gerade für den Zuverdienst noch schärfere Bedingungen. ({14}) Herr Milbradt ist keine Ausnahme. Herr Milbradt kommt mir manchmal vor wie der Sprecher der ostdeutschen CDU-Landräte, die überall sagen: Was da gemacht wird, ist ja furchtbar. Dabei ist es das, was Sie im Vermittlungsausschuss mit beschlossen haben und was Sie noch sehr viel schärfer haben wollten. Also stehen Sie, verdammt noch mal, jetzt auch dazu und tauchen Sie nicht drunter weg! Das wird die Glaubwürdigkeit dieser Politik nicht bereichern. ({15}) Ich will aber auch etwas zu denen sagen, die heute von einer neuen Spaltung zwischen Ost und West reden. Wir werden in den nächsten Jahren 156 Milliarden Euro - darin sind die Kosten für die Sozialversicherungen nicht enthalten - nach Ostdeutschland transferieren. Das ist richtig so und darauf können wir wirklich stolz sein. Wir werden uns mit der Frage zu beschäftigen haben, was wir eigentlich mit diesem Geld machen wollen und wohin es investiert wird. Wir haben sehr viel in Straßen investiert, wir haben ein tolles Telekommunikationsnetz. Ich glaube, jetzt ist das an der Reihe, was man gemeinhin weiche Infrastrukturfaktoren nennt; denn derjenige, der will, dass sich Unternehmen ansiedeln, muss für eine entsprechende Umgebung sorgen. Wer heute von einer neuen Spaltung zwischen Ost und West redet, der tut denen Unrecht, die ganz bewusst, mit großer Anstrengung, mit viel Kraft und mit viel Engagement in diesem gemeinsamen Deutschland angekommen sind. Gerade die jungen Leute, die Unternehmen gegründet haben und die sich engagieren, nenne ich in diesem Zusammenhang. Ich möchte, dass wir nicht von einer Spaltung zwischen Ost und West reden und dass wir nicht solche Tendenzen schüren. Wir sollten vielmehr sagen: Wir sind ein gemeinsames Land und darauf sind wir stolz. Wir können auch sagen: Wir werden ohnehin nicht voneinander loskommen. Das Wichtigste ist, dass wir uns darüber freuen und dass wir gemeinsam auf das stolz sind, was wir erreicht haben, dass wir stolz auf die Städte in Ostdeutschland sind, die man besichtigen kann und in denen viel geschafft worden ist, und dass wir auf eine ganze Reihe von Unternehmen stolz sind. Schauen Sie sich Multicar an, ein kleines Unternehmen in der Nähe von Gotha. Dieses hat inzwischen nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch im Ausland einen gigantischen Absatz. Es hat auch den Mungo produziert, den die deutsche Bundeswehr gerade für die Einsätze, die auf dem Balkan stattfinden, braucht. Natürlich könnten wir auf das stolz sein, was wir gemeinsam geschafft haben. Ich finde, das sollten wir auch. Auch als Politiker sollten wir nicht versuchen, auf der einen Seite aufzuwiegeln und auf der anderen Seite zu beruhigen. ({16}) Worauf könnten wir noch stolz sein? Wir könnten uns einmal die Wachstumsbranchen ansehen, die wir haben. Die zentralen Wachstumsbranchen gerade in Ostdeutschland sind alle die, die etwas mit Umwelttechnologie zu tun haben. Arbeitsplätze in Magdeburg, in Lauchhammer und in Erfurt sind durch den Push für die erneuerbaren Energien überhaupt erst entstanden. Das ist der erste Arbeitsmarkt. Herr Westerwelle, auch das ist Wachstum, wenn es auch nicht das Wachstum ist, das Ihnen gefällt. ({17}) Natürlich wird man an der Stelle nicht daran vorbeikommen - das will ich auch nicht -, etwas über die Energiepreise zu sagen, weil man den Eindruck haben muss, dass jemand mit fadenscheinigen Begründungen noch schnell etwas beiseite schaffen will, und zwar auf Kosten der Wirtschaft und auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist nicht akzeptabel. Wenn man sich diese Situation anschaut, dann erinnert man sich auch an andere Fragen, die damit zusammenhängen. Ich meine die Managergehälter in Deutschland, die endlich transparent werden müssen, weil auch das zur Ehrlichkeit in einer Gesellschaft gehört. ({18}) Wenn wir schon dabei sind, dann will ich sagen, dass ich persönlich das Gefühl habe, dass es einer solchen Stimmung nicht zuträglich ist, wenn man den Eindruck hat, dass die Grenzen zwischen Wirtschaft und Politik nicht mehr ganz klar sind. Ich bin dafür, dass wir von der Wirtschaft in die Politik wechseln können und umgekehrt. Das ist richtig und das kann auch gut sein. Aber wenn man den Eindruck haben muss, dass eine Hand die andere wäscht, sollten wir uns selber fragen, ob das richtig ist, ob das gut ist und welche Diskussion darüber wir brauchen. ({19}) Ich habe über die Erfolge der Umweltpolitik geredet. Wir haben aber auch noch viel vor uns. Die Strategie „weg vom Öl“ wird in Zukunft die zentrale Aufgabe sein. Sie wird uns ökonomisch unabhängiger machen und sie ist zentral für die außenpolitische Sicherheit. Der Zugang zu Ressourcen spielt übrigens auch eine immer größere Rolle im Kaukasuskonflikt. Der Zugang zum Öl wird eine wichtige Rolle bei vielen internationalen Themen spielen. Was in Russland geschehen ist, ist ein Verbrechen, das keinerlei Rechtfertigung hat. Die Terroristen, die diese Verbrechen begangen haben, sind bestimmt keine Menschen, mit denen man verhandeln kann. Darin stimme ich dem Bundeskanzler zu. Ich stimme auch der Feststellung des Bundeskanzlers zu, dass wir eine politische Lösung brauchen. Für eine politische Lösung ist es notwendig, dass wir ehrlich sagen, dass die so genannte Politik mit unerbittlicher Härte und die dafür eingesetzten Instrumente einer Überprüfung bedürfen. Ich glaube, dass wir das so ehrlich und klar feststellen können und dies unter Freunden auch tun sollten. ({20}) Der Einsatz für die politische Lösung wird ein sehr schwieriger Weg sein, weil die Spirale der Gewalt auch eine Spirale der Hoffnungslosigkeit ist. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Dem Terrorismus wird man nur die Zivilisation entgegensetzen können. Das ist - das gilt auch für uns - die zentrale sicherheitspolitische Frage, auf die es ankommt. Weil wir uns in den Haushaltsberatungen befinden, muss ich hinzufügen, dass sich in der Perspektive - das gilt nicht nur für diesen Haushalt, sondern wir müssen auch weiterdenken - das, worauf es uns ankommt, nämlich Multilateralität, Einhaltung der Menschenrechte und weltweite Entwicklung, irgendwann einmal viel klarer als bisher in unserem Haushalt wiederfinden muss. Dafür muss man nämlich auch Geld ausgeben. Wir müssen in Zukunft mehr Geld in den Bereichen Entwicklungshilfe, Außenpolitik und auch Verteidigung ausgeben. Daran werden wir nicht vorbeikommen. Ich glaube, das ist eine gemeinsame Aufgabe, die sich uns in den nächsten Jahren noch viel drängender stellen wird, als es derzeit der Fall ist. ({21}) Ich will noch etwas ansprechen, Frau Merkel, das Sie mit aller Kraft zu verhindern suchen, was Ihnen aber nicht gelingen wird. Dabei handelt es sich um die Frage des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union. Ich glaube, Sie haben nicht bedacht, dass Sie für einen innenpolitischen Benefit dafür sorgen, dass wir zentrale Sicherheitsfragen aus den Augen verlieren. Ich glaube, Sie haben auch nicht bedacht, dass die Wirtschaft in Deutschland - Sie können mit jedem Wirtschaftsführer reden - für den Beitritt der Türkei ist. Ich glaube, Sie haben nicht bedacht, ({22}) dass alles dafür getan wird, dass sich die Türkei entwickelt, und dass sorgfältig auf die Einhaltung der Menschenrechte geachtet wird. ({23}) Günter Verheugen widmet sich in diesen Tagen dieser Aufgabe vorbildlich. Ich glaube, Sie haben auch nicht bedacht, dass die Türkinnen und Türken, die in unserem Land leben, sehr viel zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Ich würde Sie gerne auffordern, langsam umzudenken; denn wir brauchen die Erweiterung der Union und wir brauchen auch aus Sicherheitsgründen den Beitritt der Türkei. Das ist ein positives Signal, das wir - auch zugunsten der eigenen Verlässlichkeit - senden sollten. ({24}) Angesichts dessen, was vor uns liegt, werden wir uns auch weiterhin mit Fragen des Arbeitsmarkts beschäftigen müssen. Ich möchte, dass das Fördern Wirklichkeit wird und dass wir uns nicht - auch nicht ab dem 1. Januar - zurücklehnen und meinen, das werde schon irgendwie klappen. Vielmehr hat jeder Einzelne seine Aufgaben zu leisten. Das gilt sowohl für die Kommunen als auch für die Wohlfahrtsverbände und die Politik. Ich möchte, dass es nicht zur Bildung einer immer größeren Schicht von Menschen kommt, die außen vor bleiben. Hartz IV ist die Antwort darauf. Es geht darum, diesen Menschen eine Chance zu bieten, sich wieder einKatrin Göring-Eckardt zubringen, indem jeder ein Angebot bekommt. In diesem Sinne bedeutet Fördern auch, die Kommunen auf Vordermann zu bringen. Ich will erreichen, dass die Kinder der heutigen Sozialhilfeempfänger, denen es übrigens in Zukunft allen besser gehen wird - ich meine, das könnten Sie von der Union akzeptieren und auch deutlich machen; denn diesen Erfolg haben wir mit der Reform erreicht -, ({25}) in Zukunft sagen können: „Mein Papa ist jetzt Trainer im Sportverein“ oder „Meine Mama restauriert jetzt Kirchen“. Ich will auch erreichen, dass die Stadtteilbibliotheken und Schwimmbäder geöffnet bleiben, statt zu schließen. All das sind Chancen, die mit Hartz IV verbunden sind. Das gilt übrigens auch und ganz besonders für Ostdeutschland. Es geht darum, dass jeder einen Platz in der Gesellschaft hat. Wir dürfen nicht sagen: Was du machst, ist uns eigentlich egal. Du bleibst außen vor. - Alle sollen dabei sein und mitmachen können. Jeder muss auch mitmachen. Ich bin ganz sicher, dass das eine große Chance für unsere Gesellschaft ist. ({26}) Weitere Chancen bietet die älter werdende Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir sie nutzen. Wir müssen sicherlich über die Auswirkungen der demographischen Entwicklung, insbesondere der Geburtenraten - darauf werde ich noch ausführlicher eingehen -, auf die Sozialsysteme, insbesondere auf die Pflegeversicherung, und auf unser „ganz normales“ Leben reden. Aber ich bin froh, dass wir einen Diskussionsprozess anstoßen werden, in dessen Mittelpunkt die Fragen stehen werden, wie wir den Pflegebereich angesichts einer älter werdenden Gesellschaft gestalten wollen, wie es um Wohnen, Bildung und Dienstleistungen in einer älter werdenden Gesellschaft bestellt ist; denn wir dürfen nicht vergessen, dass in diesem Zusammenhang auch Arbeitsplätze entstehen. Ein Beispiel - darauf habe ich schon hingewiesen -: Meine Wahlheimat Weimar gehört zu den wenigen Städten, in denen der Zuzug höher ist als die Abwanderung. 500 vorwiegend ältere Menschen ziehen jedes Jahr nach Weimar, weil sie es schön finden, dort alt zu werden, wo Goethe einst gelebt hat. Das bietet auch eine Chance für Jüngere; denn dadurch sind sehr viele Arbeitsplätze in sehr vielen Bereichen, vor allem im Dienstleistungsbereich, entstanden. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine älter werdende Gesellschaft auch Jüngeren Chancen und Arbeitsplätze bietet. ({27}) Wenn man über neue Arbeitsplätze redet, dann kommt man an dem Thema Innovationen nicht vorbei. Sie haben Recht - das sollte man ehrlicherweise zugeben -: Wir sind mit unserem ersten Anlauf im Bereich der Innovationen nicht so weit gekommen, wie wir wollten, weil andere Dinge wichtiger waren. Aber das bedeutet nicht, dass wir keinen zweiten Anlauf nehmen werden. Bildung und Forschung müssen die zentralen Themen bleiben, wenn Deutschland wettbewerbsfähig bleiben soll. Deswegen müssen wir uns hier anstrengen - das tun wir auch - und alle müssen mitmachen. Wir haben dafür gesorgt, dass Professoren nach ihrer Leistung bezahlt werden können. Alle strengen sich offenbar an, bis auf das Land Bayern, das keine entsprechenden Neuregelungen erlassen hat. Aber in allen anderen Bundesländern sind inzwischen Gesetze in Kraft, die diese Möglichkeit eröffnen. Natürlich kommt es ebenfalls darauf an, dass wir Geld in die Hand nehmen, damit aus klugen Erfindungen Produkte werden, mit denen man Geld verdienen kann. Wir müssen im zweiten Anlauf versuchen, das zu erreichen. Aber das ist nicht alles. Wir müssen auch Geld in die Hand nehmen, damit das, was Lenin einmal richtigerweise gesagt hat - lernen, lernen und nochmals lernen -, real wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas sagen, das nichts mit dem Bundeshaushalt zu tun hat. Bis 2008 beträgt das Volumen der Eigenheimzulage etwas über 6 Milliarden Euro. Natürlich können Bund und Länder jeweils 3 Milliarden Euro dafür ausgeben. Aber die Länder könnten mit ihrem Anteil bis 2008 auch 50 000 neue Stellen für Lehrerinnen und Lehrer schaffen. Ich finde, es wäre ein gutes Signal, wenn wir das gemeinsam schaffen könnten. Wir wollen, dass die Lehrerinnen und Lehrer an Schulen arbeiten können, die qualitativ gut sind, die ein Lebensort sind und die allen und nicht nur denjenigen Kindern helfen, die im dreigliedrigen Schulsystem sowieso die besten Chancen haben, weil ihre Eltern ein dickes Portemonnaie haben. ({28}) Noch ein Wort zu dem Vorschlag der FDP, durch Streichung der Eigenheimzulage Steuersenkungen zu finanzieren: Ich sage Ihnen ganz offen, dass dies denjenigen Eltern, die die meisten Kinder haben und deren Einkommen sich am unteren Rand bewegen, leider nichts nutzen wird. Es geht vielmehr darum, dass alle Kinder eine gute Ausbildung bekommen und dass Bildung nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt. Mir leuchtet es nicht ein, dass es richtig sein soll, dass auf der einen Seite die Kinder der Gutverdienenden mit Bobby Cars durch die Wintergärten der Vorstadtvillen fahren und dass auf der anderen Seite die Chance nicht genutzt wird, eine gute Schule für alle zu schaffen. Auf Letzteres kommt es an. 50 000 neue Stellen für Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland wären eine echte Innovation und ein Schritt auf dem Weg zu einer Bildungsrevolution. ({29}) Weil ich der Auffassung bin, dass wir die Probleme dort, wo sie auftreten, anpacken sollten, sage ich: Die Idee von Renate Schmidt, ein Elterngeld einzuführen, ist richtig. Dazu gibt es viel Kritik - auch bei uns, in den eigenen Reihen -, weil sich natürlich die Frage stellt, ob das gerecht ist. Ich sage: Ja, das ist gerecht. Man kann sich natürlich auch zurücklehnen und sagen: Gut, wenn die Akademikerinnen keine Kinder mehr bekommen, dann müssen eben mehr Kinder aus Sozialhilfefamilien und mehr Arbeiterkinder Akademiker werden. Auch das ist richtig und dafür muss man sorgen, zum Beispiel durch das, was ich vorhin angesprochen habe, nämlich durch die Verbesserung unserer Schulen. Aber es ist eben auch richtig, dass sich 40 Prozent der Akademikerinnen heute entgegen ihren eigenen Wünschen nicht für Kinder entscheiden. Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste Antwort heißt: Kinderbetreuung. Dafür tun wir etwas und dafür müssen wir etwas tun. Die zweite Antwort soll aus meiner Sicht heißen: ein einkommensabhängiges Elterngeld. Dieses einkommensabhängige Elterngeld kann dazu führen, dass der Schritt, sich für das erste Kind zu entscheiden, leichter wird. Ich finde, wir sollten dazu beitragen. Wir sollten übrigens auch dafür sorgen, dass die Väter ihren Anteil tragen. Sie reden ja immer gern davon, wie schön es ist und wie viel Spaß es macht, Kinder zu haben. Ladys, sagt den Jungs: Es ist nicht nur schön, es macht nicht nur Spaß, sondern es rechnet sich auch. Dafür ist das Elterngeld gut. ({30}) Ich komme zum Schluss. Frau Merkel - wir alle haben lange auf Ihre Rede gewartet -, ({31}) Sie haben sich im letzten Jahr zu verantwortungsbewusster und verantwortungsvoller Politik geäußert. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Sie haben dazu einen Anlauf genommen und manches ist gemeinsam auf den Weg gebracht worden. Sie haben Anläufe genommen, um Gesetze mit zu beschließen, und das war gut so. Aber die Anläufe, die Sie genommen haben, um am Ende auch zu einer verantwortungsvollen Politik zu stehen, sind leider gescheitert. Ich bedauere das sehr. Es gibt noch einen, der das sehr bedauert: Kurt Biedenkopf. Er sagt: Wichtig ist, dass die verantwortlichen Politiker zu dem stehen, was sie für richtig halten. Sie haben die Reformen mit großer Mehrheit im Bundestag beschlossen. Sie haben sie nach langen Beratungen im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat gebilligt. Jetzt müssen Sie auch vertreten, was sie beschlossen haben. - Sagen Sie das Herrn Milbradt! Sagen Sie das den CDU-Landräten! Sagen Sie das Herrn Rüttgers! Sagen Sie das allen anderen, die heute auf der Straße herumlaufen und verkünden: Irgendwie war es doch nicht so gemeint! Wer eine verantwortungsvolle Politik machen will, wer verantwortungsvolle Opposition machen will, der ist in der Pflicht, diese Verantwortung bis zum Ende mitzutragen; ({32}) sonst ist er nicht glaubwürdig. Die Frage der Glaubwürdigkeit wird im Jahre 2006 entscheidend sein, und zwar - ich bin ganz sicher - nicht zu Ihren Gunsten. Vielen Dank. ({33})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, Frau Dr. Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind in der Mitte dieser Legislaturperiode. Das ist die Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen. An einem solchen Tag, Herr Bundeskanzler, muss man den Realitäten schon ins Auge blicken. Sie haben vor zwei Jahren in Ihrer Regierungserklärung gesagt - ich zitiere -: Das Ziel unseres Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle. In der Tat, Herr Bundeskanzler, sind die meisten Menschen in Deutschland reicher geworden: reicher an Enttäuschungen über gebrochene Versprechen, reicher an bitteren Erfahrungen über Tricksereien in der Arbeitslosenstatistik, über Neuverschuldung jenseits der Verfassungsgrenze, über Pleiterekorde, über fehlende Ausbildungsplätze, über zunehmende Bürokratie. ({0}) Die Menschen in diesem Land sind auch ärmer geworden: ärmer an Hoffnung in eine Politik aus einem Guss durch diese Bundesregierung und - das ist vielleicht das Bedrückendste - ärmer an Vertrauen in die Gestaltungskraft der Politik insgesamt. ({1}) Das ist die Halbzeitbilanz und das ist die Bilanz nach sechs Jahren Rot-Grün. ({2}) Das Debakel wird komplett, wenn Sie selbst - Sie selbst! - Ihre Politik als schlimm bezeichnen. Ja, Sie bezeichnen sie als schlimm. Oder wie soll man es verstehen, wenn Sie sagen, mit der Union würde es noch schlimmer? So etwas kann nur sagen, wer seine eigene Politik als schlimm bezeichnet, meine Damen und Herren. ({3}) Was kann das sein? Ist es vielleicht die raffinierte Umsetzung und Weiterentwicklung des lafontaineschen Satzes auf dem legendären Mannheimer Parteitag, der da lautet: „Nur wer sich selbst begeistert, kann andere begeistern“? Ist das, was Sie da betreiben, sozusagen Negativstimulierung: schlimm, schlimmer, am schlimmsten? Wie wollen Sie die Menschen in diesem Land von etwas begeistern, was Sie selber als schlimm bezeichnen, und mitnehmen? Das geht nicht! ({4}) Viele sehen die Widersprüchlichkeiten und wissen überhaupt nicht, mit wem sie es nun zu tun haben, mit Schröder, mit Müntefering, mit Clement oder mit Maas, mit Steinbrück oder mit Platzeck; ({5}) vielleicht gibt es immer noch ein ganz kleines bisschen Lafontaine als Restversicherung. Herr Bundeskanzler, Sie sitzen bei der Klausurtagung. Sie verteidigen überall tapfer, dass das Arbeitslosengeld II in Ost und West unterschiedlich ist. Dann ist es Sonntag und Ihr Minister für den Aufbau Ost wirbt dafür, dass man es in Ost und West doch eigentlich auch wieder gleichmachen könnte. Herr Bundeskanzler, schauen Sie sich einmal die sächsischen Landtagsabgeordneten der Sozialdemokratie an, zum Beispiel Herrn Karl Nolle. Herr Karl Nolle war es, der gesagt hat: Es wird mit Hartz IV zu Massenumsiedlungen in leer stehende unsanierte Plattenbauten kommen, Armenghettos werden entstehen, ein sozialpolitischer Super-GAU. Das ist die Werbekampagne der sächsischen SPD für Hartz IV. Sie haben Ihren Laden einfach nicht im Griff, meine Damen und Herren! Das ist die Wahrheit und das kommt zum Tragen. ({6}) Wie wollen Sie den Menschen denn erklären, dass Sie jahrelang mangelndes Wachstum mit schwächelnder Weltkonjunktur begründet haben, dann aber, wenn die Weltwirtschaft boomt, die Realeinkommen in Deutschland trotzdem nicht steigen? Unser Land wird doch in der Liste des Pro-Kopf-Volkseinkommens heruntergereicht. Dafür haben Sie Entschuldigungen, aber Sie können es nicht erklären. Es ist doch richtig - Herr Eichel hat gestern darauf hingewiesen und Sie haben es auch getan -: Wir alle freuen uns darüber, dass Deutschland Exportweltmeister ist. ({7}) Wir alle profitieren davon. Aber es ist ganz offensichtlich, dass das allein nicht ausreicht. Wir müssen es schaffen, die Binnenkonjunktur wieder in Gang zu bringen und auch intern Wachstum zu haben. Da mangelt es. Darüber sagen Sie kein einziges Wort, meine Damen und Herren. ({8}) Seit sechs Jahren reden Sie nun Jahr für Jahr davon, dass sich im nächsten Jahr die Beschäftigungssituation mit Sicherheit verändern wird, dass auch in der Beschäftigungsstatistik der Aufschwung sichtbar wird. In den vergangenen 731 Tagen, seit die Hartz-Veranstaltung im Französischen Dom stattfand, sind in Deutschland jeden Tag 1 547 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen. Diese Widersprüche kennen die Menschen. Wie wollen Sie den Menschen erklären, dass Sie jedes Jahr hoch und heilig versprechen, einen Haushalt vorzulegen, der die Maastricht-Kriterien wirklich einhalten wird? Wir haben Jahr für Jahr erlebt, dass nach wenigen Wochen, wenigen Monaten alles, was uns Herr Eichel erzählt - Herrn Eichel war gestern unwohl; man hat es an jeder Faser gesehen -, Makulatur ist. Er hat uns im September 2003, vor einem Jahr, gesagt, die Neuverschuldung werde 24 Milliarden Euro betragen. Er muss heute zugeben, dass es 40 Milliarden Euro sind. Es könnten gut mehr sein. 2002 waren es 30 Milliarden Euro Neuverschuldung, 2003 38 Milliarden Euro, dieses Jahr sind es über 40 Milliarden Euro Neuverschuldung. Wer soll Ihnen überhaupt noch etwas glauben, Herr Bundeskanzler? Das müssen Sie doch verstehen. ({9}) Dieser Mangel an Glaubwürdigkeit, dieses Weghören, weil man es nicht mehr hören kann und weil man weiß, es stimmt nicht, das genau ist Ihr innenpolitisches Dilemma, und zwar Ihr ganz ureigenes rot-grünes innenpolitisches Dilemma. ({10}) Herr Bundeskanzler, Sie haben über die Außenpolitik gesprochen und dabei die richtigen Worte gefunden. Ich möchte deshalb ausdrücklich sagen, wir alle sind entgeistert und entsetzt über das Geiseldrama in Ossetien. Wir alle haben die grauenhaften Bilder von den Kindern, den Eltern und Großeltern gesehen. Ich füge ganz persöhnlich an: Manche Debatte, die wir in diesem Hause führen, relativiert sich angesichts solcher Bilder. Wir sehen natürlich die Herausforderung; dabei gibt es viele Gemeinsamkeiten: Der Terrorismus ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Ich persönlich sage sogar, die Bekämpfung dieser Herausforderung ist schwieriger als die Überwindung des Kalten Krieges, weil wir es nicht mit übersichtlichen Abschreckungsstrukturen, sondern mit Gruppen von fundamentalistischen Kräften zu tun haben, die bereit sind, ihr eigenes Leben bedingungslos aufs Spiel zu setzen, um westliche, offene, demokratische Gesellschaften zu vernichten. Mit dieser Herausforderung müssen wir uns auseinander setzen. Wir wissen, dass jeden diese terroristischen Attacken treffen können. Wir wissen, dass niemand vor ihnen gefeit ist. Deshalb müssen wir uns - keiner hat eine Patentlösung mit dieser Frage auseinander setzen. Niemand hat etwas dagegen - im Gegenteil -, wenn deutsche Außenpolitik dabei eine wichtige, konstruktive Rolle spielt. Das ist unser aller gemeinsames Anliegen. ({11}) Aber, Herr Bundeskanzler, den Worten und den internationalen Aktionen müssen natürlich auch Taten folgen. Wenn es richtig ist, dass politische Lösungen gefunden werden müssen, dann ist es auch richtig, dass das Budget für auswärtige Kulturpolitik nicht zum Sparschwein der Nation gemacht werden darf. Dann ist es auch richtig, dass die Situation der Goethe-Institute verbessert werden muss und nicht verschlechtert werden darf. Dann ist es auch richtig, dass die Deutsche Welle, die ein wirklicher Übermittler von Kulturgut ist, nicht jedes Jahr um ihren Etat bangen muss. Es muss doch an Ihren Taten ersichtlich sein, was Sie wollen. ({12}) Es ist auch richtig, dass dieses Haus in großer Mehrheit gemeinsam mit Ihnen immer wieder den Einsatz unserer Bundeswehrsoldaten für mehr Sicherheit und für mehr Frieden unterstützt. Das waren keine ganz einfachen Diskussionen, aber wir alle stehen dazu, dass wir uns dieser internationalen Herausforderung stellen müssen. Aber, Herr Bundeskanzler, wenn wir so etwas wie ein Parlamentsheer haben - so hat es das Bundesverfassungsgericht ja formuliert -, ({13}) dann hat dieses Parlament - dazu hätte ich heute gerne von Ihnen ein Wort gehört - auch einen Anspruch auf lückenlose Information, wenn einmal etwas nicht geklappt hat. Bezüglich der Vorgänge in Prizren haben wir nicht die lückenlosen Informationen bekommen, die wir gerne erhalten hätten. ({14}) Auch Sie müssen sich doch mit der Tatsache auseinander setzen, dass jedes Land, das neues Mitglied der NATO werden möchte, 2 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in den Verteidigungsetat stecken soll. Der entsprechende Etat Deutschlands liegt bei 1,4 Prozent, und das mit fallender Tendenz. Das heißt nichts anderes, als dass wir, wenn wir heute der NATO beitreten wollten, kaum die Voraussetzungen erfüllen würden. Damit geht von uns keine Vorbildwirkung aus. In diesem Bereich muss gearbeitet werden. Unsere Soldaten müssen in den Stand versetzt werden, ihre Aufgaben nach innen und außen ausreichend erfüllen zu können. Hier besteht Handlungsbedarf, Herr Bundeskanzler. Darauf werden wir immer wieder hinweisen. ({15}) Gerade im Kampf gegen den Terror - meine Damen und Herren, da bin ich mir ganz sicher - darf es keine Doppelmoral geben. Ich sage Ihnen, es ist nicht in Ordnung, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, nachdem die OECD und die Kommission der Europäischen Union den Verlauf der Parlamentswahlen in Tschetschenien kritisiert haben, keine Notwendigkeit sehen, ein kritisches Wort zur Unterstützung dieser Institutionen zu sagen. Herr Bundeskanzler, das ist nicht in Ordnung. ({16}) Im Hinblick auf die USA sagen Sie, unter Freunden müsse man sich auch kritisch die Meinung sagen können. Ich sage: Okay. Im Hinblick auf Russland aber heißt es: Wir brauchen keine Leistungsbilanz vor den Mikrofonen. - Das ist ein Messen mit zweierlei Maß. Das ist eine Doppelmoral, die im Kampf gegen den Terrorismus nicht hilft. ({17}) Ich sage es Ihnen auch aus der ganz persönlichen Erfahrung von jemandem, der früher in der DDR gelebt hat: Es ist eine unglaubliche Ermutigung für all diejenigen, die von innen versuchen, etwas gegen diktatorische Systeme oder Tendenzen zu unternehmen, wenn sie von außen dafür ein Stück Unterstützung bekommen. Bitte vergessen Sie das angesichts unserer eigenen Geschichte nie! ({18}) Gerade in Zeiten großer Herausforderungen muss Politik wahrhaftig und darf sie nicht taktisch sein. Was für die Außen- und Sicherheitspolitik gilt, das gilt auch für die Europapolitik. Deshalb hinterlässt die Art und Weise, wie Ihr Parteivorsitzender, Herr Müntefering, mit einem möglichen Referendum zum EU-Verfassungsvertrag umgeht, einen mehr als faden Beigeschmack. Sie verbinden das Ganze mal eben schnell mit einem Junktim hinsichtlich weiterer Plebiszite. Im Mai haben Sie noch erklärt, dass Sie eine ablehnende Haltung zum Volksentscheid haben, der Bundesaußenminister genauso. Ich finde, Sie entlarven Ihre ganze Initiative damit als rein taktisch, ({19}) und zwar im Gegensatz zu denen, wie zum Beispiel die Kollegen der FDP, die einen Volksentscheid seit langem aus sachlichen Erwägungen heraus richtig finden. ({20}) Sie machen Taktik. Ich rate Ihnen: Wenn Sie diesen Eindruck widerlegen wollen, dann bringen Sie, bitte schön, Ihre Initiativen auf Punkt und Komma genau in die Föderalismuskommission oder in den Deutschen Bundestag ein; dann sind wir bereit, darüber zu diskutieren und das Für und Wider abzuwägen. Meine Position ist bekannt: Ich habe allergrößte Bedenken. Aber wir stellen uns der Diskussion, jedoch nicht, wenn sie taktisch motiviert ist und ein Hü und Hott auf dem Rücken von Europa und der Außenpolitik stattfindet. ({21}) Bundespräsident Köhler hat in seiner Antrittsrede am 1. Juli gesagt, dass Deutschland sich kein einziges verlorenes Jahr mehr leisten könne. Ich erspare Ihnen jetzt die Rückschau auf die ersten acht Monate dieses Jahres, in denen schon wieder viel Zeit verloren wurde. Aber zwei Jahre nach dem In-Kraft-Treten der Hartz-Reform kann man nicht einfach über die Folgen hinwegsehen und keine Bilanz ziehen. Das hätte ich von Ihnen schon erwartet. Sie sagen doch immer, wenn man Fehler mache, dann müsse man auch dazu stehen. Das Programm „Kapital für Arbeit“, der volksnah genannte Jobfloater, sollte pro Jahr 120 000 Jobs schaffen, das macht in zwei Jahren 240 000 Jobs. Wissen Sie, wie viele geschaffen worden sind? 12 000 Jobs in zwei Jahren! Völliges Versagen eines hochgejubelten Instruments; das sollten wir uns wirklich merken. ({22}) Wie viele Ich-AGs das zweite Jahr überleben, weiß keiner. Da gibt es grauenhafte Prognosen. Aber dass Sie selbst die Notbremse ziehen mussten, dass diese IchAGs eine Konkurrenzveranstaltung für wettbewerbsfähige Betriebe bedeuten, ({23}) dass in sie unglaublich viel Geld geflossen ist - es ist doch das Mindeste, dass Sie das einmal kritisch analysieren und sagen, dass andere Instrumente benötigt werden. Dabei habe ich die Personal-Service-Agenturen noch nicht einmal erwähnt. ({24}) Meine Damen und Herren, Hartz hat gesagt - man vergisst es ja fast -, man könne binnen 36 Monaten die Zahl der Arbeitslosen um 2 Millionen senken. Falls Sie mit diesen Aussagen noch irgendetwas zu tun haben wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass nicht täglich 1 500 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren gehen, sondern dass 6 415 neue entstehen, damit wir dieses Ziel innerhalb der 36 Monate noch erreichen. Es wäre schön gewesen, Sie hätten uns gesagt, ob Sie das für realistisch halten. Auch das ist etwas, bei dem die Menschen verzweifelt sind, weil es nicht klappt. ({25}) Der Herr Bundespräsident hat Recht: Wir können uns kein einziges verlorenes Jahr mehr leisten. Deshalb sind für die Zukunft, über die Sie im Übrigen bemerkenswert wenig gesprochen haben, drei Dinge von allergrößter Bedeutung. Erstens. Die jeweils beschlossenen Maßnahmen müssen vernünftig erklärt werden, was eigentlich logisch ist. Aber Sie haben die Flucht nach vorne angetreten und uns gefragt, ob wir noch wüssten, wann Hartz IV beschlossen wurde. Als wir im Winter im Vermittlungsausschuss zusammensaßen - Herr Eichel hat sich dabei sperrig verhalten und Sie haben falsche Versprechungen gemacht -, hat man gesagt, es würde ein Optionsmodell geben. Dann haben wir monatelang darüber verhandelt, dass die Kommunen die Wahl haben sollen, dieses Modell, wenn sie es wollen, zu nutzen. Was haben wir dann irgendwann im Juni bekommen? In einzelnen Fällen, 69 an der Zahl, dürfen die Kommunen dieses Modell anwenden. Aber es gibt heute 130 bis 140 Kommunen, die dies gern tun würden. Für dieses schlappe Optionsmodell haben wir bis Juni gebraucht. ({26}) Gleichzeitig wollte Herr Eichel das Geld für die Kommunen nicht herausrücken. Das ist die Ursache dafür, dass wir so spät fertig geworden sind. ({27}) Es war außerdem aberwitzig - Herr Kauder hat Sie von dieser Stelle aus darauf hingewiesen -, dass Sie erst diese sehr „volksnahen“ Fragebögen von 16 Seiten verschicken und dann in den Urlaub fahren. Als Sie zurückkamen, haben Sie gesagt, dass wir jetzt eine Infokampagne brauchen. So können Sie die Menschen nicht überzeugen. Sie zu überzeugen ist Ihre und nicht unsere Verantwortung. Wir tun das Unsrige. Aber Sie müssen das Ihrige tun. ({28}) Über diese psychologisch geniale Leistung, Menschen aus Bonn, die ebenfalls ein schweres Schicksal haben, einzusetzen, damit sie den vielen Arbeitslosen in den neuen Bundesländern erklären, wie man die Fragebögen ausfüllt, müssen Sie sich mit sich selbst auseinander setzen; das erklärt Ihnen vielleicht einmal ein Ostdeutscher. ({29}) Zweitens. Es muss handwerklich sauber gearbeitet werden. Da haben Sie sich nun zum zweiten Mal mit großem Pomp in Neuhardenberg versammelt und das Zauberwort Controlling eingeführt. Sie haben hin und her diskutiert, ob man vielleicht doch mit elf Auszahlungsterminen klarkommt, um dann irgendwann festzustellen, dass man natürlich zwölf Termine im Jahr für die Auszahlung dieser neuen Leistung braucht. Etwas anderes wäre niemandem zu erklären. Das alles hätten Sie im Frühsommer haben können. Dann wäre uns allen sehr viel Verdruss erspart geblieben und wir brauchten nicht wieder nachzubessern. Daran leiden die Menschen in Deutschland. ({30}) Sie haben jetzt endlich einen Vorschlag gemacht, wie man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Besserstellung von Familien in der Pflegeversicherung umsetzen kann. Aber wer geglaubt hatte, nach der monatelangen Diskussion gäbe es irgendeinen tragfähigen und zukunftsfähigen Vorschlag für eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, der sah sich getäuscht. Frau Schmidt ist so sehr im Zeitverzug, dass sie es nicht einmal mehr schafft, dass alle Rentner gleich behandelt werden, wenn das Gesetz am 1. Januar in Kraft tritt. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der unterschiedlichen Behandlung der Rentnerinnen und Rentner abhängig von ihrem Geburtsjahrgang. ({31}) Diese Schwierigkeiten gibt es nur, weil Sie nicht rechtzeitig etwas unternommen haben. Sie hatten für die Umsetzung des Urteils doch jahrelang Zeit. ({32}) Lassen Sie mich auch ein Wort zum Zahnersatz sagen. ({33}) Unser Vorschlag sah anders aus. Wir haben einen Kompromiss geschlossen. Zu diesem Kompromiss haben wir immer gestanden, Herr Bundeskanzler. Aber der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion ({34}) - ich liefere das Zitat gerne nach - hat bereits wenige Tage nach dem Kompromiss in einer unerträglichen Art und Weise zu verstehen gegeben, dass er überhaupt nicht die Absicht hat, sich an diesen Kompromiss zu halten. ({35}) Damals habe ich gedacht: der Bundeskanzler - ein Mann, ein Wort. ({36}) Ich habe an den Kompromiss geglaubt. Dann sind Monate verstrichen. Im Mai haben unsere Kolleginnen und Kollegen die Bundesgesundheitsministerin darauf aufmerksam gemacht, dass es im Gesetz eine Lücke gibt. Es ist nämlich nicht geregelt, wie die Beiträge der Rentner und der Sozialhilfeempfänger eingezogen werden sollen. Dann ist von Mai bis August wiederum Zeit verstrichen. Danach hat uns die Frau Bundesgesundheitsministerin erklärt, dass eine Regelung ohne bürokratischen Aufwand nicht möglich ist. Herr Bundeskanzler, hätte es diese Äußerung im Juli vergangenen Jahres nicht gegeben und hätte Frau Schmidt im Mai dieses Jahres schnell reagiert, dann hätte ich vielleicht nicht den Argwohn, dass hinter dieser Sache nicht mehr steckt als nur Bürokratie. ({37}) Aber so habe ich diesen Argwohn und das sollten Sie verstehen; denn das ist für die Verlässlichkeit im politischen Umgang von Wichtigkeit. ({38}) Dennoch werden wir, um das Ganze nicht wieder auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger auszutragen, konstruktiv versuchen, eine Lösung zu finden. Aber uns hier vorzuwerfen, wir hätten Zeitvergeudung betrieben, ist wirklich jenseits der Realität. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Drittens müssen folgende Fragen beantwortet werden - Herr Bundeskanzler, das ist vielleicht das Wichtigste -: Wie lohnen sich all die Veränderungen und all die Reformen für die Menschen? Was steht am Ende des Weges? Was für eine Bundesrepublik Deutschland, was für ein Deutschland möchte ich? Was kommt als Nächstes? Wir haben Ihnen eben fast 60 Minuten zugehört. Ich muss sagen: Fehlanzeige! Sie sind - ich glaube, das ist das Kernproblem - nicht in der Lage, zu beantworten, wo das Ganze hinführen soll. ({39}) Deshalb flüchten Sie, wenn es nicht weitergeht, immer wieder in Schlagworte: Mindestbesteuerung, Ausbildungsplatzabgabe, Mindestlohn oder EU-Referendum. Das alles ist nicht ernst gemeint; aber Begriffe werden wie ein Hamster im Laufrad in die Welt gesetzt. Dabei denken Sie nicht darüber nach, wohin es geht. ({40}) Wenn man es genau beobachtet, dann wird der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Schlagworten immer kürzer. Wissen Sie, was das erzeugt? Das erzeugt bei der Bevölkerung Leere, Wahlenthaltung und zum Schluss Flucht in die radikalen Parteien. Das ist die Wahrheit. ({41}) In besonderer Weise beschäftigt uns in diesen Tagen die Lage in den neuen Bundesländern. Wir alle haben mit Erstaunen und Sorge - das sage ich ganz persönlich - gesehen, dass die Demonstrationen gerade in den neuen Bundesländern besonders gut besucht sind. Eine der Antworten des Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten heißt, dass wir nun nicht mehr von Ost und West sprechen sollen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Beschönigen nicht die Antwort ist, die wir brauchen. ({42}) Es ist keine Antwort für diejenigen, die aus berechtigten Sorgen demonstrieren. Es ist auch keine klare Absage an diejenigen, die diese Demonstrationen instrumentalisieren wollen. Herr Bundeskanzler, wir haben viel geschafft. Ich bin noch heute der Meinung, dass die grundsätzlichen Weichenstellungen von 1989/1990 richtig erfolgt sind. Ich bin im Übrigen auch der Meinung, dass es gut war, dass Helmut Kohl Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war und nicht Oskar Lafontaine oder sonst wer. ({43}) Aber ich sage auch ganz freimütig, dass wir uns alle, was die zeitliche Dimension der Aufgabe anbelangt, ein Stück getäuscht haben. Nun müssen wir heute feststellen, dass ein riesiges Stück des Weges geschafft ist, dass aber nach wie vor strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West bestehen. Denn in den ostdeutschen Ländern werden pro Kopf flächendeckend nur zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts der westdeutschen Länder erreicht. Das ist ein Unterschied zu den von mir durchaus wahrgenommenen punktuellen Schwierigkeiten auch in den alten Bundesländern. Deshalb müssen wir, wenn wir die Menschen auf einen demokratischen Weg mitnehmen wollen, Antworten auf folgende Fragen haben: Was ist bei einer Arbeitslosigkeit von 24 Prozent wie bei mir in Stralsund die Perspektive für die Menschen? Was müssen wir dort anderes tun als in den übrigen Regionen? Herr Bundeskanzler, 1998 haben Sie den Aufbau Ost zur Chefsache gemacht. In der Regierungserklärung vor zwei Jahren war Ihnen Ostdeutschland noch ganze vier Sätze wert. Danach kam in acht weiteren Reden zur Lage in Deutschland Ostdeutschland nur ein einziges Mal vor - und das nur, als Sie sagten, was Sie nicht ändern wollen. Das ist der Befund der Chefsache. Genau aus diesem Grund ist natürlich Enttäuschung vorhanden. Deshalb sage ich wieder: Lassen Sie uns nicht so tun, als ob Gleiches schon vorhanden wäre; es gilt viel Gemeinsames und niemand will spalten, aber es nicht identisch. Die Menschen in den neuen Bundesländern spüren, dass die Schere zwischen Ost und West seit 1998 wieder aufgegangen ist, und sie verlangen eine Antwort auf die Frage: Was könnt ihr tun und was tut ihr, damit sie langsam wieder zugeht? Sie wollen nicht alles sofort, sie wollen nur eine Antwort auf diese Frage. ({44}) Man darf nicht monatelang Verpflichtungsermächtigungen, die Investitionen in Ostdeutschland auslösen könnten, sperren. Man muss auch sagen: Gebt den neuen Bundesländern die Chance, die Regelungsdichte, die überall in Deutschland vorhanden ist, wo immer es EUrechtlich möglich ist, ein bisschen zu lockern, damit sie schneller vorankommen. Das ist der Wunsch der neuen Bundesländer. Setzen Sie sich einmal daran und tun Sie etwas! ({45}) Das Gemeinsame an der Botschaft für Ost und West ist im Übrigen, dass wir auf gar keinen Fall bei Hartz IV stehen bleiben dürfen. Hartz IV, das Sie wie im Übrigen auch ich - wie die allermeisten bei uns - tapfer verteidigen, ({46}) hat einen richtigen Befund: Wir können es uns finanziell nicht leisten, dauerhaft bestimmte Anreize für Arbeitsaufnahmen nicht zu setzen. Unser Ziel muss aber sein, die Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. Die Differenzen, zum Beispiel mit einem Ministerpräsidenten wie Georg Milbradt, bestehen nicht über die Frage der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, ({47}) sondern darüber, ob wir die richtigen Anreize für die Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt geben. Darin unterscheiden wir uns. ({48}) Wir sind nicht unterschiedlicher Meinung darüber, dass der 1-Euro-Job eine Möglichkeit sein kann. Aber der 1-Euro-Job ist nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt. Deshalb ist die alles überspannende Frage: Wie schaffen wir es, mehr Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen? Über die Rolle der Lohnkostenzuschüsse sind wir unterschiedlicher Meinung. Das kann man auch ganz freimütig sagen. Herr Bütikofer hat neulich auf Frankreich hingewiesen. In Frankreich müssen die Betriebe bei den unteren Lohngruppen keine Sozialversicherungsbeiträge abführen. Ich halte das ordnungspolitisch für keinen guten Weg. Wir haben das Problem erkannt und gesagt, wir brauchen die Lohnkostenzuschüsse, um nicht Arbeitsplätze nach Polen, Tschechien und inzwischen auch nach Dänemark und Holland abwandern zu lassen. Wir brauchen eine Lösung, damit auch die einfachen Arbeiten in Deutschland bleiben. Dieses Thema wird auf der Tagesordnung bleiben. Das ist doch schon jetzt klar. ({49}) Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Eigenschaft als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland die Richtlinien dieses Landes zu bestimmen. Statt Ihre Richtlinienkompetenz wahrzunehmen, fahren Sie oft Schlangenlinien und das macht die Sache so unsicher. Die Deutschen lieben ihr Land, sie sind auch prima drauf. Das ist überhaupt keine Frage; keiner von uns redet das schlecht. ({50}) - Wir regieren in vielen Ländern. Schauen Sie sich die Bilanzen der unionsregierten Länder an. Da geht es allemal besser zu als in den sozialdemokratisch regierten Ländern. ({51}) Die Menschen erwarten, dass ihnen die Politik eine klare Vorstellung davon vermittelt, was kommt. Ich kann nur sagen: Wer sein Land liebt und ein wirklicher Patriot ist, der muss verstehen, dass Patriotismus auch bedeutet - so sehen wir das -, Vorsorge für die Zukunft zu treffen. Weder dieser Haushalt noch anderes von Ihnen ist Vorsorge für die Zukunft; deshalb müssen wir heute darüber sprechen, welche nächsten Schritte wir tun müssen. Wir können doch nicht bei Hartz IV stehen bleiben. Wir können Hartz IV doch nicht einfach umsetzen und hoffen, dass uns der Wind der Weltkonjunktur hilft. Mir haben Ihre nächsten Schritte gefehlt und deshalb will ich sie aus meiner Sicht ansprechen: ({52}) Wir brauchen trotz der Schritte, die wir bereits gegangen sind, eine Weiterentwicklung des Arbeitsrechts. Wir sind der Meinung, dass das, was Siemens gemacht hat, richtig und mit Blick auf die Arbeitszeit gut ist. Dort war viel Vernunft bei den Betriebsräten und letztlich auch bei den zuständigen Gewerkschaften vorhanden. Deutschland lebt aber auch ganz stark vom Mittelstand. Die mittelständischen Unternehmen haben jedoch nicht die Möglichkeit, im Ringen mit den Gewerkschaften für sich solche flexiblen Lösungen herauszuarbeiten. Wir brauchen daher Rechtssicherheit. Wir brauchen weiterhin die betrieblichen Bündnisse für Arbeit gerade für kleine und mittlere Betriebe, damit auch sie die Chance haben, flexibel auf unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen zu reagieren. ({53}) Wir wissen, dass die Gesundheitsreform, die wir gemeinsam beschlossen haben, erfreulicherweise wirkt. Ob sie nun so gut wirkt, wie das jetzt jeden Tag beschrieben wird, werden wir uns am Jahresende in Ruhe anschauen. Aber sie wirkt. Wir wissen aber auch, dass das Gesundheitssystem mit dieser Reform noch nicht dauerhaft zukunftssicher gemacht ist. Nun hätte ich mir gewünscht, dass Sie ein Wort zu Ihrer Zukunftsperspektive, zu der Bürgerversicherung, der Sie sich wohl auch angeschlossen haben, sagen. Tatsache ist, dass der Sachverständigenrat der Bundesregierung zwei Dinge in den Vordergrund gestellt hat: ({54}) Er hat erstens gesagt: Wir müssen auf den demographischen Wandel reagieren. Das ist völlig richtig. Das haben sie richtig beschrieben. Zweitens hat er gesagt: Wegen der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbes müssen wir eine Entkoppelung der Sozialleistungen von den Lohnkosten bekommen. Das wird die große deutsche Aufgabe der Zukunft sein. ({55}) Man müsste sich wenigstens mit der Tatsache auseinander setzen, dass der Sachverständigenrat sagt: Die Bürgerversicherung kostet Arbeitsplätze, weil sie genau diese Koppelung an den Lohn für noch mehr Menschen vorsieht, während die Gesundheitsprämie Arbeitsplätze schafft. ({56}) Sie brauchen es ja nicht zu glauben, sollten sich aber wenigstens einmal intellektuell damit auseinander setzen. Genau deshalb entscheiden wir uns anders und sehen die Zukunft in einem Prämienmodell. Diesen Wettstreit werden wir auch weiterhin mit Ihnen führen. ({57}) Frau Göring-Eckardt, Sie haben Aussagen zu einem vereinfachten Steuersystem vermisst. Friedrich Merz hat zusammen mit dem bayerischen Finanzminister Kurt Faltlhauser am 7. März dieses Jahres einen ganz konkreten Vorschlag für eine erste und eine zweite Stufe eines zukünftigen vereinfachten Steuersystems vorgelegt. ({58}) Ich habe dann im Frühjahr dem Bundeskanzler und dem Bundesfinanzminister angeboten, dass wir uns in einer gemeinsamen Aktion - meinetwegen auch außerhalb des parlamentarischen Verfahrens - genau diesen Vorschlag vornehmen und noch in dieser Legislaturperiode etwas auf den Weg bringen. Herr Eichel, es geht dabei nicht vorrangig um Entlastung, sondern um Transparenz und Vereinfachung. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger und wir sind dazu bereit, genau dies in Angriff zu nehmen. ({59}) Was wird den Wohlstand in Deutschland langfristig sichern? Sicherlich nicht die Minijobs, sicherlich nicht die Hinzuverdienstmöglichkeiten und sicherlich nicht die Lohnkostenzuschüsse. Unseren Wohlstand können wir nur sichern - darum muss alles kreisen -, wenn wir mehr Dinge können, die andere auf der Welt nicht können. Wir können einige Dinge, die andere nicht können. Ich rede hier nichts schlecht. Wenn man aber trotz des demographischen Wandels und des höheren Wettbewerbs den Wohlstand für 80 Millionen Einwohner erhalten möchte, muss man massiv in die neuen Forschungsbereiche einsteigen. ({60}) Sie haben - wie so oft - die richtigen Worte und Überschriften gefunden: Jahr der Innovation! Das ist prima, aber man fragt sich: Was ist daraus geworden? Das ist die große Preisfrage. Wo sind die Richtungsentscheidungen? Ist der Haushalt dieses Jahres in seinen Strukturen entsprechend umgeschichtet? Ich kann nichts sehen. Sind die Institutionen wirklich auf Dynamik umDr. Angela Merkel gestellt? Das ist mir verborgen geblieben. Was ist mit messbaren Zielen? Sie reden von Mitteln für Forschungsinnovationen in Höhe von 3 Prozent. Der Haushalt der Bundesforschungsministerin in diesem Jahr ist jedoch wieder auf das Niveau des Jahres 2002 zurückgefallen. Sie rechnen zwar die Kosten für die Ganztagsbetreuung hinein, kürzen bei der Hochschulbauförderung und arbeiten mit lauter Tricks, aber der reine Forschungshaushalt ist auf das Niveau des Jahres 2002 zurückgefallen. ({61}) Wo haben Sie im Hochschulrecht denn für ein Stück Freiheit gesorgt? Wir warten darauf, dass die ZVS aufgelöst wird. Die brauchen wir nach unserer Auffassung nicht. Was ist mit dem Verbot von Studiengebühren? Es gibt, Herr Bundeskanzler, keine Richtungsentscheidung, die im Lande den Eindruck verbreitet: Jetzt geht es los! Jetzt geht es ran! Jetzt müssen alle Forscher in Deutschland bleiben! Dieses Signal vermissen wir. ({62}) Ich glaube, Sie haben eines nicht verstanden: Innovationen haben einen ganz besonderen Charakter. Sie kommen nicht, wenn man einfach nur ihren Namen laut ruft. Innovationen brauchen ein bestimmtes Klima. Dieses Klima hat nicht etwas mit politischer Vorbestimmung, sondern mit Freiheit zu tun. ({63}) Deshalb sage ich Ihnen: Sie müssen Chancen eröffnen und nicht Risiken betrachten. Aber Rot-Grün betrachtet an viel zu vielen Stellen zuerst das Risiko und vergeudet damit Chancen. Genau das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen. ({64}) Natürlich können Sie alles ignorieren, sich alles schönreden und sehr allgemein über Patente sprechen. Aber man kann auch ganz konkret werden: Im OECDBericht zur Informations- und Kommunikationstechnologie belegen wir zum Beispiel bei den Patenten Platz 14, ({65}) bei der Biotechnologie Platz 19. Sie können auch die Stellungnahmen der Wissenschaft ignorieren. So sagt zum Beispiel der Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Hacker, zum Gentechnikgesetz der Bundesregierung: Sollte diese Haftungsregelung in Kraft treten, würde die faktische „Innovation“ auf dem Gebiet der grünen Gentechnik darin bestehen, dass diese Arbeiten künftig außerhalb Deutschlands stattfinden. ({66}) Auch diese Aussage können wir ignorieren oder ernst nehmen. Wir bieten Ihnen an, noch einmal genau über diese Dinge zu sprechen. Denn es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Grüne Gentechnik einer der Bereiche ist, in denen in Zukunft Arbeitsplätze entstehen und in denen Deutschland eine gute Tradition hat. ({67}) Übrigens brächten sie der Frau Entwicklungshilfeministerin gleichzeitig einen prima Ruf in der Welt ein, weil wir etwas gegen die Welternährungsprobleme tun würden. ({68}) Herr Bundeskanzler, ich empfehle Ihnen einen Blick in den Verkehrshaushalt. Denn es könnte ja doch sein, dass Verkehrsinfrastruktur auch etwas mit Zukunft zu tun hat. Aus unserer Sicht jedenfalls ist das so. Wie sieht es dort aus? Selbst wenn die Mauteinnahmen kommen sollten, ({69}) woran man ja gewisse Zweifel haben könnte - aber wir wollen ja nichts schlecht reden; deshalb nehmen wir einmal an, dass die Einnahmen kommen -, ({70}) reicht der Verkehrshaushalt nicht aus, um die im Straßenbau begonnenen Projekte nächstes Jahr mit gleichem Tempo fortzusetzen. Ihre Aussage dazu ist: kein neues Projekt im Jahre 2005! Jedenfalls ist bis jetzt kein Geld dafür vorgesehen. Ist das Ihre Zukunftsvorsorge für ein Land, das mitten in Europa liegt und gute Verkehrsstrukturen braucht, Herr Bundeskanzler? ({71}) Deshalb werden wir uns in den nächsten zehn Jahren vorrangig - alles muss daraufhin überprüft werden - mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir zu mehr Arbeitsplätzen und zu mehr Beschäftigung kommen. Das wird ohne Wachstum nicht möglich sein. Natürlich gehört hierzu auch das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir wissen sehr wohl, dass wir zwei Probleme in diesem Bereich haben: Erstens scheiden die Menschen zu früh aus dem Berufsleben aus. Zweitens sind noch immer zu wenige Frauen erwerbstätig. Deshalb werden wir mit Ihnen um die Ideen ringen, die in der Diskussion stehen. Wir dürfen nur nicht jeden Tag einen Paradigmenwechsel vollziehen; denn dann werden die Leute verrückt. Aber wir sind gern bereit, mit Ihnen über das Elterngeld zu sprechen und zu fragen: Können wir es uns leisten? Ist es richtig? Setzt es die richtigen Anreize? Ich glaube im Übrigen, wie auch andere, dass Kinderbetreuung und Ganztagsschulen - ich meine nicht die Gesamtschule, sondern die Ganztagsschule - zentrale Themen sind, denen wir uns widmen müssen. ({72}) Vor allen Dingen aber müssen wir den Wiedereinstieg in das Berufsleben erleichtern: Wie reagieren wir in unserem Land, wenn eine Frau drei bis vier Jahre nicht berufstätig war, aber noch Karriere machen möchte? Auch dieses Thema müssen wir angehen. ({73}) In den nächsten zehn Jahren wird sich in unserem Land auch vieles andere ändern müssen, was nicht unbedingt etwas mit der Politik zu tun hat. Ich will nur einige Stichworte nennen. So wird sich zum Beispiel die Rolle der Gewerkschaften massiv verändern. Wenn die Gewerkschaften überleben wollen, dann müssen sie die Chancen der Globalisierung im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Arbeitslosen auf ganz andere Weise betrachten. Wir brauchen Gewerkschaften; aber bislang haben sie den Schritt in die neue Zeit an vielen Stellen nicht geschafft. ({74}) An die global agierenden Unternehmen gerichtet sage ich: Wenn es einen Kodex wie den für Corporate Governance gibt, dann tun die Unternehmen in diesem Lande gut daran, sich freiwillig daran zu halten. Denn soziale Marktwirtschaft beruht auch immer darauf, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstehen, was vor sich geht. Die Globalisierung hat es mit sich gebracht, dass eine Grunderfahrung deutschen Vertrauens, nämlich „Wenn es meinem Betrieb gut geht, geht es auch mir als Arbeitnehmer gut“, so einfach nicht mehr gilt. Aber das bedeutet auch, dass mehr Transparenz zwischen Unternehmensführung und Beschäftigten sein muss. Dazu ist Corporate Governance ein richtiger Schritt und ich kann nur empfehlen, dass jedes große Unternehmen sich an diesen Kodex hält. ({75}) Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Politik der Vereinfachung, der Entbürokratisierung, der neuen Wege. Ich stimme Ihnen übrigens zu: Wir brauchen auch eine Politik, die auch überprüft, ob wir das Richtige getan haben. Vor allen Dingen aber brauchen wir eine Politik aus einem Guss, die in den Parteien, die sie machen, auch von oben bis unten vertreten wird. Genau daran arbeitet die Union: Wir wollen nicht nur punktuell, hier und dort, etwas machen, sondern eine Politik aus einem Guss bekommen. ({76}) Diese neue Union wollen Sie noch nicht akzeptieren. ({77}) - Sie nuscheln und maulen schon wieder. Sie können diese neue Union des 21. Jahrhunderts überhaupt nicht wahrnehmen, weil Ihre Regierung und Ihre Partei in den alten Feindbildern denken; damit kommen Sie nicht klar. ({78}) Das ist im Übrigen der wahre Grund dafür, dass Leute wie Sie, die mit der PDS in der Koalition sind, immer wieder von „Volksfronten“ oder in sonstigen vergammelten Begriffen reden. Das ist das alte Denken; das hilft uns nicht weiter. ({79}) Unser Angebot steht: Wann immer es um dieses Land geht, wann immer die Vorteile die Nachteile überwiegen, werden wir die richtigen Schritte mit Ihnen mitgehen. Ernüchternd ist, dass der Haushalt von Herrn Eichel alles ist, bloß keine gute Grundlage, um dieses Land wirklich in die Zukunft zu führen. Herzlichen Dank. ({80})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz Müntefering.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Merkel, Sie haben Politik aus einem Guss verlangt. Das ist Ihnen gelungen: Das war ein Guss, allerdings ein Aufguss. ({0}) Das hatten wir schon einmal. Das war keine Oppositionsrede, das war eine hochmütige Rechtfertigungsrede. Hochmut kommt ja bekanntlich vor dem Fall. Frau Merkel, falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten: Die schönen Tage der Union sind vorbei. ({1}) Einige von Ihnen scheinen noch ahnungslos zu sein. ({2}) Vielleicht sind Sie nachher ein bisschen nachdenklicher. Ihr Versuch, die SPD und die Koalition die Arbeit machen zu lassen und sich selbst auf die faule Haut zu legen, ist gescheitert. ({3}) Es ist richtig, dass uns die Wahlergebnisse im Saarland wehtun, aber die CDU hat auch nur von jedem vierten Wahlberechtigten im Saarland das Kreuz erhalten. ({4}) 25 Prozent der Saarländerinnen und Saarländer haben die CDU gewählt. ({5}) Verehrte Frau Merkel, dass Sie zu so wenigen Stimmen - 25 Prozent Zustimmung - sagen, das sei ein sensationell gutes Ergebnis, hat mich dazu gebracht, zu sagen: Dass Sie so viel Selbstironie haben, hätte ich mir nicht vorstellen können. ({6}) Wohl wahr: Dieser von mir angesprochene Punkt geht uns alle in diesem Haus an. Ich habe Ihnen ja gesagt: Der Hochmut, mit dem Sie hier auftreten, wird sich schnell verflüchtigen. Zu einigen der Punkte, die Sie angesprochen haben, will ich vorweg etwas sagen: Erster Punkt. Ziemlich zum Schluss haben Sie reklamiert, es müsse bei uns im Land mehr Geld für Verkehrsmaßnahmen und für Investitionen überhaupt ausgegeben werden. Wenn wir das Geld hätten, dann ja. Ich wüsste viele gute Dinge, die nicht nur in Ostdeutschland, sondern in der gesamten Bundesrepublik getan werden könnten. ({7}) Sagen Sie mir doch aber bitte einmal, wie sich das zu der Forderung von Herrn Stoiber verhält, der den ganzen Haushalt um 5 Prozent kürzen will. ({8}) Herr Stoiber fordert: 5 Prozent weniger! 5 Prozent von 258 Milliarden Euro sind 12,9 Milliarden Euro. ({9}) Herr Stoiber weiß, dass wir 41 Milliarden Euro an Zinsen zahlen. Wenn wir hier um 5 Prozent kürzen könnten, wäre das schön; aber das geht bei Schulden leider nicht. Er weiß auch, dass wir rund 80 Milliarden Euro im Bereich der Rentenversicherung auszugeben haben. Was schlägt er vor? Die Renten zu kürzen? Das wären 1 oder 2 Prozent weniger. ({10}) - Das wurde aber noch nicht beantwortet. Wir werden es Ihnen nicht ersparen, dass Sie diese Fragen an dieser Stelle beantworten müssen. ({11}) - Ich merke, dass der Puls an dieser Stelle ein bisschen unruhig wird. Vielleicht sagen Sie mal etwas dazu. Will die CSU vorschlagen, dass die Renten im nächsten Jahr gekürzt werden, oder nicht? ({12}) Wenn Sie Nein sagen, dann beziehen sich die 5 Prozent auf die verbleibenden rund 140 Milliarden Euro des Haushaltes. Hieran haben der Verkehrshaushalt wie der gesamte Investitionshaushalt einen massiven Anteil. Was bleibt denn sonst? Frau Merkel, deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle: Es ist ja nett, dass Sie mal eben sagen, dass wir ein bisschen mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur ausgeben sollten. Es ist aber nicht finanzierbar. Dass Sie sich als Chefin der Opposition hier hinstellen und das fordern, ist blanke Heuchelei. Sie haben das Geld dafür auch nicht. ({13}) Ich komme zum zweiten Punkt, der Sache mit der Freiheit. Als Sozialdemokrat ist man natürlich immer bewegt, wenn jemand von den Konservativen anfängt, sich über die Freiheit auszulassen. Frau Merkel, so, wie Sie das eingeführt haben, ist das besonders schick. Sie und Herr Glos vorneweg haben heute Morgen über dieses Land wie über ein Jammerland gesprochen, ein Land also, dem es schlecht geht. Auch ein Teil der Unternehmerschaft in diesem Lande verfährt so. Ich will das hier ganz ausdrücklich in Richtung von Herrn Hundt sagen. In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass er jeden Stein, den es bei uns im Land gibt, umdreht, um zu schauen, ob nicht vielleicht doch noch ein Wurm darunter sein könnte. Frau Merkel, bei dem, was Sie über dieses Land sagen, dürfte ruhig mal ein bisschen mehr Zuversicht zu spüren sein. ({14}) Nach einer solchen Rede wie der von Ihnen oder der von Herr Glos hat man das Gefühl, dass Sie das ganze Land schlecht- bzw. herunterreden und es mies machen. ({15}) Wenn Sie das nun auch noch damit verbinden, für sich zu reklamieren, dass Sie besonders freiheitlich sind, dann finde ich das völlig unangemessen. Das weise ich ausdrücklich zurück. ({16}) Ein dritter Punkt. Es klang bei Ihnen, Frau Merkel, nur ganz leicht an, aber in den letzten Tagen drang es eindeutig nach draußen: Sie haben die SPD - einige von uns in besonderer Weise - dafür verantwortlich gemacht, dass die NPD im Saarland am Sonntag derart viele Stimmen bekommen hat. ({17}) - Nein, Sie haben die SPD angesprochen. Jetzt reden Sie das nicht klein. ({18}) Ich sage Ihnen ganz klar, Frau Merkel - darüber sollte in diesem Hause Einvernehmen herrschen -: Die CDU/ CSU ist für den Stimmenzuwachs der NPD nicht verantwortlich; die Sozialdemokraten allerdings auch nicht. Verantwortlich für die Stimmen der NPD sind diejenigen, die die Neonazis wählen. Wenn wir in diesem Haus den Verstand einigermaßen beieinander haben, dann passen wir auf, dass wir uns da nicht auseinander dividieren lassen. Die braune Soße darf in Deutschland nie wieder eine Chance haben. Wir sollten uns nicht gegenseitig unterstellen, für deren Stimmenzuwachs verantwortlich zu sein. ({19}) Nun noch ein paar Anmerkungen zu Ihren Hinweisen auf die Situation in Ostdeutschland. Ja, die SPD ist eine gesamtdeutsche Partei. Wir machen gesamtdeutsche Politik. Ost- und Westdeutschland sind keine zwei lose assoziierten Staaten, zwischen denen irgendetwas ausgeglichen werden muss. Alles, was in Deutschland an guter Politik gemacht wird, ist gut für ganz Deutschland. Darauf bestehen wir. ({20}) Ich warne sehr davor, uns an dieser Stelle auseinander zu dividieren. Wir alle wissen, dass wir in diesem Land in West und Ost leicht gegeneinander agitieren könnten. Wir sind alle erfahren genug, um das in vielen Gesprächen zu merken. Ich bitte sehr darum, dass wir der Verantwortung, die wir in diesem Lande miteinander tragen, gerecht werden. Noch einmal: Wenn es in Deutschland Wachstum gibt und wenn wir Arbeitsmarktreformen beschließen, die für bestimmte Regionen und Städte besonders gut sind, dann ist das für ganz Deutschland gut. Wir sorgen in ganz Deutschland dafür, dass der Solidarpakt II, den diese Koalition vereinbart hat, bis zum Jahre 2019 sicher bleibt. Wir sollten uns an dieser Stelle nicht auseinander dividieren lassen. Das ist meine ganz dringende Bitte an Sie alle. ({21}) Ich mahne da, weil die Lockerheit, mit der auch eben versucht wurde, sich ein bisschen lieb Kind auf der einen Seite zu machen, ohne der anderen wehzutun, die falsche Methode ist. Ein Teil unseres Problems in diesem Lande hängt damit zusammen, dass Sie dies bisher nicht ehrlich ausgesprochen haben. Wir sind ein Deutschland. Wir müssen Politik für ganz Deutschland machen. Wir müssen aufhören, Ost- und Westdeutschland gegeneinander zu stellen. Die beiden Teile sind keine selbstständigen oder assoziierten Staaten, die einfach so nebeneinander stehen. Das müssen Sie endlich begreifen. ({22}) Frau Merkel, Sie haben auch etwas zu den Lohnkostenzuschüssen gesagt. Im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit für das Jahre 2005 sind 6,35 Milliarden Euro für Lohnkostenzuschüsse und Eingliederungshilfen eingestellt. Das sind rund 25 Prozent mehr als in diesem Jahr. Rund 42 Prozent davon sind für die Aufgaben in den neuen Ländern vorgesehen. Die Möglichkeiten, diese Gelder sehr gezielt einzusetzen, liegen bei denen, die vor Ort die Entscheidungen zu treffen haben. Weil das so ist, sollten wir nicht den Eindruck erwecken, als ob wir die Möglichkeiten der Hilfe an dieser Stelle reduzieren. Frau Merkel, das, was Sie ansprechen, hört sich aber ein bisschen anders an. Ich möchte gerne wissen, ob Sie es wirklich so meinen. Sie sprechen - so empfinde ich es - über ein Modell, das darauf hinausläuft, dass für die Löhne im unteren Bereich dauerhaft Lohnkostenzuschüsse gezahlt werden sollen. ({23}) Diese Methode, Frau Merkel, die sich auf eine seltsame Vorstellung von Ordnungspolitik gründet, hatten wir schon einmal. Ich sage für uns ganz klar: Ein solches Modell kann die Antwort auf unsere Probleme nicht sein, weil es letztlich auf eine Finanzierung der Löhne aus der Kasse des Staates, aus dem Steuersäckel, hinausläuft. Das wird - so viel sage ich Ihnen für die Sozialdemokraten - keine Lösung für ganz Deutschland sein können. ({24}) Die Agenda 2010 beginnt zu wirken. Das GKV-Modernisierungsgesetz zeigt die Erfolge und Konsequenzen, die wir uns alle miteinander erhofft haben. Im ersten Halbjahr dieses Jahres haben wir ein Plus von 2,5 Milliarden, das heißt, die Beiträge können sinken. Wenn wir dieses Gesetz nicht gemacht hätten - weshalb sagen wir das eigentlich den Menschen draußen nicht ein bisschen deutlicher? -, lägen die Krankenversicherungsbeiträge heute nicht bei 14 oder 14,5 Prozent, sondern bei 16 oder 16,5 Prozent. Und ohne unsere Rentengesetzgebung läge der Rentenversicherungsbeitrag heute nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei 22 oder 25 Prozent. Das sage ich all denen, die fragen: Gibt es denn keine Alternative? - Ja, es gibt eine Alternative zur Agenda 2010, aber die heißt: höhere Krankenversicherungsbeiträge, höhere Rentenversicherungsbeiträge und mehr Schulden. Das wäre die Konsequenz gewesen. Weil das so ist, müssen wir uns alle miteinander nicht verstecken. Wir sollten zu unseren Beschlüssen stehen. Es ist schließlich nicht so, dass nur die Privaten belastet werden. Die Entwicklung speist sich aus drei Faktoren: Erstens. Die Effizienz im Gesundheitswesen wurde leicht verbessert. Wir haben immerhin ansatzweise erFranz Müntefering reicht, dass die Krankenkassen Verträge mit Ärzten und mit medizinischen Einrichtungen abschließen können. Diese verbesserte Effizienz müssen wir weiter vorantreiben - der Bundeskanzler hat es angesprochen -; das ist bisher an Ihnen gescheitert. Wir wollten weiter und wir wissen, dass wir die weiteren Schritte noch zu tun haben. Ob nun Kopfpauschale oder Bürgerversicherung, eines steht fest: Die Effizienz im System muss weiter gestärkt werden. ({25}) Das Gesundheitssystem birgt eine große Dynamik in sich und wir sind gut beraten, wenn wir die richtigen Wege finden, diese Dynamik einzugrenzen. Zweitens. Die medizinischen Angebote werden weniger intensiv in Anspruch genommen, als das vorher der Fall gewesen ist. Auf Deutsch und knapp gesagt: Die Zahl der Versicherten, die zum Arzt gehen, ist um 8 bis 10 Prozent gesunken. Ich hoffe, das sind nur die Versicherten, die nicht unbedingt auf den Arzt angewiesen sind. Die sollen allerdings auch nicht hingehen, auch darüber muss man offen sprechen. Drittens. Die Menschen zahlen hinzu. Dieses GKV-Modernisierungsgesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung und das müssen alle, die es beschlossen haben, auch nach draußen deutlich machen. Nun kommen wir allerdings an den Punkt, den Sie, Frau Merkel, angesprochen haben und der Sie offensichtlich besonders berührt: die Zahnersatzpauschale. Die Zahnersatzpauschale war Ihre Idee, sie ist ein Stück Ideologie. Das haben wir immer so gesehen und das haben wir auch so gesagt. Sie haben eine andere Vorstellung als wir davon, wie es beim Gesundheitswesen weitergehen muss. Diese Zahnersatzpauschale war gewissermaßen der Feldversuch für die Kopfpauschale, die folgen soll. Bei der Umsetzung stellt sich nun heraus, dass der Einzelne nicht eine Pauschale von monatlich 4,60 Euro wird zahlen müssen, wie es damals angekündigt war. Vielmehr werden es 2 oder 3 Euro mehr sein, weil sich mit dieser komplizierten Pauschale erhöhte Verwaltungskosten verbinden. Das bedeutet, dass jeder Versicherte 10 bis 20 Euro im Jahr zusätzlich für Verwaltungskosten zahlen müsste. Bei allem Respekt vor Ihren Ideen, Frau Merkel: Das ist es uns nicht wert und deshalb wollen wir diese Pauschale nicht. ({26}) Für Sie wäre es das Einfachste, schlichtweg zuzugeben, dass das ein Irrtum war, dass man solche Pauschalen so nicht organisieren kann, weil das so teuer wird, wie es sich jetzt herausstellt. Wir wollen eine vernünftige neue Regelung haben. Das Gesetz ist eingebracht und meine dringende Empfehlung an Sie ist, mit uns zu stimmen, damit wir für den Zahnersatz eine vernünftige Lösung finden. Wir würden auf der Arbeitgeberseite eine Senkung der Lohnnebenkosten um 0,2 Prozent erreichen, wenn weiter ein normaler prozentualer Beitrag kassiert würde. Die Agenda 2010 beginnt auch an anderen Stellen zu wirken. Das gefällt nicht allen und einiges hat sich in diesem Sommer dazu zugetragen. Sie haben bereits einige Punkte angesprochen, Frau Merkel, aber auch ich will noch ein paar Anmerkungen zu den Hartz-Gesetzen machen, vor allem zum Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Wenn eine Opposition die Bundesregierung heftig angreift, gehört das zum Geschäft. Wir sind nicht wachsweich und auch alt genug, um das zu wissen, und können damit umgehen. Wenn die Opposition aber, so wie diese Opposition, gänzlich anders redet, als sie handelt, wenn sie intern im Vermittlungsausschuss den puren Kapitalismus fordert und draußen die katholische Soziallehre auf den Lippen hat, ({27}) wenn sie Mitverantwortung leugnet, dann zeigt dies eines, Frau Merkel: Ihnen fehlt Mut, Ihnen fehlt Ausdauer, Sie haben kein Rückgrat in dieser Opposition. Das Land ist froh, dass das Paar an der Spitze nicht Merkel/ Westerwelle heißt. Da bin ich ganz sicher. ({28}) Ich will - weil das im Sommer so gelaufen ist, wie es gelaufen ist - noch einen Punkt nacharbeiten, Frau Merkel, den ich bisher immer sanft behandelt habe, nämlich betreffend Ihre Politik in den 80er- und 90er-Jahren. Damals schon war das Ausmaß der Globalisierung und der demographischen Entwicklung bekannt. Dennoch haben Sie, wie bei der Rentengesetzgebung, nur kleine Akzentuierungen versucht. ({29}) Es ist damals von Ihnen nichts getan worden. Sie haben schön geredet, aber für das Land nichts getan. Obwohl in den 80er- und 90er-Jahren schon etliches absehbar war, hat das bei Ihnen nicht zu durchgreifenden Vorschlägen und entsprechenden politischen Aktivitäten geführt. Im Gegenteil, Sie haben Illusionen verbreitet. ({30}) Sie haben die Arbeit liegen lassen, die eigentlich hätte getan werden müssen, Sie haben die Probleme in den 80er- und 90er-Jahren ungelöst gelassen, Sie haben Schuldenberge aufgebaut, Sie haben dieses Land an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht, Sie haben die Einheit unverantwortlich finanziert, Sie haben auf „Weiter so!“ gesetzt, Sie haben die Investitionen in Innovationen gekürzt, Sie haben im Ohrensessel gesessen und abgewartet, was denn werden würde. Das ist die Wahrheit der 80er- und 90er-Jahre, mit deren Folgen wir es noch heute zu tun haben. ({31}) Wir haben - da versuche ich ehrlich zu sein ({32}) in den 90er-Jahren nicht besonders gedrängelt. Das bestreite ich nicht. ({33}) Aber wenn ich mir ansehe, mit welcher Arroganz Sie und Frau Merkel hier versuchen, nach sechs Jahren ein Urteil über diese Koalition zu sprechen, ein Vorurteil zu verbreiten, muss ich sagen: Dann müssen wir genauer auf den Vorlauf dieser Koalition schauen. Wir werden über einiges noch etwas nachdrücklicher sprechen müssen. ({34}) Das Gesetz zur Arbeitsmarktreform haben wir gemeinsam beschlossen; beteiligt waren der Bundestag, der Bundesrat und der Vermittlungsausschuss. Das Optionsgesetz, das sich mit der Frage auseinander setzte, wie das vor Ort organisiert werden soll, hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss zu großen Auseinandersetzungen geführt. Weil Frau Merkel eben aus dem Vermittlungsausschuss berichtet hat und gesagt hat, man habe heftig darum kämpfen müssen, ob es solche Optionen gebe oder nicht, will ich noch einmal an folgende Situation erinnern: Als der hessische Ministerpräsident dafür gefightet hat, dass das Optionsmodell überall gelten solle, haben wir ihm - wie auch Herrn Milbradt - angeboten: In ganz Hessen und für ganz Sachsen kann das gerne so gelten. Dazu aber haben sie Nein gesagt. ({35}) An dem Abend ist mir klar geworden, dass Sie die Sache nicht wirklich vernünftig regeln wollten, sondern dass Sie taktiert haben. Das beherrscht Ihre Politik zu Hartz IV immer noch. ({36}) Nun will ich Ihnen, Frau Merkel, einige Personen aus Ihren Reihen vorhalten, die sich in den letzten Tagen und Wochen zu der Arbeitsmarktreform und dem, was zu tun ist, geäußert haben. Sie haben Karl Nolle zitiert. Ich schicke ihm das gerne zu. Er hat es verdient. Ich will Ihnen aber die Äußerungen einiger anderer Personen vorhalten und Sie damit konfrontieren. Dann können Sie denen das ebenfalls zuschicken. ({37}) Ich nenne erstens Herrn Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen. Herr Rüttgers stellt sich in den Landtag von Nordrhein-Westfalen und sagt in populistischer Weise, er wolle eine Gesamtrevision dieser Arbeitsmarktreform. ({38}) Ich will Herrn Merz nicht ansehen. Ihm muss bei dem, was Rüttgers da veranstaltet hat, ganz schlecht geworden sein. Das kann er natürlich gar nicht einhalten, aber die Botschaft an das Land Nordrhein-Westfalen vor der Kommunalwahl und vor der Landtagswahl ist doch eindeutig: Ihr Stellvertreter Herr Rüttgers fordert eine Generalrevision dieser Arbeitsmarktreform. Es ist kein Zufall, dass eine Zeitung in Nordrhein-Westfalen, und zwar eine konservative, getitelt hat: „Rückzieher, dein Name ist Rüttgers“. Das, so finde ich, ist eine ordentliche Überschrift für den Vorgang. ({39}) Dann kommt Herr Arentz, CDA, aus Köln und fordert Schonvermögen für die Altersvorsorge in Höhe von 1 000 Euro je Lebensjahr. Das habe ich übrigens bei der PDS in Sachsen auch schon einmal gehört. Ich will aber keine Verbindung herstellen. Sprechen Sie mit Herrn Arentz darüber! 1 000 Euro pro Jahr bedeuten bei einem Ehepaar - beide 60 Jahre alt, 120 000 Euro Altersvorsorge und je 12 000 Euro für den allgemeinen Verbrauch 144 000 Euro. Hinzu kommen Wohnung, Auto und Riester-Rente. Wer so etwas fordert, Frau Merkel, verhöhnt diejenigen, die mit ihren Steuergeldern zu den Einnahmen beitragen, aus denen wir das Arbeitslosengeld II bezahlen. Was Sie da betreiben, ist unverantwortlich. ({40}) Nun komme ich zu Herrn Milbradt, ({41}) der in einer seltsamen Art von Selbstkasteiung angekündigt hat, zu einer Demo zu gehen. Will er eine eigene Demo veranstalten oder wie muss man sich das vorstellen? Lassen Sie mich dazu ein paar Wahrheiten in Erinnerung rufen. Im Vermittlungsausschuss, Frau Merkel, ging es um die Frage, ob die unterschiedliche Struktur hinsichtlich der Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger in Ostund Westdeutschland nicht besondere Reaktionen erfordere. Also wurde beschlossen, vorweg den neuen Bundesländern 1 Milliarde Euro zu gewähren. Der Freistaat Sachsen sollte 319 Millionen Euro erhalten. Meine dringende Bitte an Sie ist, Herrn Milbradt deutlich zu machen, dass diese 319 Millionen Euro nicht für die sächsische Landeskasse, sondern für die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit in den Städten und Gemeinden bestimmt sind. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir! ({42}) Wir haben mit der Gemeindefinanzreform und durch das, was wir durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe den Städten und Gemeinden zukommen lassen, dazu beigetragen, dass diese zusätzlich zu der eben genannten 1 Milliarde Euro etwa 2,5 Milliarden in diesem Jahr und etwa 6 bis 6,5 Milliarden Euro im nächsten Jahr erhalten werden. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, was aus diesen 6 bis 6,5 Milliarden Euro wird. Kommen sie der Konjunktur, dem Handwerk und den kleinen und mittleren Unternehmen zugute oder kommt es nur zu einer Umverteilung bei den Schuldenständen der Kommunen und des Bundes? Meine Erwartung an die CDU/CSU-Ministerpräsidenten und auch an Sie ist, dass Sie das aufgreifen und Ihren Leuten deutlich machen, dass wir in diesem und im nächsten Jahr erreichen müssen, dass die zusätzlich in die Städte und Gemeinden fließenden Mittel so eingesetzt werden, dass das Handwerk vor Ort und die kleinen Betriebe in der Region etwas davon haben und Arbeitsplätze entstehen. Das muss jetzt passieren. ({43}) Ich entnehme Ihrer Reaktion, Frau Merkel, dass wir einer Meinung sind. Dann ist meine herzliche Bitte, dass Sie dies Ihren Ministerpräsidenten und Oberbürgermeistern in aller Deutlichkeit sagen. An dieser Stelle möchte ich Klartext reden. Ich habe in dem gesamten Gesetzgebungsverfahren und insbesondere nach einigen Äußerungen von Herrn Koch und anderen den Eindruck gehabt, dass manche darauf warten, dass das Arbeitsmarktreformgesetz scheitern möge und man jemanden dafür verantwortlich machen kann. Ich will das nicht Ihnen persönlich unterstellen, aber rufen Sie sich einmal diesen Sommer in Erinnerung! Im Interesse der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit muss klar sein, dass in diesem Jahr - und zwar ab sofort - in allen Ländern, Städten und Gemeinden alle, die mithelfen können, dafür sorgen, dass diese wichtige Operation gelingt. In dem Gesetz geht es nicht primär um die Veränderungen der Transfers; vielmehr hat das Gesetz zum Ziel, die Langzeitarbeitslosigkeit zu reduzieren. Entsprechende Ansätze sind vorhanden. Das Gesetz wird das Problem zwar nicht vollständig lösen, aber wenn wir es im nächsten Jahr schaffen, einige Zehntausend oder Hunderttausend aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszuholen, dann ist das, was wir gemeinsam beschlossen haben, gelungen. ({44}) Sie müssen aber dafür sorgen, dass niemand von Ihnen das Gesetz boykottiert oder hängen lässt und darauf wartet, was wohl daraus werden könnte. Wir werden schon aktiv werden müssen. Das gilt auch für alle vor Ort. ({45}) Herr Müller im Saarland fordert auch nach der Wahl noch, die Zahldauer für das Arbeitslosengeld zu ändern. Das hat nichts mit Hartz IV zu tun, sondern ist ein ganz anderes Thema, aber er spricht darüber. Auch dazu, Frau Merkel, wäre eine klare Botschaft nach draußen sehr hilfreich. Sie, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben am 18. Juli 2003 beschlossen, dass das Arbeitslosengeld I im ersten Monat der Zahlung um 25 Prozent reduziert werden soll. Das haben wir abgelehnt. Dann haben Sie auf Ihrem anschließenden Bundesparteitag beschlossen, dass nur diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, Anspruch auf eine 18-monatige Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I haben sollen, während für alle anderen eine zwölfmonatige Bezugsdauer gelten soll. Das setzen wir im Augenblick um. Nun sagt aber Herr Müller, es müsse länger Arbeitslosengeld gezahlt werden. Das ist auch für uns Sozialdemokraten keine leichte Entscheidung. Aber es gibt eine Entwicklung in diesem Land, mit der wir uns nicht abfinden können. Dadurch, dass Mitte der 80er-Jahre unter Norbert Blüm die Zahldauer für das Arbeitslosengeld auf bis zu 32 Monate verlängert wurde - bis dahin galt für alle eine zwölfmonatige Zahldauer; wir haben damals Beifall geklatscht; ich will uns gar nicht außen vor lassen -, haben wir eine Mentalität in diesem Lande erzeugt, die inzwischen dazu führt, dass beispielsweise 53-, 54- und 55-jährige Arbeitnehmer schräg angeschaut werden, wenn sie nicht freiwillig in den Vorruhestand gehen. Das ist keine gesunde Entwicklung. Deshalb ist die Reduzierung der Zahldauer für das Arbeitslosengeld eine vernünftige Entscheidung. ({46}) Den Kritikern - dazu zähle ich auch Herrn Müller; denn anders kann ich das, was er sagt, nicht verstehen; vielleicht erläutern Sie mir das einmal - sage ich, dass es lange Übergangsfristen gibt. Wer bis zum 31. Januar 2006 Arbeitslosengeld I bezieht, erhält das volle Arbeitslosengeld, und zwar bei gleicher Zahldauer wie bisher. Ein Beispiel: Ein 58-Jähriger bekommt bis Ende August 2008 Arbeitslosengeld I, also 32 Monate, wenn er es am 31. Januar 2006 erstmalig bezieht. Wenn er anspruchsberechtigt ist - das gilt natürlich auch für Frauen -, dann bekommt er danach zwei Jahre lang Arbeitslosengeld II, das im ersten Jahr um monatlich160 Euro und im zweiten Jahr um 80 Euro erhöht ist. Er bekommt das Arbeitslosengeld II also bis Ende August 2010. Ich bitte Sie! Wer will denn noch längere Übergangsfristen? Wir müssen erreichen, dass die bisherige Mentalität gebrochen wird. Diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, dürfen nicht nach Hause geschickt werden. Sie müssen in Arbeit bleiben. ({47}) Ich möchte noch etwas zu Herrn Böhr sagen. Ich glaube, er ist Philosoph. Frau Merkel, Herrn Böhr kennen Sie? - Er hat in der vergangenen Woche in einer ostdeutschen Zeitung geschrieben, das Ganze sei ein Abkassiermodell. Da diejenigen aus Ihren Reihen, die Kritik üben, nicht am Rand Ihrer Partei stehen, appelliere ich an Sie: Sorgen Sie für Ordnung in Ihren eigenen Reihen! ({48}) Sie dürfen nicht zulassen, dass das, was man an der einen oder anderen Stelle vermuten kann, wahr wird, nämlich dass die CDU/CSU durch ihren hinhaltenden Umgang mit dieser Thematik dafür sorgt, dass die Arbeitsmarktreform nicht ihre volle Wirkung entfaltet; denn das wäre zum Schaden der Langzeitarbeitslosen. ({49}) Meine dringende Bitte: Sorgen Sie dafür, dass das Ihren Leuten klar wird! Heute haben Sie dazu jedenfalls kein Wort gesagt. Wenn Sie mit dieser Sache anständig umgehen wollten, dann hätten Sie heute hier gesagt: Jawohl, das haben wir gemeinsam beschlossen und das stehen wir auch gemeinsam durch. Wir sagen den Menschen, weshalb das richtig ist. - Aber das hat bisher niemand von Ihnen getan. ({50}) Sie versuchen, sich an dieser Stelle einen schlanken Fuß zu machen, und hoffen, dass Sie sich hier durchmogeln können. Das ist die schlichte Wahrheit. Die Spitzenleistung hat aber Herr Schönbohm erbracht. Er hat gesagt, Herr Schröder solle sich zurückhalten, wenn er in die neuen Bundesländer komme, weil die Stimmung so angeheizt sei. Das hat wirklich ein Geschmäckle. Wenn ein Innenminister eines Bundeslandes, der auch für die innere Sicherheit zuständig ist, den Bundeskanzler bittet, er solle nicht sein Land besuchen, dann kann das natürlich ein Spaß sein. Das kann aber auch Zynismus sein. Die Art und Weise von Herrn Schönbohm finde ich jedenfalls ungeheuerlich. ({51}) Wir haben - begleitend zum Haushalt - eine Menge in Bewegung gesetzt. Es wird noch mehr hinzukommen. Ganz vorne steht die große Herausforderung - diese ist noch nicht perfekt beantwortet; an einer entsprechenden Antwort müssen wir alle noch arbeiten -, wie wir es schaffen, dass die in Deutschland vorhandene Arbeit von denjenigen Menschen getan wird, die legal in Deutschland sind. Das ist eine große Herausforderung. An dieser Stelle gibt es große Spannungen, manchmal auch zwischen uns und den Gewerkschaften. Aber dies ist eine entscheidende Herausforderung, vor der wir stehen. Wie bringen wir es zustande, dass die in Deutschland zu leistende Arbeit von denjenigen Menschen getan wird, die legal hier leben? Wir können uns keine registrierten 4 Millionen oder 4,3 Millionen Arbeitslose - hinzu kommen stille Reserven im oberen Bereich und bei den Frauen - leisten. Die Erwerbsquote ist nämlich zu gering. Auch können wir es uns nicht leisten, dass es in diesem Lande massenhaft Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung gibt oder dass Menschen in dieses Land geholt werden, die bestimmte Arbeiten für uns machen sollen. In Deutschland fehlen 20 000 bis 30 000 Pflegerinnen und Pfleger. Wenn dieses Problem größer wird, werden wir dann in Deutschland die Kraft haben, es mit Arbeitskräften aus unserer Bevölkerung zu lösen, oder werden wir uns 50 000 Koreanerinnen oder Polinnen holen müssen, damit diese Arbeit getan wird? Es kann nicht sein, dass das so läuft. Weil das so ist, müssen wir uns miteinander darüber klar sein: Wir müssen erreichen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind. Aber wir müssen miteinander auch erreichen, dass sie nicht die Gunst oder Ungunst der Stunde nutzen, ein Lohndumping in Bewegung zu setzen, das man so nicht wollen kann. ({52}) Da ist in Ostdeutschland, auch an manchen anderen Stellen vieles in Bewegung, worüber wir miteinander sprechen müssen. Auch deshalb dreht sich die Debatte um die Frage, ob ein Mindestlohn sinnvoll ist oder nicht. Als Anhänger der Tarifautonomie bin ich da immer sehr skeptisch gewesen. Aber die Debatte darüber, was man eigentlich tun kann, müssen wir führen. Das, was Frau Merkel angesprochen hat - die Zahlung von Lohnkostenzuschüssen aus der Staatskasse; wenn ein Unternehmer nur 3 Euro zahlt, dann soll der Rest des Lohns aus der Staatskasse finanziert werden -, kann es doch nicht sein. Wenn das so aber nicht gemeint ist, dann frage ich: Welche andere Methode haben wir, um zu erreichen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind, ohne die Menschen zu missbrauchen, indem sie sie mit Lohndumping überziehen? Mit diesem Problem haben wir in Deutschland im Augenblick zu kämpfen. Darüber haben wir mit den Gewerkschaften, aber auch mit den Arbeitgeberverbänden zu sprechen. Es wäre sehr hilfreich, wenn bei den Unternehmen in Deutschland zwei Dinge, die, wie ich denke, sehr hinderlich sind, klarer würden: Unternehmen müssen nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Europa und weltweit vertreten sein. Dass das gut ist, bezweifelt keiner von uns. Die Tatsache, dass Unternehmen weltweit vertreten sind, stärkt unsere Wirtschaft ganz zweifellos und trägt zu unserem Wohlstand bei. Bei manchen Unternehmen hat man freilich den Eindruck, dass sie um eines kleinen Vorteils willen die eigenen Mitarbeiter drängen und pressen oder ins Ausland gehen. ({53}) - Herr Kauder, passen Sie auf! - Es gehört zur Unternehmensethik dazu, dass die Unternehmen in Deutschland wissen: Sie sind den Menschen verantwortlich, durch die sie reich geworden sind und die bei ihnen beschäftigt sind. Ich wiederhole meinen Appell an die Unternehmen an dieser Stelle: Man soll versuchen, wettbewerbsfähig zu sein und dabei bis an die Grenze dessen gehen, was möglich ist. Man soll sich aber auch bewusst sein, dass Unternehmen für die Menschen, die bei ihnen einen Arbeitsplatz haben, verantwortlich sind. Die Unternehmen dürfen mit den existenziellen Sorgen der Menschen nicht spielen; sie dürfen mit ihnen kein Schindluder treiben. Leider kommt auch das vor. ({54}) Es wäre schon ganz gut, wenn die Bezieher großer Einkommen in diesem Lande im Umgang mit ihrem Verdienst mehr Transparenz zeigten. Mit anderen Worten: Es wäre gar nicht so schlecht, wenn die Bereitschaft größer wäre, offen zu legen, wie viel man verdient oder bekommt, was ja nicht immer dasselbe ist. Man sollte wenigstens sagen, was so in die Tüte fließt. Das gilt nicht nur für die großen Unternehmen, für die Vorstände und für die Aufsichtsräte, sondern auch für die großen Medien in diesem Land. Es wäre auch einmal ganz gut, zu wissen, wie deren Einkommen eigentlich so aussieht. ({55}) Das darf man vielleicht einmal ein bisschen kess sagen; schließlich konzentrieren sie sich meistens auf uns. Ich will noch kurz ein paar Punkte ansprechen, die für das nächste Jahr ebenfalls wichtig sind. Stichworte: Investitionen und Innovationen. Wir haben uns vorgenommen, für diesen Bereich zusätzliches Geld zu mobilisieren. Frau Merkel, Herr Merz, meine Erwartung an Sie ist, dass Sie uns schnell sagen, wo man Subventionen abbauen kann. Ich weiß, dass die Abschaffung der Eigenheimzulage nicht allen leicht fällt; auch bei uns ist das so. Die Eigenheimzulage war ein Instrument, das über Jahre und Jahrzehnte größte Bedeutung gehabt hat und auch sinnvoll war. Aber wir müssen in Deutschland eine Wohnungs- und Städtebaupolitik machen, die sich auf das einrichtet, was heute und für die Zukunft wichtig ist. Das werden wir nicht beiseite schieben. Die Tatsache, dass wir hier die Eigenheimzulage infrage stellen, signalisiert nicht: Man muss sich nicht mehr um Wohnungs- und Städtebau kümmern. Dafür wird man da sein müssen, zwar nicht in dem bisherigen Umfang, aber doch zumindest teilweise. Trotzdem müssen wir sehr bald wissen: Werden wir das Geld für Innovationen in diesem Lande haben oder nicht? Sie müssen wissen, dass derjenige, der sich an dieser Stelle verweigert, dazu beiträgt, dass im Bereich der Innovationen nicht das getan werden kann, was getan werden muss. ({56}) Zur Bürgerversicherung will ich heute nur ein paar Worte sagen. Sie wissen, wir haben dazu Eckpunkte beschlossen. Ich freue mich auf die offene Debatte, die es dazu hoffentlich geben wird. Für uns ist dabei klar: Es wird im Kern ein solidarisch finanziertes System bleiben. Die Finanzierung wird durch Verbeitragung oder entsprechende Besteuerung hoher Einkünfte ergänzt. Es bleibt bei der bisherigen Qualität. Die Bürgerversicherung ist keine Versicherung zweiter Klasse. Es wird PKV und GKV wie bisher geben. Die GKV hat die Chance, sich zu stabilisieren, nicht zuletzt dadurch, dass wir die Versicherungspflichtgrenze aufgeben und auch junge, günstige Risiken die Bürgerversicherung bei der GKV nutzen können. Es bleibt dabei, dass wir im System insgesamt die Effizienz deutlich verbessern müssen. Frau Merkel, schauen Sie sich anhand der Zahnersatzpauschale an, wie das so mit Kopfpauschalen ist, was das kostet und wie groß die Sinnhaftigkeit solcher Unternehmen ist! Herr Seehofer hat es schon sauber vorgerechnet. Es war einmal von 24 Milliarden Euro und einmal von über 30 Milliarden Euro die Rede, die aus der Steuerkasse sozusagen quer gezahlt werden müssen, damit die unteren Einkommen das alles noch bezahlen können. Stichwort: direkte Demokratie. Ich finde die Debatte hochinteressant. Wir haben in dieser Koalition in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen, Methoden der direkten Demokratie mit vernünftigen Quoren auch bei uns in Deutschland einzuführen. Wir wollen keine Verrücktheiten, aber unter bestimmten Bedingungen, unter bestimmten Voraussetzungen müssen Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide möglich sein. Das haben Sie damals abgelehnt. Nun haben wir vereinbart, das wieder einzubringen. Jetzt sagen einige von Ihnen: auch Referenden, nicht nur direkte Demokratie sozusagen von unten, sondern auch Befragung von oben durch den Deutschen Bundestag oder die Bundesregierung mit entsprechendem Quorum, mit entsprechender Qualität. - Deshalb werden wir den Gesetzentwurf gemeinsam einbringen. ({57}) In Teil 1 wird es um die direkte Demokratie gehen - Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid - und in Teil 2 wird stehen, unter welchen Bedingungen Volksbefragungen stattfinden können. Wichtig ist, dass das schnell geschieht; denn in einem sind wir uns ganz einig: Im Grundgesetz wird es keine Lex „europäische Verfassung“ geben. ({58}) Wenn wir uns hier mit der nötigen Mehrheit darauf verständigen können, das, was ich eben angesprochen habe, ins Grundgesetz zu schreiben, können wir das miteinander machen. Herr Westerwelle, ich schaue Sie einmal an; Sie haben sich ja weit aus dem Fenster gehängt. Die Zweidrittelmehrheit bekommen wir hin. Wenn die Sozialdemokraten und die Grünen und die FDP und die CSU, die das ja auch will, miteinander stimmen, haben wir 409 Stimmen. Also lassen Sie uns das miteinander machen und dafür sorgen, dass vielleicht auch die CDU das irgendwie mitmacht. ({59}) - Bitte? ({60}) - Im Moment ({61}) - hören Sie zu! - reden wir über die generelle Frage der Regelung. Wenn das so kommt, dann wird im Grundgesetz stehen, dass es im Prinzip eine Möglichkeit der Befragung gibt. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten miteinander darüber diskutieren, unter welchen Bedingungen das dann möglich sein soll. Laufen Sie an der Stelle nicht gleich wieder weg! ({62}) Ich will Sie noch über etwas informieren. Wir werden in dieser Koalition in diesem Herbst - das haben wir uns vorgenommen - das Thema der Antidiskriminierung neu auf die Tagesordnung setzen. Das ist auch kein einfaches Thema. Das wird uns in diesem und im nächsten Jahr ganz sicher begleiten. Sie wissen, dass es dazu Richtlinien in Europa gibt. Wir werden dafür sorgen, dass wir in Deutschland entsprechend dem, was in Europa aufgeschrieben ist, handeln. Wir werden zu prüfen haben, ob und, wenn ja, in welcher Weise wir das Antidiskriminierungsgesetz auch noch darüber hinaus ausgestalten. Wir haben uns in dieser Koalition in dieser Legislaturperiode noch mehr als in der vergangenen auf einen schwierigen Weg gemacht. Fortschritt erfordert Anstrengung. Aber wir kommen voran. Ich bin ganz sicher, dass die starken Unternehmen, die qualifizierten Arbeitnehmer, die Infrastruktur, das leistungsfähige Bildungssystem und die Wohlstandsbasis, die wir in diesem Land haben, gute Voraussetzungen dafür sind, dass wir gemeinsam diesen guten Weg weitergehen können - in diesem und im nächsten Jahr und weit darüber hinaus. ({63}) Wir, diese rot-grüne Koalition, werden Deutschland in eine gute Zukunft führen. ({64}) Davon wird uns auch nicht eine lahme und opportunistische Opposition abhalten können. ({65}) Aber Besserung ist Ihnen ja möglich. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({66})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Müntefering hat am Anfang seiner Rede einen Rückblick in die 80er- und 90er-Jahre gegeben. Wir Christlichen Demokraten scheuen den Blick in die 80er- und 90er-Jahre überhaupt nicht. Gerade die 16 Jahre, die wir regiert haben, waren gute Jahre für Deutschland. ({0}) Nur, am Anfang des 21. Jahrhunderts helfen für die Lösung der jetzt anstehenden Fragen nostalgische Betrachtungen überhaupt nicht weiter. Sie dienen vielleicht der emotionalen Befriedigung einer Fraktion, die mehr leidend als leidenschaftlich dem Kurs dieser Bundesregierung folgt. Sie beinhalten aber keinen Hinweis darauf, wie die rot-grüne Bundesregierung die in diesem Land anstehenden Haushalts- und Zukunftsfragen beantworten möchte. ({1}) Ein weiterer Hinweis, Herr Kollege Müntefering: Sie haben am Anfang Ihrer Rede auch das Erstarken der rechtsradikalen Kräfte bei der Saarland-Wahl angesprochen. Sie haben die Union ermahnt, nicht die Sozialdemokraten dafür verantwortlich zu machen. Ich bin der Debatte heute Vormittag sehr interessiert gefolgt. Ich habe nicht gehört, dass irgendein Redner der Union die Sozialdemokratie für das Erstarken der NPD im Saarland verantwortlich gemacht hätte. ({2}) Ich bin sicher, dass auch alle anderen Redner der Union und nicht nur die von heute Morgen Oskar Lafontaine dafür verantwortlich machen, dass die radikalen Kräfte am linken und am rechten Rand wieder erstarken. ({3}) Deswegen, Herr Müntefering, bedarf es auch keiner Ermahnung der Union, ({4}) sondern es liegt an der deutschen Sozialdemokratie, das Verhältnis zu Oskar Lafontaine abschließend zu klären, liebe Freunde, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) In den Mittelpunkt Ihrer Ausführungen, Herr Müntefering, haben Sie die Arbeitsmarktpolitik gestellt. ({6}) Auf dem Arbeitsmarkt sind die Reformen, die Sie ja jetzt nicht mehr mit dem Schlagwort „Hartz“ bezeichnen, allenfalls ein Einstieg in eine Politik, die wir von der Union für notwendig erachten. In ihrer Wirkung sind sie in Teilen allerdings völlig überschätzt worden. Von den vollmundigen Ankündigungen einer Halbierung der Arbeitslosenzahl, Herr Müntefering, ist heute nichts mehr übrig. Die Union hat all denjenigen Teilen der Hartz-Reformen, die auf mehr Flexibilität und Öffnung des Arbeitsmarktes zielen, im Deutschen Bundestag zugestimmt. Wenn Sie sich fragen, wie sich die Christlich Demokratische Union bezüglich der Umsetzung von Hartz IV verhält, dann empfehle ich Ihnen, doch einmal nach Nordrhein-Westfalen zu schauen. Wir haben im Vermittlungsausschuss von Deutschem Bundestag und Bundesrat deutlich gemacht, dass wir den Kommunen mehr zutrauen als der Arbeitsverwaltung und haben uns für ein umfassendes Optionsmodell ausgesprochen. Das, was dabei herausgekommen ist, entspricht nicht ganz unseren Wünschen, denn in Nordrhein-Westfalen gibt es mehr Kommunen und Kreise, die gemäß dem Optionsmodell optieren wollen, als Sie zuzugeben bereit sind. Wir arbeiten überall da, wo die Möglichkeiten gegeben sind, Arbeitslosen zu helfen und Brücken in die Beschäftigung zu bauen, aktiv mit, meine sehr verehrten Damen und Herren. Keiner aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schlägt sich hier in irgendeinen Busch, ({7}) sondern wir sind auf der Seite derjenigen, die sich für mehr Beschäftigung in diesem Land einsetzen. ({8}) Wir kritisieren allerdings die dilettantischen Elemente, insbesondere in der Kommunikationsarbeit der Bundesregierung, bei der Umsetzung und Erläuterung dieses Reformvorhabens. Wir haben in den vergangenen Wochen erlebt, dass die Bundesregierung zum ersten Mal Hartz IV nicht nur durch Überschriften darstellt, sondern auch mit Texten erläutert. Gerade das lange Schweigen der Bundesregierung über das gemeinsam getragene Reformwerk Hartz IV hat zu den Verwirrungen, Verirrungen und Täuschungen bezüglich des Wesensinhaltes dieses für den Arbeitsmarkt notwendigen Reformwerks geführt. ({9}) Nach wie vor fehlt es aber an ergänzenden Elementen zu dieser Arbeitsmarktreform. Eine durchgreifende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, wie wir sie in unserem Arbeitsmarktreformgesetz bereits vor einigen Monaten vorgeschlagen haben, ist erforderlich, damit die notwendigen und angesichts der Kürzungen der aktiven Leistungen von allen Seiten eingeforderten Arbeitsplätze von der Wirtschaft geschaffen werden können. Wenn Sie vor dem Hintergrund, dass wir über Hartz IV und die 1-Euro-Jobs die Tarifstruktur öffnen und einen Niedriglohnsektor schaffen wollen, jetzt eine Diskussion über Mindestlöhne in Deutschland beginnen, dann erweisen Sie den bisherigen Reformen einen Bärendienst und schrecken investitionsbereite Unternehmen eher ab, als mehr Beschäftigung in Deutschland zu schaffen. Dies gilt auch für die Abschaffung des demographischen Faktors in der Rentenversicherung. Das Thema wurde von Ihnen, Herr Müntefering, hier kurz angesprochen. Bisher hat Rot-Grün nur Notoperationen vorgenommen, um den Beitragssatz stabil zu halten. Deshalb besteht in diesem Jahr erstmals die Gefahr, dass die Rentenversicherung einer Liquiditätsspritze aus dem Bundeshaushalt bedarf. Das von Rot-Grün angesichts der explodierenden Bundeszuschüsse beschlossene Nachhaltigkeitsgesetz ist völlig unzureichend, um den demographischen Herausforderungen gerecht zu werden. Was wir brauchen, ist eine deutliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit, eine Entscheidung, um die sich die rotgrüne Bundesregierung bis zum heutigen Tag gedrückt hat. Vom Bundeskanzler und auch vom Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion ist die Gesundheitsreform angesprochen worden. Die Gesundheitsreform scheint sich, zumindest unter finanziellen Gesichtspunkten, nach den ersten Monaten dieses Jahres als Erfolg herauszustellen. Aber ich will auf eines hinweisen, Herr Müntefering, damit das nicht in Vergessenheit gerät: Der Gesetzentwurf, den Ihre dafür zuständige Gesundheitsministerin Anfang des vergangenen Jahres eingebracht hatte, hätte zu diesen Einsparungen im Gesundheitswesen nicht geführt. Er war ein dirigistischer Angriff zur Zerschlagung eines freien und selbst verwalteten Gesundheitswesens, ({10}) das wichtige Reformelemente noch nicht enthalten hatte. Das Maß an Eigenbeteiligung und Eigenverantwortung, das jetzt zu den Einsparungen im Gesundheitswesen führt, haben Sie überhaupt nur mithilfe der Union im Vermittlungsausschuss gegen Ihre Fraktionslinke durchsetzen können. Deswegen können Sie sich nicht hier hinstellen und sagen, die Opposition beteilige sich nicht an den für die Bevölkerung notwendigen und auch schmerzlichen Entscheidungen. Vielmehr sind wir es, die Ihre schrumpeligen Reformansätze in eine Fassung bringen, in der sie zumindest ein Minimum an Erfolg und Wirkung für die Bevölkerung unseres Landes erzielen können. ({11}) Dies gilt im Übrigen auch für die Steuerpolitik. Wir haben im vergangenen Jahr im Vermittlungsausschuss mit Ihnen einen Kompromiss zur Steuerpolitik geschlossen, der verschiedene Einsparungen umfasste, die uns schwer gefallen sind; dafür sind Sie uns in anderen Punkten entgegengekommen. Mit dem Haushaltsentwurf 2005 kündigen Sie diesen Kompromiss des Vermittlungsausschusses auf. Wenn sich hier jemand in die Büsche schlägt, dann sind Sie das, indem Sie die getroffenen steuerpolitischen Kompromisse infrage stellen. Sie stellen ja nicht nur das Vermittlungsausschussergebnis infrage. Im Zusammenhang mit der Vermögensteuer lese ich in den Zeitungen, dass die von Sozialdemokraten und Grünen erwogene Wiedereinführung der Vermögensteuer zu 50 Prozent ein Angriff auf die Kapitalanlagen von Rentnerinnen und Rentnern in der Bundesrepublik Deutschland sei. Ist das sozialdemokratische Reformpolitik? Ich kann das nicht erkennen. ({12}) Dies gilt auch für die Tabaksteuererhöhung. Im Rahmen der Gesundheitsreform haben wir schweren Herzens dieser für uns schwierigen Lösung zugestimmt. Wir haben aber unsere Auffassung deutlich gemacht, dass hohe Steuersätze die Gefahr bergen, dass weniger Geld in die Kassen kommt. Ihre Steuerpolitiker haben eine Erhöhung der Tabaksteuer trotzdem durchgesetzt. Aber anstatt dass mehr Geld zur Finanzierung der Gesundheitsreform in die Kassen fließt, führt diese Erhöhung wahrscheinlich dazu, dass wir am Ende dieses Jahres im öffentlichen Haushalt ein zusätzliches Loch in Höhe von 1 Milliarde Euro vorfinden werden. ({13}) Wir müssen auf diese Fragen jetzt Antworten finden. Da helfen uns nostalgische Betrachtungen der 80er-Jahre in keiner Weise. ({14}) Im Übrigen glaube ich, dass Sie, Herr Eichel, eine Party feiern und in Jubel ausbrechen würden, wenn Sie heute nur die Finanzprobleme hätten, die Herr Stoltenberg zu seiner Zeit gelöst hat. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wandel braucht Wahrheit. Nur Wahrheit schafft Vertrauen. Dieser Regierung mangelt es an der Fähigkeit, die Wahrheit vor dem Parlament auszusprechen. Sie verschweigt die Wahrheit über die Staatsfinanzen und die Wahrheit über die notwendigen Anpassungsmaßnahmen. Wir brauchen eine Regierung, die Vertrauen schafft und die den Menschen sagt, wie es in der Zukunft weitergehen soll. Sie muss eine verlässliche Politik machen, die länger als zwei oder drei Monate Bestand hat. Eine solche Regierung kann nur von der Union und der FDP gebildet werden. Ich danke Ihnen. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man die bisherige Debatte Revue passieren lässt, dann erkennt man, dass die Opposition versucht, damit durchzukommen, Reden von gestern zu halten. ({0}) Zu der Kritik von Frau Merkel, die Regierung verunsichere die Menschen, weil sie nicht klar mache, wohin die Reise gehe, muss ich sagen, dass es sich um eine höchst unehrliche Analyse handelt. Dieses Vorgehen bezeichne ich sogar als ein bisschen frech. ({1}) Der Widerstand und die Verunsicherung der Menschen, zum Beispiel über Hartz IV, rühren nämlich daher, dass sich viele erst jetzt klar machen, dass der Staat bestimmte Leistungen nicht mehr so finanzieren kann, wie sie es gewohnt waren. Das hat aber nichts damit zu tun, dass nicht klar ist, wohin die Reise geht. Es hat vielmehr damit zu tun - das müssen wir uns ehrlich eingestehen -, dass manche Dinge nicht mehr wie gewohnt auf Pump finanziert werden können. ({2}) Diese Ehrlichkeit und Konsequenz, die die rot-grüne Regierung mit ihren Reformen an den Tag legt, haben Sie nicht gezeigt. Herr Müntefering hat das wunderbar deutlich gemacht. Nein, Sie haben sich in ganz vielen Fällen versteckt. Früher haben Sie gerufen, Hartz IV gehe nicht weit genug. Jetzt ist von Ihnen dazu gar nichts mehr zu vernehmen. Das ist peinlich. Aber die Öffentlichkeit erkennt das. ({3}) Es besteht bei Ihnen außerdem ein Mangel an Vorschlägen, wie die schwierige Haushaltslage in den Griff zu bekommen ist. Herr Stoiber schlägt vor, überall 5 Prozent zu kürzen. Er schlägt damit vor, 4 Milliarden Euro bei der Rente zu kürzen. Ich bin einmal gespannt, ob Sie diese Forderung aufrechterhalten wollen. ({4}) Für Sie wird die Situation noch schwieriger dadurch - diese Unsicherheit hat man nach meiner Ansicht in der Rede der Oppositionsführerin gespürt -, dass die Union noch nicht neu aufgestellt ist. Es besteht bei Ihnen noch ein ganz großer Konflikt hinsichtlich des Konzepts zur Veränderung der sozialen Sicherungssysteme. Die Gesundheitsprämie mit der Abkopplung von den Lohnkosten ist zwar ein sehr ambitioniertes Projekt ({5}) - dafür hat Angela Merkel hier geworben - und Ihre Argumente muss man ernst nehmen. Aber Sie haben ein völlig illusionistisches Steuerkonzept danebengestellt. ({6}) Das passt nicht zusammen. Deswegen kann man Ihren Vorschlägen wirklich nicht trauen. ({7}) Neben dem Fehlen von Vorschlägen ist zu kritisieren, wie Sie sich gegenüber unseren Vorschlägen und LöAnja Hajduk sungsangeboten verhalten. Mit einem besonderen Ausmaß an opportunistischer Neigung lassen Sie sich beim Subventionsabbau von Lobbygruppen beraten. Diese Art von Sperre ist unverantwortlich. ({8}) Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, wie wichtig im Bereich Bildung, Forschung und Innovationen das 3-Prozent-Ziel ist. Sie werden verantworten müssen, dass wir nicht in dem notwendigen Maße Mittel für den Forschungsbereich zur Verfügung haben. Sie werden auch verantworten müssen, wenn wir bei der Schulentwicklung und insbesondere bei der Kinderbetreuung nicht so vorankommen, wie es gerade angesichts unserer demographischen Entwicklung eigentlich nötig ist. ({9}) - Ja, Steuermittel sind allgemeine Deckungsmittel. Sie meinen das jetzt auf die Eigenheimzulage bezogen. Ich finde unseren Vorschlag sehr sinnvoll. Sie müssen sich dazu verhalten, ob Sie ihn wirklich nicht unterstützen wollen. Ich glaube Ihnen das noch nicht einmal. Zum Abschluss möchte ich festhalten: Wenn Sie keine Kraft zum Subventionsabbau haben und stattdessen illusionistische Steuerkonzepte vorlegen, dann ist damit Ihre mangelnde Nachdenklichkeit - der Bundeskanzler hat heute zu Recht darauf verwiesen - offenkundig geworden. Ich kann Sie nur auffordern: Denken Sie nach! Bringen Sie Ihre Konzepte zusammen! Sperren Sie sich nicht gegen den heute notwendigen Subventionsabbau! Nehmen Sie die Empfehlungen Ihrer Experten, die Sie selber auswählen - das Kieler Wirtschaftsinstitut ist oft dabei -, ernst und bremsen Sie die Regierung nicht bei richtigen Reformen! Denken Sie nach! Ich glaube, dann kommen Sie zu größerer Ehrlichkeit in der Politik. Das steht auch der Opposition gut. Damit gewinnt man dann auch wieder das Vertrauen der Bevölkerung. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. ({0}) Uns als PDS wurden in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV vom Kanzler und seinen Verbündeten, aber auch von einigen Medien viele unbegründete Vorwürfe gemacht. ({1}) Ich will mich sachlich mit diesen Vorwürfen auseinander setzen. ({2}) Der erste Vorwurf ist, die PDS spalte unser Land und argumentiere gegen den Westen. Das Gegenteil ist richtig. Hartz IV ist ein Gesetz der großen Koalition aus SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP. Mit diesem Gesetz ist die Spaltung festgeschrieben: Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Osten bekommt 331 Euro, einer im Westen 345 Euro. Dieser Unterschied ist durch nichts zu rechtfertigen. Wenn man die Lebenshaltungskosten in Deutschland vergleicht, kann man eher ein Gefälle zwischen Nord und Süd oder zwischen Stadt und Land erkennen als eines zwischen Ost und West. Aber es kommt keiner auf die Idee, zum Beispiel unterschiedliche Sätze für München und Fürstenau zu zahlen. Es ist auch falsch, dass wir Stimmung gegen den Westen machen. So etwas werden Sie in keiner Rede und in keinem Beschluss von uns finden. Schauen Sie sich einmal die Wahlergebnisse im Saarland an: Die SPD hat im Vergleich zu den Wahlen von 1999 absolut 45 Prozent der Stimmen verloren. Die PDS dagegen hat im Saarland 128 Prozent dazugewonnen. ({3}) Was will ich damit sagen? Das zeigt, dass viele Menschen im Westen erkannt haben, dass es nicht um die Ost-West-Verteilung geht, sondern um die Verteilung zwischen oben und unten. ({4}) Die rot-grüne Regierung hat wie eine seelenlose Umverteilungsmaschine die Politik der alten kohlschen Regierung fortgesetzt und weiter von unten nach oben umverteilt. Ich erinnere nur an die Senkung des Höchststeuersatzes ab dem 1. Januar 2005. Ein besonderes Geschmäckle an dieser Sache ist, dass am gleichen Tag das Arbeitslosengeld II in Höhe von 331 bzw. 345 Euro eingeführt wird. Der zweite Vorwurf an uns als PDS lautet, wir seien populistisch. Auch dieser Vorwurf ist falsch. Wir haben von Anfang an hier im Bundestag und auch im Bundesrat klar gegen die Hartz-Gesetze votiert. Es ist nur konsequent, dass wir jetzt zusammen mit den Betroffenen auf der Straße gegen dieses Gesetz demonstrieren. ({5}) Die Leiterin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach sagt zu diesem Vorwurf - ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren -: Die PDS ist mit ihrem Protest bei sich selbst, ist authentisch. Sie war immer gegen Einschnitte in das soziale Netz … Der dritte Vorwurf lautet, wir als PDS würden wider besseres Wissen die notwendigen Reformen ablehnen. ({6}) Dazu möchte ich einen unverdächtigen Zeugen anführen. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger ({7}) traf den Nagel auf den Kopf, als er auf die Frage, ob Hartz IV so etwas wie ein Bypass für den deutschen Herzpatienten sei, antwortete: Nein, sie kommt mir eher vor wie eine BypassOperation für einen Asthmakranken. Dem Patienten wird viel zugemutet, doch er profitiert nicht davon. Bofinger weiter: Das Arbeitslosengeld II bleibt ein erhebliches Risiko für die Konjunktur. Bedroht sind nicht nur die 3 Millionen Langzeitarbeitslosen, von denen viele erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, es werden auch mehr als 34 Millionen Beschäftigte verunsichert. Das ist ein vernichtendes Urteil für die Bundesregierung. Ihr Programm ist ökonomisch unvernünftig, weil Sie die Arbeitslosen finanziell unter Druck setzen, ohne ihnen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Im Gegenteil: Die Chancen werden noch geringer werden, weil Sie den Menschen mit Ihrem Programm das Geld aus der Tasche ziehen und damit die Binnennachfrage schwächen. Die Schwächung der Binnennachfrage wird die Konjunktur nicht ankurbeln, sondern bremsen und damit den Arbeitsplatzabbau beschleunigen. Ich möchte ein weiteres Zitat ausführen. Jim O’Neill, Chefvolkswirt von Goldman Sachs - er ist kein Freund der PDS, schätze ich -, sagt zum Problem der sinkenden Binnennachfrage: Die Bundesregierung sollte an alle Haushalte Schecks verteilen, die sofort eingelöst werden können. Sie aber machen natürlich das Gegenteil, Sie nehmen den Menschen Geld weg und wundern sich anschließend über die sinkende Binnennachfrage. Ich finde, es ist nicht mehr von dieser Welt, wenn eine Abgeordnete der Grünen dazu aufruft, Produkte made in Germany zu kaufen, um Arbeitsplätze in unserem Land zu sichern. Die Kollegin hat offensichtlich noch nichts von der Globalisierung mitbekommen und klagt Patriotismus von den Konsumenten ein, ({8}) während gleichzeitig die vaterlandslosen Gesellen, wie der Kanzler gern zu sagen pflegt, die Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagern. Der vierte Vorwurf, der uns gern gemacht wird, lautet, dass die PDS den Menschen Angst mache ({9}) und es nicht zutreffe, dass Hartz IV Armut per Gesetz sei. ({10}) Dieser Vorwurf zeigt, wie weit Sie sich schon von den Menschen entfernt haben. Die Menschen haben begründete Angst und diese Angst wird ihnen nicht von uns, der PDS, eingejagt - damit würde man uns als PDS auch überschätzen -, sondern die Gesetze selbst machen den Menschen Angst. Frau Göring-Eckardt von den Grünen erklärt immer wieder, dass es vielen Menschen durch Hartz IV besser gehen würde. Das stimmt genau für 16 Prozent der Betroffenen. Sie werden mehr Geld haben als vor Hartz IV; aber 48 Prozent, also fast die Hälfte, werden weniger bekommen und ein Drittel der bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger wird gar keine Leistungen mehr erhalten. In Deutschland ist die Armutsrisikoquote nach Ihren eigenen Berechnungen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, im Laufe Ihrer Regierungszeit um etliche Prozent angestiegen. Für das Jahr 2005 sind für einen Alleinstehenden monatlich 613 Euro als steuerfrei zu stellendes Existenzminimum angegeben. Es ist also so sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Mehrheit der Arbeitslosenhilfeempfänger in Armut fallen wird. In Anbetracht dieser Zahlen frage ich mich wirklich, wie Sie über die Demonstrationen verwundert sein können. Ich würde mich wundern, wenn es keine gäbe. ({11}) Ein letzter Vorwurf, der besonders boshaft ist und den Sie uns besonders gern entgegenschleudern, besteht in der Gleichsetzung der PDS mit Neonazis, wie ihn beispielsweise auch der Kanzler in vielen Interviews gebraucht hat. Dazu will ich Ihnen eines sagen: Meine Kollegin Petra Pau und ich waren bei der letzten Montagsdemonstration in Berlin, auf der 10 000 Menschen gegen Hartz IV demonstriert haben. Nazis versuchten, sich in den Demonstrationszug einzuschleichen, sie wurden mit wütenden Pfiffen von den Demonstranten vertrieben und das war richtig so. ({12}) Bei der Wahl des Bundespräsidenten ging man mit den Nazis allerdings anders um. Ich darf nur daran erinnern, dass Hitlers Marinerichter, der in den letzten Kriegstagen Todesurteile gegen junge kriegsunwillige Soldaten unterschrieb, von der CDU, der SPD und den Grünen im Landtag von Baden-Württemberg einstimmig als Mitglied der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten nominiert wurde und sich kein Politiker der etablierten Parteien daran störte. Ich darf also diese absurde Gleichsetzung entschieden zurückweisen. ({13}) Meine Damen und Herren, Sie machen nicht nur der PDS Vorwürfe, sondern Sie werfen pauschal allen Ostdeutschen Undankbarkeit vor. ({14}) Wie sollen Ihrer Meinung nach die Ostdeutschen ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen? Die Ostdeutschen sehen die Transferzahlungen sowie die Verbesserung der Infrastruktur. Aber das eigentliche Problem, nämlich fehlende Arbeitsplätze, ist nicht gelöst. Die Ostdeutschen möchten eben nicht auf Dauer auf Transferzahlungen angewiesen sein. ({15}) Im Gegenteil. Sie wollen selbstbestimmt leben und das ist mit Transferleistungen nicht möglich und jetzt mit Hartz IV noch weniger als vorher. ({16}) Ich werde das Thema Dankbarkeit einmal von einer anderen Seite beleuchten. Wo fordern Sie eigentlich die Dankbarkeit derjenigen ein, denen nach der Wende der ostdeutsche Markt in den Schoß gefallen ist und die dadurch saftige Extragewinne erzielen konnten, so zum Beispiel die Aldi-Brüder? ({17}) Sie erwarten auch keine Dankbarkeit von Unternehmen, die durch die Politik von Rot-Grün keine Kapitalsteuer zahlen müssen. Sie nehmen es einfach hin, dass der weltgrößte Mobilfunkkonzern Vodafone 50 Milliarden Euro außerplanmäßig abschreiben will, um 20 Milliarden Euro an Steuern zu sparen. Warum klagen Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, nicht bei denen Dankbarkeit ein, die im Kalten Krieg ihren Schnitt gemacht oder sich durch üppige Abschreibungen die deutsche Einheit persönlich vergoldet haben?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass ich relativ großzügig mit Ihrer Redezeit umgehe. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ja, ich bin gleich fertig. - Ich sage noch zwei, drei Sätze zum Thema Populismus. ({0}) Es ist Populismus, wenn die SPD den Wählern vor der Wahl soziale Gerechtigkeit und die Wiedereinführung der Vermögensteuer verspricht und dann nach der Wahl bei den Arbeitslosenhilfeempfängern abkassiert. ({1}) Der Vorwurf des Populismus trifft auch die Grünen, die auf ihrem Bundesparteitag die Einführung der Vermögensteuer beschlossen haben, aber nichts, aber auch gar nichts tun, um diesen Beschluss in Regierungshandeln umzusetzen. ({2}) Abschließend sage ich Ihnen etwas zu den Demonstrationen und Ihren Reaktionen darauf, und zwar in Form eines Zitates aus der „taz“, das Sie sich vielleicht merken sollten. Ich zitiere letztmalig mit Erlaubnis des Präsidenten: Jeden Montag Zehntausende auf die Straße zu bringen - das haben die Grünen, heute Adressat des Protestes, nicht einmal zu ihren besten Anti-AKWZeiten geschafft... Dies zu ignorieren, dazu gehört schon eine gewisse Unverfrorenheit. Ich denke, der Protest gegen Hartz IV wird anhalten und stärker werden. Sie wären schlecht beraten, nicht darauf zu hören. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, ein bisschen Redezeit lässt sich dadurch einsparen, dass die Genehmigung für Zitate gar nicht mehr eingeholt werden muss. Das haben wir längst in der Geschäftsordnung geregelt. Im Übrigen nutze ich gerne die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass das Präsidium bei den zugegebenermaßen knappen Redezeiten, die für Nichtfraktionsmitglieder zur Verfügung stehen, entgegen einer oft verbreiteten Vermutung eher besonders großzügig verfährt. Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Lötzsch, mit Ihren Aussagen haben Sie eigentlich bewiesen, dass alle Vorwürfe an die Adresse der PDS voll berechtigt sind. ({0}) Sie nutzen die Ängste der betroffenen Menschen schamlos aus. ({1}) Wer das macht, der ist populistisch, der hilft den Menschen nicht. Er verwirkt jeden Anspruch, für irgendeine Art von sozialer Gerechtigkeit zu stehen. ({2}) Sie nehmen soziale Verantwortung nicht wahr. Was Sie machen, können wir nicht hinnehmen. ({3}) Ich bin auch ganz sicher: Trotz Ihres jetzt in einigen Ländern aktuellen Umfragehochs ({4}) werden die Menschen erkennen, wie schamlos Sie mit ihren Interessen umgehen. Was Sie sich hier erlaubt haben, ist unter aller Kanone. ({5}) Jeder Vorwurf von Ihnen kann widerlegt werden. Das gilt für das gesamte Leistungsspektrum im Zusammenhang mit Hartz IV und dafür, dass wir uns nun zum ersten Mal um Hunderttausende von Menschen, die bisher auf dem Arbeitsmarkt keine Chance hatten, kümmern. Wir kümmern uns konkret um die Frauen und Männer, um die jungen Menschen, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Das unterscheidet uns: Wir kümmern uns um die Menschen und nehmen unsere Verantwortung wahr, Frau Lötzsch. ({6}) Nach der schwachen Vorstellung von Frau Merkel wird hier durch Hinweise auf Koalitionen, die bestehen, abgelenkt. ({7}) Deren Bestehen ist nicht zu leugnen. Man muss sogar konstatieren, dass es tüchtige PDS-Stadträte gibt, ({8}) die dabei helfen, die Menschen über Hartz IV und andere Themen aufzuklären und die die Langzeitarbeitslosigkeit wirklich bekämpfen wollen. Ich äußere mich hier zu dem Beitrag von Frau Lötzsch und sage Ihnen: Das ist unter aller Kanone. Das kann nicht hingenommen werden. Das ist Demagogie pur und Linkspopulismus, der keinem Menschen hilft. ({9}) Frau Merkel hat heute wirklich eine große Chance vertan. ({10}) Einige von Ihnen werden, wie auch ich, die Sendung „ARD Morgenmagazin“ gesehen haben, in der vielen Kollegen aus Ihren Reihen, zum Beispiel Herrn Rauen, Fragen gestellt wurden. Dort wurden der Vorsitzende der Jungen Gruppe und andere interviewt und nach dem Zustand der Union gefragt. Herr Rauen - er ist ja kein Unbekannter, sondern der Chef der Mittelstandsvereinigung in der Union ({11}) wurde gefragt, wie die Situation der CDU sei und ob er mit ihr zufrieden sei. Darauf hat Herr Rauen wörtlich gesagt: „Überhaupt nicht!“ ({12}) Das ist doch eine zutreffende Umschreibung der Situation der CDU. Hier können wir dem Kollegen Rauen ausnahmsweise einmal Recht geben. ({13}) Der Vorsitzende der Jungen Gruppe hat sinngemäß gesagt: ({14}) Wenn es uns nicht gelingt, die konzeptionellen Defizite und die Streitpunkte, die wir mit der CSU über das 100-Milliarden-Euro-Missverständnis haben - Frau Merkel wird ja immer mehr zu einem 100-MilliardenEuro-Missverständnis -, ({15}) in diesem Herbst auszuräumen, dann sind wir nicht regierungsfähig. Im Anschluss an diese Debatte, in der Frau Merkel alle konkreten Antworten schuldig geblieben ist, würde ich sagen: ({16}) Sie sind nicht nur nicht regierungsfähig, sondern noch nicht einmal oppositionsfähig. ({17}) - Herr Kampeter, auch Sie haben keine Frage beantwortet. ({18}) Zum Beispiel haben Sie nicht die Frage beantwortet, die wir gestern schon gestellt haben und deren Beantwortung wir uns von Frau Merkel gewünscht hätten, ({19}) wie die Vorschläge von Herrn Stoiber umgesetzt werden sollen. - Jetzt seien Sie doch mal ein bisschen still! ({20}) Frau Merkel hat mehr Investitionen im Bundeshaushalt gefordert - so war sie jedenfalls zu verstehen - und Herr Stoiber schlägt eine Kürzung um 5 Prozent vor. Beantworten Sie diese Frage doch ganz einfach! ({21}) - Nein, auch Sie haben keine Frage beantwortet. ({22}) Deswegen sind jetzt Sie an der Reihe, in der Öffentlichkeit erst einmal für Klarheit über Ihre Konzepte zu sorgen. Sie sollten sich aber nicht immer dann, wenn es unangenehm wird, mit rechtspopulistischem Getue in die Büsche schlagen und konkreten Fragen ausweichen. ({23}) Daher meine herzliche Bitte an Sie: Nutzen Sie dazu die Chance, die Ihnen der weitere Verlauf der Haushaltsdebatte bietet! ({24}) - Sie, Herr Kollege Kauder, bitte ich: Kläffen Sie nicht ständig dazwischen! Denn das, was Sie machen, ist unerträglich. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Bernhard Kaster, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Haushälter, der für das Bundeskanzler- und das Bundespresseamt zuständig ist, habe ich mich schon ein wenig gewundert - nach der letzten Rede tue ich das nicht mehr -, als quer durch alle Medien zu lesen, zu hören und zu sehen war - diese Kritik wurde sogar in Ihren eigenen Reihen geäußert -, dass die Bundesregierung mangelhafte Informationspolitik betreibe. Es war die Rede von einem Kommunikationsdesaster und einem Kommunikationschaos, wie wir es eben auch hier erlebt haben. Manch einer im Land wird sich natürlich die Frage gestellt haben: Fehlt vielleicht einfach das nötige Geld für eine ordentliche Informationspolitik, um Hartz IV zu vermitteln? ({0}) Dazu möchte ich Ihnen die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist, dass allein Minister Clement das zweite Jahr infolge nur für die Kommunikation der Hartz-Reformen zusätzliche Mittel in Höhe von jährlich 15 Millionen Euro angesetzt hat. ({1}) Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg hat sich für ihre Öffentlichkeitsarbeit einen Rekordetat in Höhe von 40 Millionen Euro geleistet. Gleichzeitig haben die PRMittel von Bundespresseamt und Bundesregierung noch nie da gewesene Höhen erreicht. ({2}) Die Wahrheit ist auch, um das zu komplettieren: Die Bundesregierung hat alleine in den letzten zwölf Monaten - und das nach eigenen Angaben! - über 30 Millionen Euro für alle möglichen und unmöglichen Zeitungsanzeigen und Plakatkampagnen zur Agenda 2010 ausgegeben. ({3}) Wir haben es in unserer Fraktion in diesem Sommer einmal genau nachgerechnet: Die Bundesregierung verprasst zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit jährlich eine viertel Milliarde Euro für Öffentlichkeitsarbeit. ({4}) - Das ist unglaublich; diese Höhe gab es noch nie. - Und dann, man glaubt es nicht, muss in den letzten Wochen mit einer mit heißer Nadel gestrickten Anzeigenkampagne „Betrifft: Hartz IV“ und einem so genannten Lagezentrum auf das offenkundige Informationsdefizit mehr schlecht als recht, ja hilflos reagiert werden. Es folgt sogar ein Schwarze-Peter-Spiel zwischen Presseamt, Wirtschaftsminister und Bundesagentur, wer denn da eigentlich was machen soll. Das sind Strategen, kann ich dazu nur sagen! ({5}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wieso schafft es diese Bundesregierung nicht, mit solchen Rekordetats die Bevölkerung zu informieren, Vertrauen zu erwecken, ({6}) die eigentlichen Botschaften der Hartz-IV-Reform zu transportieren? Die Erklärung ist recht einfach: Immer und immer wieder haben wir hier in diesem Hause gefordert, dass Informationspolitik nicht auf platte, stimmungsmachende Werbung wie im Wahlkampf reduziert werden darf. Jeder kennt noch die Sprüche, die auf den Plakatwänden überall standen. ({7}) Jetzt kam es zur Nagelprobe für die Informationspolitik und da wurde das Debakel einer vollkommen falsch konzipierten Informationspolitik offenbar. ({8}) Werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie sprechen zwar schon selbst öffentlich vom Kommunikationsdesaster bzw. Kommunikationschaos; Konsequenzen werden aber erstaunlicherweise nicht gezogen. Konsequenzen haben dagegen Ihre Ressortminister gezogen: Mittlerweile wird Regierungssprecher Béla Anda so wenig zugetraut, dass jedes Ministerium auf eigene Faust versucht, in der eigenen Pressestelle ein eigenes Kommunikationskonzept zu entwickeln und damit die Lücken zu füllen. ({9}) Ich komme jetzt auch zu den Zahlen; das kostet uns ja alle viel Geld. Die Ressortminister haben seit dem Antritt von Herrn Anda im Jahre 2002 ihre Einzeletats von 28,5 Millionen Euro in 2002 auf jetzt 65,98 Millionen Euro im Haushaltsentwurf für 2005 erhöht. Das sind die reinen Ausgaben, nur für die einzelnen Ministerien, ({10}) ohne Bundespresseamt. Damit wird dieser Regierungssprecher zum teuersten Regierungssprecher aller Zeiten. ({11}) Die Bundesregierung muss endlich dafür sorgen, dass wieder sachliche und seriöse Information erfolgt. Fangen Sie hier endlich mit dem Sparen an! Kündigen Sie diese unsäglichen Werbeverträge! Hier können Sie ein Zeichen setzen, dass gespart werden kann. ({12}) Sparen darf bei dem Haushalt 2005 nicht eine allgemeine Floskel bleiben. Um es vorweg zu sagen: Der große Verlierer der gigantischen Schuldenpolitik, die wir erleben, ist eindeutig die junge Generation: Verlierer sind hier unsere Kinder. ({13}) Seit der Regierungsübernahme durch Rot-Grün ist die Verschuldung des Bundes von 743 Milliarden Euro auf jetzt 847 Milliarden Euro gestiegen. Schon heute steht fest: Die Schulden des Bundes werden bis Ende 2005 auf 890 Milliarden Euro angestiegen sein. Unser Schuldenberg ist unter Rot-Grün in nur sieben Jahren um 150 Milliarden Euro angestiegen. Hinzurechnen muss man das Verscherbeln von Bundesvermögen in einer Größenordnung von nachweisbar 100 Milliarden Euro. In der Addition ergibt das einen Betrag von einer Viertel Billion Euro. Das muss man sich einmal vorstellen! Es ist unglaublich, was für eine Last der jungen Generation hier aufgebürdet wurde. Die großen Verlierer Ihrer Haushaltspolitik sind damit die jungen Menschen in unserem Land. Die letzten Reserven unserer Kinder werden durch Ihre Politik aufgezehrt. Kein verantwortlicher Familienvater, weder in Berlin noch in Hannover oder sonstwo, würde das wohl seinen Kindern antun. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zugleich rufe ich Tagesordnungspunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen ({0}) - Drucksachen 15/3447, 15/3592 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({2}) - Drucksache 15/3684 Berichterstattung: Abgeordnete Uta Zapf Ruprecht Polenz Harald Leibrecht Zunächst erteile ich dem Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer, das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Außenpolitik war und ist - dies wird also auch für die Zukunft so gelten - in die europäische und die transatlantische Politik eingebunden. Allerdings verändern sich die beiden Grundpfeiler - die europäische und die transatlantische Politik - gegenwärtig tief greifend, vielleicht sogar fundamental. Ihre Bedeutung für unsere Politik wird sich nicht verändern, die Sache selbst aber wohl. Sowohl Europa als auch die transatlantische Politik werden tief greifenden Veränderungen unterliegen. Das haben wir gerade in den letzten Jahren in der Außenpolitik gespürt. Wir haben mehr und mehr außenpolitische Verantwortung übernommen. Zugleich sind die Herausforderungen nicht nur für die Diplomatie, sondern auch für die Bundeswehr, für den Bereich der Entwicklungshilfe und im Gesamtzusammenhang der Außenpolitik rapide gestiegen. Die Welt hat sich radikal verändert. In Kürze werden wir den Jahrestag des 11. September 2001 begehen, an dem das furchtbare Verbrechen gegen die Vereinigten Staaten verübt wurde. Wir sind noch heute unter dem Eindruck eines anderen furchtbaren Verbrechens: in Beslan in Ossetien. Ein erster Schultag wurde dort für einen furchtbaren Terroranschlag genutzt, bei dem so viele Menschen - an erster Stelle die Kinder und ihre Mütter zu Geiseln genommen und viele von ihnen getötet, umgebracht, ermordet wurden. Das macht klar, dass wir es heute mit einer völlig anderen Situation als zu Zeiten des Kalten Krieges zu tun haben. Ich denke, wenn wir über die Außenpolitik sprechen, werden wir uns daran zu orientieren haben. Es ist richtig, dass wir den jüngsten Terroranschlag in Russland einmütig verurteilen und voller Abscheu über dieses furchtbare Verbrechen sind. In diesem Zusammenhang wurde aber eine merkwürdige Debatte über die Frage der Menschenrechte begonnen. Ich möchte das hier einmal direkt ansprechen. Ich weiß nicht, ob Frau Merkel gut beraten war oder ob das nicht Ausdruck einer mangelnden Trittsicherheit ist. Bei allem, was man ohne jeden Zweifel an Russland kritisieren kann und manchmal auch kritisieren muss, glaube ich, dass Frau Merkel falsch liegt, wenn sie die Erfahrungen mit dem Russland von heute mit den Erfahrungen in der kommunistischen DDR und der Sowjetdiktatur vergleicht. ({0}) Deswegen sage ich nochmals: Die Zukunft Russlands lässt sich nicht an einem solchen Maßstab messen. Wir wissen heute doch, dass das angesichts der großen Probleme, aber auch angesichts der Bedeutung, die dieses Land hat, keine Aufgabe weniger Jahre ist. Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Es war keine Reise, während der wir uns nicht auch selbstverständlich mit den Vertretern der Zivilgesellschaft in Moskau und der Menschenrechtsorganisationen getroffen haben. Im Übrigen haben wir auch einen ständigen Dialog über die Entwicklung in Tschetschenien geführt. Es gab keine Diskussion mit der russischen Seite, bei der nicht intensiv über die Frage der politischen Lösung in Tschetschenien und die Menschenrechte gesprochen wurde. Ich erinnere mich auch an einen Auftritt meines Kollegen Iwanow, des Vorgängers des jetzigen russischen Außenministers, im Auswärtigen Ausschuss. Die FDP und die CDU/CSU waren anwesend. Es gab eine sehr vernünftige Diskussion, bei der manches, was vorher angekündigt wurde, nicht Wirklichkeit wurde. Die Frage, worin denn die politische Lösung besteht, ohne dass letztendlich Schlimmeres eingeleitet wird, wurde auch dort nicht beantwortet. Manchmal ist es einfach notwendig, zu begreifen, dass man zwar Gesamtkonzepte, Visionen und Ähnliches fordern kann, dass die Welt bisweilen aber nicht so einfach ist. Das gilt vor allen Dingen dort, wo in der Vergangenheit schwere Fehler gemacht wurden. Die große Problematik, vor der wir heute stehen, ist die Verbindung zwischen dem islamistischen Terrorismus und der Tschetschenienfrage. Die tiefe Penetration der terroristischen Gruppen hängt mit ihrer Ideologie zusammen. Das ist eines der Elemente, mit denen wir es zu tun haben. Ich sage Ihnen ganz offen: Dem Bundeskanzler vorzuwerfen, dass er all diese Fragen - das weiß ich - mit der russischen Seite nicht immer wieder diskutiert hätte, ist meines Erachtens gegenüber dem Bundeskanzler nicht nur zutiefst ungerecht, sondern auch in der Sache schlicht und einfach falsch. ({1}) Ich will Ihnen noch etwas sagen: Die Erklärung von Präsident Putin von Sotschi, bezogen auf den Iran - darauf komme ich nachher noch zu sprechen -, in der deutlich wird, dass Russland dieselbe Position einnimmt wie die Europäer, ist angesichts der Gefährdung durch eine Misskalkulation in Teheran von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ich sagte schon, die Welt hat sich radikal verändert und wird sich radikal verändern. Ich behaupte sogar, dass wir uns von vielem, was uns im Denken selbstverständlich geworden ist, werden verabschieden müssen. Warum? Weil sich vieles nur noch als Scheinoption darstellen wird. Wir leben die Globalisierung. Die Globalisierung wird einen politischen Druck in Richtung Multilateralismus auslösen. Das wiederum ist nichts, das sich gegen die einzige Weltmacht, die USA, richtet, sondern aus meiner Sicht - da liegt eine der zukünftigen Aufgaben, die wir direkt nach den amerikanischen Wahlen aufnehmen und fortführen müssen; das müssen wir mit der „Wider Middle East Initiative“, also der Initiative für den größeren Nahen Osten und seiner friedlichen Transformation, anpacken - wird die Welt nur funktionieren, wenn die USA ihrer Führungsaufgabe gerecht werden, einen effektiven Multilateralismus des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. ({2}) Dass es sich dabei nicht um eine billige Formel handelt, zeigt die Geschichte. Das heutige multilaterale System ist aus dem Scheitern des ersten multilateralen Systems entstanden, das nach 1918/19 von Präsident Wilson initiiert wurde, des Völkerbundes. Die Konsequenz des Scheiterns des Völkerbundes in der totalitären Epoche der 30er-Jahre in Europa war das strategische „Grand Design“ von Roosevelt und nachher im Kalten Krieg von Truman, die Entwicklung des VN-Systems, wie wir es heute kennen. Das macht klar, dass es hier keinen Widerspruch gibt. Ich möchte sogar behaupten, der Transatlantismus der Zukunft - ich meine, er muss eine Zukunft haben - wird genau diesen strategischen Konsens anstreben müssen, und zwar nicht unter Ausschluss Russlands, sondern unter Einschluss Russlands. Oft ist es so, dass sich aus dem Negativen auch Positives entwickeln kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass das furchtbare Verbrechen, das wir in der jüngsten Vergangenheit erlebt haben, in Moskau ein erneutes Nachdenken nach sich ziehen wird, ob eine wesentlich festere Verankerung und Orientierung hin zum Westen nicht tatsächlich das Gebot der Stunde ist. Wenn es so wäre, dann sollten wir intensiv daran arbeiten, dass sich die russische Demokratie, die Zivilgesellschaft und die Kohärenz dieses Landes in Richtung Moderne entwickelt. Hier hat Deutschland dank seiner exzellenten Beziehungen, die wir zu Russland haben, eine besondere Aufgabe, der wir uns stellen sollten. ({3}) Auch Europa steht vor wichtigen Herausforderungen. Wir sind dabei, unsere Hausaufgaben abzuschließen. Die Verfassung steht zur Ratifizierung an. Ich sage nochmals: Sie taugt nicht für innenpolitische Profilierungsspiele. Ich bekenne ganz offen, dass ich - nicht als Bundesaußenminister, sondern als Mitglied des Hauses eine andere Position habe als die überwiegende Mehrheit meiner Partei. Was ist daran schlimm? Das ist bei mir nicht das erste Mal der Fall. Es adelt demokratische Parteien weiß Gott eher, denn dass es sie beschädigt, wenn man in einem Punkt unterschiedlicher Meinung ist. Wovor ich nur warnen kann, sind taktische innenpolitische Spiele zur Ratifizierung der europäischen Verfassung, weil es hier um eine zentrale Zukunftsfrage geht. ({4}) Freuen Sie sich doch, Herr Glos, dass wir beide hier vielleicht einer Meinung sind. Wenn Sie meine Meinung teilen, dann haben Sie vielleicht Probleme mit der Mehrheit in der CSU. Ist das schlimm? ({5}) - Entschuldigung, ich sage nochmals als Bundesaußenminister: Es ist von überragender Bedeutung, dass wir diese Verfassung nach der Unterzeichnung schnell ratifizieren, nach Möglichkeit mit einer breiten Unterstützung des Deutschen Bundestages. ({6}) Wie weit wir die Verfassungsrealität ändern wollen, ist meines Erachtens eine andere Debatte. Nur appelliere ich noch einmal auch an Sie, Herr Glos: Wir können in der Türkeifrage höchst unterschiedlicher Meinung sein - ich akzeptiere das, auch wenn ich Ihre Position nicht teile -, aber wir sollten hier meines Erachtens klar unterscheiden zwischen der innenpolitischen Kontroverse und außenpolitischer Verantwortung. ({7}) In einer ernst gemeinten Diskussion - ich komme gleich noch einmal auf die Details zu sprechen - sollten wir hier eine klare Unterscheidung treffen. Wenn wir hier über den Kampf gegen den Terrorismus, über eine Neugestaltung des transatlantischen Verhältnisses und über die Frage der Sicherheit Europas sprechen, dann müssen wir den Menschen in unserem Land sagen: Unsere Sicherheit wird bis Mitte des Jahrhunderts - ich nehme hier den Zeitraum des Kalten Krieges, weil mir eine andere historische Bezugsgröße nicht zur Verfügung steht - nicht mehr entlang der OstWest-Achse definiert werden, wie wir es gewöhnt sind und in die unsere Generation hineingeboren wurde, sondern unsere Sicherheit wird im Mittelmeerraum und im Nahen und Mittleren Osten definiert werden, dort, wo die neue totalitäre Herausforderung entstanden ist und wo die Modernisierungsblockaden existieren. Unsere Sicherheit, die Sicherheit der Deutschen und die Sicherheit der Europäer, wird dort bestimmt werden. Wenn dem aber so ist, dann ist die Frage, welche Entscheidung der Westen auf der Grundlage eines gemeinsamen strategischen Konsenses treffen muss, von überragender Bedeutung für die zukünftige Gestaltung der Sicherheit. Das gehört meines Erachtens, neben der polizeilich-militärischen Dimension, auch in die Antwort auf das, was man Krieg gegen den Terrorismus nennt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es sind Entscheidungen getroffen worden, die leider das Gegenteil bewirkt haben. Bei der gegenwärtigen Sicherheitslage im Irak stellt sich natürlich die Frage: War die Position der Bundesregierung nicht richtig, vor diesem Schritt gewarnt zu haben, ({8}) weil die zweiten und dritten Folgen eben nicht kontrollierbar und beherrschbar sind? Ich komme mit Sorge von meiner letzten Reise zurück, von der Sie sagen: Außer Spesen nichts gewesen. So ist das halt manchmal beim Außenminister aus der Sicht eines Oppositionspolitikers. Aber ich sage Ihnen: Sehr viel gewesen außer Spesen. Zu Tschetschenien habe ich mich geäußert. Beim Irak hoffe ich darauf, dass die Vereinbarung von Brahimi umgesetzt werden kann und wir hier nicht wegrutschen in Richtung eines Failing State. Im Nahen Osten sind die Dinge nicht gerade zum Besseren entwickelt, was die Lösungsmöglichkeiten betrifft. Alles dieses sind Faktoren europäischer Sicherheit. Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Wenn hier nicht strategische Entscheidungen zwischen den transatlantischen Partnern in Richtung Herstellung eines Konsenses getroffen werden, wird diese ganze Region verstärkt in eine eher negative Entwicklung hineinrutschen. Das ist meine große Sorge. Wenn dann noch die Nukleardebatte mit Iran hinzukommt, bekommen wir hier eine zusätzliche Aufladung, die alles andere als sorgenfrei machen kann. Im Gegenteil, die Entwicklung erfüllt mich mit großer Sorge. Wenn aber all das richtig ist, dann müssen Sie doch akzeptieren - ich verstehe ja all die alten Europäer, die meinen, die Türkei werde uns überfordern, was die innere Kohärenz betrifft, aber ich kann doch diese neuen Realitäten nicht schlicht und einfach ignorieren und nicht begreifen -, dass für Europa die Entscheidung für oder gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei angesichts der zu erwartenden positiven oder negativen Reaktionen der Türkei von überragender strategischer Bedeutung ist. Ich behaupte sogar: Sie ist für den Westen von überragender strategischer Bedeutung. ({9}) Das Zweite: Wir müssen gemeinsam mit den USA - die USA müssen hier den Driver Seat einnehmen, also im Führerhaus sitzen - die Entscheidung herbeiführen und gemeinsam jede Anstrengung unternehmen, um die Zwei-Staaten-Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt durchzusetzen. Das sind für mich die beiden großen Herausforderungen, wenn wir regionale Stabilität in dieser Region tatsächlich ernst nehmen. Das Dritte ist: Ich kann nur nochmals an Teheran appellieren, zu begreifen, wie wichtig es ist, dass Teheran an den Vereinbarungen festhält und sie von A bis Z umsetzt. Man muss begreifen, dass das Schließen des Brennstoffkreislaufes eine hochgefährliche Fehlkalkulation wäre. Wenn wir an der Vereinbarung festhalten, die die Außenminister mit Teheran getroffen haben - darin liegt die Bedeutung der Erklärung von Präsident Putin in Sotschi bei dem Treffen mit Präsident Chirac und Bundeskanzler Schröder -, dann besteht die große Chance, dass wir gemeinsam mit unserem amerikanischen Partner diesen konstruktiven Weg vorangehen. Das setzt aber voraus, dass keine Fehlkalkulationen vorliegen, von denen ich meine, dass sie in dieser ohnehin schon hoch instabilen und gefährlichen Situation zu wesentlich mehr Gefahr beitragen können. ({10}) Ich habe mit großer Verwunderung manche Äußerungen gehört - das werden wir bei den Mandatsverlängerungen zu diskutieren haben -, die unser Engagement betreffen. Ich dachte immer, wir hätten darüber einen Konsens. Wir betreiben keine nationale deutsche Außenpolitik, sondern das sind unsere nationalen Beiträge. Wir sind in internationale Entscheidungen eingebunden. Wenn ich höre, es mangele an einem Gesamtkonzept Afghanistan, dann kann ich nur sagen: Dieses Gesamtkonzept Afghanistan ist auf zwei Afghanistankonferenzen definiert, in Sicherheitsratsresolutionen umgesetzt worden und bildet die Grundlage für das, was die internationale Staatengemeinschaft unter Einschluss der Bundesrepublik Deutschland und unserer Soldaten und Diplomaten tatsächlich macht. ({11}) Ich weiß aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie schwierig solche Debatten sind. Ich meine das gar nicht überheblich, sondern ernsthaft. Die Bundesregierung ist für jede Anregung sehr dankbar - aber sie muss dann bis zu Ende diskutiert werden -, wenn es notwendig ist, eine Strategie zu verändern und sich dafür im internationalen Rahmen einzusetzen. Nur, zu meinen, wegen der Schwierigkeiten sollten wir abziehen oder Spielräume weiter einengen, ist eine sehr kurzsichtige Politik. Ich habe gestern über Afghanistan im Ausschuss gesagt: Wenn ich vorausblicke, dann frage ich mich, ob wir diesen Berg von Herausforderungen bewältigen können. Blicke ich aber zurück, dann denke ich: Was haben wir nicht alles erreicht! Der Konsens hält bis auf den heutigen Tag. Die verfassungsgebende Versammlung, die Verfassungs-Loya-Jirga, hat bei allen Schwierigkeiten und Vertagungen letztendlich eine belastbare Verfassung für Afghanistan sozusagen als Institutionalisierung des Konsenses vom Petersberg erreicht. Es gibt nach wie vor die Warlords, die Zersplitterung des Landes und den Drogenanbau, der nicht nur für uns, sondern zunehmend auch für die Transitstaaten und vor allen Dingen für die afghanische Entwicklung extrem besorgniserregend ist. Diese Probleme anzugehen muss Priorität Nummer eins nach den Wahlen sein. ({12}) - Es muss doch nicht immer einer bestreiten. Herr Pflüger, ich sage doch nur: Nach dem, was ich gehört habe, werden Mandatsverlängerungen infrage gestellt. Deshalb gestatten Sie mir, dass ich hier die Gelegenheit nutze, unsere Politik darzustellen. ({13}) Ich weiß doch, Kollege Pflüger, dass wir in diesem Punkt vermutlich keinen Dissens haben. Aber es gibt welche, die das anders sehen. Deswegen gehe ich darauf, wie ich meine, in der gebotenen Sachlichkeit und Präzision ein. ({14}) - Ich beschwere mich nicht. Ich bedanke mich für die Solidarität der Opposition für diese Mandate und hoffe, dass es dabei bleibt. ({15}) Denn das ist im Interesse der eingesetzten Soldaten, Diplomaten und Entwicklungshelfer. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, dass wir unseren Verpflichtungen gerecht werden müssen. Wenn die internationale Gemeinschaft aus Afghanistan abzieht, dann wissen wir genau, was die Folge sein wird. Es wird wieder ein Schlachtfeld der Interessen im Land und der regionalen Interessen werden. Das ist übrigens eine Gefahr, die im Irak alles andere als ausgeräumt ist, wenn wir das nächste Jahr betrachten. Deswegen wird es wichtig sein, dass wir die notwendige Durchhaltefähigkeit haben. Dasselbe gilt auch für den Balkan. Wenn Fehler bei einem Einsatz gemacht worden sind, müssen diese selbstverständlich aufgearbeitet werden. Es kann auch zu Recht die Frage aufgeworfen werden, ob nicht größere Enklaven aufrechterhalten werden sollen, wenngleich von der anderen Seite die Besorgnis kommt, dass das auf einen Teilungsplan hinausläuft. Das muss man wissen. Aber ich kann nur davor warnen, davon auszugehen, man könne die „Standard vor Status“-Politik einfach beiseite wischen. Egal, wie sich die Statusfrage am Ende darstellt: Ohne die Schaffung demokratischer, ökonomischer und marktwirtschaftlicher Standards wird jede Statuslösung letztendlich keine Stabilität, sondern nur Instabilität kreieren. Das gilt nicht nur für das Land Kosovo, sondern für die gesamte Region. ({16}) Auch das muss man wissen. Deswegen meine ich, dass wir diesen Weg weitergehen müssen. Es ist ein schwieriger Weg, zumal ich meine, dass die Kosovofrage nur dann gelöst werden kann, wenn sich die Gesamtsituation ändert. Meine Erfahrung ist, dass in Bosnien die positiven Wirkungen der Fortschritte Kroatiens in Richtung Europäische Union schon heute feststellbar sind. Plötzlich wird nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt der eingefrorenen ethnischen Konfrontation diskutiert; stattdessen erfolgt eine Öffnung gegenüber der Perspektive Europa. Ich habe es selbst erlebt. Es handelt sich um einen langen Prozess. Wir reden nicht von wenigen Jahren. Das wissen Sie auch, meine Damen und Herren. Das zeigt schon ein Blick auf die ökonomischen Fakten. Der Hass, die nach wie vor nicht geschlossenen Wunden, die dort vorhanden sind, machen unseren dauerhaften Einsatz notwendig. Ich akzeptiere, dass es das Recht und vor allen Dingen auch die Pflicht der Opposition ist, die Regierung dahin gehend unter Druck zu setzen, ob Fehler gemacht wurden. Das habe auch ich als Oppositionsabgeordneter nicht anders gehandhabt. Aber ich appelliere nochmals an alle: Lassen Sie uns sauber zwischen der Innenpolitik und den außenpolitischen Konsequenzen unterscheiden. Dabei handelt es sich nicht immer um dasselbe Paar Schuhe; das können durchaus zwei unterschiedliche Paar Schuhe sein. Das ist oft der Fall und gilt auch und gerade für den Balkan. Wir stehen hier vor großen Herausforderungen und Veränderungen. Lassen Sie mich an diesem Punkt darauf eingehen. Der Kollege Schäuble wird gleich sprechen. Er ist der Ansicht, wir überheben uns mit unserer Position und meint, dass Deutschland, wenn es zu einer Änderung der Sitzverteilung im Sicherheitsrat kommt, keinen Sitz bekommen sollte. Das aber würde doch keiner verstehen, weil nach objektiven Kriterien entschieden wird. Sie fordern zu Recht einen europäischen Sitz. Ich wäre der Erste, der dafür wäre. Damit meine ich aber einen echten europäischen Sitz, der nicht so, wie das bei einem wichtigen Bündnispartner und Partner in der Europäischen Union vorgesehen ist, sozusagen im Huckepackverfahren, bei dem die Staaten rotieren, besetzt wird. Während die Rotation bei der EU-Präsidentschaft abgeschafft wird, würde sie im Sicherheitsrat eingeführt. Wenn ein europäischer Sitz geschaffen wird, dann sollte es ein echter sein. Das heißt, dass dann nicht ein Mitgliedstaat, sondern die Europäische Union im Sicherheitsrat vertreten ist. ({17}) - Sie hätten mich, wie gesagt, sofort an Ihrer Seite. Ich würde mich sogar an die Spitze stellen. Ich habe meine Integrationsüberzeugungen nicht an der Garderobe des Außenministeriums abgegeben, im Gegenteil. Aber Sie werden es nicht schaffen und das wissen Sie auch, Kollege Schäuble. Sie werden es wegen der Gründe nicht schaffen, die bei den derzeit zwei europäischen P-5-Mitgliedern zu suchen sind. Das sind nachvollziehbare Gründe, die ich nicht kritisiere. Gestatten Sie mir, die entscheidende Frage zu stellen - dabei werde ich es belassen -: Was wäre eigentlich, um auf die Ära Roosevelt zurückzukommen, wenn die große Macht auf der anderen Seite des Atlantiks ein durchbuchstabiertes Interesse an einer umfassenden Reform des multilateralen Systems artikulieren würde? Diese Diskussion darf man nicht vergessen. Am Ende unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat als nicht ständiges Mitglied haben wir doch gesehen, wie viel Zustimmung und Vertrauen die Bundesrepublik Deutschland, das wiedervereinigte Deutschland, genießt, ({18}) und zwar - das sage ich mit allem Selbstbewusstsein auch und gerade aufgrund der Politik dieser Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({19}) All die Isolationsängste - auch sie nehme ich zum Teil ernst; ein anderer Teil war der Parteipolitik geschuldet - haben sich als nicht richtig erwiesen. Deswegen kann ich nur feststellen: Wir werden dieser Politik verpflichtet bleiben. Gerade im Kampf gegen den Terror bedeutet das, dass die Menschenrechte ein essenzieller Teil unserer Verfassungswirklichkeit sind. ({20}) Die Terroristen wollen doch nichts anderes, als uns in einen Krieg der Zivilisationen und der Revolutionen zu treiben. Denn sie meinen, über einer solchen Chaosperspektive werde ihr Weizen erblühen. Ich weiß zwar nicht, wie die Lage in unserem Land aussähe, wenn wir genauso schlimme Terroranschläge zu erleiden gehabt hätten wie einige wichtige Partner im Bündnis oder Russland. Aber wir verteidigen uns und auch unsere Grundwerte. Darum geht es. Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, eine unabhängige Öffentlichkeit und der Schutz des Individuums, aber auch eine freie Marktwirtschaft sind essenzielle Bestandteile. Das prägt auch die Kopenhagener Kriterien der Europäischen Union. Die Türkei hat zwar bereits gewaltige Fortschritte gemacht und aufgeholt. Wenn sie aber erfolgreich sein will, wird sie in Zukunft noch gewaltigere Fortschritte machen müssen. Das wird ein Signal für die gesamte Region sein. Es wird auf jeden Fall weit über die Türkei hinausgehen. Das wird unsere strategische Sicherheit im 21. Jahrhundert gewährleisten. Es wird sicherlich keinen Automatismus geben. Erst wenn die Türkei europafähig ist, werden die dann Verantwortlichen auf beiden Seiten über den Beitritt entscheiden müssen. Das wird zehn bis 15 Jahre dauern. Wir müssen gerade angesichts der gemeinsamen Herausforderungen Russland auf seinem Weg Richtung Westen weiter begleiten und bestärken. Wir müssen außerdem den Nahostkonflikt lösen und müssen allen jungen Gesellschaften im Nahen Osten auf einer gemeinsamen partnerschaftlichen Grundlage eine Perspektive für eine friedliche Transformation und den Anschluss an die Moderne auf der Grundlage der großartigen Kultur des Islams eröffnen. Dafür brauchen wir Europa. Die deutsche Außenpolitik kann das nicht alleine. Deutsche Außenpolitik ist nur als Beitrag zu Europa und zum Transatlantismus denkbar. Hierfür brauchen wir den strategischen Konsens mit den USA. Das ist die Politik, die die Bundesregierung verfolgt, gründend auf unseren Werten. Das ist die Definition unserer Interessen. Meines Erachtens ist die entscheidende Herausforderung, den kommenden Generationen Sicherheit, Frieden und Stabilität zu garantieren. Dieser Politik fühlen wir uns verpflichtet. Wenn wir eines Tages dafür wieder mehr Mittel zur Verfügung haben, dann freuen wir uns; denn wir haben sie dringend nötig. Ich weiß natürlich, dass die entsprechenden Mittel heute nur sehr schwer aufzubringen sind. Ich danke Ihnen. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Wolfgang Schäuble das Wort. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vieles von dem, was der Außenminister gesagt hat, findet unsere Zustimmung. Man kann dem nur schwerlich widersprechen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass eine Reihe von Antworten, die wir gerne gehabt hätten, nicht gegeben worden sind. Um das gleich vorab zu sagen: Herr Bundesaußenminister, ich möchte gerne einmal von Ihnen wissen, ob Sie die Auffassung teilen, dass sich demnächst der Weltsicherheitsrat mit dem Iran befassen soll. Genau das ist die Frage, über die in den Vereinten Nationen, in der IAEO und im transatlantischen Verhältnis diskutiert wird. Nur eine schöne Rede zu halten, mit der man nicht aneckt und in der man diese Frage nicht beantwortet, ist im Grunde einer Haushaltsdebatte, in der die Regierung die Grundlinien ihrer Politik beschreiben soll, nicht angemessen. ({0}) Ich sage aber ausdrücklich, dass ich das, was Sie über Russland gesagt haben, im Wesentlichen teile. Wir alle teilen - das kann man nicht oft genug sagen - den Schrecken, das Entsetzen über den dort begangenen unvorstellbaren terroristischen Angriff, bei dem man Kinder und Säuglinge als Geiseln genommen und mit Sprengstoff miteinander verbunden hat. Das Maß der Abartigkeit dieser terroristischen Bedrohung wird immer unglaublicher, unvorstellbarer. Es darf angesichts einer solchen Herausforderung mit den Opfern, mit den Bedrohten und auch mit Russland nur eine uneingeschränkte Solidarität und ein uneingeschränktes Mitgefühl geben. ({1}) Das darf man auch nicht in irgendeiner Weise relativieren. Sie haben gesagt: Es ist so schön, eine politische Lösung des Tschetschenienproblems und der Probleme im Kaukasus zu fordern; aber es ist furchtbar schwer, sie zu kennen. Ich sage ausdrücklich: Ich schließe mich dieser Auffassung an. Ich habe schon oft gesagt: Auch ich wüsste nicht so genau, wie diese Probleme zu lösen sind. Es steht uns gut an, dabei gelegentlich ein Stück weit bescheiden zu sein. Dass wir für die Menschenrechte eintreten müssen, dass man dieses Eintreten mit dem Interesse an der Entwicklung und mit der Würdigung der Fortschritte Russlands - Stichwort: Zusammenarbeit mit Russland - verbinden muss, das alles ist richtig. Dennoch stellt sich die Frage, ob der deutsche Bundeskanzler zu den Wahlen in Tschetschenien sagen musste - das hat er ausweislich des Protokolls der Pressekonferenz gesagt; ich zitiere -: Sie haben uns nach den Wahlen gefragt. Soweit ich das übersehen kann, kann ich eine empfindliche Störung der Wahlen nicht feststellen. Jeder, der diese Wahlen beobachtet hat, hat Zweifel an der Seriosität und an der Verlässlichkeit dieser Wahlen. Anders ausgedrückt: Man geht davon aus, dass diese Wahlen manipuliert worden sind. Wir sind an einer engen Partnerschaft und Freundschaft mit Russland interessiert. Freundschaft muss auf Wahrheit gründen. Wenn man sich unter Freunden nicht die Wahrheit sagen kann, wem soll man dann die Wahrheit sagen? ({2}) Das hat der Bundeskanzler falsch gemacht und darüber kann man nicht hinweggehen. Herr Bundesaußenminister, an der Art der deutschen Russlandpolitik könnte man manche Fehler und Mängel der deutschen Außenpolitik insgesamt darlegen. Sie schießt eben immer ein Stück weit über das Ziel hinaus. Sie ist kurzfristig, sie ist nicht wirklich balanciert und ihr liegt keine langfristige Konzeption zugrunde. Um bei Ihnen anzufangen: Sie haben Anfang dieses Jahres vor der Münchener Sicherheitskonferenz eine Rede gehalten, in der Sie das Konzept „Wider Middle East“ vorgetragen haben. Sie hätten wie ich wissen können, dass der nächste Redner nach Ihnen der russische Verteidigungsminister ist. Ich habe nicht verstanden, dass in Ihrem Konzept „Wider Middle East“ das Wort Russland nicht vorgekommen ist. Wenn wir für die Probleme des „Wider Middle East“ eine Lösung erreichen wollen, dann muss sie Russland einbeziehen. Wenn der deutsche Außenminister dazu ein Konzept vorträgt und dabei Russland vergisst, dann sollte er im Bundestag nicht von der Einbindung Russlands in diese Bemühungen sprechen. Das passt nicht zusammen. ({3}) - Ich weiß nicht, ob Sie dabei gewesen sind, Herr Volmer. ({4}) Ich habe sehr genau zugehört. Es war eben nicht davon die Rede, dass wir Russland brauchen. Ich möchte auf den nächsten Punkt zu sprechen kommen, der mir im Verhältnis zu Russland überhaupt nicht gefällt. Ich finde, wir sind in den letzten 15 Jahren im Verhältnis zu Polen ungeheuer weit vorangekommen und wir haben große Erfolge erzielt. Das ist ein großes Glück. Es gehört zu dem, was Deutschland nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Hitler-Zeit leisten musste. Aber viele von diesen Erfolgen und Fortschritten sind in den letzten zwei Jahren durch viele gefährdet worden, diesseits und jenseits der Grenze, also auch durch Polen. Es gibt viele Aufgeregtheiten. Das alles ist wahr. ({5}) - Wir reden ja über die Politik der Bundesregierung im Rahmen einer Haushaltsdebatte. Sie sollten nicht so schnell ablenken. Gerade wenn es uns um eine enge Beziehung zu Russland und um die Einbindung Russlands geht, dann sollten Sie über eine gemeinsame europäische Politik nachdenken. Es geht nicht um eine deutsch-französische Politik, bei der die Gefahr bestehen könnte, dass sie von anderen als Spaltung Europas wahrgenommen wird. Das ist der Punkt. Deswegen habe ich Polen hier erwähnt. Der Dreiergipfel hat in polnischen Augen eben eine falsche Wirkung. Man könnte sie vermeiden. Es gibt das Weimarer Dreieck. Was spricht eigentlich dagegen - ich habe diese Frage schon oft gestellt -, die Beziehungen zu Russland auf die Basis des Weimarer Dreiecks zu stellen, sodass zum Treffen des französischen Staatspräsidenten, des russischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers der Vertreter Polens hinzukommt? Das würde manche Missverständnisse vermeiden. Wir werden eine erfolgreiche Russlandpolitik - dasselbe gilt für unsere Politik gegenüber der Ukraine und Weißrussland - nur unter Einbeziehung Polens betreiben. Dies gelingt eben nicht im Konflikt mit Polen und durch das Schüren neuen Misstrauens und neuer Verdächtigungen, ob berechtigt oder nicht. Da liegt der Fehler. Da man diesen Fehler begeht, ist die Russlandpolitik nicht durchdacht und nicht balanciert. Das kann man und das muss man ändern. ({6}) Das bringt mich gleich zum nächsten Punkt. Sie haben zu Recht gesagt: Die Anforderungen an europäische Politik und atlantische Partnerschaft werden in einer sich rasch ändernden Welt immer größer. Die Fähigkeit Europas, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben und durchzusetzen, ist in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die Politik Ihrer Regierung nicht gestärkt, sondern empfindlich geschwächt worden. Europa ist heute schwächer. Übrigens ist auch der deutsche Einfluss in Europa geringer geworden - das wird in Europa überhaupt nicht mehr bestritten -, ({7}) weil wir nicht eine Politik der Gemeinsamkeit in Europa betrieben haben, sondern weil wir eine Politik wechselnder Allianzen betrieben haben, weil es zu Spaltungen gekommen ist und weil die deutsch-französische Führung in Europa von den anderen nicht mehr als ein Dienst für Europa, sondern als ein Element der Dominanz und der Spaltung wahrgenommen wird. Das ist der falsche Weg. Das muss geändert werden. ({8}) Vor diesem Hintergrund bleibe ich bei folgender Position - das ist übrigens nicht neu; die Debatte hatten wir schon mit einer früheren Regierung -: Das Streben nach einem weiteren nationalen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat bringt Europa auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht voran, sondern wirft Europa zurück. Das geht in die falsche Richtung. Deswegen ist das altes Denken und nicht zukunftsgewandte Politik. ({9}) - Das hat mit Berlusconi gar nichts zu tun. Natürlich weiß ich - das weiß jeder -, dass noch ein ganzes Stück Weges zurückzulegen sein wird, bis die Vereinten Nationen so reformiert sein werden, dass es einen europäischen Sitz im Weltsicherheitsrat geben kann. Im Augenblick kommen wir aber mit der Politik der Bundesregierung bei der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Position nicht voran, sondern entfernen uns von gemeinsamen europäischen Positionen. Deswegen bringt uns die Politik nicht voran. Im Übrigen: Wenn Sie für einen ständigen Sitz Deutschlands im Weltsicherheitsrat sind, müssten Sie der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere Ihrer eigenen Koalition ein bisschen genauer darlegen, was das im Einzelnen bedeutet. Das passt sonst nicht zusammen. ({10}) Im Ziel sind wir uns einig. Unsere Politik muss darauf gerichtet sein - das ist für mich entscheidend -, dem Ziel, einen ständigen Sitz Europas oder einen Sitz EuroDr. Wolfgang Schäuble pas im Weltsicherheitsrat zu erreichen - ob es die Unterscheidung geben muss, ist eine andere Frage -, näher zu kommen, und nicht darauf, sich davon zu entfernen. Dass die Forderung nach einem deutschen Sitz im Weltsicherheitsrat in Europa nur neue Spaltungen, neue Rivalitäten hervorrufen würde - nicht nur in Italien; in Spanien und Portugal genauso -, war vorhersehbar. Das ist auch eingetreten. Deshalb bringt uns das nicht voran, sondern wirft uns zurück. Das ist die falsche Politik. ({11}) Sie haben ein Bekenntnis zum Multilateralismus - um auch diesen Punkt noch anzusprechen - abgelegt und davon gesprochen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika die Führungsmacht auch in einer multilateralen Weltordnung sein müssen. Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Aber wenn dies so ist, dann muss sich die Bundesregierung doch wieder und wieder fragen und fragen lassen - sie müsste auch bessere Antworten geben als bisher -, ob es wirklich glaubwürdig und überzeugend ist, zu sagen, wir treten für eine stärkere Rolle der Vereinten Nationen ein, und dann beispielsweise nach Verabschiedung der Resolution des Weltsicherheitsrats 1546 vom 8. Juni 2004 zum Irak - daran haben Sie mitgewirkt; das ist auch in Ordnung -, in der alle Mitgliedstaaten aufgefordert werden, ihre Beiträge zur Sicherheit und zur Entwicklung des Irak zu leisten, zu erklären: Wir werden uns daran aber nicht beteiligen. ({12}) - Aber natürlich! Noch nicht einmal bei der Gewährung von Schutz für die Vertreter der Mission der Vereinten Nationen im Irak! Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, musste geradezu händeringend durch die Weltgemeinschaft reisen und darum bitten, dass man nach der Ermordung von de Mello einer neuen UN-Mission im Irak die Arbeit ermöglicht. Wer für Multilateralismus eintritt, aber gleichzeitig sagt, wir beteiligen uns nicht, wir machen vielleicht Fahrlehrerausbildung in den Vereinigten Arabischen Emiraten - vielleicht bieten wir auch noch unser System für die LKWMaut als Entwicklungshilfe für den Irak an -, der wird den Multilateralismus nicht stärken. ({13}) - Ich komme noch auf den Irak zu sprechen, Herr Volmer. Halten Sie sich einen Moment zurück! Wer, wie wir, immer gesagt hat, Voraussetzung für die Entscheidung für Maßnahmen gegen den Irak sei ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der hätte dafür eintreten müssen, dass der Weltsicherheitsrat handlungsfähig ist. Der Weltsicherheitsrat ist aber durch die Uneinigkeit der Europäer und der atlantischen Partner entscheidungsunfähig gewesen. Das ist nicht Multilateralismus. ({14}) Wer die Vereinten Nationen stärken will, der muss seinen Beitrag leisten, der muss auch bereit sein, die Entscheidungen, die der Weltsicherheitsrat trifft, im Rahmen seiner Möglichkeiten umzusetzen, und darf nicht sagen: Wir sind dafür, aber wir machen nicht mit. Das ist nicht Multilateralismus, sondern das ist das Gegenteil davon. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schäuble, ich möchte Sie nicht missverstehen. Bei diesem von Ihnen angesprochenen ganz wichtigen Punkt kritisieren Sie, weil Sie eine andere Position vertreten, aus Ihrer Sicht zu Recht die Bundesregierung. Bezug nehmend auf die Umsetzung der Resolution 1546 werfen Sie uns vor, wir würden uns nicht beim Schutz der VN im Irak beteiligen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie der Meinung sind, wir sollten uns, nachdem wir ein entsprechendes Mandat des Deutschen Bundestages erhalten haben, mit Bundeswehrsoldaten im Irak daran beteiligen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unsere Position lautete immer - ich wiederhole das, was ich eben gesagt habe -: Man kann nicht zum einen wollen, dass die Vereinten Nationen eine stärkere Rolle spielen und möglichst keine unilateralen Entscheidungen getroffen werden - durch die wird die Welt nämlich nicht sicherer; darin stimmen wir überein -, zum anderen aber sagen, wie auch immer der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen entscheidet, wir jedenfalls werden uns nicht beteiligen. Wenn es darum geht, die Mission der Vereinten Nationen im Irak zu schützen, sollte kein Mitgliedsland, insbesondere kein Land, das einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat anstrebt, von vornherein sagen, man werde sich unter gar keinen Umständen daran beteiligen. Das passt nicht zusammen. Das ist in sich widersprüchlich. ({0}) So werden Sie im Übrigen, Herr Kollege Fischer, bei den Diskussionen in den Vereinigten Staaten nicht diejenigen stärken, die sich für den Weg über die Vereinten Nationen einsetzen. Es war ja die Tragik der zurückliegenden Monate und Jahre, dass denjenigen in den Vereinigten Staaten von Amerika, die für den Weg über die Vereinten Nationen gewesen sind, hinterher entgegengehalten worden ist: Ihr seht es ja, unsere europäischen Partner lassen uns am Ende doch im Stich, wir müssen es alleine machen. Wer multilaterale Entscheidungen will, muss auch bereit sein, multilaterale Verantwortung zu tragen, sonst stärkt er im Ergebnis zwingend und zwangsläufig nur die Tendenz hin zum Unilateralismus. Hier gibt es keine Alternative. ({1}) Das muss man diskutieren. Wenn man darüber nicht diskutiert, sollte man nicht den Blick der Öffentlichkeit auf ein ohnedies nicht besonders aussichtsreiches Streben nach einem ständigen Sitz Deutschlands im Weltsicherheitsrat lenken. Wer Verantwortung übernehmen will, muss auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Wer sich nicht in der Lage sieht, Verantwortung zu übernehmen, sollte nicht so viel von Multilateralismus reden, sondern gleich zugeben, dass sich andere stärker engagieren müssen; sonst verhält er sich widersprüchlich. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Schäuble, lassen Sie eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Volmer zu? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte sehr.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schäuble, wären Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Forderung nach einem ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat insbesondere von Ländern der so genannten Dritten Welt erhoben wird, und zwar aktiv und unaufgefordert zu Beginn fast jeden Gesprächs, welches man mit einem Vertreter der Dritten Welt führt? Zweitens meine Hauptfrage: Sehen Sie es genauso wie wir, dass die UNO in ihrer Resolution die Antwort auf die Frage, welchen Beitrag ein UNO-Mitgliedstaat konkret leisten soll, in die Entscheidungskompetenz jedes Mitgliedstaates gelegt hat und dass die Bundesregierung in diesem Sinne nicht nur angekündigt, sondern auch tatsächlich angefangen hat, Hilfe zu organisieren? So ist beispielsweise heute Morgen in der Obleutesitzung sehr intensiv mit unserem Botschafter im Irak darüber gesprochen worden. Wären Sie drittens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie sich weigern - obwohl Sie diese Politik der Bundesregierung, die nicht militärisch angelegt ist, kritisieren -, Ihre Alternative in einem deutlichen Satz vorzustellen? Solch ein deutlicher Satz könnte beispielsweise lauten: Ich, Dr. Wolfgang Schäuble, würde, wäre ich Außenminister, deutsche Soldaten in den Irak schicken. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Volmer, wer jemals die Charta der Vereinten Nationen gelesen hat, weiß schon, dass die letzte Entscheidung darüber, welche Beiträge die Mitgliedstaaten leisten, immer ihnen überlassen wird. Diese Frage war so überflüssig, dass sie sich von selbst beantwortet. ({0}) Unsere Position ist seit vielen Jahren dieselbe. Wir haben immer gesagt - Sie haben das diffamiert -: Wir sind dafür, dass multilaterale Entscheidungen getroffen werden. Wir sind für eine Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen, insbesondere der des Weltsicherheitsrates, der eben, so wie die Dinge liegen, die entscheidende Instanz ist. Aber wenn man für eine Stärkung des Weltsicherheitsrats ist, wenn man dafür eintritt, dass keine unilateralen Entscheidungen getroffen werden, dann muss man grundsätzlich auch bereit sein, die Konsequenzen, die sich aus Entscheidungen des Weltsicherheitsrats ergeben, mitzutragen, und darf nicht sagen: Was immer der Weltsicherheitsrat beschließt, wir werden uns nicht beteiligen. Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, dass die Politik der Bundesregierung widersprüchlich ist. Der Außenminister plädiert hier für Multilateralismus, aber die Politik der Bundesregierung hat die Kräfte, die für multilaterale Entscheidungen sind, weder in Deutschland noch in Europa noch in den Vereinigten Staaten von Amerika gestärkt. Deshalb steht diese Politik im Widerspruch zu der Erklärung des Außenministers. ({1}) In diesem Zusammenhang möchte ich eine weitere Bemerkung machen, die mir ebenfalls sehr wichtig ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen zurzeit vor Wahlen. Der Wahlkampf ist so, wie er in Amerika immer ist; Wahlkämpfe sind so. Die Prognosen, wie die Wahl ausgeht, sind unterschiedlich und wechseln. Wir haben aber in jedem Fall, egal wie die Wahl ausgeht, ein existenzielles Interesse an enger Zusammenarbeit mit der gewählten Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, in der atlantischen Partnerschaft und weltweit. ({2}) Deswegen sollten wir - insbesondere die Bundesregierung in ihrer politischen Führungsverantwortung, die sie gegenüber der Öffentlichkeit unseres Landes hat - alles daransetzen, den Menschen in unserem Lande wieder und wieder zu erklären, dass wir unabhängig vom Ausgang der Wahlen in Amerika ein eigenes Interesse an möglichst enger und verlässlicher Partnerschaft haben und dass wir auf die Vereinigten Staaten von Amerika mindestens so sehr angewiesen sind wie die Vereinigten Staaten von Amerika auf Europa. Wir sollten bei der Beeinflussung der Öffentlichkeit darauf achten - das ist sehr wichtig -, nicht eine Stimmung zu schüren, die es auch der Bundesregierung schwerer macht, mit der amerikanischen Administration zusammenzuarbeiten. Da sind in den letzten Jahren viele Fehler gemacht worden. Ich will darauf gar nicht rekurrieren, sondern dafür plädieren, dass wir für die Zukunft aus Fehlern, die gemacht worden sind, lernen, weil es im Interesse Deutschlands und Europas und auch im Interesse der Stabilität der Welt ist, dass wir eng zusammenarbeiten. Darum müssen wir die Bevölkerung für den Gedanken der Zusammenarbeit gewinnen, statt zum Ausdruck zu bringen, dass an allen Problemen der Welt immer die Amerikaner schuld seien. ({3}) Deshalb dürfen wir zum Beispiel Russland und Amerika auch nicht mit unterschiedlichen Maßstäben messen; das macht keinen Sinn. Unser Interesse ist eine enge Partnerschaft. Je mehr die Europäer zu einer gemeinsamen, geschlossenen Position fähig sind und Verantwortung übernehmen, umso mehr wird unser Wort auch in den Vereinigten Staaten von Amerika partnerschaftlich wahrgenommen. Darauf müssen wir setzen. In diesem Sinne müssen wir unsere Politik gestalten. ({4}) Das heißt ja nicht, dass man mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in allen Fragen einer Meinung sein muss. Ich bin zum Beispiel in der Frage der Mitgliedschaft der Türkei in der EU nicht der Meinung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Das scheint der einzige Punkt zu sein, in dem die Bundesregierung mit dem amerikanischen Präsidenten voll übereinstimmt. Ich sage Ihnen, warum ich anderer Meinung bin. Ihre These, dass die Rolle der Türkei für die Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens von essenzieller Bedeutung ist, ist völlig unbestritten. Das sehen die Amerikaner so und das sehen alle in Europa und auch wir so. Aber dass die Türkei große Fortschritte auf dem Weg zu einer verlässlichen Demokratie und einem stabilen demokratischen Rechtsstaat gemacht hat und immer ein verlässlicher Partner war, ist unabhängig von der Frage, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden soll oder nicht. Da stellt sich die Frage: Was ist eigentlich der Inhalt der europäischen Einigung? Wollen wir eine wirkliche politische Union Europas mit Integration oder wollen wir - wie Sie es offenbar inzwischen in Abweichung von früheren Positionen meinen - ein Europa, das möglichst groß ist und möglichst wenig politische Identifikation bietet? Wenn wir das Projekt der politischen Einigung Europas zerstören, weil sich die Menschen nicht mehr in einem Europa der politischen Einheit wiederfinden wollen, dann wird das am Ende auch nicht im Interesse der Türkei sein. Deswegen finde ich, dass es notwendig ist, jetzt mit der Türkei offen darüber zu reden, was in beiderseitigem Interesse auf Dauer die bessere Lösung ist. Herr Außenminister, Sie sind nicht ehrlich. ({5}) - Doch. - Ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom gestrigen Dienstag, dem 7. September. Dort heißt es: Er - gemeint ist der Außenminister beteuerte ein weiteres Mal, die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sei nicht gleichbedeutend mit der Entscheidung über den Beitritt selbst. ({6}) - Natürlich ist es klar. Aber es ist eben anders gemeint. ({7}) - Hören Sie doch zu! - Es heißt weiter: In jedem Falle werde eines Tages eine „europareife“ Türkei „leichter“ mit der Entscheidung umgehen können, ob ein Beitritt vollzogen werden könne oder nicht. ({8}) Wenn die Beitrittsverhandlungen jetzt so aufgenommen werden, wie Sie es fordern, und wenn die Türkei europareif ist, dann ist die Entscheidung für eine Mitgliedschaft der Türkei gefallen. Unsere Meinung ist, dass wir jetzt zu Beginn der Verhandlungen sagen sollten: Es ist nicht nur die Frage einer künftigen Europareife der Türkei, ob sie Mitglied der Europäischen Union werden kann, sondern es ist auch und zuerst die Frage, ob die Europäische Union eine Erweiterung über die Grenzen des europäischen Kontinents hinaus vertragen kann. Wenn Sie diese Frage offen lassen wollen - in der Passage, die ich vorhin zitiert habe, ist sie offen gelassen -, dann sollten Sie dies vor Beginn der Verhandlungen sagen. Wenn Sie das tun, dann übernehmen Sie die Position der CDU/CSU. Stimmen Sie dem zu! ({9}) Denn alles andere ist unrealistisch. Eine andere Vorgehensweise setzt nur das fort, was Sie, Herr Fischer, gelegentlich zu Recht kritisieren. Ich habe an dieser Stelle oft gesagt: Es ist wahr, dass wir Europäer seit dem Abschluss des Assoziierungsabkommens von 1963 - im Grunde genommen schon seit dem türkischen Antrag 1959 - bei der Türkei die Erwartung geweckt haben, dass sie Mitglied der Europäischen Union werden kann, wenn sie eines Tages die Voraussetzungen erfüllt. Meine Meinung ist - dazu gibt es auch in unseren Reihen unterschiedliche Auffassungen -, dass wir uns davon nicht einseitig verabschieden können. Wir haben Erwartungen geweckt, denen wir auch entsprechen müssen. Wenn Sie kritisieren, dass man 40 Jahre lang diese Erwartung geweckt hat, sich aber nicht auf eine Mitgliedschaft festlegen will, dann sollten Sie diesen Prozess jetzt nicht fortsetzen. Deswegen ist unsere dringende Bitte und unser Appell: Wenn man jetzt im Europäischen Rat die Entscheidung trifft, Verhandlungen aufzunehmen, dann sollte man bei der Formulierung des Mandats klar sagen, dass diese Entscheidung nicht bedeutet, dass es nur von der Entwicklung in der Türkei abhängt, ob sie Mitglied werden kann. Die Frage bleibt offen und sie muss einvernehmlich beantwortet werden. Das ist der entscheidende Punkt und nichts anderes. ({10}) Herr Bundesaußenminister, diese Position wird die Entwicklung der Türkei hin zur Demokratie, zur Stabilität und zu einem verlässlichen Partner des Westens in gar keiner Weise beschädigen. Deswegen lautet mein Appell: Hören Sie auf, so zu tun, als würde die Position der CDU/CSU in irgendeiner Weise den Kampf gegen den internationalen Terrorismus gefährden und das Anliegen für mehr Stabilität in der globalisierten Welt schwächen! ({11}) Das ist nicht wahr. Ich glaube, das Gegenteil ist richtig. Wer die politische Einigung Europas gefährdet - Sie wissen selber, dass diese Gefahr in der Überdehnung der Europäischen Union liegt -, wird die Chancen für einen erfolgreichen Kampf gegen den Terrorismus und für mehr Stabilität in der globalisierten Welt mindern. Deswegen ist es genau andersherum. Eine letzte Bemerkung will ich zu Ihrem Vorwurf machen, es gebe taktische Spielchen bei der Ratifizierung des Verfassungsvertrags. Damit können Sie nur den Vorschlag von Herrn Müntefering und der SPD gemeint haben. ({12}) Es ist offensichtlich, was mit diesem Vorschlag bezweckt werden soll. Ich bin seit langem aus, wie ich finde, guten Gründen - ich respektiere aber unterschiedliche Meinungen - gegen die Einführung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene. Kürzlich ist in einer Diskussion gesagt worden, man habe Plebiszite wegen der Erfahrungen von Weimar nicht eingeführt; man wollte mit dem Grundgesetz stabile Verhältnisse schaffen. Heute aber bestehe diese Sorge nicht mehr; es gebe stabile Verhältnisse und deswegen könne man sich plebiszitäre Elemente leisten. Jetzt aber wird die Einführung von Plebisziten damit begründet, dass die Bindekraft der demokratischen Institutionen, auch des Parlaments, schwächer werde. Deswegen brauche man plebiszitäre Elemente. Dem entgegne ich: Weil die Verhältnisse offenbar nicht mehr so stabil sind, wie man seit 1949 geglaubt hat, will man nun das machen, was man aus Gründen der Stabilität 1949 nicht gemacht hat. Das scheint mir nicht zwingend logisch zu sein. Man kann unterschiedlicher Meinung sein. Ich bin entschieden gegen solche Elemente. Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Sie mit einem Referendum zum Verfassungsvertrag zündeln, werden Sie ein Referendum über einen Beitritt der Türkei nicht verhindern können. ({13}) Darüber muss man sich im Klaren sein. Es macht doch keinen Sinn, zu sagen: Wir wollen Volksentscheide dann, wenn wir sicher sind, dass die Bevölkerungsmehrheit die Position der Bundesregierung bestätigt. Dann sollte man ehrlicherweise sagen, dass es gar nicht darum geht, dass das Volk mehr entscheiden soll, sondern darum, dass eine schwache Regierung eine zusätzliche Bestätigung braucht. Dafür sind Volksentscheide und die Verfassung zu schade. ({14}) Wenn wir dies wollen, müssen wir es ernst damit meinen. Darum geht es. Wir glauben, dass wir in einer Zeit, in der wir uns aus vielen Gründen um die Stabilität unserer demokratischen Institutionen mehr Sorgen machen müssen, als wir in solchen Debatten gelegentlich zugeben, behutsam mit der Frage umgehen sollten, ob wir eine scheinbar größere Bürgerbeteiligung wollen, die in Wahrheit gar nicht so gemeint ist, weil sie sich so nicht vollziehen kann. Denn bei einer Volksabstimmung über den EU-Verfassungsvertrag ginge es ja um die Frage, ob man lieber den jetzigen Rechtszustand der Europäischen Gemeinschaft oder in der Summe die Verbesserung des Verfassungsvertrags möchte. Diese Frage wird aber ganz sicher weder die große Mehrzahl unserer Mitbürger an die Urnen treiben, noch wird sie bei einer Abstimmung ausschlaggebend sein. Deswegen stimme ich Ihnen in diesem Punkt zu. Aber wir sollten dann darauf einwirken, dass die taktischen Mätzchen Ihres Koalitionspartners unterlassen werden. Mein Plädoyer ist: In einer Welt, in der, wie Sie es beschrieben haben - wir brauchen nicht über etwas zu streiten, worüber gar kein Streit besteht -, die Risiken größer und unberechenbarer geworden sind und die Anforderungen an die deutsche Außenpolitik und an die europäische Gemeinsamkeit größer werden, müssen wir seriös arbeiten und dürfen wir keine innenpolitischen Mätzchen machen. ({15}) Lieber Herr Kollege Fischer, Sie haben zum Schluss gesagt, Sie wünschten sich dafür mehr Mittel. Dazu will ich Ihnen sagen: Es ist schon wahr, dass wir für Ausgabensteigerungen - das zeigt die Haushaltsdebatte - keine Spielräume haben. Aber das beantwortet nicht die Frage, warum der Anteil der Etats des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung am Bundeshaushalt zusammengenommen von Jahr zu Jahr sinkt. Das heißt, es geht gar nicht um eine Erhöhung der Ausgaben, sondern um die Setzung der richtigen Prioritäten. Diese Regierung setzt die Prioritäten falsch und deswegen werden wir dem Haushalt nicht zustimmen. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Gernot Erler, SPDFraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Außenpolitik und die gesamte internationale Politik der Bundesrepublik Deutschland genießen im Augenblick weltweit ein bisher nicht da gewesenes Ansehen. ({0}) Herr Kollege Schäuble, ich bedauere es schon, dass Sie ein weiteres Mal nicht die Kraft hatten, dies auch nur annähernd zur Kenntnis zu nehmen, sondern dass Sie erneut Ihre kleinkarierten Anmerkungen zu Einzelfragen vorgetragen haben und diesem Hause und der deutschen Öffentlichkeit eine Auskunft über die großen Linien der Außen- und Sicherheitspolitik Ihrer Fraktion wieder schuldig geblieben sind. ({1}) Man muss sich schon über Ihren Mut wundern, das Thema Türkei anzusprechen. Die kürzeste Formel für die Position Ihrer Fraktion zur Türkei lautet: Mit Volker Rühe und Friedbert Pflüger für und gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei. ({2}) Das müssen Sie erst einmal in Ordnung bringen, bis Sie zu diesem Thema etwas Glaubwürdiges sagen können. ({3}) Ich habe von dem hohen Ansehen der deutschen Außenpolitik in der internationalen Politik gesprochen. Das hat seinen Grund in der konsequenten Haltung der Bundesregierung in der Irakfrage, die sich mit unserem großen und nachhaltigen Engagement in Afghanistan und vor allem auf dem Balkan verbindet. Kein Land außer den Vereinigten Staaten hat mehr Verantwortung in Afghanistan übernommen als Deutschland mit 2 250 Soldaten, unseren zwei regionalen Wiederaufbauteams und mit großen Anstrengungen für den zivilen Wiederaufbau vor Ort. Kein Land hat so viel Verantwortung in der Balkanregion übernommen wie Deutschland mit 4 600 Soldaten im Kosovo und in Bosnien-Herzegovina, mit unserer Unterstützung des Stabilitätspaktes, der SAA, also des Assoziierungsprozesses, und mit Wiederaufbaumaßnahmen in den einzelnen Ländern. Deutschland setzt sich nach wie vor ganz entschieden für den Nahostfriedensplan, niedergelegt in der Roadmap, ein. Gerade das Engagement des deutschen Außenministers Joschka Fischer in dieser Frage findet weltweit außerordentlich große Anerkennung. Dies alles sind die Gründe für das gestiegene Ansehen Deutschlands in der internationalen Politik. ({4}) Sichtbar geworden ist dieses gestiegene Ansehen auch an zwei so nicht erwarteten Einladungen an den Bundeskanzler. Er wurde eingeladen, an der 60-JahrFeier des D-Day in der Normandie und an dem Gedenken des Aufstandes von Warschau teilzunehmen und dort zu sprechen. Ich muss für meine Fraktion sagen: Der deutsche Bundeskanzler hat diese beiden Einladungen in überzeugender Weise genutzt und zu beiden Anlässen kluge und einfühlsame Worte gefunden, denen weltweit hoher Respekt gezollt wurde. ({5}) Ich möchte ihm ausdrücklich auch im Namen der Koalition für das danken, was er dort getan hat. Die letzten Monate waren auch von einer anderen Herausforderung für die Weltöffentlichkeit geprägt, nämlich von der menschlichen Tragödie in Darfur. Auch hier hat es ein ungewöhnlich intensives Engagement der deutschen Politik durch den Bundesaußenminister und die Staatsministerin Frau Müller sowie durch die Entwicklungsministerin Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul gegeben. Der Letzteren möchte ich herzlich für die Lösung der nicht einfachen Aufgabe danken, anlässlich des hundertjährigen Gedenkens des Hereroaufstands die richtigen Worte vor Ort zu finden. Ihr gilt dafür unser Dank und unsere Anerkennung. ({6}) Herr Kollege Schäuble, nur weil es dieses internationale Ansehen der deutschen Politik gibt, ist es realistisch, sich im Augenblick ernsthaft um eine ständige Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat zu bemühen. Das sollte eigentlich auch Ihre Unterstützung finden. Sie müssen einmal der deutschen Öffentlichkeit erklären, welche Position Sie eigentlich vertreten. Auch Sie wissen, dass sich der Sicherheitsrat in einem Reformprozess befindet. Das Wahrscheinlichste wird sein, dass die Zahl der Mitglieder auf 24 oder 25 festgelegt wird. Wollen Sie dann ernsthaft sagen, dass es für Europa ausreicht, einen einzigen Sitz unter 25 zu haben? Das kann nicht Ihre Position sein. Bei einer Erweiterung ist es in der Tat ein internationaler Wunsch, dass Deutschland auch für die Inhalte der eigenen Politik mehr Verantwortung in den Vereinten Nationen übernehmen soll. Es ist völlig unverständlich, dass das nicht Ihre Unterstützung findet. ({7}) Wir haben Fortschritte erzielt - diese tragen auch zum Ansehen der deutschen Politik bei - und konnten unsere inhaltlichen Vorstellungen von Politik in der EU voranbringen. Ich rede hier vor allen Dingen von dem großen Erfolg einer gemeinsamen EU-Strategie unter dem Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“, in der wir viele unserer inhaltlichen Überzeugungen mit dem Primat von präventiver Politik, mit dem Primat von vorausschauender Friedenspolitik wiederfinden. Wir werden uns weiter mit Zustimmung vieler anderer Länder dafür einsetzen, dass sich die internationale Politik auf starke Weltorganisationen, insbesondere auf eine starke UN, stützt und sich auf die Geltung und Verteidigung des internationalen Rechts konzentriert. Dabei geht es um die Abwehr von Gefahren und um das Festhalten an internationalen Verträgen und an internationaler Vertragspolitik und natürlich auch um die konkrete Lösung von gefährlichen regionalen Konflikten. Damit komme ich zu den aktuellen Ereignissen in der Russischen Föderation und in Beslan. Die russische Gesellschaft hat in der Tat in den letzten Tagen eine Eruption von Gewalt erlebt und eine bisher noch nicht da gewesene Serie von brutalsten Anschlägen ertragen müssen. Innerhalb von einer Woche wurden zwei Flugzeuge zum Absturz gebracht, dabei gab es 90 Tote. Bei einem Selbstmordattentat mitten in Moskau wurden 11 Menschen getötet. Das Grauen von Beslan hat mindestens 335 Tote gefordert, davon sind mehr als die Hälfte Kinder. Es ist kein Zufall, dass sich diese Serie von Attentaten um den Tag der tschetschenischen Präsidentschaftswahl gruppiert hat. Die russische Gesellschaft steht unter Schock und ist traumatisiert. Es ist dort ein Gefühl von Verlassensein verbreitet. Für uns besteht jetzt das Wichtigste darin, für die betroffenen Menschen vor Ort eine Demonstration der tätigen und sichtbaren Unterstützung und Solidarität auf die Beine zu stellen. Dazu sind jede Form von Hilfe, jede medizinische und psychologische Unterstützung und menschliche Kontakte notwendig. Das Gefährlichste und Falscheste wäre jetzt eine Einigelung Russlands als Reaktion auf diesen Schock. Wir haben die Absage des Deutschlandbesuchs des russischen Präsidenten mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Wir haben in dieser Lage aber auch Verständnis dafür. Wir werden jedoch die Chance nutzen, die sich in den nächsten zwei Tagen mit dem 4. Petersburger Dialog in Hamburg bietet, um mit unseren Partnern sowie unseren Kolleginnen und Kollegen aus Russland intensive Gespräche zu führen. Jeder von uns wird in den nächsten Tagen und auch in den nächsten Wochen und Monaten nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit ausgestreckter Hand in diese Gespräche gehen. Die richtige Form, auf diese Situation zu reagieren, ist die, dass wir versuchen, gemeinsame und richtige Antworten in dieser bedrohlichen Situation zu finden. Ausgangspunkt dabei müssen unsere gemeinsamen Sorgen sein, die in diesen Tagen zunehmend auch in der russischen Gesellschaft formuliert werden. Wir müssen darüber sprechen, wie realistisch die bisherigen Erfolgsmeldungen der russischen Regierung in Sachen Lösung des Konflikts, die so genannte Tschetschenisierung des Konflikts, gewesen sind. Wir brauchen in Wirklichkeit eine ehrliche Bestandsaufnahme als Ausgangspunkt für alle weitere Zusammenarbeit in diesem Feld. Es muss geklärt werden, was eine politische Lösung, zu der sich auch der russische Präsident wiederholt bekannt hat, eigentlich bedeutet. Natürlich kann das nicht heißen, Verhandlungen mit feigen Kindermördern zu führen. Es gibt aber andere Elemente, die man erörtern muss, ({8}) zum Beispiel warum die Basis dieser gewaltbereiten Terroristen nicht kleiner, sondern offensichtlich größer wird, immer wieder nachwächst, und welche Rolle dabei die anhaltende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die Drangsalierung der Zivilbevölkerung in Tschetschenien spielt, teilweise durchgeführt - das muss man leider sagen - durch korrupte Teile der russischen Sicherheitskräfte, aber auch durch diese Milizen des Herrn Kadyrow, die so genannten Kadyrowsy, ({9}) die illegal gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Weiterhin ist zu klären, welche Rolle bei der politischen Lösung eine glaubwürdige ökonomische und soziale Perspektive für die tschetschenische Bevölkerung und die ganze Region des Nordkaukasus spielt. Es war Präsident Putin selber, der sich im Mai bei einer Reise in die Region davon überzeugen konnte, dass die Milliarden Rubel, die dort investiert werden, offensichtlich gar nicht dort ankommen, wo sie hin sollen. Das trägt zu dieser Hoffnungslosigkeit vor Ort bei. Diese Verbindung von fehlender Perspektive und Menschenrechtsverletzungen rechtfertigt keine Form von Gewalt. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass sie womöglich für dieses Nachwachsen der Gewaltbereitschaft mit Verantwortung trägt. Ingesamt sind wir davon überzeugt: Unser Nachbar und Partner Russland braucht jetzt viel Kraft, um die furchtbaren Prüfungen zu bestehen und um klug und wirksam zu reagieren und sich nicht in Hass- und Rachegefühlen zu verlieren. Wir sind bereit, dabei Partner zu sein. Wir sind aber auch überzeugt, dass nur eine offene Gesellschaft die Kraft, die dort benötigt wird, aufbringen kann, eine Gesellschaft, die eine transparente Regierungspolitik öffentlich diskutiert. Diese Kraft, die benötigt wird, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden, kann nur von einer funktionierenden Zivilgesellschaft aufgebracht werden. ({10}) In diesem Sinne sind wir bereit, in dieser Situation Partner von Russland zu sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mit dem ersten Teil meines Beitrages an die Worte des Kollegen Erler anknüpfen. Herr Erler, ich habe Ihnen zugehört und stimme Ihnen zu. Ich war mir aber sehr bewusst, dass diese Differenziertheit, dieser moralische Kompass beim deutschen Bundeskanzler nicht so sehr vorhanden war, als er sich zu den Wahlvorgängen in Tschetschenien geäußert hat. Das muss mit aller Klarheit gesagt werden. ({0}) Trotz der großen Entfernung ist uns die Differenziertheit, die ethnische Problematik, die historische Problematik im Kaukasus - für manchen auch aus den Geschichtsbüchern - völlig präsent. Aber wir haben uns nicht vorstellen können, dass die sich langsam öffnende russische Führung und die russischen Eliten, die eigentlich auf dem Weg waren, sich - jedenfalls zum Teil von ihrem alten imperialen Größendenken zu verabschieden, immer wieder eindimensional reagiert haben. Immer wieder wurde die Zentralmacht durch Terrorismus herausgefordert. Immer wieder erfolgte die Anwendung militärischer Gewalt. Es gab überhaupt keine multiple Annäherung an Konfliktlösungen. Natürlich hat der Bundeskanzler Recht, dass man mit diesen Terroristen nicht verhandeln kann. Aber jedem, der - auch im befreundeten Russland - politische Führungsverantwortung hat, muss klar sein, dass solche Krisen Inkubationszeiten haben und schon vorher Warnsignale aussenden. Man hätte sich rechtzeitig um ein Netzwerk bemühen müssen, das einem vielleicht Verhandlungssituationen gestattet hätte. Wir müssen Russland unsere ausgestreckte Hand zeigen. Darüber gibt es keinen Streit. Aber das offene Wort darf deshalb nicht unter den Tisch fallen. Wir wollen die Kräfte in Russland stärken - dafür gibt es im Bundestag eine deutliche Mehrheit -, die sich international orientieren und öffnen wollen. Dazu gibt es überhaupt keine Alternative. Es gibt, wie der Bundesaußenminister gesagt hat, auch im „wider middle east“ keine Konfliktlösung ohne Russland. Aber Russland wird nur dann zu einem weltweiten Beitrag fähig sein, wenn es sich öffnet, sich Transparenz gibt, nicht nur nach einem innenpolitischen Reaktionsmuster verfährt und keine selektiv motivierte politische Justiz hat. Chodorkowski ist doch nicht der einzige Oligarch, der gegen Gesetze verstoßen hat. Dort kommt es zu einem völligen Gleichschalten des russischen Fernsehens: Der eine Kanal wird in einen seichten Kanal umgewandelt, der andere mit Geldern, die aus Energiereserven stammen, mal eben aufgekauft. Neulich schrieb ein Journalist, gegen Realpolitik wolle man ja nicht wettern. Ich wäre der Letzte, der das täte; denn ich weiß, was außenpolitisch notwendig ist. Aber die deutsche Bundesregierung dürfte schon ein bisschen klarer ihren moralischen Kompass zeigen. Das will ich hier doch sagen. ({1}) Ein völlig unbestrittener Punkt, den der Bundesaußenminister angesprochen hat, ist das transatlantische Bündnis. In dieser Hinsicht braucht die Fraktion der FDP gar keine Hinweise. Für uns gehört es zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und das ist immer so gewesen. Aber dann muss Deutschland in Europa Führungsverantwortung übernehmen und darf sich nicht neben oder hinter Frankreich verstecken. ({2}) Seit dem Irakkrieg gibt es einen Verlust der politischen Führungsfähigkeit Deutschlands. Früher war jeder deutsche Bundeskanzler fähig, willens und in der Lage, das transatlantische Bündnis zu wahren, Frankreich möglichst nah dabei zu halten und in Europa zusammen mit Frankreich die Motorfunktion zu übernehmen. Das ist nicht mehr in ausreichendem Maße der Fall. Aber gerade Deutschland ist auf eine funktionierende und handlungsfähige Europäische Union und auf Amerika als Bündnispartner angewiesen. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Wenn man einen Sitz im Sicherheitsrat anstrebt, muss man wissen, dass er reichlich unbequem ist und dass man dieser Führungsverantwortung auch gerecht werden muss. Die Diskussion über einen solchen Sitz reicht nicht aus; man muss dann auch dafür sorgen, dass man über die politischen Führungsfähigkeiten und vor allem über die militärisch-strategischen Fähigkeiten verfügt. Wir sind kein „Enfant chérie“ des Kalten Krieges mehr. Wir können in Situationen kommen, in denen wir mit anderen zusammen sehr hart reagieren müssen. Dann müssen wir auch gemeinsame Risiken tragen. ({3}) Aber auf vielen Feldern sind wir, was unsere internationale Reaktionsfähigkeit betrifft, schon heute praktisch am Ende. Ich habe mich neulich sehr von einer Mitteilung des Bundesverteidigungsministers überraschen lassen, in der er sich spielerisch über einen militärischen Einsatz in Afrika äußerte, während wir bisher - meiner Überzeugung nach zu Recht - dauernd die Erklärungen der Bundesregierung gehört haben, dass wir bezüglich unserer Wehrstruktur und unserer Streitkräftesituation überhaupt kein entsprechendes Volumen mehr haben. Schon bei den bisherigen Einsätzen sind wir an Grenzen angelangt; darauf will ich jetzt einmal kommen. Wir, meine Fraktion, die FDP, haben den meisten Auslandseinsätzen zugestimmt. Wir wissen, dass wir gegenwärtig gar keine Alternative haben, etwa auf dem Balkan. Aber wir dürfen doch einmal legitimerweise, ohne in den kleinkarierten innenpolitischen Schlagabtausch zu kommen, nachfragen, was denn das bisherige politische Ergebnis des Einsatzes deutscher Soldaten ist. Denn im Grunde genommen sind wir an einem Punkt angelangt, an dem Soldaten als Politikersatz in Regionen entsandt worden sind, ohne dass durchschlagende politische Konzepte erkennbar sind, die dort zu politischen Lösungen führen. ({4}) Das habe ich jetzt einmal zitiert, das sagt Ihnen und der Bundesregierung Christoph Bertram von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“. Sie haben doch selbst alle gemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch aus den Regierungsfraktionen: Es hat ein kleiner Funke genügt und im Kosovo entzündete sich innerhalb weniger Stunden wieder der Hass, der diese Region seit zig Jahrzehnten prägt. Ich will jetzt nicht über die militärische Führung reden; man muss dem genauer nachgehen, was dort vielleicht an strategischen Fehlern gemacht worden ist. Die Kernfrage ist, ob denn während der Zeit der Stationierung von Militär die politischen Lösungsansätze mit Kraft weiterbetrieben worden sind. Der Bundesverteidigungsminister hat gestern, zum ersten Mal wohl, gesagt: Na ja, „Standard vor Status“ - das wird so nicht mehr zu halten sein. Und er hat dargelegt, dass es doch eigentlich ohne Ergebnis ist, wenn man mit hohem Milliardeneinsatz Dörfer wieder aufbaut - Eurozusagen pro Haus -, aber nur eine ältere Bevölkerung einzieht und man nur kleine Enklaven schützt, ohne dass sich dort mentalitätsmäßig etwas bewegt. ({5}) Das hinterfrage ich auf Dauer und da interessiert mich bei der Verlängerung von Mandaten schon, wo denn politisch etwas bewerkstelligt werden könnte. ({6}) Herr Bundesaußenminister, Stichwort Afghanistan; ich wiederhole meine Fragestellung an Sie. Kunduz ist bisher für mich, meine Fraktion, meine Kollegen, weiter eine Stecknadel im Heuhaufen. Es ist nicht die Vielzahl von Nationen mit Provincial Reconstruction Teams und der Abdeckung und der Sicherung hinzugekommen, wie es damals erklärt worden ist. ({7}) Sie haben eine Zellteilung gemacht, gehen jetzt noch nach Faizabad. Aber andere sind nicht dabei. ({8}) Ich meine ja nicht, dass wir jetzt leichtfertigerweise sagen sollten: Wir führen das nicht weiter. Aber ich erlaube mir doch die Frage, was Sie denn am Ausgang eines solchen Engagements sehen, wenn andere nicht dazukommen. Die Bundesregierung hat am Anfang vorgetragen, wer bei Kunduz dazukommt. Das stimmt bis heute nicht. Afghanistan ist ein Riesenland, und wir haben in der Fläche nicht ein Mindestmaß an Durchsetzung von Staatsautorität. Sie sind der Außenminister, Herr Fischer. Wenn ich es wäre, würde ich hierher treten und dazu etwas erklären. ({9}) Sie haben damals die Erklärung abgegeben und ein breites Spektrum von Nationen genannt, das so jetzt nicht mehr zutrifft. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir an der Grenze angekommen sind, was die Verteilung von Soldaten anbetrifft, und dass wir mehr gegenwärtig nicht leisten können. Wenn wir von einem Parlamentsheer ausgehen, hat dieser Bundestag einen Anspruch darauf, dass er bei Mandatsverlängerung immer nicht nur ausdrücklich die neuen Kontingente genannt bekommt, die neue Verteilung, die neue Zahl, die neue Führung, sondern dass auch eine klare Unterrichtung stattfindet, was man damit politisch und in welchem Zeitabschnitt zu erreichen gedenkt. ({10}) Das steht aus. Sie sind in dem Bereich gegenwärtig politisch nur sehr bescheiden auskunftsfähig. In einem weiteren Punkt haben wir keine Kritik an der Außenpolitik, aber doch ernsthafte Nachfragen: Wie geht es, auch mit der Beteiligung der Europäischen Union, weiter in dem Quartett bezüglich Israel/ Palästina? Sie, Herr Bundesaußenminister, haben sich dabei immer besonders engagiert; das will ich gar nicht bestreiten. Aber wahr ist, dass wir in dieser Region immer noch einen Status haben, der für die Menschen unerträglich ist. ({11}) Wir hatten damals vorgeschlagen, einen ähnlichen Prozess in die Wege zu leiten, wie die KSZE bzw. der Helsinki-Prozess es für Europa gewesen ist. Ich kann mich noch sehr genau an Ihre Miene erinnern: Das war Ihnen zu leicht. Ich habe der Sicherheitskonferenz in München beigewohnt und hörte dann zu meinem Erstaunen einen längeren Vortrag, der diesen gedanklichen Ansatz hatte. Haben Sie ihn auf der internationalen Bühne weiterverfolgt? Ist daraus etwas geworden? Was ist aus den politischen Ansätzen des Quartetts hinsichtlich Israel und Palästina geworden? Wird dort noch ein diplomatischer Druck auf beide Seiten ausgeübt? Begnügt man sich jetzt mit dem Abzug aus dem Gaza-Streifen? Wie sieht man am Ende die Siedlungspolitik, die auch einer Beschlusslage der Vereinten Nationen unterliegt? Wird das offen ausgetauscht? Glauben Sie, mit einem solchen deutschen Beitrag in der internationalen Arrondierung dort etwas mit bewerkstelligen zu können? Haben Sie die Hoffnung aufgegeben oder sehen Sie neue Perspektiven? Das alles interessiert ein Parlament; das ist kein innenpolitischer Schlagabtausch. Wir haben keine Meinungsunterschiede darüber, dass Deutschland einen Beitrag gegen die Unebenheiten in der Welt leisten muss. Ihre Bescheidenheit, dass Sie sich mit dem gegenwärtigen Status zufrieden geben, unterscheidet Sie dann doch von uns. ({12}) Ich würde mich als Bundeskanzler nicht damit begnügen, hier zu erklären, dass wir unsere Beiträge an die Vereinten Nationen zahlen, dass wir unsere Soldaten entsenden, was wir selbst bezahlen, und dass wir in der Erfüllung internationaler Pflichten sehr korrekt sind. Nein, die deutsche Außenpolitik muss auch außenpolitische Ziele haben. Die strategischen Entwürfe müssen eine Annäherung an diese Ziele begründen. Deshalb war mir das, was Sie ausgedrückt haben, zu bescheiden. Ihren Problemhorizont bezogen auf „wider middle east“ habe ich auch. ({13}) Wir beurteilen auch die Lage in Russland nicht unterschiedlich. Dass wir Realpolitiker sind und dass wir das im Laufe der deutschen Geschichte mühsam lernen mussten, unterscheidet uns nicht. Die Bescheidenheit Ihrer Auskünfte über politische Lösungen der deutschen Außenpolitik überrascht mich aber doch. Wir sind eine der großen Volkswirtschaften der Welt und haben ein stabiles demokratisches Parlament. Wenn die Regierung Mandate verlängert haben will, mit denen wir deutsche Soldaten entsenden, dann muss sie uns schon mehr sagen. Das kann kein Politikersatz sein. ({14}) Zum Abschluss verknüpfe ich meine Ausführungen noch einmal mit dem Punkt, über den man sich streitig unterhalten kann, ob man nämlich im Sicherheitsrat einen Sitz für die Europäische Union oder einen Sitz für Deutschland anstrebt. Wir wissen auch, dass die Charta geändert werden müsste, dass bisher nur Staaten Mitglied im Sicherheitsrat sein können und dass es auch dort Varianten gibt. Mich stört auch nicht, dass unsere italienischen Nachbarn sagen, dass es nicht so gut wäre, wenn wir einen Sitz anstreben würden. Wenn Deutschland einen Sitz anstrebt, dann muss es sich in seiner Außenund Sicherheitspolitik auch die entsprechende Struktur und den entsprechenden Gestaltungswillen geben und dies durch Führungsverantwortung innerhalb der Gesellschaft auch vermitteln. Wenn es das nicht tut, dann nutzt die Diskussion über einen Sitz allein nichts. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion, das Wort.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe wirklich den Eindruck, dass wir ganz enorm aneinander vorbeireden, dass die einzelnen Debattenredner der Opposition hier überhaupt nicht zugehört haben, was Außenminister Fischer gesagt hat, und dass sie auch gar nicht begreifen, welche enormen Beiträge der Deutschen es zur Bildung einer europäischen Außenpolitik gegeben hat und welche Beiträge im internationalen Rahmen geleistet worden sind. ({0}) Kollege Gerhardt, wenn Sie in Bezug auf den Kosovo von Soldaten als Politikersatz reden, dann ist das nun wahrlich zu kurz gesprungen. Wenn Sie von der Bescheidenheit der deutschen Beiträge zur internationalen Politik reden, dann blenden Sie damit aus, was geschehen ist. ({1}) Der Herr Kollege Erler hat vorhin in einer ganz kleinen Passage seiner Rede darauf hingewiesen, welche Veränderungen es auf der europäischen Bühne in den außenpolitischen Strategien seit 1999 gegeben hat, nachdem wir begriffen hatten, dass auch auf europäischem Boden noch Konflikte entstehen können und dass die Europäer in ihrem näheren Umfeld, aber natürlich auch international Beiträge leisten müssen. Das gipfelt nicht nur in der europäischen Sicherheitstrategie, die einen präventiven Ansatz hat, sondern auch in der Herausbildung der zivilen und militärischen Kapazitäten zur Krisenbewältigung. Diese reichen als Beiträge für die UNO. Mit dem Zentrum für internationale Friedenseinsätze zum Beispiel haben wir entscheidende Beiträge zur Ausbildung solcher Kapazitäten auf internationaler Ebene geleistet. Es ist das ganz zentrale Verdienst der Bundesregierung, dass nicht nur die militärische Seite betrachtet worden ist, sondern auch der ganze breite Kontext der zivilen Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung angewendet worden ist. Werfen wir doch einmal einen Blick auf den Balkan. Gerade auf dem Balkan ist diese Politik trotz aller Probleme, die in den letzten Wochen im Zusammenhang mit dem Kosovo angesprochen worden sind, enorm erfolgreich gewesen. Wir haben nämlich den Ländern Südosteuropas eine belastbare Perspektive gegeben, wonach sie sich bei Demokratisierung, bei regionaler Zusammenarbeit und bei der Einlösung gewisser Standards in die EU und in die NATO integrieren können. Das hat seine Wirkung gezeigt. Denken Sie an Slowenien und an Kroatien, das jetzt Verhandlungen über einen EU-Beitritt beginnt. Denken Sie auch an die anderen Länder, die sich in dieser Hinsicht auf den Weg gemacht haben; mal mehr, mal weniger erfolgreich. Dazu gehört ebenso der Stabilitätspakt für Südosteuropa. Dieser Stabilitätspakt ist ein deutsches Kind. ({2}) Dieser deutsche Vorschlag wurde wenige Tage nach dem Kosovo-Krieg auf den Tisch gelegt. Er ist jetzt fünf Jahre alt. Ich glaube, die Erfolge, die damit erreicht worden sind, darf man in keiner Weise unterschätzen. ({3}) Ich sage auch, dass die konkrete Integrationsperspektive, die wir diesen Ländern in Thessaloniki signalisiert haben, ein ausschlaggebendes Moment ist. Ich komme zu einem anderen Thema, das Kollege Gloser noch vertiefen wird. Die Kritik an dem, was Außenminister Fischer in Bezug auf die Türkei und damit auf andere Konfliktfelder, zum Beispiel im Nahen Osten, unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten vorgetragen hat, sollten Sie sich noch einmal überlegen. Auch hier haben wir im Hinblick auf die regionale Befriedung eine Erweiterungsperspektive unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten eröffnet. Ich glaube, wir müssen uns alle erneut zusammensetzen und darüber noch einmal nachdenken. Ich will mich jetzt der militärischen Sprache bedienen: Ruhig, aber nicht stabil - so möchte ich es ausdrücken - ist die Lage insgesamt auf dem Balkan, nachdem im Kosovo die Pogrome beendet sind. Aber wir sind noch lange nicht über den Berg. Wir müssen noch einen Haufen Probleme anpacken. Ein ganz wichtiges Problem, das wir lösen müssen, ist das Problem Kosovo. Mir geht es nicht um den KFOREinsatz. Darüber werden wir anschließend noch debattieren. Dazu werden wir heute noch die gesetzlichen Grundlagen beschließen, die notwendig sind, um unsere Kontingente der KFOR adäquat auszurüsten. Darüber haben wir alle miteinander diskutiert. Vielmehr geht es mir um die Frage: Wie lösen wir das Kosovo-Problem angesichts ganz unterschiedlicher Probleme in der Region - Serbien ist ganz entschieden für einen Verbleib des Kosovo - und angesichts der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates? Die FDP hat eine Europäisierung in Form eines europäischen Treuhandgebietes vorgeschlagen: also UN raus und EU rein. Aber das reicht nicht. Ich habe bedauert, Kollege Stinner, dass Sie damals im Ausschuss nicht bereit waren, Ihren Antrag zurückzustellen, damit wir ihn noch einmal gemeinsam beraten können. Aber es wird wahrscheinlich ein Stückchen helfen, wenn wir uns den Bericht des Sonderbeauftragen des UN-Generalsekretärs, Kai Eide, ansehen. Dort sind unterhalb der Schwelle der Resolution 1244 jede Menge sehr positive und wichtige Vorschläge gemacht, um den Konflikt vor Ort zu beeinflussen. Der Konflikt ist nicht nur aufgrund der ethnischen Probleme eskaliert, sondern auch deshalb, weil sich UNMIK und die provisorische Regierung gegenseitig enorme Vorwürfe gemacht haben. Die einen haben gesagt: Ihr tretet auf wie die Kolonialherren. Bei den anderen hieß es: Ihr könnt es nicht. Beides stimmt natürlich nicht ganz, aber Kai Eide hat darauf hingewiesen, dass gerade bei den Strukturen von UNMIK ein Bedarf besteht und dass wir an die provisorische Regierung mehr Verantwortung übergeben müssen, als das bisher gelungen ist. Umgekehrt übernimmt sie damit mehr Verantwortung für die Umsetzung der Gesetzgebung, die die Statusregelungen betrifft. Das hilft uns aber alles nicht, wenn wir nicht tatsächlich eine Statusperspektive aussprechen. ({4}) Die Mehrheit der Bevölkerung im Kosovo will Unabhängigkeit, Unabhängigkeit und noch mal Unabhängigkeit. Bisher gibt es keine klare Aussage darüber, ob am Ende des Weges die Unabhängigkeit steht, sondern es steht Erwartung gegen Erwartung. Zunächst sollen die Standards erfüllt werden, im Jahr 2005 wird die Erfüllung der Standards überprüft und erst dann soll der Prozess beginnen. Ich war erst kürzlich im Kosovo und kann Ihnen sagen: Die albanischen Kosovaren erwarten im Jahr 2005 die Unabhängigkeit. Natürlich ist diese schnelle Entwicklung illusorisch, weil es in der Region noch eine ganze Menge anderer Probleme gibt, die sich auch wechselseitig beeinflussen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stinner?

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn es nicht auf meine Redezeit angerechnet wird, ja.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, vielen Dank. Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass die Vorschläge im Eide-Bericht sehr nahe in die Richtung gehen, die wir vorgeschlagen haben, und sind Sie bereit, uns zuzugestehen, dass Herr Eide in seinem Bericht die Position des Bundesaußenministers, die dieser heute wieder vertreten hat, expressis verbis ablehnt und ausdrücklich sagt, dass die formelhafte Wiederholung von „Standards vor Status“ nicht mehr adäquat ist?

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Stinner, Sie haben Recht und Sie haben auch nicht Recht, weil sich Kai Eide peinlichst an eine Lösung gemäß der UNO-Resolution 1244 hält. Er regt nicht an, jetzt schon den Status auszusprechen. Er regt an, auf einer unteren Schwelle Gespräche zu führen, zum Beispiel mit den Russen und mit den Serben. Ich denke, was er sagt, ist richtig. Außenminister Fischer hat davon gesprochen - obwohl ich ihm, wenn man den Satz einzeln betrachtet, nicht beistimmen würde -, dass der Grundsatz „Standards vor Status“ uneingeschränkt gelten muss. Aber es wird ja auch nicht so sein, dass wir über den Status entscheiden, ohne dass bestimmte Standards erfüllt sind. ({0}) Das haben jetzt klugerweise endlich, obwohl sie vorher etwas anderes gesagt haben, auch die Kollegen Schmidt und Struck gesagt. Es läuft doch auf eine Parallelisierung der Vorgänge hinaus. Man muss signalisieren - das haben einige auch schon getan -, dass es nicht beim Status quo ante und auch nicht beim Status quo bleiben wird. Es wird auch kein europäisches Treuhandgebiet bleiben, sondern am Ende wird - das ist meine Meinung, weil es gar nicht anders geht - die kosovarische Unabhängigkeit, die Souveränität stehen. Ein solch souveräner Staat wird dann in die europäischen Strukturen einUta Zapf gegliedert werden; das ist auch in unserem europäischen Interesse, Herr Stinner. Ich glaube, dass Ihr Antrag diesem Bedürfnis nicht ganz gerecht wird. Aber ich nehme an, dass wir weiter darüber diskutieren werden und vielleicht auch parlamentarisch zu einer Lösung kommen. ({1}) Ich möchte in den zwei Minuten Redezeit, die mir bleiben, noch auf ein paar Probleme eingehen, die auch mit der Übergabe von mehr Verantwortung zu tun haben. Ein wichtiges Problem muss sehr schnell angegangen werden, das Problem der wirtschaftlichen Entwicklung im Kosovo. Armut und zurückgehendes Wachstum im Kosovo haben natürlich zur Frustration und zu den Ausbrüchen beigetragen. Die Arbeitslosigkeit ist im letzten Jahr um 10 Prozent gestiegen. Bei den 25-Jährigen liegt die Arbeitslosigkeit bei 71 Prozent und mehr als 50 Prozent der Arbeitslosen sind schlecht ausgebildet oder haben keine Ausbildung. Natürlich muss auch das Verhältnis zwischen der UNMIK-Verwaltung und der provisorischen Regierung schnell verbessert werden, damit die merkwürdigen gegenseitigen Schuldweisungen aufhören. Das heißt, es ist mehr Koordination gefordert. Hier könnte die Europäische Union sehr schnell eine Rolle übernehmen. Herr Preuß, der Rugova berät, hat dazu sehr weise Vorschläge gemacht. Im Übrigen ist am 1. September ein Büro eröffnet worden, mit dem die Europäische Union endlich besser präsent ist. Ich glaube, dass Pillar IV jetzt schon ganz in die europäische Verantwortung übergehen könnte. Es wäre eine weise Entscheidung, wenn der wirtschaftliche Aufbau nicht nur von der Europäischen Union finanziert, sondern auch verwaltungsmäßig verantwortet würde. ({2}) Wir müssen also von der UNMIK weg. Das können wir ganz schnell machen. Lassen Sie mich zuletzt auf die gesamten Probleme in der Region eingehen. Ich mache mir große Sorgen über das jetzt von der albanischen wie der mazedonischen Opposition angestiftete Referendum in Mazedonien. Dort sind 180 000 Unterschriften gesammelt worden. Wenn dieses Referendum Erfolg hätte, dann würde es ein schönes Beispiel von gelungener Politik sehr in Gefahr bringen, weil dann das Ohrid-Abkommen nicht mehr so umgesetzt werden könnte, wie es beschlossen worden ist. Dann würden in diesem Bereich Konflikte aufbrechen. Diese Konflikte würden nicht ohne Auswirkung auf den Rest der Region bleiben. Lassen Sie uns alle daran mitwirken, dass wir dort, wo es noch Schwierigkeiten gibt, als Deutsche, Europäer und Parlamentarier diejenigen Kräfte ermutigen, die den Prozess der Europäisierung mit uns gehen wollen. Das ist in unserem eigenen Interesse. Danke sehr. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist die zentrale außen- und sicherheitspolitische Herausforderung in der Welt. 350 Anschläge in 25 Ländern der Welt mit über 4 000 Toten wurden seit dem Anschlag in New York über Madrid bis Beslan gezählt. Das ist die schreckliche Bilanz, es ist eigentlich eine Kriegsbilanz. Herr Außenminister, Sie haben Recht: Der internationale Terrorismus kann nicht losgelöst von den großen Krisenherden der Welt gesehen werden. Deshalb wird auch der Erfolg unserer Außenpolitik, Ihrer und unserer Politik, davon abhängen, ob wir zur politischen Lösung der Probleme im Nahen Osten, in Tschetschenien, im Iran und im Irak beitragen. Dazu hat Herr Gerhardt das Notwendige gesagt. Auch Herr Erler hat ganz bemerkenswert an das Thema herangeführt. Dem kann ich mich eigentlich anschließen. Ich möchte am Ende der außenpolitischen Debatte eine Bilanz ziehen. Dieser Außenminister hat zwei entscheidende Fehler von politischer Tragweite in seiner bisherigen Amtszeit zu verantworten. Der eine zentrale Fehler ist die nachhaltige Störung der transatlantischen Partnerschaft und die Gefährdung der Freundschaft zu Amerika. ({0}) Das Problem ist: Sie haben dies nicht einmal erkannt. Sie setzen diesen unseligen Weg fort. Frau DäublerGmelin wird von Frau Wieczorek-Zeul getoppt. Man müsste auch einmal Fehler einsehen. Die Amerikaner müssen im Irak täglich einen hohen Preis auch dafür zahlen, dass sie uns von der schrecklichen, menschenverachtenden Diktatur Saddam Husseins befreit haben. Der zweite gravierende außenpolitische Fehler in der Minusbilanz dieses Außenministers ist: Er ist ein Spalter. Er hat nicht nur die deutsch-amerikanische Freundschaft aufs Spiel gesetzt, ({1}) sondern er ist auch ein Spalter innerhalb der Europäischen Union. ({2}) Schauen Sie sich die letzten zwei, nicht einmal die letzten sechs Jahre an! Ich nenne die Stichworte „deutscher Sonderweg Irak“, „Italien“, ({3}) „Österreich“ und erinnere daran, wie diese Bundesregierung im Ministerrat mit den Kleinen umspringt. Deshalb stelle ich fest: Dieser Außenminister spaltet Europa. Das ist der zweite gravierende Fehler. ({4}) Um die große Herausforderung zu bestehen, die in der Bekämpfung des internationalen Terrorismus liegt, können und müssen wir, Amerikaner und Europäer, gemeinsam mit Russland und der Weltvölkergemeinschaft eine gemeinsame Strategie verfolgen. ({5}) Die Spalterrolle und die Minusbilanz zeigen sich beispielsweise auch in der Frage nach der Substanz des Entwurfs einer europäischen Verfassung. Wir müssten mit diesem Entwurf auch in der Außen- und Sicherheitspolitik einen Quantensprung nach vorne machen. Denken Sie an das klägliche Bild der Europäer bei ihrer Stellungnahme zum Iran in den letzten zwei Tagen! Notwendig wäre eine Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik über den Verfassungsentwurf. Aber dies ist uns nicht gelungen, weil dieser Außenminister Europa nicht zusammenführen kann. Wir alle zahlen einen hohen Preis dafür. ({6}) Die Freundschaft mit Russland ist wichtig; darauf hat Herr Schäuble hingewiesen. Wir sehen ein Problem darin - dass zeigt die Bewertung der Tschetschenienwahl -, wie der Bundeskanzler darüber denkt. Herr Erler, Sie haben mit großer Ruhe, aber in aller Klarheit die Einbettung des Terrorismusproblems in die politische und historische Entwicklung dieser Region dargelegt. Dem kann ich zustimmen. Was wir aber an dieser Stelle einfordern, ist, in der Bewertung der Frage der Menschenrechte keine unterschiedlichen Maßstäbe an die Amerikaner und an die Russen anzulegen. Was für Bush gilt, muss auch für Putin gelten. Es geht nicht an, sich auf einem Auge blind zu stellen. Ohne Reagan, der vor wenigen Wochen gestorben ist, und ohne Bush senior, die den Mut aufgebracht haben, in schwierigen Zeiten, als das Brandenburger Tor noch geschlossen war, den Sowjets zu sagen: „Die Mauer muss weg! Wir sehen die Menschenrechtsverletzungen und bestehen auf der Wiedervereinigung“, würde es die Mauer heute noch geben. Ohne Bushs Vater, Ronald Reagan und den Mut der Amerikaner wäre die Mauer bis heute nicht geöffnet worden. ({7}) Ich frage mich, wo unser grüner Außenminister für die Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die weltweite Einhaltung des Völkerrechts - nicht nur in Tschetschenien, in Russland und in China - eintritt. ({8}) Ein Held im Kampf für die Menschenrechte ist er sicherlich nicht, Frau Roth. Er hat Ihre Seele und die Seele der Grünen längst verkauft, nach dem Motto „Was nützt mir?“ ({9}) Seine politischen Erfolge sind bescheiden. Dieser Außenminister hat hohe Analysekapazitäten, aber zu der Frage, wie Probleme gelöst werden können, hat er - darauf hat Herr Gerhardt hingewiesen - nicht allzu viel zu bieten. ({10}) Ich nenne als Beispiel den Kosovo und schließe mich dem an, was Minister Struck angemahnt hat: die fehlende Konzeption. Ein weiteres Beispiel ist Afghanistan. Die „Frankfurter Rundschau“ hat dieser Tage getitelt: „Bundeswehr schützt vor allem sich selbst“. In Afghanistan ist eine Rekordernte von Opium zu verzeichnen. Zwei Drittel des Heroinaufkommens in Deutschland und Europa stammen aus afghanischen Quellen. Damit Klarheit besteht, Herr Fischer: Sie haben die Frage der Mandatsverlängerung angesprochen. Auf die Opposition konnten Sie sich trotz der Entwicklungsprobleme und des mangelnden Erfolges immer verlassen, obwohl Sie zu Beginn des Mandats in Afghanistan hier ausgeführt haben, dass sich das Mandat nur auf Kabul erstreckt. Inzwischen sind wir nicht nur in Kabul, sondern auch in Kunduz engagiert. Die Opposition hat dem nach reiflicher Prüfung zugestimmt. Wir werden der Verlängerung dieses Mandats auch weiterhin zustimmen. Aber wir dürfen doch wohl noch Fragen nach der Wirkung und dem politischen Erfolg stellen, wenn deutsche Soldaten ihr Leben im Ausland aufs Spiel setzen. Wir sagen Ja zu Kabul und „Ja, aber“ zu Kunduz. Was Faizabad angeht, bitte ich Sie, zunächst in der Bundesregierung abzuklären, ob der Verteidigungsminister und die Entwicklungshilfeministerin Ihren Vorstoß mittragen. Wo bleibt das internationale Konzept bzw. die internationale Einbettung? ({11}) Frau Wieczorek-Zeul sagt - zu Recht -: Es wird keine Wiederaufbauprojekte in Faizabad geben. Wenn das zutrifft, dann stimmt Ihre Argumentation nicht, dass wir dorthin deutsche Soldaten zum Schutz von Wiederaufbauprojekten schicken müssen. Klären Sie dies einmal innerhalb der Bundesregierung! Wir müssen auf jeden Fall den deutschen Soldaten jeden Einsatz und jeden Einsatzort logisch begründen. Kein Einsatz darf wirkungslos sein.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Erler?

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bitte, Herr Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Müller, ich frage Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass es im Augenblick in der Region Badakshan, in der das PRT Faizabad eingerichtet werden soll, Aufbauprojekte von folgenden Organisationen gibt: UNICEF, UN Office for Project Service, UN World Food Programme, Weltgesundheitsorganisation, FAO, UNFPA, UNHCR. Außerdem gibt es dort Aufbauprojekte von folgenden NGOs: Medair, Afghan Aid, Child Fund AFG, Concern worldwide, Focus Humanitarian Assistance, Mission East, Medical Emergency Relief Intern., Norwegian Afghan Committee, Oxfam, Swedish Committee for AFG, Shelter for Life. Wie kommen Sie dazu, hier öffentlich zu behaupten, es gebe keine Aufbauprojekte in dieser Region?

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Erler, ich nehme dies mit großer Freude zur Kenntnis. Wir unterstützen diese Organisationen und bewundern ihren Mut, dort tätig zu werden. Aber ich habe auf die Frage abgestellt, welchen Beitrag die deutsche Bundesregierung leisten soll. Verteidigungsminister Struck und Außenminister Fischer begründen die Ausweitung des Mandats mit dem Schutz der zivilen Aufbauteams, die dort tätig werden sollen. Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul sagt dagegen, dass es dort keine durch die Bundesregierung finanzierten zivilen Aufbauhelfer geben wird. Wenn das zutrifft, muss man keine zusätzlichen Soldaten dorthin schicken. Alle Organisationen, die Sie aufgezählt haben, sind dort ohne den Schutz der Bundeswehr tätig. Wir haben vor wenigen Wochen mit Vertretern einiger dieser Organisationen Gespräche geführt. Sie haben schon bei der Ausweitung des Mandats auf Kunduz davor gewarnt, die Bundeswehr in diese Region zu schicken; denn sie fühlen sich durch die Bundeswehrsoldaten nicht geschützt, sondern eher gefährdet. Der Schutz der zivilen Wiederaufbauteams kann also nicht als Begründung dienen. Der Außenminister muss dem Parlament also eine andere Begründung darlegen. ({0}) Ich glaube, dass ich meinen Standpunkt sehr deutlich dargelegt habe. Sie sehen jetzt sicherlich ein, dass Sie in Ihren eigenen Reihen, in der Bundesregierung und in der Fraktion, großen Gesprächs- und Klärungsbedarf haben. Stichwort „Türkei“: Ohne den EU-Beitritt der Türkei werde es gefährlich, sagen Sie, Herr Außenminister, dieser Tage in einem Interview. Ich zitiere Sie: Eine europäische Türkei ist für den Kampf gegen den Terror unverzichtbar. Ich erinnere mich, dass Sie, als die Lage im Irak schwierig wurde und als die Amerikaner mit ihren Operationen begonnen haben, noch nicht einmal bereit waren, den Türken Patriot-Abwehrsysteme zum eigenen Schutz zu gewähren. Nun argumentieren Sie plötzlich, dass die terroristische Gefahr in Europa zunehmen werde, wenn die Türkei nicht Mitglied der EU werde. Lesen Sie bei Egon Bahr nach, dem Altmeister der Außenpolitik in der SPD. Er hat dieser Tage gesagt: „Der Beitritt der Türkei ist das Ende der politischen Union in Europa.“ Ich möchte das heute hier nicht weiter vertiefen. Aber ich sage Ihnen: Sowohl bei der europäischen Verfassung als auch beim EU-Beitritt der Türkei können Sie nur mit und nicht gegen das deutsche Volk regieren. Sie kommen nicht daran vorbei, das deutsche Volk zu befragen. Sie können dem deutschen Volk nicht ständig misstrauen. Herr Außenminister, Sie, der Sie einst als Basissponti gestartet sind und der heute in den Regierungssitzen gelandet ist, haben inzwischen nicht nur Angst vor Ihrer eigenen Basis, sondern auch vor dem eigenen Volk. ({1}) Ihre Argumentation lautet: Die Türkei sollte Mitglied der EU werden, damit die Terrorbekämpfung verbessert werden kann; sonst wird es gefährlich. Wenn man dieser Logik folgt, dann müssen wir die EU auf weitere Krisenregionen ausdehnen und - dem steht nichts entgegen auch Israel, Serbien, den Kosovo, die Ukraine und Armenien in die EU aufnehmen. Ihr Argument für die Aufnahme der Türkei in die EU gilt natürlich auch für die Behandlung von Folgeanträgen. Außenpolitik ist in Deutschland auch Standortpolitik. Herr Volmer, ich möchte auf den modernen Sklavenhandel, den Sie zu verantworten haben, nicht näher eingehen. ({2}) 2003 wurden vom deutschen Außenminister über die Botschaften in Osteuropa ({3}) - nun hören Sie einmal zu! ({4}) 765 000 Einreisevisa an Osteuropäer erteilt. Damit betreiben Sie gezielt modernen Sklavenhandel und Sie fördern Schwarzarbeit, Frauenhandel und Kinderprostitution. ({5}) Die Zahlen für das erste Halbjahr 2004 bestätigen leider diese Entwicklung: 389 000 Visa wurden in der Ukraine und in deutschen Botschaften anderer Länder erteilt. Was tut dieser Außenminister, um den Vorgaben seines Innenministers Schily in dieser Frage nachzukommen? Keine Antwort auf diese und auf viele anderen Fragen. Ich fasse zusammen: Deutsche Außenpolitik hat keine Vision, verleugnet unsere Werte, bezieht keine Position und zerstört das Vertrauen in Deutschland als verlässlichen Partner. Sie, Herr Außenminister, haben deutschen Interessen schweren Schaden zugefügt. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Friedenshoffnungen am Ende des Kalten Krieges sind abgekühlt. Seit Jahren beobachten wir eine Renaissance des Militärischen. Wir beobachten sie nicht nur, sondern wir stellen auch fest: Die Bundesrepublik hat dabei einen aktiven Part. Dafür spricht auch der vorliegende Haushalt. Deshalb lehnt die PDS im Bundestag diesen Haushalt ab. ({0}) Ich bin nun seit sechs Jahren Mitglied des Bundestages. In dieser Zeit musste ich 30-mal über Auslandseinsätze der Bundeswehr abstimmen. Ich habe 30-mal mit Nein gestimmt. Aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr unter Rot-Grün von der Ausnahme zur Regel geworden sind. Diese gefährliche Tendenz ist Konzept und sie wird durch den vorliegenden Entwurf der EU-Verfassung sogar noch forciert; denn statt einer Friedens- und Abrüstungspflicht enthält sie genau das Gegenteil. Bundesaußenminister Fischer hat im Frühjahr in einer Debatte hier dazu bemerkt, dass das auch gut so sei. Ich finde, das ist schlecht. Im Übrigen finden wir diesen Teil des Verfassungsentwurfes auch nicht richtig. ({1}) Möglicherweise fürchtet Rot-Grün auch deshalb ein Plebiszit zur EU-Verfassung. Jedenfalls haben SPD und Grüne bisher nur taktiert. Mit der CDU/CSU haben sie dann paktiert, wenn es darum ging, Volksabstimmungen zu verhindern. ({2}) Wir schlagen - wie übrigens 80 Prozent der Bevölkerung - mehr Demokratie vor und wir wollen eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung am 8. Mai des Jahres 2005. ({3}) Seit über 14 Jahren kämpfen die Bürgerinnen und Bürger in der Kyritz-Ruppiner Heide gegen die erneute Nutzung des so genannten Bombodroms. Sie wollen eine friedliche, zivile Zukunft ihrer Region. Dies ist eine Forderung, die nun, da in Brandenburg Wahlkampf ist, selbst Ministerpräsident Platzeck, SPD, und Innenminister Schönbohm, CDU, hochhalten. Ich finde, sie haben Recht; denn ein Bombenübungsplatz wäre ein herber Rückschlag für die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin und er wäre ein Rückschlag für die Menschen, für die Wirtschaft und für den Tourismus. ({4}) - Da der Außenminister hier gerade „Wie war es früher?“ fragt: Ich habe mit Absicht die Formulierung „seit über 14 Jahren“ gewählt. Ja, die Bürgerinnen und Bürger dieser Region haben sich auch zu DDR-Zeiten - ohne Chance auf Erfolg, das gebe ich gerne zu - dagegen gewehrt, dass dort Bomben von der sowjetischen Armee abgeworfen werden. ({5}) Das legitimiert aber nicht, dass Sie diesen Platz heute weiter nutzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der grünen Fraktion, Sie hätten einen Beitrag gegen Populismus und für mehr Glaubwürdigkeit Ihrer Politik leisten können, wenn Sie den in der Prignitzer Presse von Ihren wahlkämpfenden Kollegen angekündigten einstimmig verabschiedeten Gruppenantrag Ihrer Fraktion gegen das Bombodrom heute auf den Tisch gelegt hätten. ({6}) Wir hätten zugestimmt. Abgesehen davon hätten Sie einen Konstruktionsfehler dieses Haushalts ein wenig geheilt. Sie hätten nämlich die Proportionen ein wenig verschoben. Schauen Sie sich einmal an, wie wenig Geld für Friedens- und Konfliktforschung, für Konversion und Entwicklungshilfe Sie im Vergleich zu dem vielen Geld für Rüstung und Aufrüstung eingestellt haben! Abschließend ein Wort zu einem Thema dieses Sommers. Die USA wollen Streitkräfte aus Europa und damit auch aus der Bundesrepublik abziehen. Kaum verkündet, setzte, von CDU/CSU bis Bündnis 90/Die Grünen, ein großes Barmen ein. Die PDS im Bundestag bewegt bei diesem Thema etwas ganz anderes, nämlich dass die US-Armee bei ihrem Abzug nicht ihre Atomwaffen vergessen sollte, die noch in der Bundesrepublik stationiert sind und endlich abzurüsten sind. ({7}) Da frage ich mich: Wo bleibt da die friedenstiftende Intervention des Bundesaußenministers? ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen, SPDFraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Gerhardt, als Sie hier gesprochen haben, habe ich mich gefragt, wo denn Ihre Antworten bleiben, wo denn Ihre Darlegungen dazu bleiben, an welchen Punkten Sie vor dem Deutschen Bundestag eine andere Auffassung präsentieren als die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen. Dazu habe ich nichts gehört. ({0}) Wenn schon über Alternativen gesprochen wird, lieber Herr Kollege Gerhardt, dann kann man auch einmal fragen: Wie hat sich denn die FDP verhalten, als es um das Mandat zu Kunduz ging? ({1}) Vielleicht könnten Sie die Einladung des Verteidigungsministers annehmen, um sich einmal vor Ort darüber kundig zu machen, ({2}) dass der Einsatz in Kunduz eben nicht allein von der Bundeswehr, sondern gemeinsam mit insgesamt sechs anderen nationalen Armeen getragen wird. Sie haben hier etwas verbreitet, ({3}) von dem Sie offensichtlich - jedenfalls hat sich das so angehört - keinen blassen Schimmer haben. ({4}) Es wäre klug, wenn sich jemand, der Außenminister werden will, wenigstens einmal in der Sache kundig machen würde. ({5}) Ich nehme gern einen anderen Punkt auf, der durchaus berechtigt ist. Aber auch da gibt es eine klare Antwort. Sie haben danach gefragt, was denn das politische Ergebnis dessen ist, dass sich die Bundeswehr - nicht nur in Afghanistan, aber eben auch in Afghanistan - beteiligt. Wir werden in der zweiten Oktoberwoche sehen, was die Bundeswehr in Afghanistan geleistet hat, wo es darum geht, dafür zu sorgen, dass es ein Klima der Sicherheit gibt, das es den Menschen erlaubt, überhaupt zur Wahl zu gehen. ({6}) Das ist eine gewaltige Leistung, zu der die Bundeswehr beigetragen hat. Lieber Kollege Gerhardt, es mag Punkte geben, über die man diskutieren kann, aber an diesem fundamentalen Ergebnis - es geht darum, dass die internationale Staatengemeinschaft dafür sorgt, ({7}) dass sich in Afghanistan ein Klima des Anstands und des offenen Wettbewerbs ausbreitet - ist die Bundeswehr beteiligt, in Kunduz und demnächst auch in Faizabad. Bitte stellen Sie das hier nicht infrage, lieber Kollege Gerhardt. ({8}) - Dann müssen Sie hier sehr präzise darlegen, was denn eigentlich der Grund Ihrer Kritik ist. Das war nicht zu erkennen. Dem, was Sie gesagt haben, kann ich in einem Punkt durchaus zustimmen. Ich konnte entnehmen, dass wir ganz nahe beieinander liegende Einschätzungen dazu haben, was in Beslan geschehen ist, und das ist gut so. Kinder wollten am 1. September ihren eigenen Weg in eine andere, in eine bessere Zukunft gehen. Eltern wollten sie dabei begleiten. Terroristen aber ermordeten die Hoffnung auf ein anderes, auf ein besseres Leben. Das Ungeheuerliche dabei ist: Diese Terroristen haben ein Tabu gebrochen. Kindern sollte die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben geraubt werden. Das ist ein ungeheuerlicher Tabubruch, den diese Terroristen unternommen haben. Die Frage, ob man mit diesen Terroristen einen politischen Prozess beginnen kann, erledigt sich nach diesen Geschehnissen von selbst, weil die Terroristen diese Chance selbst zerstört haben. Wenn darüber Konsens besteht, dann bleibt nur noch die Frage, wie denn die russische Gesellschaft und die russische Politik diese ungeheuerlichen Schläge verarbeiten kann. Ich glaube, eine direkte und innere Verbindung dazu ergibt sich aus den Zwischentönen, die man gestern in den Stellungnahmen von dem einen oder anderen Moskauer Journalisten hören konnte. So hat der Journalist Solowjew an diesem Punkte von Verantwortung gesprochen. Ich glaube, dass die russische Gesellschaft vor dem Problem steht, wie sie mit dem, was vom ersten großrussischen Imperium übrig geblieben ist, umgehen soll. Tschetschenien und andere Regionen sind ja Opfer dieses großrussischen imperialen Denkens gewesen. Leo Tolstoi hat in seinem Roman „Hadschi Gert Weisskirchen ({9}) Murat“ mit folgenden Worten die offenen Wunden beschrieben, die das russische Imperium den Tschetschenen zugefügt hat: Das Gefühl, das alle Tschetschenen vom Jüngsten bis zum Ältesten, ihnen - den Russen gegenüber empfunden haben, war stärker als Hass. Nicht Hass, schreibt er weiter, sondern ein solcher Abscheu und Ekel, ein so fassungsloses Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit habe sie erfasst. Das war vor 100 Jahren. Danach folgte stalinscher Terror, der auch diese Region noch einmal schlimm erfasste. Die Wunden, die er den Menschen zugefügt hat, schmerzen bis heute. Ich glaube, dass wir vielleicht in einem Dialog mit den Menschen in Russland und übrigens auch in einem Dialog mit Tschetschenen, die bei uns, beispielsweise auch hier in Berlin, leben, den Kreislauf der Gewalt endlich durchbrechen können. Dazu hat heute in der „Süddeutschen Zeitung“ der stellvertretende Sozialminister unter Maschadow ausdrücklich gesagt: Ja, al-Qaida spielt eine Rolle in diesem Terrorkampf. Vielleicht könnte ein neuer Prozess beginnen, wenn Maschadow noch einmal das Wort erhebt und zu einem einseitigen Waffenstillstand derjenigen, die er vielleicht noch beeinflussen kann, aufruft. In diesem Zusammenhang, Herr Gerhardt, den Bundeskanzler zu ermahnen, offene Worte zu sprechen bzw., so haben Sie es formuliert, ein offenes Wort nicht unter den Tisch fallen zu lassen, ist nicht opportun. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Bundeskanzler ein offenes Wort zu Putin gesprochen hat. ({10}) Ich bin felsenfest davon überzeugt. Aber ob dies ein öffentliches Wort sein muss, das ist eine Frage, die jeder für sich, ({11}) Kollege Gerhardt, beantworten kann. Könnte es denn nicht sein, ({12}) dass dann, wenn wir jetzt öffentliche Schuldzuweisungen aussprechen würden, jener schmerzhafte Lernprozess, in dem sich die russische Gesellschaft im Moment befindet, gestoppt würde und die Sprache der Gewalt und des Hasses neue Nahrung finden könnte? Das müssen wir doch verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({13}) Sie, Herr Kollege Gerhardt, haben ja von Moralität gesprochen. Ich halte fest, dass dies eine moralische Frage ist. Ich wage zu sagen: Ich glaube, dass der

Not found (Kanzler:in)

Diese moralische Frage hat etwas damit zu tun, dass nicht alles, was offen zwischen Personen, auch Staatsmännern, gesprochen wird, in die Öffentlichkeit gebracht werden muss, weil das nämlich Folgen haben kann, die der russischen Seele über das hinaus, was gegenwärtig geschieht, tiefe, schwere Wunden zufügen könnten. Deshalb bitte ich Sie herzlich, öffentliche Kritik und ein offenes Wort nicht miteinander zu verwechseln oder das zu vermischen, lieber Kollege Gerhardt. ({0}) Herr Gerhardt, ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, den auch Sie aufgegriffen haben. Ich bitte den Kollegen Müller, auch wenn er nicht mehr da ist, noch einmal ein klein wenig nachzudenken und den Aufsatz von John B. Judis zu lesen, der im Juli/August dieses Jahres in „Foreign Policy“ erschienen ist. Er beschreibt dort unter der Überschrift „Imperial Amnesia“, was das eigentliche Problem der USA gegenwärtig ist. Francis Fukuyama hat das in „The National Interest“ deutlich unterstrichen. ({1}) - Ja; man sollte durchaus zur Kenntnis nehmen, dass gerade in den USA eine öffentliche, harte Debatte geführt wird, von der wir eine ganze Menge Positives lernen können. John B. Judis hat sehr klar gesagt und Francis Fukuyama hat es unterstrichen: Macht schöpft nicht allein aus Macht. Die zentrale Frage, die sich die USA stellen muss, dreht sich um Legitimation. Legitimation ist aber genau das, was die Bundesregierung im Weltsicherheitsrat angemahnt hat. Es darf kein unilaterales Verhalten geben, schon gar nicht von der allerstärksten Macht, die Moralität und Normen auf sich zieht; wir hoffen, dass die USA das auch künftig tun werden. ({2}) Wer an diesem Punkt die Stimme gegen die Bundesregierung erhebt, der sieht nicht, dass sich die USA ebenso wie Russland, wie wir eben festgestellt haben, in einem tiefen Verständigungsprozess befinden. Ob der Weg des Imperiums, den die europäischen Mächte gegangen sind und der zu einem furchtbaren Ende geführt hat, der richtige ist, darüber gibt es in den USA ein tiefes Nachdenken. Legitimation ist die zentrale Kategorie für unsere künftige außenpolitische Arbeit, weil nur so die Frage beantwortet werden kann, ob Frieden künftig möglich sein wird. Frieden kann nur möglich werden, wenn Legitimationsfragen öffentlich und offen debattiert werden und nicht unilaterales Handeln die einzige Antwort in dieser Welt bleibt. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen, CDU/ CSU-Fraktion.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Weisskirchen, nur eine kurze Reaktion auf Ihre Rede. Ich glaube, wir sind uns überhaupt nicht uneinig in der Frage, dass in der Situation, in der sich Russland befindet, natürlich sehr vorsichtig mit öffentlichen Äußerungen und öffentlicher Kritik gegenüber Russland umgegangen werden muss. Dies ist aber weder vom Kollegen Gerhardt noch von unserer Fraktion kritisiert worden. Ich will kurz erklären, welchen Punkt wir kritisiert haben. Ich hätte großes Verständnis dafür gehabt, wenn Bundeskanzler Schröder das Thema der Wahlen umschifft und sich nicht dazu geäußert hätte. Das Problem war aber, dass er im Gegensatz zur Feststellung der Europäischen Union öffentlich erklärt hat, dass die Wahlen nach seiner Einschätzung völlig korrekt verlaufen seien. ({0}) Das haben wir kritisiert und diesen Punkt haben Sie auch nicht widerlegt. Das wollte ich nur kurz darstellen. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte jetzt etwas Ungewöhnliches tun, nämlich in der Haushaltsberatung einige Bemerkungen zum Haushalt machen. ({2}) Ich glaube, das ist gerade mit Blick auf die Europapolitik der Bundesregierung absolut notwendig. Wir haben in jedem Jahr Haushaltsberatungen in diesem Haus und in jedem Jahr findet in diesen Haushaltsberatungen eine kritische Auseinandersetzung zwischen Koalition und Opposition über grundsätzliche aktuelle politische Fragen und Haushaltsthemen statt. Dieses Ritual gibt es, solange es die Bundesrepublik Deutschland gibt, und das ist für das demokratische Wesen unseres Landes sehr wichtig. Seit einigen Jahren - genauer: seit drei Jahren - gibt es hier aber eine grundlegende Veränderung. Denn seit dieser Zeit legt das Bundesfinanzministerium dem Bundestag Haushaltsentwürfe vor, die nicht einmal ansatzweise der finanzpolitischen Realität unseres Landes entsprechen. Das Vorlegen der Bundeshaushalte durch den Bundesfinanzminister Eichel verkommt mehr und mehr zu einer Märchenstunde. Auch der Haushaltsentwurf 2005 entpuppt sich schon beim zweiten Hinsehen als ein Haushalt, der weder die Vorgaben unserer Verfassung noch die Vorgaben der entsprechenden europäischen Regelungen erfüllt. Schon längst hat die Bundesregierung mit ihrer Haushalts- und Finanzpolitik das Vertrauen der Bevölkerung fast gänzlich verspielt. Dies zeigt exemplarisch eine Umfrage, die gestern im Nachrichtensender n-tv veröffentlicht wurde. Auf die Frage, ob man an die Haushaltsversprechungen von Hans Eichel glaubt, antworteten 89 Prozent mit Nein. Bundesfinanzminister Hans Eichel hat sich zum unglaubwürdigsten Finanzminister in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. ({3}) Diese Entwicklung war seit Jahren abzusehen. Immer wieder behauptete Eichel, dass wir im nächsten Jahr die Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes erfüllen werden. Immer wieder ist schon wenige Monate später das Gegenteil Realität. Diese desaströse deutsche Haushalts- und Finanzpolitik wird nicht mehr nur von der deutschen Bevölkerung abgelehnt. Sie zeigt schon längst katastrophale Auswirkungen auf der europäischen Ebene. Denn auch in Europa glaubt mittlerweile keiner mehr an die Seriosität der deutschen Finanzpolitik. Die eigentliche Ursache liegt nicht, wie die Bundesregierung immer versucht zu behaupten, in den im Bereich der Wirtschaftspolitik und der globalen Entwicklung objektiv vorhandenen Problemen. Die eigentliche Ursache für dieses Misstrauen und diesen Vertrauensverlust liegt in der Art und Weise, wie diese Bundesregierung und insbesondere Hans Eichel in Europa in Finanzfragen ausschließlich taktiert, ohne dass echte Konsolidierungsanstrengungen vorhanden sind. Der vorliegende Bundeshaushalt ist ein klarer Beleg dafür. Die Nettokreditaufnahme wird mit 22 Milliarden Euro angegeben. Das Haushaltsdefizit beträgt aber tatsächlich mehr als 37 Milliarden Euro. Ein großer Teil dieses Defizits soll durch Sondererlöse und Privatisierungen gedeckt werden. Abgesehen davon, dass unklar ist, ob diese Sondererlöse überhaupt realisiert werden können - da muss man sehr kritisch sein -, sind diese Erlöse für die Defizitberechnung der Europäischen Union nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht relevant. Bei einem Haushaltsdefizit von ungefähr 37 Milliarden Euro - auch das werden wir nur erreichen, wenn die positiven Annahmen im Haushaltsentwurf zutreffen werden wir auch im nächsten Jahr - das ist das vierte Mal in Folge - das 3-Prozent-Kriterium überschreiten. Wider besseres Wissen behauptet Hans Eichel das Gegenteil. Diese Show hat mittlerweile Tradition. Schon 2002 wurde Eichel vor der Bundestagswahl nicht müde, wider besseres Wissen zu behaupten, dass Deutschland die Maastricht-Kriterien im Jahr 2002 erfüllen werde. Die gegenteilige und richtige Auffassung der Europäischen Kommission versuchte er zu unterdrücken. Das ging bis zu dem geradezu surrealistischen Theater, dass der so genannte blaue Brief an Deutschland nicht abgeschickt wurde, sondern in Brüssel verblieb. Nach der Bundestagswahl kam das wahre Ausmaß der finanziellen Belastung ans Licht. Aber 2003 sollte das Defizitkriterium eingehalten werden. Die Hürde wurde allerdings mit fast 4 Prozent wieder gerissen. Im Haushaltsentwurf 2004 gab es dasselbe Spiel. Es war entlarvend, was der Finanzminister im Finanzministerrat im November des vorigen Jahres getan hat. Er versuchte nämlich - das belegt, dass er seinen eigenen Zahlen nicht geglaubt hat -, durch einen Mehrheitsbeschluss das Defizitverfahren gegen Deutschland auszusetzen. Der Europäische Gerichtshof hat im Juli dieses Jahres diese Handlungsweise als nicht vertragskonform bezeichnet und den Beschluss aufgehoben. Jetzt setzt Eichel seine letzte Hoffnung in eine Modifizierung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und meint, damit durchkommen zu können. Das wird der Bundesregierung aber nicht gelingen. Denn abgesehen davon, wie wir hier im Bundestag die Vorschläge zur Modifizierung des Wachstumspaktes einschätzen - da haben wir unterschiedliche Auffassungen; das werden wir mit Sicherheit noch debattieren -, und abgesehen davon, ob sich durch eine Modifizierung dieses Vertrages Auswirkungen auf das Defizitverfahren ergeben, bleibt die alles entscheidende Tatsache dieselbe: Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren keine echten Konsolidierungsbemühungen unternommen. Jahr um Jahr ist das aktuelle Defizit deutlich höher als das geplante. Jahr um Jahr überschreitet Deutschland die Defizitgrenze von 3 Prozent. Das strukturelle Defizit des Bundes liegt mittlerweile bei fast 40 Milliarden Euro. Damit kommen wir weder im nächsten noch im übernächsten Jahr aus der Defizitfalle heraus. Nein, wir werden zusätzlich in den nächsten Jahren die Gesamtverschuldungsgrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten. Es gibt eine einzige Möglichkeit, diesem Teufelskreis zu entkommen. Dies ist eine langfristig angelegte, echte Konsolidierungspolitik des Bundes. Der vorliegende Haushaltsentwurf taugt dazu in gar keiner Weise. ({4}) Notwendig ist eine grundsätzliche Überarbeitung. Wir als Opposition werden uns dem nicht verschließen. Nein, wir selber werden im Zuge der Haushaltsberatung Konsolidierungsanträge stellen. ({5}) Dies ist für eine Opposition ungewöhnlich genug. Aber Sie, die Koalition und die Regierung, müssen dazu bereit sein. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Günter Gloser, SPD-Fraktion.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Kollegen der Christlich-Sozialen Union haben heute in negativer Weise Referenzreden gehalten. Das begann schon am Morgen mit Michael Glos. Herr Kollege Dr. Müller, Sie sind ja nun wieder anwesend: Ich kann manche der Ausführungen, die Sie heute gemacht haben, nur als politische Geisterfahrerei bezeichnen. ({0}) Sie haben bei Ihrem Einstieg in die Debatte gesagt, Sie wollten eine Bilanz dieser Debatte ziehen, ({1}) obwohl nach Ihnen noch ein paar Rednerinnen und Redner gesprochen haben. Da Sie dem Außenminister vorwerfen, er sei ein Spalter, muss ich angesichts der Bilanz der Außenpolitik der letzten Jahre wirklich fragen - ich weiß es natürlich -: Wo leben Sie eigentlich? ({2}) War es nicht diese Bundesregierung, dieser Außenminister, der nach den Ereignissen auf dem Balkan Vorschläge gemacht hat, wie man nach der dortigen kriegerischen Auseinandersetzung zu zivilen Lösungen kommen kann, und der einen Stabilitätspakt für Südosteuropa vorgeschlagen hat? Was ist denn in Bezug auf Afghanistan passiert? Waren es nicht diese Bundesregierung und dieser Außenminister, die die Initiative zu den Petersberger Gesprächen ergriffen haben, die noch heute eine Grundlage sind? Wenn Sie jemanden, der zusammengeführt hat, als Spalter bezeichnen, dann leben wir in der Tat in einer anderen Welt. Ich meine, die rot-grüne Koalition lebt in der realen Welt und Sie in einer virtuellen, die Sie sie vielleicht gerne hätten, die aber nicht existiert. ({3}) Sie haben, auch was die Europäische Union angeht, von Spaltung gesprochen. War es nicht gerade diese Bundesregierung, die auf den verschiedenen Etappen der Erweiterung den größeren und auch den kleineren Ländern, die der Europäischen Union beitreten wollten, immer wieder gesagt hat: „Wir tun alles“? Wer hat denn beispielsweise auf dem Gipfel in Kopenhagen versucht, einen Kompromiss zu finden? Über die Auswirkungen dieses Kompromisses in der Landwirtschaftspolitik kann man streiten. Aber es wurden Grundlagen dafür geschaffen, die Tür für diejenigen Länder zu öffnen, die der Europäischen Union beitreten wollten. Sie legen immer wieder die Platte bzw. CD auf, wir vernachlässigten die kleinen Mitgliedstaaten und hätten keinen Draht zu ihnen. Das stimmt einfach nicht. Wenn Sie aktuelle Themen der europäischen Politik betrachten, so werden Sie feststellen, dass es in der Tat unterschiedliche Kombinationen gibt. Wenn Sie zum Beispiel betrachten, wer der Finanziellen Vorausschau zugestimmt hat - auch das war eine Initiative von uns -, werden Sie große, aber auch so genannte kleine Länder finden. Bei Defizitverfahren werden Sie feststellen, dass sich einige Länder Deutschland oder Frankreich angeschlossen haben, darunter auch kleine Länder. Hören Sie also damit auf, diese Platte immer wieder aufzulegen! Das ist nicht richtig. Dass es innerhalb der europäischen Familie Diskussionen gibt, ist angesichts verschiedener Interessenlagen selbstverständlich. Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen; denn Herr Dr. Schäuble hat sich im Zusammenhang mit der Verfassungsdiskussion einseitig an die Koalition gewandt. Er sprach von einem „Zündeln mit einem Referendum“. ({4}) Was soll der Begriff „zündeln“? Und warum richtet er ihn ausgerechnet an die Adresse dieser Koalition? Neben Ihnen sitzt doch eine Reihe von Christlich-Sozialen aus Bayern. Sie müssen doch Herrn Glos, diesen begnadeten Redner, dem anscheinend immer das bayerische Volksfest am Tag vorher nicht gut bekommt, fragen, wer hier eigentlich zündelt! Da müssen Sie die Frage ansetzen, anstatt uns einen Vorwurf zu machen. ({5}) Wir haben in der Opposition und auch in der ersten Legislaturperiode unserer Regierungszeit Initiativen für Referenden ergriffen. ({6}) Aber wir wollen nicht nach Ihrem Gusto die Verfassung als Testfall, wie es Herr Glos ausgedrückt hat, auswählen und sonst keine Volksabstimmungen zulassen. Franz Müntefering hat es heute Morgen meines Erachtens richtig gesagt: Die Koalition wird in den nächsten Wochen die Bedingungen festlegen, ins Parlament einbringen und darüber diskutieren. Ich wiederhole aber ausdrücklich: Diese Debatte darf nicht dazu führen, dass die Ratifizierung des europäischen Verfassungsvertrages auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. ({7}) Was die Türkei angeht, ist es immer wieder interessant, die Aufsätze Ihrer Kollegen aus der CDU/CSU zu zitieren. „Wer die Türkei wegstößt, macht einen Fehler“, so Volker Rühe. „Eine faire Chance für die Türkei. Die Türkei braucht Europa - Europa braucht die Türkei“, schreibt Ihr Fraktionskollege Ruprecht Polenz. Daran gibt es gar nichts zu deuteln. Vielleicht hat Herr Glos den Aufsatz von Stefan Kornelius aus der „Süddeutschen“, den er heute Morgen erwähnt hat, nicht ganz gelesen. Es besteht ein Unterschied zwischen den Redakteuren der Zeitungen und der Politik. ({8}) In einem Kommentar kann man schreiben: „Es gibt kein in den Jahren gewachsenes Anrecht auf den Beitritt.“ Ich muss dazu sagen - auch Sie, Herr Dr. Schäuble, haben das gesagt -, dass diese Erwartung bei der Türkei in vielen Jahren, ja sogar Jahrzehnten geweckt worden ist. Das haben auch Sie in Ihrer Regierungszeit bis Luxemburg so vertreten, obwohl es auch damals schon unterschiedliche Diskussion gegeben hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Union jemals gesagt hätte, das sei eigentlich falsch; man stehe vor einem ganz neuen Projekt; es stießen demnächst zwölf weitere Länder dazu; das müsse alles erst verkraftbar werden; die Türkei passe nicht dazu. - Auch von Kanzler Kohl habe ich das nie so gehört. Wir sollten die Frage des Beitritts der Türkei sehr behutsam angehen. Was haben Sie dem Außenminister schon wieder unterstellt! Es ist doch ganz klar: Es gab innerhalb der zwölf, dann der 15, jetzt der 25 Mitgliedstaaten Entscheidungen über das Vorgehen. Jetzt kommt der Kommissionsbericht. Danach wird im Dezember vom Rat entschieden, wie weiter vorgegangen wird. Keiner kann heute schon das Ergebnis vorhersagen. Zu suggerieren, die Türkei werde morgen schon Mitglied der Europäischen Union sein und Deutschland werde entsprechende finanzielle Lasten zu tragen haben, ist falsch. ({9}) Wie wir alle gesehen haben, verändert sich die Türkei nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch positiv. Auch die Europäische Union wird sich entsprechend verändern. Wir brauchen hier eine sehr sachliche Diskussion. Vielleicht, Herr Dr. Schäuble, finden wir einen Konsens: Deswegen muss die Beitrittsdebatte unter allen Umständen so geführt werden, dass sie die Integrationschancen nicht behindert, sondern verbessert. Und sie muss so geführt werden, dass die Entwicklung der Türkei im Sinne von Modernisierung, Aufklärung, Zugehörigkeit zum Westen nicht beschädigt, sondern gefördert wird. ({10}) Das haben Sie in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ am 3. Juni gesagt. Dem kann ich eigentlich nur zustimmen. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch zu einigen Aspekten der aktuellen Politik, die mit der Finanziellen Vorausschau zusammenhängen. Herr Kollege Stübgen, Sie haben hier im Schweinsgalopp vorgetragen, nach dem Motto: Das wird schon alles stimmen. Was Sie zum Beispiel zu dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes gesagt haben, stimmt so nicht. Herr Eichel ist nicht der Verlierer. Es hat ganz anders ausgesehen. Die Frage war, inwieweit der Rat einen Beschluss der Kommission verändern kann. Es ging nicht darum, ob das, was der Rat mit Mehrheit beschlossen hat, richtig ist. Das sollte man einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Da Sie hier so mit den Zahlen hantieren, kann ich nur fragen: Haben Sie gestern nicht der Debatte insbesondere während des Beitrags von Finanzminister Eichel beigewohnt, der die finanziellen Belastungen noch einmal aufgezeigt hat? Sie können in dieser Haushaltsdebatte und auch noch bis Ende des Jahres unter Beweis stellen, ob Sie wirklich bereit sind, Subventionen abzubauen, damit wir zu einem konsolidierten Haushalt kommen. Hier habe ich Zweifel. Hinsichtlich der Finanzen der Europäischen Union wird diese rot-grüne Koalition, wird diese Bundesregierung wie auch in der Vergangenheit Solidarität zeigen. ({12}) Aber ein deutscher Beitrag in einer Größenordnung von 1,14 Prozent des Bruttonationaleinkommens - eine Zahl, die in den Raum gestellt worden ist - kann natürlich nicht realisiert werden, weil die Belastungen für diesen Haushalt zu groß wären. ({13}) Es ist wichtig, dass auch diejenigen, die in den letzten Jahren durch die europäische Politik gestärkt worden sind, ihren Beitrag leisten. Wir nehmen bewusst unsere Verpflichtung gegenüber den Ländern wahr, die am 1. Mai dieses Jahres beigetreten sind. Ein weiterer Punkt, an dem sich auch die Fadenscheinigkeit der Union zeigt, betrifft die Strukturpolitik im Rahmen des Kohäsionsfonds. Es kann nicht angehen, auf der einen Seite dieser Regierung bezogen auf die Finanzen alles Mögliche vorzuwerfen, auf der anderen Seite aber auf Länderebene zu sagen: Liebe EU, öffne das Füllhorn und gib uns im Bereich der Strukturpolitik weiterhin Gelder! Man muss nämlich auch sagen, wer das bezahlen soll. Das nämlich ist die Bundesebene und nicht die Länderebene. Ich bin gespannt, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Union, wie Sie sich in den entsprechenden Beratungen verhalten werden. Herr Dr. Müller, Ihre Bilanz bezüglich der Außenund Europapolitik ist völlig falsch. Diese Bundesregierung ist in der Außen- und Europapolitik initiativ gewesen. Sie hat Leute zusammengeführt und nicht gespalten. ({14}) Diese Rolle überlasse ich Ihnen gerne. Sie werden diese Regierung nicht ablösen, weil Sie sich nicht einig sind. Sie eiern in verschiedenen Politikfeldern herum. Ich nenne nur die Stichworte Referendum und Haushaltskonsolidierung und die Vorschläge von Ministerpräsident Stoiber sowie anderer aus der Union. Die Außen- und die Europapolitik waren und sind bei dieser Bundesregierung in guten Händen und das werden sie auch in den nächsten Jahren sein, über 2006 hinaus. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kanzler und der Außenminister haben in dieser Debatte versucht, die Bundesregierung in der internationalen Politik als einen selbstbewussten und bündnistreuen Partner darzustellen. ({0}) Sie wollten den Menschen in diesem Land suggerieren: Schaut uns an, wir sind wer in der Welt! In Wirklichkeit handelt diese Bundesregierung unberechenbar, oft populistisch und hat die Handlungsspielräume deutscher Außenpolitik damit erheblich eingeengt. Der Bundeskanzler hat in der Pose des selbstbewussten Lenkers in seiner Rede verkündet: Wir haben auch das Recht, dann Nein zu sagen, wenn wir von der Sinnhaftigkeit einer Entscheidung nicht überzeugt sind. ({1}) - Natürlich hat er Recht. Das ist banal. Das ist doch für jeden von uns eine Selbstverständlichkeit. Das Problem Ihrer Irakpolitik ist doch, dass sich die Bundesregierung im Vorhinein festgelegt hat. Sie hat gesagt: Ganz unabhängig davon, wie die Entscheidung der Vereinten Nationen aussehen wird - ohne uns! Sie haben unseren Bündnispartnern in der Atlantischen Allianz, in der EU und den Vereinten Nationen signalisiert: Diese deutsche Regierung wird sich nicht die Mühe machen, die Sinnhaftigkeit multinationaler Entscheidungen ernsthaft zu prüfen. Das, Herr Bundeskanzler, ist nicht selbstbewusst, das ist arrogant. ({2}) Deutschland hat dadurch nicht mehr, sondern weniger Einfluss. Ohne Zweifel war und ist es die Pflicht eines Partners in der NATO, die amerikanische Regierung auf folgenreiche Fehleinschätzungen hinzuweisen und auf Korrekturen zu drängen. Das gilt insbesondere in Bezug auf den Nachkriegsirak. Aber vor einer multinationalen kritischen Bewertung kategorisch zu erklären - wie es der Bundeskanzler heute wieder getan hat -: „Es gab keine deutschen Soldaten im Irak und es wird keine geben“ schmälert unseren Einfluss auf das UN-Mandat, auf dessen Grundlage die Koalition den Irak befrieden und aufbauen muss. Es schmälert auch unsere eigene Entscheidungsfreiheit. Wer vollmundig sagt - auch das hat der Bundeskanzler heute wiederholt -: „Deutschland erfüllt seine Bündnispflichten“, zugleich aber in der derzeit schwierigsten multinationalen Mission a priori „Ohne uns!“ erklärt, der verantwortet die logische Folge, dass Deutschland in den Missionen, an denen es sich beteiligt, so etwa in Afghanistan oder im Kosovo, weniger Spielraum hat, ein multinationales Mandat und den eigenen Beitrag kritisch zu prüfen und gegebenenfalls Korrekturen durchzusetzen. Wer in der NATO bei akuter Bedrohung eines Partners Vorbereitungen zum Schutz der Türkei verhindert, wie es die Bundesregierung getan hat, ({3}) der setzt die eigene Dialogfähigkeit in der transatlantischen strategischen Sicherheitsdebatte ebenso aufs Spiel wie die eigene Entscheidungsfreiheit in den Missionen, an denen deutsche Soldaten beteiligt sind. ({4}) Auch ist es nicht besonders überzeugend zu argumentieren, dass die Türkei deshalb jetzt EU-Mitglied werden muss, damit der islamistische Terrorismus besser bekämpft werden kann. Auch in dieser Frage hat die Bundesregierung durch eine verfrühte Vorfestlegung den Spielraum der deutschen Außenpolitik beschnitten. Obwohl der Prüfbericht, ob die Türkei die Voraussetzungen für die Aufnahme von Verhandlungen erfüllt, erst im Herbst vorgelegt wird, hat der Bundeskanzler seinem türkischen Kollegen Erdogan schon im Juni eine positive Antwort im Dezember in Aussicht gestellt. Herr Außenminister, dass eine noch engere Verankerung der Türkei in Europa für Deutschland von überragendem strategischen Interesse ist, bestreitet in diesem Haus niemand. Es gibt aber auch gravierende Argumente, die für die Befürchtung sprechen, dass eine Aufnahme der Türkei die EU politisch, wirtschaftlich und institutionell überfrachten, ihre Identität infrage stellen und die Gefahr einer Rückentwicklung zu einer Freihandelszone in sich bergen würde. ({5}) Deshalb, Herr Außenminister, sind beide Vorfestlegungen falsch: Es ist falsch zu sagen, dass die Türkei nie EU-Mitglied werden kann. Es ist aber auch falsch zu sagen, dass wir uns - unabhängig von den Kopenhagener Kriterien - jetzt auf ihren Beitritt festlegen müssen, um den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen. ({6}) Die Handlungsspielräume der türkischen wie der europäischen Politik sind in den kommenden Jahrzehnten größer, wenn wir im Jahr 2004 nicht nur zwischen den Alternativen Vollmitglied oder Nichtmitglied entscheiden, sondern auch die Möglichkeit einer privilegierten Partnerschaft ernsthaft prüfen und offen halten. ({7}) Die Europäische Union darf sich nach ihrer Erweiterung nicht vom Prozess der immer tieferen Integration verabschieden. Die Gefahr einer schleichenden Desintegration ist offenkundig. Leider steht das Handeln der Bundesregierung auch in der Europapolitik im Gegensatz zu ihrer Selbstdarstellung. Die Europäische Union ist mit 25 Mitgliedern noch mehr als vorher auf eine konstruktive und sensible deutsch-französische Führungsrolle angewiesen. Die Bundesregierung spielt diese Rolle oft arrogant und bevormundend und trägt damit nicht zur Integration, sondern zur Spaltung Europas bei. ({8}) Sie hat den deutschen Einfluss in Europa geschwächt, was an ihrem unsensiblen und missglückten Versuch, gemeinsam mit Frankreich einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten durchzusetzen, einmal mehr offenkundig wurde. Demnächst beginnen die Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen für den Zeitraum von 2006 bis 2013. Die Bundesregierung hat die gegenwärtige Finanzverfassung der EU heftig kritisiert. Der Status quo ist das Ergebnis der von der Bundesregierung vorbereiteten und durchgeführten Verhandlungen während des Berliner Gipfels. Der Berliner Gipfel zur Finanzausstattung der EU bis 2006 ist gescheitert, weil Deutschland und Frankreich in offenem Konflikt standen und dadurch alle anderen zum Basar ihrer nationalen Interessen eingeladen haben. Wenn Deutschland und Frankreich nun Seite an Seite in offenen Konflikt zu den Interessen der anderen, gerade auch der neuen und kleineren Mitgliedstaaten treten, wird es wiederum ein Desaster geben, wie es auch beim Berliner Gipfel 1999 der Fall war. Herr Außenminister, wenn einem zu der Frage eines deutschen bzw. europäischen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht mehr einfällt als zu sagen, dass die Franzosen und Briten ihren Sitz doch niemals aufgeben werden, dann ist das sehr vereinfachend und hochmütig. Es hat doch nie jemand davon gesprochen, dass Frankreich oder Großbritannien ihren Sitz im Sicherheitsrat verlieren würden, sondern es wurde darüber geredet, wie bei einer Reform der Vereinten Nationen sichergestellt ist, dass Europa künftig in multinationalen Strukturen geeint und gemeinsam agiert. Wenn Sie auf das Argument, dass ein weiterer Sitz für eine europäische Nation - es wäre der dritte - die Einigkeit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht befördere, wie dies von Italien, Polen, Spanien und anderen Partnern artikuliert wird, lediglich sagen, man brauche einen zusätzlichen Sitz für Deutschland, weil doch die Franzosen und die Briten ihren niemals aufgeben würden, so kennzeichnet dies die herablassende Art, in der Sie sich international bewegen. Es reicht eben nicht, wenn der Bundeskanzler sagt: Wir sind selbstbewusst und bündnistreu. Vertrauen und Einfluss gewinnt Deutschland durch den verlässlichen, einfühlsamen Umgang mit unseren Partnern in der atlantischen Allianz, in der Europäischen Union und möglichst mit diesen gemeinsam gegenüber der internationalen Gemeinschaft. ({9}) Vertrauen und Einfluss, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind schneller verspielt als zurückgewonnen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen dann zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 6. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3684, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/3447 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, die von der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss abgegebene Erklärung zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Damit kommen wir jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck. ({0})

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich während der abschließenden Gespräche mit dem Finanzminister über den Haushalt die Arbeit meinen beiden Staatssekretären, Peter Eickenboom und Hans Georg Wagner, überlassen musste, habe ich es ursprünglich für richtig gehalten, Herrn Staatssekretär Wagner die Einbringungsrede zu überlassen. Offenbar wird dies aber von manchen Kommentatoren als Beweis für eine fortdauernde Krankheit angesehen. Das ist falsch. Um zu vermeiden, dass sich aus einer Haushaltsdebatte über den Verteidigungshaushalt eine Debatte über meinen Gesundheitszustand entwickelt, rede ich jetzt, bringe den Haushalt ein und werde natürlich auch zukünftig reden, wenn ich es selbst für richtig halte. ({0}) Die Bundeswehr setzt den Weg der Reform und der Transformation konsequent und mit Erfolg fort. Auch der Haushalt, den wir jetzt hier in erster Lesung beraten, ist ein Beweis und ein Ausweis dafür. Wir engagieren uns intensiv international - in der vorherigen Debatte ist darüber ausführlich gesprochen worden - und wir tun dies auf einer verlässlichen finanziellen Grundlage. Das ist die Situation, in der wir heute den Verteidigungshaushalt erörtern. Die Transformation der Bundeswehr hat Fahrt aufgenommen, das heißt, bis zum Jahr 2010 werden die Streitkräfte konsequent auf die wahrscheinlichsten Aufgaben von heute und morgen ausgerichtet. ({1}) Die neue Bundeswehr wird bestimmt durch: eine neue Führungsorganisation, ein neues Fähigkeitsprofil, neue Streitkräftekategorien, eine neue Einsatzsystematik und eine neue Ausrüstungsplanung. Dieser Prozess erfolgt auf klaren konzeptionellen Grundlagen. Dazu gehören die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai des vergangenen Jahres, die wir hier schon häufiger erörtert haben. Dazu gehört auch die neue Konzeption der Bundeswehr, die in der Verantwortung des Generalinspekteurs erstellt wurde und von mir im August dieses Jahres erlassen worden ist. Noch in diesem Jahr - darüber werden wir uns auch in diesem Plenarsaal intensiv unterhalten müssen - wird schließlich über ein neues Stationierungskonzept zu entscheiden sein, das den neuen Erfordernissen an die Bundeswehr und den neuen Bedingungen, unter denen sie arbeitet, Rechnung tragen muss. Mit der Transformation der Bundeswehr sorgen wir dafür, dass die Bundeswehr ein leistungsfähiges Instrument deutscher Außenpolitik bleibt und wirksam zur Abwehr von Gefahren beitragen kann. Die Bundeswehr ist gegenwärtig mit über 7 000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Im Kosovo sind die Soldaten der Bundeswehr Teil einer internationalen Sicherheitspräsenz, die Streitkräfte von über 30 weiteren Nationen mit insgesamt 17 500 Soldaten umfasst. Sie leisten dort trotz der aktuellen Diskussionen, die uns sicherlich auch im Verteidigungsausschuss beschäftigen werden, nach wie vor einen ganz wichtigen Beitrag zur Stabilität und zur Sicherheit im Kosovo. ({2}) Nach den Unruhen im März dieses Jahres im Kosovo ist die Einsatzplanung der Bundeswehr mit dem Ziel größtmöglicher Flexibilität und Mobilität geändert worden. Gleichzeitig wurde die Ausrüstung verbessert, um ein angemessenes Vorgehen auch gegen zivile Unruhestifter zu ermöglichen. Gerade eben hat der Bundestag ein Gesetz beschlossen, durch das den Soldaten auch der Einsatz von so genannten einfacheren, nicht tödlichen Waffen zur Bekämpfung von Unruhen ermöglicht wird. Auch im Namen der Soldatinnen und Soldaten bedanke ich mich ausdrücklich dafür. Auch in Bosnien tragen die Soldaten der Bundeswehr als Teil von SFOR mit über 1 200 Mann bzw. Frau zur militärischen Absicherung des Friedensprozesses bei. Gemeinsam mit den Streitkräften aus 35 Nationen beteiligt sich die Bundeswehr an der Operation Enduring Freedom im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Am Horn von Afrika sind wir mit der Marine und in Afghanistan sind wir, wenn es erforderlich sein sollte, mit dem Kommando Spezialkräfte tätig. In Afghanistan ist die Bundeswehr mit insgesamt 2 100 Soldatinnen und Soldaten in Kabul, in Kunduz und in Faizabad im Einsatz und erfüllt die Aufgaben entsprechend den Mandaten der Vereinten Nationen und dieses Parlaments, des Bundestages. Ich bitte insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der FDP, die das Mandat in Kunduz sehr kritisch sehen und ihm nicht zustimmen konnten, sehr darum, sich vor Ort persönlich ein Bild von der guten Arbeit der PRT-Soldatinnen und -Soldaten in Kunduz zu machen. ({3}) Die Nichtregierungsorganisationen, die dort tätig sind, begrüßen es trotz der vorherigen Vorbehalte, dass wir dort sind. In Faizabad werden wir die gleiche Aufgabe übernehmen. In Absprache mit dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben wir Projekte identifiziert, über die wir noch im Laufe dieser Woche gemeinsam entscheiden und beraten können. Kollege Erler hat in der vorherigen Debatte die gesamten Organisationen aufgezählt, die in Faizabad arbeiten. Wir wollen mit unserer Präsenz dort helfen und wir werden das genauso gut wie in Kunduz tun. ({4}) Schließlich geht es auch darum, dass wir die Vorbereitung der Präsidentschafts- und der Parlamentswahl in diesem Land durch unsere Präsenz mit unterstützen. Für die Präsidentenwahl gehen wir von einem Wahltermin im Oktober aus. Möglicherweise wird es einen zweiten Wahlgang geben. Es gibt 13 Gegenkandidaten zu Karzai. Im Dezember wird es vielleicht eine Stichwahl geben und im März wird dann das Parlament gewählt. Allein dafür ist unsere Präsenz auch in Faizabad, in der Provinz Badakhshan, über die wir eben gesprochen haben, dringend erforderlich. ({5}) Zuletzt darf ich einige nur kurze Hinweise zum Haushalt geben, weil ich glaube, dass die Rednerinnen und Redner der Koalition das im Augenblick besser darstellen können als ich. Unser Haushalt beläuft sich auf 24,04 Milliarden Euro. Natürlich hätte ich wie jeder Minister gerne einen größeren Haushalt, aber ich trage den Konsolidierungskurs des Finanzministers selbstverständlich mit. Wenn wir jedoch im Laufe der Beratungen darüber streiten, ob die Mittel an dieser oder jener Stelle richtig eingesetzt sind, dann möchte ich darauf hinweisen, dass der Vorschlag, Kollege Austermann, von Herrn Stoiber, den Haushalt um 5 Prozent zu kürzen, im Verteidigungsetat 1,2 Milliarden Euro weniger bedeuten würde. Damit können wir unsere internationalen Aufgaben nicht erfüllen; das wissen Sie ganz genau. ({6}) Wir können im Einzelnen gern über Ihre Vorschläge reden. Ich will Ihnen nur sagen, dass ich bei der Linie bleibe, die begonnen worden ist, als ich das Amt übernommen habe. ({7}) Wir führen die größte Reform in der Geschichte der Bundeswehr durch, weil wir eine völlig neue Situation haben. Die Bundeswehr wird das bekommen, was sie braucht. Wir werden unsere Mittel umschichten, damit wir sie vernünftig einsetzen. Wir werden keine Mittel mehr für Waffensysteme oder deren Depotkosten einsetzen, die wir nicht mehr brauchen, sondern wir werden die Mittel für die Waffensysteme einsetzen, die wir brauchen, und für die Bundeswehr, die wir brauchen, mit ihren neuen Aufgaben. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politische Meinungsunterschiede gibt es in vielen Bereichen, auch in diesem Parlament und auch beim Thema Verteidigung. Sie führen nicht so weit, dass unser Verständnis für den gesundheitlichen Zustand des einen oder anderen gering ausgeprägt ist. Ich möchte deshalb ausdrücklich zu Beginn sagen, Herr Minister: Wir wünschen Ihnen, dass Ihre Gesundheit so gut ist wie die eines jeden anderen und möglichst bald wieder in optimalem Zustand hergestellt sein möge. ({0}) Wenn es Spekulationen um den heutigen Termin gegeben hat, dann lediglich deshalb, weil uns bekannt war, dass von Ihnen, Herr Minister, alle Termine wahrgenommen werden sollten, bloß dieser nicht. Da kommt man natürlich auf den Gedanken, das könnte andere als gesundheitliche Gründe haben, nämlich zurückgehen auf die Fragen, die im Verteidigungsausschuss gestellt worden sind. Ich freue mich, dass Sie Ihre Bereitschaft erklärt haben, sich diesen Fragen offen zu stellen. ({1}) - Er hat dieses Thema doch selber offen angesprochen. Daher bitte ich um Verständnis dafür, dass ich diese Erklärung abgegeben habe. Wir freuen uns, dass wir diese Debatte wieder und weiter führen können. Damit möchte ich zum Thema kommen, nämlich zu den Haushaltsrahmenbedingungen für den Verteidigungsetat. ({2}) - Ich kann Ihnen diese Frage gleich beantworten, Herr Kahrs. Der Minister hat dieses Thema selber angesprochen. Dies deutet darauf hin, dass er Interesse an einer streitigen Auseinandersetzung hat, insbesondere zu diesem Punkt. Im Haushalt 2004 ist der Verteidigungsetat durch eine globale Minderausgabe in einem Maße gebeutelt worden, das weit über die 5 Prozent Kürzung hinausgeht, die Herr Stoiber angesprochen hat. Im Haushalt 2005 ist davon auszugehen, dass für die sozialen Sicherungssysteme - Opfer für Hartz IV, Opfer für die Rente, globale Minderausgabe von 1,4 Milliarden Euro - ein weiterer Milliardenbetrag eingespart werden muss. ({3}) So ist doch jedem, der Erfahrungen mit Herrn Eichel und dieser Bundesregierung hat, klar, dass ein wesentlicher Teil dieser Kürzung aus der zusätzlichen, enorm hohen globalen Minderausgabe wieder den Verteidigungsetat treffen wird. Das werden eher mehr als 5 Prozent. ({4}) Machen Sie jetzt also kein Theater wegen der 5 Prozent, von denen Herr Stoiber gesprochen hat. Sie sind nicht einmal in der Lage, im Etat 1 Prozent zu kürzen. Auf Ihrer Klausurtagung haben Sie die Frage offen gelassen, wie das Problem gelöst wird. Sie haben es zwar beschrieben, aber Sie haben die Frage, wie sie die Löcher stopfen können, die Sie offensichtlich genauso wie wir identifiziert haben, nicht beantwortet. ({5}) Der vorliegende Regierungsentwurf umfasst für diesen Einzelplan einen Plafond von zunächst einmal - das muss man nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre so sagen - 23,9 Milliarden Euro, davon 6,1 Milliarden Euro für Investitionen. Die Mittel reichen nach unserer Einschätzung nicht aus, um die vom Minister angestrebte Bundeswehrreform zu bezahlen. Das, was im Etat vorgesehen ist, reicht für diese Reform nicht aus. Die Ansätze belegen, dass die Koalition mit ihrer Absicht, eine Reform der Reform von Herrn Scharping vorzulegen, gescheitert ist. Weit reichende Einschnitte in Personal, Material und Standorte sollten Mittel freisetzen, die Minister Scharping über die GEBB durch den Verkauf von Grundstücken und Wehrmaterial gewinnen wollte. Sie wissen alle, dass das nicht gelungen ist. Jetzt kommt ein anderes Märchen. Wieder sollen 600 Millionen Euro durch Privatisierungserlöse eingebracht werden. ({6}) Auch das wird wie in der Vergangenheit nicht eintreffen. Sie werden im Ergebnis eine unterfinanzierte Bundeswehr haben. Die sozialen Sicherungssysteme werden Sie dazu zwingen, statt der Reform dieser Reform weitere Opfer zu bringen, sodass der Verteidigungsetat auch dieses Mal wieder nicht ungeschoren bleibt. Man muss sich nur die Zahlen ansehen. 24 Milliarden sollten es in diesem Jahr sein, 24,2 Milliarden im Jahr 2005, 25,2 Milliarden in den Jahren 2006 und 2007. Davon ist in der Finanzplanung keine Rede mehr. Nur diese Finanzplanung, die ich eben beschrieben habe - sie ist Gegenstand des 37. Finanzplanes -, rechtfertigt Veränderungen, die vorgesehen sind. Sie rechtfertigt die Annahme der Realisierbarkeit des Materialvolumens der Bundeswehr. Sie rechtfertigt letztlich die Gefährdung des Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht. ({7}) Sie rechtfertigt letzten Endes die Senkung des Anteils der 25 000 Grundwehrdienstleistenden, sodass heute mehr Zivildienstleistende als Wehrpflichtige einberufen werden. Bei diesem Zustand kann man doch von Wehrgerechtigkeit nicht mehr reden und jeder weiß nach den Urteilen des Verwaltungsgerichts in Köln und nach anderen Entscheidungen, dass auch die Richter inzwischen der Meinung sind: Mit Wehrgerechtigkeit hat das, was inzwischen erreicht worden ist, nichts mehr zu tun. ({8}) Ich kann das bezogen auf die noch verbliebenen Standorte in meinem Wahlkreis sagen. Dort erfahren Sie von den Kommandeuren, dass in diesem Jahr nur 80 Prozent der Wehrpflichtigen eingezogen worden sind. Wenn Sie diesen Trend, 20 Prozent eines Jahrgangs nicht einzuziehen, fortsetzen, werden im nächsten Jahr 25 000 Wehrpflichtige weniger einberufen. Auf das Jahr verteilt macht das, bei neun Monaten Wehrdienst, 37 000 Wehrpflichtige weniger. Das heißt unter dem Strich: Ganze Generationen werden nicht mehr berücksichtigt. ({9}) Beim Zivildienst setzt sich das fort. Das hat mit Wehrgerechtigkeit nichts mehr zu tun und ruiniert vor allen Dingen die Strukturen der Bundeswehr, die auf einen ganz bestimmten Ausbildungsumfang eingestellt ist. ({10}) Meine Damen und Herren, die Finanzerwartung rechtfertigt die Reduzierung des Personalumfangs um 7 000 Soldaten, wenn alles andere stimmt. Sie rechtfertigt die Kürzung um 40 000 Mitarbeiter im zivilen Bereich. Welche Folgen das für die Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen hat, ist wohl jedermann klar. ({11}) Nur diese Finanzerwartung rechtfertigt die Schließung von 100 Standorten mit der Folge konjunktureller Einbrüche bei den Gemeinden in Millionenhöhe. Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir 592 Standorte; durch die ReDietrich Austermann form von Herrn Scharping wurden sie auf rund 505 reduziert. Im nächsten Jahr sollen es 400 Standorte sein; das wird im November offiziell bekannt gegeben. ({12}) - Sie sind davon nicht betroffen; Hamburg ist inzwischen bundeswehrfreie Zone, bis auf einen Standort und die Führungsakademie. Bald werden Sie weniger als 400 Standorte haben, das Heer allein nur noch 161 Standorte. Das ist das Ziel und das ist das Ergebnis einer Politik, die ausschließlich auf Einsatzkräfte für internationale Einsätze konzentriert ist. ({13}) Ihnen fehlen in diesem Etat 1,8 Milliarden Euro und der von mir eben beschriebene Zustand wird sich weiter dramatisch verschlechtern. Meine Damen und Herren, bei den vorgenommenen Eingriffen in Personal und Infrastruktur kann dieser Verlust nicht mehr von den Betriebsausgaben aufgefangen werden. Herr Minister, Sie werden um Eingriffe in die Materialplanung nicht herumkommen. Der Begriff der Transformation gewinnt dann einen völlig neuen Sinn. Die Bundeswehr wandelt sich, sie wird ständig verkleinert. Substanzverlust bedeutet: Nicht die Reform der Bundeswehr wird durch harte Einschnitte in betroffene Gemeinden finanziert, ({14}) sondern die Sozialsysteme werden durch das finanziert, was eigentlich für innere Sicherheit bestimmt sein sollte. Das hat natürlich auch Konsequenzen für die wehrtechnische Industrie, die unter dieser Bundesregierung noch nie Planungssicherheit hatte. Das zeigt aber auch die Wertschätzung der Sicherheitspolitik unter dieser Bundesregierung. Nicht zuletzt zeigt es die Wertschätzung dieser Bundesregierung für das Verteidigungsministerium und die dort tätigen Personen. ({15}) Die Reform der Bundeswehr ist also eines der größten im Stau befindlichen Bundeswehrprojekte. ({16}) - Herr Kahrs, es wird Ihnen nicht gelingen, Frau Lehn zu ersetzen. Die war lauter als Sie, Herr Tauss auch. Ich würde empfehlen, dass Sie sich etwas freundlicher gegenüber dem Redner verhalten. ({17}) Wenn man die Beschreibung der Reform als Transformation richtig definiert, ist offensichtlich noch nicht klar, welches Ergebnis erreicht werden soll. Ich will Ihnen eine Weisung zur Weiterentwicklung des Heeres - möglicherweise kennen Sie die noch nicht - nicht vorenthalten. Dort heißt es: Transformation = Qualitätssprung im Hinblick auf neue Anforderungen, verändernde Strukturen, neue Verfahren der Entscheidungsprozesse und die Neugestaltung der Ausbildung. Transformation bleibt ein fortlaufender, dynamischer Prozess des Wandels ohne abschließend definiertes Ziel! Genau das ist unser Eindruck, nämlich dass das Ziel nicht klar vor Augen ist. ({18}) Man gewinnt den Eindruck, hier treibt ein Schiff ohne Ziel und ohne klare Führung auf stürmischer See. So, wie übrigens die gesamte Bundeswehr dümpelt, dümpeln auch die Projekte der Bundeswehr im Einzelnen. Lassen Sie mich das stichwortartig erwähnen. ({19}) Das Projekt Herkules, Herr Brüller, die Ausstattung der Bundeswehr mit Informationstechnik, ist ein Milliardenflop. Man weiß gar nicht, mit welcher Strategie und mit wem zurzeit verhandelt wird. Wer traut sich, den Knoten durchzuschlagen? Offensichtlich niemand. Gigantomanie ist das Letzte, was die Bundeswehr braucht. Auch zahlreiche weitere Großprojekte wurden nicht so richtig abgeschlossen, Fristen und Kosten werden überschritten. Wer kümmert sich eigentlich um den Vollzug beim Tiger und NH-90? Das Thema Eurofighter ist eine endlose Geschichte. ({20}) Erst wurden wir aufgefordert, noch vor der Sommerpause einen Leerbeschluss zu fassen, also auf jeden Fall die zweite Tranche in Höhe von 4,5 Milliarden Euro zu beschließen. Es lag aber noch nicht einmal ein Industrievertrag vor. Es wurde davon ausgegangen, dass der Haushaltsausschuss beschließen soll. Herr Bonde, Sie waren dabei, als wir es abgelehnt haben. Wir ließen das nicht mit uns machen. Das ist das Verhalten von ordentlichen Haushältern. ({21}) Zwischenzeitlich kam die Nachricht, die Industrie habe sich über die Preise verständigt und auch die Engländer seien wieder im Boot. - Wir warten jetzt seit etwa sechs Wochen auf die seinerzeit angekündigte endgültige Erklärung. Ich habe - auch nach der beeindruckenden Flugvorführung eines Prototyps - den Eindruck, dass offensichtlich manches aus dem Ruder gelaufen ist und eine sinnvolle Kontrolle, wie das Ganze weiterlaufen soll, fehlt. Wir sind für die zweite Tranche ({22}) ursprünglich hatten wir den Kauf von 180 Eurofightern mit beschlossen -, erwarten aber, dass wir die Kosten im Auge behalten und das Ministerium das auch tut. Bisher ist der Eurofighter wie der Haushalt selbst ein unfertiges Projekt. Ohne Zustimmung des Parlaments werden Sie die abschließende Liste für Mängel, die noch ausgeglichen werden, nicht erstellen können. Oder Sie legen eine völlig geänderte Haltung an den Tag. In den letzten Tagen ist etwas passiert, das mich etwas erstaunt hat. Wir haben vom Finanzministerium die Mitteilung bekommen, die Liste der „Geheimen Erläuterungen“ habe sich aufgrund einer Plus-Minus-Liste des Verteidigungsministeriums geändert. Also: Im Juni legt der Finanzminister einen Verteidigungsetat vor. Dieser sieht etwas anders aus, als es sich der Verteidigungsminister wünscht. Dann werden Veränderungen vorgenommen, weil man die Planung der Beschaffung an die Liste dessen anpassen muss, was finanziell möglich ist. Anschließend wird eine geänderte Plus-Minus-Liste vorgelegt, die sogleich in die „Geheimen Erläuterungen“ eingearbeitet wird. Wofür brauchen wir eigentlich noch das Parlament? Ich frage mich, was das für Entscheidungswege sind und was in den Köpfen derer vorgeht, die so etwas veranlassen: Wir geben eine fertige Entscheidung über die Beschaffung bekannt, obwohl wir gar nicht wissen, wie viel Geld verfügbar ist. Ob sich das Parlament damit befasst, ist ohne jegliche Bedeutung. So verhalten Sie sich auch bei der GEBB. Die Kollegen von der Union, die nach mir sprechen, werden darauf etwas ausführlicher eingehen. Ich sage Ihnen nur: Das, was man sich von dieser Gesellschaft erwartet hat, hat sich offensichtlich nicht erfüllt. ({23}) Die Frage ist nur, welche Staatssekretäre und welche Industriefachleute, die im Aufsichtsrat dieser Gesellschaft sitzen, jetzt den Mut haben, zu sagen, dass sich das Ganze nicht rechnet, dumm angefangen wurde und insgesamt schlecht gelaufen ist. Das ist eine Versorgungsanstalt für ehemalige Mitarbeiter der Bundeswehr. Sie bringt der Bundeswehr aber überhaupt nichts. Es gibt sogar strafrechtlich relevante Vorgänge, wie uns der Bericht des Bundesrechnungshofes gezeigt hat. ({24}) Wir sind der Meinung, dass hier aufgeklärt und für Veränderung gesorgt werden muss. Die Verschleuderung von Steuergeld muss beendet werden. ({25}) Im Moment macht das Bundesverteidigungsministerium in vielen Bereichen den Eindruck, als ob an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht wird. Wir haben den Eindruck, dass es zu viele Stellschrauben gleichzeitig gibt. Außer Geld fehlt es auch an Führung, wenn es darum geht, mehr für die Terrorismusbekämpfung im Detail - auch für die vorbereitende Verteidigungsforschung - zu tun. Herr Minister, wir fordern Sie auf: Räumen Sie in Ihrem Haus auf! Sorgen Sie für eine bessere Information und eine bessere Zusammenarbeit mit dem Parlament, damit wir die gemeinsamen Haushaltsberatungen auf vernünftige Weise führen können! Vielen Dank. ({26})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold, SPD-Fraktion.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Lassen Sie mich auch von unserer Seite zunächst eines anmerken: Wir freuen uns, dass der Minister wieder voll einsatzfähig in unserer Runde sitzt. ({0}) Es ist richtig: Angesichts des anspruchsvollen Transformationsprozesses, in dem sich die Bundeswehr befindet - bei der Bundeswehr ist es ähnlich wie bei den Sozialversicherungssystemen, bei denen sich die Reformen ebenfalls gerade in der Umsetzungsphase befinden -, ist es wichtig, dass der Kapitän wieder das Kommando von der Brücke aus führen kann. Ich weiß aber, dass er das Kommando auch in den vergangenen Wochen führen konnte, wenn er auch nicht immer ganz oben stand. Der Haushalt, den wir heute beraten, spiegelt die Transformation der Bundeswehr exakt wider. Herr Austermann, die konzeptionellen und operativen Vorgaben sind in diesem Haushalt klar und deutlich abgebildet. Sie erzählen manchmal Märchen. Im Bundeshaushalt für das nächste Jahr stehen für die Bundeswehr über 200 Millionen Euro mehr zur Verfügung als im laufenden Jahr. Machen Sie also den Soldaten keine Angst! Es geht voran. In der mittelfristigen Finanzplanung sind die Projekte abgesichert. Ich werde noch darauf zu sprechen kommen. Die Zeit, in der der Einzelplan 14 ein so genannter Brückenhaushalt war, ist endgültig vorbei. Jetzt bildet dieser Einzelplan den konzeptionellen Rahmen, in den die Reformvorhaben in den nächsten Jahren passen werden. Das funktioniert deshalb, weil wir uns ernsthaft darangemacht haben, klare Prioritäten zu setzen. Wir haben dafür die richtigen Schwerpunkte gesetzt. Auch weiterhin wird die solide Ausbildung und Einsatzbefähigung der Soldaten ganz oben stehen. Es bleibt auch bei der guten Ausrüstung. Fahren Sie doch einmal in die Einsatzgebiete, Herr Austermann, und reden Sie mit den Soldaten! Dann werden Sie erfahren, dass die Soldaten alles haben, was sie brauchen. Bei den zukünftigen Projekten steht der Schutz der Soldaten ganz oben auf unserer Agenda. Sie müssen schon zuhören, statt nur vom Schreibtisch aus erbsenzählerisch zu polemisieren. ({1}) Klar ist aber auch, dass dieser Haushalt nicht die Umsetzung aller Wunschprojekte erlaubt. Es kommt vielmehr darauf an, das Notwendige vom Wünschenswerten zu trennen. Dabei steht die Finanzierung unserer laufenden multinationalen Einsätze ganz oben. Sie ist die wichtigste Wegmarke bei unseren Ausgaben. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Dahinter müssen andere Vorhaben ein Stück weit zurücktreten. Sie vergessen in der gesamten Debatte um den Verteidigungsetat immer wieder eines: Sie fordern immer mehr Geld für den Verteidigungsetat und glauben, dass dies mehr Sicherheit und Stabilität für unsere Gesellschaft und unser Land bringt. Das ist aber schon im Ansatz falsch. Wir haben ein anderes Verständnis von Sicherheit in Europa - das lässt sich nicht auf die nationale Ebene beschränken -; dabei spielt die soziale Zufriedenheit und die Wirtschaftskraft der Nationen eine besondere Rolle. Deshalb liegt es auch im Interesse der Streitkräfte, dass die soziale Balance in Deutschland gewahrt bleibt. Wenn Sie immer wieder mehr Geld für die Verteidigung fordern, dann müssen Sie dieser Forderung auch hinzufügen, dass dies angesichts der Haushaltslage gravierende Einschnitte in wichtigen anderen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Bereichen unserer Republik erfordert. Hat das etwas mit Stabilität und Sicherheit zu tun? Nein. Wir verfolgen einen anderen Weg und orientieren uns bei der Verwendung der Haushaltsmittel an den Aufgaben der Streitkräfte. Ich finde es spannend, welche Beispiele Sie bringen. Ich greife ein Beispiel heraus: den Eurofighter. Herr Austermann und die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie haben dieser Koalitionsregierung mit den Beschlüssen aus Ihrer Regierungszeit einen Eurofighter vor die Tür gestellt, an dem vielleicht Sportpiloten ihre helle Freude hätten, aber nicht Soldaten. ({2}) Wenn Sie jetzt die latent vorhandenen Mängel des Eurofighters hinsichtlich der Bewaffnung und der Elektronik monieren - wir sind derzeit dabei, neue Technologien mit aufzunehmen -, muss ich Ihnen entgegnen: Mit dieser These von Ihrer Seite wird der Brandstifter schließlich zum Feuerlöscher. Das ist nicht sehr glaubwürdig. ({3}) Wir bleiben dabei: Wir setzen auch in Zukunft auf Forschung und Entwicklung bei den Streitkräften. Dazu passt die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten, die Mittel für die Streitkräfte um 5 Prozent zu kürzen, überhaupt nicht. ({4}) Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, dass in diesem Jahr 200 Millionen Euro mehr in den Verteidigungsetat eingestellt worden sind. Alles andere ist nur Spekulation. Es hat doch nichts mit einer seriösen Haushaltsdebatte zu tun, wenn Sie von fiktiven Veränderungen ausgehen. In den nächsten Wochen und Monaten werden wir auf jeden Fall über den Haushaltsentwurf beraten und ihn verabschieden. Dann wird er Gesetz; das ist ganz klar. Ihre Argumentation ist nicht in Ordnung. Herr Austermann, wenn Ihr Vorschlag, bei den Verwaltungskosten 10 Prozent einzusparen, umgesetzt würde, dann würde dies die Bundeswehr mit 280 Millionen Euro belasten. Gleichzeitig monieren Sie aber, dass die Regierung exakt bei den Verwaltungskosten spart; denn das Schließen von Standorten ist nichts anderes als Sparen bei den Verwaltungskosten. Das steigert zudem die Effizienz und die Wirtschaftlichkeit. Das, was Sie fordern und kritisieren, ist hinten und vorne nicht schlüssig und deshalb nicht glaubwürdig. ({5}) Einen ähnlichen Populismus betreiben Sie bei der GEBB. Ich möchte darüber nicht wieder mit Ihnen diskutieren, sondern nur ein paar Sätze dazu sagen. ({6}) - Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofes gelesen. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Natürlich gibt es auch in dem Bericht des Bundesrechnungshofes kritische Anmerkungen. ({7}) Diese beziehen sich aber auf die Gründungsphase der GEBB. ({8}) Wenn man nicht bereit ist, neue Wege zu beschreiten und manchmal auch Risiken einzugehen, dann ist man zu Veränderungen und Reformen nicht fähig. ({9}) Die Fehler, die bei der GEBB gemacht worden sind, wurden erkannt. In den letzten zwei Jahren läuft es gut. Das zeigt im Übrigen auch die Wirtschaftlichkeitsberechnung. Es ist richtig, dass 300 Millionen Euro durch die GEBB eingespart sind. Auch ist ganz klar, dass Sie zu Reformen nicht fähig sind; denn sonst würden Sie erkennen, dass allein die Existenz der GEBB schon dazu geführt hat, dass sich eine öffentliche Verwaltung plötzlich dem Wettbewerb stellen muss. Die Superökonomen von CDU/CSU und FDP fordern doch ständig mehr Wettbewerb und mehr Markt. Der Wettbewerb hat dazu geführt, dass sich die Bundeswehrverwaltung von selber modernisiert und reformiert. Die GEBB ist schon deshalb wertvoll. Sie hat die Modernisierung der Streitkräfte vorangetrieben; das ist eindeutig. ({10}) Herr Austermann, die Bundeswehr würde Ihr Verhalten mit folgendem Standardspruch kommentieren - ich kann ihn nicht wörtlich zitieren, weil er der Würde des Hauses nicht angemessen ist; ich werde deshalb versuchen, ihn in leicht modifizierter Form wiederzugeben -: Sie tarnen, Sie täuschen, und wenn die Dinge einmal schief laufen, obwohl Sie ursprünglich dafür waren, dann schlagen Sie sich in die Büsche. Sie verhalten sich beim Thema „Bundeswehr“ ganz genauso wie bei allen anderen Politikfeldern, über die wir in dieser Woche debattieren. ({11}) Lassen Sie mich nun noch ein paar Sätze zu den schwierigen Auslandseinsätzen sagen. 19 Tote im Kosovo, 4 000 Menschen vertrieben und 610 Häuser angezündet, daran gibt es überhaupt nichts zu beschönigen. Das ist nicht in Ordnung. Es ist offensichtlich, dass es hier Probleme gibt. Darum kann man nicht herumreden. Es ist richtig, dass die Fehler, die dort gemacht worden sind, uns sehr schmerzen. Sie tun weh. Ich stelle aber gleichzeitig fest: Die Soldaten, die im Kloster im Tal, am Bischofssitz, ihren Auftrag erfüllt haben, haben einen guten und richtigen Job gemacht. Sie verdienen Anerkennung und Respekt dafür, dass sie die Verhältnismäßigkeit der Mittel stets gewahrt haben. Das ist die eine Sache. ({12}) Die andere ist: Die Vorfälle sind nicht gut. Deshalb ist es notwendig, dass wir gemeinsam im Verteidigungsausschuss die bestehenden Probleme sorgfältig analysieren. Angesichts der Tatsache, dass es bereits mehrere Debatten über dieses Thema gegeben hat - in der gestrigen langen Debatte sind beispielsweise viele Ihrer Fragen beantwortet worden -, dass der Generalinspekteur bereits im Mai dieses Jahres einige Dinge sehr kritisch angemerkt hat und dass der Minister zugesagt hat, dass es einen schriftlichen Bericht geben wird, ist es aber nicht fair, dass Sie an die Mikrofone rennen und behaupten, dass es zig Fragen gibt, die offen geblieben sind. Das ist so nicht wahr. Es gibt sicherlich Fragen, die noch geklärt werden müssen. Aber das Entscheidende ist, dass wir nicht zurückblicken, sondern uns fragen, was die Bundeswehr aus den Problemen gelernt hat. Lesson learnt! Natürlich müssen wir erkennen, dass es Probleme in der internationalen Struktur, nämlich in der Kommunikation und in der Führung, gegeben hat. Das kann niemand leugnen. Für diese sind wir verantwortlich, wenn auch nicht alleine. Wir haben aber auch erkannt, dass es nicht ausreicht, wenn deutsche Soldaten in Bedrängnis nur die Wahl haben, in die Luft zu schießen oder sehr ernsthaft von ihrer Waffe Gebrauch zu machen. Das ist keine gute Alternative. Es fehlte natürlich an Alternativen, mit solchen Situationen umzugehen. Diese Lücke haben wir jetzt geschlossen: Die Soldaten haben die entsprechenden technischen Vorrichtungen, sie haben Schilder und sie haben Geräte, um Menschenmassen auch einmal abzudrängen. Wir haben heute ein Gesetz beraten, dessen Verabschiedung sie auch in die Lage versetzen wird, Wasserwerfer und Reizgas einzusetzen. Dies alles ist notwendig und richtig. Wir haben es in die Wege geleitet. Ich glaube, das ist entscheidend. Es ist das, was wir in dieser Situation tun können. Bei aller Kritik bitte ich Sie doch sehr, eines nicht zu vergessen: Die Aufgaben der Bundeswehr vor Ort sind unglaublich kompliziert, komplex und herausfordernd. Sie sind auch deshalb kompliziert, weil sie nicht losgelöst von der internationalen Mandatierung, von komplizierten Regelwerken und von komplizierten Kommandostrukturen zu erfüllen sind. Das macht es natürlich nicht einfach. Auch deshalb ist es richtig, dass es ein gemeinsames Lage- und Führungszentrum der KFOR und der UNMIK gibt. All diese Dinge sind doch auf die Schiene gesetzt worden. Hierfür danken wir dem Minister und dem Generalinspekteur. Wir sagen ihnen unsere volle Unterstützung dabei zu, wenn es darum geht, diesen Weg weiterzugehen und diesen Prozess fortzusetzen. ({13}) Sie üben Kritik am Mandat im Kosovo, sowohl was das operative Geschäft als auch was die außenpolitischen Bewertungen anbelangt. Zumindest die FDP übt sehr lautstark Kritik an den Aufgaben in Afghanistan, am PRT-Mandat. ({14}) - Sie sagen „zu Recht“. - Sie vergessen eines - das wollte ich Ihnen gerade sagen -: Ihre Kritik richtet sich in erster Linie nicht gegen diese Koalition, sondern gegen die internationale Staatengemeinschaft, gegen die Vereinten Nationen, gegen die NATO und gegen die Europäische Union. ({15}) All das, was in Afghanistan passiert, einschließlich der PRTs, geht auf Beschlüsse der internationalen Staatengemeinschaft zurück. Herr Schäuble hat heute von der Verlässlichkeit der Bundesregierung gesprochen. Er hat dabei an die deutsche Irakpolitik gedacht. Die Verlässlichkeit der Bundesregierung macht sich aber nicht an der Irakpolitik fest. Sie macht sich vielmehr daran fest, dass wir bei unserem Wort bleiben und in den Irak keine Soldaten schicken. Darüber hinaus macht sich die Verlässlichkeit der Bundesregierung daran fest, dass wir das, was wir in der internationalen Staatengemeinschaft mit beschlossen haben und was wir natürlich mit gestalten wollen - es geht schon darum, dass wir Einfluss nehmen; das ist ganz klar -, jetzt verlässlich umsetzen. Dazu gehören die PRTs. Sie kritisieren also die internationale Staatengemeinschaft. Die „Weltmacht“ FDP glaubt der Welt erklären zu können, wo es langgeht. Das kann doch überhaupt nicht angehen. ({16}) Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Herr Austermann, Sie haben moniert, die Bundeswehr wisse nicht, was am Ende der Reformen stehe. Sie tun so, als ob das irgendwie vernebelt wäre. Die Angelegenheit ist ganz einfach zu erklären: Im Jahr 2010, wenn dieser Bundeswehrtransformationsprozess abgeschlossen wird, wird die Bundeswehr mit weniger Personal effizienter und leistungsfähiger sein. Wir arbeiten gerade daran, dieses Ziel zu erreichen. Sie haben die Chance, mitzuhelfen, statt im Grunde genommen immer wieder Sand ins Getriebe zu streuen und sich zum Helfershelfer derer zu machen, die die Modernisierung der Streitkräfte verhindern wollen. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Günther Nolting, FDP-Fraktion.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Struck, wir freuen uns, dass Sie wieder hier sind, und wir wünschen Ihnen persönlich alles Gute. Ich hoffe, dass Sie Ihr Amt bis 2006 ausführen können. ({0}) Herr Kollege Arnold, wir kritisieren nicht die gute Arbeit der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan - auch der Minister hat sich vorhin in diesem Sinne geäußert -; wir kritisieren aber das Konzept dieser Bundesregierung. Sie können sich daran erinnern, dass wir im Verteidigungsausschuss gefragt haben, welche Nationen uns denn unterstützen. Es wurde groß angekündigt, dass es eine breite Unterstützung gibt. Diese Unterstützung beläuft sich jetzt auf eine Handvoll Soldaten anderer Nationen. Angesichts dessen hier von einem Erfolg zu sprechen kann wohl nicht richtig sein. ({1}) Bezüglich der Umstrukturierung haben wir vieles gehört. Die Transformation soll die Bundeswehr auf die neuen Aufgaben, vor allem im Rahmen der internationalen Konfliktverhinderung und Konfliktlösung, vorbereiten. Der Schwerpunkt der Strukturreform wird folglich bei der Bewältigung von Auslandseinsätzen liegen. Das Personal wird auf diese neuen Aufgaben vorbereitet. Das Material wird unter neuen Gesichtspunkten beschafft. Großgerät wird in Krisengebieten mit extremen klimatischen Bedingungen gebraucht, soll dabei Vorrang haben und der Truppe schnellstmöglich zur Verfügung gestellt werden. Dabei wurde und wird vermehrt, auch auf Drängen der FDP-Bundestagsfraktion, der Schutz der Soldatinnen und Soldaten berücksichtigt. Alle diese Ausführungen sind richtig, aber der vorliegende Verteidigungshaushalt wird diesen Anforderungen nicht gerecht - trotz aller Zusicherungen der Bundesregierung. Ich denke nur einmal an den Schützenpanzer Puma, der den völlig veralteten Marder ablösen soll. Wahrscheinlich wird uns dieses Thema noch über ein Jahrzehnt verfolgen, allein schon aufgrund der Kostenexplosion. Durch die Summe solcher Beispiele zeichnet sich ein neues haushaltspolitisches Fiasko ab, ({2}) das die ohnehin schon völlig unterfinanzierte Bundeswehr weiter unter Druck setzen wird. Das ist nicht nur für die Angehörigen der Bundeswehr schlecht, sondern auch für unser Land. Durch eine verfehlte Finanzpolitik wird der außen- und sicherheitspolitische Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt. Für die Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen heißt das: Sie sollen zwar professionell auftreten und die Aufträge vorzüglich erfüllen, aber dem stehen keine adäquate Ausrüstung und Bewaffnung gegenüber. Das muss sich schnell ändern. Die Bundesregierung kündigt immer an und verspricht. Der Haushalt zeigt aber ein anderes Bild. ({3}) Bei Forschung und Entwicklung zum Beispiel, also bei den Investitionen in die Zukunft, werden 50 Millionen Euro gestrichen. Der Herr Bundeskanzler hat hier heute Morgen erklärt, dass gerade für Forschung und Entwicklung mehr Geld zur Verfügung gestellt werden muss. Aber genau das Gegenteil geschieht. Es wird gestrichen. Auch hier gilt: Viel versprochen, aber nichts gehalten. ({4}) Was wirklich gestrichen werden sollte, sind die Beschaffungsvorhaben aus Zeiten der ausschließlichen Landes- und Bündnisverteidigung. Dabei müssen alle Vorhaben auf den Prüfstand gestellt werden. Was nützt der Bundeswehr ein schöner neuer Strukturplan für das 21. Jahrhundert, wenn Ausrüstung und Bewaffnung damit nicht kompatibel sind? Nichts! Unsere Soldaten brauchen jetzt das Gerät, das sie zur Bewältigung ihrer Aufträge im Ausland so dringend benötigen. Dazu müssen die Investitionen dem Bedarf angepasst werden. Der ehemalige General und heutige Professor an der Universität der Bundeswehr München, Jürgen Schnell, hat die Fehlplanungen der Investitionen vor wenigen Wochen schonungslos offen gelegt. Er stellte klipp und klar fest: Die Bundeswehr ist und bleibt deutlich unterfinanziert. Es fehlen ihr jährlich zwischen 1,5 und 3 Milliarden Euro, je nach gewählter Messgröße. - Die Regierung weiß dies. Sie unternimmt aber nichts. Auch hier hält der Herr Bundeskanzler seine Versprechen nicht. Die knappen Mittel und Ressourcen für unsere Streitkräfte werden zusätzlich in eine falsche Richtung gelenkt. Es wird zu viel für den Betrieb unserer Streitkräfte und zu wenig für Investitionen ausgegeben. Wir müssen den Personalumfang der Bundeswehr reduzieren, vor allem den mobilmachungsabhängigen. Wir müssen die infolge eingesparter Betriebsausgaben verfügbaren Mittel umschichten und wir müssen die Verteidigungsausgaben auf das notwendige Maß anheben. Werden diese Forderungen nicht schnell und konsequent umgesetzt, entstehen negative Auswirkungen auf die Bundeswehr, die unverantwortbar sind. Daneben sind die Folgen für die unabdingbare wehrwirtschaftliche Basis in Deutschland unabsehbar. Die Wettbewerbssituation der deutschen wehrtechnischen Industrie wird weiter geschwächt und die Abhängigkeit von ausländischen Rüstungsgütern nimmt zu. Dem muss aus unserer Sicht konsequent entgegengewirkt werden. Die deutsche wehrtechnische Industrie, gerade die mittelständische wehrtechnische Industrie, ist verstärkt einzubinden. Forschung und Entwicklung sind konsequent voranzutreiben. Die Investitionsquote ist aufzustocken. ({5}) Unter den jetzigen Voraussetzungen können weitere Einsätze von der Bundeswehr nicht erwartet werden. Der Fraktionsvorsitzende Dr. Gerhardt hat sich vorhin dazu geäußert. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesregierung trotz fehlender sicherheitspolitischer Begründung an der Wehrpflicht festhält. Diese Entscheidung bindet ungeheure Mittel im personellen wie im materiellen Bereich. Ein internationaler Vergleich führt zu dem Ergebnis, dass infolge der Veränderung des Anforderungsprofils für unsere Streitkräfte die Wehrpflicht nicht passt und zu einem Auslaufmodell geworden ist. Wenn Sie sich den letzten Jahresbericht der Jugendoffiziere ansehen, so stellen Sie fest, dass auch die jungen Leute die Einberufungskriterien und den Auftrag der Wehrpflichtigen nicht mehr nachvollziehen können. ({6}) Meine Damen und Herren, flankiert werden muss der Transformationsprozess der Bundeswehr durch sinnvolle Entscheidungen in der Standortfrage. Herr Kollege Austermann, Ihre Aussagen zu Standorten werden Sie sehr schnell einholen, wenn Sie in absehbarer Zeit an anderer Stelle oder hier Verantwortung tragen. Sie werden sich dann an dem messen lassen müssen, was Sie hier ausgeführt haben. Natürlich muss die Anzahl der Standorte reduziert werden, wenn der Personalumfang der Streitkräfte reduziert wird. Wir stimmen mit dem Minister überein, dass militärische und wirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund stehen müssen. Herr Minister, wir bitten Sie aber auch, so genannte weiche Faktoren wie Integration einzubeziehen. Ich denke, dass wir auch da einer Meinung sind. Darüber hinaus fordern wir, Herr Minister, dass die betroffenen Kommunen finanziell so unterstützt werden müssen, wie es die alte CDU/CSU-FDP-Bundesregierung Anfang der 90er-Jahre gemacht hat. ({7}) Dort sind durch Steuerumschichtungen den betroffenen Kommunen 7 Milliarden DM zur Verfügung gestellt worden. ({8}) Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, das ist ein Zeichen für verantwortungsvolle Politik; denn Strukturpolitik ist nicht allein Aufgabe des Bundesministers der Verteidigung, sondern für Strukturpolitik im Zusammenhang mit Konversion ist der Bund als Ganzes zuständig. Auch hier müssen Sie Ihrer Aufgabe nachkommen. ({9}) Herr Minister Struck, ich hoffe, dass Sie bei der Umstrukturierung unserer Bundeswehr Erfolg haben, denn die Soldatinnen und Soldaten hätten einen Misserfolg nicht verdient. Sie verrichten ja eine mitunter undankbare und risikobeladene Arbeit. Dafür bedanken wir uns bei unseren Soldatinnen und Soldaten. Kritik, die ich hier angebracht habe, richtet sich - ich sage das noch einmal - nicht gegen unsere Soldatinnen und Soldaten, sondern gegen Teile dessen, was hier von der Bundesregierung vorgelegt wird. Insofern, Herr Minister Struck, kritisieren wir auch die derzeitige Informationspolitik des Bundesministeriums der Verteidigung. Wir sind damit absolut unzufrieden. Wir erwarten - das haben wir gestern ja auch im Ausschuss gesagt -, dass die Informationslücke bezüglich des Toten von Prizren vollständig aufgeklärt wird. Ich hoffe, dass es sich dabei wirklich nur um eine Panne handelte und dahinter nicht System steckt. Sie wissen, dass der Verteidigungsausschuss Möglichkeiten hat, selbst für Aufklärung zu sorgen. Ich denke, Sie werden in den nächsten 14 Tagen für Aufklärung Sorge tragen. Da wir eine Parlamentsarmee haben, ({10}) muss das Parlament auch entsprechende Informationen bekommen. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Herr Minister, Sie haben die Strategie im Kosovo infrage gestellt. Das habe ich jedenfalls heute der Presse entnommen. Die FDP hat einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich hoffe, dass wir weitere Diskussionen darüber führen und unser Antrag dann entsprechend unterstützt wird. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, als wir von Ihrer Erkrankung erfuhren, waren wir sehr erschrocken. Wir sind über Ihre Genesung erleichtert und wünschen Ihnen von ganzem Herzen stabile Gesundheit und volle Kraft. Sie werden hier gebraucht. ({0}) Zum Schluss der vorherigen Debatte haben wir über eine Ergänzung des Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen abgestimmt. Gestatten Sie mir, da dieses in der vorherigen Debatte inhaltlich fast gar nicht angesprochen wurde, dazu noch kurze Nachbemerkungen. Die März-Unruhen im Kosovo, die ja inzwischen schon mehrfach thematisiert wurden, zeigten sehr schnell zentrale Ausstattungslücken beim deutschen KFOR-Kontingent im Hinblick auf die Bewältigung extrem gewalttätiger Demonstrationen. Schon am 24. März wurde diese Frage im Verteidigungsausschuss thematisiert. Die jüngste Gesetzesänderung erlaubt der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen im Rahmen kollektiver Sicherheit zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den Einsatz solcher Reizstoffe, die bisher im Inland schon für die Polizei und den Bundesgrenzschutz zugelassen sind. Dabei galt es allerdings, alles zu vermeiden, was die Rüstungskontrolle bei chemischen Waffen gefährden könnte. Das ist durch die Gesetzesänderung und durch die Ergänzung im Auswärtigen Ausschuss vollständig gewährleistet; denn erstens grenzt die klare Beschränkung des Einsatzzweckes diesen eindeutig von der Verwendung in Kampfeinsätzen ab und zweitens sind die Substanzen eindeutig benannt und werden der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen in Den Haag gegenüber deklariert. Selbstverständlich ist eine verbesserte Demoausstattung der Bundeswehr nur eine von vielen notwendigen Konsequenzen aus den März-Unruhen. Um diese Konsequenzen genau definieren und bewerten zu können, sind eine umfassende und offene Aufklärung und eine Auswertung der März-Unruhen notwendig, zu der das Verteidigungsministerium, das Auswärtige Amt und das Innenministerium zusammen beitragen müssen. ({1}) Es geht hier um mehr als „nur“ - in Anführungszeichen - den Kosovo und mehr als nur den Sinn, die Perspektive und die Akzeptanz dieses kostspieligen Einsatzes; es geht darüber hinaus um einen Praxistest für den neuen Auftrag der Bundeswehr und um nicht weniger als effektiven Multilateralismus. Bei Parlamentsdebatten um die Bundeswehr ist es Brauch, den Soldatinnen und Soldaten für ihren riskanten und professionellen Einsatz im Dienste der Gewaltverhütung und Krisenbewältigung zu danken. Davon ist auch nach dem März nichts zurückzunehmen; das gilt weiter. ({2}) Unsere hohe Anerkennung für die Leistungen der Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Zivilexperten verpflichtet uns aber zugleich zu nüchterner Defizitanalyse ohne Beschönigungen, wie sie vor allem in den ersten Wochen zum Teil praktiziert wurden, und ohne vorschnelle Schuldzuweisungen, Sündenbocksuche oder Schwarze-Peter-Schiebereien. Meiner Erfahrung nach sind Minister Struck und Generalinspekteur Schneiderhan Garanten dafür, dass die Defizitanalyse vorangetrieben wird. ({3}) Die März-Unruhen und die damit einhergehenden großflächigen so genannten ethnischen Säuberungen waren ein massiver Rückschlag und Ansehensverlust für KFOR, UNMIK und die internationale Gemeinschaft insgesamt. Es geschahen gravierende Fehler auf verschiedenen Ebenen und bei verschiedenen Akteuren, längst nicht nur, wie die Diskussion in der Bundesrepublik zum Teil den Eindruck erweckt, beim Bundeswehrkontingent. Was sind die zentralen Konsequenzen? Unbedingt notwendig ist - da wiederhole ich mich - eine ressortübergreifende integrierte Auswertung. Außerdem dürfen sich - das ist hier schon öfter festgestellt worden, aber ich bekräftige es noch einmal - Kontrollverluste wie im März nicht wiederholen. Das UN-legitimierte Gewaltmonopol muss durchgesetzt werden. Dafür ist eine verbesserte nachrichtendienstliche Aufklärung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität notwendig. Das geht nicht ohne eine angemessene Personalausstattung, an der es in der Vergangenheit zum Teil fehlte. Weiterhin sind eine schnellere Reaktionsfähigkeit der KFOR, die Verbesserung der Führungsstrukturen und der Aufwuchsfähigkeit sowie vor allem eine verbesserte militärisch-polizeiliche Zusammenarbeit in solchen Krisensituationen erforderlich. Von diesen Konsequenzen ist offenkundig schon einiges umgesetzt worden. Schließlich geht es um die Stärkung der Kosovo- und UN-Polizei, insbesondere um die Stärkung ihrer Fähigkeiten, mit gewalttätigen Demonstrationen umzugehen. In diesem Bereich haben wir auch in der Bundesrepublik noch einen Nachholbedarf. Eigentlich sollte nicht das Militär zur Bewältigung von gewalttätigen Demonstrationen primär zuständig sein, sondern die Polizei mit ihren Einsatzhundertschaften. ({4}) Diese Einsatzhundertschaften kommen zurzeit überwiegend aus der Dritten Welt. Wir haben uns Gedanken darüber zu machen, welche Beiträge wir für die Stärkung dieser Polizeikomponente leisten können. Eine entsprechende Diskussion muss begonnen werden. ({5}) Das Kosovo bleibt weiterhin ein hochexplosives Pulverfass, wenn es nicht zugleich sichtbare Fortschritte im politischen Prozess, beim wirtschaftlichen Aufbau und bei der Förderung der kosovarischen Zivilgesellschaft gibt. In den letzten Jahren machte sich in Europa und in der Staatengemeinschaft insgesamt eine Art Balkanmüdigkeit breit. Das war angesichts der neuen terroristischen Herausforderungen und des verlagerten Interesses Richtung Irak verständlich und plausibel, aber ein gravierender Fehler. In den letzten Jahren stand das Interesse der Staatengemeinschaft im Vordergrund, im Kosovo und in Bosnien durch die Reduzierung der Kontingente im Bereich KFOR und im Polizeibereich Kosten zu sparen. Die Entschärfung des Pulverfasses Kosovo braucht aber das verstärkte, zuverlässige und ausdauernde politische Engagement der internationalen Gemeinschaft. Dabei bleibt die Linie „Standard vor Status“ meiner Auffassung nach ohne verantwortbare Alternative. Zugleich aber - wir haben es hier nicht mit einem mechanistischen Dogma zu tun - müssen wir einige Punkte überprüfen. Wir haben beispielsweise zu überprüfen - dieser Punkt ist seit gestern wieder verstärkt in der Diskussion -, welche Form von Multiethnizität im Kosovo notwendig und möglich ist und überhaupt eine Perspektive hat. Auch dies ist eine Diskussion, die weitergeführt werden muss. Um Frieden und Stabilität zu bewahren und zu fördern, ist ein effektiver Multilateralismus unabdingbar. Die Transformation der Bundeswehr ist dabei ein bedeutender und unverzichtbarer Baustein. Wir können feststellen - das ist positiv -, dass im kommenden Jahr die Schlüsselgröße „Investitionsquote“ von 24,6 auf 25,6 Prozent erhöht werden kann. Aber wir müssen auch nüchtern feststellen: Dieser Fortschritt im Sinne eines effektiven Multilateralismus wird nicht helfen, wenn er nicht mit der Stärkung der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik der Bundesrepublik insgesamt einhergeht. Hier im Bundestag sind wir uns meines Wissens im Hinblick auf die gewachsene internationale Verantwortung der Bundesrepublik einig. Heute ist schon mehrfach festgestellt worden: Die Anforderungen an die Bundesrepublik und an ihre internationale Politik sind in den letzten Jahren rapide gewachsen. Die dadurch anfallenden Kosten haben sich von der tatsächlichen Finanzausstattung immer weiter entfernt. Investitionen in einen effektiven Multilateralismus sind Zukunftsinvestitionen par excellence. Diese Einsicht muss sich in diesem Haus, aber auch in unserer Gesellschaft durchsetzen. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Dem Kollegen Nachtwei bin ich einen Dank schuldig. Er hat bei der Haushaltsdebatte des letzten Jahres Grüße an mich geschickt. Auch jetzt hat er wieder den Minister willkommen geheißen. Wenn man weiß, was es bedeutet, krank zu sein, ist man froh, wenn man wieder da ist. Deswegen darf ich jenseits aller Politik wirklich sagen: Wir sind froh, dass Peter Struck wieder da ist. ({0}) Die Freude hat sich insofern etwas steigern lassen, als die eine oder andere Personaloption, die in der Zeit seiner Abwesenheit gehandelt worden ist, hinfällig geworden ist. Wir haben uns gesagt: Solange wir noch einen sozialdemokratischen Verteidigungsminister ertragen müssen, nehmen wir lieber Peter Struck als die Alternativen, die uns vorgeschlagen worden sind. ({1}) Der Verteidigungsminister ist ja kein Minister wie jeder andere. Er ist ein entscheidender Minister - leider nicht gegenüber dem Finanzminister -, was die Sicherheit unseres Landes und Entscheidungen über Leben und Tod von Menschen betrifft. Er muss seine Entscheidungen schnell treffen. Deswegen ist es auf der einen Seite gut und notwendig - das werden wir uns sicherlich alle für die Zukunft vornehmen -, dass für diejenigen, die Bescheid wissen müssen, gute Informationen vorhanden sind. Spekulationen sollten auf der anderen Seite nicht ins Kraut schießen. Nun müssen wir uns wieder über den Haushalt unterhalten. Natürlich habe ich gedacht: Sieh an, Peter Struck hat gelesen, was im Haushalt steht, und sich gesagt: Das hat Märchenbuchcharakter, da nehme ich lieber erst in der zweiten oder dritten Lesung Stellung und nicht jetzt, da es nach der Steuerschätzung vielleicht doch noch den einen oder anderen Streitpunkt gibt. Ich habe bereits im Frühjahr Sekundanz angeboten, falls es zu Show-downs kommen sollte, weil ich - und nicht nur ich, sondern auch viele andere aus meiner Partei und meiner Fraktion - in der Tat der Meinung bin - das darf ich hier unterstreichen -, dass der Verteidigungshaushalt ein Art Grundkataster für die Sicherheit unseres Landes ist und er deswegen nicht der normalen Volatilität unterstellt werden kann. Dass er davon nicht freigestellt werden kann, ist uns auch klar. Dass aber die Grundlagen für eine weitere wirtschaftliche Erholung und für neue wirtschaftliche Perspektiven an anderer Stelle liegen müssen, ist auch wahr. Wahr ist aber auch, dass die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Politik und ihrem finanziellen Spielraum immer größer wird. Es geht nicht, dass der Bundeskanzler oder der Vizekanzler den Kampf um den Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen führen, ohne vorher zu überlegen, welche Verpflichtungen und Aufträge, aber auch welche haushaltsrelevanten Kosten das mit sich bringt. Das bereits jetzt festzustellende Auseinanderklaffen zwischen internationalen Verpflichtungen und den Mitteln, die wir im Verteidigungshaushalt zur Verfügung stellen - nicht nur im Verteidigungsetat, aber eben auch dort -, wird immer größer. Ich will nur zwei Begriffe nennen: zum einen die NATO-Response-Force. Das klingt neu und nach Innovationen. Hier findet über die NATO ausnahmsweise einmal eine Innovation statt. Diese Innovation kostet Geld. Der andere Begriff bezieht sich auf ein Konzept, von dem ich gehört habe, dass es der Verteidigungsminister neuerdings sehr stark befürwortet: das BattleGroup-Modell, das im Wesentlichen für den Einsatz in Afrika vorgesehen ist. Auch das kostet Geld. Dies wurde bereits gesagt; ich wollte das noch einmal unterstreichen. Christian Schmidt ({2}) Nun neigt der Kollege Arnold - wenn ich das sagen darf - dazu, zu sagen: Es ist doch alles in Ordnung; was schimpft ihr denn? Es ist eben nicht alles in Ordnung. ({3}) - Sie haben doch geschimpft. - Ich will Ihnen etwas vorlesen; vielleicht kennen Sie das Papier. Dort steht: Ein Verzicht auf zwingende Neuvorhaben im Bereich der militärischen Beschaffungen - „zwingend“ interpretiere ich so, dass es sich dabei um Dinge handelt, die notwendig sind, um unsere Sicherheit zu gewährleisten und die internationalen Verpflichtungen unseres Landes einzuhalten konnte nur durch Eingriffe in Finanzierungsabläufe und nicht zwingend zum jetzigen Zeitpunkt erforderliche Ergänzungsverträge vermieden werden. Wer etwas vom Haushalt versteht, der weiß, dass der Etat nicht nur auf Kante genäht ist, sondern dass die Naht geplatzt ist. Der nächste Satz lautet: Für die kommenden Haushalte ist dies nicht wiederholbar. Das ist keine Oppositionsrhetorik. Vielmehr sind das Einschätzungen, die in Ihrer eigenen Fraktion zum Verteidigungshaushalt bestehen. Wir müssen in einen ernsthaften Dialog darüber eintreten, wie wir den Verteidigungshaushalt mittelfristig gestalten müssen und können. Wir müssen uns genau überlegen, wie die internationalen Verpflichtungen erfüllt werden und womit sie verknüpft sind. Was heute der Außenminister, der Verteidigungsminister und andere Politiker zu den internationalen Verpflichtungen in Afghanistan und im Kosovo gesagt haben, war hörens- und lesenswert. Dazwischen liegen Welten, ({4}) nicht nur bei der Frage „Standards vor Status“. Wer entscheidet da nun eigentlich? Trifft einer die Entscheidung, Soldaten zu entsenden, und muss der andere dann sehen, wie er die Truppe zusammenbringt und den Einsatz bezahlt? So kann die Rechnung auf Dauer nicht funktionieren. Bei dieser unseriösen Haushaltspolitik nimmt die Glaubwürdigkeit unseres Landes großen Schaden. Da spreizt sich etwas. Darüber muss geredet werden. Damit sind wir bei dem Punkt, den wir seit Jahren beklagen. Es gibt die Verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministers. Da wurden interessante - zum Teil sehr begrüßenswerte, zum Teil eher kritikwürdige - Sachen zusammengeschrieben und zur Richtlinie für das Ressort gemacht. Das ist in Ordnung. Es fehlt nach wie vor ein Weißbuch, in dem auch das Auswärtige Amt und der Bundeskanzler sagen, was ihre politische Zielsetzung ist. ({5}) Solange es ein solches Weißbuch nicht gibt, können die Grundlagen für unser Tun nicht bewertet werden. Es ist ein klein wenig wie bei Hartz IV: Man tut sich schwer, zu erklären, wofür man das alles macht. Man muss es immer am Einzelfall erklären. Ich hätte schon lieber, wenn wir vorher wüssten, wofür wir das tun, was wir tun. Darunter leidet die Bundeswehr. ({6}) Die Einsätze kennzeichnen die neue, zu transformierende und transformierte Bundeswehr. Diese Einsätze haben nicht nur zur Folge, dass Soldaten im Ausland sind. Sie haben auch viel mit den politischen Rahmenbedingungen und damit zu tun, wie man das alles organisatorisch im Griff behält und wie man für Risiken gerüstet bleibt. Alle diese Fragen sind zu diskutieren. Wir haben gestern ausführlich über das Kosovo geredet. Das Ministerium wurde in einem Fall falsch oder viel zu spät informiert. Sogar der Minister hat Informationen nicht erhalten. Welche Hintergründe das hat, werden wir erfahren. Den Fragenkatalog, den wir Ihnen noch in dieser Woche überreichen, und die Fragen, die im Ausschuss gestellt worden sind, werden Sie zu beantworten haben. Die Leistungen der Soldaten im Einsatz stehen dabei nicht infrage. Ich will die Gelegenheit nutzen, allen Soldaten - ob Obergefreiter, ob Hauptfeldwebel, ob General - ausdrücklich zu danken. Aber fragen müssen wir: Haben wir den Einsatz unserer Soldaten richtig ausgerichtet? Ist er im Hinblick auf die politischen und Sicherheitsorientierungen sowie die internationalen Verknüpfungen optimal verlaufen? Gibt es da etwas zu verbessern? Ich denke, dass es viel zu verbessern gibt. Eigentlich hätte ich bei der gestrigen Ausschusssitzung etwas mehr zu diesem Thema erwartet. Der Generalinspekteur hat gestern Bericht erstattet. Er hätte vielleicht ein bisschen mehr über die Anpassungen und Veränderungen berichten können. Es ist doch keine Schande, zu sagen, welche Dinge man im Lichte der heutigen Situation anders sieht. Das muss man tun, das muss man offen legen. Herr Kollege Nolting hat zu Recht den Begriff des Parlamentsheeres gebraucht. Die Armee wird von uns, vom Deutschen Bundestag, in den Einsatz geschickt. Wir haben einen Anspruch darauf, informiert und auf dem Laufenden gehalten zu werden. ({7}) Vor allem müssen alle Kollegen des Deutschen Bundestages - nicht nur die, die sich fachlich mit dem Thema beschäftigen - einen vollen Überblick darüber erhalten. Außenminister Fischer hat heute früh das Motto „Standards vor Status“ nicht in Zweifel gezogen; der Kollege Nachtwei hat sich ihm in grüner Solidarität angeschlossen. Die Verteidigungspolitik sieht das ein klein wenig anders. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. „Standards vor Status“ - das ist so ein schönes Wort. Wenn aber, wie man erfährt, beispielsweise ein Außenhandelsabkommen über die Lieferung von Nahrungsmitteln, Christian Schmidt ({8}) nämlich Gemüse, das das Kosovo mit einem Nachbarland abschließen möchte, ein halbes Jahr lang in New York bei den Vereinten Nationen nicht abgesegnet wird, dann fragen sich die Leute im Kosovo: Wo sind denn die Erfolge, die ich in der jetzigen Situation in meinem Land, in meiner Region habe? Aufgrund dieser Probleme ist die Außenpolitik gefordert, „Standards vor Status“ anders und neu zu definieren. Wir liefern dem Herrn Außenminister gerne Vorschläge, wie man das tun kann - er hat ja danach gefragt -; daran soll es nicht fehlen. Ich vermute, möglicherweise würde sich sogar der Verteidigungsminister in einer Arbeitsgruppe, die ich hierzu einberufe, einfinden und auch Vorschläge unterbreiten. Er ist jedenfalls herzlich dazu eingeladen. ({9}) Die Afghanistanfrage werden wir in Kürze gesondert diskutieren. Ich meine aber, dass noch zwei Punkte angesprochen werden müssen. Herr Minister, Sie haben in den nächsten Monaten eine dicke Packung an Arbeit vor sich. Sie wollen 100 Standorte schließen. Sie müssen das gegenüber Politikern der Landes-, der Kommunalund der Bundesebene vertreten. Sie müssen dann den Streit aushalten - den ich für richtig halte -, wieso der Heimatschutz komplett ausgegliedert wird, wieso die VBKs auf Null gefahren werden und wieso man eigentlich das Konzept einer nationalen Gesamtsicherheitsstrategie nicht weiterführt. Ich halte das für einen groben Fehler, über den wir noch zu diskutieren haben werden. ({10}) Wir werden natürlich auch über die Fragen zu diskutieren haben, die die Wehrpflicht betreffen. Ich bitte darum, dass man über die Wehrpflicht nicht wie über einen Lichtschalter redet; man kann die Wehrpflicht nicht einund ausschalten, so wie es einem gerade beliebt. Wenn die Wehrpflicht einmal weg ist, dann ist sie weg. Dann ist sie politisch nicht mehr zu wiederholen. ({11}) Wir alle miteinander haben eine Verpflichtung vor der Bevölkerung und vor unseren Mitbürgern. Deswegen müssen wir mit Augenmaß und dort, wo es notwendig ist, kooperativ arbeiten. Wenn einem diese Sache am Herzen liegt, dann muss man sie aus dieser Sicht angehen. Betrachten Sie das als ein Angebot zum Ende meines Debattenbeitrages. Wir werden aber sicherlich nicht am Ende des Streites über die Zukunft der Bundeswehr sein. ({12}) Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Verena Wohlleben.

Verena Wohlleben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fest steht, dass dieser Verteidigungshaushalt, wie bereits in den Jahren zuvor, seinen Beitrag zur Konsolidierung des Gesamthaushaltes leistet. ({0}) - Ach, Kurt, sei nicht so streng. - Trotzdem werden der Bundeswehr unter dem Strich im nächsten Jahr rund 200 Millionen Euro mehr zur Verfügung stehen als 2004, das ist Fakt. Das ist unter den gegebenen Umständen ein Erfolg, für den ich dem Bundesminister der Verteidigung und den an den Verhandlungen beteiligten Staatssekretären und Mitarbeitern meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich glaube, Sie werden mir nicht widersprechen, wenn ich sage, dass es kaum einen Politikbereich gibt, in dem wir so sachlich und oft auch konstruktiv zusammenarbeiten wie in der Verteidigungspolitik. Aber, Herr Schmidt, ich muss Ihnen wirklich Recht geben: Wir müssen noch mehr in den Dialog treten, vor allen Dingen über den Haushalt; denn momentan weiß ich überhaupt nicht mehr, was Sie wirklich wollen. ({2}) Das wird anderen auch so gehen; denn bisher war es immer so, dass Sie alljährlich ohne seriöse Finanzierungsvorschläge höhere Mittel für den Einzelplan 14 gefordert haben. ({3}) Aber seit dem letzten Wochenende fordert der Ministerpräsident Bayerns, Herr Dr. Stoiber, eine pauschale Kürzung des Bundeshaushalts um 5 Prozent. Das entspräche, wie der Bundesminister ausgeführt hat, einer Kürzung der Mittel der Bundeswehr in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Damit wären die Weiterentwicklung der Bundeswehr und wichtige Beschaffungsprojekte mehr als gefährdet. Vorschläge, wo gekürzt werden soll, bleiben aus. Des Weiteren fordert Herr Austermann als zuständiger Haushaltsexperte der Union, den Etat um 3 Prozent zu kürzen. ({4}) Können Sie mir die Frage beantworten, was nun gilt? Wollen Sie draufsatteln oder kürzen? Wollen Sie um 5 Prozent oder um 3 Prozent kürzen? Was wollen Sie eigentlich? Diese Fragen müssen Sie uns beantworten. Aber Sie bleiben die Antworten schuldig. Mit Verlaub, das, was Sie machen, ist nicht das, was wir uns unter konstruktiver Oppositionspolitik vorstellen. Zurück zu unserem Haushalt. Das Gebot der Stunde lautet, mit den vorhandenen Mitteln bestmöglich zu haushalten und gleichzeitig das Verhältnis von Betriebskosten zu investiven Ausgaben zu verbessern. Hier ist die Bundeswehr auf dem richtigen Wege. Die ersten Auswirkungen werden schon im vorliegenden Haushaltsentwurf sichtbar; denn sowohl die Personalkosten als auch die Ausgaben für Materialerhaltung und Betrieb konnten signifikant reduziert werden. Im Gegenzug wachsen die verteidigungsinvestiven Ausgaben um 190 Millionen Euro auf 25,6 Prozent des Gesamtetats dieses Einzelplans. Herr Austermann, das haben Sie nicht erwähnt. Aber das ist Fakt. Wohlgemerkt sind hier die geplanten Veräußerungs- und Verwertungserlöse noch gar nicht veranschlagt. Sie könnten zur weiteren Verstärkung der Investitionen verwendet werden. Ich muss sagen, dass wir sie auch dringend brauchen: für die Weiterentwicklung der Bundeswehr, für die Einhaltung unserer internationalen Verpflichtungen und für den Erhalt zumindest eines gewissen finanziellen Handlungsspielraumes. Mittelfristig wird dies allein jedoch nicht ausreichen, auch das müssen wir eingestehen. Deshalb ist es wichtig und richtig - Herr Austermann, auf 37 folgt 38 -, dass auch im vorliegenden 38. Finanzplan eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsetats ab dem Jahr 2007 vorgesehen ist. ({5}) Die Bundeswehr muss und wird mehr Geld bekommen, sobald dies finanzpolitisch möglich und verantwortbar ist. ({6}) Die Bundeswehr ist Gott sei Dank - Herr Nolting, Sie haben das erwähnt - eine Parlamentsarmee. Darüber sind wir sehr froh. ({7}) - Ja, wir als Parlament schicken die Soldaten und Soldatinnen durch unsere Beschlüsse in ihre Einsätze. ({8}) Darum obliegt es insbesondere unserer Verantwortung, dass ihnen die Ausrüstung zur Verfügung steht, die optimale Wirkung bei optimalem Schutz ermöglicht. Ich weiß, dass wir uns in diesem Punkt alle einig sind. Aber ich finde, das kann man nicht oft genug sagen. ({9}) Deshalb ist das Vorhaben Puma zum Beispiel für das Heer von so großer Bedeutung. ({10}) Denn die Gefahr für unsere Soldaten im Einsatz geht nicht von Hightech-Waffen aus, sondern von Minen und einfachen, aber gefährlichen Waffen wie der weltweit verbreiteten Panzerfaust RPG-7. Diese Waffe kann man für sage und schreibe circa 30 Dollar in allen Krisenregionen kaufen. Wie Fernsehbilder beweisen, wird sie in diesen Regionen von Rebellen und Terroristen mitgeführt und auch eingesetzt. Dabei handelt es sich um eine meist tödliche Allerweltswaffe, weil es bisher kein gepanzertes Fahrzeug gibt, das vollständig gegen ihre Wirkung geschützt ist. Das ist Fakt. Daher müssen wir unsere Soldaten davor schützen. Gerade diesen Schutz soll und muss der neue modulare Waffen- und Ausrüstungsträger Puma leisten. Er wird ihn auch leisten. Dabei kommt es nicht darauf an, dass von vornherein alle denkbaren Fähigkeitspotenziale zu erfüllen sind. Vielmehr muss man sich an anderen großen Rüstungsvorhaben orientieren - das wäre ein Beispiel - und auch diese künftige Standardplattform des Heeres Schritt für Schritt realisieren und im Rahmen einer begleitenden entwicklungstechnischen Betreuung ständig auf dem modernsten Stand halten. „Dreisprung statt Weitsprung“ ist da die Maxime, damit gewährleistet werden kann, dass bei beherrschbarem Mitteleinsatz unseren Soldaten im Einsatz immer die optimale Ausrüstungsvariante zur Verfügung steht. Mit dem Haushalt, den wir heute einbringen, ist das gewährleistet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt auch in unserer Verantwortung, darauf zu achten, dass wirklich nur noch die Systeme beschafft werden, die den neuen Aufgaben und den zu ihrer Erfüllung notwendigen Fähigkeiten der Bundeswehr dienlich sind. Ebenso muss Sorge dafür getragen werden, dass sich der Plattformgedanke in der Bundeswehr noch weiter durchsetzt. Ich glaube, wir können es uns heute nicht leisten, dass die einzelnen militärischen Organisationsbereiche zum Beispiel Fahrzeuge von unterschiedlichen Herstellern fordern - und auch erhalten -, obwohl diese für den gleichen Einsatzzweck verwendet werden. Streitkräftegemeinsames Denken ist mehr denn je notwendig. Hier sind auch wir Politiker und Politikerinnen gefordert, entsprechend mitzuwirken. Gestatten Sie mir abschließend einen kurzen Blick auf die wirtschaftlichen Aspekte des Verteidigungshaushaltes. Es ist klar, dass die Weiterentwicklung der Bundeswehr weniger Beschaffungsaufträge und geringere Beschaffungsumfänge mit sich bringt. Das ist richtig und notwendig. Wir sind uns aber auch fraktionsübergreifend und mit dem BMVg einig, dass diese Entwicklung nicht zu einem Verlust von sicherheitspolitisch unverzichtbaren Kernkompetenzen der deutschen wehrtechnischen Industrie führen darf. Trotz knapper finanzieller Ressourcen müssen wir mit dafür Sorge tragen, dass diese Kompetenzen erhalten bleiben. Herr Nolting, Ihre Behauptung, dass die F-und-EMittel in Kap. 1420 - das ist mein Berichterstatterkapitel -, abgesenkt sind, ist schlichtweg falsch. ({11}) Kap. 1420 ist bereits über die Plus-Minus-Liste um 21 Millionen Euro verstärkt worden und weitere Verstärkung ist möglich; wir werden uns darüber unterhalten. Die Löcher in der Produktionsauslastung der Firmen können wir nur über verstärkte Forschungs- und Entwicklungsaufträge mildern. Dadurch geben wir der Industrie die Möglichkeit, Ingenieurleistungen zu halten und somit das Abwandern von hoch qualifiziertem Personal zu verhindern. In diesem Zusammenhang muss uns weiter daran gelegen sein, dass generell bei der Vergabe von Aufträgen ein Augenmerk auf industrielle Wertschöpfung in Deutschland gerichtet wird, damit wir unsere Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit, gerade auch bei unseren mittelständischen Betrieben, erhalten. Ich komme zum Schluss. Diese Strategie schafft und erhält Arbeitsplätze. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie gleichzeitig: Lassen Sie uns die anstehenden Haushaltsberatungen sachlich und konstruktiv für unsere Bundeswehr führen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Kossendey.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die optimistische Einschätzung, die hier mehrfach zum Haushalt geäußert worden ist, zuletzt von der Kollegin Wohlleben, kann ich eigentlich nicht teilen. Mir ist noch zu deutlich im Ohr, wie wir vor zwei Jahren zum ersten Mal die Summe von 24,4 Milliarden Euro gehört haben, die bis 2006 durchgeschrieben werden sollten. Wir haben jetzt nicht 24,4 Milliarden Euro, sondern 23,9 Milliarden Euro. Wenn wir die Einnahmen dazurechnen, hat der Minister gesagt, sind wir bei 24,04 Milliarden Euro, nicht bei 24,40 Milliarden Euro. Dabei ist überhaupt noch nicht eingerechnet, dass wir wegen Hartz im Haushalt noch eine Minderausgabe von über 2 Milliarden Euro einzukalkulieren haben und dass auch die globale Minderausgabe von 1,4 Milliarden Euro noch nicht eingerechnet ist. Es wäre schon ziemlich optimistisch, anzunehmen, dass diese Minderausgaben an unserem Haushalt vorbeigehen. Natürlich ist es so, dass die Bundeswehr bei ihren internationalen Einsätzen gut ausgerüstet ist und dass die Soldaten auf das Material, das sie mitnehmen, tatsächlich vertrauen können. Aber das ist doch nicht alles, was wir in der Bundeswehr haben. Gehen Sie doch zum Beispiel einmal zum Fallschirmjägerbataillon 313 nach Varel und fragen Sie, wie die Übungstätigkeit mit dem Wiesel abläuft. Die Wiesel sind nämlich alle im Einsatz. In Varel stehen mitten auf dem Kasernenhof zwar vier neue, sie dürfen aber nicht zu Übungszwecken genutzt werden, weil sie stillgelegt sind, da man sie eventuell irgendwann einmal für einen weiteren internationalen Einsatz braucht. Sie laufen also immer drum herum, anstatt mit diesen Fahrzeugen zu üben. Das Problem ist, dass die mangelnde Ausstattung der Soldaten, die zu Hause geblieben sind, dazu führt, dass die Motivation derer, die üben müssten, gar nicht mehr in dem Maße vorhanden ist, wie es sein müsste. Das ist der politische Vorwurf, den wir dem Ministerium machen. ({0}) Wir haben heute auch über die GEBB gesprochen. Ich möchte mich diesem Thema noch einmal etwas ausführlicher zuwenden. Herr Minister, Sie stehen gottlob genesen vor den Scherben der Bemühungen Ihres Ministeriums, die Investitionsmöglichkeiten der Bundeswehr durch die Kooperation mit der Wirtschaft nachhaltig zu verbessern. Es sollte Geld gespart werden. Heute können wir feststellen, dass mehr Geld zum Fenster hinausgeworfen worden ist, als für den Investitionsbereich herausgesprungen ist. ({1}) Der Dilettantismus, mit dem diese Arbeit von 1998 bis 2002 betrieben wurde, hat die gute Idee, die Richard von Weizsäcker in seinem Bericht für uns aufgeschrieben hat, nachhaltig diskreditiert. Das können wir politisch nicht wollen. Aufgrund dessen, wie Ihr Haus ans Werk gegangen ist, hat das Ganze sehr viel Geld gekostet und wurde die Motivation der zivilen und der militärischen Mitarbeiter nachhaltig gestört. Die immensen Kosten für externe Beratungen stehen im umgekehrten Verhältnis zur Beratungsfähigkeit im politischen Bereich. Das können wir heute zumindest feststellen. Ich möchte daraus allerdings nicht den Schluss ziehen, den die Kollegin Leonhard, wenn ich die Zeitung heute richtig verstanden habe, gezogen hat, dass wir nämlich mit diesen Privatisierungsdingen aufhören sollten. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob wir das tun, sondern wie wir das tun. Ich bin fest davon überzeugt, dass überall dort, wo der Staat nicht notwendigerweise wirtschaftlich aktiv werden muss, er das auch nicht tun sollte. Wer das will, muss es aber richtig machen. Das heißt, wir müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen, ob die Rechtsform der GEBB und vielleicht auch der Name, der ja mit dieser unseligen Vergangenheit verknüpft ist, geändert werden sollten. Wir müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch das Parlament intensiver einbinden. Ich sage noch eines: Sorgfalt muss vor Eile rangieren. So mancher Fehler ist gemacht worden, weil aufgrund einer zu kurzen Umsetzungsphase Fehler in Kauf genommen wurden. Auch Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit sind zu berücksichtigen. Ich frage noch einmal sehr deutlich: Wie kann es eigentlich sein, dass im Haushaltsentwurf für 2005 höhere Zuschüsse für die LH-Bekleidung und den Fuhrparkservice veranschlagt sind als noch im letzten und im vorletzten Jahr? Das wird zu klären sein. ({2}) Eigentlich liest sich der Bericht des Rechnungshofes, den wir dazu erhalten haben, genauso wie die Liste der Ermahnungen, Warnungen und Hinweise, die wir von der Opposition dem Ministerium in den vier Jahren von 1998 bis 2002 gegeben haben. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Worte zum Thema Zivilpersonal sagen. Dieses soll ja auf 75 000 reduziert werden. Mir hat bis heute noch niemand irgendeine Struktur vorgelegt, aus der hervorgeht, warum es 75 000 sein müssen. ({3}) Die einzige Begründung ist die, dass der Finanzminister das Geld nicht hergibt, um mehr zu bezahlen. Das ärgert die Zivilbediensteten der Bundeswehr; denn sie haben eigentlich erwartet, dass diese Kürzung auf der Grundlage einer Struktur geschieht. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass es nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht möglich sein wird, diese Reduzierung zu erreichen, indem wir darauf warten, dass viele aus Altersgründen aus der Bundeswehr ausscheiden. Selbst wenn wir optimistische Zahlen annehmen, werden bis 2010 immer noch 5 000 bis 10 000 übrig bleiben. Bis heute weiß niemand, was mit diesen Menschen geschehen soll. Ich glaube, dass wir - Sie als Bundesregierung und wir als Parlament - uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir diesen Menschen ein Angebot für die Zukunft machen können. Das kann durch Tarifverträge geschehen. Die Frage lautet aber: Wer hat mit Verdi gesprochen? Das kann man möglicherweise auch durch Abfindungen regeln. Die weitere Frage lautet: Wer leiert dem Finanzminister das Geld dafür aus den Rippen? Das kann natürlich auch durch so genannte Auffanggesellschaften geschehen, wie es sie bei der Post und bei der Telekom gab. Ich weiß aber nicht, ob diese Vorgehensweise auch für die Bundeswehr klug wäre. Herr Minister, ich sage Ihnen allerdings eines: Wenn wir dieses Thema nicht ernsthaft anpacken, dann werden sich die Menschen in der Bundeswehr ungerecht behandelt fühlen. Ich kann Ihnen nur sagen: Es handelt sich um Menschen, die soziale Beziehungen und Nöte haben, und nicht etwa nur um Kostenstellen mit zwei Ohren, die man statistisch hin- und herschieben kann. Ich komme zum Schluss. Bei der Erblast, die Sie aufgrund der Fehler bei der GEBB zu tragen haben, können Sie nicht erwarten, dass wir Ihnen hierbei politisch helfen. Sie haben alle unsere Anregungen in den Wind geschlagen, alleine gehandelt und somit auch allein die politische Verantwortung zu tragen. Für die Zukunft will ich Ihnen aber anbieten, dass wir uns gerne kooperativ mit Ihnen auseinander setzen, wenn all das, was die GEBB in der Vergangenheit unzureichend gemacht hat, auf eine neue Basis gestellt wird. Ich bin nämlich der Meinung, dass das ein guter Weg wäre, der Bundeswehr im Investitionsbereich zu helfen. Tun Sie es aber bitte mit dem Parlament und mit der Opposition, damit wir für diese Aktivitäten eine breite Basis haben. Dann sehe ich langfristig die Möglichkeit, im Investitionsbereich zu Mehreinnahmen zu kommen. So, wie es gewesen ist, kann es nicht weitergehen. Ich hoffe, Sie besinnen sich anlässlich dieser Haushaltsberatungen. Schönen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Elke Leonhard.

Dr. Elke Leonhard-Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002723, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich eine strenge Haushaltsrede halten, aber nachdem so viele Bemerkungen kamen, gestatten Sie mir, dass ich auf einige eingehe: Erstens. Herr Kollege Kossendey: Ich habe die Privatisierung nicht verteufelt! Im Gegenteil: Nachdem der Haushaltsausschuss mandatiert wurde, habe ich im Rahmen der Berichterstattung des Einzelplanes 14 mit den Kollegen Austermann, Koppelin und Bonde eine sehr gründliche und ausführliche Erörterung vorgenommen. Wir haben mehrere Sitzungen gehabt. Daraufhin habe ich einen 400 Seiten umfassenden Bericht vorgelegt und mich darin für die Privatisierung ausgesprochen. Da ich aber keine weiteren Nebelkerzen will, sondern auch der Soldaten und der Planungssicherheit wegen Klarheit wünsche, habe ich gesagt: Der einzige intelligente Schritt scheint mir jetzt zu sein, eine öffentliche Anhörung durchzuführen! ({0}) Dabei können alle Fragen gestellt und beantwortet werden! Zweitens. Wie alle anderen freue ich mich - lassen Sie mich das an dieser Stelle sagen -, dass der Minister hier ist. Keiner freut sich mehr als ich. ({1}) Aber ich habe schon in den Wochen zuvor gemerkt, dass er wieder gesund ist, sonst hätte er nicht mit mir über so viele Punkte streiten können, was er getan hat. Ich hoffe, das geht so weiter, sonst würde mir etwas fehlen. Drittens. Herr Kollege Nolting: Ich glaube, es ist Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit entgangen, dass der Kollege Bonde und ich - flankiert von allen anderen - im letzten Jahr, als der Forschungsetat um ein Erhebliches gekürzt werden sollte, erreicht haben, dass der Etat in verschiedenen Bereichen wieder um ungefähr 100 Millionen Euro aufgestockt wurde. ({2}) Die verschiedenen Punkte im Forschungsetat will ich an dieser Stelle nicht nennen. Ich habe sie in einigen Artikeln schon ausführlich behandelt. Insofern wird es uns auch jetzt wieder gelingen! Es ist ganz wichtig, dass wir in Forschung und Entwicklung investieren. Wer in einem Auslandseinsatz unterwegs ist, der sieht natürlich sehr schnell, wo ein Mangel herrscht und wo nachgebessert werden muss. Das kann nur durch vernünftige Forschung und Entwicklung geschehen. Viertens. Nun zum Thema Wehrpflicht, Herr Kollege Nolting. Zu dem, was ich gerade genannt habe, kann ich Ihnen positiv mitteilen, dass wir uns dafür einsetzen werden. Aber bei der Wehrpflicht möchte ich sagen: 65 Prozent dieses Hauses wollen die Wehrpflicht. ({3}) Wir haben eine der intelligentesten Armeen der Welt. Das bleibt auch so und das hat mit der Wehrpflicht nicht unwesentlich zu tun! ({4}) - Ich komme gleich dazu. Leider habe ich nur wenige Minuten Redezeit, sonst würde ich Ihnen darauf gerne antworten. Fünftens. Herr Kollege Austermann, wir waren immer bemüht, wirklich absolut an der Sache orientiert zu arbeiten. ({5}) Aber im letzten Jahr haben Sie sich der Gesamtberatung verweigert! Nachdem wir zum Ausdruck gebracht haben, wie schade das sei und dass Sie doch wenigstens selbst einbringen sollten, was Sie zu sagen haben, haben Sie sich dazu bereit erklärt. ({6}) Aber: Dann kamen 400 leere Seiten. Herr Austermann, wenn ich Sie nicht wirklich sehr schätzte und manchmal als sehr konstruktiv empfände, ({7}) würde ich sagen, Sie sind die ätzende Ausgabe eines destruktiven Charakters. ({8}) Ich will jetzt nicht zu umgangssprachlich werden, aber passen Sie auf, dass die Sache nicht chronisch wird. Das wäre ungesund! Von dieser Stelle möchte ich - lassen Sie mich dies noch einmal unterstreichen - an die Adresse der Soldaten im Einsatz unseren Respekt bekunden. Ihre Professionalität und Empathie schaffen in vielen Ländern der Welt Vertrauen. Lassen Sie mich auch dies wiederholen: Sie und ihre Familien können sich unserer Fürsorgepflicht und Verantwortung sicher sein. Ihr Schutz ist gewährleistet! Ich möchte jetzt nicht auf die Einzelheiten des Verteidigungsetats eingehen; das haben die Fachpolitiker zum Teil schon gemacht. Daher nur ein paar Worte. Der Verteidigungsetat leistet auch in diesem Haushaltsjahr einen substanziellen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes. Allerdings ist der Einsparbeitrag an der Grenze des Tolerierbaren, wenn die erforderlichen Investitionen für die durch die Bundesrepublik Deutschland eingegangenen internationalen Verpflichtungen und zugesagten Fähigkeiten nicht gefährdet werden sollen. Ich will nicht auf den Kürzungsvorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten eingehen, der in diesen Tagen sehr oft erwähnt wurde. ({9}) Nur so viel: Durch eine Kürzung von 5 Prozent würden natürlich große Beschaffungsvorhaben, insbesondere des Heeres, wie zum Beispiel die Heeresfahrzeuge Dingo 2, Duro, ESK Mungo und der Schützenpanzer Puma gefährdet. Im Bereich der Entwicklung ist unter anderem auf das taktische Luftverteidigungssystem MEADS und das NATO-Vorhaben AGS hinzuweisen. Diese beiden Vorhaben - das unterstreiche ich als Atlantikerin noch einmal - sind die einzigen größeren transatlantischen Rüstungsvorhaben. Vom Eurofighter will ich gar nicht reden. Dessen Finanzierung - das wissen Sie alle selbst - ist gesichert. Insofern hieße das Eulen nach Athen tragen. Ich möchte aber einige Sätze zu den Aufgabenbereichen und Erfolgen der Bundesregierung sagen. Zunächst ein Kompliment an den Minister und die militärische Führung. Die eingeleiteten Maßnahmen zur Umsetzung der Transformation der Bundeswehr haben bereits im Haushalt 2005 dazu geführt, dass die Betriebsausgaben um mehr als 550 Millionen Euro auf nunmehr 17,5 Milliarden Euro zurückgeführt werden konnten mit dem Ziel, die investiven Ausgaben zu stärken. Allein die Personalausgaben wurden spürbar um mehr als 300 Millionen Euro auf rund 12 Milliarden Euro gesenkt. Das sind Zahlen, die sich sehen lassen können. Durch die Entlastung bei den Betriebsausgaben - unser Ziel ist ja eine Senkung der Betriebsausgaben und eine Steigerung der investiven Ausgaben - konnten die verteidigungsinvestiven Ausgaben auf rund 6,1 Milliarden Euro erhöht werden. Allerdings konnte wegen des vom Einzelplan 14 zu erbringenden Konsolidierungsbeitrages nur ein kleiner Anteil der bei den Betriebsausgaben eingesparten Mittel tatsächlich für die Aufstockung der verteidigungsinvestiven Ausgaben genutzt werden. Beim Verhältnis von Betriebs- zu Investitionsausgaben wurde der Investitionsanteil auf 25,6 Prozent gesteigert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist wenig. Es ist weniger, als wir erreichen wollten, aber es ist mehr als 1997. Das müssen Sie sich immer vor Augen halten lassen. Wir müssen uns - das sagte Herr Kollege Kossendey auch deutlich - der Privatisierung zuwenden. Das ist richtig. Lassen Sie mich deshalb mit zwei Bemerkungen schließen. Erstens. Blicken wir doch endlich auf erfolgreiche Beispiele zweier Länder, die jahrelange Erfahrungen im Bereich PPP, Public Private Partnership, vorzuweisen haben. Es geht schlichtweg um die intelligente Strategie des Staates, Zeit einzukaufen, und es geht auch - dazu bekenne ich mich - um Aufträge an die WirtDr. Elke Leonhard schaft. Ich möchte eine starke und keine schwache Wirtschaft. Die Briten verstehen unter „Smart Acquisition“ eine effiziente Zeit-Kosten-Leistungsrechnung, beispielsweise zur Beschaffung von Verteidigungsmaterial. Allerdings kam der Verteidigungsausschuss des House of Commons in den letzten Wochen zu dem Ergebnis - der Bericht ist sehr interessant, ich kann Sie nur animieren, diese Lektüre zu lesen -, dass es bei „Smart Acquisition“ Probleme im Verfahren gibt, die verhindern, dass dieser Prozess funktioniert. Zweitens möchte ich sagen, dass die Vereinigten Staaten bereits über eine 20-jährige Erfahrung in der Frage Outsourcing verfügen. Mit der Richtlinie A 76 haben sie eine klare Identifikation aller outsourcbaren Aktivitäten und sie haben, was wichtig ist, Rechtssicherheit hergestellt. Als politische Maßgaben stehen dabei - erstens - das Senken der Staatsquote, - zweitens - die Reduktion der Anzahl der Bundesangestellten und - drittens Kosteneinsparung im Mittelpunkt der Bemühungen des Kongresses und des Weißen Hauses. Eine unabhängige Kommission bewertet die -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie sind jetzt weit über die Zeit. Bitte, beachten Sie das.

Dr. Elke Leonhard-Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002723, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann komme ich zum Ende. Eine unabhängige Kommission bewertet die Angebote -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie müssen jetzt wirklich Schluss machen.

Dr. Elke Leonhard-Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002723, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wer 10 Prozent günstiger ist oder 10 Millionen einspart, der bekommt den Auftrag. Ich glaube, das wäre ein Weg, der sehr intelligent ist. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Rauber.

Helmut Rauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002755, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die Reden von Vertretern der Regierungsparteien nicht nur heute, sondern auch an anderer Stelle gehört hat, der kann nur staunen. Sie tun so, als seien sie es gewesen, die damit anfingen, die Bundeswehr für neue Aufgaben umzustrukturieren. ({0}) Die Wahrheit ist eine ganz andere. Herr Erler, sie waren es, die gegen alles waren, was zu mehr internationaler Verantwortung Deutschlands geführt hat. ({1}) Die Petersberger Aufgaben stehen heute synonym für eine neue Außenpolitik. Sie wurden 1992 unter der Ägide der CDU auf dem Petersberg formuliert. ({2}) Ich selber kann Ihnen einige Hinweise auf früher nicht ersparen. Vor elf Jahren, Mitte 1993, standen 1 700 Soldaten in Somalia, um Menschen vor dem Verhungern zu retten und vor Verbrechern zu schützen. Unsere Soldaten führten damals Transportaufträge zur Lebensrettung durch, sie reparierten Straßen, sie bauten Brücken, sie räumten Minen weg und bereiteten Wasser auf. Per einstweiliger Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht hatten Sie versucht, zu verhindern, dass bewaffnete Infanterie zum Schutz unserer Soldaten nach Afrika entsandt wird. Es war die SPD, die noch im Juni 1994 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes verhindern wollte, dass deutsche Piloten in den AWACS mitfliegen bzw. dass sich die Marine in der Adria an der Durchsetzung des Waffenembargos beteiligt. Es darf schon die Frage gestellt werden, was auf dem Balkan passiert wäre, wenn sich Europa rechtzeitig auch mit Waffengewalt eingemischt hätte. Dieser Bürgerkrieg auf dem Balkan kostete 250 000 Menschen das Leben und führte dazu, dass in der Hochphase bis zu 800 000 Menschen bei uns Asyl fanden, wozu jährlich zwischen 10 und 15 Milliarden Euro als Hilfe zum Lebensunterhalt notwendig waren. Als Volker Rühe 1994/95 37 000 Soldaten als Krisenreaktionskräfte aufstellen wollte, sprachen die Grünen von einer Interventionsarmee und von einer Außenpolitik des Neoimperialismus. Es ist die gleiche Partei, die später, als 150 000 Soldaten als Einsatzkräfte aufgestellt werden sollten, Beifall klatschte. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien waren so gesehen in erster Linie eine Kurskorrektur von Rot-Grün im Bereich der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Verteidigungspolitischen Richtlinien gehen uns jedoch nicht weit genug. Wir wollen eine enge Verzahnung zwischen der Außen- und Innenpolitik. Es ist schlichter Unsinn, zu behaupten, wir wollten Wehrpflichtige als Terroristenjäger einsetzen. Dies will niemand. Wir wollen die Bundeswehr auch nicht zum Lückenbüßer für Versäumnisse der inneren Sicherheit degradieren. Beslan hat gezeigt, dass diese brutalen Verbrecher, die sich stellenweise - das ist eine Verhöhnung - Freiheitskämpfer nennen, keine Tabus mehr kennen. Diese vor Hass blinden Fanatiker, die Kinder bestialisch ermorden, schrecken vor nichts zurück. Sie zielen auf 5 000, auf 50 000 oder auch auf 5 Millionen Tote, wenn sie nur die entsprechenden Zerstörungsmittel besitzen. Wir brauchen heute eine Neudefinition der Landesverteidigung, die sich an dem veränderten Spektrum unterschiedlichster Bedrohung ausrichten muss. Unsere Landesverteidigung war bisher in erster Linie eine Abwehr gegen fremde Mächte oder groß angelegte Machtblöcke. Heute und zukünftig gilt es, sie verstärkt auf den Objektschutz und die Luft- und Seeüberwachung auszurichten. Katastrophenschutz geht jedoch weit darüber hinaus. Er umfasst auch den Kampf gegen Wasser, Feuer und Stürme, und zwar national wie international. Erstellen wir mehrere Bedrohungsanalysen, dann zeigt sich, dass die Polizei in einigen Fällen weder technisch noch hinsichtlich ihrer personellen Kräfte bzw. der Ausbildung in der Lage ist, ein Höchstmaß an Sicherheit zu bieten. Niemand ist so vermessen zu behaupten, dass es heute einen umfassenden Schutz vor allen möglichen Gefahren gibt. Zu allem entschlossene Verbrecher und Fanatiker sind nur begrenzt zu bekämpfen. Dass alle Kraftwerke, Staudämme, Überlandleitungen, Wasserkraftwerke usw. einschließlich der 15 Millionen Container, die tagtäglich auf See oder an Land unterwegs sind, geschützt werden können, ist eine Illusion. Wir wollen die relative Sicherheit erhöhen. Wir wollen die Grundlagen dahin gehend verändern, dass das vorhandene Kräftepotenzial bei der Bundeswehr übergreifend und auch präventiv genutzt werden kann. In Deutschland gibt es 36 verschiedene Einrichtungen, die sich mit der Terrorismusbekämpfung beschäftigen. Wir brauchen straffere, überschaubare und effizientere Strukturen und eine bessere Abstimmung zwischen dem Bund und den einzelnen Bundesländern. Der Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor den verschiedensten Gefahren muss alleinige Leitlinie sein. Wir als CDU/CSU sind bereit, einen Beitrag dazu zu leisten. ({3}) Wir bedanken uns bei unseren Soldaten und Soldatinnen für ihren nicht ungefährlichen Friedensdienst und wünschen ihnen, dass sie immer sicher und unversehrt an Leib und Leben zurückkommen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen mir nicht vor. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23. Das Wort hat zunächst die Frau Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen - am vergangenen Sonntag - hat der Weltbank-Präsident, James Wolfensohn, in der Frankfurter Paulskirche einen Appell an uns alle gerichtet, den ich an dieser Stelle aufgreifen will. Er hat darauf hingewiesen, dass auf unserem Globus 6 Milliarden Menschen leben. 1 Milliarde davon kämpfen Tag für Tag ums Überleben. 1 Milliarde Menschen haben weniger als 1 Dollar am Tag zur Verfügung. 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent des Weltsozialprodukts; die restlichen 80 Prozent der Weltbevölkerung müssen sich um die verbleibenden 20 Prozent des Weltsozialprodukts streiten. In rund einer Generation werden wir rund 8 Milliarden Menschen sein. Von den 2 Milliarden Menschen, die bis dahin dazukommen, werden nur 2,5 Prozent in reichen Ländern aufwachsen. Die übergroße Mehrheit von 97,5 Prozent dieser neuen Weltjugend wird mit der Perspektive leben, arm zu sein und zu bleiben, wenn sich nichts ändert. Diese jungen Menschen werden aber wissen, dass es ein besseres Leben gibt. Sie werden sich mit ihrer Situation nicht abfinden wollen. Wolfensohn hat gefragt, ob wir eine globale Gemeinschaft sind, die durch Umwelt und Handel, Finanzen und Gesundheit, Fairness und Vertrauen verbunden ist, oder ob in 20 oder 30 Jahren Verbrechen, Drogen, Gewalt und Terror die Oberhand gewinnen werden. Mein Appell an uns alle - wo auch immer wir politisch stehen - lautet: Lassen Sie uns alle dazu beitragen, dass die globale Gemeinschaft der Fairness gewinnt! ({0}) Die internationale Gemeinschaft hat ein Bündnis gegen die Armut geschlossen. Sie hat sich acht Gebote zur gerechten Gestaltung der Globalisierung gegeben. Entwicklungspolitik ist die beste Präventivstrategie gegen Armut und Perspektivlosigkeit, Gewalt und terroristische Ursachen. Der Kampf gegen die Armut macht Fortschritte. Das ist eine der guten Nachrichten von gestern. Kofi Annans Bericht an die UN zeigt: Es gibt große Fortschritte bei der Armutsbekämpfung, beispielsweise bei Bildung und beim Zugang zu Wasser. Wir dürfen aber nicht nachlassen und müssen die an den Zielen der Armutsbekämpfung orientierten globalen Regeln für die internationale Zusammenarbeit weiter voranbringen. ({1}) Die Ziele der internationalen Gemeinschaft sind auch die Messlatte für die Arbeit und die Politik der Bundesregierung sowie für unseren Haushalt. In diesem Zusammenhang möchte ich aber auch darauf hinweisen - das hat die Konferenz von Monterrey ja deutlich gemacht -, dass Handel und Entschuldung in vielen Fällen längst zu den wichtigsten externen Finanzquellen der Entwicklungsländer geworden sind. Die Bundesregierung drängt deshalb darauf, dass die WTO-Konferenz, die so genannte Doha-Runde, zügig abgeschlossen wird und den Entwicklungsländern tatsächlich Fortschritte bringt. Die Weltbank schätzt, dass ein realer Einkommensgewinn von rund 350 Milliarden US-Dollar möglich ist, wenn diese Konferenz erfolgreich ist, und dass damit 144 Millionen Menschen den Sprung über die Armutsgrenze schaffen können. Deshalb müssen wir dazu beitragen, dass die wichtigen Strukturentscheidungen im Interesse der Entwicklungsländer getroffen werden. ({2}) Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung sieht eine Steigerung der Mittel für das BMZ um 1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr vor. Darum habe ich kämpfen müssen. Das sage ich in aller Offenheit; denn jeder kennt die Haushaltssituation. Wir haben durch unsere Regierung auch deutliche Steigerungen bei den Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit der Kirchen und der nicht staatlichen Organisationen vorgesehen. Das finde ich wichtig. Ich möchte mich gerade an dieser Stelle bei ihnen allen für ihre Arbeit sehr herzlich bedanken. ({3}) Die Steigerung hält uns in dem Korridor, den wir einhalten wollen, um unsere internationalen Verpflichtungen verlässlich zu erfüllen. Aber um das 0,33-Prozent-Ziel bis zum Ende dieser Legislaturperiode zu erreichen, müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen. Ich möchte hinzufügen, damit das hinlänglich klar ist: Ich habe noch niemandem einen Vorwurf daraus gemacht, dass er oder sie mehr Geld für Entwicklungspolitik gefordert hat. Das gilt auch für diese Haushaltsberatungen. - Ich sehe, dass Frau Schulte die Botschaft vernommen hat. Ich glaube aber, dass sie das schon vorher verstanden hat. Immer deutlicher wird, dass die zunehmende Verknappung und vor allen Dingen auch die Verteuerung des Erdöls ein gravierendes Hindernis für die Erreichung von Entwicklungszielen darstellen. Die dauernde Abhängigkeit von teurem Erdöl führt für viele arme Länder in eine Sackgasse. Aus diesem Dilemma hat die Konferenz für erneuerbare Energien - wir hatten vorher noch keine Gelegenheit, über ihre Ergebnisse im Plenum zu diskutieren - Schlussfolgerungen gezogen. Sie hat deutlich gemacht, dass die internationale Gemeinschaft mithilfe der erneuerbaren Energien und der Steigerung der Energieeffizienz eine globale Energiewende herbeiführen will und so 1 Milliarde Menschen, die bisher keinen Zugang zu Energie haben, aus der Energiearmut und damit auch aus der generellen Armut herausholen will. Das ist eine wichtige Weichenstellung, gerade wenn es um Armutsbekämpfung in der Welt geht. ({4}) Ich möchte daran erinnern, dass auf dieser Konferenz 200 Aktionen verbindlich vereinbarten wurden. Jeder, der weiß, welch hohen Energieverbrauch China in Zukunft haben wird, erkennt die grundlegende Veränderung, die darin liegt, dass ein Land wie China zugesagt hat, dass es bis zum Jahr 2010 10 Prozent seiner Gesamtenergieleistung aus erneuerbaren Energien gewinnen will. Das ist ein unübersehbares Zeichen für die Dynamik dieses Prozesses. Diese wollen wir fördern. ({5}) - Das ist nur unsere Alternative. Wichtig ist auch der Kurswechsel der Weltbank, auf den wir und auch Sie in diesem Hause sehr gedrängt haben. Wir haben Vorlagen dazu verabschiedet. Die Weltbank wird ihre Mittel für erneuerbare Energien substanziell aufstocken und sich damit in Richtung einer Bank zur Förderung erneuerbarer Energien entwickeln, wodurch die finanziellen Voraussetzungen für Entwicklungsländer in Bezug auf diesen Bereich verbessert werden. ({6}) Die Bundesregierung wird ihr Engagement zur Förderung nachhaltiger Energien verstärken. Neben dem, was wir bisher zugesagt haben - das haben wir auch in diesem Haushalt verankert -, werden wir mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau eine Kreditlinie schaffen, durch die in den nächsten fünf Jahren mindestens 500 Millionen Euro an zinsgünstigen Krediten für Unternehmen - auch für deutsche -, die im Bereich erneuerbare Energien und Energieeffizienz tätig sind, bereitgestellt werden. Damit wird den Entwicklungsländern vielfach geholfen. Und wir Deutsche haben eine gute Ausgangsposition; denn wir sind in all diesen Bereichen sehr wettbewerbsfähig. Wir werden auch in der Aidsbekämpfung weiterhin mit großem Nachdruck tätig sein müssen. Ich will an dieser Stelle nur sagen: In diesem Haushalt setzen wir ein deutliches Signal der Steigerung. ({7}) - Ja, wunderbar, Herr Löning. Sie wissen, in diesen Fragen gibt es viel Gemeinsamkeit. Wir haben die Mittel für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria aufgestockt. Dieser Haushalt sieht für diesen Fonds Mittel in Höhe von 72 Millionen Euro vor. Das bedeutet eine Steigerung um 34 Millionen Euro. Wie jeder weiß, würde ich diesen Ansatz gern weiter aufstocken, wenn es die Finanzmittel ermöglichten. In den heutigen Debatten hat die Zukunft Afghanistans mehrfach eine Rolle gespielt. Ich möchte dieses Thema an dieser Stelle noch einmal unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten ansprechen. Die Zukunft Afghanistans muss der Bevölkerung gehören und nicht den Drogenbaronen. Sie muss den Familien und dem Unternehmergeist gehören und nicht den Terroristen. Wir wollen dazu beitragen, dass Afghanistan aus dem Teufelskreis von Drogen, Extremismus und Terror herauskommt und dass es bei den Wahlen ein deutliches Signal in diese Richtung gibt. ({8}) Gemeinsam mit der Aga-Khan-Stiftung - ich habe mit dem Aga Khan gestern einen entsprechenden Vertrag unterschrieben, der sich auf weitere Regionen der Welt bezieht - schaffen wir bereits seit 2001 in der Provinz Badakhshan Alternativen zu Einkommen durch Mohnanbau. Auch dabei gehören politischer und wirtschaftlicher Wandel zusammen. Eine wichtige Nachricht im Kampf gegen den Drogenanbau: Großbritannien - wir haben oft darauf gedrungen, dass es die Rolle, die es als Führungsnation unter den internationalen Gebern in Afghanistan im Hinblick auf die Drogenbekämpfung hat, stärker wahrnimmt - hat die Provinz Badakhshan zu der Provinz erklärt, in der die zivile Drogenbekämpfung in den Mittelpunkt der gesamten Arbeit gestellt werden muss. Das unterstützen wir nachdrücklich; denn wir halten es für wichtig, in diesem Bereich Alternativen aufzuzeigen. ({9}) Unsere Wiederaufbauarbeit in Afghanistan und das Wiederaufbauteam in Kunduz - auch das hat in der Diskussion eben eine Rolle gespielt - haben Modellcharakter gewonnen. Ich will hinzufügen - es hat auch eine öffentliche Diskussion darüber gegeben -: Das Entwicklungsministerium wird in Faizabad helfen, ein Krankenhaus wiederherzustellen, damit die Bevölkerung besser versorgt werden kann. Das Verteidigungsministerium - das habe ich mit dem Kollegen Struck abgesprochen wird im Rahmen der Arbeit des Wiederaufbauteams die Ausstattung des Krankenhauses sicherstellen. Über weitere Programme kann ich aber erst dann entscheiden, wenn es zusätzliche Mittel in diesem Haushalt gibt. Ich bin gerne bereit, die notwendigen Prozesse in Gang zu setzen. Aber das bedarf entsprechender finanzieller Möglichkeiten. Den Soldaten ist bereits gedankt worden. Ich möchte ihnen ebenfalls meinen Dank ausdrücken. Ich will an dieser Stelle auch sagen: Ich danke allen zivilen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Nichtregierungsorganisationen, aber auch der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, die in Afghanistan eine wunderbare Leistung erbringen. ({10}) Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Themen zu sprechen kommen, die sicherlich uns allen auf der Seele liegen. Morgen werde ich Gelegenheit haben, mit dem irakischen Übergangspräsidenten al-Jawar zu sprechen. Unabhängig davon, wo wir in der Frage des Irakkriegs gestanden haben - wo ich stand, weiß jeder -, haben wir alle ein Interesse an einem stabilen, souveränen, friedlichen Irak und daran, dass dieser Staat nicht zerfällt. In der Anfangsphase hat die Bundesregierung vor allem Nothilfe geleistet. Auf der Geberkonferenz in Madrid im Oktober vergangenen Jahres haben wir insgesamt, mit allem Drum und Dran, 200 Millionen Euro für den Wiederaufbau des Irak zur Verfügung gestellt. Wir werden auch an der Geberkonferenz im Oktober in Tokio teilnehmen. Wir haben Aus-, Fort- und Weiterbildungsaufenthalte für irakische Hochschullehrer und für Fachleute aus den Ministerien außerhalb des Irak organisiert. Ich sage noch einmal: In der jetzigen Situation - jeder weiß, wovon die Rede ist - kann ich es einfach nicht verantworten, dass wir deutsche Aufbaufachleute oder staatliche Durchführungsorganisationen in den Irak schicken. Die dazu notwendige Sicherheitslage ist nicht gegeben. Aber wir haben außerhalb des Irak Hilfe und Unterstützung für die Ausbildung geleistet. Auch da gilt: Der vorliegende Haushalt sieht keine zusätzlichen Mittel vor. Ich bin aber selbstverständlich bereit, Fachleute zu entsenden, wenn die Sicherheitslage es erlaubt und wenn auch UN, EU und Weltbank das tun. Voraussetzung: entsprechende Sicherheitssituation und zusätzliche Finanzmittel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf meiner Namibiareise im August 2004 habe ich für die Bundesregierung am Waterberg an der Gedenkveranstaltung zum hundertsten Jahrestag der Niederschlagung des HereroAufstands teilgenommen. Es war an der Zeit, denke ich, das Richtige und Notwendige zu tun und das Richtige und Notwendige zu sagen. ({11}) Wir erinnern uns: Die deutschen Kolonialherren hatten Ende des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung von ihrem Land vertrieben. Als sich die Herero dagegen wehrten, führten die Truppen des Generals von Trotha gegen sie, die Nama und Damara einen Vernichtungskrieg. Ich bin sicher - Ihre Reaktion eben hat es bestätigt -: Ich konnte mit der Zustimmung von Ihnen im Deutschen Bundestag bei der Gedenkveranstaltung dort auf dem Gelände am Waterberg das sagen, was ich gesagt habe: Wir Deutschen bekennen uns zu unserer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verantwortung und zu der Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben. Ich habe im Sinne unseres gemeinsamen Vaterunsers um Vergebung gebeten. Mein Ziel war, dass das Gedenkjahr 2004 das Jahr der Versöhnung zwischen dem namibischen Volk und Deutschland wird. Ich freue mich darüber, dass wir jetzt sagen können: Das ist gelungen. Die Vertreter der Herero sagten zu mir: Sie haben die Mauern des Schweigens eingerissen; jetzt können wir in den Dialog eintreten. So sieht das auch die namibische Regierung. Jetzt gilt es, den Weg der Versöhnung nicht wieder zu verbauen, sondern zu beschreiten. Juristische Schritte würden die Versöhnung erschweren. Das habe ich auch allen Beteiligten gesagt. Die Bundesregierung wird jetzt auf breiter Ebene - mit der namibischen Regierung, mit Kirchen und mit der Zivilgesellschaft - den Dialog fortsetzen und dieses Moment um der Versöhnung nutzen. Dafür gibt es konkrete Pläne. Die Bischöfe Kameeta und Keeding aus Namibia haben den Vorschlag gemacht, einen Panel on Reconciliation, einen Versöhnungsrat, zwischen Deutschen und Namibiern einzusetzen. Ich unterstütze diesen Vorschlag nachdrücklich. Im November werden wir den Vorschlag bei einer Konferenz, die in Bremen stattfinden wird, gemeinsam weiterentwickeln. ({12}) Mir geht es darum, dass wir das bisherige Engagement ausbauen und dass wir vor allem den Dialog zwischen Jugendlichen fördern. Ich habe dort ja das Kulturzentrum in Okakarara eingeweiht. Das sollten wir mit Leben füllen, zu einem Ort des Kennenlernens und des Austausches zwischen Jugendlichen machen und damit die Kenntnis der Kultur und den Respekt voreinander stärker fördern. Nie waren die Ansprüche an eine gute Entwicklungszusammenarbeit höher als heute. Aber nie waren eigentlich auch die Chancen besser als heute; denn die Geber gehen im Grundsatz in die gleiche Richtung. Es gibt nicht mehr das Gegeneinander, das es noch während des Kalten Krieges gab. Wenn Freiheit, Frieden und Stabilität bei unseren Nachbarn beheimatet sind, dann haben wir alle etwas davon. In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Kraus. ({0})

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wunschdenken und Realität fallen in der Politik oft auseinander, ({0}) gerade auch in der Entwicklungspolitik. Noch im April dieses Jahres hatte das BMZ optimistisch verkündet, man halte daran fest, bis zum Jahr 2006 0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. ({1}) - Das glaube ich nicht. Das wäre nur möglich, wenn es 2005 und 2006 eine deutliche Steigerung des Entwicklungshaushaltes gäbe. Frau Kollegin, Sie sind einmal eine begnadete Haushaltspolitikerin gewesen. Sie werden doch ganz sicherlich übersehen, dass die Steigerungsraten, die hierfür notwendig wären, überhaupt nicht vorstellbar sind. ({2}) Umso größer ist nun die Enttäuschung über die bittere Realität nicht nur unter den Entwicklungspolitikern, sondern auch bei den Nichtregierungsorganisationen, den Kirchen sowie allen entwicklungspolitisch engagierten Mitbürgern. VENRO hat den Entwicklungsetat 2005 als herben Dämpfer für die weltweite Armutsbekämpfung bezeichnet. Ich meine, dass das noch untertrieben ist. Der Ansatz des nächsten Haushalts liegt ungefähr um 200 Millionen Euro unter dem Ansatz des letzten von der Regierung Kohl verabschiedeten Haushalts, also dem für das Jahr 1998, auch etwas unter den Ausgaben des vorigen Jahres. Da helfen die ganzen Spielereien nichts. Einmal ist die globale Minderausgabe eingerechnet, einmal ist sie herausgerechnet. Ich bleibe dabei: Es ist nicht die Steigerung erreicht worden, die notwendig gewesen wäre, um das Ziel zu erreichen. Frau Ministerin hat hier beeindruckend dazu aufgefordert, wir alle müssten zusammenhalten, damit das besser wird. Wir würden das gerne tun, die Sache hat nur einen Haken: Die rot-grüne Koalition hat immer noch die Mehrheit und ich glaube nicht, dass sie zu überzeugen ist. ({3}) - Darüber gehen die Meinungen in Deutschland ganz weit auseinander. Schauen Sie sich einmal die Umfrageergebnisse an, Herr Kollege, dann werden Sie vielleicht verstehen, was ich meine. Ich finde es auch sehr nett von der Ministerin, dass sie sagt, keinem Menschen werde ein Vorwurf daraus gemacht, wenn er für die Entwicklungshilfe mehr Geld fordere. Das kommt unserem Harmoniebedürfnis sehr entgegen, aber helfen tut es natürlich relativ wenig. Ich denke auch, dass der Haushaltsansatz in Wirklichkeit noch niedriger ausfallen wird, weil noch weitere Kürzungen angesagt sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Entwicklungspolitiker haben ein Riesenproblem: Ich behaupte, die Masse der politisch interessierten Bürger ist an Entwicklungspolitik nur nachrangig interessiert. Ich denke auch, dass sich der Aufschrei der Bevölkerung wegen des heutigen Haushaltes sehr in Grenzen halten wird. Unsere Bevölkerung ist ungeheuer großzügig und spendenfreudig. Wir müssen uns vor niemandem auf der Welt verstecken, wenn es darum geht, Nothilfe bei Überschwemmungen, Hungersnöten und Katastrophen aller Art zu leisten. Aber nachhaltige Entwicklungspolitik ist kein Thema, das die politische Klasse in besonderer Weise bewegt. Es bedeutet nicht, dass es bei uns nicht eine beachtlich große Zahl von persönlich engagierten Leuten gibt, die in großen Nichtregierungsorganisationen oder auch als Einzelkämpfer große Opfer bringen. Aber insgesamt handelt es sich hierbei prozentual um eine verschwindend geringe Minderheit. Die Vielfalt des Engagements reicht von einem Dr. Errös, der als Einzelkämpfer angefangen hat, vieles und Erstaunliches geleistet hat und heute 1 500 Leute beschäftigt, über Eine-Welt-Läden bis hin zu Leuten wie dem mir bekannten Bananen-Joe, der fair gehandelte Bananen vertreibt. Dies alles ist sehr beeindruckend. Ich finde das großartig. Ich denke aber nicht, dass das unser Problem des mangelnden Interesses löst, das natürlich auch darauf zurückzuführen ist, dass es die bipolare Welt nicht mehr gibt und dass die Leute bei uns sagen, sie hätten andere Sorgen. Wir müssten alle - ich sage es noch einmal - zusammenhalten und daran arbeiten, dass sich diese Einstellung ändert. Dazu gehört natürlich auch, dass Entwicklungspolitik effizient betrieben wird. Da muss man bei manchen Organisationen große Zweifel haben. Ich denke hier zum Beispiel an den EEF. Aber auch in unserem Land treibt der Bürokratismus teilweise groteske Blüten, zum Beispiel bei der DEG. Diesen Fall habe ich zurzeit im Auge; man muss der Sache einmal nachgehen. Man muss sich nicht wundern, dass die Leute diese Einstellung haben, wenn solche Dinge bekannt werden. Es gibt viele gute Gründe; die Zeit ist zu kurz, um sie alle anzuführen. Ich möchte nur kurz vier Gründe anführen, warum wir klar machen müssen, dass es in unserem eigenen Interesse liegt, unseren Nachbarn - das ist praktisch jedes Land auf der Welt, denn die Entfernungen sind sehr kurz geworden - zu helfen. Sicherheitsgründe spielen dabei eine große Rolle. Denken Sie an Aids. Das ist eine Riesenkatastrophe in Südafrika, die sich jetzt ausbreitet; davon können alle bei uns betroffen sein. Denken Sie an den Zuwanderungsdruck, der durch Armut entsteht. Ebenso haben wir ein Interesse daran, dass es unseren Nachbarn in wirtschaftlicher Hinsicht gut geht; denn nur mit Nachbarn, die selber etwas bringen, kann man Handel treiben. Spendenquittungen sind eine schöne Sache, aber sie sind nicht sehr attraktiv und fördern den Handel nicht besonders. Wir müssen natürlich auch an die Umwelt und die globalen Einflüsse auf sie denken. Wenn heute in Sumatra die Wälder abgeholzt werden, wird das langfristig auch uns betreffen. Wir müssen uns überlegen, wie wir dem Naturschutz und dem Klimaschutz gerecht werden und gleichzeitig die Menschen - die ein Riesenproblem haben, denn sie brauchen den Raum zum Leben; dort lebt man von der Landwirtschaft - über Wasser halten und sie so stellen können, dass sie ein vernünftiges Leben führen können. ({4}) Als weiteren Grund nenne ich unsere humanistische, christliche Einstellung. Aus moralischen Gründen kann uns das Schicksal der Menschen auf der Welt nicht gleichgültig sein. In diesem Sinne denke ich, dass wir versuchen sollten, diesen Haushalt und das Standing der Entwicklungspolitik in unserer Bevölkerung deutlich zu verbessern. Vielleicht gelingt es uns, meine sehr verehrten Damen und Herren. Die Terrorismusentwicklung wird uns unter Umständen helfen, die Zusammenhänge klar zu machen. Wenn jemand nichts mehr zu verlieren hat, wenn er keine Perspektive hat, ist er eher anfällig für radikale Ideen. Ich glaube, das ist ein ganz starkes Argument. Dieses zu verbreiten und uns eindringlich für unsere Ideen und Anliegen einzusetzen, die per saldo ziemlich gleichgerichtet sind, dafür möchte ich hier werben. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir ist es in der Sommerpause manchmal schwer gefallen, zu entspannen und richtig abzuschalten. Das lag einerseits an den Bildern, die sich mir während einer Darfur-Reise sehr eingeprägt haben; einige Kollegen waren ja dabei und haben die schreckliche Not in den Flüchtlingslagern gesehen. Es lag aber auch daran, dass ich wusste, dass diese Haushaltsrede auf mich zukommen würde. Wie soll ich sie beginnen? Wie soll ich argumentieren, wenn ich einerseits von der Qualität unserer Entwicklungszusammenarbeit sehr überzeugt bin - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen -, aber andererseits keineswegs mit der Mittelausstattung zufrieden sein kann? Ich will als Mitglied einer Koalitionsfraktion hier keine Oppositionsrede halten, aber andererseits kann und will ich mich auch nicht verbiegen und etwas schönreden. Deshalb das Unangenehme zuerst: Der vom Kabinett vorgelegte Haushaltsentwurf reicht noch nicht aus, um ein deutliches Signal in Richtung 0,33-Prozent-Ziel zu geben. ({0}) Damit keine Missverständnisse aufkommen: Dies ist keine Kritik an der Entwicklungsministerin, die wirklich vehement für mehr Geld für die Entwicklungspolitik gestritten hat und auch weiterhin streiten wird. Dies ist vielmehr ein Plädoyer dafür, dass es im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens noch zu Nachbesserungen kommen möge. Was heute der Kanzler, der Außenminister und auch unsere Fraktionssprecherin Katrin Göring-Eckardt zu den globalen Herausforderungen, zu der wachsenden Bedeutung der Entwicklungspolitik als präventiv wirkendes Mittel gegen den Terrorismus gesagt haben, gibt mir Hoffnung, dass es noch gelingen wird, mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit und für die humanitäre Hilfe zu bekommen und den Haushalt entsprechend aufzustocken. Auch die Zahl der Haushälterinnen und Haushälter, die dies ähnlich sehen, wird, so hoffe ich, wöchentlich größer. ({1}) - Ich bin gar nicht mehr so pessimistisch wie noch vor einigen Wochen. Es gibt auch andere Ereignisse und Tendenzen, die mich optimistisch stimmen und die mich ein anderes Fazit ziehen lassen als das, was hier an Schwarzmalerei bereits vorgetragen wurde und vielleicht in weiteren Reden noch vorgetragen wird. Herr Kraus, Sie haben - vielleicht zu Recht - die geringe Akzeptanz der Entwicklungspolitik in der Bevölkerung bemängelt. Das Gegenmittel wird im Haushalt bereitgestellt: mehr Gelder für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn man mit den Menschen in Schulen, in Vereinen und in Kirchen spricht und ihnen die Folgen einer unzureichenden Entwicklungspolitik vor Augen hält, dann kann man sehr viel Akzeptanz für die Entwicklungspolitik gewinnen. Dafür muss man allerdings werben und sehr viele Gespräche führen. Unsere Entwicklungspolitik steht auf zwei starken Beinen. Das eine Bein ist die eher klassische Entwicklungszusammenarbeit, also Hilfe zur Selbsthilfe. Das andere Bein ist die internationale Strukturpolitik. In beiden Bereichen gibt es Fortschritte. Im Bereich der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ist eine alte Forderung aufgenommen und umgesetzt worden. Es ist eine Länder- und Schwerpunktkonzentration durchgeführt worden. Der Vorwurf der Verzettelung, der oft erhoben wurde, lässt sich so nicht mehr aufrechterhalten. Es gibt eine verbesserte internationale Abstimmung. Auch der Mix von bi- und multilateralen Instrumenten ist gut austariert. Im Bereich der internationalen Strukturpolitik gibt es Fortschritte bei den WTO-Verhandlungen. Was in unserem Antrag zur WTO vom Juli gefordert wurde - Agrarfragen zuerst lösen, radikal herunter mit den Agrarexportsubventionen und mehr Marktzugang für die Entwicklungsländer -, ist inzwischen stärker in das Regierungsverhalten und letztendlich auch in die Position der Europäischen Union eingeflossen. Mein Kollege Sascha Raabe und ich haben Kritik geübt, auch in den eigenen Reihen. Da hat es Veränderungen und Fortschritte gegeben, zumindest Schritte in die richtige Richtung. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat in Cancun die Baumwollsubventionen angeprangert. Renate Künast ist es in zähen Verhandlungen gelungen, dass die europäischen Baumwollsubventionen drastisch heruntergefahren werden. Ähnliches muss es nun auch auf dem Zuckersektor geben. Die europäische Zuckermarktordnung ist ein entwicklungspolitisch schädliches und für die europäischen Steuerzahler ein sehr teures Subventionsungetüm. Hier muss es zu einer Reform kommen, die positive Entwicklungsimpulse, aber auch Anreize für eine umweltgerechte und nachhaltige Produktion gibt. Die CDU/ CSU muss sich entscheiden, ob sie sich als Förderer einer wirklichen Entwicklungsrunde oder in erster Linie als Lobbyist für Nordzucker und Südzucker versteht. Da steht Ihnen noch eine wichtige innerfraktionelle Diskussion bevor. ({2}) Große Fortschritte gibt es im Energiebereich. Angesichts der Turbulenzen auf den Weltölmärkten schimmert es inzwischen auch den hartnäckigsten „Fossilen“, dass kein Weg an den erneuerbaren Energien vorbeiführt. Die Ministerin hat bereits eindrucksvoll von den Erfolgen der Erneuerbare-Energien-Konferenz berichtet. Zusätzlich zu der Summe von 1 Milliarde Euro, die der Bundeskanzler bereits in Johannesburg für den Ausbau erneuerbarer Energien und für Maßnahmen für mehr Energieeffizienz zugesagt hat, hat die Bundesregierung auf der Konferenz in Bonn weitere 500 Millionen Euro für diesen Bereich angekündigt. Nehmen wir ein drittes Beispiel - auch das stimmt mich optimistisch -, nämlich die aktive Rolle, die die Bundesregierung zur Eindämmung des Krieges in Darfur spielt. Joschka Fischer, Heidemarie WieczorekZeul und Kerstin Müller waren und sind von der Motivation getrieben, dass die internationale Gemeinschaft kein zweites Ruanda zulassen darf. Deutschland hat dafür gesorgt - auch gegen Widerstände von Bündnispartnern -, dass dieses Thema auf die Agenda des Weltsicherheitsrates kam. Die Krise ist zwar noch längst nicht überwunden; das wissen wir alle. Aber inzwischen gibt es wenigstens keine Behinderung der humanitären Hilfe mehr. Deutschland leistet seinen Beitrag bei der Versorgung der Flüchtlinge und bei der Unterstützung der Waffenstillstandskommission der Afrikanischen Union. Dass es nicht nur durch Umschichtungen in den Etats des Auswärtigen Amts und des Entwicklungsministeriums, sondern auch durch eine gemeinsame Anstrengung im Kabinett zusätzliche außerplanmäßige Mittel vom Finanzminister gibt, ist in diesem Fall auf eine gute Zusammenarbeit des Auswärtigen Amts und des Entwicklungsministeriums zurückzuführen. ({3}) Hoffentlich ist das eine Tendenz für weitere gemeinsame strategische Anstrengungen. ({4}) Wir wissen, dass bei der Erreichung der Millenniumsziele noch sehr große Herausforderungen bewältigt werden müssen. Die Weltbank hat errechnet, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit verdoppelt werden müssen. ({5}) Dieses ehrgeizige Ziel ist nur zu erreichen, wenn es weitere Akteure gibt und wenn die Privatwirtschaft stärker in die Pflicht genommen wird. Aber es muss auch neue Finanzierungsinstrumente im Bereich der Haushaltsmittel für verstärkte Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit geben. Am 20. September dieses Jahres treffen sich in New York auf Einladung des brasilianischen Präsidenten Lula mehrere Staatsoberhäupter, um über innovative Finanzierungsinstrumente im Kampf gegen den weltweiten Hunger nachzudenken. Ich erwarte von der deutschen Regierung, dass sie mit konkreten Vorschlägen nach New York reist. Denn ohne neue Finanzierungsquellen zu erschließen, werden wir die gigantischen Herausforderungen nicht schultern können. ({6}) - Da bin ich ganz anderer Meinung. Ich bringe jetzt noch ein Instrument in die Diskussion, das vielleicht auch Sie schlimm finden. Die Diskussion um eine Devisenumsatzsteuer, um die Tobin Tax, und die Diskussion um eine weltweite Quellensteuer sollten wieder belebt werden. Es gibt hierzu Beschlüsse des belgischen Parlaments und überraschenderweise auch eine neue Initiative der indischen Regierung. Das könnte dazu beitragen, dass dieses Thema wieder neu auf die Agenda gesetzt wird. Die Bundesrepublik Deutschland sollte die Diskussion um neue Finanzierungsinstrumente, einerseits um die Tobin Tax und andererseits um die Weltquellensteuer, aber auch die Diskussion um die Einführung von Nutzungsentgelten für öffentliche Güter wieder beleben. Wir brauchen diese neuen Finanzierungsinstrumente, um im Kampf gegen den Hunger bestehen zu können. ({7}) Eine Entwicklungspolitik, die die Kluft zwischen Arm und Reich verringert, die die Zahl der Hungernden drastisch senkt, die die natürlichen Ressourcen schont und die die biologische Vielfalt erhält, damit auch nachfolgende Generationen auf unserem Planeten leben können, eine solche Entwicklungspolitik stellt keine Almosen zur Verfügung, sondern leistet wichtige und wertvolle Investitionen in unsere gemeinsame Sicherheit und in unsere Zukunft. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist hier schon mehrfach die ODA-Quote angesprochen worden. Heute Morgen hat der Bundeskanzler in seiner Rede einen bemerkenswerten Satz gesagt, den ich hier sinngemäß zitieren will. Er sagte: Deutschland hält seine internationalen Verpflichtungen auf Punkt und Komma ein. Das finden wir lobenswert; das ist eine richtige Einstellung für eine Bundesregierung. Bloß, ich muss ehrlich sagen: Hier im ganzen Haus glaubt doch niemand ernsthaft - außer vielleicht Frau Schulte -, dass wir es schaffen, bis zum Jahr 2006, wie Sie auf internationaler Ebene zugesagt haben, 0,33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben. ({0}) Dies würde bedeuten, dass der Etat von 2005 auf 2006 um 1 Milliarde Euro aufgestockt werden müsste. Es ist doch eine Illusion und ein Vorgaukeln falscher Tatsachen, was Sie da betreiben, Frau Ministerin. Es ist nicht in Ordnung, mit unseren internationalen Partnern so umzugehen. ({1}) Ich fordere Sie hier auf: Anstatt an dieser Illusion festzuhalten, sollten wir lieber darüber diskutieren, wie wir mit dem Geld, das vorhanden ist - wenn es ein bisschen mehr ist, ist es ja in Ordnung -, vernünftig und zielgerichtet umgehen. ({2}) Ich glaube, das wäre für die internationale Glaubwürdigkeit Deutschlands sehr viel besser, als an dieser Fiktion festzuhalten. Dass die Weltgemeinschaft bis 2015 die Halbierung der Armut erreichen will, ist ehrgeizig, aber ein wichtiges Ziel für die Weltgemeinschaft; deswegen will ich das hier ausdrücklich betonen. Das ist ein Signal gerade auch von uns Industrieländern an die Entwicklungsländer; denn es gibt keine Menschenwürde in Armut. Es ist wichtig, dass wir an diesem politischen Ziel festhalten. Dieses Ziel unterstützen selbstverständlich auch die Freien Demokraten uneingeschränkt. Was wir nicht unterstützen, sind die Politikansätze, mit denen Sie versuchen, das zu betreiben. Ich glaube, die entsprechenden Ansätze im Haushalt sind falsch gewählt. Es wird nämlich nicht danach geschaut, was in den letzten Jahren erfolgreich war, sondern das gemacht, was in der Öffentlichkeit gut ankommt und was man dort hören will. Es wird nicht danach geschaut, wo Länder erfolgreich waren. Ich will hier ein Beispiel nennen: Indien ist seit 40 Jahren Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Indien empfängt in der Summe den größten Anteil deutschen Entwicklungsgeldes überhaupt. Indien hat bei der Bekämpfung der Armut seit Anfang der 90er-Jahre Erfolg, seit die indische Regierung dazu übergegangen ist, mutige Wirtschaftsreformen einzuleiten, Marktwirtschaft und freiem Handel mehr Raum zu geben und den Menschen die Freiheit zu geben, ihren Unternehmensgeist und ihre Kreativität umzusetzen und sich selbst ihr Geld zu verdienen. Es ist nachgewiesen - es gibt da Untersuchungen von der Weltbank, von der KfW und von vielen anderen Institutionen -, dass zu dieser sehr erfolgreichen Reduzierung der Armut in Indien all die Armutsbekämpfungsprogramme im Rahmen der Entwicklungshilfe leider nichts beigetragen haben. Wir müssen uns dieser Wahrheit stellen und umstrukturieren. Statt für Programme, von denen wir wissen, dass sie keinen Erfolg haben, sollten wir das Geld für vernünftige Vorhaben ausgeben, die den Leuten helfen, ihre Armut zu überwinden. Wir brauchen Beratungsprogramme im politischen Bereich und Beratung zur Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit sowie für die Entwicklung von Marktwirtschaft und freiem Handel. Das ermöglicht den Menschen, ihre Armut aus eigener Kraft zu überwinden. ({3}) Ich möchte an dieser Stelle noch etwas anderes in Bezug auf Indien sagen. Indien hat im Bereich der Softwaretechnologie in den letzten Jahren eine beeindruckende Entwicklung genommen. Es ist dabei, in anderen Technologiebereichen genauso beeindruckende Entwicklungen zu nehmen. Es gibt ein eigenes Ministerium für Biotechnologie. Die Inder sind sich darüber klar, dass sie im wissenschaftlichen Bereich mithilfe der besten Köpfe, die sie haben, und mithilfe von viel Geld sehr viel erreichen können, dass sie damit ihr Land nach vorne bringen können. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich finde außerordentlich unterstützenswert, was die indische Regierung da macht. Aber es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass die indische Regierung Geld und Know-how in die Entwicklung von Spitzentechnologie und in die Entwicklung ihres Landes steckt, gleichzeitig aber die Armutsbekämpfung im eigenen Land von uns gemacht wird. Ich halte das für ein krasses Missverhältnis. Wir müssen den Eliten sagen: Das müsst ihr selber leisten. Ihr habt die Ressourcen; ihr habt das Know-how. Es gibt in Indien eine breite NGO-Landschaft, die sich mit Armutsbekämpfung beschäftigt. Die Inder müssen das alleine auf die Beine stellen. Wir müssen die Ehrlichkeit haben, zu sagen: Wir setzen das Geld, das wir für Indien ausgeben, für vernünftige Sachen ein. Es würde zum Beispiel sehr viel mehr Sinn machen, die politischen Stiftungen mit mehr Geld auszustatten, um politische Beratung zu ermöglichen. Es würde sehr viel mehr Sinn machen, im wissenschaftlichen Bereich eine engere Kooperation zu suchen. Es würde auch viel Sinn machen, mehr Stipendien von deutschen Universitäten an indische Studenten zu vergeben, um die Austauschmöglichkeiten zu verbessern. ({4}) Ähnliches könnte man im Übrigen über China sagen. China empfängt nach wie vor den zweitgrößten Anteil deutscher Entwicklungshilfe. Frau Ministerin, es ist doch ein Treppenwitz der Geschichte, dass ein Land, das einen Taikonauten für 2 Milliarden Euro ins All schickt, von uns Entwicklungshilfe bekommt. Ich kann das gegenüber meinen Wählern nicht vertreten. Ich finde es nicht richtig, das zu machen. ({5}) Wir müssen den Chinesen sagen: Ihr könnt es selber. Tut es selber! Dabei habt ihr unsere volle Unterstützung. Aber das Geld brauchen wir für eine andere Art von Zusammenarbeit. In diesem Zusammenhang kann man zum Beispiel den Rechtsstaatsdialog unterstützen. Aber Armutsbekämpfungsprogramme, wie Sie sie betreiben, gehen in die falsche Richtung. ({6}) Wir brauchen in der Entwicklungspolitik - das ist schon angesprochen worden - eine regionale und sektorale Neusortierung vieler Bereiche. Es ist richtig, dass es Länder gibt, die unserer Unterstützung bedürfen, besonders in Afrika. Der Stichpunkt Aids wurde genannt. In solche Länder sollten die Mittel gehen. Wir müssen den Mut aufbringen, Ländern, die es aus eigener Kraft geschafft haben, zu sagen: Ihr könnt es alleine. Ihr braucht unser Geld nicht mehr. Wir konzentrieren die Mittel auf die, die sie wirklich brauchen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ziehen heute Bilanz über sechs Jahre rot-grüner Entwicklungszusammenarbeit. Diese Bilanz wird in der Tat öffentlich nicht so intensiv diskutiert wie andere Teilbilanzen, sie fällt aber genauso katastrophal aus wie die rot-grüne Regierungspolitik insgesamt. ({0}) Sie planen gegenüber 2004 - ungeachtet aller Zahlentricksereien, die Sie auch in anderen Bereichen vornehmen - eine weitere Kürzung der entwicklungspolitischen Ausgaben. Ihr Etatansatz für 2005 liegt um circa 220 Millionen Euro unter dem des Jahres 1998, dem letzten Haushalt, den eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung zu verantworten hatte. ({1}) Der Kollege Hoppe hatte in der ihm eigenen, wie ich finde: sehr erfrischenden Ehrlichkeit auf das Unbehagen hingewiesen, das ihn dabei treibt. Es stände Ihnen gut an, dieses Unbehagen zu teilen und auch die politischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Diese Entwicklung ist schon deshalb überaus bedauerlich, weil die Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahren bekanntlich einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs erlangt hat. Sie ist als dritte wichtige Säule neben die Außen- und Sicherheitspolitik getreten. Sie ist unverzichtbar für die Armutsbekämpfung und den Aufbau funktionsfähiger Staats- und Gesellschaftssysteme insbesondere in ehemaligen Kriegs- oder Bürgerkriegsländern. Dies zeigen nicht zuletzt die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan, im Kosovo und im Irak. Die kontinuierliche Kürzung des Entwicklungshaushalts ist daher ein geradezu fataler Schritt in eine falsche Richtung, da sie unseren eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interessen eklatant zuwiderläuft. ({2}) Rot-Grün versucht zwar - auch das erleben wir seit Jahren - immer die Flucht durch die argumentative Hintertür, es komme nicht so sehr auf die Quantität als auf die Qualität der Entwicklungszusammenarbeit an. Im Grundsatz ist das auch richtig, nur hat sich auch die Qualität deutscher Entwicklungszusammenarbeit in den letzten sechs Jahren markant verschlechtert. ({3}) Ich will nur ein paar Beispiele in Erinnerung rufen. Das Aktionsprogramm 2015 zur Armutsbekämpfung muss ehrlicherweise bereits drei Jahre nach seiner Verkündung als weitgehend gescheitert betrachtet werden. ({4}) Wir begrüßen zwar, dass die Bundesregierung erstmals einen ressortübergreifenden Ansatz für die Bekämpfung der Armut anstrebt. Doch kommt das Programm über den Zustand des Deklaratorischen leider kaum hinaus. Auf einen Umsetzungsplan für die sehr allgemein formulierten Zielsetzungen warten wir bis heute vergebens. ({5}) Es ist der rot-grünen Bundesregierung auch nicht gelungen, auf die fortwährenden Kürzungen im BMZ-Etat mit regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzungen erfolgreich zu reagieren. Ein reines, mehr oder weniger erratisches Gießkannenprinzip kann nicht die geeignete Antwort sein. Ungeachtet ihrer eigentlichen Bedeutung für die Armutsbekämpfung gewährt die Bundesregierung gerade Sektoren wie Bildung und Gesundheit eine immer geringere finanzielle Unterstützung. Als CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützen wir mit Nachdruck Entschuldungsinitiativen. Allerdings laufen diese ins Leere, wenn die gewonnenen finanziellen Ressourcen nicht zur Bekämpfung von Armut verwendet, sondern anderweitig missbraucht werden. ({6}) Leider hat es die Bundesregierung oftmals unterlassen, die Entschuldung an diese Bedingung zu knüpfen, und hat damit zur weitgehenden Wirkungslosigkeit dieser Maßnahmen beigetragen. Es drängt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer mehr der Verdacht auf, dass Sie, weil Sie keine Mittel haben, die Sie in den BMZHaushalt einstellen können, versuchen, die Erhöhung der ODA-Quote auf 0,7 Prozent bzw. 0,33 Prozent dadurch schönzurechnen, dass Sie vor allem in die Entschuldung gehen, und das ohne jeden Bezug zur Sachgerechtigkeit solcher Maßnahmen. ({7}) Das halten wir für falsch; wir werden das auch in Zukunft entschieden kritisieren. ({8}) Selbst die Bundesregierung hat übrigens mittlerweile erkannt, dass eine schlechte Koordination der vielfältigen Geberaktivitäten Effektivitäts- und Effizienzeinbußen nach sich zieht. Ihrer Ankündigung, auf Verbesserungen in diesem Bereich hinzuwirken, sind bisher jedoch keine Taten gefolgt, die finanzielle Auswirkungen gehabt hätten. Eine weitere, auch von der Bundesregierung erkannte Baustelle ist die EU-Entwicklungszusammenarbeit. Nun wäre gerade die Bildung einer neuen Kommission ein Anlass gewesen, auch in Brüssel entschieden auf eine effizientere Entwicklungsarbeit zu drängen. ({9}) Wo bleiben denn da Ihre Initiativen, meine Damen und Herren? ({10}) Wir haben es deutlich als unser Ziel formuliert, dass man - das legt doch die Struktur des BMZ und auch unserer Außenpolitik insgesamt nahe - die Entwicklungszusammenarbeit in Brüssel konzentriert und nicht in viele Kommissionen aufteilt. ({11}) Wo sind in diesem Zusammenhang Ihre Initiativen? Sie haben es geschafft, dass eine Partei, die bei der Europawahl 21 Prozent bekommen hat, wieder einen Kommissar stellt. Sie arbeiten aus innenpolitischen Gründen mit allen Kräften daran, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Aber Sie sollten sich in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf anderes konzentrieren. Das wäre besser. ({12}) Diese Beispiele verdeutlichen, dass Rot-Grün auch in diesem von den Menschen in unserem Land leider weniger beachteten politischen Bereich nicht seine Hausaufgaben erledigt und nicht in der Lage ist, hier ein gutes Zeugnis vorzuweisen. Dass die Unionsparteien sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht bessere Vorschläge haben, haben wir in der Vergangenheit deutlich gemacht und das werden wir auch in Zukunft tun. Wir wollen in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und Armutsbekämpfung endlich effiziente Strukturen schaffen. Das heißt auch, dass regionale Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit bei den Staaten gesetzt werden müssen, die stabile interne Rahmenbedingungen sicherstellen können. Anderenfalls droht eine Fortsetzung der auch von Rot-Grün betriebenen Ressourcenverschwendung. Auch wollen wir andere sektorale Schwerpunkte setzen, die sich mit der Verbesserung der Regierungsführung und mit den Basissektoren Bildung, Gesundheit und Energie beschäftigen, wobei wir eine rein ideologisch motivierte Fokussierung auf erneuerbare Energien ablehnen. Die Frau Ministerin hat eben die Anstrengungen angesprochen, die man in China unternehmen will, um den Anteil regenerativer Energien zu erhöhen. ({13}) Das unterstützen wir. Aber dazu gehört auch, wie heute in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen ist, dass chinesische Offizielle gerade in diesen Tagen angekündigt haDr. Ralf Brauksiepe ben, in den nächsten 15 Jahren mindestens 30 neue Kernkraftwerke zu bauen, und dass sie damit im weltweiten und europäischen Trend liegen. ({14}) Es macht also wirklich Sinn, in diesem Bereich auf einen bewährten Energiemix zu setzen und sich nicht auf einzelne Bereiche zu fokussieren, die allein keine Lösung sein können. ({15}) Wir machen uns nachdrücklich für die von Rot-Grün ständig versprochene bessere Koordinierung der Geberaktivitäten stark. In diesem Zusammenhang fordern wir Sie auch auf, endlich Maßnahmen zu unternehmen, damit der Rückgang der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit gestoppt wird. GTZ und KfW müssen mit ihrer international hoch anerkannten Arbeit auch zukünftig eine entscheidende Rolle spielen. Deswegen ist es nötig, dass die Bundesregierung so schnell es geht Verhandlungen mit multilateralen Entwicklungsinstitutionen dahin gehend führt, dass wir zukünftig nur noch die Organisationen bedienen, die Effizienz, Transparenz und Koordinierung garantieren können. Wir brauchen mehr bilaterale Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der beschränkten Mittel, die wir haben. ({16}) Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur den Rat geben: Beschäftigen Sie sich ernsthaft mit unseren Vorschlägen, anstatt, wie zuletzt durch die Ministerin mit Blick auf die Politik der USA im Irak geschehen, mit plumper antiamerikanischer Rhetorik auf sich aufmerksam zu machen. Frau Ministerin - das ist uns wirklich ein dringendes Anliegen -, Sie vertreten noch für zwei Jahre eine Institution, die Bundesregierung, die unabhängig von Personen in der Welt noch über eine gewisse Restreputation verfügt. ({17}) In der Funktion der Juso-Bundesvorsitzenden müssten Sie diese Rücksicht nicht nehmen. Aber benehmen Sie sich gegenüber unseren wichtigen Bündnispartnern bitte anders, als Sie es in Form Ihrer ständigen antiamerikanischen Ausfälle tun. ({18}) Damit beschädigen Sie unsere internationale Reputation und unsere internationalen Interessen. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sind jedenfalls fest entschlossen, Sie anknüpfend an die erfolgreiche Politik, die wir in den 80er- und 90erJahren gemacht haben, auch weiterhin mit unseren Alternativen zu konfrontieren. Dann wird die Entwicklungspolitik auch wieder den Stellenwert bekommen, der ihr gebührt. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Dzembritzki.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben soeben einen erfolgreichen Wadenbeißer, aber einen wenig erfolgreichen Entwicklungspolitiker erlebt. Das ist eigentlich ein bisschen schade, Kollege Ruck, weil der Austausch bisher sehr kollegial war. Manch kritische Bemerkung ist es ja auch wert, aufgenommen zu werden. Aber dann sollte man doch im Rahmen der Fachlichkeit bleiben und die Dinge nicht verdrehen. ({0}) Herr Brauksiepe, da Sie uns den Haushalt vorhalten, sage ich Ihnen: Jeder von uns wäre glücklicher, wenn die Summe noch etwas höher ausfallen würde. Als Sie seinerzeit die Regierung übernommen haben, haben Sie von uns eine ODA-Quote von 0,47 Prozent übernommen. Als Sie uns das Ressort dann zurückgegeben haben, lag sie bei 0,26 Prozent. Wir haben eine Steigerung auf 0,28 Prozent erreicht und wollen 0,33 Prozent. Das ist unbestreitbar. Aber wir dürfen doch die objektiven Probleme nicht so verdrehen, so außer Acht lassen, wie Sie das hier tun. ({1}) Meine Damen und Herren, ich kann sehr wohl verstehen, dass der Kollege Hoppe schlaflose Nächte hatte, nachdem er im Sudan gewesen ist. Aber wegen der Haushaltsdiskussion hätte ich keine schlaflosen Nächte gehabt, denn das Ressort liegt in guten Händen. ({2}) Wir haben den Wandel, der gerade im entwicklungspolitischen Bereich seit einigen Jahren weltweit zu verzeichnen war, mit unserem Haus, mit der Ministerin Wieczorek-Zeul, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hervorragend bewältigt. Anders als hier der Oppositionspolitiker Brauksiepe darstellen will, ist der Ruf der Bundesrepublik doch gerade durch die exzellente Entwicklungsarbeit in den zurückliegenden Jahren entscheidend verbessert worden. ({3}) Ich glaube, dass es eine richtige Entscheidung der internationalen Staatengemeinschaft war, für die Bekämpfung der weltweiten Armut konkrete Zielmarken zu formulieren und sich an diesen zu orientieren. Wir dürfen doch nicht schon jetzt, im Jahr 2004, meinen, dass das Ziel bis 2015 nicht erreichbar ist. Wir wollen es erreichen und wir müssen uns darum bemühen. Ich denke, dass die Millenniumsziele, die hier klar formuliert worden sind, für uns weiterhin ein Auftrag bleiben. ({4}) Dass wir uns gleichzeitig den neuen Herausforderungen wie der weltweiten Verbreitung von HIV/Aids sowie dem völligen Zerfall von Staaten und der Bedrohung durch internationalen Terrorismus zu stellen haben, ist doch alles unbestreitbar und in diesem Haus auch Konsens. Wir haben in den zurückliegenden Tagen wieder bitter erlebt, dass einige Probleme, die uns seit Jahrzehnten begleiten, wie die fortschreitende Zerstörung der Naturressourcen durch Bevölkerungswachstum der ärmeren Länder und der ungezügelte Energie- und Rohstoffhunger, der hier befriedigt wird, unsere klimatische Entwicklung weltweit beeinträchtigen. Ich finde es durchaus interessant, dass auch in den USA erneut Diskussionen stattfinden, ob man sich im Zusammenhang mit dem Kioto-Protokoll nicht doch anders entscheiden muss, als man es bisher getan hat. ({5}) Ich finde, dass die Konsequenz, die wir aus den Herausforderungen und Problemen gezogen haben, um unsere Ziele zu erreichen, nämlich in der Entwicklungspolitik von Einzelprojekten wegzukommen und überzugehen zu einer kohärenten, ressortübergreifenden Arbeit, eine vernünftige Entscheidung ist; dies wird hier auch getragen. Herr Kraus, Sie haben zu Recht die gute Nachbarschaft angesprochen, die wir - auch international pflegen wollen. Ich glaube, dass wir gerade mit der Arbeit unseres Ministeriums dieser guten Nachbarschaft dienen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will hier unterstreichen, dass ich die Rede und die Art und Weise, wie sich Frau Wieczorek-Zeul in Namibia eingebracht hat, befürworte - wir Parlamentarier stehen inhaltlich dahinter -, und hier auch ein Wort des Dankes an die Ministerin richten. ({6}) Von Herrn Brauksiepe ist die Entschuldung angesprochen worden. Auch in diesem Bereich müssen wir uns nicht verstecken: Ich denke nur an die PRSPs, die als Instrument entwickelt und gehandhabt werden. Das sind vernünftige Entscheidungen. Ich bin dem Kollegen Löning dankbar, dass er nicht nur die Erhöhung der finanziellen Mittel angesprochen hat, sondern auch, wie die 3,8 Milliarden Euro, die zur Verfügung stehen, genutzt werden. Wir haben uns um Strukturpolitik zu kümmern und können auch hier als Parlamentarier sagen, dass vernünftige strukturpolitische Entscheidungen getroffen worden sind und mit auf den Weg gebracht wurden. ({7}) Sie haben China und Indien angesprochen. Leider reicht die Zeit in einer solchen Plenardebatte für eine ausführliche Diskussion nicht aus. Ich bin der Meinung, dass wir großen Diskussionsbedarf haben, dass wir aber vorsichtig sein müssen bei der Beantwortung der Frage, ob man hier noch Entwicklungszusammenarbeit praktizieren soll oder nicht. Das Ressort umfasst jedoch auch den Bereich wirtschaftliche Zusammenarbeit. ({8}) Die Erfolge Chinas bei der Hungerbekämpfung zum Beispiel beruhen gerade auf unserer Zusammenarbeit, die wir mit diesem Land pflegen und führen. In diesem Zusammenhang werden immer die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte angesprochen. Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unternimmt hier entscheidende Schritte im Wege des Rechtsstaatsdialogs. Das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können. Wenn man mit jungen Leuten in den Universitäten in China diskutiert, dann merkt man, dass diese Arbeit erfolgreich war. Dafür bin ich sehr dankbar. Wir hatten gerade mehr oder weniger das Vergnügen, uns noch einmal mit der Situation in China auseinander zu setzen. In den Gesprächen mit dem Gesundheitsminister ist zum Ausdruck gebracht worden, dass vor allem in den Bereichen, in denen die Chinesen besondere Erfahrungen haben - nehmen Sie den Medizinbereich -, eine Zusammenarbeit gesucht wird. ({9}) Eine solche Zusammenarbeit müssen wir pflegen. Wir sind doch darauf angewiesen, mit Ländern wie Indien und China eine hervorragende Kooperation und Zusammenarbeit zu haben. Ich denke, wir müssen bereit sein, unsere Interessen zu formulieren. Unser Interesse ist es eben, die Zukunftssicherung auch durch die Zusammenarbeit mit diesen Ländern zu betreiben. ({10}) - Herr Kollege Löning, ich denke, dass man im Dialog vieles erörtern kann. Ich habe zum Beispiel in China darüber diskutiert, ob man nicht auch zu trilateralen Entwicklungskonzepten kommen kann. Warum denn auch nicht? Wir sind doch nicht so borniert, zu sagen, dass wir die Einzigen sind, die Weisheiten haben. Ich finde, daraus könnte man durchaus Honig saugen. ({11}) Die Sonne scheint hier so schön herein und blendet mich, sodass ich Sie alle gar nicht mehr sehe. Leider sehe ich aber die Uhr und sie läuft und läuft. ({12}) Nehmen Sie den Aidsfonds und die Arbeit, die von uns hier geleistet wird. Im Zusammenhang mit den Etatdebatten habe ich mich noch einmal mit den Zahlen beschäftigt; Sie haben sie selbst. Wir erhöhen den Betrag von 38 Millionen Euro auf 78 Millionen Euro. Schauen Sie sich an, was zum Beispiel aus dem Europäischen Entwicklungsfonds in den Aidsfonds geflossen ist! Es handelt sich um eine dreistellige Millionensumme und wir sind mit etwas über 23 Prozent daran beteiligt. Hier ist also viel passiert. Gerade mit Blick darauf, dass die Bundesregierung ihre internationalen Aufgaben zu erfüllen und wahrzunehmen hat, sage ich: Ich glaube, dass wir uns in diesem Bereich nicht zu verstecken brauchen und dass wir alle miteinander einen guten Grund haben, das 0,33-ProzentZiel anzustreben, weil wir dann ein perfektes Ergebnis hätten. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und schenke der CDU/CSU 23 Sekunden. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dafür wird die schöne Sonne leider abgestellt. Als Letzter in dieser Debatte hat der Abgeordnete Peter Weiß das Wort. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeit eine erfreuliche Tatsache, die man festhalten sollte, nämlich den Inhalt des von der Frau Bundesministerin eingangs vorgetragenen Zitats des Weltbankpräsidenten Wolfensohn: Die acht großen Millenniums-Entwicklungsziele, die 189 Staats- und Regierungschefs, unter ihnen der deutsche Bundeskanzler, im Jahre 2000 unterzeichnet haben, und auch die Festlegung der Bundesregierung, als einen ersten Schritt zur Erfüllung dieser Ziele den Anteil der deutschen Entwicklungshilfeausgaben am Bruttonationaleinkommen bis zum Jahr 2006 auf 0,33 Prozent zu steigern, finden uneingeschränkte Unterstützung. - Ich finde, das ist eine erfreuliche Tatsache. Für alle, die guten Willens an die Umsetzung dieser Ziele gehen, gibt es aber eine große Enttäuschung, nämlich den vorliegenden Bundeshaushalt 2005. Frau Bundesministerin, aufgrund dieses Haushalts sind alle Aussagen betreffend das 0,33-Prozent-Ziel dieser Bundesregierung Schall und Rauch. ({0}) Das Merkwürdigste ist, wie Sie so kunstvoll mit Zahlen herumfabulieren. Sie erfinden eine Steigerung Ihres Haus-haltsansatzes 2005 gegenüber 2004 dadurch, dass Sie einfach eine globale Minderausgabe einrechnen. Sie verspielen Ihre Kämpferqualitäten leider dafür - was Sie meisterhaft verstehen -, in der öffentlichen Darstellung aus einem Minus ein Plus zu machen, statt für eine Erhöhung der Entwicklungsgelder einzutreten. ({1}) Das ist das eigentlich Enttäuschende an dieser Haushaltsdebatte und der Art und Weise, wie Sie das finanzielle Desaster der deutschen Entwicklungszusammenarbeit öffentlich darstellen. ({2}) Zu Recht ist in der Debatte mehrmals erwähnt worden, dass man die hehren Zielsetzungen, zu denen sich die Staats- und Regierungschefs mit den Millenniumszielen verabredet haben, auch dann, wenn die finanziellen Mittel so beschränkt sind, wie sie es sind, erreichen könnte, wenn man sich darauf konzentriert. Schaut man sich aber die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen des Bundeshaushaltes 2005 an, dann wird man feststellen, dass die Mittel für die entwicklungspolitischen Handlungsfelder und -aktionen, die nachweislich zur Armutsbekämpfung beitragen, nicht erhöht worden sind und Sie die angeblich stärkere Armutsorientierung im Bundeshaushalt dadurch erreichen, dass Sie unterschiedlichen Maßnahmen der indirekten Armutsbekämpfung, der so genannten strukturellen Armutsbekämpfung, das Etikett „Armutsbekämpfung“ als Aufpepperle anheften, die dieses Etikett bisher nicht trugen. ({3}) Eine solche Art von Etikettenschwindel hilft uns nicht bei der Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit und hilft vor allen Dingen den Ärmsten der Armen dieser Welt nicht. ({4}) Ein weiterer Punkt. Wenn wir schon so wenig Mittel zur Verfügung haben, dann sollte die Bundesregierung dies unseren Partnern in Brüssel und New York mitteilen. Ich finde es beängstigend, in welchem Maße wir unsere eigene deutsche Handlungsfähigkeit einschränken. Um in Brüssel und New York nicht den Offenbarungseid leisten zu müssen, ({5}) steigern wir die Zuschüsse an die europäischen und internationalen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit um 73 Millionen Euro. Weil wir aber nicht mehr Geld im Haushalt haben, kürzen wir um die gleiche Summe den deutschen Organisationen die Zuschüsse für ihre Arbeit. Peter Weiß ({6}) Nun kenne ich die rechtliche Problematik. Aber wenn ich erlebe, wie sich auch verehrte Kolleginnen und Kollegen aus den rot-grünen Koalitionsfraktionen, insbesondere wenn sie von Reisen zurückkommen, über die Ineffizienz des Einsatzes europäischer Entwicklungsgelder beklagen, für die sie neue Beweise gefunden haben, und wie auch immer wieder über die Ineffizienz der Arbeit von UN-Organisationen berichtet wird, dann frage ich mich: Welchen Sinn macht es, diejenigen, die wenig effizient sind, mit diesem Haushalt finanziell zu belohnen und diejenigen, die anerkannt gut arbeiten, mit diesem Haushalt finanziell zu bestrafen? Das kann niemand einsehen. ({7}) Die Bundesministerin hat zu Recht die erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit der nichtstaatlichen, der privaten Träger, der Kirchen, Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, angesprochen. In der Tat halte ich es für bemerkenswert, dass uns die kirchlichen Hilfswerke trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen sich viele Menschen in Deutschland befinden, im letzten Jahr wieder mehr Spendengelder für die Entwicklungszusammenarbeit einwerben konnten als im Vorjahr. Diese beachtliche Leistung muss herausgestellt und sollte belohnt werden. Nur stimmt Ihre Aussage nicht, Sie würden die Arbeit dieser Institutionen stärker unterstützen, Frau Ministerin. Ich weiß nicht, welchen Haushalt Sie lesen; denn Sie halten sie nominell auf dem gleichen Stand. Nach der Haushaltsdebatte in dieser Woche und nach den Ankündigungen und Berechnungen des Herrn Bundesfinanzministers müssen wir damit rechnen, Herr Staatssekretär Diller, dass Sie eine globale Minderausgabe von mindestens 3,4 Milliarden Euro in den Haushalt 2005 drücken wollen. Egal, wie hoch die globale Minderausgabe im Haushalt 2005 ausfällt - es steht ja schon eine drin -, es ist doch zu erwarten, dass Sie, Frau Ministerin, wieder so verfahren werden wie in diesem Jahr, dass nämlich im Wesentlichen die Nichtregierungsorganisationen, die Kirchen, die Stiftungen und die Personalfachdienste, diese globale Minderausgabe erwirtschaften müssen. Das heißt, dass deren Haushaltszahlen schon heute nicht stimmen. Das sollte man der Ehrlichkeit halber sagen. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin der Überzeugung, dass die Entwicklungspolitik eine echte Renaissance erleben könnte, wenn wir weltweit eine Bewegung für die Milleniumsziele initiieren könnten. Ich glaube, dass sich viele Menschen, die mittlerweile den Glauben an und das Zutrauen in die Wirksamkeit der Entwicklungspolitik verloren haben, wieder für diese Aufgabe begeistern würden, wenn wir sie davon überzeugen könnten, dass im Rahmen der deutschen, der europäischen und der internationalen Politik die konkreten Ziele - bis zum Jahr 2015 wollen wir die Zahl der Menschen in extremer Armut um die Hälfte reduzieren - tatsächlich umgesetzt werden sollen. Ich halte es für eines der großen, wenn nicht für das entscheidende Versagen von Rot-Grün, dass Sie mit Ihren Haushalten sowohl inhaltlich als auch konzeptionell und finanziell diese großartige Chance, die wir eigentlich hätten, nicht wahrnehmen. Das ist leider die Negativbotschaft des Bundeshaushaltes 2005. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Kollegin Kortmann hat für eine Kurzintervention um das Wort gebeten. - Bitte.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zweck dieser Kurzintervention ist nicht, Herrn Weiß anschließend noch drei Minuten für weitere Darstellungen zu überlassen, sondern ehrlich zu sagen, worüber wir eigentlich reden, wenn wir über Entwicklungsfinanzierung sprechen. Der erste Punkt betrifft die ODA-Quote. Detlef Dzembritzki hat bereits darauf hingewiesen, dass sie zu Beginn des Jahres 1982 0,47 Prozent betrug und dann bis zum Jahr 1998 auf 0,26 Prozent abgesenkt wurde, und zwar in wirtschaftlich guten Zeiten. Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: ({0}) In wirtschaftlich guten Zeiten haben die beiden damaligen Regierungsfraktionen dazu beigetragen, dass die ODA-Quote systematisch gesenkt wurde. Meines Erachtens ist viel Gesundbeterei dabei, wenn Sie das jetzt kritisieren. Ich bitte Sie, Ihrem Kollegen Kraus mitzuteilen, dass zur Erreichung der ODA-Quote auch die Bundesländer einen wichtigen finanziellen Beitrag leisten sollen. Der Freistaat Bayern ist daran relativ wenig beteiligt. Er finanziert keine eigenen Entwicklungsvorhaben, er hat keinen eigenen Ausschuss und keine eigenen Förderkriterien. Ich würde Ihnen aus nordrhein-westfälischer Sicht gern ein bisschen Entwicklungshilfe leisten, damit Sie sehen, wie man das besser machen kann. Zweiter Punkt: Sie betonen hier die Priorität der Entwicklungspolitik sehr stark, Herr Weiß.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegen, halten Sie jetzt einen richtigen Redebeitrag? Das ist eigentlich nicht Sinn einer Kurzintervention.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich gehe auf die Punkte ein, die Herr Weiß genannt hat. Er sagte, die Bedeutung der Entwicklungspolitik müsse hervorgehoben werden. Ich frage mich nur, warum auf der Website der Union unter den sechs wichtigsten Politikfeldern die Entwicklungspolitik überhaupt nicht zu finden ist, nicht einmal unter dem kohärenten Ansatz von Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Also auch da mehr Märchen! ({0}) Zu den Steigerungsraten - heute ist mehrfach von Halbzeitbilanzen geredet worden -: Eine Bilanz für die Zeit von 1998 bis 2004 weist Steigerungsraten im Entwicklungshaushalt bei den Kirchen um 10 Prozent, bei den politischen Stiftungen um 17 Prozent, bei der Sozialstrukturhilfe um 49 Prozent und bei den privaten Trägern um gar 75 Prozent aus. Wenn Sie meinen - das als vierter Punkt -, die Finanzierung über Budgethilfe, wie Sie sie rühmen, vornehmen zu können, kann ich nur sagen: Die bisher geleisteten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Budgethilfe bezeichnen die Ergebnisse als schlecht bis hin zu desaströs. Sie sagen, Großbritannien sei darin Vorreiter. Die verabschieden sich von der Strukturhilfe, von personellem Angebot, von Monitoring und vom multilateralen Ansatz, weil es nur noch um die finanzielle Bereitstellung geht. Statt heute zu sagen -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, das hat nicht den Charakter einer Kurzintervention. Sie halten eine eigene Rede mit ausgearbeiteten Punkten. Das ist eigentlich nicht Sinn der Sache. Außerdem ist die Zeit jetzt wirklich vorbei.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe das mitgeschrieben. Herr Weiß kritisierte bestimmte Entwicklungsfinanzierungsmodelle.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dann kann Herr Weiß jetzt antworten.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich noch einen Satz hinzufügen?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, die drei Minuten sind jetzt vorbei. ({0}) Herr Weiß, möchten Sie antworten?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kortmann! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer seit sechs Jahren die Bundesregierung stellt, der sollte nicht immer noch Reden halten müssen, bei denen er weit in die Vergangenheit hineingreift, um sich für sein Handeln zu entschuldigen, ({0}) sondern er sollte durch eigene Erfolge für sich selber sprechen können. Dass Sie das offensichtlich nicht tun können, zeigt das Scheitern Ihrer Politik. ({1}) Erstens. Fakt ist, dass Sie die 0,33 Prozent - das ist ein Versprechen dieser rot-grünen Bundesregierung - nicht erreichen werden. Das müssen wir von der Opposition mit Bedauern feststellen. ({2}) Zweitens. Die deutsche ODA-Quote, also die offizielle Hilfequote für Entwicklungsländer, setzt sich zu 78 Prozent aus den Beiträgen des Entwicklungsministeriums und zu 18 Prozent aus den Beiträgen des Auswärtigen Amtes zusammen. Das zeigt deutlich: Diese beiden Elemente beeinflussen im Wesentlichen die ODAQuote, nicht die Beiträge von Bundesländern oder von Gemeinden. Deswegen ist die entscheidende Frage: Schafft es die Bundesregierung mit ihren beiden wichtigsten Haushalten im Bereich der auswärtigen und der internationalen Zusammenarbeit, die Mittel bereitzustellen, die zu einer Steigerung der ODA-Quote notwendig sind? Ja oder Nein? ({3}) Drittens. Die von Ihnen dargestellten Steigerungen der Mittel für die Nichtregierungsorganisationen und die Kirchen resultieren im Wesentlichen aus der Auflösung von Sondertiteln, was ich begrüße, und der Zuführung dieser Mittel in den Haushalt dieser Institutionen. ({4}) Deswegen muss ich betonen: Mit Taschenspielertricks und Umrechnungsmodalitäten, wie Sie sie praktizieren, werden die Mittel nicht erhöht. ({5}) Fakt ist: Mit dem Haushalt 2005 liegt die rot-grüne Koalition immer noch unter dem Ansatz des Jahres 1998, als die letzte Bundesregierung unter Helmut Kohl einen Haushaltsentwurf aufgestellt hat. Deswegen sind die sechs Jahre rot-grüner Entwicklungspolitik keine Erfolgsstory, sondern leider ein Rückschritt. Das bleibt festzustellen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung, weil weitere Wortmeldungen nicht vorliegen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 9. September 2004, 9 Uhr, ein. Ich wünsche allen einen schönen Abend, besonders den Besuchern auf der Tribüne. Die Sitzung ist geschlossen.