Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({0})
Am 19. August hat uns alle vollkommen unvorbereitet die Nachricht vom Tode unseres Kollegen
Dr. Günter Rexrodt erreicht. Wir wussten von seiner
schweren Krankheit, hielten sie aber für überwunden. So
kam sein Tod plötzlich und traf uns wie ein Schock.
Seine tatkräftige und lebensbejahende Art hat er sich
auch in einer Zeit bewahrt, in der ihm seine Krankheit
viel Kraft abverlangte.
Am 12. September 1941 in Berlin geboren, blieb
Günter Rexrodt seiner Geburtsstadt lebenslang verbunden. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft an der
Freien Universität Berlin arbeitete er in einem großen
Berliner Industriebetrieb und bei einer Bank. 1968 nahm
er seine Tätigkeit bei der Berliner Industrie- und Handelskammer auf, wo er 1974 Mitglied der Geschäftsführung wurde.
Günter Rexrodt wechselte 1979 zum Senator für
Wirtschaft und begann seinen politischen Weg 1982 als
Staatssekretär des Wirtschaftssenators und übernahm
1985 als Senator das Finanzressort. 1989 ging er zu einer
großen Bank - erst nach New York und dann nach
Frankfurt am Main als Vorstandsvorsitzender. 1991 kam
der Ruf in den Vorstand der Berliner Treuhandanstalt.
Kurze Zeit später führte ihn sein Weg in die Bundespolitik. Günter Rexrodt übernahm 1993 das Amt des
Bundeswirtschaftsministers, das er, 1994 als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt, bis Oktober
1998 innehatte. 1998 wieder in den Bundestag gewählt,
wurde er haushaltspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion.
Günter Rexrodt gehörte dem Präsidium der FDP seit
1999 an und übernahm im Jahr 2001 das Amt des
Schatzmeisters der Bundespartei.
Die, die ihm begegneten, beeindruckte seine zupackende Art und die Fähigkeit und Bereitschaft, auf andere Menschen zuzugehen. Er war ein engagierter, in der
politischen Auseinandersetzung streitlustiger Parlamentarier, der trotz aller Meinungsunterschiede seinen politischen Gegnern freundlich und charmant begegnete. Er
wusste, wie wichtig dies in der Politik ist.
Wir betrauern den Tod unseres Kollegen Günter
Rexrodt. Wir werden ihn in ehrender Erinnerung behalten. Seiner Witwe und seinem Sohn drücken wir unser
tiefes Mitgefühl aus.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, für den verstorbenen
Kollegen Rexrodt hat der Abgeordnete Hellmut
Königshaus am 20. August 2004 die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag erworben.
Ferner hat für die Kollegin Tanja Gönner, die am
13. Juli 2004 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat, die Abgeordnete Angela Schmid
am 28. Juli 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Für den Kollegen Albert Deß, der am 19. Juli 2004
auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat, hat der Abgeordnete Artur Auernhammer
am 29. Juli 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Ich begrüße die neue Kollegin und die neuen Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
({1})
Sodann möchte ich nachträglich Bundesminister Otto
Schily, der am 20. Juli dieses Jahres seinen 72. Geburtstag beging, sowie der Kollegin Barbara Wittig und dem
Kollegen Hans-Peter Uhl jeweils nachträglich sehr
herzlich zum 60. Geburtstag gratulieren.
({2})
Dann teile ich mit, dass die Kollegin Petra Selg ihr
Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen benennt als Nachfolgerin
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
die Kollegin Marianne Tritz. Sind Sie damit einver-
standen? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die
Kollegin Tritz zur Schriftführerin gewählt.
Wir setzen nunmehr die Haushaltsberatungen - Ta-
gesordnungspunkt 1 - fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2005
({3})
- Drucksache 15/3660 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008
- Drucksache 15/3661 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige
Aussprache insgesamt achteinhalb, für morgen neun und
für Freitag dreieinhalb Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes.
Das Wort hat Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor knapp zwei Jahren sind die Deutschen an
die Wahlurne gerufen worden. Ich glaube, es ist jetzt an
der Zeit, eine Halbzeitbilanz zu ziehen. Wie sieht unser
Land, Herr Bundeskanzler,
({0})
nach sechs Jahren Ihrer Regierung zusammen mit dem
gefährlichsten Minister, was die Wirtschaft anbelangt,
mit Herrn Trittin, aus? Ich würde, wenn ich von der
Wirtschaft ausgehe, die Regierung gerne Schröder/
Trittin-Regierung nennen, weil sich dann gleich zeigt,
wo die Schwachstellen liegen.
({1})
Wir haben in unserer Wirtschaft leider - niemand
kann sich darüber freuen - einen Trend zum Substanzabbau zu verzeichnen, der erschreckt. Führende deutsche
Unternehmen wie VW und Bayer scheiden aus dem
Euro Stoxx 50 aus. Nun kann man sagen: Das ist eine
Nachricht, die nur die Börsianer interessiert. In Wirklichkeit ist das ein Zeichen des Abstiegs der deutschen
Wirtschaft innerhalb Europas. Der Euro Stoxx 50 enthält
die am stärksten kapitalisierten Unternehmen Europas.
Wenn jetzt auf einmal zwei deutsche Traditionsunternehmen ausscheiden, dann muss das auch mit der Politik zu
tun haben und dann kann das nicht allein an der mangelnden Fähigkeit der Unternehmensführer liegen.
({2})
Ich frage mich: Warum regt das eigentlich niemanden
bei uns im Land mehr auf?
({3})
Weil wir, seitdem Sie regieren, schlechte Nachrichten
gewohnt sind, nach dem Motto, Herr Schmidt: Es hätte
ja alles noch schlimmer kommen können. Es hätten ja
auch gleich fünf Unternehmen ausscheiden können. Da
nur zwei ausgeschieden sind, ist also alles prima.
Traditionsreiche deutsche Großbanken sind - Sie
müssen sich nur die Börsenkurse anschauen - in ihrer
Börsenkapitalisierung weit abgeschlagen. Sie werden als
Fusionskandidaten gehandelt und es wird berichtet, Sie,
Herr Bundeskanzler, würden sich für solche internationalen Fusionen einsetzen.
Ein weiteres Beispiel. Es erfolgt derzeit ein Ausverkauf deutscher Wohnungen an internationale Fondsgesellschaften, offensichtlich weil ansonsten niemand
mehr bereit ist zu kaufen. Ich erinnere mich, dass man
sich, als Theo Waigel überlegt hat, die GAGFAH, die der
Bundesversicherungsanstalt gehört, zu verkaufen, um
die Eurostabilitätskriterien zu erfüllen, sehr darüber aufgeregt hat. Was war da alles los! Jetzt ist das Ganze verramscht worden und der Herr Gerster, den Sie als Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit geschasst haben, hat
dabei noch Geld verdient. Niemand regt sich darüber
auf. Ich glaube, das alles gehört zu den Momentaufnahmen der heutigen Zeit.
Bei mir war unlängst ein Mensch, der sein Geld damit
verdient, dass er große Kreditpakete von angeschlagenen
Großbanken - er sagt, in Deutschland seien fast alle angeschlagen - an amerikanische Fonds vermittelt. Im Moment gibt es in diesem Bereich einen gewaltigen Ausverkauf. Es handelt sich dabei nach dem Nominalwert um
zig Milliardenbeträge - wie teuer verkauft wird, weiß
man nicht -, da sich die Großbanken entlasten und diese
Pakete ins Ausland verramschen.
({4})
Das heißt aber auch, dass indirekt Firmen mitverkauft
werden und ein Arbeitsplatz- und möglicherweise auch
ein Wissenstransfer erfolgt, weil mittelständische Firmen, die Bestandteil dieser Pakete sind, plötzlich nicht
mehr eine bestimmte deutsche Großbank als Partner haben, sondern die Anwälte amerikanischer Fondsgesellschaften. - Ich glaube, das alles sollte uns eigentlich umtreiben.
({5})
Herr Bundeskanzler, die Firma, die Sie einmal zum
Opernball nach Wien eingeladen hat - seinerzeit waren
Sie Mitglied im Aufsichtsrat; das alles war korrekt; es ist
ja auch ein schöner Ball; auch ich war schon dort -,
({6})
die Firma VW, verkauft sich selbst zum Teil nach Abu
Dhabi.
Der Wirtschaftspresse hat man entnehmen können,
dass für die Ölscheichs der Kaufpreis wegen der zwischenzeitlichen Börsenentwicklung der VW-Aktie um
10 Prozent billiger wird, als man kalkuliert hat. Ich kann
nur sagen: Offensichtlich hat der Vorstand schlecht gearbeitet. Zu diesem gehört auch Herr Hartz; er hätte sich
besser um die Personalplanung kümmern sollen, um
rechtzeitig umzuschalten.
({7})
- Herr Schmidt, dass Ihnen das nicht gefällt, kann ich
sehr gut verstehen. Sie sind der unflätigste Zwischenrufer.
({8})
Ich würde gern dem Publikum all das vorlesen, was Sie
an Unflätigkeiten während meiner Reden dazwischenrufen. Wenn Sie aber glauben, mich damit durcheinander
zu bringen, dann täuschen Sie sich ganz gewaltig.
({9})
Ob sich die Ölscheichs bei Herrn Hartz bedanken
werden, wird sich erst zeigen. Deutschland wird aber immer mehr zum Schnäppchenmarkt. Man geht heutzutage
auf Schnäppchenjagd. „Geiz ist geil!“, Herr Bundeskanzler, auch bezüglich des Ausverkaufs der deutschen
Wirtschaft.
({10})
- Ich weiß, Sie wollen das verdrängen, Sie nehmen es
nicht zur Kenntnis. Aber die Wähler nehmen es zur
Kenntnis. Schauen Sie sich einmal Ihre Wahlergebnisse
an. Darauf komme ich noch zu sprechen.
Genauso schlimm ist, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland anhält. Sie hat inzwischen den
Mittelstand erfasst. Das Hauptargument sind die politisch verantworteten Lohnzusatzkosten oder Arbeitskosten in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Deutsche Industrie- und Handelstag sagt.
Der beispiellose Niedergang Ihrer Partei, Herr Bundeskanzler, setzt sich fort. Ich erinnere an die Wahlen in
Hessen, in Niedersachsen und in Bayern - in Bayern ist
es kein Wunder, weil dort die Konkurrenz so gut ist -,
aber auch die Wahlergebnisse in Hamburg und im Saarland sind beredtes Beispiel dafür, dass zumindest die
Wählerinnen und Wähler das Ganze zur Notiz nehmen.
({11})
Wer jetzt die Schuld an diesen Debakeln allein auf Oskar
Lafontaine schiebt, macht sich die Sache zu einfach.
Sein ehemaliger Kumpel, Joschka Fischer - der Umgang
({12})
ist symptomatisch -, hat gesagt: „Lafontaine litt an einem
akuten Überforderungssyndrom und ist einfach davongelaufen.“ Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrem Tun nicht auch
manchmal ähnlichen Symptomen begegnen; aber eigentlich wollte ich sagen: Es ist richtig, dass Lafontaines
Politik als SPD-Chef und Finanzminister Jobs in
Deutschland gekostet hat; er hat falsche Weichenstellungen zu verantworten. Richtig ist aber auch, Herr Bundeskanzler: Die größten, durchschlagendsten Fehler durfte
sich Lafontaine unter Ihrer Richtlinienkompetenz erlauben.
({13})
Er war nämlich derjenige, der die Reformen in
Deutschland, die auf Wachstum angelegt waren, wieder
zurückgenommen hat. Sie haben dabei zugesehen.
({14})
Seit Lafontaines Steuerpolitik stottert der Wachstumsmotor im Mittelstand; das muss ich nicht einzeln aufzählen. Für die Beteiligungsmärkte war Deutschland keine
erste Adresse mehr. Die Finanzmärkte schüttelten den
Kopf über Lafontaines Attacken auf den Stabilitätspakt
und seinen Feldzug für Wechselkurszielzonen. Ich will
noch einmal daran erinnern: Das alles hat er unter Ihrer
Ägide gemacht.
Die Nachricht von seinem Rücktritt hat ein Kursfeuerwerk an den Börsen und Devisenmärkten ausgelöst.
Herr Bundeskanzler, falls Sie so etwas vorhaben, sagen
Sie es uns rechtzeitig.
({15})
Ich kann mir vorstellen - ich weiß natürlich, dass die
Verbreitung von Insiderwissen verboten ist -, dass es
dann nicht nur ein Feuerwerk geben wird, dann wird es
Kursraketen an den internationalen und deutschen Märkten geben.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Ihrer
Erlaubnis zitiere ich Erhard Eppler.
({17})
- Jetzt hören Sie erst einmal zu! - Er hat über Sie gesagt
- wo er Recht hat, hat er Recht -:
({18})
Schröder - das ist reine Lotterie.
In der Lotterie haben die Wähler bei der letzten Wahl leider eine Niete gezogen.
({19})
Wenn es ernst wird, Herr Bundeskanzler - es sind in
unserem Land leider sehr ernste Zeiten -, dann setzen
die Menschen auf Verlässlichkeit. Sie sind aber kein
Kanzler der Verlässlichkeit. Deshalb erlebt die SPD ein
Debakel nach dem anderen. Die Mitglieder und die
Wähler - das steht fest - befinden sich auf einer Massenflucht.
Willy Brandt - er war eine Zeit lang auch im Amt des
Parteivorsitzenden Ihr Vorgänger - hat 1990 gesagt:
„Nun wächst zusammen, was zusammengehört.“ Unter
Ihrer Kanzlerschaft und unter dem Parteivorsitz von
Müntefering - beides in der Nachfolge von Willy
Brandt - brechen im Grunde genommen die Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland, die zugeschüttet waren, wieder auf. Es gibt eine nie gekannte Enttäuschung
der Menschen. Ich finde, das ist eigentlich etwas ganz
Schreckliches.
Es muss Sie nachdenklich machen, wenn jetzt bei den
Demonstrationen - - Ich weigere mich, sie Montagsdemonstrationen zu nennen; ich finde das ganz makaber,
weil es damals um etwas ganz anderes ging.
({20})
Ich habe da jetzt ein Plakat gesehen, auf dem stand:
„Wenn Lügen kurze Beine hätten, wären die Politiker Liliputaner.“ Wenn man es speziell auf Sie münzte, würde
das Wort „Zwerg“ wahrscheinlich noch besser zutreffen.
Man mag das noch ein Stück weit lustig finden.
({21})
Es wendet sich aber letztendlich gegen uns alle - auch
gegen die Schreihälse auf der linken Seite -, weil das
Vertrauen in die demokratischen Politiker dadurch ungeheuer geschwächt wird.
({22})
Ich kann nur sagen: Seitdem der Aufbau Ost zur
Chefsache erklärt worden ist, fühlen sich unsere Freunde
in Ostdeutschland schlecht behandelt.
({23})
Chefsache bei Schröder zu sein ist mehr Drohung als
Verheißung. Ich glaube, man ist da im Osten ganz besonders empfindlich.
Herr Bundeskanzler, es gelingt Ihnen nicht, Ihre eigenen Reihen zu überzeugen. Wenn es nur um die Schreihälse hier ginge, würde das keine große Rolle spielen. Es
geht aber auch um die Mitglieder und Anhänger, um die
Menschen, die Vertrauen in die Sozialdemokratische
Partei haben. Die müssen Sie mitnehmen!
Sie müssen auch das unselige Theater mit den DGBGewerkschaften beenden. Gestern gab es wieder ein
Treffen, über das ich - wie über Fischers Reisen - nur
sagen kann: Außer Spesen nichts gewesen! Da läuft
doch ein Spiel ab, das jedes Mal das gleiche Strickmuster trägt:
({24})
Um die Sympathisanten - die Beitragszahler - bei der
Stange zu halten - sie zahlen beim DGB hohe Beiträge -, geht man, wenn es darauf ankommt, kräftig gegen die Regierung vor. Wenn Wahlen kommen, schiebt
man wieder Millionen herüber, unterstützt die gleiche
Regierung und sagt, die Opposition habe alles noch sehr
viel schlimmer gemacht. Wir werden das Strickmuster
wieder beobachten, wenn es auf die Wahlen zugeht. Insofern ist all das unglaubwürdig. Ich kann nur sagen:
Wenn man solche unglaubwürdigen Spiele spielt, dann
kann man die Menschen nicht überzeugen.
In der SPD gibt es genug Spaltpilze. Ich beneide Sie
in dieser Hinsicht nicht. Ich beneide auch nicht Herrn
Müntefering, der in seiner Eigenschaft als SPD-Vorsitzender überhaupt keine Erfolge aufzuweisen hat. Ich
meine, die Regierungskoalition gleicht zwei Jahre nach
der Bundestagswahl einer gescheiterten Selbsthilfegruppe. Obwohl Sie von einer selbst gegrabenen Grube
zur anderen stolpern, beklagen Sie die Undankbarkeit
der getäuschten Wähler. Sie betreiben Selbstbeschwichtigung, verkünden Durchhalteparolen, schwören sich bei
den Klausurtagungen an den verschiedensten Orten
- von Palais Schaumburg bis Neuhardenberg - gegenseitig Beistand. Die Grünen gehen gleichzeitig in Luxushotels; sie mögen es nicht mehr so gewöhnlich wie die
anderen Menschen.
({25})
All das bringt unser Land nicht weiter. Wenn immer
mehr Menschen am Wahltag zu Hause bleiben und wenn
dadurch die Parteien am rechten und am linken Rand
gestärkt werden, dann muss das uns allen Sorgen machen. Deswegen kann ich nur sagen: Zur Halbzeit der
Legislaturperiode präsentiert sich das Bundeskabinett
kraftlos und ausgelaugt.
({26})
Eichel ist verschlissen. Man muss heute nur einmal
eine führende Boulevardzeitung aufschlagen: Sie hat den
Kern seiner Versprechungen wiedergegeben. All das ist
jetzt eingestampft worden. Wo ist der ausgeglichene
Haushalt 2006?
({27})
Eichel ist inzwischen Weltmeister im Schuldenmachen
geworden. Der Marsch in den Schuldenstaat hält an. Das
alles müssen einmal die Jungen in Deutschland bezahlen.
({28})
Die Bundesgesundheitsministerin wäre ohne die Unterstützung und Zuarbeit der Opposition überfordert.
({29})
Der für Verkehr und den Aufbau Ost zuständige
Minister - da kann ich nur sagen: Nomen est omen „stolpert“ ideenlos über die Politbühne. Seine Hilflosigkeit ist greifbar, wenn man sieht, wie er mit dem Desaster von 3 Milliarden Euro pro Jahr umgeht, das er selbst
bzw. sein Haus durch Toll Collect verursacht hat.
({30})
Der für Arbeit und Wirtschaft zuständige Minister,
Herr Clement, wird zunehmend als vermeintlicher Neoliberaler und Turbokapitalist diskreditiert.
({31})
Er dient den Gewerkschaften als Buhmann und Sündenbock.
Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen einen Tipp geben, wie Sie Herrn Sommer und Ihre Genossen befrieden können: Führen Sie Herrn Clement doch einmal gefesselt mit sich und lassen Sie sie, während er gefesselt
bleibt, einfach die Aggressionen des DGB an ihm austoben.
({32})
- Vielen Dank für Ihren Hinweis.
({33})
Ich bin der Meinung, dass sich Herr Clement lieber
um das Thema Wettbewerb kümmern sollte. Wir haben
vorhin Günter Rexrodts gedacht. Günter Rexrodt ist mit
dafür verantwortlich, dass es auf den Energiemärkten
Wettbewerb gibt; denn er hat den Wettbewerb auf dem
Strommarkt eingeführt. Sie versuchen jetzt, das alles
über die Genossenschiene in einem beispiellosen Genossenfilz wieder ein Stück weit rückgängig zu machen.
Ich finde es makaber: Ihr Staatssekretär Tacke - ich
weiß nicht, wohin Sie dieser Gipfelsherpa noch führen
soll - war vom früheren Wirtschaftsminister Müller
- das war Ihr Freund, den Sie mitgebracht haben - beauftragt, die Fusion zwischen Eon und Ruhrgas, die vom
Kartellamt und von Gerichten abgelehnt worden war,
durch eine Ministererlaubnis zu genehmigen. Jetzt wird
ausgerechnet dieser Staatssekretär, der noch im Amt ist,
im gleichen Konzern und vom Aufsichtsratsvorsitzenden
Müller in diesem Bereich zu einem gut dotierten Vorstandsvorsitzenden gemacht. Ein solches Vorgehen kann
sich eine seriöse Regierung eigentlich nicht leisten.
({34})
Auch Herr Fischer hat die letzten Monate damit verbracht, vor der Innenpolitik wegzutauchen, nach dem
Motto: Da lassen sich keine Lorbeeren ernten. Er ist
durch Entwicklungsländer getingelt, die er sonst nie besucht hat. Ich habe vermutet, er macht gleichzeitig seinen Antritts- und Abschiedsbesuch. Aber er hat vorgegeben, dort zu sein, weil er für einen deutschen Sitz im
Sicherheitsrat kämpft. Diese Großmannssucht ist jetzt
wieder in sich zusammengebrochen. Ich glaube, wir haben ganz andere Sorgen in Deutschland. Herr Bundesminister, wir sollten gemeinsam versuchen, auf europäischer Ebene voranzukommen, statt dass Sie durch die
Welt tingeln, um für eine Schimäre zu werben.
Ich meine, Ihr Bundestagswahlkampf hat die Menschen über die wahre Lage im Land hinweggetäuscht.
Mit unhaltbaren Versprechungen sind die Perspektiven
schöngeredet worden. Nach der Wahl herrschten Hektik
und Konzeptionslosigkeit. Beides ist Deutschland wirtschaftlich teuer zu stehen gekommen.
Ein besonderer Rohrkrepierer - ich habe dieses
Thema schon gestreift - ist inzwischen die so genannte
Wunderwaffe Hartz. Ich erinnere mich noch daran, dass
auch wir, die Opposition, zu einer Weihehandlung im
Französischen Dom in Berlin eingeladen worden sind.
Man hat so getan, als ob eine neue Ära bzw. Epoche anbricht, als ob jetzt jemand da sei, der den Stein der Weisen gefunden hat. Dadurch sind die Deutschen kurz vor
der Wahl noch einmal getäuscht worden.
Rechnen Sie doch einmal nach, was aus den so genannten Hartz-Reformen geworden ist. Bei der praktischen Umsetzung wurden kapitale Fehler gemacht.
Durch ständiges Nachbessern und permanente Flickschusterei ist der rote Faden verloren gegangen. Die
Menschen wissen nicht mehr, wie sie darüber denken
sollen. Die Folgen sind Enttäuschung und Frust. Die
Menschen in den neuen Bundesländern sind aus Enttäuschung und Frust auf der Straße.
({35})
Herrn Hartz muss man sagen: Wer sich als Messias
feiern lassen will, der muss sich nicht wundern, wenn er
bei einem Scheitern seiner Projekte als falscher Prophet
gesteinigt wird. So ist die Geschichte der Menschheit
schon immer verlaufen.
({36})
Ich meine, er hätte besser daran getan, vornehmlich da
zu arbeiten, wo er bezahlt wird, nämlich für die Aktionäre von VW.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das heillose
Durcheinander von Vorschlägen und wiederholten Änderungen hat natürlich einen sehr hohen Preis.
({37})
Wenn jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben
wird - wie Franz Josef Strauß einmal gesagt hat -, von
der Mindeststeuer bis zum Mindestlohn, dann fehlt den
Leuten das Mindestvertrauen und sie wenden sich von
der Politik ab. Ich meine, hierin liegt auch der entscheidende Grund dafür, dass das Vorziehen der dritten
Stufe der Steuerreform in wesentlichen Teilen, das wir
möglich gemacht haben, einfach verpufft ist, statt konjunkturelle Wirkung im Inland zu entfalten.
Unser Problem ist die Kaufzurückhaltung, die wir gegenwärtig erleben. Volkswirtschaftlich ist sie zunächst
gut - wir haben eine stark steigende Sparquote -, sie
geht aber zulasten des Mittelstands, des Einzelhandels
und mittlerweile auch der Automobilindustrie: Die Deutschen lieben auch ihr liebstes Kind, das Auto, nicht mehr
so wie früher. Weil sie Angst haben vor der Zukunft,
sparen sie das Geld an und das wirkt sich natürlich verheerend auf den Inlandskreislauf aus, ganz abgesehen
davon, dass die Bauwirtschaft am Krückstock geht. Ich
muss Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler: Wer diese Vertrauenskrise überwinden will, der braucht Mut zur Wahrheit
({38})
und der braucht vor allen Dingen Realismus. Es beginnt
bei der Wahrheit.
({39})
- Sie können mich der Unwahrheit nicht überführen.
Unwahrheit - dein Name ist SPD, liebe Genossinnen
und Genossen:
({40})
Seit Jahren werden illusionäre Konjunktur- und
Wachstumsprognosen präsentiert. Wir sagen jedes
Mal: Es stimmt so nicht. Sie aber halten an Ihren Prognosen fest. Alle Arbeitsmarktversprechungen haben
sich als unhaltbar erwiesen. 2 Millionen Arbeitsplätze
sollte Hartz binnen ein paar Jahren bringen. Wir sind immer noch beim Stand von 4 Millionen offiziellen Arbeitslosen; in Wirklichkeit gibt es ja viel mehr, was nicht
sichtbar ist.
Reformpolitisch, Herr Bundeskanzler und meine verehrten Herren von der rot-grünen Regierung, stehen wir
ungefähr da, wo die Koalition der Mitte bereits 1998 gewesen ist. Fast zehn Jahre sind verloren gegangen, zehn
verlorene Jahre für Deutschland. Damals wurden wichtige Reformen von Ihnen blockiert: Bei der Steuer konnten wir unsere Vorstellungen nicht durchsetzen, weil wir
den Bundesrat gebraucht hätten; deswegen ist das Petersberger Modell dann verschwunden.
Wir haben den demographischen Faktor bei der Rentenversicherung eingeführt, wir haben die Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen eingeführt, wir haben erste
Lockerungen im Arbeitsrecht gemacht, zum Beispiel die
mehrmalige Befristung von Arbeitsverträgen. Nach der
Wahl ist das alles mit einem Federstrich wieder zurückgenommen worden. Mit unseren Reformen im Sozialsystem und vor allen Dingen mit steigenden Beschäftigungszahlen und einer Defizitquote von circa 2 Prozent
war der richtige Weg beschritten. Sie haben von Theo
Waigel ein hervorragendes Erbe hinterlassen bekommen.
Das steht fest.
({41})
- Wissen Sie, Frau Kollegin, auf Ihrer Seite sitzen viele
Leute, die alles bestreiten; sie bestreiten ja zum Teil
nicht einmal ihren eigenen Lebensunterhalt. Aber diese
Fakten müssen Sie zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie
wehtun.
Ich muss zwischendrin zu meinem parlamentarischen
Geschäftsführer sagen, er soll einmal die Redezeit anders melden; denn die Uhr irritiert mich ständig.
Wir haben in den zurückliegenden Jahren im Gegensatz zu Ihnen nicht blockiert, sondern wir haben Ihre reformpolitischen Bemühungen konstruktiv unterstützt.
({42})
Was in den letzten Jahren erfolgreich verlaufen ist, trägt
- das müssen Sie zur Kenntnis nehmen - die Handschrift
der Union. Ohne unsere Mitarbeit stünden wesentliche
Elemente des Hartz-Konzeptes nicht im Gesetzblatt.
Ohne unsere Initiativen bei den Minijobs hätten wir
heute keinen Beschäftigungsboom auf dem Gebiet.
Ohne die Erfahrungstransfusion von Horst Seehofer zur
Bundesgesundheitsministerin Schmidt gäbe es jetzt
keine Überschüsse in den Kassen der Krankenversicherung.
({43})
Bei den Irritationen um Hartz IV tragen Sie die
Schuld: Ihre Propagandaabteilung hat geschlafen. Sie
haben viel zu spät über die Wirkungen von Hartz IV aufgeklärt. Sie haben das Ausfüllen der Fragebögen in den
neuen Bundesländern hauptsächlich den Funktionären
der PDS, die ihre Hilfestellung angeboten haben, überlassen. Da ist es dann kein Wunder: Diese Hetzer, mit
denen Sie gleichzeitig in zwei wichtigen Bundesländern
regieren, haben natürlich überhaupt kein Interesse daran,
dass es vertrauensbildende Maßnahmen gibt. Wenn man
es sich genau anschaut, dann ist ja angeblich vieles nicht
so schlimm. Ich kann nur sagen: Die Leute ärgern sich
auch, weil sie das Gefühl haben, sie seien einer Mogelpackung aufgesessen. Man nannte das Ganze Arbeitslosengeld II, in Wirklichkeit ist es eine Variante der
Sozialhilfe. Man soll die Menschen vorher nicht täuschen, sondern ihnen klipp und klar sagen, was man vorhat und wo die Grenzen liegen. Wir müssen das alles
sicherlich tun, weil die öffentlichen Kassen schon lange
nicht mehr die Leistungsfähigkeit haben, die sie einmal
hatten. Deswegen sind wir ja auch für alle Sparmaßnahmen.
Herr Bundeskanzler, ich komme zu Ihrer ökonomischen Bilanz. Ich habe vorhin ein paar Beispiele aus der
Praxis gebracht; das hat Ihnen nicht gefallen. Global und
allgemein klingt das alles viel vornehmer. Der Hintergrund ist aber genauso schwach. Die Bundesregierung
spricht von einem robusten Wachstum. Das Gegenteil ist
heute der Fall. Die Frühindikatoren mahnen zur Vorsicht. Das angepeilte Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent,
das Sie regierungsamtlich propagieren, wird nur erreicht,
wenn Deutschland weiterhin gut exportieren kann. Der
Inlandskreislauf ist noch lange nicht angesprungen. Wir
segeln im Windschatten der Konjunkturprogramme anderer, nämlich im Windschatten der USA und des
Booms in China. Wenn dieser Boom aus irgendwelchen
Gründen nachlassen sollte, dann brechen bei uns die
Prognosen wieder in sich zusammen.
Wie gesagt: Das Hartz-Konzept hat nicht gegriffen.
Ihre Wahlkampfwunderwaffe hat sich als Rohrkrepierer
erwiesen. Herr Bundeskanzler, am 16. August 2002 haben Sie die neue Wirklichkeit versprochen. Inzwischen
kennen wir die wirkliche Wirklichkeit. Die wirkliche
Wirklichkeit ist - ich sage es noch einmal -: Nach wie
vor gibt es offiziell über 4 Millionen Arbeitslose. Das ist
die Wirklichkeit bei uns im Land und das spüren immer
mehr Menschen.
Der Haushalt wird als „Schicksalsbuch der Nation“
bezeichnet. Ich kann nur sagen: Wenn das, was Herr
Eichel vorgelegt hat, das Schicksalsbuch ist, dann geht
unser Volk einem sehr ungewissen Schicksal entgegen,
({44})
weil es geschönt und gefälscht ist. Kollege Austermann
hat, nachdem Eichel vom Treffen von Nobelpreisträgern
und Nachwuchswissenschaftlern am Bodensee berichtet
hat, zu Recht gesagt, dass Eichel erst dann eingeladen
wird, wenn es einen Nobelpreis fürs Schuldenmachen
gibt. Dann ist auch Eichel nobelpreisverdächtig.
Herr Bundeskanzler, wir befinden uns inzwischen in
einer Schuldenfalle. Es hat keinen Sinn, das Ganze
schönzureden. Die Schuldenlawine nährt sich aus sich
selbst. Es entsteht ein Teufelskreis, der über kurz oder
lang die politische Gestaltungsfähigkeit unseres Landes
infrage stellt. Deutschlands Staatsfinanzen steuern längst
nicht mehr wie versprochen in den Ausgleich, sondern
sie steuern leider in den Abgrund. Deswegen müssen wir
auch mit dem Stabilitätspakt sehr vorsichtig sein.
Ich will Ihnen nur einmal vorlesen, was die „FAZ“
vorgestern geschrieben hat.
({45})
- Da nicht alle Zuhörer das gelesen haben, möchte ich es
doch vorlesen. Sie können mich dadurch nicht abhalten.
({46})
Unter „Kaschierte Schuldenpolitik“ steht dort:
Eine Sorge allerdings dürfte Eichel nun los sein. Im
Zusammenspiel mit Paris hat es die Bundesregierung geschafft, dem von Deutschland initiierten
Stabilitätspakt die Verbindlichkeit zu rauben. Sanktionen für überbordende Schulden sind daher kaum
noch wahrscheinlich. Darauf hat Kanzler Gerhard
Schröder mit Eichels Hilfe hingearbeitet, frei nach
dem Motto: Ist der Pakt erst ruiniert, verschuldet es
sich ungeniert.
({47})
Wir brauchen diesen Stabilitätspakt auch, damit die
Menschen ausreichend Vertrauen in die neue Währung
haben.
Den knappen EU-Finanzen droht neues Ungemach.
Günter Verheugen ist ja inzwischen Ihr Mann fürs
Grobe. Er ist nicht in der Türkei, um zu überprüfen, ob
alle Kriterien, die man aufgestellt hat, erfüllt werden,
sondern um Ihre Weisung auszuführen. Deswegen ist er
ja auch in die neue Kommission berufen worden.
({48})
Er soll seine Arbeit zu Ende machen und ohne Wenn und
Aber testieren - so wird es kommen -, dass die Türkei
für die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union
bzw. für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen infrage kommt.
({49})
Ich meine ganz ernsthaft: Auch hier geht es noch einmal gegen unsere Finanzen. Wer soll das Ganze denn bezahlen? Die EU der 25 ist doch schon heute finanzpolitisch pleite. Es würde doch steigende deutsche
Zahlungen bedeuten, wenn wir ein wirtschaftlich so
rückständiges Land zusätzlich hereinholen würden.
Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich noch weiter
zitieren, aber so empfehle ich Ihnen, das Ganze nachzulesen.
({50})
- Jetzt hören Sie doch auf. Herr Präsident, wird mir
diese Unruhe, die Sie nie unterbinden, auf meine Redezeit angerechnet?
({51})
Stefan Kornelius hat in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ einen sehr nachdenklichen Artikel
über das Für und Wider eines Beitritts der Türkei verfasst.
({52})
- Ich lese ihn nicht vor. Sie können ihn selber nachlesen.
Kornelius warnt auch vor zu hohen Erwartungen auf der
türkischen Seite.
Herr Bundeskanzler, warum fürchten Sie ein Referendum über den EU-Verfassungsvertrag wie der Teufel
das Weihwasser? Der Grund ist, dass Sie genau wissen,
dass dann die Deutschen auch über die Zukunftsperspektive der Europäischen Union abstimmen, in der die
Türkei Vollmitglied würde, sodass die Menschen aus
Anatolien einen direkten Zugang zu unserem Arbeitsmarkt bekommen würden. Das schafft doch bei den
Menschen neue Ängste.
({53})
Durch die Vollmitgliedschaft der Türkei würde Europa
plötzlich undefinierbar gemacht. Deshalb gibt es keine
Abstimmung.
Sie müssen uns noch die Frage beantworten, ob denn
Herr Chirac, mit dem Sie sehr intensiv verbunden sind,
mit Ihnen abgesprochen hat, dass er nun in Frankreich
ohne Notwendigkeit verkündet hat, das französische
Volk solle direkt über den Verfassungsvertrag abstimmen. Wie sehen Sie das als deutscher Bundeskanzler?
Frankreich und Deutschland müssen im Gleichklang
marschieren. Die Europäische Union ist nichts mehr
wert, wenn sich Deutschland und Frankreich nicht mehr
abstimmen. Haben Sie das gleiche Vertrauen ins deutsche Volk, wie der französische Präsident es offensichtlich ins französische Volk hat? Was hat er Ihnen darüber
erzählt? Darauf sind wir alle sehr gespannt.
Ich meine, auch Deutschlands Rolle auf der globalen
Ebene muss hinterfragt werden. Abkoppelungsversuche
im Irakkonflikt haben in den USA ein tiefes Misstrauen
gegenüber Deutschland zurückgelassen. Das, Herr Bundeskanzler, müsste Sie besorgt machen. Wir können den
Kampf gegen den Terror in Europa langfristig nur in Zusammenarbeit mit den USA gewinnen. Es hat keinen
Wert, auf einem Auge blind zu sein.
Herr Parteivorsitzender Müntefering, die Pöbeleien
der Damen und Herren aus Ihren Reihen - die eine ist
noch in der Regierung, die andere nicht mehr; dafür ist
sie zur Belohnung Ausschussvorsitzende geworden - gegenüber den Amerikanern - jüngst von Frau WieczorekZeul, vorher von Frau Däubler-Gmelin - sind nicht in
Ordnung.
({54})
Herr Bundeskanzler, angesichts der schrecklichen Ereignisse und Bilder in Ossetien, die wir alle vor Augen haben, gilt unser ganzes Mitgefühl natürlich dem russischen Volk; die Osseten sind Teil des russischen Volkes.
Daher ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, mit Besserwisserei zu kommen.
({55})
Der ganze Unsinn mit der GSG 9, die angeblich alles
besser gemacht hätte, war überflüssig. Menschenrechtsverletzungen muss man gleichmäßig in der ganzen Welt
verurteilen. Nur dann wird man glaubhaft.
({56})
Ein letzter Punkt. In der Bibel steht, die Linke soll
nicht wissen, was die Rechte tut.
({57})
Danach wird bei Ihnen regiert, Herr Bundeskanzler. Ihre
Bundesminister arbeiten gleichzeitig mit- und gegeneinander. Ich bringe ein Beispiel - die beiden Herren sitzen
nebeneinander -: Schily hat sich abgemüht, zusammen
mit der Union ein restriktives Zuwanderungsrecht für
Deutschland zu verabschieden. Ich meine, das ist auch
gut so. Was macht gleichzeitig der neben ihm sitzende
Fischer? Er lässt bei der Visaerteilung die Schleusen
öffnen. Demnach halten sich circa 5 Millionen Menschen rechtswidrig in der Europäischen Union auf. Die
allermeisten sind mithilfe deutscher Konsulate eingereist. Das finde ich nicht in Ordnung. Das ist ein Skandal
erster Größenordnung.
({58})
Herr Bundeskanzler, was machen Sie als Regierungschef in diesem Fall? Sie grinsen den einen so freundlich
an wie den anderen. Das ist die Regierungskunst der Beliebigkeit. Ich meine, dass das die Deutschen inzwischen
satt haben. Deswegen brauchen wir in Deutschland einen Neuanfang, der mit Klarheit und Wahrheit Ernst
macht.
({59})
Es gibt in Deutschland ermutigende Zeichen. Darunter fällt aber nicht die Tatsache, dass Sie, Frau Sager,
wieder mit einem guten Ergebnis zur Vorsitzenden der
Grünen gewählt worden sind. Es ist auch kein ermutigendes Zeichen, dass die Grünen ihrem heimlichen Führer Fischer folgen. Da er inzwischen ein Besserverdiener
geworden ist, sind auch die Grünen die Partei der Besserverdiener geworden.
({60})
Insofern gibt es weiterhin einen Gleichklang zwischen
Ihnen, Herr Fischer, und Ihrer Partei.
Ein ermutigendes Zeichen ist für mich die auch von
den Arbeitnehmern getragene Lohnzurückhaltung bei
Daimler Chrysler und bei Siemens, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder zu stärken.
({61})
Wir als Politiker, und Sie als Bundesregierung müssen
das aufnehmen. Wir müssen die Lohnzusatzkosten weiter begrenzen. Wir müssen den Arbeitsmarkt entrümpeln
und wir müssen Deutschland zu einem konkurrenzfähigen Standort machen.
({62})
Dazu gehört eine grundlegende Reform der Sozialsysteme. Wir wollen, dass dieses Land wettbewerbsfähig
bleibt.
({63})
Herr Bundeskanzler, dazu ist - ob Sie wollen oder nicht,
das kann man auch nicht delegieren, das kann man auch
nicht teilen - politische Führung aus einem Guss gefordert. Ihr Job ist ein harter Job. Ich hätte viel lieber, da ich
manchmal Mitleid mit Ihnen habe, Gutes über Sie gesagt. Menschlich tue ich das gern,
({64})
aber bei Ihrer Regierungstätigkeit gibt es dazu leider keinen Anlass.
Ich bin der Meinung, man kann die Zukunft nur gewinnen, wenn man auf der Basis von Klarheit und Wahrheit bleibt.
({65})
Ich empfehle Ihnen ganz zuletzt Abraham Lincoln.
({66})
- Jetzt hören Sie doch noch einen Satz lang zu. Ich weiß,
es ist für Sie schwer zu ertragen, aber die Wahrheit ist
nun einmal schwer zu tragen. Ich zitiere Abraham
Lincoln. Er hat gesagt: „Man kann alle Leute für einige
Zeit und einige Leute für alle Zeit, nicht aber alle Leute
für alle Zeit hinters Licht führen.“
Danke schön.
({67})
Ich erteile das Wort Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Glos, früher waren Ihre Auftritte überwiegend lustig und selten peinlich. Heute war es umgekehrt.
({0})
Das sage ich mit der gleichen freundlichen menschlichen
Sympathie, die ich Ihnen entgegenbringe. Aber politisch
war das, was Sie hier abgeliefert haben, wirklich daneben.
({1})
Ich will das nur an einem Beispiel, das Sie gebracht
haben, näher erläutern. Sie haben sich über Volkswagen
verbreitet und über die Tatsache, dass Volkswagen mit
den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammenarbeitet, die sich an Volkswagen beteiligen wollen. Aus meiner langen Tätigkeit im Aufsichtsrat von Volkswagen
weiß ich, dass nach der Satzung und dem VW-Gesetz,
das ja, jedenfalls bei Ihnen, nicht unumstritten ist, gegen
die niedersächsische Landesregierung relativ wenig
läuft. Die niedersächsische Landesregierung wird aber
nicht von Sozialdemokraten gestellt. Ich bedauere das
sehr. Im Präsidium des Aufsichtsrates von Volkswagen
sitzt Herr Wulff und im Aufsichtsrat sitzt Herr Hirche.
Auch Sie von der FDP sind beteiligt. Gegen beider Stimmen würde eine im Übrigen durchaus vernünftige Beteiligung der Emirate nicht laufen. Wen kritisieren Sie da
eigentlich?
({2})
Ich glaube, es ist an der Zeit, zu den Problemen im
Lande zurückzukommen, über die man in diesem Hohen
Haus zu debattieren hat. Unser Land ist, wie übrigens
andere europäische Länder auch, drei großen Herausforderungen ausgesetzt, mit denen wir fertig werden müssen. Dabei haben wir uns auf den Weg gemacht.
Zunächst stellt sich die Herausforderung in der internationalen Lage. Wir haben Grund, über die Herausforderung zu reden, die Terrorismus heißt - und nicht nur
zu reden. Wir haben daneben ungelöste regionale Konflikte, mit denen auch deutsche Politik fertig werden
muss. Die Stationen des Terrors, einer Bedrohung, die
nach der des Kalten Krieges neu ist und mit der die zivilisierte Welt fertig werden muss, sind doch bekannt:
New York und Wash-ington, Djerba und Bali, Madrid
und jetzt Moskau und Beslan.
Ich plädiere dafür, Terrorismus nicht danach zu unterscheiden, wo er örtlich stattfindet, sondern Terrorismus
als eine Angelegenheit zu betrachten, die bekämpft werden muss, und zwar gleichgültig, wo sie stattfindet.
({3})
Das hat meine Position zu dem, was in Russland geschehen ist, bestimmt und das wird meine Position weiter bestimmen. Wenn man über die Ursachen redet, dann
darf man nicht Täter zu Opfern machen. Gelegentlich
lese ich Ähnliches. Ich sage nicht, dass das hier gesagt
worden ist, aber gelegentlich habe ich den Eindruck,
dass man je nachdem, wo Terrorismus stattfindet, unterschiedliche Maßstäbe ansetzt.
Natürlich - da sind sowohl der französische Präsident
als auch ich mit dem russischen Präsidenten einig muss es in Tschetschenien eine politische Lösung geben.
({4})
Aber diese Lösung muss doch ganz bestimmten Kategorien folgen, zum Beispiel der,
({5})
dass wir ein Interesse daran haben, dass die territoriale
Integrität der Russischen Föderation nicht infrage gestellt wird. Wir haben ein eigenes Interesse daran, dass
das nicht passiert. Was würde denn wohl die Folge sein,
wenn die territoriale Integrität Russlands über diesen
Konflikt infrage gestellt würde? Jedenfalls keine, die
mehr an Stabilität in der Welt und in Europa bedeutete.
Das gilt es doch zu beachten, wenn man diese Frage beantworten will.
({6})
Wenn man politische Lösungen will, dann muss es
Gesprächspartner geben. Will mir jemand wirklich erklären, dass diejenigen, die für den Mord an unzähligen
Kindern verantwortlich sind, Gesprächspartner für eine
politische Lösung sein können? Das kann doch niemand
erklären.
({7})
Deswegen meine Bitte dort wie überall: Terrorismus, der
das Leben unschuldiger Menschen, von Kindern zumal,
nicht achtet, darf nirgendwo eine Chance haben und ist
nirgendwo Partner für seriöse internationale Politik.
({8})
Es ist richtig: Dieser Herausforderung, die in der internationalen Politik liegt, kann man nur mit einem multilateralen Ansatz begegnen. Es wird doch immer klarer in der
internationalen Politik, dass ein anderer nicht geht. Das
ist der Grund, warum der Bundesaußenminister und die
ganze Regierung diesen multilateralen Ansatz sowohl
beim Kampf gegen den Terrorismus als auch bei der Lösung oder bei der Mithilfe zur Lösung regionaler Konflikte stützen.
Wir erleben doch gerade, dass wir alle ein Interesse
daran haben müssen, dass im Irak nicht weniger, sondern mehr Stabilität ist. Deutschland leistet seinen Beitrag. Wir leisten unseren Beitrag, indem wir helfen,
eigene Sicherheitskräfte, ob Polizei oder Militär, auszubilden. Natürlich geschieht das nicht im Irak; denn es
gilt das, was ich gesagt habe, nämlich dass wir dort
keine Soldaten hinschicken. Aber wir helfen doch bei
der Lösung solcher Fragen.
({9})
Wir haben deshalb keinen Grund, uns irgendwelche Vorwürfe machen zu lassen, übrigens auch, Herr Glos, uns
Selbstvorwürfe zu machen. Es gibt keinen Grund dafür.
Deutschland ist das Land, das seine internationalen
Pflichten, seine Bündnispflichten auf Punkt und Komma
erfüllt. Ich füge hinzu: Wir können stolz darauf sein. Wir
stehen selber materiell dafür ein, dass diese Pflichten erfüllt werden. Das ist nicht überall so.
({10})
Das gilt nach wie vor auf dem Balkan, das gilt in Afghanistan. Wir werden demnächst darüber zu reden haben,
wenn es um die Verlängerung der Mandate geht.
Das gilt auch für das, was Deutschland bei neuen regionalen Konflikten leistet, zum Beispiel im Iran. Dieser Konflikt ist höchst besorgniserregend. Wer ist es
denn, der mit dem französischen und dem englischen
Außenminister versucht, diesen Konflikt zu dämmen,
ihn nicht ausbrechen zu lassen?
({11})
Es ist doch der Bundesaußenminister und kein anderer,
der sich im Iran darum bemüht, dieses Land dazu zu bewegen, den Brennstoffkreislauf nicht zu schließen.
Es ist viel über die Zusammenkunft in Sotschi geredet
worden. Dabei ist aber auch eines klar geworden, nämlich dass die Russen das gleiche Interesse wie wir daran
haben, dass es keine neue atomare Macht gibt, die Iran
heißt. Diesem Interesse dienen wir. Diesem Interesse
dienen die Reisen, die der Bundesaußenminister macht.
Sie sollten stolz darauf sein und sie nicht diskreditieren,
meine Damen und Herren.
({12})
Ich denke, dass angesichts der neuen Herausforderungen klar ist, dass es diese Bundesregierung gewesen ist
- wir reden schließlich über Halbzeitbilanzen und Bilanzen im Allgemeinen -, die selbstbewusst und in eigener
Verantwortung definiert hat, was sie international zu
leisten imstande und bereit ist. Wir haben auf dem Balkan, in Afghanistan und anderswo zusammen mit unseren Bündnispartnern gegen den internationalen Terrorismus gekämpft, auch mit militärischen Mitteln. Es war
doch schwierig genug, das in diesem Hohen Haus - und
zwar im gesamten Hohen Haus - durchzusetzen. Daran
kann ich mich noch erinnern. Aber weil wir unsere
Pflichten erfüllen, haben wir auch das Recht, dann Nein
zu sagen, wenn wir von der Sinnhaftigkeit nicht überzeugt sind. Das ist es, was eigenes Handeln ausmacht.
({13})
Die zweite Herausforderung heißt Globalisierung.
Sie heißt Globalisierung und meint eine Einbindung in
die internationale Arbeitsteilung, wie es sie niemals gegeben hat, mit der Folge eines verschärften ökonomischen Wettbewerbs, wie er auch noch nie der Fall gewesen ist. Wir haben eine europäische und eine
innenpolitische Antwort darauf zu geben. Das gilt übrigens gleichermaßen für die dritte große Herausforderung, nämlich den radikal veränderten Altersaufbau in
unserer Gesellschaft.
Zuzugeben ist doch, dass das schon in den 90er-Jahren sichtbar war. Es haben nicht alle so darauf reagiert,
wie darauf hätte reagiert werden müssen und wie zum
Beispiel in Schweden reagiert worden ist. Aber tun Sie
doch jetzt nicht so, als ob in den 90er-Jahren nur die Sozialdemokraten und die Grünen für die Tatsache verantwortlich gewesen wären, dass nicht zureichend reagiert
worden ist! Das waren doch allemal auch Sie.
({14})
So viel Nachdenklichkeit sollte man schon erwarten
können.
Beides - die Globalisierung und der veränderte
demographische Aufbau unserer Gesellschaft - sind
die zwei großen Herausforderungen neben der internationalen. Es ist richtig, dass die ökonomische und die
politische Antwort auf beide Herausforderungen, die in
den europäischen Ländern gleich groß sind, heißen
muss: Europa auf der einen Seite und Umbau unserer
Gesellschaft nach innen auf der anderen Seite.
In beiden Bereichen handelt diese Regierung und sie
handelt durchaus viel versprechend, auch, was die europäische Dimension angeht. Wer ist es denn gewesen, der
veranlasst hat, dass in Europa wieder über Industriepolitik geredet wird, und zwar nicht in dem Sinne, dass der
Staat anzuordnen hätte, was geschieht, sondern in dem
Sinne, dass man sich auch wieder um das Rückgrat einer
Wirtschaft, nämlich die industrielle Produktion, kümmert, statt sich nur auf die Situation von Finanzmärkten
und Ähnliches zu beziehen?
({15})
Das waren doch wir Deutschen zusammen mit den Franzosen und Engländern.
Wer ist es denn gewesen, der gesagt hat, wir brauchen
jemanden in der Kommission, der in allererster Linie für
die Frage verantwortlich ist, wie es industriell weitergeht, und der für einen Ausgleich zwischen Ökonomie
und Ökologie verantwortlich ist? Dazu ist ein deutscher
Kommissar - der Stellvertreter des Kommissionspräsidenten - berufen worden. Das hat etwas mit der Europapolitik zu tun, die wir machen und die durchaus erfolgreich ist. Das kann man auch an solchen Punkten
ablesen.
Ich gestehe zu, dass es hilfreich war, Frau Merkel,
dass auch Sie sich engagiert haben. Warum sollte ich das
denn nicht zugestehen? Natürlich war das hilfreich. Aber
es ist doch ein Erfolg der deutschen Politik, den man
nicht einfach wegdiskutieren kann, weil es in die bayerische Volksseele passt.
({16})
Eine europäische Verfassung hätte es außerdem
ohne deutsche Initiativen nicht gegeben. Der Verfassungsprozess ist auf unseren Vorschlag in Nizza in Gang
gesetzt worden. Ich sage Ihnen: Wir werden die Ersten
bzw. unter den Ersten sein, die den Verfassungsentwurf
zu ratifizieren haben. Ich habe jedenfalls den Anspruch,
dass das in Deutschland passiert.
Ich möchte kurz über die Frage reden, wie das geschehen soll. Herr Glos, das, was Sie beabsichtigen, ist
doch allzu durchsichtig. Sie sagen mit Bezug auf die Abstimmung über den Verfassungsentwurf: Wir wollen das
deutsche Volk direkt beteiligen. Sie wollen es also nur an
einem einzigen Punkt beteiligen. Sie sagen das natürlich
auch in der Hoffnung, dass Sie dann sozusagen den Fuß
in die Tür für Regierungshandeln bekommen; denn die
Entscheidung, ob Beitrittsverhandlungen mit einem
Land aufgenommen werden oder nicht, gehört zum Regierungshandeln und ist nichts anderes. Das, was Sie
machen, ist doch, wie gesagt, allzu durchsichtig. Ich
finde es in Ordnung, dass die Koalition sagt: Wenn
schon direkte Beteiligung, dann aber gründlich.
({17})
Natürlich sind auch diejenigen ernst zu nehmen, die sagen, das müsse man sich gut überlegen. Gar keine Frage,
ich bin für einen entsprechenden Diskussionsprozess.
Aber es ist scheinheilig, das deutsche Volk nur bei der
Abstimmung über den Verfassungsentwurf direkt beteiligen zu wollen und ansonsten nicht. Das wird mit uns
nicht zu machen sein.
({18})
Wie immer diese Diskussion endet, der Ratifikationsprozess wird frühzeitig eingeleitet. Das ist die feste Vereinbarung der Regierungskoalition. Das ist auch notwendig
und stünde Deutschland gut an. Übrigens läge es in der
Tradition der Europapolitik aller deutschen Regierungen, wenn wir hier besonders drängen würden. Das sollten wir tun.
({19})
- Was Jacques Chirac angeht: Der französische Präsident wird in eigener Verantwortung entscheiden, ob ein
Referendum in Frankreich durchgeführt wird oder nicht.
Im Übrigen können Sie ganz beruhigt sein. Natürlich hat
er mich informiert, bevor das öffentlich wurde. Aber das
ist eine souveräne französische Entscheidung, aus der
wir uns heraushalten sollten.
Eines ist besonders wichtig: Wie auch immer ratifiziert wird, ob rein parlamentarisch oder im Rahmen direkter Demokratie, man sollte keine unterschiedlichen
qualitativen Maßstäbe an das jeweilige Verfahren anlegen.
({20})
Die zweite und dritte Herausforderung in Deutschland, aber auch in allen anderen europäischen Ländern,
bestehen, wie gesagt, in der Globalisierung und im demographischen Wandel. Unsere Antworten darauf haben
wir mit der Agenda 2010 - dieser Prozess ist zwar auf
den Weg gebracht worden, aber keineswegs abgeschlossen - und mit unserer Steuerpolitik gegeben. Damit
überhaupt keine Missverständnisse aufkommen: Ich
verteidige ausdrücklich das, was der Bundesfinanzminister mit unser aller Zustimmung in der Steuerpolitik
macht.
({21})
Da Sie von Wahrheit und Klarheit geredet haben,
möchte ich gerne ein paar wenige Daten nennen. Als wir
in die Regierung kamen, lag der Spitzensteuersatz - dieser interessiert Sie augenscheinlich besonders - bei
53 Prozent. Im Jahre 2005, also in ein paar Monaten,
wird er bei 42 Prozent liegen. Ich gebe zu, dass er bei
43 Prozent gelegen hätte, wenn wir seinerzeit nicht miteinander hätten reden müssen, Herr Brüderle. Das ist zuzugestehen. Immerhin wird er bald 10 Prozentpunkte unter dem damaligen Niveau liegen. Das reicht. Mehr
Spielraum haben wir nicht, wenn wir die Staatsaufgaben
noch finanzieren wollen.
({22})
Wenn wir über Gerechtigkeit in der Steuerpolitik reden,
dann ist etwas anderes - das wird hier nie erwähnt noch viel wichtiger. Als wir 1998 in die Regierung kamen, lag der Eingangssteuersatz bei 25,9 Prozent.
25,9 Prozent! Dafür war Herr Waigel verantwortlich.
Am 1. Januar 2005 wird er bei 15 Prozent liegen. Das ist
gerecht, weil dies den Geringverdienenden nutzt. Das
wollen wir.
({23})
- Stimmt, das wolltet ihr schon zehn Jahre vorher. Aber
ihr habt es nicht gemacht.
({24})
- Entschuldigung, ich habe doch das gleiche Problem.
Aber ihr habt es nicht gemacht. Wir haben das durchgesetzt. Das, was wir erreicht haben, lassen wir uns nicht
durch eure Sprüche kaputtmachen.
({25})
Sie hätten doch Gelegenheit gehabt, dafür zu sorgen,
dass die Gewerbesteuer - sie betrifft die kleinen und
mittleren Unternehmen besonders - bei Personengesellschaften auf die zu zahlende Einkommensteuer angerechnet wird. Das habt ihr doch nicht gemacht; daran
habt ihr noch nicht einmal im Traum gedacht. Das hat
diese Koalition durchgesetzt. Das ist wirtschaftsfreundlich und nichts anderes.
({26})
In puncto Steuer, Unternehmensbesteuerung, aber
auch Besteuerung der Privatpersonen hat die Koalition
überhaupt keinen Grund, in Sack und Asche zu laufen
und sich von Ihnen eine Debatte aufdrängen zu lassen,
die mit der Wirklichkeit nun überhaupt nichts zu tun hat.
({27})
Jetzt reden wir über das, was in dem Prozess, der mit
Agenda 2010 beschrieben ist, ansteht. Wir sind es doch
gewesen, die bereits in der letzten Legislaturperiode dafür gesorgt haben, dass neben der Umlagefinanzierung
bei der Rente eine Kapitaldeckung aufgebaut werden
kann. Der Prozess, die Säule Kapitaldeckung, die neben der Umlagefinanzierung das Dach der Rentenversicherung hält, dicker zu machen, als sie gegenwärtig ist,
dauert natürlich länger. Das geht nicht von heute auf
morgen. Das kann auch niemand wirklich erwarten.
Aber wir sind es doch gewesen, die das gemacht haben.
Zum Nachhaltigkeitsfaktor habe ich etwas gesagt.
In der Tat, er musste sein. Wir sind es gewesen, die einen
Fehler - das ist zuzugeben - korrigiert haben.
({28})
Ich weise nur darauf hin, dass das, was Sie seinerzeit
vorgehabt haben, zu den Wirkungen, die der Nachhaltigkeitsfaktor hat, nicht geführt hätte.
({29})
Beschäftigen wir uns doch einmal mit der Gesundheitspolitik. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie
das so gelaufen ist, als die Seele wegen der 10 Euro im
Quartal für einen Arztbesuch kochte. Ich erinnere mich
noch sehr gut daran, wie Ulla Schmidt standhaft verteidigt hat, was gemeinsam beschlossen worden ist und wie
sich viele von Ihnen zur Seite gedrückt, um nicht zu sagen: in die Büsche verkrochen haben.
({30})
Da wir gerade bei der Gesundheitspolitik sind: Das
System ist mittlerweile transparenter. Es gibt Ansätze
- aber eben nur Ansätze -, dafür zu sorgen, dass die
Kassen mit den Ärzten Verträge abschließen können.
Dass allerdings weniger Transparenz als nötig und weniger Freiheit als möglich in diesem System sind, das haben doch Sie zu verantworten.
({31})
Der Versuch der FDP, den Besitz von Apotheken auf
vier zu beschränken, das heißt, den Markt in diesem Bereich nicht freizugeben, grenzt schon ans Lächerliche.
Das ist eine marktwirtschaftliche Orientierung, bei der
es einem kalt den Rücken herunterläuft.
({32})
Ich bin im Übrigen dafür, dass man den Menschen
deutlich macht, dass mehr Transparenz im System und
die Tatsache, dass wir gemeinsam - das ist zuzugeben eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung
einerseits und Solidarität andererseits geschaffen haben,
({33})
Wirkungen zeitigen. Das ist doch bereits gestern deutlich
geworden. Erstes Halbjahr 2003: Defizit der gesetzlichen Krankenkassen 2 Milliarden Euro. Das hätte doch
auf die Beitragssätze gedrückt, wenn man es so gelassen
hätte. Erstes Halbjahr 2004: Überschuss der gesetzlichen
Krankenkassen 2,5 Milliarden Euro. Das ist ein Turnaround von 4,5 Milliarden Euro. Das hat mit der neuen
Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität,
die gefunden worden und die in sich durchaus gerecht
ist, zu tun. Solidarität ist nicht aufgegeben worden. Angesichts der Situation unserer Gesellschaft - das hat mit
dem Altersaufbau zu tun - musste das gemacht werden;
sonst wären die Systeme auf Dauer nicht finanzierbar
geblieben. Das wird uns auch noch bei anderen Punkten
begegnen. Ich komme darauf zurück.
({34})
Wir haben gesagt - wir haben darüber ein Telefongespräch geführt -: Um eine Gemeinsamkeit zu erreichen,
machen wir beim Zahnersatz das, was die Union vorgeschlagen hat. Sie wissen das. Ich habe mich darauf eingelassen und die Koalition hat sich auch darauf eingelassen. Jetzt stellen wir zusammen fest,
({35})
dass diese Variante, die eingeführt worden ist, den Kassen in jedem Fall ein Maß an Verwaltungskosten aufbürdet, das wirklich nicht vernünftig ist. Wenn das so ist,
dann muss man auch die Kraft haben, zu sagen: Wir korrigieren das. Wir haben das gemeinsam gemacht, also
korrigieren wir es auch gemeinsam.
({36})
Ich warne nur davor, dann, wenn es ein besseres System gibt - das hat die Ministerin vorgeschlagen -, zu sagen: Wir wissen noch nicht so richtig, ob wir uns darauf
einlassen können; das können wir erst im Oktober entscheiden. Das ist nicht der richtige Umgang mit der Problematik, meine Damen und Herren.
({37})
Notwendig wäre dagegen, zu sagen: Lassen Sie uns
das, was wir mit zu viel an Verwaltungskosten befrachtet
haben - durchaus gemeinsam -, gemeinsam korrigieren
und eine vernünftigere Lösung finden! Lassen Sie es uns
bald machen; denn es eilt, zum einen, weil es in die
Maastricht-Kriterien eingeht, zum anderen aber auch,
weil Klarheit über den weiteren Weg herrschen muss.
Lassen Sie uns das gemeinsam machen und zögern Sie
das nicht hinaus!
({38})
Ich verstehe die Abstimmungsnotwendigkeiten in Ihren beiden Parteien. Aber im Laufe des parlamentarischen Prozesses müsste es zu schaffen sein,
({39})
so weit zu kommen, dass die Abstimmung vollzogen
wird und wir miteinander eine vernünftigere Lösung
durchsetzen können.
({40})
Auch dort wird die Reform weitergehen müssen, ist
das Ende der Fahnenstange nicht erreicht, was mehr
Transparenz und mehr Markt - auch bei den Apotheken - angeht. Diese Frage wird Sie, meine Damen und
Herren, noch einholen; ich bin ganz sicher.
({41})
- Wer sich da vor Ihnen fürchten soll, muss mir noch erklärt werden, Herr Westerwelle.
({42})
Sie werden gleich darstellen, wie furchterregend Sie sein
können.
Ich komme zu dem dritten Punkt, der Teil der Agenda
ist. Das ist das, was mit dem Namen Hartz IV verbunden ist. Die Notwendigkeit, Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen, ist von niemandem bestritten worden. Im Blick auf die Debatte darüber, wer wann
Aufklärung geleistet hat, habe ich einmal herumgefragt,
wann denn das Gesetz abschließend im Bundesrat beschlossen worden ist. Kaum einer - außer mir natürlich ist auf Mitte Juli gekommen.
Als wir wussten, wie das Gesetz aussehen würde - es
war ein schwieriges Vermittlungsverfahren, das nicht im
letzten Dezember, kurz vor Weihnachten, sondern im
Juli 2004 endete -, begann sozusagen die Phase der Umsetzung in die notwendigen Verordnungen und Richtlinien. Das musste auch schnell gemacht werden; denn
zum 1. Januar 2005 muss Klarheit herrschen.
Jetzt ein paar Bemerkungen zu den Wirkungen und zu
der Art und Weise, wie damit umgegangen wird. Ich
glaube, dass die Zusammenlegung von Sozialhilfe und
Arbeitslosenhilfe richtig ist. Darüber, denke ich, gibt es
auch keine großen Unterschiede in den Auffassungen in
diesem Hause. Wenn das so ist, reduziert sich das Ganze
doch auf die Frage, ob die Umsetzung so, wie sie im Gesetz vorgesehen ist und die erst zum 1. Januar 2005 beginnen soll, dem gemeinsamen Anliegen entspricht.
Dann sollte man einmal buchstabieren, was denn im
Moment so diskutiert wird, insbesondere von der verehrten Opposition.
({43})
- Von dem auch; das stimmt.
({44})
Da wird gesagt, das Schonvermögen sei nicht großzügig genug angesetzt. Ich will Ihnen dazu nur zwei Beispiele nennen. Dass ein Ehepaar, die Ehegatten jeweils
45 Jahre, mit zwei Kindern neben Haus und Hausrat,
was bei der Transferzahlung nicht berücksichtigt wird,
47 500 Euro an Schonvermögen hat, gibt es - wir haben
das überprüft - in keinem anderen europäischen Sozialstaat.
({45})
Ich füge hinzu: Das neue Arbeitslosengeld II, die frühere Arbeitslosenhilfe also, ist eine steuerfinanzierte
Leistung. Dieses Geld wird keineswegs nur von den
Spitzenverdienern aufgebracht. Dieses Geld wird auch
aus den Steuern der Verkäuferin, des Gesellen im Handwerk, des Krankenpflegers, von wem auch immer aufgebracht. Angesichts dieser Tatsache durch die Gegend zu
laufen
({46})
- das sind doch Ihre Ministerpräsidenten; fragen Sie
doch einmal Herrn Milbradt! ({47})
und zu sagen, das sei zu wenig, wird der Lage nicht gerecht.
({48})
Besonders makaber ist es im Übrigen, dass die gleichen Ministerpräsidenten, die jetzt Veränderungen
durchführen wollen - ob sie Müller, Meier oder Schulze
heißen -, im Vermittlungsverfahren dafür gesorgt haben,
dass nicht weniger, sondern mehr an Schärfe und Druck
ins System gekommen ist. Das ist doch keine Art, Politik
zu machen.
({49})
Dann fordern die Gleichen, dass das Arbeitslosengeld I je nach Dauer der Beitragszahlung länger bezahlt werden muss. Sie bestreiten mit dieser Aussage
Landtagswahlkämpfe. Dabei hätten Sie doch im Vermittlungsverfahren etwas sagen können.
({50})
Keiner von denen, die jetzt die Fahne hoch reißen, hat
dazu ein einziges Wort gesagt. So kann man doch nicht
politisch arbeiten, insbesondere dann nicht, wenn man
sich angeblich das Prinzip Verlässlichkeit auf die Fahne
geschrieben hat. Das geht doch nicht.
({51})
In den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss ist
es unter der nächsten Ziffer um den Zuverdienst gegangen. Jetzt wird von allen gesagt, hier müsse mehr ermöglicht werden. Ich erinnere mich noch an das Vermittlungsverfahren; wir waren doch alle dabei. Wie ist es da
denn gelaufen? Diejenigen, die weniger Zuverdienstmöglichkeiten gefordert und angesichts der Machtverhältnisse im Bundesrat auch durchgesetzt haben, laufen
jetzt herum und sagen, sie hätten sich bessere Zuverdienstmöglichkeiten vorgestellt.
({52})
Das ist doch nicht auf einen Nenner zu bringen, meine
Damen und Herren. Doch die gleichen Leute reden davon, dass sie Vertrauen schaffen wollen.
({53})
Richtig makaber wird das vor dem Hintergrund der
Tatsache, dass Herr Koch aus Hessen öffentlich und in
den Vermittlungsgesprächen gefordert hat, dass es überhaupt keine Zuverdienstmöglichkeiten geben dürfe; dabei hat er auf Erfahrungen in Wisconsin, also auf ein
amerikanisches Beispiel, hingewiesen. Die gleichen
Leute, die so etwas gesagt haben, laufen jetzt durch die
Republik und diskreditieren das ganze Vorhaben, indem
sie Forderungen nach weiter gehenden Möglichkeiten
stellen, obwohl sie das vorher abgelehnt haben. Sie glauben doch selber nicht, Herr Glos, dass man das als vertrauensbildend bezeichnen kann.
({54})
Ich will auch, damit das nicht einseitig wird, ein Wort
zu der Frage der von uns vorgesehenen zumutbaren
Arbeit, die angenommen werden muss, sagen. Ich
glaube, dass es ungeheuer schwierig wäre, für alle denkbaren Fälle abstrakt im Gesetz zu definieren, wann eine
Arbeit zumutbar ist und angenommen werden muss.
Deswegen hat der Bundesarbeitsminister dafür gesorgt
- und das ist richtig -, dass die Fallmanager, also diejenigen, die die Vermittlungstätigkeit ausüben - in Zukunft wird einer 75 junge Leute betreuen; bei den Älteren sind wir noch nicht so weit, da kommt einer auf
140 Fälle; aber das ist auch schon ganz gut -, einen
möglichst weiten Ermessensspielraum haben. So können
sie selber im Einzelfall eine Definition vornehmen und
mit dem Arbeitslosen in einer Eingliederungsvereinbarung aushandeln, was zumutbar ist und was nicht. Ich
setze darauf, dass damit verantwortlich umgegangen
wird.
Die Beispiele, die jetzt in die Welt gesetzt werden,
sind absurd. Natürlich wird es Aufgabe im Rahmen der
Monitoringprozesse sein, zu kontrollieren, ob das vernünftig gemacht wird und ob Gruppen oder Einzelne so
vom Gesetz betroffen werden, wie es vorgesehen ist.
Wenn nicht, muss man über die Prüfung von Einzelfällen
und über das Monitoringverfahren dafür sorgen, dass die
Ziele des Gesetzes erreicht werden. Das ist unsere Aufgabe. Aber mit dieser Aufgabe kann doch erst begonnen
werden, wenn das Gesetz in Kraft ist, wenn es wirkt,
nämlich ab 2005. Das kann man nicht prophylaktisch
machen.
Ich glaube, dass man sich wirklich die Zeit nehmen
sollte, eine der größten Sozialreformen, die in der Geschichte der Bundesrepublik gemacht worden sind, weil
sie gemacht werden musste, sehr sorgfältig auf ihre Wirkungen abzuklopfen, und bereit sein sollte, korrigierend
einzugreifen, wenn Wirkungen erzielt werden, die das
Gesetz nicht vorsieht. Aber schon vorher über die Veränderung der Reformen zu reden halte ich für ganz falsch
und deswegen wird das auch nicht geschehen.
({55})
Falsch wäre es indessen, diese große Reform, die wir
brauchen, um unsere eigene Zukunftsfähigkeit sicherzustellen und die sozialen Sicherungssysteme in Ordnung
zu bringen und zu halten, nur auf den Leistungsbereich
und die dort notwendigen Veränderungen zu beschränken. Im Übrigen kann sich auch dieser im europäischen
Maßstab sehen lassen. Ziel des Gesetzes ist doch etwas
ganz anderes, nämlich die stetig anwachsende Langzeitarbeitslosigkeit besser als in der Vergangenheit zu bekämpfen. Das ist das eigentliche Ziel des Gesetzes.
({56})
Dieses Ziel erreichen wir durch Fördern. Im ersten
Schritt wollen wir die ständige Zufuhr in die Langzeitarbeitslosigkeit bei denen, die jung sind, abstellen.
Deutschland steht im europäischen Maßstab, was Jugendarbeitslosigkeit angeht, sehr gut da. Aber wir wollen noch besser werden. Deswegen schaffen wir ab
1. Januar 2005 einen Rechtsanspruch für junge Leute unter 25 Jahren auf entweder Ausbildung oder Arbeit oder
Qualifizierung. Das dient dem Ziel, die Zufuhr in die
Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen.
Ein Wort zum Fördern im Zusammenhang mit der
Debatte in Deutschland. Wir werden im nächsten Jahr alles in allem und flexibel einsetzbar knapp 10 Milliarden
Euro - ich glaube, es sind genau 9,63 Milliarden Euro zur Verfügung haben, von denen 42 Prozent dort eingesetzt werden, wo die Arbeitslosigkeit größer ist als anderswo, nämlich im Osten unseres Landes.
({57})
Wie man vor diesem Hintergrund behaupten kann, für
den Osten des Landes werde nichts Spezielles getan, entzieht sich nun wirklich jedem Verständnis.
({58})
Aber eines ist genauso klar: Die gewaltige Aufgabe,
die wir vor uns haben, lässt sich nur durchführen, wenn
Kommunen, Länder und Bund, und zwar unabhängig
von der parteipolitischen Färbung der jeweiligen Regierung, in dieser Frage zusammenarbeiten. Hier geht es
um ein Stück Zukunftsfähigkeit des Landes. Wer meint,
darüber aus parteipolitischem Kalkül oder angesichts
von Wahlkämpfen hinwegsehen zu können, der tut etwas
gegen die Interessen unseres Landes und nicht dafür.
({59})
Die Aufgabe kann nur gemeinsam durchgeführt werden
und das muss unabhängig von der parteipolitischen Färbung von Landes- oder Kommunalregierungen geschehen. Das ist eindeutig.
Abschließend ein paar Bemerkungen zu den Folgen
dessen, was wir an Umbauarbeit in den sozialen Sicherungssystemen aus den Gründen, die ich genannt habe
- verschärfter Wettbewerb, Stichwort: Globalisierung,
und radikal anderer Altersaufbau unserer Gesellschaft -,
geleistet haben. Wichtig ist, dass niemand glauben darf,
wenn die Gesetze beschlossen sind, kann man sich zurücklehnen. Das geht aus zwei Gründen nicht: Es wäre
ein Irrtum, zu glauben, Reformprozesse in reichen Gesellschaften - entgegen dem, was Herr Glos gesagt hat,
ist dies eine Gesellschaft, die wohlhabend ist und voller
Kraft steckt, auch und gerade im internationalen Maßstab; ich werde noch ein paar Punkte dazu nennen - ließen sich bewerkstelligen, indem man hier im Deutschen
Bundestag ein Gesetz verabschiedet. Die Erfahrung, die
wir gegenwärtig machen, ist doch, dass bei einer so großen und wichtigen Reform die Umsetzung in der Gesellschaft die eigentliche Aufgabe jeglicher reformerischen
Arbeit ist. Das ist, glaube ich, ein Gesichtspunkt, dem
man sich ganz neu widmen muss,
({60})
weil das ganz andere Arbeitsweisen als die hier gepflegten verlangt. Wir befinden uns mitten in dem Prozess,
das zu verklaren.
Die zweite Erkenntnis muss sein: Angesichts der fortschreitenden und immer schnelleren Veränderung der
ökonomischen Basis unserer Gesellschaften sind Reformprozesse nie am Ende. Es ist vielmehr eine permanente Aufgabe, zu überprüfen, ob die Überbausysteme in
der Politik noch mit den radikalen, schnellen Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften Schritt halten können. Das ist das eigentlich Entscheidende, worum es geht.
Wir tun das, damit die sozialen Sicherungssysteme
auch in Zukunft haltbar bleiben,
({61})
damit auch unsere Kinder und deren Kinder noch in den
Genuss einer - in unseren Gesellschaften ist es immer
eine relative - Sicherheit kommen. Immerhin ist es eine
Sicherheit, die in der Geschichte unseres Landes noch
nie erreicht worden ist. Darum machen wir jetzt die Umbauarbeit und darum nehmen wir die Schwierigkeiten in
Kauf. Ich weiß sehr wohl um die Schwierigkeiten, die
Sie genannt haben. Ich weiß auch - das ist keine Frage um die schmerzhaften Wahlniederlagen. Aber ich bin
fest davon überzeugt: Wenn wir jetzt nicht handeln würden, dann würde es zu spät sein, wer auch immer das
Heft des Handelns dann in der Hand halten würde.
({62})
Wir tun das, weil die Agenda 2010, wie seinerzeit angekündigt, auch ein anderes Gesicht, sozusagen die
Kehrseite der Medaille, hat. Dieses Gesicht bedeutet
schlicht: Der Umbau ist nicht nur nötig, um die Sicherungssysteme in Ordnung zu halten. Er ist auch nötig,
damit wir gesellschaftliche Ressourcen freisetzen, um
sie in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu investieren. Das ist der andere Teil der Agenda 2010.
({63})
Dieser andere Teil beinhaltet die Notwendigkeit, dass
wir in Forschung und Entwicklung investieren.
({64})
Wir müssen das 3-Prozent-Ziel erreichen. Aber angesichts der Schwarzmalerei will ich sagen: Für Forschung
und Entwicklung werden im europäischen Durchschnitt
2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben. In
Deutschland sind es rund 2,5 Prozent. Schweden hingegen gibt 4,3 Prozent dafür aus. Wir kommen nicht auf
diese Zahl, aber wir müssen in diese Richtung gehen.
({65})
Wir sind zwar schon besser als der Durchschnitt, aber
wir müssen noch besser werden und müssen sehen, dass
wir schnell das Ziel von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen.
Wie geht das? Es geht durch Subventionsabbau. Da
sind auch Sie gefordert. Denn Subventionsabbau heißt,
Ressourcen, die man in der Vergangenheit für Subventionen eingesetzt hat, für Zukunftsinvestitionen auszugeben.
({66})
Damit bin ich bei der Eigenheimzulage. Sie können unter Beweis stellen, dass Sie mithelfen wollen, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen,
({67})
indem Sie die Blockade aufgeben, mit der Sie die Eigenheimzulage belegt haben.
({68})
Wir müssen - das ist nur innerhalb des föderalen Systems zu schaffen - mehr in Bildung investieren. Das gilt
übrigens auch für die Ausbildung. Damit bin ich beim
Ausbildungspakt. Natürlich gibt es noch eine Lehrstellenlücke. Niemand bedauert das mehr als wir. Aber dass
10 000 Ausbildungsverträge mehr als im letzten Jahr bereits jetzt unterschrieben sind, ist ein hoffnungsvolles
Zeichen. Die rechnerische Lücke von 30 000, die es immer noch gibt, muss bis zum Jahresende geschlossen
werden. Das ist Aufgabe der Wirtschaft.
({69})
Die Tatsache, dass große angelsächsische Zeitungen
Deutschland inzwischen als Investitionsstandort Nummer eins ansehen - das können Sie in „Newsweek“
nachlesen; ich bin auch bereit, Ihnen das vorzulesen,
Herr Kollege Glos -,
({70})
hat eminent mit der Qualifizierung unserer Leute zu tun.
Diese hat wiederum mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zu tun, Ausbildungsplätze bereitzustellen. Das ist
etwas, was wir im eigenen Interesse und auch im Interesse der Wirtschaft leisten müssen.
({71})
Der dritte Punkt. Wir brauchen die Ressourcen, um
sie vor allen Dingen in Betreuung zu investieren. Wir
brauchen sie, weil es sich diese Gesellschaft überhaupt
nicht leisten kann - in Zukunft noch viel weniger -, die
Qualifikation, die Kreativität und die Leistungsbereitschaft von Frauen nur deshalb ökonomisch nicht zu nutzen, weil es an Betreuungsplätzen fehlt. Das können wir
uns nicht leisten. Außerdem kommt hinzu, dass es nicht
gerecht ist.
({72})
Das sind die Bereiche, um die es schwerpunktmäßig
geht und für die wir Ressourcen mobilisieren müssen
und Ressourcen mobilisieren werden.
Wenn man sich einmal anschaut, was von dem Schauergemälde übrig geblieben ist, das Herr Glos gemalt hat,
und wenn man die Zahlen wirklich betrachtet, dann sieht
man, dass wir zwar keinen Anlass haben, euphorisch und
selbstgerecht in die Zukunft zu blicken, dass wir aber
Anlass haben, selbstbewusst und entlang eigener entwickelter Stärke die Zukunftsaufgaben anzugehen. Wir
haben beim Wachstum zur Eurozone aufgeschlossen.
Die Industrieproduktion in Deutschland wächst deutlich
schneller als im europäischen Vergleich.
Übrigens, dass wir Exportweltmeister sind, hat doch
auch etwas mit der Kraft der deutschen Wirtschaft und
nicht mit ihrer Schwäche zu tun. Warum sagen wir das
nicht?
({73})
Dies hat auch etwas mit der Lohnpolitik der deutschen
Gewerkschaften zu tun, die dazu geführt hat, dass die
Lohnstückkosten schon die ganzen 90er-Jahre über, auch
in der Phase der Stagnation, im Grunde gleich geblieben
sind - es gab eine Steigerung von 0,1 Prozent pro Jahr und dass damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in einem Maße wie nie zuvor zugenommen hat. Wir haben auch in der schwierigsten Phase
der Weltwirtschaft, in der Stagnationsphase, die Gott sei
Dank überwunden ist, abzüglich der Wechselkursbereinigung real Marktanteile gewonnen.
Das ist doch ein Zeichen von Kraft, auf die wir stolz
sein und worauf wir unabhängig von allen parteipolitischen Auseinandersetzungen auch einmal hinweisen
sollten.
({74})
Wir haben das bei einer Inflationsrate erreicht, die
die stabilste und geringste in Europa ist, was uns bei den
Zinsen gelegentlich Schwierigkeiten macht. Weil wir
eine so geringe Inflationsrate haben, haben wir das
höchste reale Zinsniveau. Das ist ein Problem, was die
Refinanzierung unserer Unternehmen angeht. Aber es ist
doch auch etwas, worauf man hinweisen kann, was man
nicht einfach vergessen darf.
Wie sieht es schließlich - darüber wird immer wieder
geredet - bei den Patenten aus? Wir liegen im europäischen Maßstab weit an der Spitze. Wir sind besser als die
Konkurrenten, auch besser als die großen europäischen
Konkurrenten. Ja, es ist wahr: Amerika und Japan sind
noch besser. Wir sollten und wollen dazu aufschließen.
Deswegen investieren wir in Forschung und Entwicklung.
({75})
Meine Damen und Herren, ich gehöre wirklich nicht
zu denjenigen, die nicht wüssten, wie schwer die Arbeitslosigkeit auf diesem Land lastet und wie sehr uns
das umtreiben muss. Wir sind deswegen weit davon entfernt, nur ein rosiges Bild zu malen. Aber zu sagen, dieses Land sei ein einziges Jammertal, nur weil Ihnen die
Regierung nicht passt, das ist hanebüchener Unsinn.
({76})
Was wir tun müssen und was wir tun werden, ist, die
Positionierung Deutschlands als eines selbstbewussten,
bündnistreuen Landes in der internationalen Politik nicht
aufzugeben. Was wir nach innen tun müssen, ist, den
Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme voranzubringen, weil sie nur so auf Dauer zu sichern sind. Was
wir im Übrigen zu tun haben, ist, Ressourcen in den Bereichen einzusetzen, die ich genannt habe.
Dabei können wir auf eine ungeheure Kraft in der
deutschen Gesellschaft und auch in der deutschen Wirtschaft bauen - nicht in dem Sinne, dass man sich damit
zufrieden geben könnte, aber schon in dem Sinne, dass
man sie als Ausgangspunkt für eine Zukunft nutzt, die
wir nun wirklich nicht schwarz in schwarz malen müssen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({77})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben viele bemerkenswerte Sätze in Ihrer Rede gesagt, aber einer war besonders bemerkenswert. Sie haben gesagt: Diese Regierung
handelt vielversprechend.
({0})
Das ist das Problem dieser Regierung: Sie verspricht
viel, aber sie hält nichts. Deswegen laufen Ihnen auch
die Menschen davon.
({1})
Es ist bei Ihnen jedes Jahr dasselbe Ritual.
({2})
- Herr Müntefering, das war ein fabelhafter Zwischenruf. Heute habe ich schon etwas über Zwischenrufe gehört. Herr Schmidt sitzt jetzt nicht neben Ihnen, aber Sie,
Herr Müntefering, und Herr Schmidt - Frau Kumpf, Sie
sind schöner als Herr Schmidt, das muss man ausdrücklich sagen - sitzen hier regelmäßig wie die beiden Opas
auf dem Balkon in der Muppet-Show und rufen dazwischen. Das ist wirklich bemerkenswert. Darüber, was Sie
mit Innovation zu tun haben, wollen wir ein andermal reden.
({3})
Herr Bundeskanzler, es gibt immer - das ist das Entscheidende - das gleiche Ritual. Es wechselt aus meiner
Sicht nur jedes Jahr der Verantwortliche. In einem Jahr
sagen Sie, dass die Weltwirtschaft für die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich ist, und im
nächsten Jahr sagen Sie, dass die Opposition dafür verantwortlich ist. Dann verweisen Sie auf die angeblich
mangelnde Mitwirkung der Oppositionsparteien hier im
Bundestag oder im Bundesrat.
Tatsache ist aber etwas ganz anderes. Tatsache ist,
dass sich diese Opposition, zum Beispiel im Vermittlungsverfahren, um ein Vielfaches konstruktiver verhalten hat und verhält, als Sie das zu Ihrer Zeit in der Opposition jemals getan haben.
({4})
Sie haben gesagt, Sie wollen den Spitzensteuersatz
auf 42 Prozent senken. Dazu merke ich - wir haben
heute Morgen des verstorbenen Kollegen Günter
Rexrodt gedacht - an: Wir hätten längst auf der Grundlage der Petersberger Beschlüsse ein völlig neues, einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigeren
Sätzen. Es waren die Ministerpräsidenten Schröder und
Eichel, die das blockiert haben; denn durch den Bundestag war es durch. Sie haben als Ministerpräsidenten aus
Wahlkampfgründen gegen die Interessen Deutschlands
gearbeitet.
({5})
Sie sagen, Sie hätten sich der Probleme der demographischen Entwicklung angenommen, Sie hätten erkannt,
dass die Sozialstaatsreformen notwendig sind. Wir wollen aber nicht vergessen, dass der demographische
Faktor in der letzten Legislaturperiode der alten Regierung in das Rentensystem eingeführt worden ist, doch
abermals waren Sie es, die blockiert haben.
({6})
Wir wollen auch nicht vergessen, wie es bei den
Arbeitsmarktreformen zugegangen ist. Sie sagen, Sie
müssten heute durchfechten, dass es zu einer Vereinfachung und Liberalisierung auf dem Arbeitsmarkt
kommt. Dort, wo Sie das tun, haben Sie unsere Unterstützung. Wir weisen aber darauf hin: Das war alles
längst beschlossen und Gesetz. Wenn das Trio Schröder,
Eichel und Lafontaine damals anders gehandelt hätte,
hätten heute Hunderttausende von Arbeitslosen Arbeit.
Das möchte ich an dieser Stelle festhalten.
({7})
Ich habe mich schon gewundert, dass Sie, als Sie über
die Sozialstaatsreformen sprachen, uns und nicht die
Mitglieder der Regierungsfraktionen angeschaut haben.
Uns müssen Sie doch nicht erzählen, dass angebotene
Arbeit auch angenommen werden muss. Uns müssen Sie
doch nicht erzählen, dass sich Leistung wieder lohnen
muss.
({8})
Sie müssen uns doch nicht erzählen, dass Demonstrationen, wenn sie von Demagogen von der PDS aufgehetzt werden, in die falsche Richtung weisen. Auch ich
kritisiere das, was Herr Milbradt dazu gesagt hat, aber
wir wollen doch festhalten, dass bei diesen Montagsdemonstrationen die PDS vorne mitläuft. Das ist Ihr Koalitionspartner, nicht unserer!
({9})
An der Spitze dieser Montagsdemonstrationen steht
doch kein Freidemokrat und hält wie am letzten Montag
die Rede, sondern es war Ihr Genosse, Ihr früherer Parteivorsitzender Oskar Lafontaine, der dort gesprochen
hat. In den Reihen der Montagsdemonstrationen gehen
doch keine Freidemokraten und unterstützen auch noch
diejenigen, die dort aufhetzen. In Wahrheit ist es doch
so, dass Herr Ströbele und Herr Bsirske von den Grünen
dort demonstrieren. Das ist der Grund, warum Ihnen die
Leute weglaufen.
({10})
Wollen wir hier einmal wiedergeben, wer von Ihnen
sich wie - über das Verständnis, das man für jemanden,
der in Sorge ist und demonstriert, haben muss, hinaus geäußert hat? Wollen wir das allen Ernstes wiedergeben?
Alles, was an marktwirtschaftlichen Reformen im Deutschen Bundestag und im Dezember im Vermittlungsverfahren beschlossen worden ist, ist von uns befördert und
immer wieder verteidigt worden.
({11})
Das Problem ist, dass Ihre eigenen Leute permanent
mit neuen Vorschlägen kommen; übrigens auch der stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Thierse. Es sind
doch Ihre Leute, die die Stimmung machen und die meinen, sie könnten damit für sich selbst einen Vorteil erreichen. Das wollen wir an dieser Stelle einmal festhalten.
({12})
- Ich habe den stellvertretenden Parteivorsitzenden angesprochen; das ist erlaubt.
Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, das nächste Problem ist, dass
Sie gar keine Linie haben. Sie meinen, Sie bekämen Widerstand in der Bevölkerung, weil Sie Reformen durchsetzen. Sie bekommen Widerstand, weil Sie keine verlässliche Politik machen. Das ist der Unterschied.
({13})
Wie ist es denn abgelaufen? Sechs Jahre lang gab es
keine einzige Klausur. Jetzt jagt eine die nächste. Angefangen haben Sie Anfang des Jahres, im Januar, mit
einer Klausur der Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten. Daher kommt der berühmte Satz des Bundeskanzlers - damals war er noch SPD-Vorsitzender -: Das
Jahr 2004 muss ein Jahr der Innovation werden.
({14})
Die einzige Innovation, die stattgefunden hat, ist die,
dass mittlerweile Herr Müntefering der alten Tante SPD
die Rheumadecke auflegen kann. Das ist Ihre Innovation.
({15})
Was ist mit dem, was in der Bildungspolitik, in der
Forschungspolitik und der Wissenschaftspolitik stattfinden müsste? Wohin sind Sie denn da? Weggetaucht?
({16})
- Herr Tauss, in jedem Raum ist einer der Dümmste,
aber melden Sie sich doch nicht freiwillig.
({17})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Frau
Bulmahn hat doch Anfang des Jahres damit angefangen
- eine sehr bemerkenswerte Sache -: Mal waren es fünf,
mal waren es zehn Eliteuniversitäten. Anfang des Jahres haben wir noch gedacht, wunders was da kommt.
Was ist denn aus dem Programm für Eliteuniversitäten
geworden? - Nichts! Vertagt, vertagt, vertagt!
({18})
Das ist das Entscheidende. Wissen Sie, warum das möglich ist? Das ist in der Tat auch aufgrund föderaler Strukturen möglich, die wir gemeinsam korrigieren wollen.
Ich glaube, darüber sind wir uns in diesem Hause einig.
({19})
Das ist aber auch deshalb möglich, weil Sie keine politische, geistige Meinungsführerschaft mehr ausüben.
Sie reden von Eliten, beschließen aber gleichzeitig in
diesem Hause ein Verbot von Studiengebühren, das den
Universitäten quasi per staatlichem Diktat verbietet, GeDr. Guido Westerwelle
bühren zu erheben. Mehr Freiheit ist die Innovation und
nicht mehr staatliche Regulierung. Das gilt auch und gerade in der Bildungspolitik.
({20})
Dann kam die nächste - eine fabelhafte, hochinteressante - Klausurtagung, die sich mit den Folgen von
Hartz beschäftigen sollte. Dort wurde entsprechend
nachgebessert. Es dauerte dann keine zwei Tage, bis sich
Minister aus Ihrer Bundesregierung mit Herrn Stolpe an
der Spitze zu Wort gemeldet und gesagt haben: Es muss
aber auch die Nachbesserung wieder nachgebessert werden. Der arme Herr Clement musste seinen Urlaub unterbrechen - mein Mitleid hält sich in Grenzen - und zu
dieser Klausur- bzw. Krisensitzung anreisen. Anschließend sagte Herr Stolpe wie auch andere aus Ihrer Koalition, dass das, was zwei Tage zuvor gerade nachgebessert worden war, noch einmal nachgebessert werden
muss.
({21})
Sie haben in den wesentlichen Bereichen keine Linie.
Erst haben Sie die Hartz-Reformen beschlossen. Im
Kern ist vieles davon richtig. Dafür haben Sie auch die
Unterstützung der Opposition bekommen.
({22})
Dann haben Sie gesagt, es müsse nachgebessert werden,
weil die Reformen handwerklich so dilettantisch umgesetzt wurden. Dann kam es zur Nachbesserung der
Nachbesserung. Auf der Klausursitzung in Bonn verabschieden Sie sich dann für den Rest der Legislaturperiode von allen weiteren Reformprojekten. Sie verwalten die Krisen, aber Sie gestalten nicht die Zukunft. Das
spüren die Menschen.
({23})
Nun komme ich zu dem, was Sie angesprochen haben, zuerst zur Ausbildungsplatzabgabe.
({24})
In Ihrer Agenda-2010-Regierungserklärung hieß es zunächst: keine Ausbildungsplatzabgabe.
({25})
Anschließend wurde die Ausbildungsplatzabgabe
({26})
von Ihren beiden Parteitagen beschlossen. Nach dem
Führungswechsel in der SPD führten Sie dann die Ausbildungsplatzabgabe
({27})
ein, damit Herr Müntefering gegenüber den Linken in
seiner Partei etwas vorzuweisen hat. Daraufhin nahmen
Sie die Ausbildungsplatzabgabe
({28})
wieder zurück und sagten, wir bräuchten einen Ausbildungspakt.
({29})
Meine Damen und Herren, die Menschen sind bereit,
auch einen harten Weg mitzugehen.
({30})
Aber sie wollen ein Ziel haben. Sie wollen wissen, wohin es geht. Sie wollen sehen, dass gerecht und verlässlich vorgegangen wird. Sie sind eine Bundesregierung,
die sich verhält wie ein Hase auf der Flucht: Sie schlagen Haken, aber Sie haben keinen Kurs. Das ist Ihr Problem.
({31})
In der letzten Debatte, die hier stattgefunden hat, ging
es um das Thema Mindestbesteuerung. Sie haben gesagt, dass wir durch die Wiedervereinigung Europas,
über die wir hier gesprochen haben, eine Mindestbesteuerung brauchen. Anschließend wurde eine Reihe von
Papieren erarbeitet. Von den Grünen wurde ein Vorschlag zur Vermögensteuer vorgelegt. Mittlerweile haben Sie dazu ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben.
Herr Kuhn fasste es so zusammen, dass Ihre Steuererhöhungspläne in Wahrheit nur mehr Verwaltungskosten,
aber gar nicht mehr Steuereinnahmen bringen würden.
Daher wurden sie zurückgezogen. Nachdem diese
Vorschläge gestern von Ihnen und von Herrn Kuhn zurückgezogen worden sind, sagt am heutigen Tag der Parteivorsitzende der Grünen, Herr Bütikofer: Die Mindestbesteuerung muss kommen und die Instrumente sind die
Vermögen- und die Erbschaftsteuer.
Genau das ist der Fehler, der uns in Deutschland zur
Kapitalflucht treibt und den wir bekämpfen müssen. Wir
müssen mit immer neuen Steuererhöhungsdiskussionen
Schluss machen. Ich nenne noch einmal die Debatten
über die Vermögensteuer, die Mindestbesteuerung und
die Erbschaftsteuer. Jetzt dreht sich die Diskussion auch
um die Mehrwertsteuer. Sie machen immer neue Steuererhöhungsvorschläge. Aber mit Steuererhöhungsvorschlägen treiben Sie die Menschen in Schwarzarbeit
und Kapitalflucht. Wir brauchen die Investitionen hier
in Deutschland. Deswegen ist ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem das erste Vorhaben,
das die Freien Demokraten bei einer Regierungsbeteiligung durchsetzen wollen.
({32})
Es ist richtig, dass wir dabei auch die Sozialstaatsreformen durchsetzen müssen. Wir wissen das. Wir wissen, dass wir Sozialstaatsreformen brauchen.
({33})
Wer nicht arbeiten kann, dem muss geholfen werden.
Wer aber nicht arbeiten will, der kann nicht damit rechnen, dass Familienväter und allein erziehende Mütter
abends länger arbeiten, damit er sich einen lauen Lenz
machen kann.
({34})
Hier geht es um die Frage der Treffsicherheit des Sozialstaates. Wir haben ein anderes Verständnis vom Sozialstaat als Sie.
({35})
Sie sehen darin einen Wohlfahrtsstaat, der zur Beruhigung an alle ein wenig verteilt. Wir wollen einen Sozialstaat, der seine Hilfen auf die wirklich Bedürftigen konzentriert. Das ist der feine Unterschied.
({36})
All Ihre Reformen - ob Agenda 2010, bei der Sie in
Wahrheit auf halbem Wege stehen geblieben sind, oder
Hartz I bis IV - werden nicht tragen und nicht ausreichen, wenn Sie Ihre Wirtschaftspolitik nicht korrigieren und an die Stelle Ihrer Verteilungsstrategie eine
Wachstumsstrategie setzen. Ihre ganzen Reden drehen
sich in Wahrheit im Kern um die Frage: Wie verteilt der
Staat an wen etwas am besten? Ein Bundeskanzler in
diesen Zeiten müsste hier stehen und müsste sagen:
Wachstum schaffen wir durch: erstens, zweitens, drittens, durch folgende Rahmenbedingungen des Staates.
Das Wort „Wachstum“ kommt in Ihren Reden überhaupt
nicht mehr vor, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Das gibt es überhaupt nicht mehr!
({37})
Sie können noch so sehr vorhandene Arbeit durch eine
Sozialstaatsreform besser verteilen - und es ist notwendig, dass angebotene Arbeit auch angenommen wird -,
Sie müssen aber Ihre Politik ergänzen: durch eine Wirtschaftspolitik, die auf Wachstum setzt. Dazu zählen vor
allen Dingen auch die neuen Technologien. Sie sprachen doch selbst von der Innovation. Sie sprechen hier
von den Patenten und setzen sie auf Ihre Erfolgsliste, so
als ob Sie ein einziges Patent angemeldet hätten.
({38})
In Wahrheit ist es so, dass Ihre Bundesregierung dazu
beiträgt, dass Patente, die in Deutschland angemeldet
werden und die hier Arbeitsplätze schaffen könnten, ins
Ausland verlagert werden.
({39})
Wir haben das doch beim Transrapid als moderner Verkehrstechnologie erlebt: Die Richtlinien der Politik kamen nicht von Herrn Schröder; Herr Trittin hat die
Richtlinien bestimmt und der Transrapid durfte hier
nicht gebaut werden. Mittlerweile wollen Sie auf jeder
Chinareise mindestens einmal im Transrapid fotografiert
und gefilmt werden.
Dasselbe erleben wir jetzt wieder bei der Bio- und
Gentechnologie. Es ist doch nicht nur eine ökonomische
Frage, es ist doch auch eine moralische und eine ethische
Frage. Wenn die Forschung für Bio- und Gentechnologie
in Deutschland immer mehr durch die Gesetzgebung, die
Frau Künast zu verantworten hat, ins Ausland vertrieben
wird, dann gehen uns nicht nur Chancen für Arbeitsplätze verloren, in Wahrheit gehen uns auch Chancen
verloren, Krankheiten zu bekämpfen und etwas gegen
den Welthunger zu tun. Ihre Blockadehaltung gegen die
Grüne Gentechnik, mit der man zum Beispiel schädlingsresistente Pflanzen herstellen kann, sodass man
nicht mehr Millionen von Tonnen von Chemie braucht,
um in der Dritten Welt Felder zu bearbeiten, diese Ihre
Blockade gegen die Grüne Gentechnik hat einen Vorläufer: Ihre Blockade gegen die Rote Gentechnik. Beides ist
grottenfalsch. Wer heute moderne Technologien wie
Gen- und Biotechnologie blockiert, der verhält sich unmoralisch, weil er nicht seinen Beitrag leistet im Kampf
gegen Krankheiten und gegen den Welthunger.
({40})
Das ist die Auseinandersetzung, die wir führen wollen
und führen müssen.
Sie haben von der Energie gesprochen. In der Tat ist
es richtig, dass die hohen Energiepreise und die Entwicklung, die wir dort haben, uns allen Sorgen machen;
das ist gar keine Frage, das wissen wir auch. Ob die Vorschläge aus den Reihen der Union kommen oder von anderen - ich glaube, dass die Vorstellung, man könnte
staatlich die Preise festsetzen, zu kurz gedacht ist, um es
ganz höflich zu formulieren.
({41})
- Die kommen nicht von der CDU, ja.
Auf der anderen Seite, meine sehr geehrten Damen
und Herren, will ich Ihnen genauso sagen: Wenn der
Bundeskanzler sich hierhin stellt, auf die hohen Energiepreise hinweist und sagt, es fehle ja an Wettbewerb und
deswegen sei diese Preisentwicklung gefährlich,
({42})
dann weise ich darauf hin, dass es Ihre Bundesregierung,
Ihr Staatssekretär Tacke war, der gegen das Votum des
Kartellamtes gerade für weniger Wettbewerb auf dem
Energiesektor gesorgt hat. Dass dieser Herr Tacke jetzt
auch noch zu dem Unternehmen wechselt, das er mit
Verwaltungsentscheidungen begünstigt hat, das stinkt
zum Himmel, und das werden wir aufklären.
({43})
Da sind viele Fragen zu klären; das wissen wir. Sie
sprechen von Subventionen, Sie sprechen davon, dass
die entsprechenden steuerlichen Ausnahmetatbestände
beseitigt werden müssen. Da haben Sie unsere Zustimmung. Wenn Sie hier einfügen, dass Sie das bisher für
Subventionen aufgewendete Geld brauchen, um es für
Bildung und Innovation auszugeben - einverstanden.
Fangen wir doch einmal gleich bei dem an, was am einfachsten geht. Der Bundeskanzler, der hier sagt, wir
brauchen diese Gelder, um sie in die Bildung zu stecken,
hat vor nicht einmal einem Jahr auf dem Steinkohletag
gerade 16 Milliarden Euro an Subventionen zusätzlich
zugesagt - für die Verlängerung von Vergangenheit, statt
dass man daraus Arbeitsplätze in Forschung, Bildung
und Wissenschaft macht.
({44})
Nichts kommt von Ihnen dazu.
Jetzt kommen Sie mit Ihrem „Jäger 90“, der Eigenheimzulage. Es ist sehr bemerkenswert, wie Sie an die
Eigenheimzulage herangehen. Hermann Otto Solms hat
Ihnen das gestern in der Debatte gesagt und wir stehen
dazu: Wir sind doch bereit, an die ganzen verschiedenen
steuerlichen Ausnahmetatbestände heranzugehen. Wir
werden das aber nicht tun, damit Herr Eichel seine
selbstverschuldeten Haushaltslöcher stopfen kann. Wenn
wir an die steuerlichen Ausnahmetatbestände herangehen, dann müssen die Auswirkungen durch Steuersenkungen eins zu eins an die Steuerzahler weitergegeben werden. Ansonsten ergibt sich keine Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage; in Wahrheit ergeben sich
dann nämlich nur Steuererhöhungen. Das wäre Gift für
die Wirtschaft und brächte noch mehr Arbeitslosigkeit.
Das unterscheidet uns.
({45})
Sie haben über die Außenpolitik gesprochen. Dies
möchte ich mit zwei Bemerkungen aufgreifen. Herr
Bundeskanzler, ich glaube, dass wir alle in diesem
Hause gestern diese schrecklichen Terrorattentate und
diese grausamen Morde an den Kindern in Russland mit
derselben Betroffenheit verurteilt haben. Ich glaube, niemand ist irgendeiner anderen Meinung dazu. Jeder ist
hier als Mensch tief darüber betroffen. Diejenigen, die
Kinder morden, Geiseln nehmen und Unschuldige in den
Tod schicken oder mitnehmen, sind keine Freiheitskämpfer, sondern Kriminelle, die zur Verantwortung gezogen werden müssen. Darin sind wir alle uns einig.
Es geht aber um etwas anderes, nämlich um die
Frage, ob der Terrorismus weltweit bekämpft werden
kann. Wenn er bekämpft werden kann, dann stellt sich
die Frage, wie. Aus unserer Sicht als Oppositionsfraktion kann der Terrorismus in der Welt mit Sicherheit
nicht bekämpft werden, indem man bei Menschenrechtsverletzungen schweigt.
({46})
Deswegen sage ich Ihnen und dem Bundesaußenminister
hierzu: Sie kritisieren an der amerikanischen Regierung,
an Washington, alles - und vieles davon zu Recht.
Gleichzeitig an Moskau aber nichts zu kritisieren und die
Menschenrechtsverletzungen sowie die mangelnde
Rechtsstaatlichkeit zu übersehen,
({47})
das ist eine erschreckende Einäugigkeit in der Außenpolitik, die wir korrigieren werden.
({48})
Die Menschenrechte sind unteilbar.
Ich will Ihnen beiden, Herrn Kollegen Glos und Herrn
Bundeskanzler Schröder, die Sie bisher gesprochen haben, in einem Punkt widersprechen: Sie beide haben von
der Halbzeitbilanz gesprochen. Nein, das ist eine Dreiviertelbilanz; denn in spätestens zwei Jahren ist dieser
Spuk nach acht Jahren vorbei.
({49})
Lieber Kollege Westerwelle, Sie haben mich persönlich angesprochen. Da ich nicht die Möglichkeit zu einer
Kurzintervention habe, andererseits aber ein Interesse
daran habe, ein Missverständnis nicht bestehen zu lassen, will ich nur - ({0})
- Einen Moment. Warten Sie doch ab. Ich will doch nur
eine ganz freundliche Bemerkung machen.
({1})
Weil mir daran liegt, möchte ich hier nur darum bitten,
dass wir genau dieses Missverständnis in einem persönlichen Gespräch aufklären.
({2})
Nun erteile ich Kollegin Katrin Göring-Eckardt,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, wir haben in den 20 Minuten, in denen Sie
uns angeschrieen haben, versucht, Ihnen zuzuhören.
({0})
Ich gebe zu: Wir waren ein bisschen abgelenkt, Herr
Westerwelle, weil wir uns als Fans der Muppet-Show die
ganze Zeit überlegt haben, wer die anderen Besetzungen
sind. Ich will das aber nicht weiter ausführen, denn das,
was Sie gemacht haben, hat mit dem Ernst der Situation,
in der wir uns befinden, nichts zu tun.
({1})
Zu dem, was Sie zum Thema Halbzeit und dazu, dass
wir auf dem halben Weg sind, ausgeführt haben, kann
ich nur sagen: Sie haben Recht. Wir sind auf dem halben
Weg, aber wir werden nicht stehen bleiben, sondern wir
müssen weitergehen. Wir werden das, was wir erreicht
haben, nutzen, um darauf aufzubauen.
Was haben wir in der ersten Halbzeit erreicht? Wir
haben bei der Rentenversicherung und bei den Rentenbeiträgen Stabilität erreicht. Ich glaube, dass das ein
großer Erfolg ist. Ich halte - ehrlich gesagt - nichts davon, dass Sie in jeder Debatte aufs Neue erklären, Sie
hätten ja damals den demographischen Faktor eingeführt. Du meine Güte, ja, Sie haben den demographischen Faktor eingeführt und er hätte zu weit höheren
Rentenbeiträgen geführt, als wir sie heute tatsächlich haben. Auch das gehört zur Erkenntnis der Realität.
({2})
Sie profilieren sich immer dann, wenn es um Steuern
geht. Die Bilanz Ihrer Regierungsbeteiligung ist ein
Spitzensteuersatz von 53 Prozent und ein Eingangssteuersatz von 25 Prozent.
({3})
In dem Fall kann man sich hier nicht hinstellen und ständig hervorheben, wie toll man es gemacht hat.
Lassen Sie mich auf noch etwas hinweisen: Ich habe
die Debatte zu den Haushaltsberatungen ganz intensiv
verfolgt und habe auf das gewartet, was die Union zum
Thema Steuern sagt. Dabei fällt mir ein, dass ich letztes
Jahr zu Weihnachten, am 24. Dezember, in der „Bild“Zeitung gelesen habe, dass Herr Merz damals erklärte:
Bis zum Sommer legen wir ein neues Steuerkonzept vor.
({4})
Inzwischen ist der Sommer vorbei, Herr Merz. Ich
frage mich, wo jetzt die Steuerehrlichkeit der Union geblieben ist. Ich kann Ihnen sagen, wo sie geblieben ist.
Ihre Ideen zu Steuersenkungen sind bei all dem verschwunden, was im Zusammenhang mit der Kopfpauschale an Finanzierungs- und Steuerlöchern entstanden
ist. Genau das ist Ihr Problem.
({5})
Wenn wir über Ihre weiterführenden Ideen zur Gesundheitspolitik reden - bei der Gebisspauschale sind
Sie gerade dabei, sich aus dem Staub zu machen -, dann
stellt man fest, dass Sie eines nicht geschafft haben. Sie
haben ein Konzept vorgelegt, es mit großem Tamtam
verabschiedet und sich dafür bejubeln lassen. Dann haben Sie gesagt: Die Sache mit dem Sozialausgleich machen wir später. Ich frage mich, wann später ist. Herr
Seehofer hat ausgerechnet, dass 60 Milliarden Euro fehlen. Diese 60 Milliarden Euro haben Sie noch immer
nicht finanziert. Wie wollen Sie es denn machen? Mit
Steuererhöhungen? Oder erklären Sie irgendwann, dass
die Sache mit dem Sozialausgleich nicht mehr wichtig
ist? Ich habe das Gefühl, dass Sie zuerst die Gebisspauschale aus dem Konzept herausgenommen haben, um
dann die Kopfprämie hinterherzuwerfen. Vor allem eines
ist klar: Mit sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und einem stabilen System hat all das gar nichts mehr zu tun.
({6})
Wir haben eine Gesundheitsreform gemacht. Sie hat
Erfolge gezeigt, wenn man davon absieht, dass die Klientelpartei FDP verhindert hat, dass es bei den Apotheken wirkliche Konkurrenz gibt. Immerhin bestehen
heute 800 Versandapotheken. Da tut sich was beim Wettbewerb. Trotzdem sind wir hier noch lange nicht fertig.
Wir werden weitermachen müssen. Deswegen sagen wir
ganz klar: Wir wollen die Bürgerversicherung. Aus
welchen Gründen? Erstens. Die Bürgerversicherung ist
dafür da, eine Antwort auf das demographische Problem
zu geben, das im Gesundheitssystem immer deutlicher
wird.
({7})
Wir wollen eine Versicherung für alle und keine Einheitskasse. Das ist ein Unterschied. Wir wollen mehr
Wettbewerb zwischen den Kassen, aber auch mehr Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern. Ohne das wird
es nicht gehen. Wettbewerb im System muss sein. Sie
werden darauf verzichten müssen, immer ein schönes
Gärtchen um diejenigen zu bauen, von denen Sie hoffen,
gewählt zu werden.
({8})
Zweitens. Wir wollen, dass die Solidarität zwischen
allen stattfindet, nicht nur zwischen denen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben müssen. Auch
darauf wird es ankommen; denn wir müssen die reale
Lebenssituation in der Zukunft berücksichtigen. Die
Menschen werden nicht mehr mit 18 Jahren die Ausbildung abschließen und dann immer bei VW arbeiten.
Nein, wir werden eine andere Situation haben: Die Menschen werden eine Zeit lang abhängig beschäftigt sein
und dann vielleicht selbstständig tätig oder auch einmal
Beamter sein. Sie werden in ihrem Leben in Zukunft
hoffentlich sehr viele Berufe ausüben, in Anstellungsverhältnissen und als Selbstständige. Genau deswegen
brauchen wir die Bürgerversicherung. Sie gibt den
Menschen auch in diesen Situationen, mit der neuen Flexibilität, die wir wollen und brauchen, Sicherheit. Bürgerversicherung heißt eben auch: eine Versicherung für
alle. Darauf kommt es uns an.
({9})
Herr Glos, Sie haben hier heute Morgen in Ihrem sehr
bewegenden Auftritt - ich weiß nicht, warum Frau
Merkel uns das immer gönnt - gesagt, die Grünen seien
in einem Luxushotel gewesen. Ich kann Ihnen das Hotel
sehr empfehlen, weil es einen sehr guten Service bietet,
aber ein Luxushotel ist es nicht.
({10})
Es zeigt aber eines, Herr Glos: Wir sind nach Bad Saarow in Ostdeutschland gefahren und haben dort Erfahrungen sammeln können, die Sie wahrscheinlich nie maKatrin Göring-Eckardt
chen werden, weil Sie mit der Realität in Ostdeutschland
eben leider nichts zu tun haben. Das gilt übrigens auch
für Herrn Westerwelle, der hier wieder von denen geredet hat, die nicht arbeiten wollen und sich einen lauen
Lenz machen. Erzählen Sie das einmal auf einer dieser
Demonstrationen in Ostdeutschland! Das ist menschenverachtend gegenüber denjenigen, die 250 und
300 Bewerbungen geschrieben und eben keinen Job gefunden haben, meine Damen und Herren.
({11})
Natürlich gehen viele Menschen in Ostdeutschland
heute auf die Straße, weil sie verunsichert sind, weil sie
berechtigte Ängste haben. Das müssen wir ernst nehmen
und wir müssen genau hinhören.
({12})
Wenn wir genau hinhören, werden wir feststellen: Das
Gesetz ist richtig und wir müssen es nicht verändern.
Aber wir müssen bei der Umsetzung darauf achten, dass
das Fördern tatsächlich die zentrale Rolle spielt.
Auf der anderen Seite sollten wir aber nicht verkennen, was die Populisten dieser Republik machen. Zu denen gehören Gysi, Lafontaine und Bisky, aber es gehören auch Leute wie Herr Milbradt und viele andere dazu,
die erst Ängste schüren und sie dann gern wieder nehmen. Dass dieser Populismus auf dem Rücken der Leute,
die wirklich berechtigte Sorge haben, ausgetragen wird,
können wir nicht akzeptieren.
({13})
Man muss sich auch anschauen, wie Sie versuchen,
darunter durchzutauchen, Frau Merkel. Herr Milbradt ist
ja keine Ausnahme. Am Sonntagabend kam Herr
Seehofer zu mir und sagte: Ich verstehe überhaupt nicht,
dass man jetzt weniger dazuverdienen kann als früher.
Dazu sage ich nur: Guten Morgen! Wann haben Sie eigentlich einmal für das geworben, was wir mit Hartz IV
umsetzen? Schließlich haben Sie dem zugestimmt und
wollten gerade für den Zuverdienst noch schärfere Bedingungen.
({14})
Herr Milbradt ist keine Ausnahme. Herr Milbradt
kommt mir manchmal vor wie der Sprecher der ostdeutschen CDU-Landräte, die überall sagen: Was da gemacht
wird, ist ja furchtbar. Dabei ist es das, was Sie im Vermittlungsausschuss mit beschlossen haben und was Sie
noch sehr viel schärfer haben wollten. Also stehen Sie,
verdammt noch mal, jetzt auch dazu und tauchen Sie
nicht drunter weg! Das wird die Glaubwürdigkeit dieser
Politik nicht bereichern.
({15})
Ich will aber auch etwas zu denen sagen, die heute
von einer neuen Spaltung zwischen Ost und West
reden. Wir werden in den nächsten Jahren 156 Milliarden Euro - darin sind die Kosten für die Sozialversicherungen nicht enthalten - nach Ostdeutschland transferieren. Das ist richtig so und darauf können wir wirklich
stolz sein. Wir werden uns mit der Frage zu beschäftigen
haben, was wir eigentlich mit diesem Geld machen wollen und wohin es investiert wird. Wir haben sehr viel in
Straßen investiert, wir haben ein tolles Telekommunikationsnetz. Ich glaube, jetzt ist das an der Reihe, was man
gemeinhin weiche Infrastrukturfaktoren nennt; denn
derjenige, der will, dass sich Unternehmen ansiedeln,
muss für eine entsprechende Umgebung sorgen.
Wer heute von einer neuen Spaltung zwischen Ost
und West redet, der tut denen Unrecht, die ganz bewusst,
mit großer Anstrengung, mit viel Kraft und mit viel Engagement in diesem gemeinsamen Deutschland angekommen sind. Gerade die jungen Leute, die Unternehmen gegründet haben und die sich engagieren, nenne ich
in diesem Zusammenhang. Ich möchte, dass wir nicht
von einer Spaltung zwischen Ost und West reden und
dass wir nicht solche Tendenzen schüren. Wir sollten
vielmehr sagen: Wir sind ein gemeinsames Land und
darauf sind wir stolz. Wir können auch sagen: Wir werden ohnehin nicht voneinander loskommen.
Das Wichtigste ist, dass wir uns darüber freuen und
dass wir gemeinsam auf das stolz sind, was wir erreicht
haben, dass wir stolz auf die Städte in Ostdeutschland
sind, die man besichtigen kann und in denen viel geschafft worden ist, und dass wir auf eine ganze Reihe
von Unternehmen stolz sind. Schauen Sie sich Multicar
an, ein kleines Unternehmen in der Nähe von Gotha.
Dieses hat inzwischen nicht nur in ganz Deutschland,
sondern auch im Ausland einen gigantischen Absatz. Es
hat auch den Mungo produziert, den die deutsche Bundeswehr gerade für die Einsätze, die auf dem Balkan
stattfinden, braucht. Natürlich könnten wir auf das stolz
sein, was wir gemeinsam geschafft haben. Ich finde, das
sollten wir auch. Auch als Politiker sollten wir nicht versuchen, auf der einen Seite aufzuwiegeln und auf der anderen Seite zu beruhigen.
({16})
Worauf könnten wir noch stolz sein? Wir könnten uns
einmal die Wachstumsbranchen ansehen, die wir haben.
Die zentralen Wachstumsbranchen gerade in Ostdeutschland sind alle die, die etwas mit Umwelttechnologie zu tun haben. Arbeitsplätze in Magdeburg, in
Lauchhammer und in Erfurt sind durch den Push für die
erneuerbaren Energien überhaupt erst entstanden. Das ist
der erste Arbeitsmarkt. Herr Westerwelle, auch das ist
Wachstum, wenn es auch nicht das Wachstum ist, das Ihnen gefällt.
({17})
Natürlich wird man an der Stelle nicht daran vorbeikommen - das will ich auch nicht -, etwas über die
Energiepreise zu sagen, weil man den Eindruck haben
muss, dass jemand mit fadenscheinigen Begründungen
noch schnell etwas beiseite schaffen will, und zwar auf
Kosten der Wirtschaft und auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist nicht akzeptabel. Wenn
man sich diese Situation anschaut, dann erinnert man
sich auch an andere Fragen, die damit zusammenhängen.
Ich meine die Managergehälter in Deutschland, die
endlich transparent werden müssen, weil auch das zur
Ehrlichkeit in einer Gesellschaft gehört.
({18})
Wenn wir schon dabei sind, dann will ich sagen, dass ich
persönlich das Gefühl habe, dass es einer solchen Stimmung nicht zuträglich ist, wenn man den Eindruck hat,
dass die Grenzen zwischen Wirtschaft und Politik nicht
mehr ganz klar sind. Ich bin dafür, dass wir von der
Wirtschaft in die Politik wechseln können und umgekehrt. Das ist richtig und das kann auch gut sein. Aber
wenn man den Eindruck haben muss, dass eine Hand die
andere wäscht, sollten wir uns selber fragen, ob das richtig ist, ob das gut ist und welche Diskussion darüber wir
brauchen.
({19})
Ich habe über die Erfolge der Umweltpolitik geredet.
Wir haben aber auch noch viel vor uns. Die Strategie
„weg vom Öl“ wird in Zukunft die zentrale Aufgabe
sein. Sie wird uns ökonomisch unabhängiger machen
und sie ist zentral für die außenpolitische Sicherheit. Der
Zugang zu Ressourcen spielt übrigens auch eine immer
größere Rolle im Kaukasuskonflikt. Der Zugang zum Öl
wird eine wichtige Rolle bei vielen internationalen Themen spielen.
Was in Russland geschehen ist, ist ein Verbrechen,
das keinerlei Rechtfertigung hat. Die Terroristen, die
diese Verbrechen begangen haben, sind bestimmt keine
Menschen, mit denen man verhandeln kann. Darin
stimme ich dem Bundeskanzler zu. Ich stimme auch der
Feststellung des Bundeskanzlers zu, dass wir eine politische Lösung brauchen. Für eine politische Lösung ist es
notwendig, dass wir ehrlich sagen, dass die so genannte
Politik mit unerbittlicher Härte und die dafür eingesetzten Instrumente einer Überprüfung bedürfen. Ich glaube,
dass wir das so ehrlich und klar feststellen können und
dies unter Freunden auch tun sollten.
({20})
Der Einsatz für die politische Lösung wird ein sehr
schwieriger Weg sein, weil die Spirale der Gewalt auch
eine Spirale der Hoffnungslosigkeit ist. Dem müssen wir
etwas entgegensetzen. Dem Terrorismus wird man nur
die Zivilisation entgegensetzen können. Das ist - das gilt
auch für uns - die zentrale sicherheitspolitische Frage,
auf die es ankommt.
Weil wir uns in den Haushaltsberatungen befinden,
muss ich hinzufügen, dass sich in der Perspektive - das
gilt nicht nur für diesen Haushalt, sondern wir müssen
auch weiterdenken - das, worauf es uns ankommt, nämlich Multilateralität, Einhaltung der Menschenrechte und
weltweite Entwicklung, irgendwann einmal viel klarer
als bisher in unserem Haushalt wiederfinden muss. Dafür muss man nämlich auch Geld ausgeben. Wir müssen
in Zukunft mehr Geld in den Bereichen Entwicklungshilfe, Außenpolitik und auch Verteidigung ausgeben.
Daran werden wir nicht vorbeikommen. Ich glaube, das
ist eine gemeinsame Aufgabe, die sich uns in den nächsten Jahren noch viel drängender stellen wird, als es derzeit der Fall ist.
({21})
Ich will noch etwas ansprechen, Frau Merkel, das Sie
mit aller Kraft zu verhindern suchen, was Ihnen aber
nicht gelingen wird. Dabei handelt es sich um die Frage
des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union. Ich
glaube, Sie haben nicht bedacht, dass Sie für einen innenpolitischen Benefit dafür sorgen, dass wir zentrale
Sicherheitsfragen aus den Augen verlieren. Ich glaube,
Sie haben auch nicht bedacht, dass die Wirtschaft in
Deutschland - Sie können mit jedem Wirtschaftsführer
reden - für den Beitritt der Türkei ist. Ich glaube, Sie haben nicht bedacht,
({22})
dass alles dafür getan wird, dass sich die Türkei entwickelt, und dass sorgfältig auf die Einhaltung der Menschenrechte geachtet wird.
({23})
Günter Verheugen widmet sich in diesen Tagen dieser
Aufgabe vorbildlich.
Ich glaube, Sie haben auch nicht bedacht, dass die
Türkinnen und Türken, die in unserem Land leben, sehr
viel zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Ich
würde Sie gerne auffordern, langsam umzudenken; denn
wir brauchen die Erweiterung der Union und wir brauchen auch aus Sicherheitsgründen den Beitritt der Türkei. Das ist ein positives Signal, das wir - auch zugunsten der eigenen Verlässlichkeit - senden sollten.
({24})
Angesichts dessen, was vor uns liegt, werden wir uns
auch weiterhin mit Fragen des Arbeitsmarkts beschäftigen müssen. Ich möchte, dass das Fördern Wirklichkeit
wird und dass wir uns nicht - auch nicht ab dem
1. Januar - zurücklehnen und meinen, das werde schon
irgendwie klappen. Vielmehr hat jeder Einzelne seine
Aufgaben zu leisten. Das gilt sowohl für die Kommunen
als auch für die Wohlfahrtsverbände und die Politik.
Ich möchte, dass es nicht zur Bildung einer immer
größeren Schicht von Menschen kommt, die außen vor
bleiben. Hartz IV ist die Antwort darauf. Es geht darum,
diesen Menschen eine Chance zu bieten, sich wieder einKatrin Göring-Eckardt
zubringen, indem jeder ein Angebot bekommt. In diesem
Sinne bedeutet Fördern auch, die Kommunen auf Vordermann zu bringen.
Ich will erreichen, dass die Kinder der heutigen Sozialhilfeempfänger, denen es übrigens in Zukunft allen
besser gehen wird - ich meine, das könnten Sie von der
Union akzeptieren und auch deutlich machen; denn diesen Erfolg haben wir mit der Reform erreicht -,
({25})
in Zukunft sagen können: „Mein Papa ist jetzt Trainer im
Sportverein“ oder „Meine Mama restauriert jetzt Kirchen“. Ich will auch erreichen, dass die Stadtteilbibliotheken und Schwimmbäder geöffnet bleiben, statt zu
schließen. All das sind Chancen, die mit Hartz IV verbunden sind. Das gilt übrigens auch und ganz besonders
für Ostdeutschland. Es geht darum, dass jeder einen
Platz in der Gesellschaft hat. Wir dürfen nicht sagen:
Was du machst, ist uns eigentlich egal. Du bleibst außen
vor. - Alle sollen dabei sein und mitmachen können. Jeder muss auch mitmachen. Ich bin ganz sicher, dass das
eine große Chance für unsere Gesellschaft ist.
({26})
Weitere Chancen bietet die älter werdende Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir sie nutzen. Wir müssen
sicherlich über die Auswirkungen der demographischen
Entwicklung, insbesondere der Geburtenraten - darauf
werde ich noch ausführlicher eingehen -, auf die Sozialsysteme, insbesondere auf die Pflegeversicherung, und
auf unser „ganz normales“ Leben reden. Aber ich bin
froh, dass wir einen Diskussionsprozess anstoßen werden, in dessen Mittelpunkt die Fragen stehen werden,
wie wir den Pflegebereich angesichts einer älter werdenden Gesellschaft gestalten wollen, wie es um Wohnen,
Bildung und Dienstleistungen in einer älter werdenden
Gesellschaft bestellt ist; denn wir dürfen nicht vergessen, dass in diesem Zusammenhang auch Arbeitsplätze
entstehen. Ein Beispiel - darauf habe ich schon hingewiesen -: Meine Wahlheimat Weimar gehört zu den wenigen Städten, in denen der Zuzug höher ist als die Abwanderung. 500 vorwiegend ältere Menschen ziehen
jedes Jahr nach Weimar, weil sie es schön finden, dort alt
zu werden, wo Goethe einst gelebt hat. Das bietet auch
eine Chance für Jüngere; denn dadurch sind sehr viele
Arbeitsplätze in sehr vielen Bereichen, vor allem im
Dienstleistungsbereich, entstanden. Das ist ein gutes
Beispiel dafür, dass eine älter werdende Gesellschaft
auch Jüngeren Chancen und Arbeitsplätze bietet.
({27})
Wenn man über neue Arbeitsplätze redet, dann kommt
man an dem Thema Innovationen nicht vorbei. Sie haben Recht - das sollte man ehrlicherweise zugeben -:
Wir sind mit unserem ersten Anlauf im Bereich der Innovationen nicht so weit gekommen, wie wir wollten,
weil andere Dinge wichtiger waren. Aber das bedeutet
nicht, dass wir keinen zweiten Anlauf nehmen werden.
Bildung und Forschung müssen die zentralen Themen
bleiben, wenn Deutschland wettbewerbsfähig bleiben
soll. Deswegen müssen wir uns hier anstrengen - das tun
wir auch - und alle müssen mitmachen. Wir haben dafür
gesorgt, dass Professoren nach ihrer Leistung bezahlt
werden können. Alle strengen sich offenbar an, bis auf
das Land Bayern, das keine entsprechenden Neuregelungen erlassen hat. Aber in allen anderen Bundesländern
sind inzwischen Gesetze in Kraft, die diese Möglichkeit
eröffnen. Natürlich kommt es ebenfalls darauf an, dass
wir Geld in die Hand nehmen, damit aus klugen Erfindungen Produkte werden, mit denen man Geld verdienen
kann. Wir müssen im zweiten Anlauf versuchen, das zu
erreichen. Aber das ist nicht alles.
Wir müssen auch Geld in die Hand nehmen, damit
das, was Lenin einmal richtigerweise gesagt hat - lernen,
lernen und nochmals lernen -, real wird. Ich möchte in
diesem Zusammenhang noch etwas sagen, das nichts mit
dem Bundeshaushalt zu tun hat. Bis 2008 beträgt das Volumen der Eigenheimzulage etwas über 6 Milliarden Euro. Natürlich können Bund und Länder jeweils
3 Milliarden Euro dafür ausgeben. Aber die Länder
könnten mit ihrem Anteil bis 2008 auch 50 000 neue
Stellen für Lehrerinnen und Lehrer schaffen. Ich finde,
es wäre ein gutes Signal, wenn wir das gemeinsam
schaffen könnten. Wir wollen, dass die Lehrerinnen und
Lehrer an Schulen arbeiten können, die qualitativ gut
sind, die ein Lebensort sind und die allen und nicht nur
denjenigen Kindern helfen, die im dreigliedrigen Schulsystem sowieso die besten Chancen haben, weil ihre Eltern ein dickes Portemonnaie haben.
({28})
Noch ein Wort zu dem Vorschlag der FDP, durch
Streichung der Eigenheimzulage Steuersenkungen zu finanzieren: Ich sage Ihnen ganz offen, dass dies denjenigen Eltern, die die meisten Kinder haben und deren Einkommen sich am unteren Rand bewegen, leider nichts
nutzen wird. Es geht vielmehr darum, dass alle Kinder
eine gute Ausbildung bekommen und dass Bildung nicht
vom Geldbeutel der Eltern abhängt. Mir leuchtet es nicht
ein, dass es richtig sein soll, dass auf der einen Seite die
Kinder der Gutverdienenden mit Bobby Cars durch die
Wintergärten der Vorstadtvillen fahren und dass auf der
anderen Seite die Chance nicht genutzt wird, eine gute
Schule für alle zu schaffen. Auf Letzteres kommt es an.
50 000 neue Stellen für Lehrerinnen und Lehrer in
Deutschland wären eine echte Innovation und ein Schritt
auf dem Weg zu einer Bildungsrevolution.
({29})
Weil ich der Auffassung bin, dass wir die Probleme
dort, wo sie auftreten, anpacken sollten, sage ich: Die
Idee von Renate Schmidt, ein Elterngeld einzuführen,
ist richtig. Dazu gibt es viel Kritik - auch bei uns, in den
eigenen Reihen -, weil sich natürlich die Frage stellt, ob
das gerecht ist. Ich sage: Ja, das ist gerecht. Man kann
sich natürlich auch zurücklehnen und sagen: Gut, wenn
die Akademikerinnen keine Kinder mehr bekommen,
dann müssen eben mehr Kinder aus Sozialhilfefamilien
und mehr Arbeiterkinder Akademiker werden. Auch das
ist richtig und dafür muss man sorgen, zum Beispiel
durch das, was ich vorhin angesprochen habe, nämlich
durch die Verbesserung unserer Schulen.
Aber es ist eben auch richtig, dass sich 40 Prozent der
Akademikerinnen heute entgegen ihren eigenen Wünschen nicht für Kinder entscheiden. Darauf gibt es zwei
Antworten. Die erste Antwort heißt: Kinderbetreuung.
Dafür tun wir etwas und dafür müssen wir etwas tun. Die
zweite Antwort soll aus meiner Sicht heißen: ein einkommensabhängiges Elterngeld. Dieses einkommensabhängige Elterngeld kann dazu führen, dass der Schritt,
sich für das erste Kind zu entscheiden, leichter wird. Ich
finde, wir sollten dazu beitragen.
Wir sollten übrigens auch dafür sorgen, dass die Väter
ihren Anteil tragen. Sie reden ja immer gern davon, wie
schön es ist und wie viel Spaß es macht, Kinder zu haben. Ladys, sagt den Jungs: Es ist nicht nur schön, es
macht nicht nur Spaß, sondern es rechnet sich auch. Dafür ist das Elterngeld gut.
({30})
Ich komme zum Schluss. Frau Merkel - wir alle haben lange auf Ihre Rede gewartet -,
({31})
Sie haben sich im letzten Jahr zu verantwortungsbewusster und verantwortungsvoller Politik geäußert. Ich muss
Ihnen ehrlich sagen: Sie haben dazu einen Anlauf genommen und manches ist gemeinsam auf den Weg gebracht worden. Sie haben Anläufe genommen, um Gesetze mit zu beschließen, und das war gut so. Aber die
Anläufe, die Sie genommen haben, um am Ende auch zu
einer verantwortungsvollen Politik zu stehen, sind leider
gescheitert. Ich bedauere das sehr.
Es gibt noch einen, der das sehr bedauert: Kurt
Biedenkopf. Er sagt: Wichtig ist, dass die verantwortlichen Politiker zu dem stehen, was sie für richtig halten.
Sie haben die Reformen mit großer Mehrheit im Bundestag beschlossen. Sie haben sie nach langen Beratungen
im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat gebilligt.
Jetzt müssen Sie auch vertreten, was sie beschlossen haben. - Sagen Sie das Herrn Milbradt! Sagen Sie das den
CDU-Landräten! Sagen Sie das Herrn Rüttgers! Sagen
Sie das allen anderen, die heute auf der Straße herumlaufen und verkünden: Irgendwie war es doch nicht so gemeint! Wer eine verantwortungsvolle Politik machen
will, wer verantwortungsvolle Opposition machen will,
der ist in der Pflicht, diese Verantwortung bis zum Ende
mitzutragen;
({32})
sonst ist er nicht glaubwürdig. Die Frage der Glaubwürdigkeit wird im Jahre 2006 entscheidend sein, und zwar
- ich bin ganz sicher - nicht zu Ihren Gunsten.
Vielen Dank.
({33})
Das Wort hat jetzt die Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, Frau Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
in der Mitte dieser Legislaturperiode. Das ist die Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen. An einem solchen
Tag, Herr Bundeskanzler, muss man den Realitäten
schon ins Auge blicken. Sie haben vor zwei Jahren in Ihrer Regierungserklärung gesagt - ich zitiere -:
Das Ziel unseres Weges ist klar: ein Leben reicher
an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten und
Arbeitsformen, reicher an Dienstleistungen und
Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen sowie an
Kultur und Sicherheit, aber durchaus auch reicher
an Einkommen und Vermögen für alle.
In der Tat, Herr Bundeskanzler, sind die meisten Menschen in Deutschland reicher geworden: reicher an Enttäuschungen über gebrochene Versprechen, reicher an
bitteren Erfahrungen über Tricksereien in der Arbeitslosenstatistik, über Neuverschuldung jenseits der Verfassungsgrenze, über Pleiterekorde, über fehlende Ausbildungsplätze, über zunehmende Bürokratie.
({0})
Die Menschen in diesem Land sind auch ärmer geworden: ärmer an Hoffnung in eine Politik aus einem Guss
durch diese Bundesregierung und - das ist vielleicht das
Bedrückendste - ärmer an Vertrauen in die Gestaltungskraft der Politik insgesamt.
({1})
Das ist die Halbzeitbilanz und das ist die Bilanz nach
sechs Jahren Rot-Grün.
({2})
Das Debakel wird komplett, wenn Sie selbst - Sie
selbst! - Ihre Politik als schlimm bezeichnen. Ja, Sie bezeichnen sie als schlimm. Oder wie soll man es verstehen, wenn Sie sagen, mit der Union würde es noch
schlimmer? So etwas kann nur sagen, wer seine eigene
Politik als schlimm bezeichnet, meine Damen und Herren.
({3})
Was kann das sein? Ist es vielleicht die raffinierte
Umsetzung und Weiterentwicklung des lafontaineschen
Satzes auf dem legendären Mannheimer Parteitag, der da
lautet: „Nur wer sich selbst begeistert, kann andere begeistern“? Ist das, was Sie da betreiben, sozusagen Negativstimulierung: schlimm, schlimmer, am schlimmsten? Wie wollen Sie die Menschen in diesem Land von
etwas begeistern, was Sie selber als schlimm bezeichnen, und mitnehmen? Das geht nicht!
({4})
Viele sehen die Widersprüchlichkeiten und wissen überhaupt nicht, mit wem sie es nun zu tun haben, mit
Schröder, mit Müntefering, mit Clement oder mit Maas,
mit Steinbrück oder mit Platzeck;
({5})
vielleicht gibt es immer noch ein ganz kleines bisschen
Lafontaine als Restversicherung.
Herr Bundeskanzler, Sie sitzen bei der Klausurtagung. Sie verteidigen überall tapfer, dass das Arbeitslosengeld II in Ost und West unterschiedlich ist. Dann
ist es Sonntag und Ihr Minister für den Aufbau Ost wirbt
dafür, dass man es in Ost und West doch eigentlich auch
wieder gleichmachen könnte.
Herr Bundeskanzler, schauen Sie sich einmal die
sächsischen Landtagsabgeordneten der Sozialdemokratie an, zum Beispiel Herrn Karl Nolle. Herr Karl Nolle
war es, der gesagt hat: Es wird mit Hartz IV zu Massenumsiedlungen in leer stehende unsanierte Plattenbauten
kommen, Armenghettos werden entstehen, ein sozialpolitischer Super-GAU. Das ist die Werbekampagne der
sächsischen SPD für Hartz IV. Sie haben Ihren Laden
einfach nicht im Griff, meine Damen und Herren! Das
ist die Wahrheit und das kommt zum Tragen.
({6})
Wie wollen Sie den Menschen denn erklären, dass Sie
jahrelang mangelndes Wachstum mit schwächelnder
Weltkonjunktur begründet haben, dann aber, wenn die
Weltwirtschaft boomt, die Realeinkommen in Deutschland trotzdem nicht steigen? Unser Land wird doch in
der Liste des Pro-Kopf-Volkseinkommens heruntergereicht. Dafür haben Sie Entschuldigungen, aber Sie können es nicht erklären.
Es ist doch richtig - Herr Eichel hat gestern darauf
hingewiesen und Sie haben es auch getan -: Wir alle
freuen uns darüber, dass Deutschland Exportweltmeister
ist.
({7})
Wir alle profitieren davon. Aber es ist ganz offensichtlich, dass das allein nicht ausreicht. Wir müssen es
schaffen, die Binnenkonjunktur wieder in Gang zu bringen und auch intern Wachstum zu haben. Da mangelt es.
Darüber sagen Sie kein einziges Wort, meine Damen und
Herren.
({8})
Seit sechs Jahren reden Sie nun Jahr für Jahr davon,
dass sich im nächsten Jahr die Beschäftigungssituation
mit Sicherheit verändern wird, dass auch in der Beschäftigungsstatistik der Aufschwung sichtbar wird. In den
vergangenen 731 Tagen, seit die Hartz-Veranstaltung im
Französischen Dom stattfand, sind in Deutschland jeden
Tag 1 547 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze
verloren gegangen. Diese Widersprüche kennen die
Menschen.
Wie wollen Sie den Menschen erklären, dass Sie jedes Jahr hoch und heilig versprechen, einen Haushalt
vorzulegen, der die Maastricht-Kriterien wirklich einhalten wird? Wir haben Jahr für Jahr erlebt, dass nach wenigen Wochen, wenigen Monaten alles, was uns Herr
Eichel erzählt - Herrn Eichel war gestern unwohl; man
hat es an jeder Faser gesehen -, Makulatur ist. Er hat uns
im September 2003, vor einem Jahr, gesagt, die Neuverschuldung werde 24 Milliarden Euro betragen. Er muss
heute zugeben, dass es 40 Milliarden Euro sind. Es
könnten gut mehr sein. 2002 waren es 30 Milliarden
Euro Neuverschuldung, 2003 38 Milliarden Euro, dieses
Jahr sind es über 40 Milliarden Euro Neuverschuldung.
Wer soll Ihnen überhaupt noch etwas glauben, Herr Bundeskanzler? Das müssen Sie doch verstehen.
({9})
Dieser Mangel an Glaubwürdigkeit, dieses Weghören,
weil man es nicht mehr hören kann und weil man weiß,
es stimmt nicht, das genau ist Ihr innenpolitisches Dilemma, und zwar Ihr ganz ureigenes rot-grünes innenpolitisches Dilemma.
({10})
Herr Bundeskanzler, Sie haben über die Außenpolitik
gesprochen und dabei die richtigen Worte gefunden. Ich
möchte deshalb ausdrücklich sagen, wir alle sind entgeistert und entsetzt über das Geiseldrama in Ossetien.
Wir alle haben die grauenhaften Bilder von den Kindern,
den Eltern und Großeltern gesehen. Ich füge ganz persöhnlich an: Manche Debatte, die wir in diesem Hause
führen, relativiert sich angesichts solcher Bilder. Wir sehen natürlich die Herausforderung; dabei gibt es viele
Gemeinsamkeiten: Der Terrorismus ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Ich persönlich sage sogar,
die Bekämpfung dieser Herausforderung ist schwieriger
als die Überwindung des Kalten Krieges, weil wir es
nicht mit übersichtlichen Abschreckungsstrukturen, sondern mit Gruppen von fundamentalistischen Kräften zu
tun haben, die bereit sind, ihr eigenes Leben bedingungslos aufs Spiel zu setzen, um westliche, offene, demokratische Gesellschaften zu vernichten. Mit dieser Herausforderung müssen wir uns auseinander setzen. Wir
wissen, dass jeden diese terroristischen Attacken treffen
können. Wir wissen, dass niemand vor ihnen gefeit ist.
Deshalb müssen wir uns - keiner hat eine Patentlösung mit dieser Frage auseinander setzen. Niemand hat etwas
dagegen - im Gegenteil -, wenn deutsche Außenpolitik
dabei eine wichtige, konstruktive Rolle spielt. Das ist
unser aller gemeinsames Anliegen.
({11})
Aber, Herr Bundeskanzler, den Worten und den internationalen Aktionen müssen natürlich auch Taten folgen. Wenn es richtig ist, dass politische Lösungen gefunden werden müssen, dann ist es auch richtig, dass das
Budget für auswärtige Kulturpolitik nicht zum Sparschwein der Nation gemacht werden darf. Dann ist es
auch richtig, dass die Situation der Goethe-Institute verbessert werden muss und nicht verschlechtert werden
darf. Dann ist es auch richtig, dass die Deutsche Welle,
die ein wirklicher Übermittler von Kulturgut ist, nicht jedes Jahr um ihren Etat bangen muss. Es muss doch an
Ihren Taten ersichtlich sein, was Sie wollen.
({12})
Es ist auch richtig, dass dieses Haus in großer Mehrheit gemeinsam mit Ihnen immer wieder den Einsatz unserer Bundeswehrsoldaten für mehr Sicherheit und für
mehr Frieden unterstützt. Das waren keine ganz einfachen Diskussionen, aber wir alle stehen dazu, dass wir
uns dieser internationalen Herausforderung stellen müssen. Aber, Herr Bundeskanzler, wenn wir so etwas wie
ein Parlamentsheer haben - so hat es das Bundesverfassungsgericht ja formuliert -,
({13})
dann hat dieses Parlament - dazu hätte ich heute gerne
von Ihnen ein Wort gehört - auch einen Anspruch auf
lückenlose Information, wenn einmal etwas nicht geklappt hat. Bezüglich der Vorgänge in Prizren haben wir
nicht die lückenlosen Informationen bekommen, die wir
gerne erhalten hätten.
({14})
Auch Sie müssen sich doch mit der Tatsache auseinander setzen, dass jedes Land, das neues Mitglied der
NATO werden möchte, 2 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in den Verteidigungsetat stecken soll. Der
entsprechende Etat Deutschlands liegt bei 1,4 Prozent,
und das mit fallender Tendenz. Das heißt nichts anderes,
als dass wir, wenn wir heute der NATO beitreten wollten, kaum die Voraussetzungen erfüllen würden. Damit
geht von uns keine Vorbildwirkung aus. In diesem Bereich muss gearbeitet werden. Unsere Soldaten müssen
in den Stand versetzt werden, ihre Aufgaben nach innen
und außen ausreichend erfüllen zu können. Hier besteht
Handlungsbedarf, Herr Bundeskanzler. Darauf werden
wir immer wieder hinweisen.
({15})
Gerade im Kampf gegen den Terror - meine Damen
und Herren, da bin ich mir ganz sicher - darf es keine
Doppelmoral geben. Ich sage Ihnen, es ist nicht in Ordnung, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, nachdem die
OECD und die Kommission der Europäischen Union
den Verlauf der Parlamentswahlen in Tschetschenien kritisiert haben, keine Notwendigkeit sehen, ein kritisches
Wort zur Unterstützung dieser Institutionen zu sagen.
Herr Bundeskanzler, das ist nicht in Ordnung.
({16})
Im Hinblick auf die USA sagen Sie, unter Freunden
müsse man sich auch kritisch die Meinung sagen können. Ich sage: Okay. Im Hinblick auf Russland aber heißt
es: Wir brauchen keine Leistungsbilanz vor den Mikrofonen. - Das ist ein Messen mit zweierlei Maß. Das ist
eine Doppelmoral, die im Kampf gegen den Terrorismus
nicht hilft.
({17})
Ich sage es Ihnen auch aus der ganz persönlichen Erfahrung von jemandem, der früher in der DDR gelebt
hat: Es ist eine unglaubliche Ermutigung für all diejenigen, die von innen versuchen, etwas gegen diktatorische
Systeme oder Tendenzen zu unternehmen, wenn sie von
außen dafür ein Stück Unterstützung bekommen. Bitte
vergessen Sie das angesichts unserer eigenen Geschichte
nie!
({18})
Gerade in Zeiten großer Herausforderungen muss Politik wahrhaftig und darf sie nicht taktisch sein. Was für
die Außen- und Sicherheitspolitik gilt, das gilt auch für
die Europapolitik. Deshalb hinterlässt die Art und Weise,
wie Ihr Parteivorsitzender, Herr Müntefering, mit einem
möglichen Referendum zum EU-Verfassungsvertrag
umgeht, einen mehr als faden Beigeschmack. Sie verbinden das Ganze mal eben schnell mit einem Junktim hinsichtlich weiterer Plebiszite. Im Mai haben Sie noch
erklärt, dass Sie eine ablehnende Haltung zum Volksentscheid haben, der Bundesaußenminister genauso. Ich
finde, Sie entlarven Ihre ganze Initiative damit als rein
taktisch,
({19})
und zwar im Gegensatz zu denen, wie zum Beispiel die
Kollegen der FDP, die einen Volksentscheid seit langem
aus sachlichen Erwägungen heraus richtig finden.
({20})
Sie machen Taktik. Ich rate Ihnen: Wenn Sie diesen Eindruck widerlegen wollen, dann bringen Sie, bitte schön,
Ihre Initiativen auf Punkt und Komma genau in die Föderalismuskommission oder in den Deutschen Bundestag ein; dann sind wir bereit, darüber zu diskutieren und
das Für und Wider abzuwägen. Meine Position ist bekannt: Ich habe allergrößte Bedenken. Aber wir stellen
uns der Diskussion, jedoch nicht, wenn sie taktisch motiviert ist und ein Hü und Hott auf dem Rücken von
Europa und der Außenpolitik stattfindet.
({21})
Bundespräsident Köhler hat in seiner Antrittsrede am
1. Juli gesagt, dass Deutschland sich kein einziges verlorenes Jahr mehr leisten könne. Ich erspare Ihnen jetzt die
Rückschau auf die ersten acht Monate dieses Jahres, in
denen schon wieder viel Zeit verloren wurde. Aber zwei
Jahre nach dem In-Kraft-Treten der Hartz-Reform kann
man nicht einfach über die Folgen hinwegsehen und
keine Bilanz ziehen. Das hätte ich von Ihnen schon erwartet. Sie sagen doch immer, wenn man Fehler mache,
dann müsse man auch dazu stehen.
Das Programm „Kapital für Arbeit“, der volksnah
genannte Jobfloater, sollte pro Jahr 120 000 Jobs schaffen, das macht in zwei Jahren 240 000 Jobs. Wissen Sie,
wie viele geschaffen worden sind? 12 000 Jobs in zwei
Jahren! Völliges Versagen eines hochgejubelten Instruments; das sollten wir uns wirklich merken.
({22})
Wie viele Ich-AGs das zweite Jahr überleben, weiß
keiner. Da gibt es grauenhafte Prognosen. Aber dass Sie
selbst die Notbremse ziehen mussten, dass diese IchAGs eine Konkurrenzveranstaltung für wettbewerbsfähige Betriebe bedeuten,
({23})
dass in sie unglaublich viel Geld geflossen ist - es ist
doch das Mindeste, dass Sie das einmal kritisch analysieren und sagen, dass andere Instrumente benötigt werden. Dabei habe ich die Personal-Service-Agenturen
noch nicht einmal erwähnt.
({24})
Meine Damen und Herren, Hartz hat gesagt - man
vergisst es ja fast -, man könne binnen 36 Monaten die
Zahl der Arbeitslosen um 2 Millionen senken. Falls Sie
mit diesen Aussagen noch irgendetwas zu tun haben
wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass nicht täglich
1 500 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren gehen, sondern dass 6 415 neue entstehen, damit wir dieses Ziel innerhalb der 36 Monate
noch erreichen. Es wäre schön gewesen, Sie hätten uns
gesagt, ob Sie das für realistisch halten. Auch das ist etwas, bei dem die Menschen verzweifelt sind, weil es
nicht klappt.
({25})
Der Herr Bundespräsident hat Recht: Wir können uns
kein einziges verlorenes Jahr mehr leisten. Deshalb sind
für die Zukunft, über die Sie im Übrigen bemerkenswert
wenig gesprochen haben, drei Dinge von allergrößter
Bedeutung.
Erstens. Die jeweils beschlossenen Maßnahmen müssen vernünftig erklärt werden, was eigentlich logisch ist.
Aber Sie haben die Flucht nach vorne angetreten und uns
gefragt, ob wir noch wüssten, wann Hartz IV beschlossen wurde. Als wir im Winter im Vermittlungsausschuss
zusammensaßen - Herr Eichel hat sich dabei sperrig verhalten und Sie haben falsche Versprechungen gemacht -,
hat man gesagt, es würde ein Optionsmodell geben.
Dann haben wir monatelang darüber verhandelt, dass die
Kommunen die Wahl haben sollen, dieses Modell, wenn
sie es wollen, zu nutzen. Was haben wir dann irgendwann im Juni bekommen? In einzelnen Fällen, 69 an der
Zahl, dürfen die Kommunen dieses Modell anwenden.
Aber es gibt heute 130 bis 140 Kommunen, die dies gern
tun würden. Für dieses schlappe Optionsmodell haben
wir bis Juni gebraucht.
({26})
Gleichzeitig wollte Herr Eichel das Geld für die Kommunen nicht herausrücken. Das ist die Ursache dafür,
dass wir so spät fertig geworden sind.
({27})
Es war außerdem aberwitzig - Herr Kauder hat Sie
von dieser Stelle aus darauf hingewiesen -, dass Sie erst
diese sehr „volksnahen“ Fragebögen von 16 Seiten verschicken und dann in den Urlaub fahren. Als Sie zurückkamen, haben Sie gesagt, dass wir jetzt eine Infokampagne brauchen. So können Sie die Menschen nicht
überzeugen. Sie zu überzeugen ist Ihre und nicht unsere
Verantwortung. Wir tun das Unsrige. Aber Sie müssen
das Ihrige tun.
({28})
Über diese psychologisch geniale Leistung, Menschen aus Bonn, die ebenfalls ein schweres Schicksal haben, einzusetzen, damit sie den vielen Arbeitslosen in
den neuen Bundesländern erklären, wie man die Fragebögen ausfüllt, müssen Sie sich mit sich selbst auseinander setzen; das erklärt Ihnen vielleicht einmal ein Ostdeutscher.
({29})
Zweitens. Es muss handwerklich sauber gearbeitet
werden. Da haben Sie sich nun zum zweiten Mal mit
großem Pomp in Neuhardenberg versammelt und das
Zauberwort Controlling eingeführt. Sie haben hin und
her diskutiert, ob man vielleicht doch mit elf Auszahlungsterminen klarkommt, um dann irgendwann festzustellen, dass man natürlich zwölf Termine im Jahr für die
Auszahlung dieser neuen Leistung braucht. Etwas anderes wäre niemandem zu erklären. Das alles hätten Sie im
Frühsommer haben können. Dann wäre uns allen sehr
viel Verdruss erspart geblieben und wir brauchten nicht
wieder nachzubessern. Daran leiden die Menschen in
Deutschland.
({30})
Sie haben jetzt endlich einen Vorschlag gemacht, wie
man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Besserstellung von Familien in der Pflegeversicherung umsetzen kann. Aber wer geglaubt hatte, nach der monatelangen Diskussion gäbe es irgendeinen tragfähigen und
zukunftsfähigen Vorschlag für eine Weiterentwicklung
der Pflegeversicherung, der sah sich getäuscht. Frau
Schmidt ist so sehr im Zeitverzug, dass sie es nicht einmal mehr schafft, dass alle Rentner gleich behandelt
werden, wenn das Gesetz am 1. Januar in Kraft tritt. Ich
wünsche Ihnen viel Vergnügen vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der unterschiedlichen Behandlung
der Rentnerinnen und Rentner abhängig von ihrem Geburtsjahrgang.
({31})
Diese Schwierigkeiten gibt es nur, weil Sie nicht rechtzeitig etwas unternommen haben. Sie hatten für die Umsetzung des Urteils doch jahrelang Zeit.
({32})
Lassen Sie mich auch ein Wort zum Zahnersatz sagen.
({33})
Unser Vorschlag sah anders aus. Wir haben einen Kompromiss geschlossen. Zu diesem Kompromiss haben wir
immer gestanden, Herr Bundeskanzler. Aber der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion
({34})
- ich liefere das Zitat gerne nach - hat bereits wenige
Tage nach dem Kompromiss in einer unerträglichen Art
und Weise zu verstehen gegeben, dass er überhaupt nicht
die Absicht hat, sich an diesen Kompromiss zu halten.
({35})
Damals habe ich gedacht: der Bundeskanzler - ein
Mann, ein Wort.
({36})
Ich habe an den Kompromiss geglaubt. Dann sind Monate verstrichen. Im Mai haben unsere Kolleginnen und
Kollegen die Bundesgesundheitsministerin darauf aufmerksam gemacht, dass es im Gesetz eine Lücke gibt. Es
ist nämlich nicht geregelt, wie die Beiträge der Rentner
und der Sozialhilfeempfänger eingezogen werden sollen.
Dann ist von Mai bis August wiederum Zeit verstrichen.
Danach hat uns die Frau Bundesgesundheitsministerin
erklärt, dass eine Regelung ohne bürokratischen Aufwand nicht möglich ist. Herr Bundeskanzler, hätte es
diese Äußerung im Juli vergangenen Jahres nicht gegeben und hätte Frau Schmidt im Mai dieses Jahres schnell
reagiert, dann hätte ich vielleicht nicht den Argwohn,
dass hinter dieser Sache nicht mehr steckt als nur Bürokratie.
({37})
Aber so habe ich diesen Argwohn und das sollten Sie
verstehen; denn das ist für die Verlässlichkeit im politischen Umgang von Wichtigkeit.
({38})
Dennoch werden wir, um das Ganze nicht wieder auf
dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger auszutragen,
konstruktiv versuchen, eine Lösung zu finden. Aber uns
hier vorzuwerfen, wir hätten Zeitvergeudung betrieben,
ist wirklich jenseits der Realität. Das muss man einfach
zur Kenntnis nehmen.
Drittens müssen folgende Fragen beantwortet werden
- Herr Bundeskanzler, das ist vielleicht das Wichtigste -:
Wie lohnen sich all die Veränderungen und all die Reformen für die Menschen? Was steht am Ende des Weges?
Was für eine Bundesrepublik Deutschland, was für ein
Deutschland möchte ich? Was kommt als Nächstes? Wir
haben Ihnen eben fast 60 Minuten zugehört. Ich muss sagen: Fehlanzeige! Sie sind - ich glaube, das ist das Kernproblem - nicht in der Lage, zu beantworten, wo das
Ganze hinführen soll.
({39})
Deshalb flüchten Sie, wenn es nicht weitergeht, immer wieder in Schlagworte: Mindestbesteuerung, Ausbildungsplatzabgabe, Mindestlohn oder EU-Referendum. Das alles ist nicht ernst gemeint; aber Begriffe
werden wie ein Hamster im Laufrad in die Welt gesetzt.
Dabei denken Sie nicht darüber nach, wohin es geht.
({40})
Wenn man es genau beobachtet, dann wird der zeitliche
Abstand zwischen den einzelnen Schlagworten immer
kürzer. Wissen Sie, was das erzeugt? Das erzeugt bei der
Bevölkerung Leere, Wahlenthaltung und zum Schluss
Flucht in die radikalen Parteien. Das ist die Wahrheit.
({41})
In besonderer Weise beschäftigt uns in diesen Tagen
die Lage in den neuen Bundesländern. Wir alle haben
mit Erstaunen und Sorge - das sage ich ganz persönlich - gesehen, dass die Demonstrationen gerade in den
neuen Bundesländern besonders gut besucht sind. Eine
der Antworten des Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten heißt, dass wir nun nicht mehr von Ost und West
sprechen sollen. Ich bin der festen Überzeugung, dass
Beschönigen nicht die Antwort ist, die wir brauchen.
({42})
Es ist keine Antwort für diejenigen, die aus berechtigten
Sorgen demonstrieren. Es ist auch keine klare Absage an
diejenigen, die diese Demonstrationen instrumentalisieren wollen.
Herr Bundeskanzler, wir haben viel geschafft. Ich bin
noch heute der Meinung, dass die grundsätzlichen Weichenstellungen von 1989/1990 richtig erfolgt sind. Ich
bin im Übrigen auch der Meinung, dass es gut war, dass
Helmut Kohl Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland war und nicht Oskar Lafontaine oder sonst
wer.
({43})
Aber ich sage auch ganz freimütig, dass wir uns alle,
was die zeitliche Dimension der Aufgabe anbelangt, ein
Stück getäuscht haben. Nun müssen wir heute feststellen, dass ein riesiges Stück des Weges geschafft ist, dass
aber nach wie vor strukturelle Unterschiede zwischen
Ost und West bestehen. Denn in den ostdeutschen Ländern werden pro Kopf flächendeckend nur zwei Drittel
des Bruttoinlandsprodukts der westdeutschen Länder erreicht. Das ist ein Unterschied zu den von mir durchaus
wahrgenommenen punktuellen Schwierigkeiten auch in
den alten Bundesländern.
Deshalb müssen wir, wenn wir die Menschen auf einen demokratischen Weg mitnehmen wollen, Antworten
auf folgende Fragen haben: Was ist bei einer Arbeitslosigkeit von 24 Prozent wie bei mir in Stralsund die Perspektive für die Menschen? Was müssen wir dort anderes tun als in den übrigen Regionen?
Herr Bundeskanzler, 1998 haben Sie den Aufbau Ost
zur Chefsache gemacht. In der Regierungserklärung vor
zwei Jahren war Ihnen Ostdeutschland noch ganze vier
Sätze wert. Danach kam in acht weiteren Reden zur
Lage in Deutschland Ostdeutschland nur ein einziges
Mal vor - und das nur, als Sie sagten, was Sie nicht ändern wollen. Das ist der Befund der Chefsache. Genau
aus diesem Grund ist natürlich Enttäuschung vorhanden.
Deshalb sage ich wieder: Lassen Sie uns nicht so tun, als
ob Gleiches schon vorhanden wäre; es gilt viel Gemeinsames und niemand will spalten, aber es nicht identisch.
Die Menschen in den neuen Bundesländern spüren,
dass die Schere zwischen Ost und West seit 1998 wieder
aufgegangen ist, und sie verlangen eine Antwort auf die
Frage: Was könnt ihr tun und was tut ihr, damit sie langsam wieder zugeht? Sie wollen nicht alles sofort, sie
wollen nur eine Antwort auf diese Frage.
({44})
Man darf nicht monatelang Verpflichtungsermächtigungen, die Investitionen in Ostdeutschland auslösen
könnten, sperren. Man muss auch sagen: Gebt den neuen
Bundesländern die Chance, die Regelungsdichte, die
überall in Deutschland vorhanden ist, wo immer es EUrechtlich möglich ist, ein bisschen zu lockern, damit sie
schneller vorankommen. Das ist der Wunsch der neuen
Bundesländer. Setzen Sie sich einmal daran und tun Sie
etwas!
({45})
Das Gemeinsame an der Botschaft für Ost und West
ist im Übrigen, dass wir auf gar keinen Fall bei Hartz IV
stehen bleiben dürfen. Hartz IV, das Sie wie im Übrigen
auch ich - wie die allermeisten bei uns - tapfer verteidigen,
({46})
hat einen richtigen Befund: Wir können es uns finanziell
nicht leisten, dauerhaft bestimmte Anreize für Arbeitsaufnahmen nicht zu setzen. Unser Ziel muss aber sein,
die Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. Die
Differenzen, zum Beispiel mit einem Ministerpräsidenten wie Georg Milbradt, bestehen nicht über die Frage
der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
({47})
sondern darüber, ob wir die richtigen Anreize für die
Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt geben. Darin unterscheiden wir uns.
({48})
Wir sind nicht unterschiedlicher Meinung darüber,
dass der 1-Euro-Job eine Möglichkeit sein kann. Aber
der 1-Euro-Job ist nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Deshalb ist die alles überspannende Frage: Wie schaffen
wir es, mehr Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt
zu schaffen? Über die Rolle der Lohnkostenzuschüsse
sind wir unterschiedlicher Meinung. Das kann man auch
ganz freimütig sagen.
Herr Bütikofer hat neulich auf Frankreich hingewiesen. In Frankreich müssen die Betriebe bei den unteren
Lohngruppen keine Sozialversicherungsbeiträge abführen. Ich halte das ordnungspolitisch für keinen guten
Weg. Wir haben das Problem erkannt und gesagt, wir
brauchen die Lohnkostenzuschüsse, um nicht Arbeitsplätze nach Polen, Tschechien und inzwischen auch nach
Dänemark und Holland abwandern zu lassen. Wir brauchen eine Lösung, damit auch die einfachen Arbeiten in
Deutschland bleiben. Dieses Thema wird auf der Tagesordnung bleiben. Das ist doch schon jetzt klar.
({49})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Eigenschaft
als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland die
Richtlinien dieses Landes zu bestimmen. Statt Ihre
Richtlinienkompetenz wahrzunehmen, fahren Sie oft
Schlangenlinien und das macht die Sache so unsicher.
Die Deutschen lieben ihr Land, sie sind auch prima
drauf. Das ist überhaupt keine Frage; keiner von uns redet das schlecht.
({50})
- Wir regieren in vielen Ländern. Schauen Sie sich die
Bilanzen der unionsregierten Länder an. Da geht es allemal besser zu als in den sozialdemokratisch regierten
Ländern.
({51})
Die Menschen erwarten, dass ihnen die Politik eine
klare Vorstellung davon vermittelt, was kommt. Ich kann
nur sagen: Wer sein Land liebt und ein wirklicher Patriot
ist, der muss verstehen, dass Patriotismus auch bedeutet
- so sehen wir das -, Vorsorge für die Zukunft zu treffen.
Weder dieser Haushalt noch anderes von Ihnen ist Vorsorge für die Zukunft; deshalb müssen wir heute darüber
sprechen, welche nächsten Schritte wir tun müssen. Wir
können doch nicht bei Hartz IV stehen bleiben. Wir können Hartz IV doch nicht einfach umsetzen und hoffen,
dass uns der Wind der Weltkonjunktur hilft.
Mir haben Ihre nächsten Schritte gefehlt und deshalb
will ich sie aus meiner Sicht ansprechen:
({52})
Wir brauchen trotz der Schritte, die wir bereits gegangen
sind, eine Weiterentwicklung des Arbeitsrechts. Wir
sind der Meinung, dass das, was Siemens gemacht hat,
richtig und mit Blick auf die Arbeitszeit gut ist. Dort war
viel Vernunft bei den Betriebsräten und letztlich auch bei
den zuständigen Gewerkschaften vorhanden.
Deutschland lebt aber auch ganz stark vom Mittelstand. Die mittelständischen Unternehmen haben jedoch
nicht die Möglichkeit, im Ringen mit den Gewerkschaften für sich solche flexiblen Lösungen herauszuarbeiten.
Wir brauchen daher Rechtssicherheit. Wir brauchen weiterhin die betrieblichen Bündnisse für Arbeit gerade für
kleine und mittlere Betriebe, damit auch sie die Chance
haben, flexibel auf unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen zu reagieren.
({53})
Wir wissen, dass die Gesundheitsreform, die wir gemeinsam beschlossen haben, erfreulicherweise wirkt. Ob
sie nun so gut wirkt, wie das jetzt jeden Tag beschrieben
wird, werden wir uns am Jahresende in Ruhe anschauen.
Aber sie wirkt. Wir wissen aber auch, dass das Gesundheitssystem mit dieser Reform noch nicht dauerhaft zukunftssicher gemacht ist. Nun hätte ich mir gewünscht,
dass Sie ein Wort zu Ihrer Zukunftsperspektive, zu der
Bürgerversicherung, der Sie sich wohl auch angeschlossen haben, sagen.
Tatsache ist, dass der Sachverständigenrat der Bundesregierung zwei Dinge in den Vordergrund gestellt
hat:
({54})
Er hat erstens gesagt: Wir müssen auf den demographischen Wandel reagieren. Das ist völlig richtig. Das haben sie richtig beschrieben. Zweitens hat er gesagt: Wegen der Globalisierung und des internationalen
Wettbewerbes müssen wir eine Entkoppelung der Sozialleistungen von den Lohnkosten bekommen. Das wird
die große deutsche Aufgabe der Zukunft sein.
({55})
Man müsste sich wenigstens mit der Tatsache auseinander setzen, dass der Sachverständigenrat sagt: Die
Bürgerversicherung kostet Arbeitsplätze, weil sie genau
diese Koppelung an den Lohn für noch mehr Menschen
vorsieht, während die Gesundheitsprämie Arbeitsplätze
schafft.
({56})
Sie brauchen es ja nicht zu glauben, sollten sich aber wenigstens einmal intellektuell damit auseinander setzen.
Genau deshalb entscheiden wir uns anders und sehen die
Zukunft in einem Prämienmodell. Diesen Wettstreit werden wir auch weiterhin mit Ihnen führen.
({57})
Frau Göring-Eckardt, Sie haben Aussagen zu einem
vereinfachten Steuersystem vermisst. Friedrich Merz hat
zusammen mit dem bayerischen Finanzminister Kurt
Faltlhauser am 7. März dieses Jahres einen ganz konkreten Vorschlag für eine erste und eine zweite Stufe eines
zukünftigen vereinfachten Steuersystems vorgelegt.
({58})
Ich habe dann im Frühjahr dem Bundeskanzler und
dem Bundesfinanzminister angeboten, dass wir uns in
einer gemeinsamen Aktion - meinetwegen auch außerhalb des parlamentarischen Verfahrens - genau diesen
Vorschlag vornehmen und noch in dieser Legislaturperiode etwas auf den Weg bringen. Herr Eichel, es geht
dabei nicht vorrangig um Entlastung, sondern um Transparenz und Vereinfachung. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger und wir sind dazu bereit, genau dies in
Angriff zu nehmen.
({59})
Was wird den Wohlstand in Deutschland langfristig
sichern? Sicherlich nicht die Minijobs, sicherlich nicht
die Hinzuverdienstmöglichkeiten und sicherlich nicht
die Lohnkostenzuschüsse. Unseren Wohlstand können
wir nur sichern - darum muss alles kreisen -, wenn wir
mehr Dinge können, die andere auf der Welt nicht können. Wir können einige Dinge, die andere nicht können.
Ich rede hier nichts schlecht. Wenn man aber trotz des
demographischen Wandels und des höheren Wettbewerbs den Wohlstand für 80 Millionen Einwohner erhalten möchte, muss man massiv in die neuen Forschungsbereiche einsteigen.
({60})
Sie haben - wie so oft - die richtigen Worte und
Überschriften gefunden: Jahr der Innovation! Das ist
prima, aber man fragt sich: Was ist daraus geworden?
Das ist die große Preisfrage. Wo sind die Richtungsentscheidungen? Ist der Haushalt dieses Jahres in seinen
Strukturen entsprechend umgeschichtet? Ich kann nichts
sehen. Sind die Institutionen wirklich auf Dynamik umDr. Angela Merkel
gestellt? Das ist mir verborgen geblieben. Was ist mit
messbaren Zielen? Sie reden von Mitteln für Forschungsinnovationen in Höhe von 3 Prozent. Der Haushalt der Bundesforschungsministerin in diesem Jahr ist
jedoch wieder auf das Niveau des Jahres 2002 zurückgefallen. Sie rechnen zwar die Kosten für die Ganztagsbetreuung hinein, kürzen bei der Hochschulbauförderung
und arbeiten mit lauter Tricks, aber der reine Forschungshaushalt ist auf das Niveau des Jahres 2002 zurückgefallen.
({61})
Wo haben Sie im Hochschulrecht denn für ein Stück
Freiheit gesorgt? Wir warten darauf, dass die ZVS aufgelöst wird. Die brauchen wir nach unserer Auffassung
nicht. Was ist mit dem Verbot von Studiengebühren? Es
gibt, Herr Bundeskanzler, keine Richtungsentscheidung,
die im Lande den Eindruck verbreitet: Jetzt geht es los!
Jetzt geht es ran! Jetzt müssen alle Forscher in Deutschland bleiben! Dieses Signal vermissen wir.
({62})
Ich glaube, Sie haben eines nicht verstanden: Innovationen haben einen ganz besonderen Charakter. Sie
kommen nicht, wenn man einfach nur ihren Namen laut
ruft. Innovationen brauchen ein bestimmtes Klima. Dieses Klima hat nicht etwas mit politischer Vorbestimmung, sondern mit Freiheit zu tun.
({63})
Deshalb sage ich Ihnen: Sie müssen Chancen eröffnen
und nicht Risiken betrachten. Aber Rot-Grün betrachtet
an viel zu vielen Stellen zuerst das Risiko und vergeudet
damit Chancen. Genau das ist der Unterschied zwischen
uns und Ihnen.
({64})
Natürlich können Sie alles ignorieren, sich alles
schönreden und sehr allgemein über Patente sprechen.
Aber man kann auch ganz konkret werden: Im OECDBericht zur Informations- und Kommunikationstechnologie belegen wir zum Beispiel bei den Patenten
Platz 14,
({65})
bei der Biotechnologie Platz 19. Sie können auch die
Stellungnahmen der Wissenschaft ignorieren. So sagt
zum Beispiel der Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Hacker, zum Gentechnikgesetz der Bundesregierung:
Sollte diese Haftungsregelung in Kraft treten,
würde die faktische „Innovation“ auf dem Gebiet
der grünen Gentechnik darin bestehen, dass diese
Arbeiten künftig außerhalb Deutschlands stattfinden.
({66})
Auch diese Aussage können wir ignorieren oder ernst
nehmen. Wir bieten Ihnen an, noch einmal genau über
diese Dinge zu sprechen. Denn es gibt überhaupt keinen
Zweifel daran, dass die Grüne Gentechnik einer der Bereiche ist, in denen in Zukunft Arbeitsplätze entstehen
und in denen Deutschland eine gute Tradition hat.
({67})
Übrigens brächten sie der Frau Entwicklungshilfeministerin gleichzeitig einen prima Ruf in der Welt ein, weil
wir etwas gegen die Welternährungsprobleme tun würden.
({68})
Herr Bundeskanzler, ich empfehle Ihnen einen Blick
in den Verkehrshaushalt. Denn es könnte ja doch sein,
dass Verkehrsinfrastruktur auch etwas mit Zukunft zu
tun hat. Aus unserer Sicht jedenfalls ist das so. Wie sieht
es dort aus? Selbst wenn die Mauteinnahmen kommen
sollten,
({69})
woran man ja gewisse Zweifel haben könnte - aber wir
wollen ja nichts schlecht reden; deshalb nehmen wir einmal an, dass die Einnahmen kommen -,
({70})
reicht der Verkehrshaushalt nicht aus, um die im Straßenbau begonnenen Projekte nächstes Jahr mit gleichem
Tempo fortzusetzen. Ihre Aussage dazu ist: kein neues
Projekt im Jahre 2005! Jedenfalls ist bis jetzt kein Geld
dafür vorgesehen. Ist das Ihre Zukunftsvorsorge für ein
Land, das mitten in Europa liegt und gute Verkehrsstrukturen braucht, Herr Bundeskanzler?
({71})
Deshalb werden wir uns in den nächsten zehn Jahren
vorrangig - alles muss daraufhin überprüft werden - mit
der Frage beschäftigen müssen, wie wir zu mehr Arbeitsplätzen und zu mehr Beschäftigung kommen. Das
wird ohne Wachstum nicht möglich sein. Natürlich gehört hierzu auch das Thema Vereinbarkeit von Beruf
und Familie. Wir wissen sehr wohl, dass wir zwei Probleme in diesem Bereich haben: Erstens scheiden die
Menschen zu früh aus dem Berufsleben aus. Zweitens
sind noch immer zu wenige Frauen erwerbstätig.
Deshalb werden wir mit Ihnen um die Ideen ringen,
die in der Diskussion stehen. Wir dürfen nur nicht jeden
Tag einen Paradigmenwechsel vollziehen; denn dann
werden die Leute verrückt. Aber wir sind gern bereit, mit
Ihnen über das Elterngeld zu sprechen und zu fragen:
Können wir es uns leisten? Ist es richtig? Setzt es die
richtigen Anreize? Ich glaube im Übrigen, wie auch andere, dass Kinderbetreuung und Ganztagsschulen - ich
meine nicht die Gesamtschule, sondern die Ganztagsschule - zentrale Themen sind, denen wir uns widmen
müssen.
({72})
Vor allen Dingen aber müssen wir den Wiedereinstieg in
das Berufsleben erleichtern: Wie reagieren wir in unserem Land, wenn eine Frau drei bis vier Jahre nicht berufstätig war, aber noch Karriere machen möchte? Auch
dieses Thema müssen wir angehen.
({73})
In den nächsten zehn Jahren wird sich in unserem
Land auch vieles andere ändern müssen, was nicht unbedingt etwas mit der Politik zu tun hat. Ich will nur einige
Stichworte nennen. So wird sich zum Beispiel die Rolle
der Gewerkschaften massiv verändern. Wenn die Gewerkschaften überleben wollen, dann müssen sie die
Chancen der Globalisierung im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Arbeitslosen auf ganz
andere Weise betrachten. Wir brauchen Gewerkschaften;
aber bislang haben sie den Schritt in die neue Zeit an
vielen Stellen nicht geschafft.
({74})
An die global agierenden Unternehmen gerichtet sage
ich: Wenn es einen Kodex wie den für Corporate
Governance gibt, dann tun die Unternehmen in diesem
Lande gut daran, sich freiwillig daran zu halten. Denn
soziale Marktwirtschaft beruht auch immer darauf, dass
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstehen, was
vor sich geht. Die Globalisierung hat es mit sich gebracht, dass eine Grunderfahrung deutschen Vertrauens,
nämlich „Wenn es meinem Betrieb gut geht, geht es
auch mir als Arbeitnehmer gut“, so einfach nicht mehr
gilt. Aber das bedeutet auch, dass mehr Transparenz
zwischen Unternehmensführung und Beschäftigten sein
muss. Dazu ist Corporate Governance ein richtiger
Schritt und ich kann nur empfehlen, dass jedes große
Unternehmen sich an diesen Kodex hält.
({75})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Politik
der Vereinfachung, der Entbürokratisierung, der neuen
Wege. Ich stimme Ihnen übrigens zu: Wir brauchen auch
eine Politik, die auch überprüft, ob wir das Richtige getan haben. Vor allen Dingen aber brauchen wir eine Politik aus einem Guss, die in den Parteien, die sie machen,
auch von oben bis unten vertreten wird. Genau daran arbeitet die Union: Wir wollen nicht nur punktuell, hier
und dort, etwas machen, sondern eine Politik aus einem
Guss bekommen.
({76})
Diese neue Union wollen Sie noch nicht akzeptieren.
({77})
- Sie nuscheln und maulen schon wieder. Sie können
diese neue Union des 21. Jahrhunderts überhaupt nicht
wahrnehmen, weil Ihre Regierung und Ihre Partei in den
alten Feindbildern denken; damit kommen Sie nicht klar.
({78})
Das ist im Übrigen der wahre Grund dafür, dass Leute
wie Sie, die mit der PDS in der Koalition sind, immer
wieder von „Volksfronten“ oder in sonstigen vergammelten Begriffen reden. Das ist das alte Denken; das
hilft uns nicht weiter.
({79})
Unser Angebot steht: Wann immer es um dieses Land
geht, wann immer die Vorteile die Nachteile überwiegen,
werden wir die richtigen Schritte mit Ihnen mitgehen.
Ernüchternd ist, dass der Haushalt von Herrn Eichel alles ist, bloß keine gute Grundlage, um dieses Land wirklich in die Zukunft zu führen.
Herzlichen Dank.
({80})
Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der SPD-Fraktion,
Franz Müntefering.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Merkel, Sie haben Politik aus einem Guss
verlangt. Das ist Ihnen gelungen: Das war ein Guss, allerdings ein Aufguss.
({0})
Das hatten wir schon einmal. Das war keine Oppositionsrede, das war eine hochmütige Rechtfertigungsrede.
Hochmut kommt ja bekanntlich vor dem Fall. Frau
Merkel, falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten:
Die schönen Tage der Union sind vorbei.
({1})
Einige von Ihnen scheinen noch ahnungslos zu sein.
({2})
Vielleicht sind Sie nachher ein bisschen nachdenklicher.
Ihr Versuch, die SPD und die Koalition die Arbeit machen zu lassen und sich selbst auf die faule Haut zu legen, ist gescheitert.
({3})
Es ist richtig, dass uns die Wahlergebnisse im Saarland
wehtun, aber die CDU hat auch nur von jedem vierten
Wahlberechtigten im Saarland das Kreuz erhalten.
({4})
25 Prozent der Saarländerinnen und Saarländer haben
die CDU gewählt.
({5})
Verehrte Frau Merkel, dass Sie zu so wenigen Stimmen
- 25 Prozent Zustimmung - sagen, das sei ein sensationell gutes Ergebnis, hat mich dazu gebracht, zu sagen:
Dass Sie so viel Selbstironie haben, hätte ich mir nicht
vorstellen können.
({6})
Wohl wahr: Dieser von mir angesprochene Punkt geht
uns alle in diesem Haus an. Ich habe Ihnen ja gesagt: Der
Hochmut, mit dem Sie hier auftreten, wird sich schnell
verflüchtigen.
Zu einigen der Punkte, die Sie angesprochen haben,
will ich vorweg etwas sagen:
Erster Punkt. Ziemlich zum Schluss haben Sie reklamiert, es müsse bei uns im Land mehr Geld für Verkehrsmaßnahmen und für Investitionen überhaupt ausgegeben werden. Wenn wir das Geld hätten, dann ja. Ich
wüsste viele gute Dinge, die nicht nur in Ostdeutschland,
sondern in der gesamten Bundesrepublik getan werden
könnten.
({7})
Sagen Sie mir doch aber bitte einmal, wie sich das zu der
Forderung von Herrn Stoiber verhält, der den ganzen
Haushalt um 5 Prozent kürzen will.
({8})
Herr Stoiber fordert: 5 Prozent weniger! 5 Prozent von
258 Milliarden Euro sind 12,9 Milliarden Euro.
({9})
Herr Stoiber weiß, dass wir 41 Milliarden Euro an
Zinsen zahlen. Wenn wir hier um 5 Prozent kürzen
könnten, wäre das schön; aber das geht bei Schulden leider nicht. Er weiß auch, dass wir rund 80 Milliarden
Euro im Bereich der Rentenversicherung auszugeben haben. Was schlägt er vor? Die Renten zu kürzen? Das wären 1 oder 2 Prozent weniger.
({10})
- Das wurde aber noch nicht beantwortet. Wir werden es
Ihnen nicht ersparen, dass Sie diese Fragen an dieser
Stelle beantworten müssen.
({11})
- Ich merke, dass der Puls an dieser Stelle ein bisschen
unruhig wird. Vielleicht sagen Sie mal etwas dazu. Will
die CSU vorschlagen, dass die Renten im nächsten Jahr
gekürzt werden, oder nicht?
({12})
Wenn Sie Nein sagen, dann beziehen sich die 5 Prozent
auf die verbleibenden rund 140 Milliarden Euro des
Haushaltes. Hieran haben der Verkehrshaushalt wie der
gesamte Investitionshaushalt einen massiven Anteil.
Was bleibt denn sonst?
Frau Merkel, deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle:
Es ist ja nett, dass Sie mal eben sagen, dass wir ein bisschen mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur ausgeben
sollten. Es ist aber nicht finanzierbar. Dass Sie sich als
Chefin der Opposition hier hinstellen und das fordern, ist
blanke Heuchelei. Sie haben das Geld dafür auch nicht.
({13})
Ich komme zum zweiten Punkt, der Sache mit der
Freiheit. Als Sozialdemokrat ist man natürlich immer
bewegt, wenn jemand von den Konservativen anfängt,
sich über die Freiheit auszulassen. Frau Merkel, so, wie
Sie das eingeführt haben, ist das besonders schick. Sie
und Herr Glos vorneweg haben heute Morgen über dieses Land wie über ein Jammerland gesprochen, ein Land
also, dem es schlecht geht. Auch ein Teil der Unternehmerschaft in diesem Lande verfährt so. Ich will das hier
ganz ausdrücklich in Richtung von Herrn Hundt sagen.
In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass er
jeden Stein, den es bei uns im Land gibt, umdreht, um zu
schauen, ob nicht vielleicht doch noch ein Wurm darunter sein könnte. Frau Merkel, bei dem, was Sie über dieses Land sagen, dürfte ruhig mal ein bisschen mehr Zuversicht zu spüren sein.
({14})
Nach einer solchen Rede wie der von Ihnen oder der
von Herr Glos hat man das Gefühl, dass Sie das ganze
Land schlecht- bzw. herunterreden und es mies machen.
({15})
Wenn Sie das nun auch noch damit verbinden, für sich
zu reklamieren, dass Sie besonders freiheitlich sind,
dann finde ich das völlig unangemessen. Das weise ich
ausdrücklich zurück.
({16})
Ein dritter Punkt. Es klang bei Ihnen, Frau Merkel,
nur ganz leicht an, aber in den letzten Tagen drang es
eindeutig nach draußen: Sie haben die SPD - einige von
uns in besonderer Weise - dafür verantwortlich gemacht,
dass die NPD im Saarland am Sonntag derart viele Stimmen bekommen hat.
({17})
- Nein, Sie haben die SPD angesprochen. Jetzt reden Sie
das nicht klein.
({18})
Ich sage Ihnen ganz klar, Frau Merkel - darüber sollte in
diesem Hause Einvernehmen herrschen -: Die CDU/
CSU ist für den Stimmenzuwachs der NPD nicht verantwortlich; die Sozialdemokraten allerdings auch nicht.
Verantwortlich für die Stimmen der NPD sind diejenigen, die die Neonazis wählen. Wenn wir in diesem Haus
den Verstand einigermaßen beieinander haben, dann passen wir auf, dass wir uns da nicht auseinander dividieren
lassen. Die braune Soße darf in Deutschland nie wieder
eine Chance haben. Wir sollten uns nicht gegenseitig unterstellen, für deren Stimmenzuwachs verantwortlich zu
sein.
({19})
Nun noch ein paar Anmerkungen zu Ihren Hinweisen
auf die Situation in Ostdeutschland. Ja, die SPD ist eine
gesamtdeutsche Partei. Wir machen gesamtdeutsche
Politik. Ost- und Westdeutschland sind keine zwei lose
assoziierten Staaten, zwischen denen irgendetwas ausgeglichen werden muss. Alles, was in Deutschland an guter
Politik gemacht wird, ist gut für ganz Deutschland.
Darauf bestehen wir.
({20})
Ich warne sehr davor, uns an dieser Stelle auseinander
zu dividieren. Wir alle wissen, dass wir in diesem Land
in West und Ost leicht gegeneinander agitieren könnten.
Wir sind alle erfahren genug, um das in vielen Gesprächen zu merken. Ich bitte sehr darum, dass wir der Verantwortung, die wir in diesem Lande miteinander tragen,
gerecht werden. Noch einmal: Wenn es in Deutschland
Wachstum gibt und wenn wir Arbeitsmarktreformen
beschließen, die für bestimmte Regionen und Städte besonders gut sind, dann ist das für ganz Deutschland gut.
Wir sorgen in ganz Deutschland dafür, dass der Solidarpakt II, den diese Koalition vereinbart hat, bis zum
Jahre 2019 sicher bleibt. Wir sollten uns an dieser Stelle
nicht auseinander dividieren lassen. Das ist meine ganz
dringende Bitte an Sie alle.
({21})
Ich mahne da, weil die Lockerheit, mit der auch eben
versucht wurde, sich ein bisschen lieb Kind auf der einen
Seite zu machen, ohne der anderen wehzutun, die falsche
Methode ist. Ein Teil unseres Problems in diesem Lande
hängt damit zusammen, dass Sie dies bisher nicht ehrlich
ausgesprochen haben. Wir sind ein Deutschland. Wir
müssen Politik für ganz Deutschland machen. Wir
müssen aufhören, Ost- und Westdeutschland gegeneinander zu stellen. Die beiden Teile sind keine selbstständigen oder assoziierten Staaten, die einfach so nebeneinander stehen. Das müssen Sie endlich begreifen.
({22})
Frau Merkel, Sie haben auch etwas zu den Lohnkostenzuschüssen gesagt. Im Haushalt der Bundesagentur
für Arbeit für das Jahre 2005 sind 6,35 Milliarden Euro
für Lohnkostenzuschüsse und Eingliederungshilfen eingestellt. Das sind rund 25 Prozent mehr als in diesem
Jahr. Rund 42 Prozent davon sind für die Aufgaben in
den neuen Ländern vorgesehen. Die Möglichkeiten,
diese Gelder sehr gezielt einzusetzen, liegen bei denen,
die vor Ort die Entscheidungen zu treffen haben. Weil
das so ist, sollten wir nicht den Eindruck erwecken, als
ob wir die Möglichkeiten der Hilfe an dieser Stelle reduzieren.
Frau Merkel, das, was Sie ansprechen, hört sich aber
ein bisschen anders an. Ich möchte gerne wissen, ob Sie
es wirklich so meinen. Sie sprechen - so empfinde ich
es - über ein Modell, das darauf hinausläuft, dass für die
Löhne im unteren Bereich dauerhaft Lohnkostenzuschüsse gezahlt werden sollen.
({23})
Diese Methode, Frau Merkel, die sich auf eine seltsame
Vorstellung von Ordnungspolitik gründet, hatten wir
schon einmal. Ich sage für uns ganz klar: Ein solches
Modell kann die Antwort auf unsere Probleme nicht
sein, weil es letztlich auf eine Finanzierung der Löhne
aus der Kasse des Staates, aus dem Steuersäckel, hinausläuft. Das wird - so viel sage ich Ihnen für die Sozialdemokraten - keine Lösung für ganz Deutschland sein
können.
({24})
Die Agenda 2010 beginnt zu wirken. Das GKV-Modernisierungsgesetz zeigt die Erfolge und Konsequenzen, die wir uns alle miteinander erhofft haben. Im ersten
Halbjahr dieses Jahres haben wir ein Plus von
2,5 Milliarden, das heißt, die Beiträge können sinken.
Wenn wir dieses Gesetz nicht gemacht hätten - weshalb sagen wir das eigentlich den Menschen draußen
nicht ein bisschen deutlicher? -, lägen die Krankenversicherungsbeiträge heute nicht bei 14 oder 14,5 Prozent,
sondern bei 16 oder 16,5 Prozent. Und ohne unsere Rentengesetzgebung läge der Rentenversicherungsbeitrag
heute nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei 22 oder
25 Prozent. Das sage ich all denen, die fragen: Gibt es
denn keine Alternative? - Ja, es gibt eine Alternative zur
Agenda 2010, aber die heißt: höhere Krankenversicherungsbeiträge, höhere Rentenversicherungsbeiträge und
mehr Schulden. Das wäre die Konsequenz gewesen.
Weil das so ist, müssen wir uns alle miteinander nicht
verstecken. Wir sollten zu unseren Beschlüssen stehen.
Es ist schließlich nicht so, dass nur die Privaten belastet
werden. Die Entwicklung speist sich aus drei Faktoren:
Erstens. Die Effizienz im Gesundheitswesen wurde
leicht verbessert. Wir haben immerhin ansatzweise erFranz Müntefering
reicht, dass die Krankenkassen Verträge mit Ärzten und
mit medizinischen Einrichtungen abschließen können.
Diese verbesserte Effizienz müssen wir weiter vorantreiben - der Bundeskanzler hat es angesprochen -; das ist
bisher an Ihnen gescheitert. Wir wollten weiter und wir
wissen, dass wir die weiteren Schritte noch zu tun haben.
Ob nun Kopfpauschale oder Bürgerversicherung, eines
steht fest: Die Effizienz im System muss weiter gestärkt
werden.
({25})
Das Gesundheitssystem birgt eine große Dynamik in
sich und wir sind gut beraten, wenn wir die richtigen
Wege finden, diese Dynamik einzugrenzen.
Zweitens. Die medizinischen Angebote werden weniger intensiv in Anspruch genommen, als das vorher der
Fall gewesen ist. Auf Deutsch und knapp gesagt: Die
Zahl der Versicherten, die zum Arzt gehen, ist um 8 bis
10 Prozent gesunken. Ich hoffe, das sind nur die Versicherten, die nicht unbedingt auf den Arzt angewiesen
sind. Die sollen allerdings auch nicht hingehen, auch
darüber muss man offen sprechen.
Drittens. Die Menschen zahlen hinzu.
Dieses GKV-Modernisierungsgesetz ist ein Schritt in
die richtige Richtung und das müssen alle, die es beschlossen haben, auch nach draußen deutlich machen.
Nun kommen wir allerdings an den Punkt, den Sie,
Frau Merkel, angesprochen haben und der Sie offensichtlich besonders berührt: die Zahnersatzpauschale.
Die Zahnersatzpauschale war Ihre Idee, sie ist ein Stück
Ideologie. Das haben wir immer so gesehen und das
haben wir auch so gesagt. Sie haben eine andere Vorstellung als wir davon, wie es beim Gesundheitswesen
weitergehen muss. Diese Zahnersatzpauschale war gewissermaßen der Feldversuch für die Kopfpauschale, die
folgen soll.
Bei der Umsetzung stellt sich nun heraus, dass der
Einzelne nicht eine Pauschale von monatlich 4,60 Euro
wird zahlen müssen, wie es damals angekündigt war.
Vielmehr werden es 2 oder 3 Euro mehr sein, weil sich
mit dieser komplizierten Pauschale erhöhte Verwaltungskosten verbinden. Das bedeutet, dass jeder Versicherte 10 bis 20 Euro im Jahr zusätzlich für Verwaltungskosten zahlen müsste. Bei allem Respekt vor Ihren
Ideen, Frau Merkel: Das ist es uns nicht wert und deshalb wollen wir diese Pauschale nicht.
({26})
Für Sie wäre es das Einfachste, schlichtweg zuzugeben, dass das ein Irrtum war, dass man solche Pauschalen so nicht organisieren kann, weil das so teuer wird,
wie es sich jetzt herausstellt. Wir wollen eine vernünftige neue Regelung haben. Das Gesetz ist eingebracht
und meine dringende Empfehlung an Sie ist, mit uns zu
stimmen, damit wir für den Zahnersatz eine vernünftige
Lösung finden. Wir würden auf der Arbeitgeberseite
eine Senkung der Lohnnebenkosten um 0,2 Prozent erreichen, wenn weiter ein normaler prozentualer Beitrag
kassiert würde.
Die Agenda 2010 beginnt auch an anderen Stellen zu
wirken. Das gefällt nicht allen und einiges hat sich in
diesem Sommer dazu zugetragen. Sie haben bereits einige Punkte angesprochen, Frau Merkel, aber auch ich
will noch ein paar Anmerkungen zu den Hartz-Gesetzen machen, vor allem zum Vierten Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt.
Wenn eine Opposition die Bundesregierung heftig angreift, gehört das zum Geschäft. Wir sind nicht wachsweich und auch alt genug, um das zu wissen, und können damit umgehen. Wenn die Opposition aber, so wie
diese Opposition, gänzlich anders redet, als sie handelt,
wenn sie intern im Vermittlungsausschuss den puren Kapitalismus fordert und draußen die katholische Soziallehre auf den Lippen hat,
({27})
wenn sie Mitverantwortung leugnet, dann zeigt dies eines, Frau Merkel: Ihnen fehlt Mut, Ihnen fehlt Ausdauer,
Sie haben kein Rückgrat in dieser Opposition. Das Land
ist froh, dass das Paar an der Spitze nicht Merkel/
Westerwelle heißt. Da bin ich ganz sicher.
({28})
Ich will - weil das im Sommer so gelaufen ist, wie
es gelaufen ist - noch einen Punkt nacharbeiten, Frau
Merkel, den ich bisher immer sanft behandelt habe,
nämlich betreffend Ihre Politik in den 80er- und
90er-Jahren. Damals schon war das Ausmaß der Globalisierung und der demographischen Entwicklung bekannt. Dennoch haben Sie, wie bei der Rentengesetzgebung, nur kleine Akzentuierungen versucht.
({29})
Es ist damals von Ihnen nichts getan worden. Sie haben
schön geredet, aber für das Land nichts getan. Obwohl in
den 80er- und 90er-Jahren schon etliches absehbar war,
hat das bei Ihnen nicht zu durchgreifenden Vorschlägen
und entsprechenden politischen Aktivitäten geführt. Im
Gegenteil, Sie haben Illusionen verbreitet.
({30})
Sie haben die Arbeit liegen lassen, die eigentlich hätte
getan werden müssen, Sie haben die Probleme in den
80er- und 90er-Jahren ungelöst gelassen, Sie haben
Schuldenberge aufgebaut, Sie haben dieses Land an den
Rand der Handlungsfähigkeit gebracht, Sie haben die
Einheit unverantwortlich finanziert, Sie haben auf „Weiter so!“ gesetzt, Sie haben die Investitionen in Innovationen gekürzt, Sie haben im Ohrensessel gesessen und abgewartet, was denn werden würde. Das ist die Wahrheit
der 80er- und 90er-Jahre, mit deren Folgen wir es noch
heute zu tun haben.
({31})
Wir haben - da versuche ich ehrlich zu sein ({32})
in den 90er-Jahren nicht besonders gedrängelt. Das bestreite ich nicht.
({33})
Aber wenn ich mir ansehe, mit welcher Arroganz Sie
und Frau Merkel hier versuchen, nach sechs Jahren ein
Urteil über diese Koalition zu sprechen, ein Vorurteil zu
verbreiten, muss ich sagen: Dann müssen wir genauer
auf den Vorlauf dieser Koalition schauen. Wir werden
über einiges noch etwas nachdrücklicher sprechen müssen.
({34})
Das Gesetz zur Arbeitsmarktreform haben wir gemeinsam beschlossen; beteiligt waren der Bundestag,
der Bundesrat und der Vermittlungsausschuss. Das Optionsgesetz, das sich mit der Frage auseinander setzte,
wie das vor Ort organisiert werden soll, hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss zu großen Auseinandersetzungen geführt. Weil Frau Merkel eben aus dem
Vermittlungsausschuss berichtet hat und gesagt hat, man
habe heftig darum kämpfen müssen, ob es solche Optionen gebe oder nicht, will ich noch einmal an folgende
Situation erinnern: Als der hessische Ministerpräsident
dafür gefightet hat, dass das Optionsmodell überall gelten solle, haben wir ihm - wie auch Herrn Milbradt - angeboten: In ganz Hessen und für ganz Sachsen kann das
gerne so gelten. Dazu aber haben sie Nein gesagt.
({35})
An dem Abend ist mir klar geworden, dass Sie die Sache
nicht wirklich vernünftig regeln wollten, sondern dass
Sie taktiert haben. Das beherrscht Ihre Politik zu
Hartz IV immer noch.
({36})
Nun will ich Ihnen, Frau Merkel, einige Personen aus
Ihren Reihen vorhalten, die sich in den letzten Tagen und
Wochen zu der Arbeitsmarktreform und dem, was zu tun
ist, geäußert haben. Sie haben Karl Nolle zitiert. Ich
schicke ihm das gerne zu. Er hat es verdient. Ich will
Ihnen aber die Äußerungen einiger anderer Personen
vorhalten und Sie damit konfrontieren. Dann können Sie
denen das ebenfalls zuschicken.
({37})
Ich nenne erstens Herrn Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen. Herr Rüttgers stellt sich in den Landtag von Nordrhein-Westfalen und sagt in populistischer Weise, er
wolle eine Gesamtrevision dieser Arbeitsmarktreform.
({38})
Ich will Herrn Merz nicht ansehen. Ihm muss bei dem,
was Rüttgers da veranstaltet hat, ganz schlecht geworden
sein. Das kann er natürlich gar nicht einhalten, aber die
Botschaft an das Land Nordrhein-Westfalen vor der
Kommunalwahl und vor der Landtagswahl ist doch eindeutig: Ihr Stellvertreter Herr Rüttgers fordert eine Generalrevision dieser Arbeitsmarktreform. Es ist kein Zufall, dass eine Zeitung in Nordrhein-Westfalen, und zwar
eine konservative, getitelt hat: „Rückzieher, dein Name
ist Rüttgers“. Das, so finde ich, ist eine ordentliche
Überschrift für den Vorgang.
({39})
Dann kommt Herr Arentz, CDA, aus Köln und fordert
Schonvermögen für die Altersvorsorge in Höhe von
1 000 Euro je Lebensjahr. Das habe ich übrigens bei der
PDS in Sachsen auch schon einmal gehört. Ich will aber
keine Verbindung herstellen. Sprechen Sie mit Herrn Arentz darüber!
1 000 Euro pro Jahr bedeuten bei einem Ehepaar
- beide 60 Jahre alt, 120 000 Euro Altersvorsorge und
je 12 000 Euro für den allgemeinen Verbrauch 144 000 Euro. Hinzu kommen Wohnung, Auto und
Riester-Rente. Wer so etwas fordert, Frau Merkel, verhöhnt diejenigen, die mit ihren Steuergeldern zu den
Einnahmen beitragen, aus denen wir das Arbeitslosengeld II bezahlen. Was Sie da betreiben, ist unverantwortlich.
({40})
Nun komme ich zu Herrn Milbradt,
({41})
der in einer seltsamen Art von Selbstkasteiung angekündigt hat, zu einer Demo zu gehen. Will er eine eigene
Demo veranstalten oder wie muss man sich das vorstellen? Lassen Sie mich dazu ein paar Wahrheiten in Erinnerung rufen.
Im Vermittlungsausschuss, Frau Merkel, ging es um
die Frage, ob die unterschiedliche Struktur hinsichtlich
der Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger in Ostund Westdeutschland nicht besondere Reaktionen erfordere. Also wurde beschlossen, vorweg den neuen Bundesländern 1 Milliarde Euro zu gewähren. Der Freistaat
Sachsen sollte 319 Millionen Euro erhalten. Meine dringende Bitte an Sie ist, Herrn Milbradt deutlich zu machen, dass diese 319 Millionen Euro nicht für die sächsische Landeskasse, sondern für die Bekämpfung der
Langzeitarbeitslosigkeit in den Städten und Gemeinden
bestimmt sind. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß
von mir!
({42})
Wir haben mit der Gemeindefinanzreform und
durch das, was wir durch die Zusammenlegung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe den Städten und Gemeinden zukommen lassen, dazu beigetragen, dass diese zusätzlich zu der eben genannten 1 Milliarde Euro etwa
2,5 Milliarden in diesem Jahr und etwa 6 bis 6,5 Milliarden Euro im nächsten Jahr erhalten werden.
In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die
Frage, was aus diesen 6 bis 6,5 Milliarden Euro wird.
Kommen sie der Konjunktur, dem Handwerk und den
kleinen und mittleren Unternehmen zugute oder kommt
es nur zu einer Umverteilung bei den Schuldenständen
der Kommunen und des Bundes? Meine Erwartung an
die CDU/CSU-Ministerpräsidenten und auch an Sie ist,
dass Sie das aufgreifen und Ihren Leuten deutlich machen, dass wir in diesem und im nächsten Jahr erreichen
müssen, dass die zusätzlich in die Städte und Gemeinden
fließenden Mittel so eingesetzt werden, dass das Handwerk vor Ort und die kleinen Betriebe in der Region etwas davon haben und Arbeitsplätze entstehen. Das muss
jetzt passieren.
({43})
Ich entnehme Ihrer Reaktion, Frau Merkel, dass wir
einer Meinung sind. Dann ist meine herzliche Bitte, dass
Sie dies Ihren Ministerpräsidenten und Oberbürgermeistern in aller Deutlichkeit sagen.
An dieser Stelle möchte ich Klartext reden. Ich habe
in dem gesamten Gesetzgebungsverfahren und insbesondere nach einigen Äußerungen von Herrn Koch und anderen den Eindruck gehabt, dass manche darauf warten,
dass das Arbeitsmarktreformgesetz scheitern möge und
man jemanden dafür verantwortlich machen kann. Ich
will das nicht Ihnen persönlich unterstellen, aber rufen
Sie sich einmal diesen Sommer in Erinnerung!
Im Interesse der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit muss klar sein, dass in diesem Jahr - und zwar
ab sofort - in allen Ländern, Städten und Gemeinden
alle, die mithelfen können, dafür sorgen, dass diese
wichtige Operation gelingt. In dem Gesetz geht es nicht
primär um die Veränderungen der Transfers; vielmehr
hat das Gesetz zum Ziel, die Langzeitarbeitslosigkeit zu
reduzieren. Entsprechende Ansätze sind vorhanden. Das
Gesetz wird das Problem zwar nicht vollständig lösen,
aber wenn wir es im nächsten Jahr schaffen, einige
Zehntausend oder Hunderttausend aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszuholen, dann ist das, was wir gemeinsam beschlossen haben, gelungen.
({44})
Sie müssen aber dafür sorgen, dass niemand von Ihnen das Gesetz boykottiert oder hängen lässt und darauf
wartet, was wohl daraus werden könnte. Wir werden
schon aktiv werden müssen. Das gilt auch für alle vor
Ort.
({45})
Herr Müller im Saarland fordert auch nach der Wahl
noch, die Zahldauer für das Arbeitslosengeld zu ändern. Das hat nichts mit Hartz IV zu tun, sondern ist ein
ganz anderes Thema, aber er spricht darüber. Auch dazu,
Frau Merkel, wäre eine klare Botschaft nach draußen
sehr hilfreich.
Sie, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben am
18. Juli 2003 beschlossen, dass das Arbeitslosengeld I
im ersten Monat der Zahlung um 25 Prozent reduziert
werden soll. Das haben wir abgelehnt. Dann haben Sie
auf Ihrem anschließenden Bundesparteitag beschlossen,
dass nur diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, Anspruch auf eine 18-monatige Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I haben sollen, während für alle anderen
eine zwölfmonatige Bezugsdauer gelten soll. Das setzen
wir im Augenblick um. Nun sagt aber Herr Müller, es
müsse länger Arbeitslosengeld gezahlt werden. Das ist
auch für uns Sozialdemokraten keine leichte Entscheidung. Aber es gibt eine Entwicklung in diesem Land,
mit der wir uns nicht abfinden können. Dadurch, dass
Mitte der 80er-Jahre unter Norbert Blüm die Zahldauer
für das Arbeitslosengeld auf bis zu 32 Monate verlängert
wurde - bis dahin galt für alle eine zwölfmonatige Zahldauer; wir haben damals Beifall geklatscht; ich will uns
gar nicht außen vor lassen -, haben wir eine Mentalität
in diesem Lande erzeugt, die inzwischen dazu führt, dass
beispielsweise 53-, 54- und 55-jährige Arbeitnehmer
schräg angeschaut werden, wenn sie nicht freiwillig in
den Vorruhestand gehen. Das ist keine gesunde Entwicklung. Deshalb ist die Reduzierung der Zahldauer für das
Arbeitslosengeld eine vernünftige Entscheidung.
({46})
Den Kritikern - dazu zähle ich auch Herrn Müller;
denn anders kann ich das, was er sagt, nicht verstehen;
vielleicht erläutern Sie mir das einmal - sage ich, dass es
lange Übergangsfristen gibt. Wer bis zum 31. Januar
2006 Arbeitslosengeld I bezieht, erhält das volle Arbeitslosengeld, und zwar bei gleicher Zahldauer wie bisher. Ein Beispiel: Ein 58-Jähriger bekommt bis Ende
August 2008 Arbeitslosengeld I, also 32 Monate, wenn
er es am 31. Januar 2006 erstmalig bezieht. Wenn er anspruchsberechtigt ist - das gilt natürlich auch für Frauen -, dann bekommt er danach zwei Jahre lang Arbeitslosengeld II, das im ersten Jahr um monatlich160 Euro
und im zweiten Jahr um 80 Euro erhöht ist. Er bekommt
das Arbeitslosengeld II also bis Ende August 2010. Ich
bitte Sie! Wer will denn noch längere Übergangsfristen?
Wir müssen erreichen, dass die bisherige Mentalität gebrochen wird. Diejenigen, die 55 Jahre und älter sind,
dürfen nicht nach Hause geschickt werden. Sie müssen
in Arbeit bleiben.
({47})
Ich möchte noch etwas zu Herrn Böhr sagen. Ich
glaube, er ist Philosoph. Frau Merkel, Herrn Böhr kennen Sie? - Er hat in der vergangenen Woche in einer ostdeutschen Zeitung geschrieben, das Ganze sei ein Abkassiermodell. Da diejenigen aus Ihren Reihen, die
Kritik üben, nicht am Rand Ihrer Partei stehen, appelliere ich an Sie: Sorgen Sie für Ordnung in Ihren eigenen
Reihen!
({48})
Sie dürfen nicht zulassen, dass das, was man an der einen oder anderen Stelle vermuten kann, wahr wird, nämlich dass die CDU/CSU durch ihren hinhaltenden Umgang mit dieser Thematik dafür sorgt, dass die
Arbeitsmarktreform nicht ihre volle Wirkung entfaltet;
denn das wäre zum Schaden der Langzeitarbeitslosen.
({49})
Meine dringende Bitte: Sorgen Sie dafür, dass das Ihren
Leuten klar wird! Heute haben Sie dazu jedenfalls kein
Wort gesagt. Wenn Sie mit dieser Sache anständig umgehen wollten, dann hätten Sie heute hier gesagt: Jawohl,
das haben wir gemeinsam beschlossen und das stehen
wir auch gemeinsam durch. Wir sagen den Menschen,
weshalb das richtig ist. - Aber das hat bisher niemand
von Ihnen getan.
({50})
Sie versuchen, sich an dieser Stelle einen schlanken Fuß
zu machen, und hoffen, dass Sie sich hier durchmogeln
können. Das ist die schlichte Wahrheit.
Die Spitzenleistung hat aber Herr Schönbohm erbracht. Er hat gesagt, Herr Schröder solle sich zurückhalten, wenn er in die neuen Bundesländer komme, weil
die Stimmung so angeheizt sei. Das hat wirklich ein Geschmäckle. Wenn ein Innenminister eines Bundeslandes,
der auch für die innere Sicherheit zuständig ist, den Bundeskanzler bittet, er solle nicht sein Land besuchen, dann
kann das natürlich ein Spaß sein. Das kann aber auch
Zynismus sein. Die Art und Weise von Herrn
Schönbohm finde ich jedenfalls ungeheuerlich.
({51})
Wir haben - begleitend zum Haushalt - eine Menge
in Bewegung gesetzt. Es wird noch mehr hinzukommen.
Ganz vorne steht die große Herausforderung - diese ist
noch nicht perfekt beantwortet; an einer entsprechenden
Antwort müssen wir alle noch arbeiten -, wie wir es
schaffen, dass die in Deutschland vorhandene Arbeit von
denjenigen Menschen getan wird, die legal in Deutschland sind. Das ist eine große Herausforderung. An dieser
Stelle gibt es große Spannungen, manchmal auch zwischen uns und den Gewerkschaften. Aber dies ist eine
entscheidende Herausforderung, vor der wir stehen. Wie
bringen wir es zustande, dass die in Deutschland zu leistende Arbeit von denjenigen Menschen getan wird, die
legal hier leben?
Wir können uns keine registrierten 4 Millionen oder
4,3 Millionen Arbeitslose - hinzu kommen stille Reserven im oberen Bereich und bei den Frauen - leisten. Die
Erwerbsquote ist nämlich zu gering. Auch können wir es
uns nicht leisten, dass es in diesem Lande massenhaft
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung gibt oder dass
Menschen in dieses Land geholt werden, die bestimmte
Arbeiten für uns machen sollen.
In Deutschland fehlen 20 000 bis 30 000 Pflegerinnen und Pfleger. Wenn dieses Problem größer wird,
werden wir dann in Deutschland die Kraft haben, es mit
Arbeitskräften aus unserer Bevölkerung zu lösen, oder
werden wir uns 50 000 Koreanerinnen oder Polinnen holen müssen, damit diese Arbeit getan wird? Es kann
nicht sein, dass das so läuft. Weil das so ist, müssen wir
uns miteinander darüber klar sein: Wir müssen erreichen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind.
Aber wir müssen miteinander auch erreichen, dass sie
nicht die Gunst oder Ungunst der Stunde nutzen, ein
Lohndumping in Bewegung zu setzen, das man so nicht
wollen kann.
({52})
Da ist in Ostdeutschland, auch an manchen anderen
Stellen vieles in Bewegung, worüber wir miteinander
sprechen müssen. Auch deshalb dreht sich die Debatte
um die Frage, ob ein Mindestlohn sinnvoll ist oder
nicht. Als Anhänger der Tarifautonomie bin ich da immer sehr skeptisch gewesen. Aber die Debatte darüber,
was man eigentlich tun kann, müssen wir führen.
Das, was Frau Merkel angesprochen hat - die Zahlung von Lohnkostenzuschüssen aus der Staatskasse;
wenn ein Unternehmer nur 3 Euro zahlt, dann soll der
Rest des Lohns aus der Staatskasse finanziert werden -,
kann es doch nicht sein. Wenn das so aber nicht gemeint
ist, dann frage ich: Welche andere Methode haben wir,
um zu erreichen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind, ohne die Menschen zu missbrauchen, indem sie
sie mit Lohndumping überziehen? Mit diesem Problem
haben wir in Deutschland im Augenblick zu kämpfen.
Darüber haben wir mit den Gewerkschaften, aber auch
mit den Arbeitgeberverbänden zu sprechen.
Es wäre sehr hilfreich, wenn bei den Unternehmen in
Deutschland zwei Dinge, die, wie ich denke, sehr hinderlich sind, klarer würden:
Unternehmen müssen nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Europa und weltweit vertreten sein. Dass
das gut ist, bezweifelt keiner von uns. Die Tatsache, dass
Unternehmen weltweit vertreten sind, stärkt unsere Wirtschaft ganz zweifellos und trägt zu unserem Wohlstand
bei. Bei manchen Unternehmen hat man freilich den
Eindruck, dass sie um eines kleinen Vorteils willen die
eigenen Mitarbeiter drängen und pressen oder ins Ausland gehen.
({53})
- Herr Kauder, passen Sie auf! - Es gehört zur Unternehmensethik dazu, dass die Unternehmen in Deutschland wissen: Sie sind den Menschen verantwortlich,
durch die sie reich geworden sind und die bei ihnen beschäftigt sind. Ich wiederhole meinen Appell an die Unternehmen an dieser Stelle: Man soll versuchen, wettbewerbsfähig zu sein und dabei bis an die Grenze dessen
gehen, was möglich ist. Man soll sich aber auch bewusst
sein, dass Unternehmen für die Menschen, die bei ihnen
einen Arbeitsplatz haben, verantwortlich sind. Die Unternehmen dürfen mit den existenziellen Sorgen der
Menschen nicht spielen; sie dürfen mit ihnen kein
Schindluder treiben. Leider kommt auch das vor.
({54})
Es wäre schon ganz gut, wenn die Bezieher großer
Einkommen in diesem Lande im Umgang mit ihrem
Verdienst mehr Transparenz zeigten. Mit anderen Worten: Es wäre gar nicht so schlecht, wenn die Bereitschaft
größer wäre, offen zu legen, wie viel man verdient oder
bekommt, was ja nicht immer dasselbe ist. Man sollte
wenigstens sagen, was so in die Tüte fließt. Das gilt
nicht nur für die großen Unternehmen, für die Vorstände
und für die Aufsichtsräte, sondern auch für die großen
Medien in diesem Land. Es wäre auch einmal ganz gut,
zu wissen, wie deren Einkommen eigentlich so aussieht.
({55})
Das darf man vielleicht einmal ein bisschen kess sagen;
schließlich konzentrieren sie sich meistens auf uns.
Ich will noch kurz ein paar Punkte ansprechen, die für
das nächste Jahr ebenfalls wichtig sind. Stichworte: Investitionen und Innovationen. Wir haben uns vorgenommen, für diesen Bereich zusätzliches Geld zu mobilisieren. Frau Merkel, Herr Merz, meine Erwartung an Sie
ist, dass Sie uns schnell sagen, wo man Subventionen
abbauen kann. Ich weiß, dass die Abschaffung der
Eigenheimzulage nicht allen leicht fällt; auch bei uns ist
das so. Die Eigenheimzulage war ein Instrument, das
über Jahre und Jahrzehnte größte Bedeutung gehabt hat
und auch sinnvoll war.
Aber wir müssen in Deutschland eine Wohnungs- und
Städtebaupolitik machen, die sich auf das einrichtet, was
heute und für die Zukunft wichtig ist. Das werden wir
nicht beiseite schieben. Die Tatsache, dass wir hier die
Eigenheimzulage infrage stellen, signalisiert nicht: Man
muss sich nicht mehr um Wohnungs- und Städtebau
kümmern. Dafür wird man da sein müssen, zwar nicht in
dem bisherigen Umfang, aber doch zumindest teilweise.
Trotzdem müssen wir sehr bald wissen: Werden wir
das Geld für Innovationen in diesem Lande haben oder
nicht? Sie müssen wissen, dass derjenige, der sich an
dieser Stelle verweigert, dazu beiträgt, dass im Bereich
der Innovationen nicht das getan werden kann, was getan werden muss.
({56})
Zur Bürgerversicherung will ich heute nur ein paar
Worte sagen. Sie wissen, wir haben dazu Eckpunkte beschlossen. Ich freue mich auf die offene Debatte, die es
dazu hoffentlich geben wird. Für uns ist dabei klar: Es
wird im Kern ein solidarisch finanziertes System bleiben. Die Finanzierung wird durch Verbeitragung oder
entsprechende Besteuerung hoher Einkünfte ergänzt. Es
bleibt bei der bisherigen Qualität. Die Bürgerversicherung ist keine Versicherung zweiter Klasse. Es wird
PKV und GKV wie bisher geben. Die GKV hat die
Chance, sich zu stabilisieren, nicht zuletzt dadurch, dass
wir die Versicherungspflichtgrenze aufgeben und auch
junge, günstige Risiken die Bürgerversicherung bei der
GKV nutzen können. Es bleibt dabei, dass wir im System insgesamt die Effizienz deutlich verbessern müssen.
Frau Merkel, schauen Sie sich anhand der Zahnersatzpauschale an, wie das so mit Kopfpauschalen ist, was
das kostet und wie groß die Sinnhaftigkeit solcher Unternehmen ist! Herr Seehofer hat es schon sauber vorgerechnet. Es war einmal von 24 Milliarden Euro und einmal von über 30 Milliarden Euro die Rede, die aus der
Steuerkasse sozusagen quer gezahlt werden müssen, damit die unteren Einkommen das alles noch bezahlen
können.
Stichwort: direkte Demokratie. Ich finde die Debatte
hochinteressant. Wir haben in dieser Koalition in der
letzten Legislaturperiode vorgeschlagen, Methoden der
direkten Demokratie mit vernünftigen Quoren auch bei
uns in Deutschland einzuführen. Wir wollen keine Verrücktheiten, aber unter bestimmten Bedingungen, unter
bestimmten Voraussetzungen müssen Volksinitiativen,
Volksbegehren und Volksentscheide möglich sein. Das
haben Sie damals abgelehnt.
Nun haben wir vereinbart, das wieder einzubringen.
Jetzt sagen einige von Ihnen: auch Referenden, nicht nur
direkte Demokratie sozusagen von unten, sondern auch
Befragung von oben durch den Deutschen Bundestag
oder die Bundesregierung mit entsprechendem Quorum,
mit entsprechender Qualität. - Deshalb werden wir den
Gesetzentwurf gemeinsam einbringen.
({57})
In Teil 1 wird es um die direkte Demokratie gehen
- Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid - und
in Teil 2 wird stehen, unter welchen Bedingungen Volksbefragungen stattfinden können.
Wichtig ist, dass das schnell geschieht; denn in einem
sind wir uns ganz einig: Im Grundgesetz wird es keine
Lex „europäische Verfassung“ geben.
({58})
Wenn wir uns hier mit der nötigen Mehrheit darauf verständigen können, das, was ich eben angesprochen habe,
ins Grundgesetz zu schreiben, können wir das miteinander
machen. Herr Westerwelle, ich schaue Sie einmal an; Sie
haben sich ja weit aus dem Fenster gehängt. Die Zweidrittelmehrheit bekommen wir hin. Wenn die Sozialdemokraten und die Grünen und die FDP und die CSU, die das ja
auch will, miteinander stimmen, haben wir 409 Stimmen.
Also lassen Sie uns das miteinander machen und dafür
sorgen, dass vielleicht auch die CDU das irgendwie mitmacht.
({59})
- Bitte?
({60})
- Im Moment
({61})
- hören Sie zu! - reden wir über die generelle Frage der
Regelung. Wenn das so kommt, dann wird im Grundgesetz stehen, dass es im Prinzip eine Möglichkeit der Befragung gibt. Wir werden in den nächsten Wochen und
Monaten miteinander darüber diskutieren, unter welchen
Bedingungen das dann möglich sein soll. Laufen Sie an
der Stelle nicht gleich wieder weg!
({62})
Ich will Sie noch über etwas informieren. Wir werden
in dieser Koalition in diesem Herbst - das haben wir uns
vorgenommen - das Thema der Antidiskriminierung
neu auf die Tagesordnung setzen. Das ist auch kein einfaches Thema. Das wird uns in diesem und im nächsten
Jahr ganz sicher begleiten. Sie wissen, dass es dazu
Richtlinien in Europa gibt. Wir werden dafür sorgen,
dass wir in Deutschland entsprechend dem, was in Europa aufgeschrieben ist, handeln. Wir werden zu prüfen
haben, ob und, wenn ja, in welcher Weise wir das Antidiskriminierungsgesetz auch noch darüber hinaus ausgestalten.
Wir haben uns in dieser Koalition in dieser Legislaturperiode noch mehr als in der vergangenen auf einen
schwierigen Weg gemacht. Fortschritt erfordert Anstrengung. Aber wir kommen voran. Ich bin ganz sicher, dass
die starken Unternehmen, die qualifizierten Arbeitnehmer, die Infrastruktur, das leistungsfähige Bildungssystem und die Wohlstandsbasis, die wir in diesem Land haben, gute Voraussetzungen dafür sind, dass wir
gemeinsam diesen guten Weg weitergehen können - in
diesem und im nächsten Jahr und weit darüber hinaus.
({63})
Wir, diese rot-grüne Koalition, werden Deutschland
in eine gute Zukunft führen.
({64})
Davon wird uns auch nicht eine lahme und opportunistische Opposition abhalten können.
({65})
Aber Besserung ist Ihnen ja möglich.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({66})
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Müntefering hat am Anfang seiner
Rede einen Rückblick in die 80er- und 90er-Jahre gegeben. Wir Christlichen Demokraten scheuen den Blick in
die 80er- und 90er-Jahre überhaupt nicht. Gerade die
16 Jahre, die wir regiert haben, waren gute Jahre für
Deutschland.
({0})
Nur, am Anfang des 21. Jahrhunderts helfen für die Lösung der jetzt anstehenden Fragen nostalgische Betrachtungen überhaupt nicht weiter. Sie dienen vielleicht der
emotionalen Befriedigung einer Fraktion, die mehr leidend als leidenschaftlich dem Kurs dieser Bundesregierung folgt. Sie beinhalten aber keinen Hinweis darauf,
wie die rot-grüne Bundesregierung die in diesem Land
anstehenden Haushalts- und Zukunftsfragen beantworten möchte.
({1})
Ein weiterer Hinweis, Herr Kollege Müntefering: Sie
haben am Anfang Ihrer Rede auch das Erstarken der
rechtsradikalen Kräfte bei der Saarland-Wahl angesprochen. Sie haben die Union ermahnt, nicht die Sozialdemokraten dafür verantwortlich zu machen. Ich bin der
Debatte heute Vormittag sehr interessiert gefolgt. Ich
habe nicht gehört, dass irgendein Redner der Union die
Sozialdemokratie für das Erstarken der NPD im Saarland verantwortlich gemacht hätte.
({2})
Ich bin sicher, dass auch alle anderen Redner der Union
und nicht nur die von heute Morgen Oskar Lafontaine
dafür verantwortlich machen, dass die radikalen Kräfte
am linken und am rechten Rand wieder erstarken.
({3})
Deswegen, Herr Müntefering, bedarf es auch keiner Ermahnung der Union,
({4})
sondern es liegt an der deutschen Sozialdemokratie, das
Verhältnis zu Oskar Lafontaine abschließend zu klären,
liebe Freunde, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({5})
In den Mittelpunkt Ihrer Ausführungen, Herr
Müntefering, haben Sie die Arbeitsmarktpolitik gestellt.
({6})
Auf dem Arbeitsmarkt sind die Reformen, die Sie ja jetzt
nicht mehr mit dem Schlagwort „Hartz“ bezeichnen, allenfalls ein Einstieg in eine Politik, die wir von der
Union für notwendig erachten. In ihrer Wirkung sind sie
in Teilen allerdings völlig überschätzt worden. Von den
vollmundigen Ankündigungen einer Halbierung der Arbeitslosenzahl, Herr Müntefering, ist heute nichts mehr
übrig. Die Union hat all denjenigen Teilen der Hartz-Reformen, die auf mehr Flexibilität und Öffnung des Arbeitsmarktes zielen, im Deutschen Bundestag zugestimmt.
Wenn Sie sich fragen, wie sich die Christlich Demokratische Union bezüglich der Umsetzung von Hartz IV verhält, dann empfehle ich Ihnen, doch einmal nach Nordrhein-Westfalen zu schauen. Wir haben im Vermittlungsausschuss von Deutschem Bundestag und Bundesrat
deutlich gemacht, dass wir den Kommunen mehr zutrauen als der Arbeitsverwaltung und haben uns für ein
umfassendes Optionsmodell ausgesprochen. Das, was
dabei herausgekommen ist, entspricht nicht ganz unseren Wünschen, denn in Nordrhein-Westfalen gibt es
mehr Kommunen und Kreise, die gemäß dem Optionsmodell optieren wollen, als Sie zuzugeben bereit sind.
Wir arbeiten überall da, wo die Möglichkeiten gegeben
sind, Arbeitslosen zu helfen und Brücken in die Beschäftigung zu bauen, aktiv mit, meine sehr verehrten Damen
und Herren. Keiner aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schlägt sich hier in irgendeinen Busch,
({7})
sondern wir sind auf der Seite derjenigen, die sich für
mehr Beschäftigung in diesem Land einsetzen.
({8})
Wir kritisieren allerdings die dilettantischen Elemente, insbesondere in der Kommunikationsarbeit der
Bundesregierung, bei der Umsetzung und Erläuterung
dieses Reformvorhabens. Wir haben in den vergangenen
Wochen erlebt, dass die Bundesregierung zum ersten
Mal Hartz IV nicht nur durch Überschriften darstellt,
sondern auch mit Texten erläutert. Gerade das lange
Schweigen der Bundesregierung über das gemeinsam
getragene Reformwerk Hartz IV hat zu den Verwirrungen, Verirrungen und Täuschungen bezüglich des Wesensinhaltes dieses für den Arbeitsmarkt notwendigen
Reformwerks geführt.
({9})
Nach wie vor fehlt es aber an ergänzenden Elementen
zu dieser Arbeitsmarktreform. Eine durchgreifende
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, wie wir sie in unserem Arbeitsmarktreformgesetz bereits vor einigen Monaten vorgeschlagen haben, ist erforderlich, damit die
notwendigen und angesichts der Kürzungen der aktiven
Leistungen von allen Seiten eingeforderten Arbeitsplätze
von der Wirtschaft geschaffen werden können. Wenn Sie
vor dem Hintergrund, dass wir über Hartz IV und die
1-Euro-Jobs die Tarifstruktur öffnen und einen Niedriglohnsektor schaffen wollen, jetzt eine Diskussion über
Mindestlöhne in Deutschland beginnen, dann erweisen
Sie den bisherigen Reformen einen Bärendienst und
schrecken investitionsbereite Unternehmen eher ab, als
mehr Beschäftigung in Deutschland zu schaffen.
Dies gilt auch für die Abschaffung des demographischen Faktors in der Rentenversicherung. Das Thema
wurde von Ihnen, Herr Müntefering, hier kurz angesprochen. Bisher hat Rot-Grün nur Notoperationen vorgenommen, um den Beitragssatz stabil zu halten. Deshalb
besteht in diesem Jahr erstmals die Gefahr, dass die Rentenversicherung einer Liquiditätsspritze aus dem Bundeshaushalt bedarf. Das von Rot-Grün angesichts der
explodierenden Bundeszuschüsse beschlossene Nachhaltigkeitsgesetz ist völlig unzureichend, um den demographischen Herausforderungen gerecht zu werden. Was
wir brauchen, ist eine deutliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit, eine Entscheidung, um die sich die rotgrüne Bundesregierung bis zum heutigen Tag gedrückt
hat.
Vom Bundeskanzler und auch vom Vorsitzenden der
SPD-Bundestagsfraktion ist die Gesundheitsreform angesprochen worden. Die Gesundheitsreform scheint
sich, zumindest unter finanziellen Gesichtspunkten, nach
den ersten Monaten dieses Jahres als Erfolg herauszustellen. Aber ich will auf eines hinweisen, Herr
Müntefering, damit das nicht in Vergessenheit gerät: Der
Gesetzentwurf, den Ihre dafür zuständige Gesundheitsministerin Anfang des vergangenen Jahres eingebracht
hatte, hätte zu diesen Einsparungen im Gesundheitswesen nicht geführt. Er war ein dirigistischer Angriff zur
Zerschlagung eines freien und selbst verwalteten Gesundheitswesens,
({10})
das wichtige Reformelemente noch nicht enthalten hatte.
Das Maß an Eigenbeteiligung und Eigenverantwortung,
das jetzt zu den Einsparungen im Gesundheitswesen
führt, haben Sie überhaupt nur mithilfe der Union im
Vermittlungsausschuss gegen Ihre Fraktionslinke durchsetzen können. Deswegen können Sie sich nicht hier hinstellen und sagen, die Opposition beteilige sich nicht an
den für die Bevölkerung notwendigen und auch
schmerzlichen Entscheidungen. Vielmehr sind wir es,
die Ihre schrumpeligen Reformansätze in eine Fassung
bringen, in der sie zumindest ein Minimum an Erfolg
und Wirkung für die Bevölkerung unseres Landes erzielen können.
({11})
Dies gilt im Übrigen auch für die Steuerpolitik. Wir
haben im vergangenen Jahr im Vermittlungsausschuss
mit Ihnen einen Kompromiss zur Steuerpolitik geschlossen, der verschiedene Einsparungen umfasste, die uns
schwer gefallen sind; dafür sind Sie uns in anderen
Punkten entgegengekommen. Mit dem Haushaltsentwurf 2005 kündigen Sie diesen Kompromiss des Vermittlungsausschusses auf. Wenn sich hier jemand in die
Büsche schlägt, dann sind Sie das, indem Sie die getroffenen steuerpolitischen Kompromisse infrage stellen.
Sie stellen ja nicht nur das Vermittlungsausschussergebnis infrage. Im Zusammenhang mit der Vermögensteuer lese ich in den Zeitungen, dass die von Sozialdemokraten und Grünen erwogene Wiedereinführung
der Vermögensteuer zu 50 Prozent ein Angriff auf die
Kapitalanlagen von Rentnerinnen und Rentnern in der
Bundesrepublik Deutschland sei. Ist das sozialdemokratische Reformpolitik? Ich kann das nicht erkennen.
({12})
Dies gilt auch für die Tabaksteuererhöhung. Im
Rahmen der Gesundheitsreform haben wir schweren
Herzens dieser für uns schwierigen Lösung zugestimmt.
Wir haben aber unsere Auffassung deutlich gemacht,
dass hohe Steuersätze die Gefahr bergen, dass weniger
Geld in die Kassen kommt. Ihre Steuerpolitiker haben
eine Erhöhung der Tabaksteuer trotzdem durchgesetzt.
Aber anstatt dass mehr Geld zur Finanzierung der Gesundheitsreform in die Kassen fließt, führt diese Erhöhung wahrscheinlich dazu, dass wir am Ende dieses Jahres im öffentlichen Haushalt ein zusätzliches Loch in
Höhe von 1 Milliarde Euro vorfinden werden.
({13})
Wir müssen auf diese Fragen jetzt Antworten finden.
Da helfen uns nostalgische Betrachtungen der 80er-Jahre
in keiner Weise.
({14})
Im Übrigen glaube ich, dass Sie, Herr Eichel, eine Party
feiern und in Jubel ausbrechen würden, wenn Sie heute
nur die Finanzprobleme hätten, die Herr Stoltenberg zu
seiner Zeit gelöst hat.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wandel braucht
Wahrheit. Nur Wahrheit schafft Vertrauen. Dieser Regierung mangelt es an der Fähigkeit, die Wahrheit vor dem
Parlament auszusprechen. Sie verschweigt die Wahrheit
über die Staatsfinanzen und die Wahrheit über die notwendigen Anpassungsmaßnahmen. Wir brauchen eine
Regierung, die Vertrauen schafft und die den Menschen
sagt, wie es in der Zukunft weitergehen soll. Sie muss
eine verlässliche Politik machen, die länger als zwei
oder drei Monate Bestand hat. Eine solche Regierung
kann nur von der Union und der FDP gebildet werden.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat nun die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn man die bisherige Debatte Revue passieren lässt,
dann erkennt man, dass die Opposition versucht, damit
durchzukommen, Reden von gestern zu halten.
({0})
Zu der Kritik von Frau Merkel, die Regierung verunsichere die Menschen, weil sie nicht klar mache, wohin
die Reise gehe, muss ich sagen, dass es sich um eine
höchst unehrliche Analyse handelt. Dieses Vorgehen bezeichne ich sogar als ein bisschen frech.
({1})
Der Widerstand und die Verunsicherung der Menschen,
zum Beispiel über Hartz IV, rühren nämlich daher, dass
sich viele erst jetzt klar machen, dass der Staat bestimmte Leistungen nicht mehr so finanzieren kann, wie
sie es gewohnt waren. Das hat aber nichts damit zu tun,
dass nicht klar ist, wohin die Reise geht. Es hat vielmehr
damit zu tun - das müssen wir uns ehrlich eingestehen -,
dass manche Dinge nicht mehr wie gewohnt auf Pump
finanziert werden können.
({2})
Diese Ehrlichkeit und Konsequenz, die die rot-grüne
Regierung mit ihren Reformen an den Tag legt, haben
Sie nicht gezeigt. Herr Müntefering hat das wunderbar
deutlich gemacht. Nein, Sie haben sich in ganz vielen
Fällen versteckt. Früher haben Sie gerufen, Hartz IV
gehe nicht weit genug. Jetzt ist von Ihnen dazu gar nichts
mehr zu vernehmen. Das ist peinlich. Aber die Öffentlichkeit erkennt das.
({3})
Es besteht bei Ihnen außerdem ein Mangel an Vorschlägen, wie die schwierige Haushaltslage in den Griff
zu bekommen ist. Herr Stoiber schlägt vor, überall 5 Prozent zu kürzen. Er schlägt damit vor, 4 Milliarden Euro
bei der Rente zu kürzen. Ich bin einmal gespannt, ob Sie
diese Forderung aufrechterhalten wollen.
({4})
Für Sie wird die Situation noch schwieriger dadurch
- diese Unsicherheit hat man nach meiner Ansicht in der
Rede der Oppositionsführerin gespürt -, dass die Union
noch nicht neu aufgestellt ist. Es besteht bei Ihnen noch
ein ganz großer Konflikt hinsichtlich des Konzepts zur
Veränderung der sozialen Sicherungssysteme. Die
Gesundheitsprämie mit der Abkopplung von den Lohnkosten ist zwar ein sehr ambitioniertes Projekt
({5})
- dafür hat Angela Merkel hier geworben - und Ihre Argumente muss man ernst nehmen. Aber Sie haben ein
völlig illusionistisches Steuerkonzept danebengestellt.
({6})
Das passt nicht zusammen. Deswegen kann man Ihren
Vorschlägen wirklich nicht trauen.
({7})
Neben dem Fehlen von Vorschlägen ist zu kritisieren,
wie Sie sich gegenüber unseren Vorschlägen und LöAnja Hajduk
sungsangeboten verhalten. Mit einem besonderen Ausmaß an opportunistischer Neigung lassen Sie sich beim
Subventionsabbau von Lobbygruppen beraten. Diese Art
von Sperre ist unverantwortlich.
({8})
Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, wie wichtig
im Bereich Bildung, Forschung und Innovationen das
3-Prozent-Ziel ist. Sie werden verantworten müssen,
dass wir nicht in dem notwendigen Maße Mittel für den
Forschungsbereich zur Verfügung haben. Sie werden
auch verantworten müssen, wenn wir bei der Schulentwicklung und insbesondere bei der Kinderbetreuung
nicht so vorankommen, wie es gerade angesichts unserer
demographischen Entwicklung eigentlich nötig ist.
({9})
- Ja, Steuermittel sind allgemeine Deckungsmittel. Sie
meinen das jetzt auf die Eigenheimzulage bezogen. Ich
finde unseren Vorschlag sehr sinnvoll. Sie müssen sich
dazu verhalten, ob Sie ihn wirklich nicht unterstützen
wollen. Ich glaube Ihnen das noch nicht einmal.
Zum Abschluss möchte ich festhalten: Wenn Sie
keine Kraft zum Subventionsabbau haben und stattdessen illusionistische Steuerkonzepte vorlegen, dann ist
damit Ihre mangelnde Nachdenklichkeit - der Bundeskanzler hat heute zu Recht darauf verwiesen - offenkundig geworden. Ich kann Sie nur auffordern: Denken Sie
nach! Bringen Sie Ihre Konzepte zusammen! Sperren
Sie sich nicht gegen den heute notwendigen Subventionsabbau! Nehmen Sie die Empfehlungen Ihrer
Experten, die Sie selber auswählen - das Kieler Wirtschaftsinstitut ist oft dabei -, ernst und bremsen Sie die
Regierung nicht bei richtigen Reformen! Denken Sie
nach! Ich glaube, dann kommen Sie zu größerer Ehrlichkeit in der Politik. Das steht auch der Opposition gut.
Damit gewinnt man dann auch wieder das Vertrauen der
Bevölkerung.
({10})
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
Uns als PDS wurden in den vergangenen Monaten im
Zusammenhang mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV
vom Kanzler und seinen Verbündeten, aber auch von einigen Medien viele unbegründete Vorwürfe gemacht.
({1})
Ich will mich sachlich mit diesen Vorwürfen auseinander
setzen.
({2})
Der erste Vorwurf ist, die PDS spalte unser Land
und argumentiere gegen den Westen. Das Gegenteil ist
richtig. Hartz IV ist ein Gesetz der großen Koalition
aus SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP. Mit diesem
Gesetz ist die Spaltung festgeschrieben: Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Osten bekommt 331 Euro,
einer im Westen 345 Euro. Dieser Unterschied ist durch
nichts zu rechtfertigen. Wenn man die Lebenshaltungskosten in Deutschland vergleicht, kann man eher ein
Gefälle zwischen Nord und Süd oder zwischen Stadt und
Land erkennen als eines zwischen Ost und West. Aber es
kommt keiner auf die Idee, zum Beispiel unterschiedliche Sätze für München und Fürstenau zu zahlen.
Es ist auch falsch, dass wir Stimmung gegen den
Westen machen. So etwas werden Sie in keiner Rede
und in keinem Beschluss von uns finden. Schauen Sie
sich einmal die Wahlergebnisse im Saarland an: Die
SPD hat im Vergleich zu den Wahlen von 1999 absolut
45 Prozent der Stimmen verloren. Die PDS dagegen hat
im Saarland 128 Prozent dazugewonnen.
({3})
Was will ich damit sagen? Das zeigt, dass viele Menschen im Westen erkannt haben, dass es nicht um die
Ost-West-Verteilung geht, sondern um die Verteilung
zwischen oben und unten.
({4})
Die rot-grüne Regierung hat wie eine seelenlose Umverteilungsmaschine die Politik der alten kohlschen Regierung fortgesetzt und weiter von unten nach oben
umverteilt. Ich erinnere nur an die Senkung des Höchststeuersatzes ab dem 1. Januar 2005. Ein besonderes Geschmäckle an dieser Sache ist, dass am gleichen Tag das
Arbeitslosengeld II in Höhe von 331 bzw. 345 Euro eingeführt wird.
Der zweite Vorwurf an uns als PDS lautet, wir seien
populistisch. Auch dieser Vorwurf ist falsch. Wir haben
von Anfang an hier im Bundestag und auch im Bundesrat klar gegen die Hartz-Gesetze votiert. Es ist nur konsequent, dass wir jetzt zusammen mit den Betroffenen
auf der Straße gegen dieses Gesetz demonstrieren.
({5})
Die Leiterin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach sagt zu diesem Vorwurf - ich darf mit Erlaubnis des
Präsidenten zitieren -:
Die PDS ist mit ihrem Protest bei sich selbst, ist authentisch. Sie war immer gegen Einschnitte in das
soziale Netz …
Der dritte Vorwurf lautet, wir als PDS würden wider
besseres Wissen die notwendigen Reformen ablehnen.
({6})
Dazu möchte ich einen unverdächtigen Zeugen anführen. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger
({7})
traf den Nagel auf den Kopf, als er auf die Frage, ob
Hartz IV so etwas wie ein Bypass für den deutschen
Herzpatienten sei, antwortete:
Nein, sie kommt mir eher vor wie eine BypassOperation für einen Asthmakranken. Dem Patienten
wird viel zugemutet, doch er profitiert nicht davon.
Bofinger weiter:
Das Arbeitslosengeld II bleibt ein erhebliches Risiko für die Konjunktur. Bedroht sind nicht nur die
3 Millionen Langzeitarbeitslosen, von denen viele
erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, es werden auch mehr als 34 Millionen Beschäftigte verunsichert.
Das ist ein vernichtendes Urteil für die Bundesregierung. Ihr Programm ist ökonomisch unvernünftig, weil
Sie die Arbeitslosen finanziell unter Druck setzen, ohne
ihnen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Im
Gegenteil: Die Chancen werden noch geringer werden,
weil Sie den Menschen mit Ihrem Programm das Geld
aus der Tasche ziehen und damit die Binnennachfrage
schwächen. Die Schwächung der Binnennachfrage wird
die Konjunktur nicht ankurbeln, sondern bremsen und
damit den Arbeitsplatzabbau beschleunigen.
Ich möchte ein weiteres Zitat ausführen. Jim O’Neill,
Chefvolkswirt von Goldman Sachs - er ist kein Freund
der PDS, schätze ich -, sagt zum Problem der sinkenden
Binnennachfrage: Die Bundesregierung sollte an alle
Haushalte Schecks verteilen, die sofort eingelöst werden
können. Sie aber machen natürlich das Gegenteil, Sie
nehmen den Menschen Geld weg und wundern sich anschließend über die sinkende Binnennachfrage.
Ich finde, es ist nicht mehr von dieser Welt, wenn eine
Abgeordnete der Grünen dazu aufruft, Produkte made in
Germany zu kaufen, um Arbeitsplätze in unserem Land
zu sichern. Die Kollegin hat offensichtlich noch nichts
von der Globalisierung mitbekommen und klagt Patriotismus von den Konsumenten ein,
({8})
während gleichzeitig die vaterlandslosen Gesellen, wie
der Kanzler gern zu sagen pflegt, die Arbeitsplätze in
Billiglohnländer verlagern.
Der vierte Vorwurf, der uns gern gemacht wird, lautet,
dass die PDS den Menschen Angst mache
({9})
und es nicht zutreffe, dass Hartz IV Armut per Gesetz
sei.
({10})
Dieser Vorwurf zeigt, wie weit Sie sich schon von den
Menschen entfernt haben. Die Menschen haben begründete Angst und diese Angst wird ihnen nicht von uns,
der PDS, eingejagt - damit würde man uns als PDS auch
überschätzen -, sondern die Gesetze selbst machen den
Menschen Angst.
Frau Göring-Eckardt von den Grünen erklärt immer
wieder, dass es vielen Menschen durch Hartz IV besser
gehen würde. Das stimmt genau für 16 Prozent der Betroffenen. Sie werden mehr Geld haben als vor Hartz IV;
aber 48 Prozent, also fast die Hälfte, werden weniger bekommen und ein Drittel der bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger wird gar keine Leistungen mehr erhalten.
In Deutschland ist die Armutsrisikoquote nach Ihren
eigenen Berechnungen, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, im Laufe Ihrer Regierungszeit um etliche Prozent angestiegen. Für das Jahr 2005 sind für einen Alleinstehenden monatlich 613 Euro als steuerfrei zu stellendes Existenzminimum angegeben. Es ist also so
sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Mehrheit
der Arbeitslosenhilfeempfänger in Armut fallen wird. In
Anbetracht dieser Zahlen frage ich mich wirklich, wie
Sie über die Demonstrationen verwundert sein können.
Ich würde mich wundern, wenn es keine gäbe.
({11})
Ein letzter Vorwurf, der besonders boshaft ist und den
Sie uns besonders gern entgegenschleudern, besteht in
der Gleichsetzung der PDS mit Neonazis, wie ihn beispielsweise auch der Kanzler in vielen Interviews gebraucht hat. Dazu will ich Ihnen eines sagen: Meine Kollegin Petra Pau und ich waren bei der letzten
Montagsdemonstration in Berlin, auf der 10 000 Menschen gegen Hartz IV demonstriert haben. Nazis versuchten, sich in den Demonstrationszug einzuschleichen,
sie wurden mit wütenden Pfiffen von den Demonstranten vertrieben und das war richtig so.
({12})
Bei der Wahl des Bundespräsidenten ging man mit den
Nazis allerdings anders um. Ich darf nur daran erinnern,
dass Hitlers Marinerichter, der in den letzten Kriegstagen Todesurteile gegen junge kriegsunwillige Soldaten
unterschrieb, von der CDU, der SPD und den Grünen im
Landtag von Baden-Württemberg einstimmig als Mitglied der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten nominiert wurde und sich kein Politiker der etablierten Parteien daran störte. Ich darf also diese absurde
Gleichsetzung entschieden zurückweisen.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie machen nicht nur der
PDS Vorwürfe, sondern Sie werfen pauschal allen Ostdeutschen Undankbarkeit vor.
({14})
Wie sollen Ihrer Meinung nach die Ostdeutschen ihre
Dankbarkeit zum Ausdruck bringen? Die Ostdeutschen
sehen die Transferzahlungen sowie die Verbesserung
der Infrastruktur. Aber das eigentliche Problem, nämlich
fehlende Arbeitsplätze, ist nicht gelöst. Die Ostdeutschen möchten eben nicht auf Dauer auf Transferzahlungen angewiesen sein.
({15})
Im Gegenteil. Sie wollen selbstbestimmt leben und das
ist mit Transferleistungen nicht möglich und jetzt mit
Hartz IV noch weniger als vorher.
({16})
Ich werde das Thema Dankbarkeit einmal von einer
anderen Seite beleuchten. Wo fordern Sie eigentlich die
Dankbarkeit derjenigen ein, denen nach der Wende der
ostdeutsche Markt in den Schoß gefallen ist und die dadurch saftige Extragewinne erzielen konnten, so zum
Beispiel die Aldi-Brüder?
({17})
Sie erwarten auch keine Dankbarkeit von Unternehmen, die durch die Politik von Rot-Grün keine Kapitalsteuer zahlen müssen. Sie nehmen es einfach hin, dass
der weltgrößte Mobilfunkkonzern Vodafone 50 Milliarden Euro außerplanmäßig abschreiben will, um 20 Milliarden Euro an Steuern zu sparen. Warum klagen Sie,
meine Damen und Herren von Rot-Grün, nicht bei denen
Dankbarkeit ein, die im Kalten Krieg ihren Schnitt gemacht oder sich durch üppige Abschreibungen die deutsche Einheit persönlich vergoldet haben?
Frau Kollegin, es wird Ihnen nicht entgangen sein,
dass ich relativ großzügig mit Ihrer Redezeit umgehe.
({0})
Ja, ich bin gleich fertig. - Ich sage noch zwei, drei
Sätze zum Thema Populismus.
({0})
Es ist Populismus, wenn die SPD den Wählern vor der
Wahl soziale Gerechtigkeit und die Wiedereinführung
der Vermögensteuer verspricht und dann nach der Wahl
bei den Arbeitslosenhilfeempfängern abkassiert.
({1})
Der Vorwurf des Populismus trifft auch die Grünen,
die auf ihrem Bundesparteitag die Einführung der Vermögensteuer beschlossen haben, aber nichts, aber auch
gar nichts tun, um diesen Beschluss in Regierungshandeln umzusetzen.
({2})
Abschließend sage ich Ihnen etwas zu den Demonstrationen und Ihren Reaktionen darauf, und zwar in
Form eines Zitates aus der „taz“, das Sie sich vielleicht
merken sollten. Ich zitiere letztmalig mit Erlaubnis des
Präsidenten:
Jeden Montag Zehntausende auf die Straße zu bringen - das haben die Grünen, heute Adressat des
Protestes, nicht einmal zu ihren besten Anti-AKWZeiten geschafft... Dies zu ignorieren, dazu gehört
schon eine gewisse Unverfrorenheit.
Ich denke, der Protest gegen Hartz IV wird anhalten
und stärker werden. Sie wären schlecht beraten, nicht
darauf zu hören.
Vielen Dank.
({3})
Frau Kollegin, ein bisschen Redezeit lässt sich dadurch einsparen, dass die Genehmigung für Zitate gar
nicht mehr eingeholt werden muss. Das haben wir längst
in der Geschäftsordnung geregelt.
Im Übrigen nutze ich gerne die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass das Präsidium bei den zugegebenermaßen knappen Redezeiten, die für Nichtfraktionsmitglieder zur Verfügung stehen, entgegen einer oft
verbreiteten Vermutung eher besonders großzügig verfährt.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Joachim Poß
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Lötzsch, mit Ihren Aussagen haben Sie eigentlich bewiesen, dass alle Vorwürfe an die Adresse der PDS voll berechtigt sind.
({0})
Sie nutzen die Ängste der betroffenen Menschen schamlos aus.
({1})
Wer das macht, der ist populistisch, der hilft den Menschen nicht. Er verwirkt jeden Anspruch, für irgendeine
Art von sozialer Gerechtigkeit zu stehen.
({2})
Sie nehmen soziale Verantwortung nicht wahr. Was Sie
machen, können wir nicht hinnehmen.
({3})
Ich bin auch ganz sicher: Trotz Ihres jetzt in einigen
Ländern aktuellen Umfragehochs
({4})
werden die Menschen erkennen, wie schamlos Sie mit
ihren Interessen umgehen. Was Sie sich hier erlaubt haben, ist unter aller Kanone.
({5})
Jeder Vorwurf von Ihnen kann widerlegt werden. Das
gilt für das gesamte Leistungsspektrum im Zusammenhang mit Hartz IV und dafür, dass wir uns nun zum ersten Mal um Hunderttausende von Menschen, die bisher
auf dem Arbeitsmarkt keine Chance hatten, kümmern.
Wir kümmern uns konkret um die Frauen und Männer,
um die jungen Menschen, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Das unterscheidet uns: Wir kümmern
uns um die Menschen und nehmen unsere Verantwortung wahr, Frau Lötzsch.
({6})
Nach der schwachen Vorstellung von Frau Merkel
wird hier durch Hinweise auf Koalitionen, die bestehen,
abgelenkt.
({7})
Deren Bestehen ist nicht zu leugnen. Man muss sogar
konstatieren, dass es tüchtige PDS-Stadträte gibt,
({8})
die dabei helfen, die Menschen über Hartz IV und andere Themen aufzuklären und die die Langzeitarbeitslosigkeit wirklich bekämpfen wollen. Ich äußere mich hier
zu dem Beitrag von Frau Lötzsch und sage Ihnen: Das
ist unter aller Kanone. Das kann nicht hingenommen
werden. Das ist Demagogie pur und Linkspopulismus,
der keinem Menschen hilft.
({9})
Frau Merkel hat heute wirklich eine große Chance
vertan.
({10})
Einige von Ihnen werden, wie auch ich, die Sendung
„ARD Morgenmagazin“ gesehen haben, in der vielen
Kollegen aus Ihren Reihen, zum Beispiel Herrn Rauen,
Fragen gestellt wurden. Dort wurden der Vorsitzende der
Jungen Gruppe und andere interviewt und nach dem Zustand der Union gefragt. Herr Rauen - er ist ja kein Unbekannter, sondern der Chef der Mittelstandsvereinigung
in der Union ({11})
wurde gefragt, wie die Situation der CDU sei und ob er
mit ihr zufrieden sei. Darauf hat Herr Rauen wörtlich gesagt: „Überhaupt nicht!“
({12})
Das ist doch eine zutreffende Umschreibung der Situation der CDU. Hier können wir dem Kollegen Rauen
ausnahmsweise einmal Recht geben.
({13})
Der Vorsitzende der Jungen Gruppe hat sinngemäß
gesagt:
({14})
Wenn es uns nicht gelingt, die konzeptionellen Defizite und die Streitpunkte, die wir mit der CSU über
das 100-Milliarden-Euro-Missverständnis haben - Frau
Merkel wird ja immer mehr zu einem 100-MilliardenEuro-Missverständnis -,
({15})
in diesem Herbst auszuräumen, dann sind wir nicht regierungsfähig. Im Anschluss an diese Debatte, in der
Frau Merkel alle konkreten Antworten schuldig geblieben ist, würde ich sagen:
({16})
Sie sind nicht nur nicht regierungsfähig, sondern noch
nicht einmal oppositionsfähig.
({17})
- Herr Kampeter, auch Sie haben keine Frage beantwortet.
({18})
Zum Beispiel haben Sie nicht die Frage beantwortet, die
wir gestern schon gestellt haben und deren Beantwortung wir uns von Frau Merkel gewünscht hätten,
({19})
wie die Vorschläge von Herrn Stoiber umgesetzt werden
sollen. - Jetzt seien Sie doch mal ein bisschen still! ({20})
Frau Merkel hat mehr Investitionen im Bundeshaushalt
gefordert - so war sie jedenfalls zu verstehen - und Herr
Stoiber schlägt eine Kürzung um 5 Prozent vor. Beantworten Sie diese Frage doch ganz einfach!
({21})
- Nein, auch Sie haben keine Frage beantwortet.
({22})
Deswegen sind jetzt Sie an der Reihe, in der Öffentlichkeit erst einmal für Klarheit über Ihre Konzepte zu sorgen. Sie sollten sich aber nicht immer dann, wenn es unangenehm wird, mit rechtspopulistischem Getue in die
Büsche schlagen und konkreten Fragen ausweichen.
({23})
Daher meine herzliche Bitte an Sie: Nutzen Sie dazu die
Chance, die Ihnen der weitere Verlauf der Haushaltsdebatte bietet!
({24})
- Sie, Herr Kollege Kauder, bitte ich: Kläffen Sie nicht
ständig dazwischen! Denn das, was Sie machen, ist unerträglich.
({25})
Das Wort hat nun der Kollege Bernhard Kaster, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Als Haushälter, der für das Bundeskanzler- und das Bundespresseamt zuständig ist, habe ich mich schon ein wenig gewundert - nach der letzten Rede tue ich das nicht
mehr -, als quer durch alle Medien zu lesen, zu hören
und zu sehen war - diese Kritik wurde sogar in Ihren eigenen Reihen geäußert -, dass die Bundesregierung
mangelhafte Informationspolitik betreibe. Es war die
Rede von einem Kommunikationsdesaster und einem
Kommunikationschaos, wie wir es eben auch hier erlebt
haben. Manch einer im Land wird sich natürlich die
Frage gestellt haben: Fehlt vielleicht einfach das nötige
Geld für eine ordentliche Informationspolitik, um
Hartz IV zu vermitteln?
({0})
Dazu möchte ich Ihnen die Wahrheit sagen. Die
Wahrheit ist, dass allein Minister Clement das zweite
Jahr infolge nur für die Kommunikation der Hartz-Reformen zusätzliche Mittel in Höhe von jährlich 15 Millionen Euro angesetzt hat.
({1})
Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg hat sich für
ihre Öffentlichkeitsarbeit einen Rekordetat in Höhe von
40 Millionen Euro geleistet. Gleichzeitig haben die PRMittel von Bundespresseamt und Bundesregierung noch
nie da gewesene Höhen erreicht.
({2})
Die Wahrheit ist auch, um das zu komplettieren: Die
Bundesregierung hat alleine in den letzten zwölf Monaten - und das nach eigenen Angaben! - über 30 Millionen Euro für alle möglichen und unmöglichen Zeitungsanzeigen und Plakatkampagnen zur Agenda 2010
ausgegeben.
({3})
Wir haben es in unserer Fraktion in diesem Sommer
einmal genau nachgerechnet: Die Bundesregierung verprasst zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit
jährlich eine viertel Milliarde Euro für Öffentlichkeitsarbeit.
({4})
- Das ist unglaublich; diese Höhe gab es noch nie. - Und
dann, man glaubt es nicht, muss in den letzten Wochen
mit einer mit heißer Nadel gestrickten Anzeigenkampagne „Betrifft: Hartz IV“ und einem so genannten Lagezentrum auf das offenkundige Informationsdefizit mehr
schlecht als recht, ja hilflos reagiert werden. Es folgt sogar ein Schwarze-Peter-Spiel zwischen Presseamt, Wirtschaftsminister und Bundesagentur, wer denn da eigentlich was machen soll. Das sind Strategen, kann ich dazu
nur sagen!
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wieso schafft es
diese Bundesregierung nicht, mit solchen Rekordetats
die Bevölkerung zu informieren, Vertrauen zu erwecken,
({6})
die eigentlichen Botschaften der Hartz-IV-Reform zu
transportieren? Die Erklärung ist recht einfach: Immer
und immer wieder haben wir hier in diesem Hause gefordert, dass Informationspolitik nicht auf platte, stimmungsmachende Werbung wie im Wahlkampf reduziert
werden darf. Jeder kennt noch die Sprüche, die auf den
Plakatwänden überall standen.
({7})
Jetzt kam es zur Nagelprobe für die Informationspolitik
und da wurde das Debakel einer vollkommen falsch konzipierten Informationspolitik offenbar.
({8})
Werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
sprechen zwar schon selbst öffentlich vom Kommunikationsdesaster bzw. Kommunikationschaos; Konsequenzen werden aber erstaunlicherweise nicht gezogen. Konsequenzen haben dagegen Ihre Ressortminister gezogen:
Mittlerweile wird Regierungssprecher Béla Anda so wenig zugetraut, dass jedes Ministerium auf eigene Faust
versucht, in der eigenen Pressestelle ein eigenes
Kommunikationskonzept zu entwickeln und damit die
Lücken zu füllen.
({9})
Ich komme jetzt auch zu den Zahlen; das kostet uns ja
alle viel Geld. Die Ressortminister haben seit dem Antritt von Herrn Anda im Jahre 2002 ihre Einzeletats von
28,5 Millionen Euro in 2002 auf jetzt 65,98 Millionen
Euro im Haushaltsentwurf für 2005 erhöht. Das sind die
reinen Ausgaben, nur für die einzelnen Ministerien,
({10})
ohne Bundespresseamt. Damit wird dieser Regierungssprecher zum teuersten Regierungssprecher aller Zeiten.
({11})
Die Bundesregierung muss endlich dafür sorgen, dass
wieder sachliche und seriöse Information erfolgt. Fangen Sie hier endlich mit dem Sparen an! Kündigen Sie
diese unsäglichen Werbeverträge! Hier können Sie ein
Zeichen setzen, dass gespart werden kann.
({12})
Sparen darf bei dem Haushalt 2005 nicht eine allgemeine Floskel bleiben.
Um es vorweg zu sagen: Der große Verlierer der gigantischen Schuldenpolitik, die wir erleben, ist eindeutig
die junge Generation: Verlierer sind hier unsere Kinder.
({13})
Seit der Regierungsübernahme durch Rot-Grün ist die
Verschuldung des Bundes von 743 Milliarden Euro auf
jetzt 847 Milliarden Euro gestiegen. Schon heute steht
fest: Die Schulden des Bundes werden bis Ende 2005
auf 890 Milliarden Euro angestiegen sein. Unser Schuldenberg ist unter Rot-Grün in nur sieben Jahren um
150 Milliarden Euro angestiegen. Hinzurechnen muss
man das Verscherbeln von Bundesvermögen in einer
Größenordnung von nachweisbar 100 Milliarden Euro.
In der Addition ergibt das einen Betrag von einer Viertel
Billion Euro. Das muss man sich einmal vorstellen! Es
ist unglaublich, was für eine Last der jungen Generation
hier aufgebürdet wurde. Die großen Verlierer Ihrer
Haushaltspolitik sind damit die jungen Menschen in unserem Land. Die letzten Reserven unserer Kinder werden durch Ihre Politik aufgezehrt. Kein verantwortlicher
Familienvater, weder in Berlin noch in Hannover oder
sonstwo, würde das wohl seinen Kindern antun.
Vielen Dank.
({14})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.
Zugleich rufe ich Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen
({0})
- Drucksachen 15/3447, 15/3592 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({2})
- Drucksache 15/3684 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Ruprecht Polenz
Harald Leibrecht
Zunächst erteile ich dem Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Außenpolitik war und ist - dies wird also auch für
die Zukunft so gelten - in die europäische und die transatlantische Politik eingebunden. Allerdings verändern
sich die beiden Grundpfeiler - die europäische und die
transatlantische Politik - gegenwärtig tief greifend, vielleicht sogar fundamental.
Ihre Bedeutung für unsere Politik wird sich nicht verändern, die Sache selbst aber wohl. Sowohl Europa als
auch die transatlantische Politik werden tief greifenden
Veränderungen unterliegen. Das haben wir gerade in den
letzten Jahren in der Außenpolitik gespürt. Wir haben
mehr und mehr außenpolitische Verantwortung übernommen. Zugleich sind die Herausforderungen nicht nur
für die Diplomatie, sondern auch für die Bundeswehr,
für den Bereich der Entwicklungshilfe und im Gesamtzusammenhang der Außenpolitik rapide gestiegen.
Die Welt hat sich radikal verändert. In Kürze werden
wir den Jahrestag des 11. September 2001 begehen, an
dem das furchtbare Verbrechen gegen die Vereinigten
Staaten verübt wurde. Wir sind noch heute unter dem
Eindruck eines anderen furchtbaren Verbrechens: in Beslan in Ossetien. Ein erster Schultag wurde dort für einen
furchtbaren Terroranschlag genutzt, bei dem so viele
Menschen - an erster Stelle die Kinder und ihre Mütter zu Geiseln genommen und viele von ihnen getötet, umgebracht, ermordet wurden. Das macht klar, dass wir es
heute mit einer völlig anderen Situation als zu Zeiten des
Kalten Krieges zu tun haben. Ich denke, wenn wir über
die Außenpolitik sprechen, werden wir uns daran zu orientieren haben.
Es ist richtig, dass wir den jüngsten Terroranschlag in
Russland einmütig verurteilen und voller Abscheu über
dieses furchtbare Verbrechen sind. In diesem Zusammenhang wurde aber eine merkwürdige Debatte über die
Frage der Menschenrechte begonnen. Ich möchte das
hier einmal direkt ansprechen. Ich weiß nicht, ob Frau
Merkel gut beraten war oder ob das nicht Ausdruck einer
mangelnden Trittsicherheit ist. Bei allem, was man ohne
jeden Zweifel an Russland kritisieren kann und manchmal auch kritisieren muss, glaube ich, dass Frau Merkel
falsch liegt, wenn sie die Erfahrungen mit dem Russland
von heute mit den Erfahrungen in der kommunistischen
DDR und der Sowjetdiktatur vergleicht.
({0})
Deswegen sage ich nochmals: Die Zukunft Russlands
lässt sich nicht an einem solchen Maßstab messen. Wir
wissen heute doch, dass das angesichts der großen Probleme, aber auch angesichts der Bedeutung, die dieses
Land hat, keine Aufgabe weniger Jahre ist.
Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Es war
keine Reise, während der wir uns nicht auch selbstverständlich mit den Vertretern der Zivilgesellschaft in
Moskau und der Menschenrechtsorganisationen getroffen haben. Im Übrigen haben wir auch einen ständigen
Dialog über die Entwicklung in Tschetschenien geführt.
Es gab keine Diskussion mit der russischen Seite, bei der
nicht intensiv über die Frage der politischen Lösung in
Tschetschenien und die Menschenrechte gesprochen
wurde.
Ich erinnere mich auch an einen Auftritt meines Kollegen Iwanow, des Vorgängers des jetzigen russischen
Außenministers, im Auswärtigen Ausschuss. Die FDP
und die CDU/CSU waren anwesend. Es gab eine sehr
vernünftige Diskussion, bei der manches, was vorher angekündigt wurde, nicht Wirklichkeit wurde. Die Frage,
worin denn die politische Lösung besteht, ohne dass
letztendlich Schlimmeres eingeleitet wird, wurde auch
dort nicht beantwortet. Manchmal ist es einfach notwendig, zu begreifen, dass man zwar Gesamtkonzepte,
Visionen und Ähnliches fordern kann, dass die Welt bisweilen aber nicht so einfach ist. Das gilt vor allen Dingen dort, wo in der Vergangenheit schwere Fehler gemacht wurden.
Die große Problematik, vor der wir heute stehen, ist
die Verbindung zwischen dem islamistischen Terrorismus und der Tschetschenienfrage. Die tiefe Penetration
der terroristischen Gruppen hängt mit ihrer Ideologie zusammen. Das ist eines der Elemente, mit denen wir es zu
tun haben. Ich sage Ihnen ganz offen: Dem Bundeskanzler vorzuwerfen, dass er all diese Fragen - das weiß
ich - mit der russischen Seite nicht immer wieder diskutiert hätte, ist meines Erachtens gegenüber dem Bundeskanzler nicht nur zutiefst ungerecht, sondern auch in der
Sache schlicht und einfach falsch.
({1})
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Die Erklärung von
Präsident Putin von Sotschi, bezogen auf den Iran - darauf komme ich nachher noch zu sprechen -, in der deutlich wird, dass Russland dieselbe Position einnimmt wie
die Europäer, ist angesichts der Gefährdung durch eine
Misskalkulation in Teheran von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Ich sagte schon, die Welt hat sich radikal verändert
und wird sich radikal verändern. Ich behaupte sogar,
dass wir uns von vielem, was uns im Denken selbstverständlich geworden ist, werden verabschieden müssen.
Warum? Weil sich vieles nur noch als Scheinoption darstellen wird. Wir leben die Globalisierung. Die Globalisierung wird einen politischen Druck in Richtung Multilateralismus auslösen. Das wiederum ist nichts, das sich
gegen die einzige Weltmacht, die USA, richtet, sondern
aus meiner Sicht - da liegt eine der zukünftigen Aufgaben, die wir direkt nach den amerikanischen Wahlen aufnehmen und fortführen müssen; das müssen wir mit der
„Wider Middle East Initiative“, also der Initiative für
den größeren Nahen Osten und seiner friedlichen Transformation, anpacken - wird die Welt nur funktionieren,
wenn die USA ihrer Führungsaufgabe gerecht werden,
einen effektiven Multilateralismus des 21. Jahrhunderts
zu entwickeln.
({2})
Dass es sich dabei nicht um eine billige Formel handelt, zeigt die Geschichte. Das heutige multilaterale System ist aus dem Scheitern des ersten multilateralen Systems entstanden, das nach 1918/19 von Präsident Wilson
initiiert wurde, des Völkerbundes. Die Konsequenz des
Scheiterns des Völkerbundes in der totalitären Epoche
der 30er-Jahre in Europa war das strategische „Grand
Design“ von Roosevelt und nachher im Kalten Krieg
von Truman, die Entwicklung des VN-Systems, wie wir
es heute kennen. Das macht klar, dass es hier keinen Widerspruch gibt. Ich möchte sogar behaupten, der Transatlantismus der Zukunft - ich meine, er muss eine Zukunft
haben - wird genau diesen strategischen Konsens anstreben müssen, und zwar nicht unter Ausschluss Russlands,
sondern unter Einschluss Russlands.
Oft ist es so, dass sich aus dem Negativen auch Positives entwickeln kann. Ich bin der festen Überzeugung,
dass das furchtbare Verbrechen, das wir in der jüngsten
Vergangenheit erlebt haben, in Moskau ein erneutes
Nachdenken nach sich ziehen wird, ob eine wesentlich
festere Verankerung und Orientierung hin zum Westen
nicht tatsächlich das Gebot der Stunde ist. Wenn es so
wäre, dann sollten wir intensiv daran arbeiten, dass sich
die russische Demokratie, die Zivilgesellschaft und die
Kohärenz dieses Landes in Richtung Moderne entwickelt. Hier hat Deutschland dank seiner exzellenten
Beziehungen, die wir zu Russland haben, eine besondere
Aufgabe, der wir uns stellen sollten.
({3})
Auch Europa steht vor wichtigen Herausforderungen.
Wir sind dabei, unsere Hausaufgaben abzuschließen. Die
Verfassung steht zur Ratifizierung an. Ich sage nochmals: Sie taugt nicht für innenpolitische Profilierungsspiele. Ich bekenne ganz offen, dass ich - nicht als Bundesaußenminister, sondern als Mitglied des Hauses eine andere Position habe als die überwiegende Mehrheit
meiner Partei. Was ist daran schlimm? Das ist bei mir
nicht das erste Mal der Fall. Es adelt demokratische Parteien weiß Gott eher, denn dass es sie beschädigt, wenn
man in einem Punkt unterschiedlicher Meinung ist.
Wovor ich nur warnen kann, sind taktische innenpolitische Spiele zur Ratifizierung der europäischen Verfassung, weil es hier um eine zentrale Zukunftsfrage geht.
({4})
Freuen Sie sich doch, Herr Glos, dass wir beide hier
vielleicht einer Meinung sind. Wenn Sie meine Meinung
teilen, dann haben Sie vielleicht Probleme mit der Mehrheit in der CSU. Ist das schlimm?
({5})
- Entschuldigung, ich sage nochmals als Bundesaußenminister: Es ist von überragender Bedeutung, dass wir
diese Verfassung nach der Unterzeichnung schnell ratifizieren, nach Möglichkeit mit einer breiten Unterstützung
des Deutschen Bundestages.
({6})
Wie weit wir die Verfassungsrealität ändern wollen, ist
meines Erachtens eine andere Debatte.
Nur appelliere ich noch einmal auch an Sie, Herr
Glos: Wir können in der Türkeifrage höchst unterschiedlicher Meinung sein - ich akzeptiere das, auch
wenn ich Ihre Position nicht teile -, aber wir sollten hier
meines Erachtens klar unterscheiden zwischen der innenpolitischen Kontroverse und außenpolitischer Verantwortung.
({7})
In einer ernst gemeinten Diskussion - ich komme gleich
noch einmal auf die Details zu sprechen - sollten wir
hier eine klare Unterscheidung treffen.
Wenn wir hier über den Kampf gegen den Terrorismus, über eine Neugestaltung des transatlantischen Verhältnisses und über die Frage der Sicherheit Europas
sprechen, dann müssen wir den Menschen in unserem
Land sagen: Unsere Sicherheit wird bis Mitte des
Jahrhunderts - ich nehme hier den Zeitraum des Kalten
Krieges, weil mir eine andere historische Bezugsgröße
nicht zur Verfügung steht - nicht mehr entlang der OstWest-Achse definiert werden, wie wir es gewöhnt sind
und in die unsere Generation hineingeboren wurde, sondern unsere Sicherheit wird im Mittelmeerraum und im
Nahen und Mittleren Osten definiert werden, dort, wo
die neue totalitäre Herausforderung entstanden ist und
wo die Modernisierungsblockaden existieren. Unsere
Sicherheit, die Sicherheit der Deutschen und die Sicherheit der Europäer, wird dort bestimmt werden. Wenn
dem aber so ist, dann ist die Frage, welche Entscheidung
der Westen auf der Grundlage eines gemeinsamen strategischen Konsenses treffen muss, von überragender Bedeutung für die zukünftige Gestaltung der Sicherheit.
Das gehört meines Erachtens, neben der polizeilich-militärischen Dimension, auch in die Antwort auf das, was
man Krieg gegen den Terrorismus nennt.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es sind Entscheidungen
getroffen worden, die leider das Gegenteil bewirkt haben. Bei der gegenwärtigen Sicherheitslage im Irak stellt
sich natürlich die Frage: War die Position der Bundesregierung nicht richtig, vor diesem Schritt gewarnt zu haben,
({8})
weil die zweiten und dritten Folgen eben nicht kontrollierbar und beherrschbar sind? Ich komme mit Sorge von
meiner letzten Reise zurück, von der Sie sagen: Außer
Spesen nichts gewesen. So ist das halt manchmal beim
Außenminister aus der Sicht eines Oppositionspolitikers.
Aber ich sage Ihnen: Sehr viel gewesen außer Spesen.
Zu Tschetschenien habe ich mich geäußert. Beim Irak
hoffe ich darauf, dass die Vereinbarung von Brahimi umgesetzt werden kann und wir hier nicht wegrutschen in
Richtung eines Failing State. Im Nahen Osten sind die
Dinge nicht gerade zum Besseren entwickelt, was die
Lösungsmöglichkeiten betrifft.
Alles dieses sind Faktoren europäischer Sicherheit.
Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen: Wenn hier
nicht strategische Entscheidungen zwischen den transatlantischen Partnern in Richtung Herstellung eines Konsenses getroffen werden, wird diese ganze Region verstärkt in eine eher negative Entwicklung hineinrutschen.
Das ist meine große Sorge. Wenn dann noch die Nukleardebatte mit Iran hinzukommt, bekommen wir hier
eine zusätzliche Aufladung, die alles andere als sorgenfrei machen kann. Im Gegenteil, die Entwicklung erfüllt
mich mit großer Sorge.
Wenn aber all das richtig ist, dann müssen Sie doch
akzeptieren - ich verstehe ja all die alten Europäer, die
meinen, die Türkei werde uns überfordern, was die innere Kohärenz betrifft, aber ich kann doch diese neuen
Realitäten nicht schlicht und einfach ignorieren und
nicht begreifen -, dass für Europa die Entscheidung für
oder gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei angesichts der zu erwartenden positiven
oder negativen Reaktionen der Türkei von überragender
strategischer Bedeutung ist. Ich behaupte sogar: Sie ist
für den Westen von überragender strategischer Bedeutung.
({9})
Das Zweite: Wir müssen gemeinsam mit den USA
- die USA müssen hier den Driver Seat einnehmen, also
im Führerhaus sitzen - die Entscheidung herbeiführen
und gemeinsam jede Anstrengung unternehmen, um die
Zwei-Staaten-Lösung im israelisch-palästinensischen
Konflikt durchzusetzen. Das sind für mich die beiden
großen Herausforderungen, wenn wir regionale Stabilität
in dieser Region tatsächlich ernst nehmen.
Das Dritte ist: Ich kann nur nochmals an Teheran appellieren, zu begreifen, wie wichtig es ist, dass Teheran
an den Vereinbarungen festhält und sie von A bis Z umsetzt. Man muss begreifen, dass das Schließen des
Brennstoffkreislaufes eine hochgefährliche Fehlkalkulation wäre. Wenn wir an der Vereinbarung festhalten, die
die Außenminister mit Teheran getroffen haben - darin
liegt die Bedeutung der Erklärung von Präsident Putin in
Sotschi bei dem Treffen mit Präsident Chirac und Bundeskanzler Schröder -, dann besteht die große Chance,
dass wir gemeinsam mit unserem amerikanischen Partner diesen konstruktiven Weg vorangehen. Das setzt
aber voraus, dass keine Fehlkalkulationen vorliegen, von
denen ich meine, dass sie in dieser ohnehin schon hoch
instabilen und gefährlichen Situation zu wesentlich mehr
Gefahr beitragen können.
({10})
Ich habe mit großer Verwunderung manche Äußerungen gehört - das werden wir bei den Mandatsverlängerungen zu diskutieren haben -, die unser Engagement
betreffen. Ich dachte immer, wir hätten darüber einen
Konsens. Wir betreiben keine nationale deutsche Außenpolitik, sondern das sind unsere nationalen Beiträge. Wir
sind in internationale Entscheidungen eingebunden.
Wenn ich höre, es mangele an einem Gesamtkonzept Afghanistan, dann kann ich nur sagen: Dieses Gesamtkonzept Afghanistan ist auf zwei Afghanistankonferenzen
definiert, in Sicherheitsratsresolutionen umgesetzt worden und bildet die Grundlage für das, was die internationale Staatengemeinschaft unter Einschluss der Bundesrepublik Deutschland und unserer Soldaten und
Diplomaten tatsächlich macht.
({11})
Ich weiß aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie schwierig solche Debatten sind. Ich meine das gar nicht überheblich, sondern ernsthaft. Die Bundesregierung ist für
jede Anregung sehr dankbar - aber sie muss dann bis zu
Ende diskutiert werden -, wenn es notwendig ist, eine
Strategie zu verändern und sich dafür im internationalen
Rahmen einzusetzen. Nur, zu meinen, wegen der
Schwierigkeiten sollten wir abziehen oder Spielräume
weiter einengen, ist eine sehr kurzsichtige Politik.
Ich habe gestern über Afghanistan im Ausschuss gesagt: Wenn ich vorausblicke, dann frage ich mich, ob wir
diesen Berg von Herausforderungen bewältigen können.
Blicke ich aber zurück, dann denke ich: Was haben wir
nicht alles erreicht! Der Konsens hält bis auf den heutigen Tag. Die verfassungsgebende Versammlung, die
Verfassungs-Loya-Jirga, hat bei allen Schwierigkeiten
und Vertagungen letztendlich eine belastbare Verfassung
für Afghanistan sozusagen als Institutionalisierung des
Konsenses vom Petersberg erreicht. Es gibt nach wie vor
die Warlords, die Zersplitterung des Landes und den
Drogenanbau, der nicht nur für uns, sondern zunehmend
auch für die Transitstaaten und vor allen Dingen für die
afghanische Entwicklung extrem besorgniserregend ist.
Diese Probleme anzugehen muss Priorität Nummer eins
nach den Wahlen sein.
({12})
- Es muss doch nicht immer einer bestreiten. Herr
Pflüger, ich sage doch nur: Nach dem, was ich gehört
habe, werden Mandatsverlängerungen infrage gestellt.
Deshalb gestatten Sie mir, dass ich hier die Gelegenheit
nutze, unsere Politik darzustellen.
({13})
Ich weiß doch, Kollege Pflüger, dass wir in diesem
Punkt vermutlich keinen Dissens haben. Aber es gibt
welche, die das anders sehen. Deswegen gehe ich darauf,
wie ich meine, in der gebotenen Sachlichkeit und Präzision ein.
({14})
- Ich beschwere mich nicht. Ich bedanke mich für die
Solidarität der Opposition für diese Mandate und hoffe,
dass es dabei bleibt.
({15})
Denn das ist im Interesse der eingesetzten Soldaten, Diplomaten und Entwicklungshelfer. Auf der anderen Seite
bin ich der Meinung, dass wir unseren Verpflichtungen
gerecht werden müssen. Wenn die internationale Gemeinschaft aus Afghanistan abzieht, dann wissen wir genau, was die Folge sein wird. Es wird wieder ein
Schlachtfeld der Interessen im Land und der regionalen
Interessen werden. Das ist übrigens eine Gefahr, die im
Irak alles andere als ausgeräumt ist, wenn wir das
nächste Jahr betrachten.
Deswegen wird es wichtig sein, dass wir die notwendige Durchhaltefähigkeit haben. Dasselbe gilt auch für
den Balkan. Wenn Fehler bei einem Einsatz gemacht
worden sind, müssen diese selbstverständlich aufgearbeitet werden. Es kann auch zu Recht die Frage aufgeworfen werden, ob nicht größere Enklaven aufrechterhalten werden sollen, wenngleich von der anderen Seite
die Besorgnis kommt, dass das auf einen Teilungsplan
hinausläuft. Das muss man wissen.
Aber ich kann nur davor warnen, davon auszugehen,
man könne die „Standard vor Status“-Politik einfach
beiseite wischen. Egal, wie sich die Statusfrage am Ende
darstellt: Ohne die Schaffung demokratischer, ökonomischer und marktwirtschaftlicher Standards wird jede
Statuslösung letztendlich keine Stabilität, sondern nur
Instabilität kreieren. Das gilt nicht nur für das Land
Kosovo, sondern für die gesamte Region.
({16})
Auch das muss man wissen.
Deswegen meine ich, dass wir diesen Weg weitergehen müssen. Es ist ein schwieriger Weg, zumal ich
meine, dass die Kosovofrage nur dann gelöst werden
kann, wenn sich die Gesamtsituation ändert. Meine Erfahrung ist, dass in Bosnien die positiven Wirkungen der
Fortschritte Kroatiens in Richtung Europäische Union
schon heute feststellbar sind. Plötzlich wird nicht mehr
nur unter dem Gesichtspunkt der eingefrorenen ethnischen Konfrontation diskutiert; stattdessen erfolgt eine
Öffnung gegenüber der Perspektive Europa. Ich habe es
selbst erlebt.
Es handelt sich um einen langen Prozess. Wir reden
nicht von wenigen Jahren. Das wissen Sie auch, meine
Damen und Herren. Das zeigt schon ein Blick auf die
ökonomischen Fakten. Der Hass, die nach wie vor nicht
geschlossenen Wunden, die dort vorhanden sind, machen unseren dauerhaften Einsatz notwendig. Ich akzeptiere, dass es das Recht und vor allen Dingen auch die
Pflicht der Opposition ist, die Regierung dahin gehend
unter Druck zu setzen, ob Fehler gemacht wurden. Das
habe auch ich als Oppositionsabgeordneter nicht anders
gehandhabt.
Aber ich appelliere nochmals an alle: Lassen Sie uns
sauber zwischen der Innenpolitik und den außenpolitischen Konsequenzen unterscheiden. Dabei handelt es
sich nicht immer um dasselbe Paar Schuhe; das können
durchaus zwei unterschiedliche Paar Schuhe sein. Das
ist oft der Fall und gilt auch und gerade für den Balkan.
Wir stehen hier vor großen Herausforderungen und Veränderungen.
Lassen Sie mich an diesem Punkt darauf eingehen.
Der Kollege Schäuble wird gleich sprechen. Er ist der
Ansicht, wir überheben uns mit unserer Position und
meint, dass Deutschland, wenn es zu einer Änderung der
Sitzverteilung im Sicherheitsrat kommt, keinen Sitz bekommen sollte.
Das aber würde doch keiner verstehen, weil nach objektiven Kriterien entschieden wird. Sie fordern zu
Recht einen europäischen Sitz. Ich wäre der Erste, der
dafür wäre. Damit meine ich aber einen echten europäischen Sitz, der nicht so, wie das bei einem wichtigen
Bündnispartner und Partner in der Europäischen Union
vorgesehen ist, sozusagen im Huckepackverfahren, bei
dem die Staaten rotieren, besetzt wird. Während die Rotation bei der EU-Präsidentschaft abgeschafft wird,
würde sie im Sicherheitsrat eingeführt.
Wenn ein europäischer Sitz geschaffen wird, dann
sollte es ein echter sein. Das heißt, dass dann nicht ein
Mitgliedstaat, sondern die Europäische Union im Sicherheitsrat vertreten ist.
({17})
- Sie hätten mich, wie gesagt, sofort an Ihrer Seite. Ich
würde mich sogar an die Spitze stellen. Ich habe meine
Integrationsüberzeugungen nicht an der Garderobe des
Außenministeriums abgegeben, im Gegenteil. Aber Sie
werden es nicht schaffen und das wissen Sie auch, Kollege Schäuble. Sie werden es wegen der Gründe nicht
schaffen, die bei den derzeit zwei europäischen P-5-Mitgliedern zu suchen sind. Das sind nachvollziehbare
Gründe, die ich nicht kritisiere.
Gestatten Sie mir, die entscheidende Frage zu stellen
- dabei werde ich es belassen -: Was wäre eigentlich,
um auf die Ära Roosevelt zurückzukommen, wenn die
große Macht auf der anderen Seite des Atlantiks ein
durchbuchstabiertes Interesse an einer umfassenden Reform des multilateralen Systems artikulieren würde?
Diese Diskussion darf man nicht vergessen.
Am Ende unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat als
nicht ständiges Mitglied haben wir doch gesehen, wie
viel Zustimmung und Vertrauen die Bundesrepublik
Deutschland, das wiedervereinigte Deutschland, genießt,
({18})
und zwar - das sage ich mit allem Selbstbewusstsein auch und gerade aufgrund der Politik dieser Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({19})
All die Isolationsängste - auch sie nehme ich zum
Teil ernst; ein anderer Teil war der Parteipolitik geschuldet - haben sich als nicht richtig erwiesen. Deswegen
kann ich nur feststellen: Wir werden dieser Politik verpflichtet bleiben. Gerade im Kampf gegen den Terror bedeutet das, dass die Menschenrechte ein essenzieller Teil
unserer Verfassungswirklichkeit sind.
({20})
Die Terroristen wollen doch nichts anderes, als uns in
einen Krieg der Zivilisationen und der Revolutionen zu
treiben. Denn sie meinen, über einer solchen Chaosperspektive werde ihr Weizen erblühen.
Ich weiß zwar nicht, wie die Lage in unserem Land
aussähe, wenn wir genauso schlimme Terroranschläge
zu erleiden gehabt hätten wie einige wichtige Partner im
Bündnis oder Russland. Aber wir verteidigen uns und
auch unsere Grundwerte. Darum geht es.
Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, eine unabhängige Öffentlichkeit und der Schutz des Individuums, aber auch eine freie Marktwirtschaft sind essenzielle Bestandteile. Das prägt auch die Kopenhagener
Kriterien der Europäischen Union. Die Türkei hat zwar
bereits gewaltige Fortschritte gemacht und aufgeholt.
Wenn sie aber erfolgreich sein will, wird sie in Zukunft
noch gewaltigere Fortschritte machen müssen. Das wird
ein Signal für die gesamte Region sein. Es wird auf jeden Fall weit über die Türkei hinausgehen. Das wird unsere strategische Sicherheit im 21. Jahrhundert gewährleisten. Es wird sicherlich keinen Automatismus geben.
Erst wenn die Türkei europafähig ist, werden die dann
Verantwortlichen auf beiden Seiten über den Beitritt entscheiden müssen. Das wird zehn bis 15 Jahre dauern.
Wir müssen gerade angesichts der gemeinsamen Herausforderungen Russland auf seinem Weg Richtung
Westen weiter begleiten und bestärken. Wir müssen außerdem den Nahostkonflikt lösen und müssen allen jungen Gesellschaften im Nahen Osten auf einer gemeinsamen partnerschaftlichen Grundlage eine Perspektive für
eine friedliche Transformation und den Anschluss an die
Moderne auf der Grundlage der großartigen Kultur des
Islams eröffnen. Dafür brauchen wir Europa. Die deutsche Außenpolitik kann das nicht alleine. Deutsche Außenpolitik ist nur als Beitrag zu Europa und zum Transatlantismus denkbar. Hierfür brauchen wir den
strategischen Konsens mit den USA.
Das ist die Politik, die die Bundesregierung verfolgt,
gründend auf unseren Werten. Das ist die Definition unserer Interessen. Meines Erachtens ist die entscheidende
Herausforderung, den kommenden Generationen Sicherheit, Frieden und Stabilität zu garantieren. Dieser Politik
fühlen wir uns verpflichtet. Wenn wir eines Tages dafür
wieder mehr Mittel zur Verfügung haben, dann freuen
wir uns; denn wir haben sie dringend nötig. Ich weiß natürlich, dass die entsprechenden Mittel heute nur sehr
schwer aufzubringen sind.
Ich danke Ihnen.
({21})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Wolfgang
Schäuble das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vieles von dem, was der Außenminister gesagt hat,
findet unsere Zustimmung. Man kann dem nur schwerlich widersprechen. Der entscheidende Punkt ist aber,
dass eine Reihe von Antworten, die wir gerne gehabt
hätten, nicht gegeben worden sind. Um das gleich vorab
zu sagen: Herr Bundesaußenminister, ich möchte gerne
einmal von Ihnen wissen, ob Sie die Auffassung teilen,
dass sich demnächst der Weltsicherheitsrat mit dem Iran
befassen soll. Genau das ist die Frage, über die in den
Vereinten Nationen, in der IAEO und im transatlantischen Verhältnis diskutiert wird. Nur eine schöne Rede
zu halten, mit der man nicht aneckt und in der man diese
Frage nicht beantwortet, ist im Grunde einer Haushaltsdebatte, in der die Regierung die Grundlinien ihrer Politik beschreiben soll, nicht angemessen.
({0})
Ich sage aber ausdrücklich, dass ich das, was Sie über
Russland gesagt haben, im Wesentlichen teile. Wir alle
teilen - das kann man nicht oft genug sagen - den Schrecken, das Entsetzen über den dort begangenen unvorstellbaren terroristischen Angriff, bei dem man Kinder
und Säuglinge als Geiseln genommen und mit Sprengstoff miteinander verbunden hat.
Das Maß der Abartigkeit dieser terroristischen Bedrohung wird immer unglaublicher, unvorstellbarer. Es darf
angesichts einer solchen Herausforderung mit den Opfern, mit den Bedrohten und auch mit Russland nur eine
uneingeschränkte Solidarität und ein uneingeschränktes
Mitgefühl geben.
({1})
Das darf man auch nicht in irgendeiner Weise relativieren.
Sie haben gesagt: Es ist so schön, eine politische Lösung des Tschetschenienproblems und der Probleme im
Kaukasus zu fordern; aber es ist furchtbar schwer, sie zu
kennen. Ich sage ausdrücklich: Ich schließe mich dieser
Auffassung an. Ich habe schon oft gesagt: Auch ich
wüsste nicht so genau, wie diese Probleme zu lösen sind.
Es steht uns gut an, dabei gelegentlich ein Stück weit bescheiden zu sein. Dass wir für die Menschenrechte eintreten müssen, dass man dieses Eintreten mit dem Interesse an der Entwicklung und mit der Würdigung der
Fortschritte Russlands - Stichwort: Zusammenarbeit mit
Russland - verbinden muss, das alles ist richtig.
Dennoch stellt sich die Frage, ob der deutsche Bundeskanzler zu den Wahlen in Tschetschenien sagen
musste - das hat er ausweislich des Protokolls der Pressekonferenz gesagt; ich zitiere -:
Sie haben uns nach den Wahlen gefragt. Soweit ich
das übersehen kann, kann ich eine empfindliche
Störung der Wahlen nicht feststellen.
Jeder, der diese Wahlen beobachtet hat, hat Zweifel an
der Seriosität und an der Verlässlichkeit dieser Wahlen.
Anders ausgedrückt: Man geht davon aus, dass diese
Wahlen manipuliert worden sind.
Wir sind an einer engen Partnerschaft und Freundschaft mit Russland interessiert. Freundschaft muss auf
Wahrheit gründen. Wenn man sich unter Freunden nicht
die Wahrheit sagen kann, wem soll man dann die Wahrheit sagen?
({2})
Das hat der Bundeskanzler falsch gemacht und darüber
kann man nicht hinweggehen.
Herr Bundesaußenminister, an der Art der deutschen
Russlandpolitik könnte man manche Fehler und Mängel der deutschen Außenpolitik insgesamt darlegen. Sie
schießt eben immer ein Stück weit über das Ziel hinaus.
Sie ist kurzfristig, sie ist nicht wirklich balanciert und ihr
liegt keine langfristige Konzeption zugrunde. Um bei Ihnen anzufangen: Sie haben Anfang dieses Jahres vor der
Münchener Sicherheitskonferenz eine Rede gehalten, in
der Sie das Konzept „Wider Middle East“ vorgetragen
haben. Sie hätten wie ich wissen können, dass der
nächste Redner nach Ihnen der russische Verteidigungsminister ist. Ich habe nicht verstanden, dass in Ihrem
Konzept „Wider Middle East“ das Wort Russland nicht
vorgekommen ist. Wenn wir für die Probleme des „Wider Middle East“ eine Lösung erreichen wollen, dann
muss sie Russland einbeziehen. Wenn der deutsche Außenminister dazu ein Konzept vorträgt und dabei Russland vergisst, dann sollte er im Bundestag nicht von der
Einbindung Russlands in diese Bemühungen sprechen.
Das passt nicht zusammen.
({3})
- Ich weiß nicht, ob Sie dabei gewesen sind, Herr
Volmer.
({4})
Ich habe sehr genau zugehört. Es war eben nicht davon
die Rede, dass wir Russland brauchen.
Ich möchte auf den nächsten Punkt zu sprechen kommen, der mir im Verhältnis zu Russland überhaupt nicht
gefällt. Ich finde, wir sind in den letzten 15 Jahren im
Verhältnis zu Polen ungeheuer weit vorangekommen
und wir haben große Erfolge erzielt. Das ist ein großes
Glück. Es gehört zu dem, was Deutschland nach den
Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Hitler-Zeit
leisten musste. Aber viele von diesen Erfolgen und Fortschritten sind in den letzten zwei Jahren durch viele gefährdet worden, diesseits und jenseits der Grenze, also
auch durch Polen. Es gibt viele Aufgeregtheiten. Das alles ist wahr.
({5})
- Wir reden ja über die Politik der Bundesregierung im
Rahmen einer Haushaltsdebatte. Sie sollten nicht so
schnell ablenken.
Gerade wenn es uns um eine enge Beziehung zu
Russland und um die Einbindung Russlands geht, dann
sollten Sie über eine gemeinsame europäische Politik
nachdenken. Es geht nicht um eine deutsch-französische
Politik, bei der die Gefahr bestehen könnte, dass sie von
anderen als Spaltung Europas wahrgenommen wird. Das
ist der Punkt. Deswegen habe ich Polen hier erwähnt.
Der Dreiergipfel hat in polnischen Augen eben eine falsche Wirkung. Man könnte sie vermeiden. Es gibt das
Weimarer Dreieck.
Was spricht eigentlich dagegen - ich habe diese Frage
schon oft gestellt -, die Beziehungen zu Russland auf die
Basis des Weimarer Dreiecks zu stellen, sodass zum
Treffen des französischen Staatspräsidenten, des russischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers
der Vertreter Polens hinzukommt? Das würde manche
Missverständnisse vermeiden.
Wir werden eine erfolgreiche Russlandpolitik - dasselbe gilt für unsere Politik gegenüber der Ukraine und
Weißrussland - nur unter Einbeziehung Polens betreiben. Dies gelingt eben nicht im Konflikt mit Polen und
durch das Schüren neuen Misstrauens und neuer Verdächtigungen, ob berechtigt oder nicht. Da liegt der Fehler. Da man diesen Fehler begeht, ist die Russlandpolitik
nicht durchdacht und nicht balanciert. Das kann man und
das muss man ändern.
({6})
Das bringt mich gleich zum nächsten Punkt. Sie haben zu Recht gesagt: Die Anforderungen an europäische
Politik und atlantische Partnerschaft werden in einer sich
rasch ändernden Welt immer größer. Die Fähigkeit Europas, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
zu betreiben und durchzusetzen, ist in den letzten Jahren
nicht zuletzt durch die Politik Ihrer Regierung nicht gestärkt, sondern empfindlich geschwächt worden. Europa
ist heute schwächer. Übrigens ist auch der deutsche Einfluss in Europa geringer geworden - das wird in Europa
überhaupt nicht mehr bestritten -,
({7})
weil wir nicht eine Politik der Gemeinsamkeit in Europa
betrieben haben, sondern weil wir eine Politik wechselnder Allianzen betrieben haben, weil es zu Spaltungen gekommen ist und weil die deutsch-französische Führung
in Europa von den anderen nicht mehr als ein Dienst für
Europa, sondern als ein Element der Dominanz und der
Spaltung wahrgenommen wird. Das ist der falsche Weg.
Das muss geändert werden.
({8})
Vor diesem Hintergrund bleibe ich bei folgender Position - das ist übrigens nicht neu; die Debatte hatten wir
schon mit einer früheren Regierung -: Das Streben nach
einem weiteren nationalen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat bringt Europa auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht voran,
sondern wirft Europa zurück. Das geht in die falsche
Richtung. Deswegen ist das altes Denken und nicht zukunftsgewandte Politik.
({9})
- Das hat mit Berlusconi gar nichts zu tun.
Natürlich weiß ich - das weiß jeder -, dass noch ein
ganzes Stück Weges zurückzulegen sein wird, bis die
Vereinten Nationen so reformiert sein werden, dass es einen europäischen Sitz im Weltsicherheitsrat geben kann.
Im Augenblick kommen wir aber mit der Politik der
Bundesregierung bei der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Position nicht voran, sondern entfernen uns von gemeinsamen europäischen Positionen.
Deswegen bringt uns die Politik nicht voran.
Im Übrigen: Wenn Sie für einen ständigen Sitz
Deutschlands im Weltsicherheitsrat sind, müssten Sie
der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere Ihrer eigenen Koalition ein bisschen genauer darlegen, was das
im Einzelnen bedeutet. Das passt sonst nicht zusammen.
({10})
Im Ziel sind wir uns einig. Unsere Politik muss darauf
gerichtet sein - das ist für mich entscheidend -, dem
Ziel, einen ständigen Sitz Europas oder einen Sitz EuroDr. Wolfgang Schäuble
pas im Weltsicherheitsrat zu erreichen - ob es die Unterscheidung geben muss, ist eine andere Frage -, näher zu
kommen, und nicht darauf, sich davon zu entfernen.
Dass die Forderung nach einem deutschen Sitz im
Weltsicherheitsrat in Europa nur neue Spaltungen, neue
Rivalitäten hervorrufen würde - nicht nur in Italien; in
Spanien und Portugal genauso -, war vorhersehbar. Das
ist auch eingetreten. Deshalb bringt uns das nicht voran,
sondern wirft uns zurück. Das ist die falsche Politik.
({11})
Sie haben ein Bekenntnis zum Multilateralismus
- um auch diesen Punkt noch anzusprechen - abgelegt
und davon gesprochen, dass die Vereinigten Staaten von
Amerika die Führungsmacht auch in einer multilateralen
Weltordnung sein müssen. Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Aber wenn dies so ist, dann muss sich die Bundesregierung doch wieder und wieder fragen und fragen
lassen - sie müsste auch bessere Antworten geben als
bisher -, ob es wirklich glaubwürdig und überzeugend
ist, zu sagen, wir treten für eine stärkere Rolle der
Vereinten Nationen ein, und dann beispielsweise nach
Verabschiedung der Resolution des Weltsicherheitsrats 1546 vom 8. Juni 2004 zum Irak - daran haben Sie
mitgewirkt; das ist auch in Ordnung -, in der alle
Mitgliedstaaten aufgefordert werden, ihre Beiträge zur
Sicherheit und zur Entwicklung des Irak zu leisten, zu
erklären: Wir werden uns daran aber nicht beteiligen.
({12})
- Aber natürlich! Noch nicht einmal bei der Gewährung
von Schutz für die Vertreter der Mission der Vereinten
Nationen im Irak! Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, musste geradezu händeringend
durch die Weltgemeinschaft reisen und darum bitten,
dass man nach der Ermordung von de Mello einer neuen
UN-Mission im Irak die Arbeit ermöglicht. Wer für
Multilateralismus eintritt, aber gleichzeitig sagt, wir beteiligen uns nicht, wir machen vielleicht Fahrlehrerausbildung in den Vereinigten Arabischen Emiraten - vielleicht bieten wir auch noch unser System für die LKWMaut als Entwicklungshilfe für den Irak an -, der wird
den Multilateralismus nicht stärken.
({13})
- Ich komme noch auf den Irak zu sprechen, Herr
Volmer. Halten Sie sich einen Moment zurück!
Wer, wie wir, immer gesagt hat, Voraussetzung für die
Entscheidung für Maßnahmen gegen den Irak sei ein
Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der
hätte dafür eintreten müssen, dass der Weltsicherheitsrat
handlungsfähig ist. Der Weltsicherheitsrat ist aber durch
die Uneinigkeit der Europäer und der atlantischen Partner entscheidungsunfähig gewesen. Das ist nicht Multilateralismus.
({14})
Wer die Vereinten Nationen stärken will, der muss seinen Beitrag leisten, der muss auch bereit sein, die Entscheidungen, die der Weltsicherheitsrat trifft, im Rahmen seiner Möglichkeiten umzusetzen, und darf nicht
sagen: Wir sind dafür, aber wir machen nicht mit. Das ist
nicht Multilateralismus, sondern das ist das Gegenteil
davon.
({15})
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Bitte sehr.
Herr Kollege Schäuble, ich möchte Sie nicht missverstehen. Bei diesem von Ihnen angesprochenen ganz
wichtigen Punkt kritisieren Sie, weil Sie eine andere Position vertreten, aus Ihrer Sicht zu Recht die Bundesregierung. Bezug nehmend auf die Umsetzung der Resolution 1546 werfen Sie uns vor, wir würden uns nicht beim
Schutz der VN im Irak beteiligen. Gehe ich richtig in der
Annahme, dass Sie der Meinung sind, wir sollten uns,
nachdem wir ein entsprechendes Mandat des Deutschen
Bundestages erhalten haben, mit Bundeswehrsoldaten
im Irak daran beteiligen?
Unsere Position lautete immer - ich wiederhole das,
was ich eben gesagt habe -: Man kann nicht zum einen
wollen, dass die Vereinten Nationen eine stärkere Rolle
spielen und möglichst keine unilateralen Entscheidungen
getroffen werden - durch die wird die Welt nämlich
nicht sicherer; darin stimmen wir überein -, zum anderen aber sagen, wie auch immer der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen entscheidet, wir jedenfalls werden
uns nicht beteiligen. Wenn es darum geht, die Mission
der Vereinten Nationen im Irak zu schützen, sollte kein
Mitgliedsland, insbesondere kein Land, das einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat anstrebt, von vornherein
sagen, man werde sich unter gar keinen Umständen daran beteiligen. Das passt nicht zusammen. Das ist in sich
widersprüchlich.
({0})
So werden Sie im Übrigen, Herr Kollege Fischer, bei
den Diskussionen in den Vereinigten Staaten nicht diejenigen stärken, die sich für den Weg über die Vereinten
Nationen einsetzen. Es war ja die Tragik der zurückliegenden Monate und Jahre, dass denjenigen in den Vereinigten Staaten von Amerika, die für den Weg über die
Vereinten Nationen gewesen sind, hinterher entgegengehalten worden ist: Ihr seht es ja, unsere europäischen
Partner lassen uns am Ende doch im Stich, wir müssen
es alleine machen. Wer multilaterale Entscheidungen
will, muss auch bereit sein, multilaterale Verantwortung
zu tragen, sonst stärkt er im Ergebnis zwingend und
zwangsläufig nur die Tendenz hin zum Unilateralismus.
Hier gibt es keine Alternative.
({1})
Das muss man diskutieren. Wenn man darüber nicht
diskutiert, sollte man nicht den Blick der Öffentlichkeit
auf ein ohnedies nicht besonders aussichtsreiches Streben nach einem ständigen Sitz Deutschlands im Weltsicherheitsrat lenken. Wer Verantwortung übernehmen
will, muss auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Wer sich nicht in der Lage sieht, Verantwortung zu
übernehmen, sollte nicht so viel von Multilateralismus
reden, sondern gleich zugeben, dass sich andere stärker
engagieren müssen; sonst verhält er sich widersprüchlich.
({2})
Herr Kollege Schäuble, lassen Sie eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Volmer zu?
({0})
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Schäuble, wären Sie erstens bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass die Forderung nach einem
ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat insbesondere von Ländern der so genannten Dritten Welt erhoben
wird, und zwar aktiv und unaufgefordert zu Beginn fast
jeden Gesprächs, welches man mit einem Vertreter der
Dritten Welt führt?
Zweitens meine Hauptfrage: Sehen Sie es genauso
wie wir, dass die UNO in ihrer Resolution die Antwort
auf die Frage, welchen Beitrag ein UNO-Mitgliedstaat
konkret leisten soll, in die Entscheidungskompetenz jedes Mitgliedstaates gelegt hat und dass die Bundesregierung in diesem Sinne nicht nur angekündigt, sondern
auch tatsächlich angefangen hat, Hilfe zu organisieren?
So ist beispielsweise heute Morgen in der Obleutesitzung sehr intensiv mit unserem Botschafter im Irak darüber gesprochen worden.
Wären Sie drittens bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass Sie sich weigern - obwohl Sie diese Politik der
Bundesregierung, die nicht militärisch angelegt ist, kritisieren -, Ihre Alternative in einem deutlichen Satz vorzustellen? Solch ein deutlicher Satz könnte beispielsweise lauten: Ich, Dr. Wolfgang Schäuble, würde, wäre
ich Außenminister, deutsche Soldaten in den Irak
schicken.
({0})
Herr Kollege Volmer, wer jemals die Charta der Vereinten Nationen gelesen hat, weiß schon, dass die letzte
Entscheidung darüber, welche Beiträge die Mitgliedstaaten leisten, immer ihnen überlassen wird. Diese Frage
war so überflüssig, dass sie sich von selbst beantwortet.
({0})
Unsere Position ist seit vielen Jahren dieselbe. Wir
haben immer gesagt - Sie haben das diffamiert -: Wir
sind dafür, dass multilaterale Entscheidungen getroffen
werden. Wir sind für eine Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen, insbesondere der des Weltsicherheitsrates,
der eben, so wie die Dinge liegen, die entscheidende Instanz ist. Aber wenn man für eine Stärkung des Weltsicherheitsrats ist, wenn man dafür eintritt, dass keine
unilateralen Entscheidungen getroffen werden, dann
muss man grundsätzlich auch bereit sein, die Konsequenzen, die sich aus Entscheidungen des Weltsicherheitsrats ergeben, mitzutragen, und darf nicht sagen:
Was immer der Weltsicherheitsrat beschließt, wir werden uns nicht beteiligen.
Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, dass die
Politik der Bundesregierung widersprüchlich ist. Der
Außenminister plädiert hier für Multilateralismus, aber
die Politik der Bundesregierung hat die Kräfte, die für
multilaterale Entscheidungen sind, weder in Deutschland noch in Europa noch in den Vereinigten Staaten von
Amerika gestärkt. Deshalb steht diese Politik im Widerspruch zu der Erklärung des Außenministers.
({1})
In diesem Zusammenhang möchte ich eine weitere
Bemerkung machen, die mir ebenfalls sehr wichtig ist.
Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen zurzeit
vor Wahlen. Der Wahlkampf ist so, wie er in Amerika
immer ist; Wahlkämpfe sind so. Die Prognosen, wie die
Wahl ausgeht, sind unterschiedlich und wechseln. Wir
haben aber in jedem Fall, egal wie die Wahl ausgeht, ein
existenzielles Interesse an enger Zusammenarbeit mit
der gewählten Regierung der Vereinigten Staaten von
Amerika, in der atlantischen Partnerschaft und weltweit.
({2})
Deswegen sollten wir - insbesondere die Bundesregierung in ihrer politischen Führungsverantwortung, die
sie gegenüber der Öffentlichkeit unseres Landes hat - alles daransetzen, den Menschen in unserem Lande wieder
und wieder zu erklären, dass wir unabhängig vom Ausgang der Wahlen in Amerika ein eigenes Interesse an
möglichst enger und verlässlicher Partnerschaft haben
und dass wir auf die Vereinigten Staaten von Amerika
mindestens so sehr angewiesen sind wie die Vereinigten
Staaten von Amerika auf Europa.
Wir sollten bei der Beeinflussung der Öffentlichkeit
darauf achten - das ist sehr wichtig -, nicht eine Stimmung zu schüren, die es auch der Bundesregierung
schwerer macht, mit der amerikanischen Administration
zusammenzuarbeiten. Da sind in den letzten Jahren viele
Fehler gemacht worden. Ich will darauf gar nicht rekurrieren, sondern dafür plädieren, dass wir für die Zukunft
aus Fehlern, die gemacht worden sind, lernen, weil es im
Interesse Deutschlands und Europas und auch im Interesse der Stabilität der Welt ist, dass wir eng zusammenarbeiten. Darum müssen wir die Bevölkerung für den
Gedanken der Zusammenarbeit gewinnen, statt zum
Ausdruck zu bringen, dass an allen Problemen der Welt
immer die Amerikaner schuld seien.
({3})
Deshalb dürfen wir zum Beispiel Russland und Amerika
auch nicht mit unterschiedlichen Maßstäben messen; das
macht keinen Sinn.
Unser Interesse ist eine enge Partnerschaft. Je mehr
die Europäer zu einer gemeinsamen, geschlossenen Position fähig sind und Verantwortung übernehmen, umso
mehr wird unser Wort auch in den Vereinigten Staaten
von Amerika partnerschaftlich wahrgenommen. Darauf
müssen wir setzen. In diesem Sinne müssen wir unsere
Politik gestalten.
({4})
Das heißt ja nicht, dass man mit dem Präsidenten der
Vereinigten Staaten von Amerika in allen Fragen einer
Meinung sein muss. Ich bin zum Beispiel in der Frage
der Mitgliedschaft der Türkei in der EU nicht der
Meinung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von
Amerika. Das scheint der einzige Punkt zu sein, in dem
die Bundesregierung mit dem amerikanischen Präsidenten voll übereinstimmt.
Ich sage Ihnen, warum ich anderer Meinung bin. Ihre
These, dass die Rolle der Türkei für die Stabilisierung
des Nahen und Mittleren Ostens von essenzieller Bedeutung ist, ist völlig unbestritten. Das sehen die Amerikaner so und das sehen alle in Europa und auch wir so.
Aber dass die Türkei große Fortschritte auf dem Weg zu
einer verlässlichen Demokratie und einem stabilen demokratischen Rechtsstaat gemacht hat und immer ein
verlässlicher Partner war, ist unabhängig von der Frage,
ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden
soll oder nicht.
Da stellt sich die Frage: Was ist eigentlich der Inhalt
der europäischen Einigung? Wollen wir eine wirkliche
politische Union Europas mit Integration oder wollen
wir - wie Sie es offenbar inzwischen in Abweichung von
früheren Positionen meinen - ein Europa, das möglichst
groß ist und möglichst wenig politische Identifikation
bietet? Wenn wir das Projekt der politischen Einigung
Europas zerstören, weil sich die Menschen nicht mehr in
einem Europa der politischen Einheit wiederfinden wollen, dann wird das am Ende auch nicht im Interesse der
Türkei sein.
Deswegen finde ich, dass es notwendig ist, jetzt mit
der Türkei offen darüber zu reden, was in beiderseitigem
Interesse auf Dauer die bessere Lösung ist.
Herr Außenminister, Sie sind nicht ehrlich.
({5})
- Doch. - Ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ vom gestrigen Dienstag, dem 7. September.
Dort heißt es:
Er
- gemeint ist der Außenminister beteuerte ein weiteres Mal, die Entscheidung über
die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sei nicht
gleichbedeutend mit der Entscheidung über den
Beitritt selbst.
({6})
- Natürlich ist es klar. Aber es ist eben anders gemeint.
({7})
- Hören Sie doch zu! - Es heißt weiter:
In jedem Falle werde eines Tages eine „europareife“ Türkei „leichter“ mit der Entscheidung
umgehen können, ob ein Beitritt vollzogen werden
könne oder nicht.
({8})
Wenn die Beitrittsverhandlungen jetzt so aufgenommen werden, wie Sie es fordern, und wenn die Türkei
europareif ist, dann ist die Entscheidung für eine Mitgliedschaft der Türkei gefallen. Unsere Meinung ist,
dass wir jetzt zu Beginn der Verhandlungen sagen sollten: Es ist nicht nur die Frage einer künftigen Europareife der Türkei, ob sie Mitglied der Europäischen
Union werden kann, sondern es ist auch und zuerst die
Frage, ob die Europäische Union eine Erweiterung über
die Grenzen des europäischen Kontinents hinaus vertragen kann. Wenn Sie diese Frage offen lassen wollen - in
der Passage, die ich vorhin zitiert habe, ist sie offen gelassen -, dann sollten Sie dies vor Beginn der Verhandlungen sagen. Wenn Sie das tun, dann übernehmen Sie
die Position der CDU/CSU. Stimmen Sie dem zu!
({9})
Denn alles andere ist unrealistisch. Eine andere Vorgehensweise setzt nur das fort, was Sie, Herr Fischer, gelegentlich zu Recht kritisieren.
Ich habe an dieser Stelle oft gesagt: Es ist wahr, dass
wir Europäer seit dem Abschluss des Assoziierungsabkommens von 1963 - im Grunde genommen schon seit
dem türkischen Antrag 1959 - bei der Türkei die Erwartung geweckt haben, dass sie Mitglied der Europäischen
Union werden kann, wenn sie eines Tages die Voraussetzungen erfüllt. Meine Meinung ist - dazu gibt es auch in
unseren Reihen unterschiedliche Auffassungen -, dass
wir uns davon nicht einseitig verabschieden können. Wir
haben Erwartungen geweckt, denen wir auch entsprechen müssen.
Wenn Sie kritisieren, dass man 40 Jahre lang diese Erwartung geweckt hat, sich aber nicht auf eine Mitgliedschaft festlegen will, dann sollten Sie diesen Prozess
jetzt nicht fortsetzen. Deswegen ist unsere dringende
Bitte und unser Appell: Wenn man jetzt im Europäischen
Rat die Entscheidung trifft, Verhandlungen aufzunehmen, dann sollte man bei der Formulierung des Mandats
klar sagen, dass diese Entscheidung nicht bedeutet, dass
es nur von der Entwicklung in der Türkei abhängt, ob sie
Mitglied werden kann. Die Frage bleibt offen und sie
muss einvernehmlich beantwortet werden. Das ist der
entscheidende Punkt und nichts anderes.
({10})
Herr Bundesaußenminister, diese Position wird die
Entwicklung der Türkei hin zur Demokratie, zur Stabilität und zu einem verlässlichen Partner des Westens in
gar keiner Weise beschädigen. Deswegen lautet mein
Appell: Hören Sie auf, so zu tun, als würde die Position
der CDU/CSU in irgendeiner Weise den Kampf gegen
den internationalen Terrorismus gefährden und das Anliegen für mehr Stabilität in der globalisierten Welt
schwächen!
({11})
Das ist nicht wahr. Ich glaube, das Gegenteil ist richtig.
Wer die politische Einigung Europas gefährdet - Sie
wissen selber, dass diese Gefahr in der Überdehnung der
Europäischen Union liegt -, wird die Chancen für einen
erfolgreichen Kampf gegen den Terrorismus und für
mehr Stabilität in der globalisierten Welt mindern. Deswegen ist es genau andersherum.
Eine letzte Bemerkung will ich zu Ihrem Vorwurf machen, es gebe taktische Spielchen bei der Ratifizierung
des Verfassungsvertrags. Damit können Sie nur den
Vorschlag von Herrn Müntefering und der SPD gemeint
haben.
({12})
Es ist offensichtlich, was mit diesem Vorschlag bezweckt werden soll. Ich bin seit langem aus, wie ich
finde, guten Gründen - ich respektiere aber unterschiedliche Meinungen - gegen die Einführung plebiszitärer
Elemente auf Bundesebene.
Kürzlich ist in einer Diskussion gesagt worden, man
habe Plebiszite wegen der Erfahrungen von Weimar
nicht eingeführt; man wollte mit dem Grundgesetz stabile Verhältnisse schaffen. Heute aber bestehe diese
Sorge nicht mehr; es gebe stabile Verhältnisse und deswegen könne man sich plebiszitäre Elemente leisten.
Jetzt aber wird die Einführung von Plebisziten damit begründet, dass die Bindekraft der demokratischen Institutionen, auch des Parlaments, schwächer werde. Deswegen brauche man plebiszitäre Elemente. Dem entgegne
ich: Weil die Verhältnisse offenbar nicht mehr so stabil
sind, wie man seit 1949 geglaubt hat, will man nun das
machen, was man aus Gründen der Stabilität 1949 nicht
gemacht hat. Das scheint mir nicht zwingend logisch zu
sein.
Man kann unterschiedlicher Meinung sein. Ich bin
entschieden gegen solche Elemente. Ich sage Ihnen aber
auch: Wenn Sie mit einem Referendum zum Verfassungsvertrag zündeln, werden Sie ein Referendum über
einen Beitritt der Türkei nicht verhindern können.
({13})
Darüber muss man sich im Klaren sein. Es macht doch
keinen Sinn, zu sagen: Wir wollen Volksentscheide
dann, wenn wir sicher sind, dass die Bevölkerungsmehrheit die Position der Bundesregierung bestätigt. Dann
sollte man ehrlicherweise sagen, dass es gar nicht darum
geht, dass das Volk mehr entscheiden soll, sondern darum, dass eine schwache Regierung eine zusätzliche Bestätigung braucht. Dafür sind Volksentscheide und die
Verfassung zu schade.
({14})
Wenn wir dies wollen, müssen wir es ernst damit meinen. Darum geht es.
Wir glauben, dass wir in einer Zeit, in der wir uns aus
vielen Gründen um die Stabilität unserer demokratischen
Institutionen mehr Sorgen machen müssen, als wir in
solchen Debatten gelegentlich zugeben, behutsam mit
der Frage umgehen sollten, ob wir eine scheinbar größere Bürgerbeteiligung wollen, die in Wahrheit gar nicht
so gemeint ist, weil sie sich so nicht vollziehen kann.
Denn bei einer Volksabstimmung über den EU-Verfassungsvertrag ginge es ja um die Frage, ob man lieber den
jetzigen Rechtszustand der Europäischen Gemeinschaft
oder in der Summe die Verbesserung des Verfassungsvertrags möchte. Diese Frage wird aber ganz sicher weder die große Mehrzahl unserer Mitbürger an die Urnen
treiben, noch wird sie bei einer Abstimmung ausschlaggebend sein. Deswegen stimme ich Ihnen in diesem
Punkt zu. Aber wir sollten dann darauf einwirken, dass
die taktischen Mätzchen Ihres Koalitionspartners unterlassen werden.
Mein Plädoyer ist: In einer Welt, in der, wie Sie es beschrieben haben - wir brauchen nicht über etwas zu
streiten, worüber gar kein Streit besteht -, die Risiken
größer und unberechenbarer geworden sind und die Anforderungen an die deutsche Außenpolitik und an die europäische Gemeinsamkeit größer werden, müssen wir
seriös arbeiten und dürfen wir keine innenpolitischen
Mätzchen machen.
({15})
Lieber Herr Kollege Fischer, Sie haben zum Schluss
gesagt, Sie wünschten sich dafür mehr Mittel. Dazu will
ich Ihnen sagen: Es ist schon wahr, dass wir für Ausgabensteigerungen - das zeigt die Haushaltsdebatte - keine
Spielräume haben. Aber das beantwortet nicht die Frage,
warum der Anteil der Etats des Auswärtigen Amtes, des
Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung am
Bundeshaushalt zusammengenommen von Jahr zu Jahr
sinkt. Das heißt, es geht gar nicht um eine Erhöhung der
Ausgaben, sondern um die Setzung der richtigen Prioritäten. Diese Regierung setzt die Prioritäten falsch und
deswegen werden wir dem Haushalt nicht zustimmen.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Gernot Erler, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
deutsche Außenpolitik und die gesamte internationale
Politik der Bundesrepublik Deutschland genießen im
Augenblick weltweit ein bisher nicht da gewesenes Ansehen.
({0})
Herr Kollege Schäuble, ich bedauere es schon, dass Sie
ein weiteres Mal nicht die Kraft hatten, dies auch nur annähernd zur Kenntnis zu nehmen, sondern dass Sie erneut Ihre kleinkarierten Anmerkungen zu Einzelfragen
vorgetragen haben und diesem Hause und der deutschen
Öffentlichkeit eine Auskunft über die großen Linien der
Außen- und Sicherheitspolitik Ihrer Fraktion wieder
schuldig geblieben sind.
({1})
Man muss sich schon über Ihren Mut wundern, das
Thema Türkei anzusprechen. Die kürzeste Formel für
die Position Ihrer Fraktion zur Türkei lautet: Mit Volker
Rühe und Friedbert Pflüger für und gegen die EU-Mitgliedschaft der Türkei.
({2})
Das müssen Sie erst einmal in Ordnung bringen, bis Sie
zu diesem Thema etwas Glaubwürdiges sagen können.
({3})
Ich habe von dem hohen Ansehen der deutschen Außenpolitik in der internationalen Politik gesprochen. Das
hat seinen Grund in der konsequenten Haltung der Bundesregierung in der Irakfrage, die sich mit unserem großen und nachhaltigen Engagement in Afghanistan und
vor allem auf dem Balkan verbindet. Kein Land außer
den Vereinigten Staaten hat mehr Verantwortung in Afghanistan übernommen als Deutschland mit 2 250 Soldaten, unseren zwei regionalen Wiederaufbauteams und
mit großen Anstrengungen für den zivilen Wiederaufbau
vor Ort. Kein Land hat so viel Verantwortung in der Balkanregion übernommen wie Deutschland mit 4 600 Soldaten im Kosovo und in Bosnien-Herzegovina, mit unserer Unterstützung des Stabilitätspaktes, der SAA, also
des Assoziierungsprozesses, und mit Wiederaufbaumaßnahmen in den einzelnen Ländern.
Deutschland setzt sich nach wie vor ganz entschieden
für den Nahostfriedensplan, niedergelegt in der Roadmap, ein. Gerade das Engagement des deutschen Außenministers Joschka Fischer in dieser Frage findet weltweit
außerordentlich große Anerkennung.
Dies alles sind die Gründe für das gestiegene Ansehen Deutschlands in der internationalen Politik.
({4})
Sichtbar geworden ist dieses gestiegene Ansehen
auch an zwei so nicht erwarteten Einladungen an den
Bundeskanzler. Er wurde eingeladen, an der 60-JahrFeier des D-Day in der Normandie und an dem Gedenken des Aufstandes von Warschau teilzunehmen und
dort zu sprechen. Ich muss für meine Fraktion sagen:
Der deutsche Bundeskanzler hat diese beiden Einladungen in überzeugender Weise genutzt und zu beiden Anlässen kluge und einfühlsame Worte gefunden, denen
weltweit hoher Respekt gezollt wurde.
({5})
Ich möchte ihm ausdrücklich auch im Namen der Koalition für das danken, was er dort getan hat.
Die letzten Monate waren auch von einer anderen Herausforderung für die Weltöffentlichkeit geprägt, nämlich von der menschlichen Tragödie in Darfur. Auch hier
hat es ein ungewöhnlich intensives Engagement der
deutschen Politik durch den Bundesaußenminister und
die Staatsministerin Frau Müller sowie durch die Entwicklungsministerin Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul
gegeben. Der Letzteren möchte ich herzlich für die Lösung der nicht einfachen Aufgabe danken, anlässlich des
hundertjährigen Gedenkens des Hereroaufstands die
richtigen Worte vor Ort zu finden. Ihr gilt dafür unser
Dank und unsere Anerkennung.
({6})
Herr Kollege Schäuble, nur weil es dieses internationale Ansehen der deutschen Politik gibt, ist es realistisch, sich im Augenblick ernsthaft um eine ständige
Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat zu bemühen. Das
sollte eigentlich auch Ihre Unterstützung finden. Sie
müssen einmal der deutschen Öffentlichkeit erklären,
welche Position Sie eigentlich vertreten. Auch Sie wissen, dass sich der Sicherheitsrat in einem Reformprozess
befindet. Das Wahrscheinlichste wird sein, dass die Zahl
der Mitglieder auf 24 oder 25 festgelegt wird. Wollen
Sie dann ernsthaft sagen, dass es für Europa ausreicht,
einen einzigen Sitz unter 25 zu haben? Das kann nicht
Ihre Position sein. Bei einer Erweiterung ist es in der Tat
ein internationaler Wunsch, dass Deutschland auch für
die Inhalte der eigenen Politik mehr Verantwortung in
den Vereinten Nationen übernehmen soll. Es ist völlig
unverständlich, dass das nicht Ihre Unterstützung findet.
({7})
Wir haben Fortschritte erzielt - diese tragen auch zum
Ansehen der deutschen Politik bei - und konnten unsere
inhaltlichen Vorstellungen von Politik in der EU voranbringen. Ich rede hier vor allen Dingen von dem großen
Erfolg einer gemeinsamen EU-Strategie unter dem
Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“, in der
wir viele unserer inhaltlichen Überzeugungen mit dem
Primat von präventiver Politik, mit dem Primat von
vorausschauender Friedenspolitik wiederfinden. Wir
werden uns weiter mit Zustimmung vieler anderer Länder dafür einsetzen, dass sich die internationale Politik
auf starke Weltorganisationen, insbesondere auf eine
starke UN, stützt und sich auf die Geltung und Verteidigung des internationalen Rechts konzentriert. Dabei geht
es um die Abwehr von Gefahren und um das Festhalten
an internationalen Verträgen und an internationaler Vertragspolitik und natürlich auch um die konkrete Lösung
von gefährlichen regionalen Konflikten.
Damit komme ich zu den aktuellen Ereignissen in
der Russischen Föderation und in Beslan. Die russische Gesellschaft hat in der Tat in den letzten Tagen eine
Eruption von Gewalt erlebt und eine bisher noch nicht da
gewesene Serie von brutalsten Anschlägen ertragen
müssen. Innerhalb von einer Woche wurden zwei Flugzeuge zum Absturz gebracht, dabei gab es 90 Tote. Bei
einem Selbstmordattentat mitten in Moskau wurden
11 Menschen getötet. Das Grauen von Beslan hat mindestens 335 Tote gefordert, davon sind mehr als die
Hälfte Kinder. Es ist kein Zufall, dass sich diese Serie
von Attentaten um den Tag der tschetschenischen Präsidentschaftswahl gruppiert hat.
Die russische Gesellschaft steht unter Schock und ist
traumatisiert. Es ist dort ein Gefühl von Verlassensein
verbreitet. Für uns besteht jetzt das Wichtigste darin, für
die betroffenen Menschen vor Ort eine Demonstration
der tätigen und sichtbaren Unterstützung und Solidarität
auf die Beine zu stellen. Dazu sind jede Form von Hilfe,
jede medizinische und psychologische Unterstützung
und menschliche Kontakte notwendig.
Das Gefährlichste und Falscheste wäre jetzt eine Einigelung Russlands als Reaktion auf diesen Schock. Wir
haben die Absage des Deutschlandbesuchs des russischen Präsidenten mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Wir haben in dieser Lage aber auch Verständnis dafür. Wir werden jedoch die Chance nutzen, die sich in
den nächsten zwei Tagen mit dem 4. Petersburger Dialog
in Hamburg bietet, um mit unseren Partnern sowie unseren Kolleginnen und Kollegen aus Russland intensive
Gespräche zu führen.
Jeder von uns wird in den nächsten Tagen und auch in
den nächsten Wochen und Monaten nicht mit erhobenem
Zeigefinger, sondern mit ausgestreckter Hand in diese
Gespräche gehen. Die richtige Form, auf diese Situation
zu reagieren, ist die, dass wir versuchen, gemeinsame
und richtige Antworten in dieser bedrohlichen Situation
zu finden.
Ausgangspunkt dabei müssen unsere gemeinsamen
Sorgen sein, die in diesen Tagen zunehmend auch in der
russischen Gesellschaft formuliert werden. Wir müssen
darüber sprechen, wie realistisch die bisherigen Erfolgsmeldungen der russischen Regierung in Sachen Lösung
des Konflikts, die so genannte Tschetschenisierung des
Konflikts, gewesen sind. Wir brauchen in Wirklichkeit
eine ehrliche Bestandsaufnahme als Ausgangspunkt für
alle weitere Zusammenarbeit in diesem Feld.
Es muss geklärt werden, was eine politische Lösung,
zu der sich auch der russische Präsident wiederholt bekannt hat, eigentlich bedeutet. Natürlich kann das nicht
heißen, Verhandlungen mit feigen Kindermördern zu
führen. Es gibt aber andere Elemente, die man erörtern
muss,
({8})
zum Beispiel warum die Basis dieser gewaltbereiten Terroristen nicht kleiner, sondern offensichtlich größer
wird, immer wieder nachwächst, und welche Rolle dabei
die anhaltende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die
Drangsalierung der Zivilbevölkerung in Tschetschenien spielt, teilweise durchgeführt - das muss man leider
sagen - durch korrupte Teile der russischen Sicherheitskräfte, aber auch durch diese Milizen des Herrn
Kadyrow, die so genannten Kadyrowsy,
({9})
die illegal gegen die eigene Bevölkerung vorgehen.
Weiterhin ist zu klären, welche Rolle bei der politischen Lösung eine glaubwürdige ökonomische und soziale Perspektive für die tschetschenische Bevölkerung
und die ganze Region des Nordkaukasus spielt. Es war
Präsident Putin selber, der sich im Mai bei einer Reise in
die Region davon überzeugen konnte, dass die Milliarden Rubel, die dort investiert werden, offensichtlich gar
nicht dort ankommen, wo sie hin sollen. Das trägt zu
dieser Hoffnungslosigkeit vor Ort bei.
Diese Verbindung von fehlender Perspektive und
Menschenrechtsverletzungen rechtfertigt keine Form
von Gewalt. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass sie
womöglich für dieses Nachwachsen der Gewaltbereitschaft mit Verantwortung trägt.
Ingesamt sind wir davon überzeugt: Unser Nachbar
und Partner Russland braucht jetzt viel Kraft, um die
furchtbaren Prüfungen zu bestehen und um klug und
wirksam zu reagieren und sich nicht in Hass- und Rachegefühlen zu verlieren. Wir sind bereit, dabei Partner zu
sein. Wir sind aber auch überzeugt, dass nur eine offene
Gesellschaft die Kraft, die dort benötigt wird, aufbringen
kann, eine Gesellschaft, die eine transparente Regierungspolitik öffentlich diskutiert. Diese Kraft, die benötigt wird, um mit diesen Herausforderungen fertig zu
werden, kann nur von einer funktionierenden Zivilgesellschaft aufgebracht werden.
({10})
In diesem Sinne sind wir bereit, in dieser Situation
Partner von Russland zu sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will mit dem ersten Teil meines Beitrages an
die Worte des Kollegen Erler anknüpfen. Herr Erler, ich
habe Ihnen zugehört und stimme Ihnen zu. Ich war mir
aber sehr bewusst, dass diese Differenziertheit, dieser
moralische Kompass beim deutschen Bundeskanzler
nicht so sehr vorhanden war, als er sich zu den Wahlvorgängen in Tschetschenien geäußert hat. Das muss
mit aller Klarheit gesagt werden.
({0})
Trotz der großen Entfernung ist uns die Differenziertheit, die ethnische Problematik, die historische Problematik im Kaukasus - für manchen auch aus den Geschichtsbüchern - völlig präsent. Aber wir haben uns
nicht vorstellen können, dass die sich langsam öffnende
russische Führung und die russischen Eliten, die eigentlich auf dem Weg waren, sich - jedenfalls zum Teil von ihrem alten imperialen Größendenken zu verabschieden, immer wieder eindimensional reagiert haben.
Immer wieder wurde die Zentralmacht durch Terrorismus herausgefordert. Immer wieder erfolgte die
Anwendung militärischer Gewalt. Es gab überhaupt
keine multiple Annäherung an Konfliktlösungen.
Natürlich hat der Bundeskanzler Recht, dass man mit
diesen Terroristen nicht verhandeln kann. Aber jedem,
der - auch im befreundeten Russland - politische Führungsverantwortung hat, muss klar sein, dass solche Krisen Inkubationszeiten haben und schon vorher Warnsignale aussenden. Man hätte sich rechtzeitig um ein
Netzwerk bemühen müssen, das einem vielleicht Verhandlungssituationen gestattet hätte.
Wir müssen Russland unsere ausgestreckte Hand zeigen. Darüber gibt es keinen Streit. Aber das offene Wort
darf deshalb nicht unter den Tisch fallen. Wir wollen die
Kräfte in Russland stärken - dafür gibt es im Bundestag
eine deutliche Mehrheit -, die sich international orientieren und öffnen wollen. Dazu gibt es überhaupt keine Alternative.
Es gibt, wie der Bundesaußenminister gesagt hat,
auch im „wider middle east“ keine Konfliktlösung ohne
Russland. Aber Russland wird nur dann zu einem weltweiten Beitrag fähig sein, wenn es sich öffnet, sich
Transparenz gibt, nicht nur nach einem innenpolitischen
Reaktionsmuster verfährt und keine selektiv motivierte
politische Justiz hat. Chodorkowski ist doch nicht der
einzige Oligarch, der gegen Gesetze verstoßen hat. Dort
kommt es zu einem völligen Gleichschalten des russischen Fernsehens: Der eine Kanal wird in einen seichten
Kanal umgewandelt, der andere mit Geldern, die aus
Energiereserven stammen, mal eben aufgekauft.
Neulich schrieb ein Journalist, gegen Realpolitik
wolle man ja nicht wettern. Ich wäre der Letzte, der das
täte; denn ich weiß, was außenpolitisch notwendig ist.
Aber die deutsche Bundesregierung dürfte schon ein
bisschen klarer ihren moralischen Kompass zeigen. Das
will ich hier doch sagen.
({1})
Ein völlig unbestrittener Punkt, den der Bundesaußenminister angesprochen hat, ist das transatlantische
Bündnis. In dieser Hinsicht braucht die Fraktion der
FDP gar keine Hinweise. Für uns gehört es zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und das ist immer
so gewesen. Aber dann muss Deutschland in Europa
Führungsverantwortung übernehmen und darf sich nicht
neben oder hinter Frankreich verstecken.
({2})
Seit dem Irakkrieg gibt es einen Verlust der politischen Führungsfähigkeit Deutschlands. Früher war jeder
deutsche Bundeskanzler fähig, willens und in der Lage,
das transatlantische Bündnis zu wahren, Frankreich
möglichst nah dabei zu halten und in Europa zusammen
mit Frankreich die Motorfunktion zu übernehmen. Das
ist nicht mehr in ausreichendem Maße der Fall. Aber gerade Deutschland ist auf eine funktionierende und handlungsfähige Europäische Union und auf Amerika als
Bündnispartner angewiesen. Daran gibt es überhaupt
keinen Zweifel.
Wenn man einen Sitz im Sicherheitsrat anstrebt,
muss man wissen, dass er reichlich unbequem ist und
dass man dieser Führungsverantwortung auch gerecht
werden muss. Die Diskussion über einen solchen Sitz
reicht nicht aus; man muss dann auch dafür sorgen, dass
man über die politischen Führungsfähigkeiten und vor
allem über die militärisch-strategischen Fähigkeiten verfügt. Wir sind kein „Enfant chérie“ des Kalten Krieges
mehr. Wir können in Situationen kommen, in denen wir
mit anderen zusammen sehr hart reagieren müssen.
Dann müssen wir auch gemeinsame Risiken tragen.
({3})
Aber auf vielen Feldern sind wir, was unsere internationale Reaktionsfähigkeit betrifft, schon heute praktisch
am Ende. Ich habe mich neulich sehr von einer Mitteilung des Bundesverteidigungsministers überraschen lassen, in der er sich spielerisch über einen militärischen
Einsatz in Afrika äußerte, während wir bisher - meiner
Überzeugung nach zu Recht - dauernd die Erklärungen
der Bundesregierung gehört haben, dass wir bezüglich
unserer Wehrstruktur und unserer Streitkräftesituation
überhaupt kein entsprechendes Volumen mehr haben.
Schon bei den bisherigen Einsätzen sind wir an Grenzen angelangt; darauf will ich jetzt einmal kommen. Wir,
meine Fraktion, die FDP, haben den meisten Auslandseinsätzen zugestimmt. Wir wissen, dass wir gegenwärtig
gar keine Alternative haben, etwa auf dem Balkan. Aber
wir dürfen doch einmal legitimerweise, ohne in den
kleinkarierten innenpolitischen Schlagabtausch zu kommen, nachfragen, was denn das bisherige politische Ergebnis des Einsatzes deutscher Soldaten ist. Denn im
Grunde genommen sind wir an einem Punkt angelangt,
an dem Soldaten als Politikersatz in Regionen entsandt
worden sind, ohne dass durchschlagende politische Konzepte erkennbar sind, die dort zu politischen Lösungen
führen.
({4})
Das habe ich jetzt einmal zitiert, das sagt Ihnen und der
Bundesregierung Christoph Bertram von der „Stiftung
Wissenschaft und Politik“. Sie haben doch selbst alle gemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch aus den
Regierungsfraktionen: Es hat ein kleiner Funke genügt
und im Kosovo entzündete sich innerhalb weniger Stunden wieder der Hass, der diese Region seit zig Jahrzehnten prägt.
Ich will jetzt nicht über die militärische Führung reden; man muss dem genauer nachgehen, was dort vielleicht an strategischen Fehlern gemacht worden ist. Die
Kernfrage ist, ob denn während der Zeit der Stationierung von Militär die politischen Lösungsansätze mit
Kraft weiterbetrieben worden sind. Der Bundesverteidigungsminister hat gestern, zum ersten Mal wohl, gesagt:
Na ja, „Standard vor Status“ - das wird so nicht mehr zu
halten sein. Und er hat dargelegt, dass es doch eigentlich
ohne Ergebnis ist, wenn man mit hohem Milliardeneinsatz Dörfer wieder aufbaut - Eurozusagen pro Haus -,
aber nur eine ältere Bevölkerung einzieht und man nur
kleine Enklaven schützt, ohne dass sich dort mentalitätsmäßig etwas bewegt.
({5})
Das hinterfrage ich auf Dauer und da interessiert mich
bei der Verlängerung von Mandaten schon, wo denn
politisch etwas bewerkstelligt werden könnte.
({6})
Herr Bundesaußenminister, Stichwort Afghanistan;
ich wiederhole meine Fragestellung an Sie. Kunduz ist
bisher für mich, meine Fraktion, meine Kollegen, weiter
eine Stecknadel im Heuhaufen. Es ist nicht die Vielzahl
von Nationen mit Provincial Reconstruction Teams und
der Abdeckung und der Sicherung hinzugekommen, wie
es damals erklärt worden ist.
({7})
Sie haben eine Zellteilung gemacht, gehen jetzt noch
nach Faizabad. Aber andere sind nicht dabei.
({8})
Ich meine ja nicht, dass wir jetzt leichtfertigerweise
sagen sollten: Wir führen das nicht weiter. Aber ich erlaube mir doch die Frage, was Sie denn am Ausgang eines solchen Engagements sehen, wenn andere nicht dazukommen. Die Bundesregierung hat am Anfang
vorgetragen, wer bei Kunduz dazukommt. Das stimmt
bis heute nicht. Afghanistan ist ein Riesenland, und wir
haben in der Fläche nicht ein Mindestmaß an Durchsetzung von Staatsautorität. Sie sind der Außenminister,
Herr Fischer. Wenn ich es wäre, würde ich hierher treten
und dazu etwas erklären.
({9})
Sie haben damals die Erklärung abgegeben und ein breites Spektrum von Nationen genannt, das so jetzt nicht
mehr zutrifft.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir an der
Grenze angekommen sind, was die Verteilung von Soldaten anbetrifft, und dass wir mehr gegenwärtig nicht
leisten können. Wenn wir von einem Parlamentsheer
ausgehen, hat dieser Bundestag einen Anspruch darauf,
dass er bei Mandatsverlängerung immer nicht nur ausdrücklich die neuen Kontingente genannt bekommt, die
neue Verteilung, die neue Zahl, die neue Führung, sondern dass auch eine klare Unterrichtung stattfindet, was
man damit politisch und in welchem Zeitabschnitt zu erreichen gedenkt.
({10})
Das steht aus. Sie sind in dem Bereich gegenwärtig politisch nur sehr bescheiden auskunftsfähig.
In einem weiteren Punkt haben wir keine Kritik an
der Außenpolitik, aber doch ernsthafte Nachfragen: Wie
geht es, auch mit der Beteiligung der Europäischen
Union, weiter in dem Quartett bezüglich Israel/
Palästina? Sie, Herr Bundesaußenminister, haben sich
dabei immer besonders engagiert; das will ich gar nicht
bestreiten. Aber wahr ist, dass wir in dieser Region immer noch einen Status haben, der für die Menschen unerträglich ist.
({11})
Wir hatten damals vorgeschlagen, einen ähnlichen Prozess in die Wege zu leiten, wie die KSZE bzw. der Helsinki-Prozess es für Europa gewesen ist. Ich kann mich
noch sehr genau an Ihre Miene erinnern: Das war Ihnen
zu leicht. Ich habe der Sicherheitskonferenz in München
beigewohnt und hörte dann zu meinem Erstaunen einen
längeren Vortrag, der diesen gedanklichen Ansatz hatte.
Haben Sie ihn auf der internationalen Bühne weiterverfolgt? Ist daraus etwas geworden? Was ist aus den politischen Ansätzen des Quartetts hinsichtlich Israel und Palästina geworden? Wird dort noch ein diplomatischer
Druck auf beide Seiten ausgeübt? Begnügt man sich jetzt
mit dem Abzug aus dem Gaza-Streifen? Wie sieht man
am Ende die Siedlungspolitik, die auch einer Beschlusslage der Vereinten Nationen unterliegt? Wird das offen
ausgetauscht? Glauben Sie, mit einem solchen deutschen
Beitrag in der internationalen Arrondierung dort etwas
mit bewerkstelligen zu können? Haben Sie die Hoffnung
aufgegeben oder sehen Sie neue Perspektiven?
Das alles interessiert ein Parlament; das ist kein innenpolitischer Schlagabtausch. Wir haben keine Meinungsunterschiede darüber, dass Deutschland einen Beitrag gegen die Unebenheiten in der Welt leisten muss.
Ihre Bescheidenheit, dass Sie sich mit dem gegenwärtigen Status zufrieden geben, unterscheidet Sie dann doch
von uns.
({12})
Ich würde mich als Bundeskanzler nicht damit begnügen, hier zu erklären, dass wir unsere Beiträge an die
Vereinten Nationen zahlen, dass wir unsere Soldaten entsenden, was wir selbst bezahlen, und dass wir in der Erfüllung internationaler Pflichten sehr korrekt sind. Nein,
die deutsche Außenpolitik muss auch außenpolitische
Ziele haben. Die strategischen Entwürfe müssen eine
Annäherung an diese Ziele begründen. Deshalb war mir
das, was Sie ausgedrückt haben, zu bescheiden. Ihren
Problemhorizont bezogen auf „wider middle east“ habe
ich auch.
({13})
Wir beurteilen auch die Lage in Russland nicht unterschiedlich. Dass wir Realpolitiker sind und dass wir das
im Laufe der deutschen Geschichte mühsam lernen
mussten, unterscheidet uns nicht. Die Bescheidenheit Ihrer Auskünfte über politische Lösungen der deutschen
Außenpolitik überrascht mich aber doch. Wir sind eine
der großen Volkswirtschaften der Welt und haben ein
stabiles demokratisches Parlament. Wenn die Regierung
Mandate verlängert haben will, mit denen wir deutsche
Soldaten entsenden, dann muss sie uns schon mehr sagen. Das kann kein Politikersatz sein.
({14})
Zum Abschluss verknüpfe ich meine Ausführungen
noch einmal mit dem Punkt, über den man sich streitig
unterhalten kann, ob man nämlich im Sicherheitsrat einen Sitz für die Europäische Union oder einen Sitz für
Deutschland anstrebt. Wir wissen auch, dass die Charta
geändert werden müsste, dass bisher nur Staaten Mitglied im Sicherheitsrat sein können und dass es auch dort
Varianten gibt. Mich stört auch nicht, dass unsere italienischen Nachbarn sagen, dass es nicht so gut wäre, wenn
wir einen Sitz anstreben würden. Wenn Deutschland einen Sitz anstrebt, dann muss es sich in seiner Außenund Sicherheitspolitik auch die entsprechende Struktur
und den entsprechenden Gestaltungswillen geben und
dies durch Führungsverantwortung innerhalb der Gesellschaft auch vermitteln. Wenn es das nicht tut, dann nutzt
die Diskussion über einen Sitz allein nichts.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Ich erteile der Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe wirklich den Eindruck, dass wir ganz enorm aneinander vorbeireden, dass die einzelnen Debattenredner
der Opposition hier überhaupt nicht zugehört haben, was
Außenminister Fischer gesagt hat, und dass sie auch gar
nicht begreifen, welche enormen Beiträge der Deutschen
es zur Bildung einer europäischen Außenpolitik gegeben
hat und welche Beiträge im internationalen Rahmen geleistet worden sind.
({0})
Kollege Gerhardt, wenn Sie in Bezug auf den Kosovo
von Soldaten als Politikersatz reden, dann ist das nun
wahrlich zu kurz gesprungen. Wenn Sie von der Bescheidenheit der deutschen Beiträge zur internationalen
Politik reden, dann blenden Sie damit aus, was geschehen ist.
({1})
Der Herr Kollege Erler hat vorhin in einer ganz kleinen Passage seiner Rede darauf hingewiesen, welche
Veränderungen es auf der europäischen Bühne in den
außenpolitischen Strategien seit 1999 gegeben hat,
nachdem wir begriffen hatten, dass auch auf europäischem Boden noch Konflikte entstehen können und dass
die Europäer in ihrem näheren Umfeld, aber natürlich
auch international Beiträge leisten müssen. Das gipfelt
nicht nur in der europäischen Sicherheitstrategie, die einen präventiven Ansatz hat, sondern auch in der Herausbildung der zivilen und militärischen Kapazitäten zur
Krisenbewältigung. Diese reichen als Beiträge für die
UNO. Mit dem Zentrum für internationale Friedenseinsätze zum Beispiel haben wir entscheidende Beiträge zur
Ausbildung solcher Kapazitäten auf internationaler
Ebene geleistet. Es ist das ganz zentrale Verdienst der
Bundesregierung, dass nicht nur die militärische Seite
betrachtet worden ist, sondern auch der ganze breite
Kontext der zivilen Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung angewendet worden ist.
Werfen wir doch einmal einen Blick auf den Balkan.
Gerade auf dem Balkan ist diese Politik trotz aller Probleme, die in den letzten Wochen im Zusammenhang mit
dem Kosovo angesprochen worden sind, enorm erfolgreich gewesen. Wir haben nämlich den Ländern Südosteuropas eine belastbare Perspektive gegeben, wonach sie
sich bei Demokratisierung, bei regionaler Zusammenarbeit und bei der Einlösung gewisser Standards in die EU
und in die NATO integrieren können. Das hat seine Wirkung gezeigt. Denken Sie an Slowenien und an Kroatien,
das jetzt Verhandlungen über einen EU-Beitritt beginnt.
Denken Sie auch an die anderen Länder, die sich in dieser Hinsicht auf den Weg gemacht haben; mal mehr, mal
weniger erfolgreich.
Dazu gehört ebenso der Stabilitätspakt für Südosteuropa. Dieser Stabilitätspakt ist ein deutsches Kind.
({2})
Dieser deutsche Vorschlag wurde wenige Tage nach dem
Kosovo-Krieg auf den Tisch gelegt. Er ist jetzt fünf
Jahre alt. Ich glaube, die Erfolge, die damit erreicht worden sind, darf man in keiner Weise unterschätzen.
({3})
Ich sage auch, dass die konkrete Integrationsperspektive,
die wir diesen Ländern in Thessaloniki signalisiert haben, ein ausschlaggebendes Moment ist.
Ich komme zu einem anderen Thema, das Kollege
Gloser noch vertiefen wird. Die Kritik an dem, was Außenminister Fischer in Bezug auf die Türkei und damit
auf andere Konfliktfelder, zum Beispiel im Nahen Osten, unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten vorgetragen hat, sollten Sie sich noch einmal überlegen. Auch
hier haben wir im Hinblick auf die regionale Befriedung
eine Erweiterungsperspektive unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten eröffnet. Ich glaube, wir müssen
uns alle erneut zusammensetzen und darüber noch einmal nachdenken.
Ich will mich jetzt der militärischen Sprache bedienen: Ruhig, aber nicht stabil - so möchte ich es ausdrücken - ist die Lage insgesamt auf dem Balkan, nachdem
im Kosovo die Pogrome beendet sind. Aber wir sind
noch lange nicht über den Berg. Wir müssen noch einen
Haufen Probleme anpacken.
Ein ganz wichtiges Problem, das wir lösen müssen, ist
das Problem Kosovo. Mir geht es nicht um den KFOREinsatz. Darüber werden wir anschließend noch debattieren. Dazu werden wir heute noch die gesetzlichen
Grundlagen beschließen, die notwendig sind, um unsere
Kontingente der KFOR adäquat auszurüsten. Darüber
haben wir alle miteinander diskutiert. Vielmehr geht es
mir um die Frage: Wie lösen wir das Kosovo-Problem
angesichts ganz unterschiedlicher Probleme in der Region - Serbien ist ganz entschieden für einen Verbleib
des Kosovo - und angesichts der Resolution 1244 des
UN-Sicherheitsrates?
Die FDP hat eine Europäisierung in Form eines europäischen Treuhandgebietes vorgeschlagen: also UN raus
und EU rein. Aber das reicht nicht. Ich habe bedauert,
Kollege Stinner, dass Sie damals im Ausschuss nicht bereit waren, Ihren Antrag zurückzustellen, damit wir ihn
noch einmal gemeinsam beraten können.
Aber es wird wahrscheinlich ein Stückchen helfen,
wenn wir uns den Bericht des Sonderbeauftragen des
UN-Generalsekretärs, Kai Eide, ansehen. Dort sind unterhalb der Schwelle der Resolution 1244 jede Menge
sehr positive und wichtige Vorschläge gemacht, um den
Konflikt vor Ort zu beeinflussen. Der Konflikt ist nicht
nur aufgrund der ethnischen Probleme eskaliert, sondern
auch deshalb, weil sich UNMIK und die provisorische
Regierung gegenseitig enorme Vorwürfe gemacht haben.
Die einen haben gesagt: Ihr tretet auf wie die Kolonialherren. Bei den anderen hieß es: Ihr könnt es nicht.
Beides stimmt natürlich nicht ganz, aber Kai Eide hat
darauf hingewiesen, dass gerade bei den Strukturen von
UNMIK ein Bedarf besteht und dass wir an die provisorische Regierung mehr Verantwortung übergeben müssen, als das bisher gelungen ist. Umgekehrt übernimmt
sie damit mehr Verantwortung für die Umsetzung der
Gesetzgebung, die die Statusregelungen betrifft. Das
hilft uns aber alles nicht, wenn wir nicht tatsächlich eine
Statusperspektive aussprechen.
({4})
Die Mehrheit der Bevölkerung im Kosovo will Unabhängigkeit, Unabhängigkeit und noch mal Unabhängigkeit. Bisher gibt es keine klare Aussage darüber, ob am
Ende des Weges die Unabhängigkeit steht, sondern es
steht Erwartung gegen Erwartung. Zunächst sollen die
Standards erfüllt werden, im Jahr 2005 wird die Erfüllung der Standards überprüft und erst dann soll der Prozess beginnen.
Ich war erst kürzlich im Kosovo und kann Ihnen sagen: Die albanischen Kosovaren erwarten im Jahr 2005
die Unabhängigkeit. Natürlich ist diese schnelle Entwicklung illusorisch, weil es in der Region noch eine
ganze Menge anderer Probleme gibt, die sich auch
wechselseitig beeinflussen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stinner?
Wenn es nicht auf meine Redezeit angerechnet wird,
ja.
Frau Kollegin, vielen Dank.
Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass die Vorschläge im Eide-Bericht sehr nahe in die Richtung gehen, die wir vorgeschlagen haben, und sind Sie bereit,
uns zuzugestehen, dass Herr Eide in seinem Bericht die
Position des Bundesaußenministers, die dieser heute
wieder vertreten hat, expressis verbis ablehnt und ausdrücklich sagt, dass die formelhafte Wiederholung von
„Standards vor Status“ nicht mehr adäquat ist?
Kollege Stinner, Sie haben Recht und Sie haben auch
nicht Recht, weil sich Kai Eide peinlichst an eine Lösung gemäß der UNO-Resolution 1244 hält. Er regt
nicht an, jetzt schon den Status auszusprechen. Er regt
an, auf einer unteren Schwelle Gespräche zu führen, zum
Beispiel mit den Russen und mit den Serben. Ich denke,
was er sagt, ist richtig. Außenminister Fischer hat davon
gesprochen - obwohl ich ihm, wenn man den Satz einzeln betrachtet, nicht beistimmen würde -, dass der
Grundsatz „Standards vor Status“ uneingeschränkt gelten muss. Aber es wird ja auch nicht so sein, dass wir
über den Status entscheiden, ohne dass bestimmte Standards erfüllt sind.
({0})
Das haben jetzt klugerweise endlich, obwohl sie vorher
etwas anderes gesagt haben, auch die Kollegen Schmidt
und Struck gesagt. Es läuft doch auf eine Parallelisierung der Vorgänge hinaus. Man muss signalisieren - das
haben einige auch schon getan -, dass es nicht beim Status quo ante und auch nicht beim Status quo bleiben
wird. Es wird auch kein europäisches Treuhandgebiet
bleiben, sondern am Ende wird - das ist meine Meinung,
weil es gar nicht anders geht - die kosovarische Unabhängigkeit, die Souveränität stehen. Ein solch souveräner Staat wird dann in die europäischen Strukturen einUta Zapf
gegliedert werden; das ist auch in unserem europäischen
Interesse, Herr Stinner. Ich glaube, dass Ihr Antrag diesem Bedürfnis nicht ganz gerecht wird. Aber ich nehme
an, dass wir weiter darüber diskutieren werden und vielleicht auch parlamentarisch zu einer Lösung kommen.
({1})
Ich möchte in den zwei Minuten Redezeit, die mir
bleiben, noch auf ein paar Probleme eingehen, die auch
mit der Übergabe von mehr Verantwortung zu tun haben. Ein wichtiges Problem muss sehr schnell angegangen werden, das Problem der wirtschaftlichen Entwicklung im Kosovo. Armut und zurückgehendes Wachstum
im Kosovo haben natürlich zur Frustration und zu den
Ausbrüchen beigetragen. Die Arbeitslosigkeit ist im
letzten Jahr um 10 Prozent gestiegen. Bei den 25-Jährigen liegt die Arbeitslosigkeit bei 71 Prozent und mehr
als 50 Prozent der Arbeitslosen sind schlecht ausgebildet
oder haben keine Ausbildung.
Natürlich muss auch das Verhältnis zwischen der
UNMIK-Verwaltung und der provisorischen Regierung schnell verbessert werden, damit die merkwürdigen gegenseitigen Schuldweisungen aufhören. Das
heißt, es ist mehr Koordination gefordert. Hier könnte
die Europäische Union sehr schnell eine Rolle übernehmen. Herr Preuß, der Rugova berät, hat dazu sehr weise
Vorschläge gemacht. Im Übrigen ist am 1. September
ein Büro eröffnet worden, mit dem die Europäische
Union endlich besser präsent ist. Ich glaube, dass
Pillar IV jetzt schon ganz in die europäische Verantwortung übergehen könnte. Es wäre eine weise Entscheidung, wenn der wirtschaftliche Aufbau nicht nur von der
Europäischen Union finanziert, sondern auch verwaltungsmäßig verantwortet würde.
({2})
Wir müssen also von der UNMIK weg. Das können wir
ganz schnell machen.
Lassen Sie mich zuletzt auf die gesamten Probleme in
der Region eingehen. Ich mache mir große Sorgen über
das jetzt von der albanischen wie der mazedonischen
Opposition angestiftete Referendum in Mazedonien.
Dort sind 180 000 Unterschriften gesammelt worden.
Wenn dieses Referendum Erfolg hätte, dann würde es
ein schönes Beispiel von gelungener Politik sehr in Gefahr bringen, weil dann das Ohrid-Abkommen nicht
mehr so umgesetzt werden könnte, wie es beschlossen
worden ist. Dann würden in diesem Bereich Konflikte
aufbrechen. Diese Konflikte würden nicht ohne Auswirkung auf den Rest der Region bleiben.
Lassen Sie uns alle daran mitwirken, dass wir dort,
wo es noch Schwierigkeiten gibt, als Deutsche, Europäer
und Parlamentarier diejenigen Kräfte ermutigen, die den
Prozess der Europäisierung mit uns gehen wollen. Das
ist in unserem eigenen Interesse.
Danke sehr.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist die zentrale außen- und sicherheitspolitische Herausforderung
in der Welt. 350 Anschläge in 25 Ländern der Welt mit
über 4 000 Toten wurden seit dem Anschlag in New
York über Madrid bis Beslan gezählt. Das ist die
schreckliche Bilanz, es ist eigentlich eine Kriegsbilanz.
Herr Außenminister, Sie haben Recht: Der internationale Terrorismus kann nicht losgelöst von den großen
Krisenherden der Welt gesehen werden. Deshalb wird
auch der Erfolg unserer Außenpolitik, Ihrer und unserer
Politik, davon abhängen, ob wir zur politischen Lösung
der Probleme im Nahen Osten, in Tschetschenien, im
Iran und im Irak beitragen. Dazu hat Herr Gerhardt das
Notwendige gesagt. Auch Herr Erler hat ganz bemerkenswert an das Thema herangeführt. Dem kann ich
mich eigentlich anschließen.
Ich möchte am Ende der außenpolitischen Debatte
eine Bilanz ziehen. Dieser Außenminister hat zwei entscheidende Fehler von politischer Tragweite in seiner
bisherigen Amtszeit zu verantworten. Der eine zentrale
Fehler ist die nachhaltige Störung der transatlantischen Partnerschaft und die Gefährdung der Freundschaft zu Amerika.
({0})
Das Problem ist: Sie haben dies nicht einmal erkannt.
Sie setzen diesen unseligen Weg fort. Frau DäublerGmelin wird von Frau Wieczorek-Zeul getoppt. Man
müsste auch einmal Fehler einsehen. Die Amerikaner
müssen im Irak täglich einen hohen Preis auch dafür
zahlen, dass sie uns von der schrecklichen, menschenverachtenden Diktatur Saddam Husseins befreit haben.
Der zweite gravierende außenpolitische Fehler in der
Minusbilanz dieses Außenministers ist: Er ist ein Spalter. Er hat nicht nur die deutsch-amerikanische Freundschaft aufs Spiel gesetzt,
({1})
sondern er ist auch ein Spalter innerhalb der Europäischen Union.
({2})
Schauen Sie sich die letzten zwei, nicht einmal die letzten sechs Jahre an! Ich nenne die Stichworte „deutscher
Sonderweg Irak“, „Italien“,
({3})
„Österreich“ und erinnere daran, wie diese Bundesregierung im Ministerrat mit den Kleinen umspringt. Deshalb
stelle ich fest: Dieser Außenminister spaltet Europa. Das
ist der zweite gravierende Fehler.
({4})
Um die große Herausforderung zu bestehen, die in der
Bekämpfung des internationalen Terrorismus liegt, können und müssen wir, Amerikaner und Europäer, gemeinsam mit Russland und der Weltvölkergemeinschaft eine
gemeinsame Strategie verfolgen.
({5})
Die Spalterrolle und die Minusbilanz zeigen sich beispielsweise auch in der Frage nach der Substanz des Entwurfs einer europäischen Verfassung. Wir müssten mit
diesem Entwurf auch in der Außen- und Sicherheitspolitik einen Quantensprung nach vorne machen. Denken
Sie an das klägliche Bild der Europäer bei ihrer Stellungnahme zum Iran in den letzten zwei Tagen! Notwendig
wäre eine Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik über den Verfassungsentwurf. Aber dies ist
uns nicht gelungen, weil dieser Außenminister Europa
nicht zusammenführen kann. Wir alle zahlen einen hohen Preis dafür.
({6})
Die Freundschaft mit Russland ist wichtig; darauf hat
Herr Schäuble hingewiesen. Wir sehen ein Problem darin - dass zeigt die Bewertung der Tschetschenienwahl -, wie der Bundeskanzler darüber denkt. Herr
Erler, Sie haben mit großer Ruhe, aber in aller Klarheit
die Einbettung des Terrorismusproblems in die politische und historische Entwicklung dieser Region dargelegt. Dem kann ich zustimmen. Was wir aber an dieser
Stelle einfordern, ist, in der Bewertung der Frage der
Menschenrechte keine unterschiedlichen Maßstäbe an
die Amerikaner und an die Russen anzulegen. Was für
Bush gilt, muss auch für Putin gelten. Es geht nicht an,
sich auf einem Auge blind zu stellen. Ohne Reagan, der
vor wenigen Wochen gestorben ist, und ohne Bush
senior, die den Mut aufgebracht haben, in schwierigen
Zeiten, als das Brandenburger Tor noch geschlossen war,
den Sowjets zu sagen: „Die Mauer muss weg! Wir sehen
die Menschenrechtsverletzungen und bestehen auf der
Wiedervereinigung“, würde es die Mauer heute noch geben. Ohne Bushs Vater, Ronald Reagan und den Mut der
Amerikaner wäre die Mauer bis heute nicht geöffnet
worden.
({7})
Ich frage mich, wo unser grüner Außenminister für
die Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die
weltweite Einhaltung des Völkerrechts - nicht nur in
Tschetschenien, in Russland und in China - eintritt.
({8})
Ein Held im Kampf für die Menschenrechte ist er sicherlich nicht, Frau Roth. Er hat Ihre Seele und die Seele der
Grünen längst verkauft, nach dem Motto „Was nützt
mir?“
({9})
Seine politischen Erfolge sind bescheiden. Dieser Außenminister hat hohe Analysekapazitäten, aber zu der
Frage, wie Probleme gelöst werden können, hat er - darauf hat Herr Gerhardt hingewiesen - nicht allzu viel zu
bieten.
({10})
Ich nenne als Beispiel den Kosovo und schließe mich
dem an, was Minister Struck angemahnt hat: die fehlende Konzeption.
Ein weiteres Beispiel ist Afghanistan. Die „Frankfurter Rundschau“ hat dieser Tage getitelt: „Bundeswehr
schützt vor allem sich selbst“. In Afghanistan ist eine
Rekordernte von Opium zu verzeichnen. Zwei Drittel
des Heroinaufkommens in Deutschland und Europa
stammen aus afghanischen Quellen.
Damit Klarheit besteht, Herr Fischer: Sie haben die
Frage der Mandatsverlängerung angesprochen. Auf
die Opposition konnten Sie sich trotz der Entwicklungsprobleme und des mangelnden Erfolges immer verlassen, obwohl Sie zu Beginn des Mandats in Afghanistan
hier ausgeführt haben, dass sich das Mandat nur auf Kabul erstreckt. Inzwischen sind wir nicht nur in Kabul,
sondern auch in Kunduz engagiert. Die Opposition hat
dem nach reiflicher Prüfung zugestimmt. Wir werden
der Verlängerung dieses Mandats auch weiterhin zustimmen. Aber wir dürfen doch wohl noch Fragen nach der
Wirkung und dem politischen Erfolg stellen, wenn deutsche Soldaten ihr Leben im Ausland aufs Spiel setzen.
Wir sagen Ja zu Kabul und „Ja, aber“ zu Kunduz. Was
Faizabad angeht, bitte ich Sie, zunächst in der Bundesregierung abzuklären, ob der Verteidigungsminister und
die Entwicklungshilfeministerin Ihren Vorstoß mittragen. Wo bleibt das internationale Konzept bzw. die internationale Einbettung?
({11})
Frau Wieczorek-Zeul sagt - zu Recht -: Es wird keine
Wiederaufbauprojekte in Faizabad geben. Wenn das zutrifft, dann stimmt Ihre Argumentation nicht, dass wir
dorthin deutsche Soldaten zum Schutz von Wiederaufbauprojekten schicken müssen. Klären Sie dies einmal
innerhalb der Bundesregierung! Wir müssen auf jeden
Fall den deutschen Soldaten jeden Einsatz und jeden
Einsatzort logisch begründen. Kein Einsatz darf wirkungslos sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Erler?
Ja.
Bitte, Herr Erler.
Herr Kollege Müller, ich frage Sie, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen, dass es im Augenblick in der
Region Badakshan, in der das PRT Faizabad eingerichtet
werden soll, Aufbauprojekte von folgenden Organisationen gibt: UNICEF, UN Office for Project Service, UN
World Food Programme, Weltgesundheitsorganisation,
FAO, UNFPA, UNHCR. Außerdem gibt es dort Aufbauprojekte von folgenden NGOs: Medair, Afghan Aid,
Child Fund AFG, Concern worldwide, Focus Humanitarian Assistance, Mission East, Medical Emergency
Relief Intern., Norwegian Afghan Committee, Oxfam,
Swedish Committee for AFG, Shelter for Life. Wie kommen Sie dazu, hier öffentlich zu behaupten, es gebe
keine Aufbauprojekte in dieser Region?
Herr Kollege Erler, ich nehme dies mit großer Freude
zur Kenntnis. Wir unterstützen diese Organisationen und
bewundern ihren Mut, dort tätig zu werden. Aber ich
habe auf die Frage abgestellt, welchen Beitrag die deutsche Bundesregierung leisten soll. Verteidigungsminister
Struck und Außenminister Fischer begründen die Ausweitung des Mandats mit dem Schutz der zivilen Aufbauteams, die dort tätig werden sollen. Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul sagt dagegen, dass es dort keine
durch die Bundesregierung finanzierten zivilen Aufbauhelfer geben wird. Wenn das zutrifft, muss man keine
zusätzlichen Soldaten dorthin schicken.
Alle Organisationen, die Sie aufgezählt haben, sind
dort ohne den Schutz der Bundeswehr tätig. Wir haben
vor wenigen Wochen mit Vertretern einiger dieser Organisationen Gespräche geführt. Sie haben schon bei der
Ausweitung des Mandats auf Kunduz davor gewarnt, die
Bundeswehr in diese Region zu schicken; denn sie fühlen sich durch die Bundeswehrsoldaten nicht geschützt,
sondern eher gefährdet. Der Schutz der zivilen Wiederaufbauteams kann also nicht als Begründung dienen. Der
Außenminister muss dem Parlament also eine andere
Begründung darlegen.
({0})
Ich glaube, dass ich meinen Standpunkt sehr deutlich
dargelegt habe. Sie sehen jetzt sicherlich ein, dass Sie in
Ihren eigenen Reihen, in der Bundesregierung und in der
Fraktion, großen Gesprächs- und Klärungsbedarf haben.
Stichwort „Türkei“: Ohne den EU-Beitritt der
Türkei werde es gefährlich, sagen Sie, Herr Außenminister, dieser Tage in einem Interview. Ich zitiere Sie:
Eine europäische Türkei ist für den Kampf gegen
den Terror unverzichtbar.
Ich erinnere mich, dass Sie, als die Lage im Irak schwierig wurde und als die Amerikaner mit ihren Operationen
begonnen haben, noch nicht einmal bereit waren, den
Türken Patriot-Abwehrsysteme zum eigenen Schutz zu
gewähren. Nun argumentieren Sie plötzlich, dass die terroristische Gefahr in Europa zunehmen werde, wenn die
Türkei nicht Mitglied der EU werde. Lesen Sie bei Egon
Bahr nach, dem Altmeister der Außenpolitik in der SPD.
Er hat dieser Tage gesagt: „Der Beitritt der Türkei ist das
Ende der politischen Union in Europa.“ Ich möchte das
heute hier nicht weiter vertiefen. Aber ich sage Ihnen:
Sowohl bei der europäischen Verfassung als auch beim
EU-Beitritt der Türkei können Sie nur mit und nicht gegen das deutsche Volk regieren. Sie kommen nicht daran
vorbei, das deutsche Volk zu befragen. Sie können dem
deutschen Volk nicht ständig misstrauen. Herr Außenminister, Sie, der Sie einst als Basissponti gestartet sind
und der heute in den Regierungssitzen gelandet ist, haben inzwischen nicht nur Angst vor Ihrer eigenen Basis,
sondern auch vor dem eigenen Volk.
({1})
Ihre Argumentation lautet: Die Türkei sollte Mitglied
der EU werden, damit die Terrorbekämpfung verbessert
werden kann; sonst wird es gefährlich. Wenn man dieser
Logik folgt, dann müssen wir die EU auf weitere Krisenregionen ausdehnen und - dem steht nichts entgegen auch Israel, Serbien, den Kosovo, die Ukraine und Armenien in die EU aufnehmen. Ihr Argument für die Aufnahme der Türkei in die EU gilt natürlich auch für die
Behandlung von Folgeanträgen.
Außenpolitik ist in Deutschland auch Standortpolitik.
Herr Volmer, ich möchte auf den modernen Sklavenhandel, den Sie zu verantworten haben, nicht näher eingehen.
({2})
2003 wurden vom deutschen Außenminister über die
Botschaften in Osteuropa
({3})
- nun hören Sie einmal zu! ({4})
765 000 Einreisevisa an Osteuropäer erteilt. Damit betreiben Sie gezielt modernen Sklavenhandel und Sie fördern Schwarzarbeit, Frauenhandel und Kinderprostitution.
({5})
Die Zahlen für das erste Halbjahr 2004 bestätigen leider
diese Entwicklung: 389 000 Visa wurden in der Ukraine
und in deutschen Botschaften anderer Länder erteilt.
Was tut dieser Außenminister, um den Vorgaben seines
Innenministers Schily in dieser Frage nachzukommen?
Keine Antwort auf diese und auf viele anderen Fragen.
Ich fasse zusammen: Deutsche Außenpolitik hat
keine Vision, verleugnet unsere Werte, bezieht keine Position und zerstört das Vertrauen in Deutschland als verlässlichen Partner. Sie, Herr Außenminister, haben deutschen Interessen schweren Schaden zugefügt.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Friedenshoffnungen am Ende des Kalten Krieges
sind abgekühlt. Seit Jahren beobachten wir eine Renaissance des Militärischen. Wir beobachten sie nicht nur,
sondern wir stellen auch fest: Die Bundesrepublik hat
dabei einen aktiven Part. Dafür spricht auch der vorliegende Haushalt. Deshalb lehnt die PDS im Bundestag
diesen Haushalt ab.
({0})
Ich bin nun seit sechs Jahren Mitglied des Bundestages. In dieser Zeit musste ich 30-mal über Auslandseinsätze der Bundeswehr abstimmen. Ich habe 30-mal mit
Nein gestimmt. Aber das ist nicht das Entscheidende.
Entscheidend ist, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr
unter Rot-Grün von der Ausnahme zur Regel geworden
sind. Diese gefährliche Tendenz ist Konzept und sie wird
durch den vorliegenden Entwurf der EU-Verfassung sogar noch forciert; denn statt einer Friedens- und Abrüstungspflicht enthält sie genau das Gegenteil. Bundesaußenminister Fischer hat im Frühjahr in einer Debatte
hier dazu bemerkt, dass das auch gut so sei. Ich finde,
das ist schlecht. Im Übrigen finden wir diesen Teil des
Verfassungsentwurfes auch nicht richtig.
({1})
Möglicherweise fürchtet Rot-Grün auch deshalb ein
Plebiszit zur EU-Verfassung. Jedenfalls haben SPD
und Grüne bisher nur taktiert. Mit der CDU/CSU haben
sie dann paktiert, wenn es darum ging, Volksabstimmungen zu verhindern.
({2})
Wir schlagen - wie übrigens 80 Prozent der Bevölkerung - mehr Demokratie vor und wir wollen eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung am 8. Mai des
Jahres 2005.
({3})
Seit über 14 Jahren kämpfen die Bürgerinnen und
Bürger in der Kyritz-Ruppiner Heide gegen die erneute
Nutzung des so genannten Bombodroms. Sie wollen
eine friedliche, zivile Zukunft ihrer Region. Dies ist eine
Forderung, die nun, da in Brandenburg Wahlkampf ist,
selbst Ministerpräsident Platzeck, SPD, und Innenminister Schönbohm, CDU, hochhalten. Ich finde, sie haben
Recht; denn ein Bombenübungsplatz wäre ein herber
Rückschlag für die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin und er wäre ein Rückschlag für die Menschen, für die Wirtschaft und für den
Tourismus.
({4})
- Da der Außenminister hier gerade „Wie war es früher?“ fragt: Ich habe mit Absicht die Formulierung „seit
über 14 Jahren“ gewählt. Ja, die Bürgerinnen und Bürger
dieser Region haben sich auch zu DDR-Zeiten - ohne
Chance auf Erfolg, das gebe ich gerne zu - dagegen gewehrt, dass dort Bomben von der sowjetischen Armee
abgeworfen werden.
({5})
Das legitimiert aber nicht, dass Sie diesen Platz heute
weiter nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der grünen Fraktion,
Sie hätten einen Beitrag gegen Populismus und für mehr
Glaubwürdigkeit Ihrer Politik leisten können, wenn Sie
den in der Prignitzer Presse von Ihren wahlkämpfenden
Kollegen angekündigten einstimmig verabschiedeten
Gruppenantrag Ihrer Fraktion gegen das Bombodrom
heute auf den Tisch gelegt hätten.
({6})
Wir hätten zugestimmt. Abgesehen davon hätten Sie einen Konstruktionsfehler dieses Haushalts ein wenig geheilt. Sie hätten nämlich die Proportionen ein wenig verschoben. Schauen Sie sich einmal an, wie wenig Geld
für Friedens- und Konfliktforschung, für Konversion
und Entwicklungshilfe Sie im Vergleich zu dem vielen
Geld für Rüstung und Aufrüstung eingestellt haben!
Abschließend ein Wort zu einem Thema dieses Sommers. Die USA wollen Streitkräfte aus Europa und damit
auch aus der Bundesrepublik abziehen. Kaum verkündet,
setzte, von CDU/CSU bis Bündnis 90/Die Grünen, ein
großes Barmen ein. Die PDS im Bundestag bewegt bei
diesem Thema etwas ganz anderes, nämlich dass die
US-Armee bei ihrem Abzug nicht ihre Atomwaffen vergessen sollte, die noch in der Bundesrepublik stationiert
sind und endlich abzurüsten sind.
({7})
Da frage ich mich: Wo bleibt da die friedenstiftende Intervention des Bundesaußenministers?
({8})
Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Gerhardt, als Sie hier gesprochen haben, habe
ich mich gefragt, wo denn Ihre Antworten bleiben, wo
denn Ihre Darlegungen dazu bleiben, an welchen Punkten Sie vor dem Deutschen Bundestag eine andere Auffassung präsentieren als die Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen. Dazu habe ich nichts gehört.
({0})
Wenn schon über Alternativen gesprochen wird, lieber Herr Kollege Gerhardt, dann kann man auch einmal
fragen: Wie hat sich denn die FDP verhalten, als es um
das Mandat zu Kunduz ging?
({1})
Vielleicht könnten Sie die Einladung des Verteidigungsministers annehmen, um sich einmal vor Ort darüber
kundig zu machen,
({2})
dass der Einsatz in Kunduz eben nicht allein von der
Bundeswehr, sondern gemeinsam mit insgesamt sechs
anderen nationalen Armeen getragen wird.
Sie haben hier etwas verbreitet,
({3})
von dem Sie offensichtlich - jedenfalls hat sich das so
angehört - keinen blassen Schimmer haben.
({4})
Es wäre klug, wenn sich jemand, der Außenminister
werden will, wenigstens einmal in der Sache kundig machen würde.
({5})
Ich nehme gern einen anderen Punkt auf, der durchaus berechtigt ist. Aber auch da gibt es eine klare Antwort. Sie haben danach gefragt, was denn das politische
Ergebnis dessen ist, dass sich die Bundeswehr - nicht
nur in Afghanistan, aber eben auch in Afghanistan - beteiligt. Wir werden in der zweiten Oktoberwoche sehen,
was die Bundeswehr in Afghanistan geleistet hat, wo es
darum geht, dafür zu sorgen, dass es ein Klima der Sicherheit gibt, das es den Menschen erlaubt, überhaupt
zur Wahl zu gehen.
({6})
Das ist eine gewaltige Leistung, zu der die Bundeswehr
beigetragen hat.
Lieber Kollege Gerhardt, es mag Punkte geben, über
die man diskutieren kann, aber an diesem fundamentalen
Ergebnis - es geht darum, dass die internationale Staatengemeinschaft dafür sorgt,
({7})
dass sich in Afghanistan ein Klima des Anstands und des
offenen Wettbewerbs ausbreitet - ist die Bundeswehr beteiligt, in Kunduz und demnächst auch in Faizabad. Bitte
stellen Sie das hier nicht infrage, lieber Kollege
Gerhardt.
({8})
- Dann müssen Sie hier sehr präzise darlegen, was denn
eigentlich der Grund Ihrer Kritik ist. Das war nicht zu erkennen.
Dem, was Sie gesagt haben, kann ich in einem Punkt
durchaus zustimmen. Ich konnte entnehmen, dass wir
ganz nahe beieinander liegende Einschätzungen dazu haben, was in Beslan geschehen ist, und das ist gut so.
Kinder wollten am 1. September ihren eigenen Weg in
eine andere, in eine bessere Zukunft gehen. Eltern wollten sie dabei begleiten. Terroristen aber ermordeten die
Hoffnung auf ein anderes, auf ein besseres Leben. Das
Ungeheuerliche dabei ist: Diese Terroristen haben ein
Tabu gebrochen. Kindern sollte die Chance auf ein
selbstbestimmtes Leben geraubt werden. Das ist ein ungeheuerlicher Tabubruch, den diese Terroristen unternommen haben. Die Frage, ob man mit diesen Terroristen einen politischen Prozess beginnen kann, erledigt
sich nach diesen Geschehnissen von selbst, weil die Terroristen diese Chance selbst zerstört haben.
Wenn darüber Konsens besteht, dann bleibt nur noch
die Frage, wie denn die russische Gesellschaft und die
russische Politik diese ungeheuerlichen Schläge verarbeiten kann. Ich glaube, eine direkte und innere Verbindung dazu ergibt sich aus den Zwischentönen, die man
gestern in den Stellungnahmen von dem einen oder anderen Moskauer Journalisten hören konnte. So hat der
Journalist Solowjew an diesem Punkte von Verantwortung gesprochen. Ich glaube, dass die russische Gesellschaft vor dem Problem steht, wie sie mit dem, was vom
ersten großrussischen Imperium übrig geblieben ist, umgehen soll. Tschetschenien und andere Regionen sind ja
Opfer dieses großrussischen imperialen Denkens gewesen. Leo Tolstoi hat in seinem Roman „Hadschi
Gert Weisskirchen ({9})
Murat“ mit folgenden Worten die offenen Wunden beschrieben, die das russische Imperium den Tschetschenen zugefügt hat:
Das Gefühl, das alle Tschetschenen vom Jüngsten
bis zum Ältesten, ihnen
- den Russen gegenüber empfunden haben, war stärker als Hass.
Nicht Hass, schreibt er weiter, sondern ein
solcher Abscheu und Ekel, ein so fassungsloses Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit
habe sie erfasst. Das war vor 100 Jahren. Danach folgte
stalinscher Terror, der auch diese Region noch einmal
schlimm erfasste. Die Wunden, die er den Menschen zugefügt hat, schmerzen bis heute.
Ich glaube, dass wir vielleicht in einem Dialog mit
den Menschen in Russland und übrigens auch in einem
Dialog mit Tschetschenen, die bei uns, beispielsweise
auch hier in Berlin, leben, den Kreislauf der Gewalt endlich durchbrechen können. Dazu hat heute in der „Süddeutschen Zeitung“ der stellvertretende Sozialminister
unter Maschadow ausdrücklich gesagt: Ja, al-Qaida
spielt eine Rolle in diesem Terrorkampf. Vielleicht
könnte ein neuer Prozess beginnen, wenn Maschadow
noch einmal das Wort erhebt und zu einem einseitigen
Waffenstillstand derjenigen, die er vielleicht noch beeinflussen kann, aufruft.
In diesem Zusammenhang, Herr Gerhardt, den Bundeskanzler zu ermahnen, offene Worte zu sprechen bzw.,
so haben Sie es formuliert, ein offenes Wort nicht unter
den Tisch fallen zu lassen, ist nicht opportun. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Bundeskanzler ein offenes Wort zu Putin gesprochen hat.
({10})
Ich bin felsenfest davon überzeugt. Aber ob dies ein öffentliches Wort sein muss, das ist eine Frage, die jeder
für sich,
({11})
Kollege Gerhardt, beantworten kann. Könnte es denn
nicht sein,
({12})
dass dann, wenn wir jetzt öffentliche Schuldzuweisungen aussprechen würden, jener schmerzhafte Lernprozess, in dem sich die russische Gesellschaft im Moment
befindet, gestoppt würde und die Sprache der Gewalt
und des Hasses neue Nahrung finden könnte? Das müssen wir doch verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({13})
Sie, Herr Kollege Gerhardt, haben ja von Moralität gesprochen. Ich halte fest, dass dies eine moralische Frage
ist.
Ich wage zu sagen: Ich glaube, dass der
Diese moralische Frage hat etwas damit zu
tun, dass nicht alles, was offen zwischen Personen, auch
Staatsmännern, gesprochen wird, in die Öffentlichkeit
gebracht werden muss, weil das nämlich Folgen haben
kann, die der russischen Seele über das hinaus, was gegenwärtig geschieht, tiefe, schwere Wunden zufügen
könnten. Deshalb bitte ich Sie herzlich, öffentliche Kritik und ein offenes Wort nicht miteinander zu verwechseln oder das zu vermischen, lieber Kollege Gerhardt.
({0})
Herr Gerhardt, ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, den auch Sie aufgegriffen haben. Ich bitte den Kollegen Müller, auch wenn er nicht mehr da ist, noch einmal ein klein wenig nachzudenken und den Aufsatz von
John B. Judis zu lesen, der im Juli/August dieses Jahres
in „Foreign Policy“ erschienen ist. Er beschreibt dort unter der Überschrift „Imperial Amnesia“, was das eigentliche Problem der USA gegenwärtig ist. Francis Fukuyama hat das in „The National Interest“ deutlich
unterstrichen.
({1})
- Ja; man sollte durchaus zur Kenntnis nehmen, dass gerade in den USA eine öffentliche, harte Debatte geführt
wird, von der wir eine ganze Menge Positives lernen
können.
John B. Judis hat sehr klar gesagt und Francis Fukuyama hat es unterstrichen: Macht schöpft nicht allein aus
Macht. Die zentrale Frage, die sich die USA stellen
muss, dreht sich um Legitimation. Legitimation ist aber
genau das, was die Bundesregierung im Weltsicherheitsrat angemahnt hat. Es darf kein unilaterales Verhalten
geben, schon gar nicht von der allerstärksten Macht, die
Moralität und Normen auf sich zieht; wir hoffen, dass
die USA das auch künftig tun werden.
({2})
Wer an diesem Punkt die Stimme gegen die Bundesregierung erhebt, der sieht nicht, dass sich die USA
ebenso wie Russland, wie wir eben festgestellt haben, in
einem tiefen Verständigungsprozess befinden. Ob der
Weg des Imperiums, den die europäischen Mächte gegangen sind und der zu einem furchtbaren Ende geführt
hat, der richtige ist, darüber gibt es in den USA ein tiefes
Nachdenken. Legitimation ist die zentrale Kategorie für
unsere künftige außenpolitische Arbeit, weil nur so die
Frage beantwortet werden kann, ob Frieden künftig
möglich sein wird. Frieden kann nur möglich werden,
wenn Legitimationsfragen öffentlich und offen debattiert
werden und nicht unilaterales Handeln die einzige Antwort in dieser Welt bleibt.
({3})
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Weisskirchen, nur eine kurze Reaktion auf Ihre Rede. Ich glaube, wir sind uns überhaupt
nicht uneinig in der Frage, dass in der Situation, in der
sich Russland befindet, natürlich sehr vorsichtig mit öffentlichen Äußerungen und öffentlicher Kritik gegenüber Russland umgegangen werden muss. Dies ist aber
weder vom Kollegen Gerhardt noch von unserer Fraktion kritisiert worden.
Ich will kurz erklären, welchen Punkt wir kritisiert
haben. Ich hätte großes Verständnis dafür gehabt, wenn
Bundeskanzler Schröder das Thema der Wahlen umschifft und sich nicht dazu geäußert hätte. Das Problem
war aber, dass er im Gegensatz zur Feststellung der Europäischen Union öffentlich erklärt hat, dass die Wahlen
nach seiner Einschätzung völlig korrekt verlaufen seien.
({0})
Das haben wir kritisiert und diesen Punkt haben Sie auch
nicht widerlegt. Das wollte ich nur kurz darstellen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
jetzt etwas Ungewöhnliches tun, nämlich in der Haushaltsberatung einige Bemerkungen zum Haushalt machen.
({2})
Ich glaube, das ist gerade mit Blick auf die Europapolitik
der Bundesregierung absolut notwendig. Wir haben in
jedem Jahr Haushaltsberatungen in diesem Haus und in
jedem Jahr findet in diesen Haushaltsberatungen eine
kritische Auseinandersetzung zwischen Koalition und
Opposition über grundsätzliche aktuelle politische Fragen und Haushaltsthemen statt. Dieses Ritual gibt es, solange es die Bundesrepublik Deutschland gibt, und das
ist für das demokratische Wesen unseres Landes sehr
wichtig.
Seit einigen Jahren - genauer: seit drei Jahren - gibt
es hier aber eine grundlegende Veränderung. Denn seit
dieser Zeit legt das Bundesfinanzministerium dem Bundestag Haushaltsentwürfe vor, die nicht einmal ansatzweise der finanzpolitischen Realität unseres Landes entsprechen. Das Vorlegen der Bundeshaushalte durch den
Bundesfinanzminister Eichel verkommt mehr und mehr
zu einer Märchenstunde.
Auch der Haushaltsentwurf 2005 entpuppt sich schon
beim zweiten Hinsehen als ein Haushalt, der weder die
Vorgaben unserer Verfassung noch die Vorgaben der entsprechenden europäischen Regelungen erfüllt. Schon
längst hat die Bundesregierung mit ihrer Haushalts- und
Finanzpolitik das Vertrauen der Bevölkerung fast gänzlich verspielt. Dies zeigt exemplarisch eine Umfrage, die
gestern im Nachrichtensender n-tv veröffentlicht wurde.
Auf die Frage, ob man an die Haushaltsversprechungen
von Hans Eichel glaubt, antworteten 89 Prozent mit
Nein.
Bundesfinanzminister Hans Eichel hat sich zum unglaubwürdigsten Finanzminister in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland entwickelt.
({3})
Diese Entwicklung war seit Jahren abzusehen. Immer
wieder behauptete Eichel, dass wir im nächsten Jahr die
Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes erfüllen werden. Immer wieder ist schon
wenige Monate später das Gegenteil Realität. Diese desaströse deutsche Haushalts- und Finanzpolitik wird
nicht mehr nur von der deutschen Bevölkerung abgelehnt. Sie zeigt schon längst katastrophale Auswirkungen auf der europäischen Ebene. Denn auch in Europa
glaubt mittlerweile keiner mehr an die Seriosität der
deutschen Finanzpolitik. Die eigentliche Ursache liegt
nicht, wie die Bundesregierung immer versucht zu behaupten, in den im Bereich der Wirtschaftspolitik und
der globalen Entwicklung objektiv vorhandenen Problemen. Die eigentliche Ursache für dieses Misstrauen und
diesen Vertrauensverlust liegt in der Art und Weise, wie
diese Bundesregierung und insbesondere Hans Eichel in
Europa in Finanzfragen ausschließlich taktiert, ohne
dass echte Konsolidierungsanstrengungen vorhanden
sind.
Der vorliegende Bundeshaushalt ist ein klarer Beleg
dafür. Die Nettokreditaufnahme wird mit 22 Milliarden Euro angegeben. Das Haushaltsdefizit beträgt aber
tatsächlich mehr als 37 Milliarden Euro. Ein großer Teil
dieses Defizits soll durch Sondererlöse und Privatisierungen gedeckt werden. Abgesehen davon, dass unklar
ist, ob diese Sondererlöse überhaupt realisiert werden
können - da muss man sehr kritisch sein -, sind diese Erlöse für die Defizitberechnung der Europäischen Union
nach dem Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht relevant.
Bei einem Haushaltsdefizit von ungefähr 37 Milliarden Euro - auch das werden wir nur erreichen, wenn die
positiven Annahmen im Haushaltsentwurf zutreffen werden wir auch im nächsten Jahr - das ist das vierte
Mal in Folge - das 3-Prozent-Kriterium überschreiten.
Wider besseres Wissen behauptet Hans Eichel das Gegenteil. Diese Show hat mittlerweile Tradition. Schon
2002 wurde Eichel vor der Bundestagswahl nicht müde,
wider besseres Wissen zu behaupten, dass Deutschland
die Maastricht-Kriterien im Jahr 2002 erfüllen werde.
Die gegenteilige und richtige Auffassung der Europäischen Kommission versuchte er zu unterdrücken. Das
ging bis zu dem geradezu surrealistischen Theater, dass
der so genannte blaue Brief an Deutschland nicht abgeschickt wurde, sondern in Brüssel verblieb. Nach der
Bundestagswahl kam das wahre Ausmaß der finanziellen Belastung ans Licht. Aber 2003 sollte das Defizitkriterium eingehalten werden. Die Hürde wurde allerdings
mit fast 4 Prozent wieder gerissen.
Im Haushaltsentwurf 2004 gab es dasselbe Spiel. Es
war entlarvend, was der Finanzminister im Finanzministerrat im November des vorigen Jahres getan hat. Er versuchte nämlich - das belegt, dass er seinen eigenen Zahlen nicht geglaubt hat -, durch einen Mehrheitsbeschluss
das Defizitverfahren gegen Deutschland auszusetzen.
Der Europäische Gerichtshof hat im Juli dieses Jahres
diese Handlungsweise als nicht vertragskonform bezeichnet und den Beschluss aufgehoben. Jetzt setzt
Eichel seine letzte Hoffnung in eine Modifizierung des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes und meint, damit
durchkommen zu können. Das wird der Bundesregierung aber nicht gelingen.
Denn abgesehen davon, wie wir hier im Bundestag
die Vorschläge zur Modifizierung des Wachstumspaktes
einschätzen - da haben wir unterschiedliche Auffassungen; das werden wir mit Sicherheit noch debattieren -,
und abgesehen davon, ob sich durch eine Modifizierung
dieses Vertrages Auswirkungen auf das Defizitverfahren
ergeben, bleibt die alles entscheidende Tatsache dieselbe: Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren
keine echten Konsolidierungsbemühungen unternommen. Jahr um Jahr ist das aktuelle Defizit deutlich höher
als das geplante. Jahr um Jahr überschreitet Deutschland
die Defizitgrenze von 3 Prozent. Das strukturelle Defizit
des Bundes liegt mittlerweile bei fast 40 Milliarden
Euro. Damit kommen wir weder im nächsten noch im
übernächsten Jahr aus der Defizitfalle heraus. Nein, wir
werden zusätzlich in den nächsten Jahren die Gesamtverschuldungsgrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten.
Es gibt eine einzige Möglichkeit, diesem Teufelskreis
zu entkommen. Dies ist eine langfristig angelegte, echte
Konsolidierungspolitik des Bundes. Der vorliegende
Haushaltsentwurf taugt dazu in gar keiner Weise.
({4})
Notwendig ist eine grundsätzliche Überarbeitung. Wir
als Opposition werden uns dem nicht verschließen. Nein,
wir selber werden im Zuge der Haushaltsberatung Konsolidierungsanträge stellen.
({5})
Dies ist für eine Opposition ungewöhnlich genug. Aber
Sie, die Koalition und die Regierung, müssen dazu bereit
sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Günter Gloser, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zwei Kollegen der Christlich-Sozialen Union
haben heute in negativer Weise Referenzreden gehalten.
Das begann schon am Morgen mit Michael Glos. Herr
Kollege Dr. Müller, Sie sind ja nun wieder anwesend:
Ich kann manche der Ausführungen, die Sie heute gemacht haben, nur als politische Geisterfahrerei bezeichnen.
({0})
Sie haben bei Ihrem Einstieg in die Debatte gesagt, Sie
wollten eine Bilanz dieser Debatte ziehen,
({1})
obwohl nach Ihnen noch ein paar Rednerinnen und Redner gesprochen haben. Da Sie dem Außenminister vorwerfen, er sei ein Spalter, muss ich angesichts der Bilanz
der Außenpolitik der letzten Jahre wirklich fragen - ich
weiß es natürlich -: Wo leben Sie eigentlich?
({2})
War es nicht diese Bundesregierung, dieser Außenminister, der nach den Ereignissen auf dem Balkan Vorschläge
gemacht hat, wie man nach der dortigen kriegerischen
Auseinandersetzung zu zivilen Lösungen kommen kann,
und der einen Stabilitätspakt für Südosteuropa vorgeschlagen hat? Was ist denn in Bezug auf Afghanistan
passiert? Waren es nicht diese Bundesregierung und dieser Außenminister, die die Initiative zu den Petersberger
Gesprächen ergriffen haben, die noch heute eine Grundlage sind? Wenn Sie jemanden, der zusammengeführt
hat, als Spalter bezeichnen, dann leben wir in der Tat in
einer anderen Welt. Ich meine, die rot-grüne Koalition
lebt in der realen Welt und Sie in einer virtuellen, die Sie
sie vielleicht gerne hätten, die aber nicht existiert.
({3})
Sie haben, auch was die Europäische Union angeht,
von Spaltung gesprochen. War es nicht gerade diese
Bundesregierung, die auf den verschiedenen Etappen der
Erweiterung den größeren und auch den kleineren Ländern, die der Europäischen Union beitreten wollten, immer wieder gesagt hat: „Wir tun alles“? Wer hat denn
beispielsweise auf dem Gipfel in Kopenhagen versucht,
einen Kompromiss zu finden? Über die Auswirkungen
dieses Kompromisses in der Landwirtschaftspolitik kann
man streiten. Aber es wurden Grundlagen dafür geschaffen, die Tür für diejenigen Länder zu öffnen, die der
Europäischen Union beitreten wollten.
Sie legen immer wieder die Platte bzw. CD auf, wir
vernachlässigten die kleinen Mitgliedstaaten und hätten
keinen Draht zu ihnen. Das stimmt einfach nicht. Wenn
Sie aktuelle Themen der europäischen Politik betrachten, so werden Sie feststellen, dass es in der Tat unterschiedliche Kombinationen gibt. Wenn Sie zum Beispiel
betrachten, wer der Finanziellen Vorausschau zugestimmt hat - auch das war eine Initiative von uns -, werden Sie große, aber auch so genannte kleine Länder finden. Bei Defizitverfahren werden Sie feststellen, dass
sich einige Länder Deutschland oder Frankreich angeschlossen haben, darunter auch kleine Länder.
Hören Sie also damit auf, diese Platte immer wieder
aufzulegen! Das ist nicht richtig. Dass es innerhalb der
europäischen Familie Diskussionen gibt, ist angesichts
verschiedener Interessenlagen selbstverständlich.
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen; denn
Herr Dr. Schäuble hat sich im Zusammenhang mit der
Verfassungsdiskussion einseitig an die Koalition gewandt. Er sprach von einem „Zündeln mit einem Referendum“.
({4})
Was soll der Begriff „zündeln“? Und warum richtet er
ihn ausgerechnet an die Adresse dieser Koalition? Neben
Ihnen sitzt doch eine Reihe von Christlich-Sozialen aus
Bayern. Sie müssen doch Herrn Glos, diesen begnadeten
Redner, dem anscheinend immer das bayerische Volksfest am Tag vorher nicht gut bekommt, fragen, wer hier
eigentlich zündelt! Da müssen Sie die Frage ansetzen,
anstatt uns einen Vorwurf zu machen.
({5})
Wir haben in der Opposition und auch in der ersten
Legislaturperiode unserer Regierungszeit Initiativen für
Referenden ergriffen.
({6})
Aber wir wollen nicht nach Ihrem Gusto die Verfassung
als Testfall, wie es Herr Glos ausgedrückt hat, auswählen
und sonst keine Volksabstimmungen zulassen.
Franz Müntefering hat es heute Morgen meines Erachtens richtig gesagt: Die Koalition wird in den nächsten Wochen die Bedingungen festlegen, ins Parlament
einbringen und darüber diskutieren. Ich wiederhole aber
ausdrücklich: Diese Debatte darf nicht dazu führen, dass
die Ratifizierung des europäischen Verfassungsvertrages
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.
({7})
Was die Türkei angeht, ist es immer wieder interessant, die Aufsätze Ihrer Kollegen aus der CDU/CSU zu
zitieren. „Wer die Türkei wegstößt, macht einen Fehler“,
so Volker Rühe. „Eine faire Chance für die Türkei. Die
Türkei braucht Europa - Europa braucht die Türkei“,
schreibt Ihr Fraktionskollege Ruprecht Polenz. Daran
gibt es gar nichts zu deuteln.
Vielleicht hat Herr Glos den Aufsatz von Stefan
Kornelius aus der „Süddeutschen“, den er heute Morgen
erwähnt hat, nicht ganz gelesen. Es besteht ein Unterschied zwischen den Redakteuren der Zeitungen und der
Politik.
({8})
In einem Kommentar kann man schreiben: „Es gibt kein
in den Jahren gewachsenes Anrecht auf den Beitritt.“ Ich
muss dazu sagen - auch Sie, Herr Dr. Schäuble, haben
das gesagt -, dass diese Erwartung bei der Türkei in vielen Jahren, ja sogar Jahrzehnten geweckt worden ist.
Das haben auch Sie in Ihrer Regierungszeit bis
Luxemburg so vertreten, obwohl es auch damals schon
unterschiedliche Diskussion gegeben hat. Ich kann mich
nicht erinnern, dass die Union jemals gesagt hätte, das
sei eigentlich falsch; man stehe vor einem ganz neuen
Projekt; es stießen demnächst zwölf weitere Länder
dazu; das müsse alles erst verkraftbar werden; die Türkei
passe nicht dazu. - Auch von Kanzler Kohl habe ich das
nie so gehört.
Wir sollten die Frage des Beitritts der Türkei sehr behutsam angehen. Was haben Sie dem Außenminister
schon wieder unterstellt! Es ist doch ganz klar: Es gab
innerhalb der zwölf, dann der 15, jetzt der 25 Mitgliedstaaten Entscheidungen über das Vorgehen. Jetzt kommt
der Kommissionsbericht. Danach wird im Dezember
vom Rat entschieden, wie weiter vorgegangen wird. Keiner kann heute schon das Ergebnis vorhersagen. Zu
suggerieren, die Türkei werde morgen schon Mitglied
der Europäischen Union sein und Deutschland werde
entsprechende finanzielle Lasten zu tragen haben, ist
falsch.
({9})
Wie wir alle gesehen haben, verändert sich die Türkei
nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch positiv.
Auch die Europäische Union wird sich entsprechend
verändern. Wir brauchen hier eine sehr sachliche Diskussion.
Vielleicht, Herr Dr. Schäuble, finden wir einen Konsens:
Deswegen muss die Beitrittsdebatte unter allen
Umständen so geführt werden, dass sie die Integrationschancen nicht behindert, sondern verbessert.
Und sie muss so geführt werden, dass die Entwicklung der Türkei im Sinne von Modernisierung, Aufklärung, Zugehörigkeit zum Westen nicht beschädigt, sondern gefördert wird.
({10})
Das haben Sie in einem Interview mit der „Süddeutschen
Zeitung“ am 3. Juni gesagt. Dem kann ich eigentlich nur
zustimmen.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch zu einigen Aspekten der aktuellen Politik, die mit der Finanziellen Vorausschau zusammenhängen. Herr Kollege
Stübgen, Sie haben hier im Schweinsgalopp vorgetragen, nach dem Motto: Das wird schon alles stimmen.
Was Sie zum Beispiel zu dem Urteil des Europäischen
Gerichtshofes gesagt haben, stimmt so nicht. Herr Eichel
ist nicht der Verlierer. Es hat ganz anders ausgesehen.
Die Frage war, inwieweit der Rat einen Beschluss der
Kommission verändern kann. Es ging nicht darum, ob
das, was der Rat mit Mehrheit beschlossen hat, richtig
ist. Das sollte man einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
Da Sie hier so mit den Zahlen hantieren, kann ich nur
fragen: Haben Sie gestern nicht der Debatte insbesondere während des Beitrags von Finanzminister Eichel
beigewohnt, der die finanziellen Belastungen noch
einmal aufgezeigt hat? Sie können in dieser Haushaltsdebatte und auch noch bis Ende des Jahres unter Beweis
stellen, ob Sie wirklich bereit sind, Subventionen abzubauen, damit wir zu einem konsolidierten Haushalt kommen. Hier habe ich Zweifel.
Hinsichtlich der Finanzen der Europäischen Union
wird diese rot-grüne Koalition, wird diese Bundesregierung wie auch in der Vergangenheit Solidarität zeigen.
({12})
Aber ein deutscher Beitrag in einer Größenordnung von
1,14 Prozent des Bruttonationaleinkommens - eine Zahl,
die in den Raum gestellt worden ist - kann natürlich
nicht realisiert werden, weil die Belastungen für diesen
Haushalt zu groß wären.
({13})
Es ist wichtig, dass auch diejenigen, die in den letzten
Jahren durch die europäische Politik gestärkt worden
sind, ihren Beitrag leisten. Wir nehmen bewusst unsere
Verpflichtung gegenüber den Ländern wahr, die am
1. Mai dieses Jahres beigetreten sind.
Ein weiterer Punkt, an dem sich auch die Fadenscheinigkeit der Union zeigt, betrifft die Strukturpolitik im
Rahmen des Kohäsionsfonds. Es kann nicht angehen,
auf der einen Seite dieser Regierung bezogen auf die
Finanzen alles Mögliche vorzuwerfen, auf der anderen
Seite aber auf Länderebene zu sagen: Liebe EU, öffne
das Füllhorn und gib uns im Bereich der Strukturpolitik
weiterhin Gelder! Man muss nämlich auch sagen, wer
das bezahlen soll. Das nämlich ist die Bundesebene und
nicht die Länderebene. Ich bin gespannt, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Union, wie Sie
sich in den entsprechenden Beratungen verhalten werden.
Herr Dr. Müller, Ihre Bilanz bezüglich der Außenund Europapolitik ist völlig falsch. Diese Bundesregierung ist in der Außen- und Europapolitik initiativ gewesen. Sie hat Leute zusammengeführt und nicht gespalten.
({14})
Diese Rolle überlasse ich Ihnen gerne. Sie werden diese
Regierung nicht ablösen, weil Sie sich nicht einig sind.
Sie eiern in verschiedenen Politikfeldern herum. Ich
nenne nur die Stichworte Referendum und Haushaltskonsolidierung und die Vorschläge von Ministerpräsident Stoiber sowie anderer aus der Union.
Die Außen- und die Europapolitik waren und sind bei
dieser Bundesregierung in guten Händen und das werden
sie auch in den nächsten Jahren sein, über 2006 hinaus.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kanzler und der Außenminister haben in dieser Debatte versucht, die Bundesregierung in der internationalen Politik als einen selbstbewussten und bündnistreuen
Partner darzustellen.
({0})
Sie wollten den Menschen in diesem Land suggerieren:
Schaut uns an, wir sind wer in der Welt! In Wirklichkeit
handelt diese Bundesregierung unberechenbar, oft populistisch und hat die Handlungsspielräume deutscher
Außenpolitik damit erheblich eingeengt.
Der Bundeskanzler hat in der Pose des selbstbewussten Lenkers in seiner Rede verkündet: Wir haben auch
das Recht, dann Nein zu sagen, wenn wir von der Sinnhaftigkeit einer Entscheidung nicht überzeugt sind.
({1})
- Natürlich hat er Recht. Das ist banal. Das ist doch für
jeden von uns eine Selbstverständlichkeit.
Das Problem Ihrer Irakpolitik ist doch, dass sich die
Bundesregierung im Vorhinein festgelegt hat. Sie hat gesagt: Ganz unabhängig davon, wie die Entscheidung der
Vereinten Nationen aussehen wird - ohne uns! Sie haben
unseren Bündnispartnern in der Atlantischen Allianz, in
der EU und den Vereinten Nationen signalisiert: Diese
deutsche Regierung wird sich nicht die Mühe machen,
die Sinnhaftigkeit multinationaler Entscheidungen ernsthaft zu prüfen. Das, Herr Bundeskanzler, ist nicht selbstbewusst, das ist arrogant.
({2})
Deutschland hat dadurch nicht mehr, sondern weniger
Einfluss. Ohne Zweifel war und ist es die Pflicht eines
Partners in der NATO, die amerikanische Regierung auf
folgenreiche Fehleinschätzungen hinzuweisen und auf
Korrekturen zu drängen. Das gilt insbesondere in Bezug
auf den Nachkriegsirak.
Aber vor einer multinationalen kritischen Bewertung
kategorisch zu erklären - wie es der Bundeskanzler
heute wieder getan hat -: „Es gab keine deutschen Soldaten im Irak und es wird keine geben“ schmälert unseren Einfluss auf das UN-Mandat, auf dessen Grundlage
die Koalition den Irak befrieden und aufbauen muss. Es
schmälert auch unsere eigene Entscheidungsfreiheit.
Wer vollmundig sagt - auch das hat der Bundeskanzler
heute wiederholt -: „Deutschland erfüllt seine Bündnispflichten“, zugleich aber in der derzeit schwierigsten
multinationalen Mission a priori „Ohne uns!“ erklärt, der
verantwortet die logische Folge, dass Deutschland in den
Missionen, an denen es sich beteiligt, so etwa in Afghanistan oder im Kosovo, weniger Spielraum hat, ein multinationales Mandat und den eigenen Beitrag kritisch zu
prüfen und gegebenenfalls Korrekturen durchzusetzen.
Wer in der NATO bei akuter Bedrohung eines Partners Vorbereitungen zum Schutz der Türkei verhindert,
wie es die Bundesregierung getan hat,
({3})
der setzt die eigene Dialogfähigkeit in der transatlantischen strategischen Sicherheitsdebatte ebenso aufs Spiel
wie die eigene Entscheidungsfreiheit in den Missionen,
an denen deutsche Soldaten beteiligt sind.
({4})
Auch ist es nicht besonders überzeugend zu argumentieren, dass die Türkei deshalb jetzt EU-Mitglied werden
muss, damit der islamistische Terrorismus besser bekämpft werden kann. Auch in dieser Frage hat die Bundesregierung durch eine verfrühte Vorfestlegung den
Spielraum der deutschen Außenpolitik beschnitten.
Obwohl der Prüfbericht, ob die Türkei die Voraussetzungen für die Aufnahme von Verhandlungen erfüllt,
erst im Herbst vorgelegt wird, hat der Bundeskanzler
seinem türkischen Kollegen Erdogan schon im Juni eine
positive Antwort im Dezember in Aussicht gestellt. Herr
Außenminister, dass eine noch engere Verankerung der
Türkei in Europa für Deutschland von überragendem
strategischen Interesse ist, bestreitet in diesem Haus niemand. Es gibt aber auch gravierende Argumente, die für
die Befürchtung sprechen, dass eine Aufnahme der Türkei die EU politisch, wirtschaftlich und institutionell
überfrachten, ihre Identität infrage stellen und die Gefahr einer Rückentwicklung zu einer Freihandelszone in
sich bergen würde.
({5})
Deshalb, Herr Außenminister, sind beide Vorfestlegungen falsch: Es ist falsch zu sagen, dass die Türkei nie
EU-Mitglied werden kann. Es ist aber auch falsch zu sagen, dass wir uns - unabhängig von den Kopenhagener
Kriterien - jetzt auf ihren Beitritt festlegen müssen, um
den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen.
({6})
Die Handlungsspielräume der türkischen wie der europäischen Politik sind in den kommenden Jahrzehnten
größer, wenn wir im Jahr 2004 nicht nur zwischen den
Alternativen Vollmitglied oder Nichtmitglied entscheiden, sondern auch die Möglichkeit einer privilegierten
Partnerschaft ernsthaft prüfen und offen halten.
({7})
Die Europäische Union darf sich nach ihrer Erweiterung nicht vom Prozess der immer tieferen Integration
verabschieden. Die Gefahr einer schleichenden Desintegration ist offenkundig. Leider steht das Handeln der
Bundesregierung auch in der Europapolitik im Gegensatz zu ihrer Selbstdarstellung. Die Europäische Union
ist mit 25 Mitgliedern noch mehr als vorher auf eine
konstruktive und sensible deutsch-französische Führungsrolle angewiesen. Die Bundesregierung spielt diese
Rolle oft arrogant und bevormundend und trägt damit
nicht zur Integration, sondern zur Spaltung Europas bei.
({8})
Sie hat den deutschen Einfluss in Europa geschwächt,
was an ihrem unsensiblen und missglückten Versuch, gemeinsam mit Frankreich einen Kandidaten für das Amt
des Kommissionspräsidenten durchzusetzen, einmal
mehr offenkundig wurde.
Demnächst beginnen die Verhandlungen über den
EU-Finanzrahmen für den Zeitraum von 2006 bis 2013.
Die Bundesregierung hat die gegenwärtige Finanzverfassung der EU heftig kritisiert. Der Status quo ist
das Ergebnis der von der Bundesregierung vorbereiteten
und durchgeführten Verhandlungen während des Berliner Gipfels. Der Berliner Gipfel zur Finanzausstattung
der EU bis 2006 ist gescheitert, weil Deutschland und
Frankreich in offenem Konflikt standen und dadurch alle
anderen zum Basar ihrer nationalen Interessen eingeladen haben. Wenn Deutschland und Frankreich nun Seite
an Seite in offenen Konflikt zu den Interessen der anderen, gerade auch der neuen und kleineren Mitgliedstaaten treten, wird es wiederum ein Desaster geben, wie es
auch beim Berliner Gipfel 1999 der Fall war.
Herr Außenminister, wenn einem zu der Frage eines
deutschen bzw. europäischen Sitzes im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen nicht mehr einfällt als zu sagen,
dass die Franzosen und Briten ihren Sitz doch niemals
aufgeben werden, dann ist das sehr vereinfachend und
hochmütig. Es hat doch nie jemand davon gesprochen,
dass Frankreich oder Großbritannien ihren Sitz im
Sicherheitsrat verlieren würden, sondern es wurde darüber geredet, wie bei einer Reform der Vereinten Nationen sichergestellt ist, dass Europa künftig in multinationalen Strukturen geeint und gemeinsam agiert. Wenn Sie
auf das Argument, dass ein weiterer Sitz für eine europäische Nation - es wäre der dritte - die Einigkeit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht befördere, wie dies von Italien, Polen, Spanien und anderen
Partnern artikuliert wird, lediglich sagen, man brauche
einen zusätzlichen Sitz für Deutschland, weil doch die
Franzosen und die Briten ihren niemals aufgeben würden, so kennzeichnet dies die herablassende Art, in der
Sie sich international bewegen.
Es reicht eben nicht, wenn der Bundeskanzler sagt:
Wir sind selbstbewusst und bündnistreu. Vertrauen und
Einfluss gewinnt Deutschland durch den verlässlichen,
einfühlsamen Umgang mit unseren Partnern in der atlantischen Allianz, in der Europäischen Union und möglichst mit diesen gemeinsam gegenüber der internationalen Gemeinschaft.
({9})
Vertrauen und Einfluss, meine sehr geehrten Damen und
Herren, sind schneller verspielt als zurückgewonnen.
({10})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen dann zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 6.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3684, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 15/3447 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, die von der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss abgegebene Erklärung zur Kenntnis zu
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU
angenommen.
Damit kommen wir jetzt zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung. Das Wort hat
der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Da ich während der abschließenden
Gespräche mit dem Finanzminister über den Haushalt
die Arbeit meinen beiden Staatssekretären, Peter
Eickenboom und Hans Georg Wagner, überlassen
musste, habe ich es ursprünglich für richtig gehalten,
Herrn Staatssekretär Wagner die Einbringungsrede zu
überlassen. Offenbar wird dies aber von manchen Kommentatoren als Beweis für eine fortdauernde Krankheit
angesehen. Das ist falsch. Um zu vermeiden, dass sich
aus einer Haushaltsdebatte über den Verteidigungshaushalt eine Debatte über meinen Gesundheitszustand entwickelt, rede ich jetzt, bringe den Haushalt ein und
werde natürlich auch zukünftig reden, wenn ich es selbst
für richtig halte.
({0})
Die Bundeswehr setzt den Weg der Reform und der
Transformation konsequent und mit Erfolg fort. Auch
der Haushalt, den wir jetzt hier in erster Lesung beraten,
ist ein Beweis und ein Ausweis dafür. Wir engagieren
uns intensiv international - in der vorherigen Debatte ist
darüber ausführlich gesprochen worden - und wir tun
dies auf einer verlässlichen finanziellen Grundlage. Das
ist die Situation, in der wir heute den Verteidigungshaushalt erörtern. Die Transformation der Bundeswehr hat
Fahrt aufgenommen, das heißt, bis zum Jahr 2010 werden die Streitkräfte konsequent auf die wahrscheinlichsten Aufgaben von heute und morgen ausgerichtet.
({1})
Die neue Bundeswehr wird bestimmt durch: eine neue
Führungsorganisation, ein neues Fähigkeitsprofil, neue
Streitkräftekategorien, eine neue Einsatzsystematik und
eine neue Ausrüstungsplanung.
Dieser Prozess erfolgt auf klaren konzeptionellen
Grundlagen. Dazu gehören die Verteidigungspolitischen
Richtlinien vom Mai des vergangenen Jahres, die wir
hier schon häufiger erörtert haben. Dazu gehört auch die
neue Konzeption der Bundeswehr, die in der Verantwortung des Generalinspekteurs erstellt wurde und von mir
im August dieses Jahres erlassen worden ist. Noch in
diesem Jahr - darüber werden wir uns auch in diesem
Plenarsaal intensiv unterhalten müssen - wird schließlich über ein neues Stationierungskonzept zu entscheiden sein, das den neuen Erfordernissen an die Bundeswehr und den neuen Bedingungen, unter denen sie
arbeitet, Rechnung tragen muss. Mit der Transformation
der Bundeswehr sorgen wir dafür, dass die Bundeswehr
ein leistungsfähiges Instrument deutscher Außenpolitik
bleibt und wirksam zur Abwehr von Gefahren beitragen
kann.
Die Bundeswehr ist gegenwärtig mit über 7 000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Im Kosovo sind die
Soldaten der Bundeswehr Teil einer internationalen Sicherheitspräsenz, die Streitkräfte von über 30 weiteren
Nationen mit insgesamt 17 500 Soldaten umfasst. Sie
leisten dort trotz der aktuellen Diskussionen, die uns sicherlich auch im Verteidigungsausschuss beschäftigen
werden, nach wie vor einen ganz wichtigen Beitrag zur
Stabilität und zur Sicherheit im Kosovo.
({2})
Nach den Unruhen im März dieses Jahres im Kosovo
ist die Einsatzplanung der Bundeswehr mit dem Ziel
größtmöglicher Flexibilität und Mobilität geändert worden. Gleichzeitig wurde die Ausrüstung verbessert, um
ein angemessenes Vorgehen auch gegen zivile Unruhestifter zu ermöglichen. Gerade eben hat der Bundestag
ein Gesetz beschlossen, durch das den Soldaten auch der
Einsatz von so genannten einfacheren, nicht tödlichen
Waffen zur Bekämpfung von Unruhen ermöglicht wird.
Auch im Namen der Soldatinnen und Soldaten bedanke
ich mich ausdrücklich dafür.
Auch in Bosnien tragen die Soldaten der Bundeswehr
als Teil von SFOR mit über 1 200 Mann bzw. Frau zur
militärischen Absicherung des Friedensprozesses bei.
Gemeinsam mit den Streitkräften aus 35 Nationen beteiligt sich die Bundeswehr an der Operation Enduring
Freedom im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Am Horn von Afrika sind wir mit der Marine und
in Afghanistan sind wir, wenn es erforderlich sein sollte,
mit dem Kommando Spezialkräfte tätig.
In Afghanistan ist die Bundeswehr mit insgesamt
2 100 Soldatinnen und Soldaten in Kabul, in Kunduz
und in Faizabad im Einsatz und erfüllt die Aufgaben entsprechend den Mandaten der Vereinten Nationen und
dieses Parlaments, des Bundestages. Ich bitte insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der FDP, die das
Mandat in Kunduz sehr kritisch sehen und ihm nicht zustimmen konnten, sehr darum, sich vor Ort persönlich
ein Bild von der guten Arbeit der PRT-Soldatinnen und
-Soldaten in Kunduz zu machen.
({3})
Die Nichtregierungsorganisationen, die dort tätig sind,
begrüßen es trotz der vorherigen Vorbehalte, dass wir
dort sind.
In Faizabad werden wir die gleiche Aufgabe übernehmen. In Absprache mit dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben wir Projekte identifiziert, über die wir noch im Laufe dieser
Woche gemeinsam entscheiden und beraten können.
Kollege Erler hat in der vorherigen Debatte die gesamten
Organisationen aufgezählt, die in Faizabad arbeiten. Wir
wollen mit unserer Präsenz dort helfen und wir werden
das genauso gut wie in Kunduz tun.
({4})
Schließlich geht es auch darum, dass wir die Vorbereitung der Präsidentschafts- und der Parlamentswahl
in diesem Land durch unsere Präsenz mit unterstützen.
Für die Präsidentenwahl gehen wir von einem Wahltermin im Oktober aus. Möglicherweise wird es einen
zweiten Wahlgang geben. Es gibt 13 Gegenkandidaten
zu Karzai. Im Dezember wird es vielleicht eine Stichwahl geben und im März wird dann das Parlament gewählt. Allein dafür ist unsere Präsenz auch in Faizabad,
in der Provinz Badakhshan, über die wir eben gesprochen haben, dringend erforderlich.
({5})
Zuletzt darf ich einige nur kurze Hinweise zum Haushalt geben, weil ich glaube, dass die Rednerinnen und
Redner der Koalition das im Augenblick besser darstellen können als ich.
Unser Haushalt beläuft sich auf 24,04 Milliarden Euro.
Natürlich hätte ich wie jeder Minister gerne einen größeren Haushalt, aber ich trage den Konsolidierungskurs
des Finanzministers selbstverständlich mit. Wenn wir jedoch im Laufe der Beratungen darüber streiten, ob die
Mittel an dieser oder jener Stelle richtig eingesetzt sind,
dann möchte ich darauf hinweisen, dass der Vorschlag,
Kollege Austermann, von Herrn Stoiber, den Haushalt
um 5 Prozent zu kürzen, im Verteidigungsetat 1,2 Milliarden Euro weniger bedeuten würde. Damit können wir
unsere internationalen Aufgaben nicht erfüllen; das wissen Sie ganz genau.
({6})
Wir können im Einzelnen gern über Ihre Vorschläge
reden. Ich will Ihnen nur sagen, dass ich bei der Linie
bleibe, die begonnen worden ist, als ich das Amt übernommen habe.
({7})
Wir führen die größte Reform in der Geschichte der
Bundeswehr durch, weil wir eine völlig neue Situation
haben. Die Bundeswehr wird das bekommen, was sie
braucht. Wir werden unsere Mittel umschichten, damit
wir sie vernünftig einsetzen. Wir werden keine Mittel
mehr für Waffensysteme oder deren Depotkosten einsetzen, die wir nicht mehr brauchen, sondern wir werden
die Mittel für die Waffensysteme einsetzen, die wir brauchen, und für die Bundeswehr, die wir brauchen, mit ihren neuen Aufgaben.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politische Meinungsunterschiede gibt es in vielen Bereichen,
auch in diesem Parlament und auch beim Thema Verteidigung. Sie führen nicht so weit, dass unser Verständnis
für den gesundheitlichen Zustand des einen oder anderen
gering ausgeprägt ist. Ich möchte deshalb ausdrücklich
zu Beginn sagen, Herr Minister: Wir wünschen Ihnen,
dass Ihre Gesundheit so gut ist wie die eines jeden anderen und möglichst bald wieder in optimalem Zustand
hergestellt sein möge.
({0})
Wenn es Spekulationen um den heutigen Termin gegeben hat, dann lediglich deshalb, weil uns bekannt war,
dass von Ihnen, Herr Minister, alle Termine wahrgenommen werden sollten, bloß dieser nicht. Da kommt man
natürlich auf den Gedanken, das könnte andere als gesundheitliche Gründe haben, nämlich zurückgehen auf
die Fragen, die im Verteidigungsausschuss gestellt worden sind. Ich freue mich, dass Sie Ihre Bereitschaft erklärt haben, sich diesen Fragen offen zu stellen.
({1})
- Er hat dieses Thema doch selber offen angesprochen.
Daher bitte ich um Verständnis dafür, dass ich diese Erklärung abgegeben habe. Wir freuen uns, dass wir diese
Debatte wieder und weiter führen können. Damit möchte
ich zum Thema kommen, nämlich zu den Haushaltsrahmenbedingungen für den Verteidigungsetat.
({2})
- Ich kann Ihnen diese Frage gleich beantworten, Herr
Kahrs. Der Minister hat dieses Thema selber angesprochen. Dies deutet darauf hin, dass er Interesse an einer
streitigen Auseinandersetzung hat, insbesondere zu diesem Punkt.
Im Haushalt 2004 ist der Verteidigungsetat durch eine
globale Minderausgabe in einem Maße gebeutelt worden, das weit über die 5 Prozent Kürzung hinausgeht,
die Herr Stoiber angesprochen hat. Im Haushalt 2005 ist
davon auszugehen, dass für die sozialen Sicherungssysteme - Opfer für Hartz IV, Opfer für die Rente, globale
Minderausgabe von 1,4 Milliarden Euro - ein weiterer
Milliardenbetrag eingespart werden muss.
({3})
So ist doch jedem, der Erfahrungen mit Herrn Eichel und
dieser Bundesregierung hat, klar, dass ein wesentlicher
Teil dieser Kürzung aus der zusätzlichen, enorm hohen
globalen Minderausgabe wieder den Verteidigungsetat
treffen wird. Das werden eher mehr als 5 Prozent.
({4})
Machen Sie jetzt also kein Theater wegen der
5 Prozent, von denen Herr Stoiber gesprochen hat. Sie
sind nicht einmal in der Lage, im Etat 1 Prozent zu kürzen. Auf Ihrer Klausurtagung haben Sie die Frage offen
gelassen, wie das Problem gelöst wird. Sie haben es
zwar beschrieben, aber Sie haben die Frage, wie sie die
Löcher stopfen können, die Sie offensichtlich genauso
wie wir identifiziert haben, nicht beantwortet.
({5})
Der vorliegende Regierungsentwurf umfasst für diesen Einzelplan einen Plafond von zunächst einmal - das
muss man nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre
so sagen - 23,9 Milliarden Euro, davon 6,1 Milliarden
Euro für Investitionen.
Die Mittel reichen nach unserer Einschätzung nicht
aus, um die vom Minister angestrebte Bundeswehrreform zu bezahlen. Das, was im Etat vorgesehen ist,
reicht für diese Reform nicht aus. Die Ansätze belegen,
dass die Koalition mit ihrer Absicht, eine Reform der
Reform von Herrn Scharping vorzulegen, gescheitert ist.
Weit reichende Einschnitte in Personal, Material und
Standorte sollten Mittel freisetzen, die Minister
Scharping über die GEBB durch den Verkauf von
Grundstücken und Wehrmaterial gewinnen wollte. Sie
wissen alle, dass das nicht gelungen ist. Jetzt kommt ein
anderes Märchen. Wieder sollen 600 Millionen Euro
durch Privatisierungserlöse eingebracht werden.
({6})
Auch das wird wie in der Vergangenheit nicht eintreffen.
Sie werden im Ergebnis eine unterfinanzierte Bundeswehr haben. Die sozialen Sicherungssysteme werden Sie
dazu zwingen, statt der Reform dieser Reform weitere
Opfer zu bringen, sodass der Verteidigungsetat auch dieses Mal wieder nicht ungeschoren bleibt.
Man muss sich nur die Zahlen ansehen. 24 Milliarden
sollten es in diesem Jahr sein, 24,2 Milliarden im Jahr
2005, 25,2 Milliarden in den Jahren 2006 und 2007. Davon ist in der Finanzplanung keine Rede mehr. Nur diese
Finanzplanung, die ich eben beschrieben habe - sie ist
Gegenstand des 37. Finanzplanes -, rechtfertigt Veränderungen, die vorgesehen sind. Sie rechtfertigt die Annahme der Realisierbarkeit des Materialvolumens der
Bundeswehr. Sie rechtfertigt letztlich die Gefährdung
des Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht.
({7})
Sie rechtfertigt letzten Endes die Senkung des Anteils
der 25 000 Grundwehrdienstleistenden, sodass heute
mehr Zivildienstleistende als Wehrpflichtige einberufen
werden. Bei diesem Zustand kann man doch von Wehrgerechtigkeit nicht mehr reden und jeder weiß nach den
Urteilen des Verwaltungsgerichts in Köln und nach anderen Entscheidungen, dass auch die Richter inzwischen
der Meinung sind: Mit Wehrgerechtigkeit hat das, was
inzwischen erreicht worden ist, nichts mehr zu tun.
({8})
Ich kann das bezogen auf die noch verbliebenen
Standorte in meinem Wahlkreis sagen. Dort erfahren Sie
von den Kommandeuren, dass in diesem Jahr nur
80 Prozent der Wehrpflichtigen eingezogen worden sind.
Wenn Sie diesen Trend, 20 Prozent eines Jahrgangs nicht
einzuziehen, fortsetzen, werden im nächsten Jahr 25 000
Wehrpflichtige weniger einberufen. Auf das Jahr verteilt
macht das, bei neun Monaten Wehrdienst, 37 000 Wehrpflichtige weniger. Das heißt unter dem Strich: Ganze
Generationen werden nicht mehr berücksichtigt.
({9})
Beim Zivildienst setzt sich das fort. Das hat mit Wehrgerechtigkeit nichts mehr zu tun und ruiniert vor allen Dingen die Strukturen der Bundeswehr, die auf einen ganz
bestimmten Ausbildungsumfang eingestellt ist.
({10})
Meine Damen und Herren, die Finanzerwartung
rechtfertigt die Reduzierung des Personalumfangs um
7 000 Soldaten, wenn alles andere stimmt. Sie rechtfertigt die Kürzung um 40 000 Mitarbeiter im zivilen Bereich. Welche Folgen das für die Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen hat, ist wohl jedermann klar.
({11})
Nur diese Finanzerwartung rechtfertigt die Schließung
von 100 Standorten mit der Folge konjunktureller Einbrüche bei den Gemeinden in Millionenhöhe. Vor nicht
allzu langer Zeit hatten wir 592 Standorte; durch die ReDietrich Austermann
form von Herrn Scharping wurden sie auf rund 505 reduziert. Im nächsten Jahr sollen es 400 Standorte sein; das
wird im November offiziell bekannt gegeben.
({12})
- Sie sind davon nicht betroffen; Hamburg ist inzwischen bundeswehrfreie Zone, bis auf einen Standort und
die Führungsakademie.
Bald werden Sie weniger als 400 Standorte haben, das
Heer allein nur noch 161 Standorte. Das ist das Ziel und
das ist das Ergebnis einer Politik, die ausschließlich auf
Einsatzkräfte für internationale Einsätze konzentriert ist.
({13})
Ihnen fehlen in diesem Etat 1,8 Milliarden Euro und der
von mir eben beschriebene Zustand wird sich weiter dramatisch verschlechtern.
Meine Damen und Herren, bei den vorgenommenen
Eingriffen in Personal und Infrastruktur kann dieser Verlust nicht mehr von den Betriebsausgaben aufgefangen
werden. Herr Minister, Sie werden um Eingriffe in die
Materialplanung nicht herumkommen. Der Begriff der
Transformation gewinnt dann einen völlig neuen Sinn.
Die Bundeswehr wandelt sich, sie wird ständig verkleinert.
Substanzverlust bedeutet: Nicht die Reform der Bundeswehr wird durch harte Einschnitte in betroffene Gemeinden finanziert,
({14})
sondern die Sozialsysteme werden durch das finanziert,
was eigentlich für innere Sicherheit bestimmt sein sollte.
Das hat natürlich auch Konsequenzen für die wehrtechnische Industrie, die unter dieser Bundesregierung
noch nie Planungssicherheit hatte. Das zeigt aber auch
die Wertschätzung der Sicherheitspolitik unter dieser
Bundesregierung. Nicht zuletzt zeigt es die Wertschätzung dieser Bundesregierung für das Verteidigungsministerium und die dort tätigen Personen.
({15})
Die Reform der Bundeswehr ist also eines der größten
im Stau befindlichen Bundeswehrprojekte.
({16})
- Herr Kahrs, es wird Ihnen nicht gelingen, Frau Lehn zu
ersetzen. Die war lauter als Sie, Herr Tauss auch. Ich
würde empfehlen, dass Sie sich etwas freundlicher gegenüber dem Redner verhalten.
({17})
Wenn man die Beschreibung der Reform als Transformation richtig definiert, ist offensichtlich noch nicht
klar, welches Ergebnis erreicht werden soll. Ich will
Ihnen eine Weisung zur Weiterentwicklung des Heeres
- möglicherweise kennen Sie die noch nicht - nicht vorenthalten. Dort heißt es:
Transformation = Qualitätssprung im Hinblick auf
neue Anforderungen, verändernde Strukturen, neue
Verfahren der Entscheidungsprozesse und die Neugestaltung der Ausbildung. Transformation bleibt
ein fortlaufender, dynamischer Prozess des Wandels
ohne abschließend definiertes Ziel!
Genau das ist unser Eindruck, nämlich dass das Ziel
nicht klar vor Augen ist.
({18})
Man gewinnt den Eindruck, hier treibt ein Schiff ohne
Ziel und ohne klare Führung auf stürmischer See.
So, wie übrigens die gesamte Bundeswehr dümpelt,
dümpeln auch die Projekte der Bundeswehr im Einzelnen. Lassen Sie mich das stichwortartig erwähnen.
({19})
Das Projekt Herkules, Herr Brüller, die Ausstattung der
Bundeswehr mit Informationstechnik, ist ein Milliardenflop. Man weiß gar nicht, mit welcher Strategie und mit
wem zurzeit verhandelt wird. Wer traut sich, den Knoten
durchzuschlagen? Offensichtlich niemand. Gigantomanie ist das Letzte, was die Bundeswehr braucht.
Auch zahlreiche weitere Großprojekte wurden nicht
so richtig abgeschlossen, Fristen und Kosten werden
überschritten. Wer kümmert sich eigentlich um den Vollzug beim Tiger und NH-90?
Das Thema Eurofighter ist eine endlose Geschichte.
({20})
Erst wurden wir aufgefordert, noch vor der Sommerpause einen Leerbeschluss zu fassen, also auf jeden Fall
die zweite Tranche in Höhe von 4,5 Milliarden Euro zu
beschließen. Es lag aber noch nicht einmal ein Industrievertrag vor. Es wurde davon ausgegangen, dass der
Haushaltsausschuss beschließen soll. Herr Bonde, Sie
waren dabei, als wir es abgelehnt haben. Wir ließen das
nicht mit uns machen. Das ist das Verhalten von ordentlichen Haushältern.
({21})
Zwischenzeitlich kam die Nachricht, die Industrie habe
sich über die Preise verständigt und auch die Engländer
seien wieder im Boot. - Wir warten jetzt seit etwa sechs
Wochen auf die seinerzeit angekündigte endgültige Erklärung. Ich habe - auch nach der beeindruckenden
Flugvorführung eines Prototyps - den Eindruck, dass offensichtlich manches aus dem Ruder gelaufen ist und
eine sinnvolle Kontrolle, wie das Ganze weiterlaufen
soll, fehlt.
Wir sind für die zweite Tranche ({22})
ursprünglich hatten wir den Kauf von 180 Eurofightern
mit beschlossen -, erwarten aber, dass wir die Kosten im
Auge behalten und das Ministerium das auch tut. Bisher
ist der Eurofighter wie der Haushalt selbst ein unfertiges
Projekt. Ohne Zustimmung des Parlaments werden Sie
die abschließende Liste für Mängel, die noch ausgeglichen werden, nicht erstellen können. Oder Sie legen eine
völlig geänderte Haltung an den Tag.
In den letzten Tagen ist etwas passiert, das mich etwas
erstaunt hat. Wir haben vom Finanzministerium die Mitteilung bekommen, die Liste der „Geheimen Erläuterungen“ habe sich aufgrund einer Plus-Minus-Liste des Verteidigungsministeriums geändert. Also: Im Juni legt der
Finanzminister einen Verteidigungsetat vor. Dieser sieht
etwas anders aus, als es sich der Verteidigungsminister
wünscht. Dann werden Veränderungen vorgenommen,
weil man die Planung der Beschaffung an die Liste dessen anpassen muss, was finanziell möglich ist. Anschließend wird eine geänderte Plus-Minus-Liste vorgelegt,
die sogleich in die „Geheimen Erläuterungen“ eingearbeitet wird.
Wofür brauchen wir eigentlich noch das Parlament?
Ich frage mich, was das für Entscheidungswege sind und
was in den Köpfen derer vorgeht, die so etwas veranlassen: Wir geben eine fertige Entscheidung über die Beschaffung bekannt, obwohl wir gar nicht wissen, wie viel
Geld verfügbar ist. Ob sich das Parlament damit befasst,
ist ohne jegliche Bedeutung.
So verhalten Sie sich auch bei der GEBB. Die Kollegen von der Union, die nach mir sprechen, werden darauf etwas ausführlicher eingehen. Ich sage Ihnen nur:
Das, was man sich von dieser Gesellschaft erwartet hat,
hat sich offensichtlich nicht erfüllt.
({23})
Die Frage ist nur, welche Staatssekretäre und welche Industriefachleute, die im Aufsichtsrat dieser Gesellschaft
sitzen, jetzt den Mut haben, zu sagen, dass sich das
Ganze nicht rechnet, dumm angefangen wurde und insgesamt schlecht gelaufen ist. Das ist eine Versorgungsanstalt für ehemalige Mitarbeiter der Bundeswehr. Sie
bringt der Bundeswehr aber überhaupt nichts. Es gibt sogar strafrechtlich relevante Vorgänge, wie uns der Bericht des Bundesrechnungshofes gezeigt hat.
({24})
Wir sind der Meinung, dass hier aufgeklärt und für Veränderung gesorgt werden muss. Die Verschleuderung
von Steuergeld muss beendet werden.
({25})
Im Moment macht das Bundesverteidigungsministerium in vielen Bereichen den Eindruck, als ob an vielen
Stellschrauben gleichzeitig gedreht wird. Wir haben den
Eindruck, dass es zu viele Stellschrauben gleichzeitig
gibt. Außer Geld fehlt es auch an Führung, wenn es
darum geht, mehr für die Terrorismusbekämpfung im
Detail - auch für die vorbereitende Verteidigungsforschung - zu tun.
Herr Minister, wir fordern Sie auf: Räumen Sie in Ihrem Haus auf! Sorgen Sie für eine bessere Information
und eine bessere Zusammenarbeit mit dem Parlament,
damit wir die gemeinsamen Haushaltsberatungen auf
vernünftige Weise führen können!
Vielen Dank.
({26})
Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Lassen Sie mich auch von unserer Seite zunächst
eines anmerken: Wir freuen uns, dass der Minister wieder voll einsatzfähig in unserer Runde sitzt.
({0})
Es ist richtig: Angesichts des anspruchsvollen Transformationsprozesses, in dem sich die Bundeswehr befindet
- bei der Bundeswehr ist es ähnlich wie bei den Sozialversicherungssystemen, bei denen sich die Reformen
ebenfalls gerade in der Umsetzungsphase befinden -, ist
es wichtig, dass der Kapitän wieder das Kommando von
der Brücke aus führen kann. Ich weiß aber, dass er das
Kommando auch in den vergangenen Wochen führen
konnte, wenn er auch nicht immer ganz oben stand.
Der Haushalt, den wir heute beraten, spiegelt die
Transformation der Bundeswehr exakt wider. Herr
Austermann, die konzeptionellen und operativen Vorgaben sind in diesem Haushalt klar und deutlich abgebildet. Sie erzählen manchmal Märchen. Im Bundeshaushalt für das nächste Jahr stehen für die Bundeswehr über
200 Millionen Euro mehr zur Verfügung als im laufenden Jahr. Machen Sie also den Soldaten keine Angst! Es
geht voran. In der mittelfristigen Finanzplanung sind die
Projekte abgesichert. Ich werde noch darauf zu sprechen
kommen.
Die Zeit, in der der Einzelplan 14 ein so genannter
Brückenhaushalt war, ist endgültig vorbei. Jetzt bildet
dieser Einzelplan den konzeptionellen Rahmen, in den
die Reformvorhaben in den nächsten Jahren passen werden. Das funktioniert deshalb, weil wir uns ernsthaft darangemacht haben, klare Prioritäten zu setzen. Wir haben dafür die richtigen Schwerpunkte gesetzt.
Auch weiterhin wird die solide Ausbildung und Einsatzbefähigung der Soldaten ganz oben stehen. Es bleibt
auch bei der guten Ausrüstung. Fahren Sie doch einmal
in die Einsatzgebiete, Herr Austermann, und reden Sie
mit den Soldaten! Dann werden Sie erfahren, dass die
Soldaten alles haben, was sie brauchen.
Bei den zukünftigen Projekten steht der Schutz der
Soldaten ganz oben auf unserer Agenda. Sie müssen
schon zuhören, statt nur vom Schreibtisch aus erbsenzählerisch zu polemisieren.
({1})
Klar ist aber auch, dass dieser Haushalt nicht die Umsetzung aller Wunschprojekte erlaubt. Es kommt vielmehr darauf an, das Notwendige vom Wünschenswerten
zu trennen. Dabei steht die Finanzierung unserer laufenden multinationalen Einsätze ganz oben. Sie ist die
wichtigste Wegmarke bei unseren Ausgaben. Das ist
doch eine Selbstverständlichkeit. Dahinter müssen andere Vorhaben ein Stück weit zurücktreten.
Sie vergessen in der gesamten Debatte um den Verteidigungsetat immer wieder eines: Sie fordern immer
mehr Geld für den Verteidigungsetat und glauben, dass
dies mehr Sicherheit und Stabilität für unsere Gesellschaft und unser Land bringt. Das ist aber schon im Ansatz falsch.
Wir haben ein anderes Verständnis von Sicherheit in
Europa - das lässt sich nicht auf die nationale Ebene beschränken -; dabei spielt die soziale Zufriedenheit und
die Wirtschaftskraft der Nationen eine besondere Rolle.
Deshalb liegt es auch im Interesse der Streitkräfte, dass
die soziale Balance in Deutschland gewahrt bleibt.
Wenn Sie immer wieder mehr Geld für die Verteidigung fordern, dann müssen Sie dieser Forderung auch
hinzufügen, dass dies angesichts der Haushaltslage gravierende Einschnitte in wichtigen anderen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Bereichen unserer Republik
erfordert. Hat das etwas mit Stabilität und Sicherheit zu
tun? Nein. Wir verfolgen einen anderen Weg und orientieren uns bei der Verwendung der Haushaltsmittel an
den Aufgaben der Streitkräfte.
Ich finde es spannend, welche Beispiele Sie bringen.
Ich greife ein Beispiel heraus: den Eurofighter. Herr
Austermann und die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, Sie haben dieser Koalitionsregierung mit
den Beschlüssen aus Ihrer Regierungszeit einen Eurofighter vor die Tür gestellt, an dem vielleicht Sportpiloten ihre helle Freude hätten, aber nicht Soldaten.
({2})
Wenn Sie jetzt die latent vorhandenen Mängel des Eurofighters hinsichtlich der Bewaffnung und der Elektronik monieren - wir sind derzeit dabei, neue Technologien mit aufzunehmen -, muss ich Ihnen entgegnen: Mit
dieser These von Ihrer Seite wird der Brandstifter
schließlich zum Feuerlöscher. Das ist nicht sehr glaubwürdig.
({3})
Wir bleiben dabei: Wir setzen auch in Zukunft auf
Forschung und Entwicklung bei den Streitkräften. Dazu
passt die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten, die Mittel für die Streitkräfte um 5 Prozent zu kürzen, überhaupt nicht.
({4})
Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, dass in diesem
Jahr 200 Millionen Euro mehr in den Verteidigungsetat
eingestellt worden sind. Alles andere ist nur Spekulation.
Es hat doch nichts mit einer seriösen Haushaltsdebatte
zu tun, wenn Sie von fiktiven Veränderungen ausgehen.
In den nächsten Wochen und Monaten werden wir auf
jeden Fall über den Haushaltsentwurf beraten und ihn
verabschieden. Dann wird er Gesetz; das ist ganz klar.
Ihre Argumentation ist nicht in Ordnung.
Herr Austermann, wenn Ihr Vorschlag, bei den Verwaltungskosten 10 Prozent einzusparen, umgesetzt
würde, dann würde dies die Bundeswehr mit 280 Millionen Euro belasten. Gleichzeitig monieren Sie aber, dass
die Regierung exakt bei den Verwaltungskosten spart;
denn das Schließen von Standorten ist nichts anderes als
Sparen bei den Verwaltungskosten. Das steigert zudem
die Effizienz und die Wirtschaftlichkeit. Das, was Sie
fordern und kritisieren, ist hinten und vorne nicht schlüssig und deshalb nicht glaubwürdig.
({5})
Einen ähnlichen Populismus betreiben Sie bei der
GEBB. Ich möchte darüber nicht wieder mit Ihnen diskutieren, sondern nur ein paar Sätze dazu sagen.
({6})
- Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofes gelesen. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Natürlich gibt es auch in dem Bericht des Bundesrechnungshofes kritische Anmerkungen.
({7})
Diese beziehen sich aber auf die Gründungsphase der
GEBB.
({8})
Wenn man nicht bereit ist, neue Wege zu beschreiten und
manchmal auch Risiken einzugehen, dann ist man zu
Veränderungen und Reformen nicht fähig.
({9})
Die Fehler, die bei der GEBB gemacht worden sind,
wurden erkannt. In den letzten zwei Jahren läuft es gut.
Das zeigt im Übrigen auch die Wirtschaftlichkeitsberechnung. Es ist richtig, dass 300 Millionen Euro durch
die GEBB eingespart sind. Auch ist ganz klar, dass Sie
zu Reformen nicht fähig sind; denn sonst würden Sie erkennen, dass allein die Existenz der GEBB schon dazu
geführt hat, dass sich eine öffentliche Verwaltung plötzlich dem Wettbewerb stellen muss. Die Superökonomen
von CDU/CSU und FDP fordern doch ständig mehr
Wettbewerb und mehr Markt. Der Wettbewerb hat dazu
geführt, dass sich die Bundeswehrverwaltung von selber
modernisiert und reformiert. Die GEBB ist schon deshalb wertvoll. Sie hat die Modernisierung der Streitkräfte vorangetrieben; das ist eindeutig.
({10})
Herr Austermann, die Bundeswehr würde Ihr Verhalten mit folgendem Standardspruch kommentieren - ich
kann ihn nicht wörtlich zitieren, weil er der Würde des
Hauses nicht angemessen ist; ich werde deshalb versuchen, ihn in leicht modifizierter Form wiederzugeben -:
Sie tarnen, Sie täuschen, und wenn die Dinge einmal
schief laufen, obwohl Sie ursprünglich dafür waren,
dann schlagen Sie sich in die Büsche. Sie verhalten sich
beim Thema „Bundeswehr“ ganz genauso wie bei allen
anderen Politikfeldern, über die wir in dieser Woche debattieren.
({11})
Lassen Sie mich nun noch ein paar Sätze zu den
schwierigen Auslandseinsätzen sagen. 19 Tote im Kosovo, 4 000 Menschen vertrieben und 610 Häuser angezündet, daran gibt es überhaupt nichts zu beschönigen.
Das ist nicht in Ordnung. Es ist offensichtlich, dass es
hier Probleme gibt. Darum kann man nicht herumreden.
Es ist richtig, dass die Fehler, die dort gemacht worden
sind, uns sehr schmerzen. Sie tun weh. Ich stelle aber
gleichzeitig fest: Die Soldaten, die im Kloster im Tal, am
Bischofssitz, ihren Auftrag erfüllt haben, haben einen
guten und richtigen Job gemacht. Sie verdienen Anerkennung und Respekt dafür, dass sie die Verhältnismäßigkeit der Mittel stets gewahrt haben. Das ist die eine
Sache.
({12})
Die andere ist: Die Vorfälle sind nicht gut. Deshalb ist
es notwendig, dass wir gemeinsam im Verteidigungsausschuss die bestehenden Probleme sorgfältig analysieren.
Angesichts der Tatsache, dass es bereits mehrere Debatten über dieses Thema gegeben hat - in der gestrigen
langen Debatte sind beispielsweise viele Ihrer Fragen
beantwortet worden -, dass der Generalinspekteur bereits im Mai dieses Jahres einige Dinge sehr kritisch angemerkt hat und dass der Minister zugesagt hat, dass es
einen schriftlichen Bericht geben wird, ist es aber nicht
fair, dass Sie an die Mikrofone rennen und behaupten,
dass es zig Fragen gibt, die offen geblieben sind. Das ist
so nicht wahr. Es gibt sicherlich Fragen, die noch geklärt
werden müssen. Aber das Entscheidende ist, dass wir
nicht zurückblicken, sondern uns fragen, was die Bundeswehr aus den Problemen gelernt hat. Lesson learnt!
Natürlich müssen wir erkennen, dass es Probleme in
der internationalen Struktur, nämlich in der Kommunikation und in der Führung, gegeben hat. Das kann niemand leugnen. Für diese sind wir verantwortlich, wenn
auch nicht alleine. Wir haben aber auch erkannt, dass es
nicht ausreicht, wenn deutsche Soldaten in Bedrängnis
nur die Wahl haben, in die Luft zu schießen oder sehr
ernsthaft von ihrer Waffe Gebrauch zu machen. Das ist
keine gute Alternative.
Es fehlte natürlich an Alternativen, mit solchen Situationen umzugehen. Diese Lücke haben wir jetzt geschlossen: Die Soldaten haben die entsprechenden technischen Vorrichtungen, sie haben Schilder und sie haben
Geräte, um Menschenmassen auch einmal abzudrängen.
Wir haben heute ein Gesetz beraten, dessen Verabschiedung sie auch in die Lage versetzen wird, Wasserwerfer
und Reizgas einzusetzen. Dies alles ist notwendig und
richtig. Wir haben es in die Wege geleitet. Ich glaube,
das ist entscheidend. Es ist das, was wir in dieser Situation tun können.
Bei aller Kritik bitte ich Sie doch sehr, eines nicht zu
vergessen: Die Aufgaben der Bundeswehr vor Ort sind
unglaublich kompliziert, komplex und herausfordernd.
Sie sind auch deshalb kompliziert, weil sie nicht losgelöst von der internationalen Mandatierung, von komplizierten Regelwerken und von komplizierten Kommandostrukturen zu erfüllen sind. Das macht es natürlich
nicht einfach. Auch deshalb ist es richtig, dass es ein gemeinsames Lage- und Führungszentrum der KFOR und
der UNMIK gibt. All diese Dinge sind doch auf die
Schiene gesetzt worden. Hierfür danken wir dem Minister und dem Generalinspekteur. Wir sagen ihnen unsere
volle Unterstützung dabei zu, wenn es darum geht, diesen Weg weiterzugehen und diesen Prozess fortzusetzen.
({13})
Sie üben Kritik am Mandat im Kosovo, sowohl was
das operative Geschäft als auch was die außenpolitischen Bewertungen anbelangt. Zumindest die FDP übt
sehr lautstark Kritik an den Aufgaben in Afghanistan,
am PRT-Mandat.
({14})
- Sie sagen „zu Recht“. - Sie vergessen eines - das
wollte ich Ihnen gerade sagen -: Ihre Kritik richtet sich
in erster Linie nicht gegen diese Koalition, sondern gegen die internationale Staatengemeinschaft, gegen die
Vereinten Nationen, gegen die NATO und gegen die Europäische Union.
({15})
All das, was in Afghanistan passiert, einschließlich der
PRTs, geht auf Beschlüsse der internationalen Staatengemeinschaft zurück.
Herr Schäuble hat heute von der Verlässlichkeit der
Bundesregierung gesprochen. Er hat dabei an die deutsche Irakpolitik gedacht. Die Verlässlichkeit der Bundesregierung macht sich aber nicht an der Irakpolitik
fest. Sie macht sich vielmehr daran fest, dass wir bei unserem Wort bleiben und in den Irak keine Soldaten schicken. Darüber hinaus macht sich die Verlässlichkeit der
Bundesregierung daran fest, dass wir das, was wir in der
internationalen Staatengemeinschaft mit beschlossen haben und was wir natürlich mit gestalten wollen - es geht
schon darum, dass wir Einfluss nehmen; das ist ganz
klar -, jetzt verlässlich umsetzen. Dazu gehören die
PRTs. Sie kritisieren also die internationale Staatengemeinschaft. Die „Weltmacht“ FDP glaubt der Welt erklären zu können, wo es langgeht. Das kann doch überhaupt
nicht angehen.
({16})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Herr
Austermann, Sie haben moniert, die Bundeswehr wisse
nicht, was am Ende der Reformen stehe. Sie tun so, als
ob das irgendwie vernebelt wäre. Die Angelegenheit ist
ganz einfach zu erklären: Im Jahr 2010, wenn dieser
Bundeswehrtransformationsprozess abgeschlossen wird,
wird die Bundeswehr mit weniger Personal effizienter
und leistungsfähiger sein. Wir arbeiten gerade daran,
dieses Ziel zu erreichen. Sie haben die Chance, mitzuhelfen, statt im Grunde genommen immer wieder Sand
ins Getriebe zu streuen und sich zum Helfershelfer derer
zu machen, die die Modernisierung der Streitkräfte verhindern wollen.
Herzlichen Dank.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Günther Nolting,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Struck, wir freuen uns, dass Sie wieder hier
sind, und wir wünschen Ihnen persönlich alles Gute. Ich
hoffe, dass Sie Ihr Amt bis 2006 ausführen können.
({0})
Herr Kollege Arnold, wir kritisieren nicht die gute Arbeit der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan - auch
der Minister hat sich vorhin in diesem Sinne geäußert -;
wir kritisieren aber das Konzept dieser Bundesregierung.
Sie können sich daran erinnern, dass wir im Verteidigungsausschuss gefragt haben, welche Nationen uns
denn unterstützen. Es wurde groß angekündigt, dass es
eine breite Unterstützung gibt. Diese Unterstützung beläuft sich jetzt auf eine Handvoll Soldaten anderer Nationen. Angesichts dessen hier von einem Erfolg zu sprechen kann wohl nicht richtig sein.
({1})
Bezüglich der Umstrukturierung haben wir vieles gehört. Die Transformation soll die Bundeswehr auf die
neuen Aufgaben, vor allem im Rahmen der internationalen Konfliktverhinderung und Konfliktlösung, vorbereiten. Der Schwerpunkt der Strukturreform wird folglich
bei der Bewältigung von Auslandseinsätzen liegen. Das
Personal wird auf diese neuen Aufgaben vorbereitet.
Das Material wird unter neuen Gesichtspunkten beschafft. Großgerät wird in Krisengebieten mit extremen
klimatischen Bedingungen gebraucht, soll dabei Vorrang
haben und der Truppe schnellstmöglich zur Verfügung
gestellt werden. Dabei wurde und wird vermehrt, auch
auf Drängen der FDP-Bundestagsfraktion, der Schutz
der Soldatinnen und Soldaten berücksichtigt.
Alle diese Ausführungen sind richtig, aber der vorliegende Verteidigungshaushalt wird diesen Anforderungen
nicht gerecht - trotz aller Zusicherungen der Bundesregierung. Ich denke nur einmal an den Schützenpanzer
Puma, der den völlig veralteten Marder ablösen soll.
Wahrscheinlich wird uns dieses Thema noch über ein
Jahrzehnt verfolgen, allein schon aufgrund der Kostenexplosion. Durch die Summe solcher Beispiele zeichnet
sich ein neues haushaltspolitisches Fiasko ab,
({2})
das die ohnehin schon völlig unterfinanzierte Bundeswehr weiter unter Druck setzen wird.
Das ist nicht nur für die Angehörigen der Bundeswehr
schlecht, sondern auch für unser Land. Durch eine verfehlte Finanzpolitik wird der außen- und sicherheitspolitische Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt. Für
die Bundeswehrsoldaten in Auslandseinsätzen heißt das:
Sie sollen zwar professionell auftreten und die Aufträge
vorzüglich erfüllen, aber dem stehen keine adäquate
Ausrüstung und Bewaffnung gegenüber. Das muss sich
schnell ändern. Die Bundesregierung kündigt immer an
und verspricht. Der Haushalt zeigt aber ein anderes Bild.
({3})
Bei Forschung und Entwicklung zum Beispiel, also
bei den Investitionen in die Zukunft, werden 50 Millionen Euro gestrichen. Der Herr Bundeskanzler hat hier
heute Morgen erklärt, dass gerade für Forschung und
Entwicklung mehr Geld zur Verfügung gestellt werden
muss. Aber genau das Gegenteil geschieht. Es wird gestrichen. Auch hier gilt: Viel versprochen, aber nichts
gehalten.
({4})
Was wirklich gestrichen werden sollte, sind die
Beschaffungsvorhaben aus Zeiten der ausschließlichen
Landes- und Bündnisverteidigung. Dabei müssen alle
Vorhaben auf den Prüfstand gestellt werden. Was nützt
der Bundeswehr ein schöner neuer Strukturplan für das
21. Jahrhundert, wenn Ausrüstung und Bewaffnung damit nicht kompatibel sind? Nichts! Unsere Soldaten
brauchen jetzt das Gerät, das sie zur Bewältigung ihrer
Aufträge im Ausland so dringend benötigen. Dazu müssen die Investitionen dem Bedarf angepasst werden.
Der ehemalige General und heutige Professor an der
Universität der Bundeswehr München, Jürgen Schnell,
hat die Fehlplanungen der Investitionen vor wenigen
Wochen schonungslos offen gelegt. Er stellte klipp und
klar fest: Die Bundeswehr ist und bleibt deutlich unterfinanziert. Es fehlen ihr jährlich zwischen 1,5 und 3 Milliarden Euro, je nach gewählter Messgröße. - Die Regierung weiß dies. Sie unternimmt aber nichts. Auch hier
hält der Herr Bundeskanzler seine Versprechen nicht.
Die knappen Mittel und Ressourcen für unsere Streitkräfte werden zusätzlich in eine falsche Richtung gelenkt. Es wird zu viel für den Betrieb unserer Streitkräfte
und zu wenig für Investitionen ausgegeben.
Wir müssen den Personalumfang der Bundeswehr reduzieren, vor allem den mobilmachungsabhängigen. Wir
müssen die infolge eingesparter Betriebsausgaben
verfügbaren Mittel umschichten und wir müssen die Verteidigungsausgaben auf das notwendige Maß anheben.
Werden diese Forderungen nicht schnell und konsequent
umgesetzt, entstehen negative Auswirkungen auf die
Bundeswehr, die unverantwortbar sind.
Daneben sind die Folgen für die unabdingbare wehrwirtschaftliche Basis in Deutschland unabsehbar. Die
Wettbewerbssituation der deutschen wehrtechnischen
Industrie wird weiter geschwächt und die Abhängigkeit
von ausländischen Rüstungsgütern nimmt zu. Dem muss
aus unserer Sicht konsequent entgegengewirkt werden.
Die deutsche wehrtechnische Industrie, gerade die mittelständische wehrtechnische Industrie, ist verstärkt einzubinden. Forschung und Entwicklung sind konsequent
voranzutreiben. Die Investitionsquote ist aufzustocken.
({5})
Unter den jetzigen Voraussetzungen können weitere
Einsätze von der Bundeswehr nicht erwartet werden.
Der Fraktionsvorsitzende Dr. Gerhardt hat sich vorhin
dazu geäußert. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesregierung trotz fehlender sicherheitspolitischer Begründung an der Wehrpflicht festhält. Diese Entscheidung bindet ungeheure Mittel im personellen wie im
materiellen Bereich. Ein internationaler Vergleich führt
zu dem Ergebnis, dass infolge der Veränderung des Anforderungsprofils für unsere Streitkräfte die Wehrpflicht
nicht passt und zu einem Auslaufmodell geworden ist.
Wenn Sie sich den letzten Jahresbericht der Jugendoffiziere ansehen, so stellen Sie fest, dass auch die jungen Leute die Einberufungskriterien und den Auftrag der
Wehrpflichtigen nicht mehr nachvollziehen können.
({6})
Meine Damen und Herren, flankiert werden muss der
Transformationsprozess der Bundeswehr durch sinnvolle Entscheidungen in der Standortfrage. Herr Kollege Austermann, Ihre Aussagen zu Standorten werden
Sie sehr schnell einholen, wenn Sie in absehbarer Zeit an
anderer Stelle oder hier Verantwortung tragen. Sie werden sich dann an dem messen lassen müssen, was Sie
hier ausgeführt haben. Natürlich muss die Anzahl der
Standorte reduziert werden, wenn der Personalumfang
der Streitkräfte reduziert wird. Wir stimmen mit dem
Minister überein, dass militärische und wirtschaftliche
Gesichtspunkte im Vordergrund stehen müssen. Herr
Minister, wir bitten Sie aber auch, so genannte weiche
Faktoren wie Integration einzubeziehen. Ich denke, dass
wir auch da einer Meinung sind.
Darüber hinaus fordern wir, Herr Minister, dass die
betroffenen Kommunen finanziell so unterstützt werden
müssen, wie es die alte CDU/CSU-FDP-Bundesregierung Anfang der 90er-Jahre gemacht hat.
({7})
Dort sind durch Steuerumschichtungen den betroffenen
Kommunen 7 Milliarden DM zur Verfügung gestellt
worden.
({8})
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, das ist ein Zeichen für verantwortungsvolle Politik; denn Strukturpolitik ist nicht allein Aufgabe des
Bundesministers der Verteidigung, sondern für Strukturpolitik im Zusammenhang mit Konversion ist der Bund
als Ganzes zuständig. Auch hier müssen Sie Ihrer Aufgabe nachkommen.
({9})
Herr Minister Struck, ich hoffe, dass Sie bei der
Umstrukturierung unserer Bundeswehr Erfolg haben,
denn die Soldatinnen und Soldaten hätten einen Misserfolg nicht verdient. Sie verrichten ja eine mitunter undankbare und risikobeladene Arbeit. Dafür bedanken wir
uns bei unseren Soldatinnen und Soldaten. Kritik, die ich
hier angebracht habe, richtet sich - ich sage das noch
einmal - nicht gegen unsere Soldatinnen und Soldaten,
sondern gegen Teile dessen, was hier von der Bundesregierung vorgelegt wird.
Insofern, Herr Minister Struck, kritisieren wir auch
die derzeitige Informationspolitik des Bundesministeriums der Verteidigung. Wir sind damit absolut unzufrieden. Wir erwarten - das haben wir gestern ja auch im
Ausschuss gesagt -, dass die Informationslücke bezüglich des Toten von Prizren vollständig aufgeklärt wird.
Ich hoffe, dass es sich dabei wirklich nur um eine Panne
handelte und dahinter nicht System steckt. Sie wissen,
dass der Verteidigungsausschuss Möglichkeiten hat,
selbst für Aufklärung zu sorgen. Ich denke, Sie werden
in den nächsten 14 Tagen für Aufklärung Sorge tragen.
Da wir eine Parlamentsarmee haben,
({10})
muss das Parlament auch entsprechende Informationen
bekommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Herr
Minister, Sie haben die Strategie im Kosovo infrage gestellt. Das habe ich jedenfalls heute der Presse entnommen. Die FDP hat einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich hoffe, dass wir weitere Diskussionen darüber
führen und unser Antrag dann entsprechend unterstützt
wird.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, als wir von Ihrer Erkrankung erfuhren,
waren wir sehr erschrocken. Wir sind über Ihre Genesung erleichtert und wünschen Ihnen von ganzem Herzen stabile Gesundheit und volle Kraft. Sie werden hier
gebraucht.
({0})
Zum Schluss der vorherigen Debatte haben wir über
eine Ergänzung des Ausführungsgesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen abgestimmt. Gestatten Sie mir,
da dieses in der vorherigen Debatte inhaltlich fast gar
nicht angesprochen wurde, dazu noch kurze Nachbemerkungen. Die März-Unruhen im Kosovo, die ja inzwischen schon mehrfach thematisiert wurden, zeigten sehr
schnell zentrale Ausstattungslücken beim deutschen
KFOR-Kontingent im Hinblick auf die Bewältigung extrem gewalttätiger Demonstrationen. Schon am 24. März
wurde diese Frage im Verteidigungsausschuss thematisiert.
Die jüngste Gesetzesänderung erlaubt der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen im Rahmen kollektiver Sicherheit zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den Einsatz solcher Reizstoffe, die
bisher im Inland schon für die Polizei und den Bundesgrenzschutz zugelassen sind. Dabei galt es allerdings, alles zu vermeiden, was die Rüstungskontrolle bei chemischen Waffen gefährden könnte. Das ist durch die
Gesetzesänderung und durch die Ergänzung im Auswärtigen Ausschuss vollständig gewährleistet; denn erstens
grenzt die klare Beschränkung des Einsatzzweckes diesen eindeutig von der Verwendung in Kampfeinsätzen ab
und zweitens sind die Substanzen eindeutig benannt und
werden der Organisation für das Verbot Chemischer
Waffen in Den Haag gegenüber deklariert.
Selbstverständlich ist eine verbesserte Demoausstattung der Bundeswehr nur eine von vielen notwendigen
Konsequenzen aus den März-Unruhen. Um diese Konsequenzen genau definieren und bewerten zu können, sind
eine umfassende und offene Aufklärung und eine Auswertung der März-Unruhen notwendig, zu der das Verteidigungsministerium, das Auswärtige Amt und das Innenministerium zusammen beitragen müssen.
({1})
Es geht hier um mehr als „nur“ - in Anführungszeichen - den Kosovo und mehr als nur den Sinn, die Perspektive und die Akzeptanz dieses kostspieligen Einsatzes; es geht darüber hinaus um einen Praxistest für den
neuen Auftrag der Bundeswehr und um nicht weniger als
effektiven Multilateralismus.
Bei Parlamentsdebatten um die Bundeswehr ist es
Brauch, den Soldatinnen und Soldaten für ihren riskanten und professionellen Einsatz im Dienste der Gewaltverhütung und Krisenbewältigung zu danken. Davon ist
auch nach dem März nichts zurückzunehmen; das gilt
weiter.
({2})
Unsere hohe Anerkennung für die Leistungen der
Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Zivilexperten verpflichtet uns aber zugleich zu nüchterner Defizitanalyse
ohne Beschönigungen, wie sie vor allem in den ersten
Wochen zum Teil praktiziert wurden, und ohne vorschnelle Schuldzuweisungen, Sündenbocksuche oder
Schwarze-Peter-Schiebereien. Meiner Erfahrung nach
sind Minister Struck und Generalinspekteur
Schneiderhan Garanten dafür, dass die Defizitanalyse
vorangetrieben wird.
({3})
Die März-Unruhen und die damit einhergehenden
großflächigen so genannten ethnischen Säuberungen waren ein massiver Rückschlag und Ansehensverlust für
KFOR, UNMIK und die internationale Gemeinschaft
insgesamt. Es geschahen gravierende Fehler auf verschiedenen Ebenen und bei verschiedenen Akteuren,
längst nicht nur, wie die Diskussion in der Bundesrepublik zum Teil den Eindruck erweckt, beim Bundeswehrkontingent.
Was sind die zentralen Konsequenzen? Unbedingt
notwendig ist - da wiederhole ich mich - eine ressortübergreifende integrierte Auswertung. Außerdem dürfen
sich - das ist hier schon öfter festgestellt worden, aber
ich bekräftige es noch einmal - Kontrollverluste wie im
März nicht wiederholen. Das UN-legitimierte Gewaltmonopol muss durchgesetzt werden. Dafür ist eine verbesserte nachrichtendienstliche Aufklärung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität notwendig. Das
geht nicht ohne eine angemessene Personalausstattung,
an der es in der Vergangenheit zum Teil fehlte. Weiterhin
sind eine schnellere Reaktionsfähigkeit der KFOR, die
Verbesserung der Führungsstrukturen und der Aufwuchsfähigkeit sowie vor allem eine verbesserte militärisch-polizeiliche Zusammenarbeit in solchen Krisensituationen erforderlich. Von diesen Konsequenzen ist
offenkundig schon einiges umgesetzt worden.
Schließlich geht es um die Stärkung der Kosovo- und
UN-Polizei, insbesondere um die Stärkung ihrer Fähigkeiten, mit gewalttätigen Demonstrationen umzugehen.
In diesem Bereich haben wir auch in der Bundesrepublik
noch einen Nachholbedarf. Eigentlich sollte nicht das
Militär zur Bewältigung von gewalttätigen Demonstrationen primär zuständig sein, sondern die Polizei mit ihren Einsatzhundertschaften.
({4})
Diese Einsatzhundertschaften kommen zurzeit überwiegend aus der Dritten Welt. Wir haben uns Gedanken darüber zu machen, welche Beiträge wir für die Stärkung
dieser Polizeikomponente leisten können. Eine entsprechende Diskussion muss begonnen werden.
({5})
Das Kosovo bleibt weiterhin ein hochexplosives Pulverfass, wenn es nicht zugleich sichtbare Fortschritte im
politischen Prozess, beim wirtschaftlichen Aufbau und
bei der Förderung der kosovarischen Zivilgesellschaft
gibt.
In den letzten Jahren machte sich in Europa und in der
Staatengemeinschaft insgesamt eine Art Balkanmüdigkeit breit. Das war angesichts der neuen terroristischen
Herausforderungen und des verlagerten Interesses Richtung Irak verständlich und plausibel, aber ein gravierender Fehler. In den letzten Jahren stand das Interesse der
Staatengemeinschaft im Vordergrund, im Kosovo und in
Bosnien durch die Reduzierung der Kontingente im Bereich KFOR und im Polizeibereich Kosten zu sparen.
Die Entschärfung des Pulverfasses Kosovo braucht
aber das verstärkte, zuverlässige und ausdauernde politische Engagement der internationalen Gemeinschaft. Dabei bleibt die Linie „Standard vor Status“ meiner Auffassung nach ohne verantwortbare Alternative. Zugleich
aber - wir haben es hier nicht mit einem mechanistischen
Dogma zu tun - müssen wir einige Punkte überprüfen.
Wir haben beispielsweise zu überprüfen - dieser Punkt
ist seit gestern wieder verstärkt in der Diskussion -, welche Form von Multiethnizität im Kosovo notwendig und
möglich ist und überhaupt eine Perspektive hat. Auch
dies ist eine Diskussion, die weitergeführt werden muss.
Um Frieden und Stabilität zu bewahren und zu fördern,
ist ein effektiver Multilateralismus unabdingbar. Die
Transformation der Bundeswehr ist dabei ein bedeutender und unverzichtbarer Baustein. Wir können feststellen
- das ist positiv -, dass im kommenden Jahr die Schlüsselgröße „Investitionsquote“ von 24,6 auf 25,6 Prozent
erhöht werden kann. Aber wir müssen auch nüchtern feststellen: Dieser Fortschritt im Sinne eines effektiven Multilateralismus wird nicht helfen, wenn er nicht mit der
Stärkung der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik der Bundesrepublik insgesamt einhergeht.
Hier im Bundestag sind wir uns meines Wissens im
Hinblick auf die gewachsene internationale Verantwortung der Bundesrepublik einig. Heute ist schon mehrfach
festgestellt worden: Die Anforderungen an die Bundesrepublik und an ihre internationale Politik sind in den
letzten Jahren rapide gewachsen. Die dadurch anfallenden Kosten haben sich von der tatsächlichen Finanzausstattung immer weiter entfernt. Investitionen in einen effektiven Multilateralismus sind Zukunftsinvestitionen
par excellence. Diese Einsicht muss sich in diesem Haus,
aber auch in unserer Gesellschaft durchsetzen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian
Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Dem Kollegen Nachtwei bin ich einen
Dank schuldig. Er hat bei der Haushaltsdebatte des letzten Jahres Grüße an mich geschickt. Auch jetzt hat er
wieder den Minister willkommen geheißen. Wenn man
weiß, was es bedeutet, krank zu sein, ist man froh, wenn
man wieder da ist. Deswegen darf ich jenseits aller Politik wirklich sagen: Wir sind froh, dass Peter Struck wieder da ist.
({0})
Die Freude hat sich insofern etwas steigern lassen, als
die eine oder andere Personaloption, die in der Zeit seiner Abwesenheit gehandelt worden ist, hinfällig geworden ist. Wir haben uns gesagt: Solange wir noch einen
sozialdemokratischen Verteidigungsminister ertragen
müssen, nehmen wir lieber Peter Struck als die Alternativen, die uns vorgeschlagen worden sind.
({1})
Der Verteidigungsminister ist ja kein Minister wie jeder andere. Er ist ein entscheidender Minister - leider
nicht gegenüber dem Finanzminister -, was die Sicherheit unseres Landes und Entscheidungen über Leben und
Tod von Menschen betrifft. Er muss seine Entscheidungen schnell treffen. Deswegen ist es auf der einen Seite
gut und notwendig - das werden wir uns sicherlich alle
für die Zukunft vornehmen -, dass für diejenigen, die
Bescheid wissen müssen, gute Informationen vorhanden
sind. Spekulationen sollten auf der anderen Seite nicht
ins Kraut schießen.
Nun müssen wir uns wieder über den Haushalt unterhalten. Natürlich habe ich gedacht: Sieh an, Peter Struck
hat gelesen, was im Haushalt steht, und sich gesagt: Das
hat Märchenbuchcharakter, da nehme ich lieber erst in
der zweiten oder dritten Lesung Stellung und nicht jetzt,
da es nach der Steuerschätzung vielleicht doch noch den
einen oder anderen Streitpunkt gibt.
Ich habe bereits im Frühjahr Sekundanz angeboten,
falls es zu Show-downs kommen sollte, weil ich - und
nicht nur ich, sondern auch viele andere aus meiner Partei und meiner Fraktion - in der Tat der Meinung bin
- das darf ich hier unterstreichen -, dass der Verteidigungshaushalt ein Art Grundkataster für die Sicherheit
unseres Landes ist und er deswegen nicht der normalen
Volatilität unterstellt werden kann. Dass er davon nicht
freigestellt werden kann, ist uns auch klar. Dass aber die
Grundlagen für eine weitere wirtschaftliche Erholung
und für neue wirtschaftliche Perspektiven an anderer
Stelle liegen müssen, ist auch wahr.
Wahr ist aber auch, dass die Diskrepanz zwischen
dem Anspruch der Politik und ihrem finanziellen Spielraum immer größer wird. Es geht nicht, dass der Bundeskanzler oder der Vizekanzler den Kampf um den Sitz im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen führen, ohne vorher zu überlegen, welche Verpflichtungen und Aufträge,
aber auch welche haushaltsrelevanten Kosten das mit
sich bringt. Das bereits jetzt festzustellende Auseinanderklaffen zwischen internationalen Verpflichtungen und
den Mitteln, die wir im Verteidigungshaushalt zur Verfügung stellen - nicht nur im Verteidigungsetat, aber eben
auch dort -, wird immer größer.
Ich will nur zwei Begriffe nennen: zum einen die
NATO-Response-Force. Das klingt neu und nach Innovationen. Hier findet über die NATO ausnahmsweise
einmal eine Innovation statt. Diese Innovation kostet
Geld. Der andere Begriff bezieht sich auf ein Konzept,
von dem ich gehört habe, dass es der Verteidigungsminister neuerdings sehr stark befürwortet: das BattleGroup-Modell, das im Wesentlichen für den Einsatz in
Afrika vorgesehen ist. Auch das kostet Geld. Dies wurde
bereits gesagt; ich wollte das noch einmal unterstreichen.
Christian Schmidt ({2})
Nun neigt der Kollege Arnold - wenn ich das sagen
darf - dazu, zu sagen: Es ist doch alles in Ordnung; was
schimpft ihr denn? Es ist eben nicht alles in Ordnung.
({3})
- Sie haben doch geschimpft. - Ich will Ihnen etwas vorlesen; vielleicht kennen Sie das Papier. Dort steht:
Ein Verzicht auf zwingende Neuvorhaben im Bereich der militärischen Beschaffungen
- „zwingend“ interpretiere ich so, dass es sich dabei um
Dinge handelt, die notwendig sind, um unsere Sicherheit
zu gewährleisten und die internationalen Verpflichtungen unseres Landes einzuhalten konnte nur durch Eingriffe in Finanzierungsabläufe
und nicht zwingend zum jetzigen Zeitpunkt erforderliche Ergänzungsverträge vermieden werden.
Wer etwas vom Haushalt versteht, der weiß, dass der
Etat nicht nur auf Kante genäht ist, sondern dass die
Naht geplatzt ist.
Der nächste Satz lautet:
Für die kommenden Haushalte ist dies nicht wiederholbar.
Das ist keine Oppositionsrhetorik. Vielmehr sind das Einschätzungen, die in Ihrer eigenen Fraktion zum Verteidigungshaushalt bestehen. Wir müssen in einen ernsthaften
Dialog darüber eintreten, wie wir den Verteidigungshaushalt mittelfristig gestalten müssen und können.
Wir müssen uns genau überlegen, wie die internationalen Verpflichtungen erfüllt werden und womit sie
verknüpft sind. Was heute der Außenminister, der Verteidigungsminister und andere Politiker zu den internationalen Verpflichtungen in Afghanistan und im Kosovo
gesagt haben, war hörens- und lesenswert. Dazwischen
liegen Welten,
({4})
nicht nur bei der Frage „Standards vor Status“.
Wer entscheidet da nun eigentlich? Trifft einer die
Entscheidung, Soldaten zu entsenden, und muss der andere dann sehen, wie er die Truppe zusammenbringt und
den Einsatz bezahlt? So kann die Rechnung auf Dauer
nicht funktionieren. Bei dieser unseriösen Haushaltspolitik nimmt die Glaubwürdigkeit unseres Landes großen
Schaden. Da spreizt sich etwas. Darüber muss geredet
werden.
Damit sind wir bei dem Punkt, den wir seit Jahren beklagen. Es gibt die Verteidigungspolitischen Richtlinien
des Verteidigungsministers. Da wurden interessante
- zum Teil sehr begrüßenswerte, zum Teil eher kritikwürdige - Sachen zusammengeschrieben und zur Richtlinie für das Ressort gemacht. Das ist in Ordnung. Es
fehlt nach wie vor ein Weißbuch, in dem auch das Auswärtige Amt und der Bundeskanzler sagen, was ihre politische Zielsetzung ist.
({5})
Solange es ein solches Weißbuch nicht gibt, können
die Grundlagen für unser Tun nicht bewertet werden. Es
ist ein klein wenig wie bei Hartz IV: Man tut sich
schwer, zu erklären, wofür man das alles macht. Man
muss es immer am Einzelfall erklären. Ich hätte schon
lieber, wenn wir vorher wüssten, wofür wir das tun, was
wir tun. Darunter leidet die Bundeswehr.
({6})
Die Einsätze kennzeichnen die neue, zu transformierende und transformierte Bundeswehr. Diese Einsätze
haben nicht nur zur Folge, dass Soldaten im Ausland
sind. Sie haben auch viel mit den politischen Rahmenbedingungen und damit zu tun, wie man das alles organisatorisch im Griff behält und wie man für Risiken gerüstet
bleibt. Alle diese Fragen sind zu diskutieren.
Wir haben gestern ausführlich über das Kosovo geredet. Das Ministerium wurde in einem Fall falsch oder
viel zu spät informiert. Sogar der Minister hat Informationen nicht erhalten. Welche Hintergründe das hat, werden wir erfahren. Den Fragenkatalog, den wir Ihnen
noch in dieser Woche überreichen, und die Fragen, die
im Ausschuss gestellt worden sind, werden Sie zu beantworten haben.
Die Leistungen der Soldaten im Einsatz stehen dabei
nicht infrage. Ich will die Gelegenheit nutzen, allen Soldaten - ob Obergefreiter, ob Hauptfeldwebel, ob General - ausdrücklich zu danken.
Aber fragen müssen wir: Haben wir den Einsatz unserer Soldaten richtig ausgerichtet? Ist er im Hinblick auf
die politischen und Sicherheitsorientierungen sowie die
internationalen Verknüpfungen optimal verlaufen? Gibt
es da etwas zu verbessern?
Ich denke, dass es viel zu verbessern gibt. Eigentlich
hätte ich bei der gestrigen Ausschusssitzung etwas mehr
zu diesem Thema erwartet. Der Generalinspekteur hat
gestern Bericht erstattet. Er hätte vielleicht ein bisschen
mehr über die Anpassungen und Veränderungen berichten können. Es ist doch keine Schande, zu sagen, welche
Dinge man im Lichte der heutigen Situation anders sieht.
Das muss man tun, das muss man offen legen.
Herr Kollege Nolting hat zu Recht den Begriff des
Parlamentsheeres gebraucht. Die Armee wird von uns,
vom Deutschen Bundestag, in den Einsatz geschickt.
Wir haben einen Anspruch darauf, informiert und auf
dem Laufenden gehalten zu werden.
({7})
Vor allem müssen alle Kollegen des Deutschen Bundestages - nicht nur die, die sich fachlich mit dem Thema
beschäftigen - einen vollen Überblick darüber erhalten.
Außenminister Fischer hat heute früh das Motto
„Standards vor Status“ nicht in Zweifel gezogen; der
Kollege Nachtwei hat sich ihm in grüner Solidarität angeschlossen. Die Verteidigungspolitik sieht das ein klein
wenig anders. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. „Standards vor Status“ - das ist so ein schönes Wort. Wenn
aber, wie man erfährt, beispielsweise ein Außenhandelsabkommen über die Lieferung von Nahrungsmitteln,
Christian Schmidt ({8})
nämlich Gemüse, das das Kosovo mit einem Nachbarland abschließen möchte, ein halbes Jahr lang in New
York bei den Vereinten Nationen nicht abgesegnet wird,
dann fragen sich die Leute im Kosovo: Wo sind denn die
Erfolge, die ich in der jetzigen Situation in meinem
Land, in meiner Region habe? Aufgrund dieser Probleme ist die Außenpolitik gefordert, „Standards vor Status“ anders und neu zu definieren. Wir liefern dem Herrn
Außenminister gerne Vorschläge, wie man das tun kann
- er hat ja danach gefragt -; daran soll es nicht fehlen.
Ich vermute, möglicherweise würde sich sogar der Verteidigungsminister in einer Arbeitsgruppe, die ich hierzu
einberufe, einfinden und auch Vorschläge unterbreiten.
Er ist jedenfalls herzlich dazu eingeladen.
({9})
Die Afghanistanfrage werden wir in Kürze gesondert
diskutieren. Ich meine aber, dass noch zwei Punkte angesprochen werden müssen. Herr Minister, Sie haben in
den nächsten Monaten eine dicke Packung an Arbeit vor
sich. Sie wollen 100 Standorte schließen. Sie müssen
das gegenüber Politikern der Landes-, der Kommunalund der Bundesebene vertreten. Sie müssen dann den
Streit aushalten - den ich für richtig halte -, wieso der
Heimatschutz komplett ausgegliedert wird, wieso die
VBKs auf Null gefahren werden und wieso man eigentlich das Konzept einer nationalen Gesamtsicherheitsstrategie nicht weiterführt. Ich halte das für einen groben
Fehler, über den wir noch zu diskutieren haben werden.
({10})
Wir werden natürlich auch über die Fragen zu diskutieren haben, die die Wehrpflicht betreffen. Ich bitte darum, dass man über die Wehrpflicht nicht wie über einen
Lichtschalter redet; man kann die Wehrpflicht nicht einund ausschalten, so wie es einem gerade beliebt. Wenn
die Wehrpflicht einmal weg ist, dann ist sie weg. Dann
ist sie politisch nicht mehr zu wiederholen.
({11})
Wir alle miteinander haben eine Verpflichtung vor der
Bevölkerung und vor unseren Mitbürgern. Deswegen
müssen wir mit Augenmaß und dort, wo es notwendig
ist, kooperativ arbeiten. Wenn einem diese Sache am
Herzen liegt, dann muss man sie aus dieser Sicht angehen. Betrachten Sie das als ein Angebot zum Ende meines Debattenbeitrages. Wir werden aber sicherlich nicht
am Ende des Streites über die Zukunft der Bundeswehr
sein.
({12})
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Verena
Wohlleben.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fest steht, dass dieser Verteidigungshaushalt, wie bereits
in den Jahren zuvor, seinen Beitrag zur Konsolidierung
des Gesamthaushaltes leistet.
({0})
- Ach, Kurt, sei nicht so streng. - Trotzdem werden der
Bundeswehr unter dem Strich im nächsten Jahr rund
200 Millionen Euro mehr zur Verfügung stehen als
2004, das ist Fakt. Das ist unter den gegebenen Umständen ein Erfolg, für den ich dem Bundesminister der Verteidigung und den an den Verhandlungen beteiligten
Staatssekretären und Mitarbeitern meinen herzlichen
Dank aussprechen möchte.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich glaube, Sie werden mir nicht widersprechen, wenn
ich sage, dass es kaum einen Politikbereich gibt, in dem
wir so sachlich und oft auch konstruktiv zusammenarbeiten wie in der Verteidigungspolitik.
Aber, Herr Schmidt, ich muss Ihnen wirklich Recht
geben: Wir müssen noch mehr in den Dialog treten, vor
allen Dingen über den Haushalt; denn momentan weiß
ich überhaupt nicht mehr, was Sie wirklich wollen.
({2})
Das wird anderen auch so gehen; denn bisher war es immer so, dass Sie alljährlich ohne seriöse Finanzierungsvorschläge höhere Mittel für den Einzelplan 14 gefordert
haben.
({3})
Aber seit dem letzten Wochenende fordert der Ministerpräsident Bayerns, Herr Dr. Stoiber, eine pauschale
Kürzung des Bundeshaushalts um 5 Prozent. Das entspräche, wie der Bundesminister ausgeführt hat, einer
Kürzung der Mittel der Bundeswehr in Höhe von
1,2 Milliarden Euro. Damit wären die Weiterentwicklung der Bundeswehr und wichtige Beschaffungsprojekte mehr als gefährdet. Vorschläge, wo gekürzt werden
soll, bleiben aus. Des Weiteren fordert Herr Austermann
als zuständiger Haushaltsexperte der Union, den Etat um
3 Prozent zu kürzen.
({4})
Können Sie mir die Frage beantworten, was nun gilt?
Wollen Sie draufsatteln oder kürzen? Wollen Sie um
5 Prozent oder um 3 Prozent kürzen? Was wollen Sie eigentlich? Diese Fragen müssen Sie uns beantworten.
Aber Sie bleiben die Antworten schuldig. Mit Verlaub,
das, was Sie machen, ist nicht das, was wir uns unter
konstruktiver Oppositionspolitik vorstellen.
Zurück zu unserem Haushalt. Das Gebot der Stunde
lautet, mit den vorhandenen Mitteln bestmöglich zu
haushalten und gleichzeitig das Verhältnis von Betriebskosten zu investiven Ausgaben zu verbessern. Hier ist
die Bundeswehr auf dem richtigen Wege. Die ersten
Auswirkungen werden schon im vorliegenden Haushaltsentwurf sichtbar; denn sowohl die Personalkosten
als auch die Ausgaben für Materialerhaltung und Betrieb
konnten signifikant reduziert werden.
Im Gegenzug wachsen die verteidigungsinvestiven
Ausgaben um 190 Millionen Euro auf 25,6 Prozent des
Gesamtetats dieses Einzelplans. Herr Austermann, das
haben Sie nicht erwähnt. Aber das ist Fakt. Wohlgemerkt
sind hier die geplanten Veräußerungs- und Verwertungserlöse noch gar nicht veranschlagt. Sie könnten zur weiteren Verstärkung der Investitionen verwendet werden.
Ich muss sagen, dass wir sie auch dringend brauchen: für
die Weiterentwicklung der Bundeswehr, für die Einhaltung unserer internationalen Verpflichtungen und für den
Erhalt zumindest eines gewissen finanziellen Handlungsspielraumes.
Mittelfristig wird dies allein jedoch nicht ausreichen,
auch das müssen wir eingestehen. Deshalb ist es wichtig
und richtig - Herr Austermann, auf 37 folgt 38 -, dass
auch im vorliegenden 38. Finanzplan eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsetats ab dem Jahr 2007 vorgesehen ist.
({5})
Die Bundeswehr muss und wird mehr Geld bekommen,
sobald dies finanzpolitisch möglich und verantwortbar
ist.
({6})
Die Bundeswehr ist Gott sei Dank - Herr Nolting, Sie
haben das erwähnt - eine Parlamentsarmee. Darüber
sind wir sehr froh.
({7})
- Ja, wir als Parlament schicken die Soldaten und Soldatinnen durch unsere Beschlüsse in ihre Einsätze.
({8})
Darum obliegt es insbesondere unserer Verantwortung,
dass ihnen die Ausrüstung zur Verfügung steht, die optimale Wirkung bei optimalem Schutz ermöglicht. Ich
weiß, dass wir uns in diesem Punkt alle einig sind. Aber
ich finde, das kann man nicht oft genug sagen.
({9})
Deshalb ist das Vorhaben Puma zum Beispiel für das
Heer von so großer Bedeutung.
({10})
Denn die Gefahr für unsere Soldaten im Einsatz geht
nicht von Hightech-Waffen aus, sondern von Minen und
einfachen, aber gefährlichen Waffen wie der weltweit
verbreiteten Panzerfaust RPG-7. Diese Waffe kann man
für sage und schreibe circa 30 Dollar in allen Krisenregionen kaufen. Wie Fernsehbilder beweisen, wird sie in
diesen Regionen von Rebellen und Terroristen mitgeführt und auch eingesetzt. Dabei handelt es sich um eine
meist tödliche Allerweltswaffe, weil es bisher kein gepanzertes Fahrzeug gibt, das vollständig gegen ihre Wirkung geschützt ist. Das ist Fakt. Daher müssen wir unsere Soldaten davor schützen.
Gerade diesen Schutz soll und muss der neue modulare Waffen- und Ausrüstungsträger Puma leisten. Er
wird ihn auch leisten. Dabei kommt es nicht darauf an,
dass von vornherein alle denkbaren Fähigkeitspotenziale
zu erfüllen sind. Vielmehr muss man sich an anderen
großen Rüstungsvorhaben orientieren - das wäre ein
Beispiel - und auch diese künftige Standardplattform
des Heeres Schritt für Schritt realisieren und im Rahmen
einer begleitenden entwicklungstechnischen Betreuung
ständig auf dem modernsten Stand halten. „Dreisprung
statt Weitsprung“ ist da die Maxime, damit gewährleistet werden kann, dass bei beherrschbarem Mitteleinsatz
unseren Soldaten im Einsatz immer die optimale Ausrüstungsvariante zur Verfügung steht. Mit dem Haushalt,
den wir heute einbringen, ist das gewährleistet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt auch in unserer Verantwortung, darauf zu achten, dass wirklich nur
noch die Systeme beschafft werden, die den neuen Aufgaben und den zu ihrer Erfüllung notwendigen Fähigkeiten der Bundeswehr dienlich sind. Ebenso muss Sorge
dafür getragen werden, dass sich der Plattformgedanke
in der Bundeswehr noch weiter durchsetzt. Ich glaube,
wir können es uns heute nicht leisten, dass die einzelnen
militärischen Organisationsbereiche zum Beispiel Fahrzeuge von unterschiedlichen Herstellern fordern - und
auch erhalten -, obwohl diese für den gleichen Einsatzzweck verwendet werden. Streitkräftegemeinsames
Denken ist mehr denn je notwendig. Hier sind auch wir
Politiker und Politikerinnen gefordert, entsprechend mitzuwirken.
Gestatten Sie mir abschließend einen kurzen Blick
auf die wirtschaftlichen Aspekte des Verteidigungshaushaltes. Es ist klar, dass die Weiterentwicklung der Bundeswehr weniger Beschaffungsaufträge und geringere
Beschaffungsumfänge mit sich bringt. Das ist richtig
und notwendig. Wir sind uns aber auch fraktionsübergreifend und mit dem BMVg einig, dass diese Entwicklung nicht zu einem Verlust von sicherheitspolitisch
unverzichtbaren Kernkompetenzen der deutschen wehrtechnischen Industrie führen darf. Trotz knapper finanzieller Ressourcen müssen wir mit dafür Sorge tragen,
dass diese Kompetenzen erhalten bleiben.
Herr Nolting, Ihre Behauptung, dass die F-und-EMittel in Kap. 1420 - das ist mein Berichterstatterkapitel -, abgesenkt sind, ist schlichtweg falsch.
({11})
Kap. 1420 ist bereits über die Plus-Minus-Liste um
21 Millionen Euro verstärkt worden und weitere Verstärkung ist möglich; wir werden uns darüber unterhalten.
Die Löcher in der Produktionsauslastung der Firmen
können wir nur über verstärkte Forschungs- und Entwicklungsaufträge mildern. Dadurch geben wir der Industrie die Möglichkeit, Ingenieurleistungen zu halten
und somit das Abwandern von hoch qualifiziertem
Personal zu verhindern. In diesem Zusammenhang muss
uns weiter daran gelegen sein, dass generell bei der Vergabe von Aufträgen ein Augenmerk auf industrielle
Wertschöpfung in Deutschland gerichtet wird, damit wir
unsere Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit, gerade auch
bei unseren mittelständischen Betrieben, erhalten.
Ich komme zum Schluss. Diese Strategie schafft und
erhält Arbeitsplätze. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie gleichzeitig: Lassen Sie uns die anstehenden Haushaltsberatungen sachlich und konstruktiv
für unsere Bundeswehr führen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas
Kossendey.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die optimistische Einschätzung, die hier mehrfach zum
Haushalt geäußert worden ist, zuletzt von der Kollegin
Wohlleben, kann ich eigentlich nicht teilen. Mir ist noch
zu deutlich im Ohr, wie wir vor zwei Jahren zum ersten
Mal die Summe von 24,4 Milliarden Euro gehört haben,
die bis 2006 durchgeschrieben werden sollten. Wir haben jetzt nicht 24,4 Milliarden Euro, sondern 23,9 Milliarden Euro. Wenn wir die Einnahmen dazurechnen, hat
der Minister gesagt, sind wir bei 24,04 Milliarden Euro,
nicht bei 24,40 Milliarden Euro. Dabei ist überhaupt
noch nicht eingerechnet, dass wir wegen Hartz im Haushalt noch eine Minderausgabe von über 2 Milliarden
Euro einzukalkulieren haben und dass auch die globale
Minderausgabe von 1,4 Milliarden Euro noch nicht eingerechnet ist. Es wäre schon ziemlich optimistisch,
anzunehmen, dass diese Minderausgaben an unserem
Haushalt vorbeigehen.
Natürlich ist es so, dass die Bundeswehr bei ihren internationalen Einsätzen gut ausgerüstet ist und dass die
Soldaten auf das Material, das sie mitnehmen, tatsächlich vertrauen können. Aber das ist doch nicht alles, was
wir in der Bundeswehr haben. Gehen Sie doch zum Beispiel einmal zum Fallschirmjägerbataillon 313 nach
Varel und fragen Sie, wie die Übungstätigkeit mit dem
Wiesel abläuft. Die Wiesel sind nämlich alle im Einsatz.
In Varel stehen mitten auf dem Kasernenhof zwar vier
neue, sie dürfen aber nicht zu Übungszwecken genutzt
werden, weil sie stillgelegt sind, da man sie eventuell
irgendwann einmal für einen weiteren internationalen
Einsatz braucht. Sie laufen also immer drum herum, anstatt mit diesen Fahrzeugen zu üben. Das Problem ist,
dass die mangelnde Ausstattung der Soldaten, die zu
Hause geblieben sind, dazu führt, dass die Motivation
derer, die üben müssten, gar nicht mehr in dem Maße
vorhanden ist, wie es sein müsste. Das ist der politische
Vorwurf, den wir dem Ministerium machen.
({0})
Wir haben heute auch über die GEBB gesprochen.
Ich möchte mich diesem Thema noch einmal etwas ausführlicher zuwenden. Herr Minister, Sie stehen gottlob
genesen vor den Scherben der Bemühungen Ihres Ministeriums, die Investitionsmöglichkeiten der Bundeswehr
durch die Kooperation mit der Wirtschaft nachhaltig zu
verbessern. Es sollte Geld gespart werden. Heute können
wir feststellen, dass mehr Geld zum Fenster hinausgeworfen worden ist, als für den Investitionsbereich herausgesprungen ist.
({1})
Der Dilettantismus, mit dem diese Arbeit von 1998
bis 2002 betrieben wurde, hat die gute Idee, die Richard
von Weizsäcker in seinem Bericht für uns aufgeschrieben hat, nachhaltig diskreditiert. Das können wir politisch nicht wollen. Aufgrund dessen, wie Ihr Haus ans
Werk gegangen ist, hat das Ganze sehr viel Geld gekostet und wurde die Motivation der zivilen und der militärischen Mitarbeiter nachhaltig gestört. Die immensen
Kosten für externe Beratungen stehen im umgekehrten
Verhältnis zur Beratungsfähigkeit im politischen Bereich. Das können wir heute zumindest feststellen.
Ich möchte daraus allerdings nicht den Schluss ziehen, den die Kollegin Leonhard, wenn ich die Zeitung
heute richtig verstanden habe, gezogen hat, dass wir
nämlich mit diesen Privatisierungsdingen aufhören sollten. Für mich stellt sich nicht die Frage, ob wir das tun,
sondern wie wir das tun. Ich bin fest davon überzeugt,
dass überall dort, wo der Staat nicht notwendigerweise
wirtschaftlich aktiv werden muss, er das auch nicht tun
sollte. Wer das will, muss es aber richtig machen. Das
heißt, wir müssen uns gemeinsam Gedanken darüber
machen, ob die Rechtsform der GEBB und vielleicht
auch der Name, der ja mit dieser unseligen Vergangenheit verknüpft ist, geändert werden sollten.
Wir müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und
auch das Parlament intensiver einbinden. Ich sage noch
eines: Sorgfalt muss vor Eile rangieren. So mancher
Fehler ist gemacht worden, weil aufgrund einer zu kurzen Umsetzungsphase Fehler in Kauf genommen wurden. Auch Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit sind
zu berücksichtigen. Ich frage noch einmal sehr deutlich:
Wie kann es eigentlich sein, dass im Haushaltsentwurf
für 2005 höhere Zuschüsse für die LH-Bekleidung und
den Fuhrparkservice veranschlagt sind als noch im letzten und im vorletzten Jahr? Das wird zu klären sein.
({2})
Eigentlich liest sich der Bericht des Rechnungshofes,
den wir dazu erhalten haben, genauso wie die Liste der
Ermahnungen, Warnungen und Hinweise, die wir von
der Opposition dem Ministerium in den vier Jahren von
1998 bis 2002 gegeben haben.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Worte
zum Thema Zivilpersonal sagen. Dieses soll ja auf
75 000 reduziert werden. Mir hat bis heute noch niemand irgendeine Struktur vorgelegt, aus der hervorgeht,
warum es 75 000 sein müssen.
({3})
Die einzige Begründung ist die, dass der Finanzminister
das Geld nicht hergibt, um mehr zu bezahlen. Das ärgert
die Zivilbediensteten der Bundeswehr; denn sie haben
eigentlich erwartet, dass diese Kürzung auf der Grundlage einer Struktur geschieht.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass es nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht möglich sein wird, diese
Reduzierung zu erreichen, indem wir darauf warten, dass
viele aus Altersgründen aus der Bundeswehr ausscheiden. Selbst wenn wir optimistische Zahlen annehmen,
werden bis 2010 immer noch 5 000 bis 10 000 übrig
bleiben. Bis heute weiß niemand, was mit diesen Menschen geschehen soll.
Ich glaube, dass wir - Sie als Bundesregierung und
wir als Parlament - uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir diesen Menschen ein Angebot für die Zukunft machen können. Das kann durch Tarifverträge geschehen. Die Frage lautet aber: Wer hat mit Verdi
gesprochen? Das kann man möglicherweise auch durch
Abfindungen regeln. Die weitere Frage lautet: Wer leiert
dem Finanzminister das Geld dafür aus den Rippen? Das
kann natürlich auch durch so genannte Auffanggesellschaften geschehen, wie es sie bei der Post und bei der
Telekom gab. Ich weiß aber nicht, ob diese Vorgehensweise auch für die Bundeswehr klug wäre.
Herr Minister, ich sage Ihnen allerdings eines: Wenn
wir dieses Thema nicht ernsthaft anpacken, dann werden
sich die Menschen in der Bundeswehr ungerecht behandelt fühlen. Ich kann Ihnen nur sagen: Es handelt sich
um Menschen, die soziale Beziehungen und Nöte haben,
und nicht etwa nur um Kostenstellen mit zwei Ohren, die
man statistisch hin- und herschieben kann.
Ich komme zum Schluss. Bei der Erblast, die Sie aufgrund der Fehler bei der GEBB zu tragen haben, können
Sie nicht erwarten, dass wir Ihnen hierbei politisch helfen. Sie haben alle unsere Anregungen in den Wind geschlagen, alleine gehandelt und somit auch allein die
politische Verantwortung zu tragen.
Für die Zukunft will ich Ihnen aber anbieten, dass wir
uns gerne kooperativ mit Ihnen auseinander setzen,
wenn all das, was die GEBB in der Vergangenheit unzureichend gemacht hat, auf eine neue Basis gestellt wird.
Ich bin nämlich der Meinung, dass das ein guter Weg
wäre, der Bundeswehr im Investitionsbereich zu helfen.
Tun Sie es aber bitte mit dem Parlament und mit der Opposition, damit wir für diese Aktivitäten eine breite Basis haben. Dann sehe ich langfristig die Möglichkeit, im
Investitionsbereich zu Mehreinnahmen zu kommen. So,
wie es gewesen ist, kann es nicht weitergehen. Ich hoffe,
Sie besinnen sich anlässlich dieser Haushaltsberatungen.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Elke Leonhard.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich eine
strenge Haushaltsrede halten, aber nachdem so viele Bemerkungen kamen, gestatten Sie mir, dass ich auf einige
eingehe:
Erstens. Herr Kollege Kossendey: Ich habe die
Privatisierung nicht verteufelt! Im Gegenteil: Nachdem
der Haushaltsausschuss mandatiert wurde, habe ich im
Rahmen der Berichterstattung des Einzelplanes 14 mit
den Kollegen Austermann, Koppelin und Bonde eine
sehr gründliche und ausführliche Erörterung vorgenommen. Wir haben mehrere Sitzungen gehabt. Daraufhin
habe ich einen 400 Seiten umfassenden Bericht vorgelegt und mich darin für die Privatisierung ausgesprochen.
Da ich aber keine weiteren Nebelkerzen will, sondern
auch der Soldaten und der Planungssicherheit wegen
Klarheit wünsche, habe ich gesagt: Der einzige intelligente Schritt scheint mir jetzt zu sein, eine öffentliche
Anhörung durchzuführen!
({0})
Dabei können alle Fragen gestellt und beantwortet werden!
Zweitens. Wie alle anderen freue ich mich - lassen
Sie mich das an dieser Stelle sagen -, dass der Minister
hier ist. Keiner freut sich mehr als ich.
({1})
Aber ich habe schon in den Wochen zuvor gemerkt, dass
er wieder gesund ist, sonst hätte er nicht mit mir über so
viele Punkte streiten können, was er getan hat. Ich hoffe,
das geht so weiter, sonst würde mir etwas fehlen.
Drittens. Herr Kollege Nolting: Ich glaube, es ist Ihrer
geschätzten Aufmerksamkeit entgangen, dass der Kollege Bonde und ich - flankiert von allen anderen - im
letzten Jahr, als der Forschungsetat um ein Erhebliches
gekürzt werden sollte, erreicht haben, dass der Etat in
verschiedenen Bereichen wieder um ungefähr 100 Millionen Euro aufgestockt wurde.
({2})
Die verschiedenen Punkte im Forschungsetat will ich an
dieser Stelle nicht nennen. Ich habe sie in einigen Artikeln schon ausführlich behandelt. Insofern wird es uns
auch jetzt wieder gelingen!
Es ist ganz wichtig, dass wir in Forschung und Entwicklung investieren. Wer in einem Auslandseinsatz unterwegs ist, der sieht natürlich sehr schnell, wo ein Mangel herrscht und wo nachgebessert werden muss. Das
kann nur durch vernünftige Forschung und Entwicklung
geschehen.
Viertens. Nun zum Thema Wehrpflicht, Herr Kollege Nolting. Zu dem, was ich gerade genannt habe,
kann ich Ihnen positiv mitteilen, dass wir uns dafür
einsetzen werden. Aber bei der Wehrpflicht möchte ich
sagen: 65 Prozent dieses Hauses wollen die Wehrpflicht.
({3})
Wir haben eine der intelligentesten Armeen der Welt.
Das bleibt auch so und das hat mit der Wehrpflicht nicht
unwesentlich zu tun!
({4})
- Ich komme gleich dazu. Leider habe ich nur wenige
Minuten Redezeit, sonst würde ich Ihnen darauf gerne
antworten.
Fünftens. Herr Kollege Austermann, wir waren immer bemüht, wirklich absolut an der Sache orientiert zu
arbeiten.
({5})
Aber im letzten Jahr haben Sie sich der Gesamtberatung
verweigert! Nachdem wir zum Ausdruck gebracht haben, wie schade das sei und dass Sie doch wenigstens
selbst einbringen sollten, was Sie zu sagen haben, haben
Sie sich dazu bereit erklärt.
({6})
Aber: Dann kamen 400 leere Seiten. Herr Austermann,
wenn ich Sie nicht wirklich sehr schätzte und manchmal
als sehr konstruktiv empfände,
({7})
würde ich sagen, Sie sind die ätzende Ausgabe eines destruktiven Charakters.
({8})
Ich will jetzt nicht zu umgangssprachlich werden, aber
passen Sie auf, dass die Sache nicht chronisch wird. Das
wäre ungesund!
Von dieser Stelle möchte ich - lassen Sie mich dies
noch einmal unterstreichen - an die Adresse der Soldaten im Einsatz unseren Respekt bekunden. Ihre Professionalität und Empathie schaffen in vielen Ländern der
Welt Vertrauen. Lassen Sie mich auch dies wiederholen:
Sie und ihre Familien können sich unserer Fürsorgepflicht und Verantwortung sicher sein. Ihr Schutz ist gewährleistet!
Ich möchte jetzt nicht auf die Einzelheiten des Verteidigungsetats eingehen; das haben die Fachpolitiker zum
Teil schon gemacht. Daher nur ein paar Worte.
Der Verteidigungsetat leistet auch in diesem Haushaltsjahr einen substanziellen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes. Allerdings ist der Einsparbeitrag an der Grenze des Tolerierbaren, wenn die
erforderlichen Investitionen für die durch die Bundesrepublik Deutschland eingegangenen internationalen Verpflichtungen und zugesagten Fähigkeiten nicht gefährdet
werden sollen.
Ich will nicht auf den Kürzungsvorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten eingehen, der in diesen Tagen
sehr oft erwähnt wurde.
({9})
Nur so viel: Durch eine Kürzung von 5 Prozent würden
natürlich große Beschaffungsvorhaben, insbesondere des
Heeres, wie zum Beispiel die Heeresfahrzeuge Dingo 2,
Duro, ESK Mungo und der Schützenpanzer Puma gefährdet.
Im Bereich der Entwicklung ist unter anderem auf das
taktische Luftverteidigungssystem MEADS und das
NATO-Vorhaben AGS hinzuweisen. Diese beiden Vorhaben - das unterstreiche ich als Atlantikerin noch einmal - sind die einzigen größeren transatlantischen Rüstungsvorhaben.
Vom Eurofighter will ich gar nicht reden. Dessen Finanzierung - das wissen Sie alle selbst - ist gesichert.
Insofern hieße das Eulen nach Athen tragen.
Ich möchte aber einige Sätze zu den Aufgabenbereichen und Erfolgen der Bundesregierung sagen. Zunächst
ein Kompliment an den Minister und die militärische
Führung. Die eingeleiteten Maßnahmen zur Umsetzung
der Transformation der Bundeswehr haben bereits im
Haushalt 2005 dazu geführt, dass die Betriebsausgaben
um mehr als 550 Millionen Euro auf nunmehr 17,5 Milliarden Euro zurückgeführt werden konnten mit dem
Ziel, die investiven Ausgaben zu stärken. Allein die Personalausgaben wurden spürbar um mehr als 300 Millionen Euro auf rund 12 Milliarden Euro gesenkt. Das
sind Zahlen, die sich sehen lassen können.
Durch die Entlastung bei den Betriebsausgaben
- unser Ziel ist ja eine Senkung der Betriebsausgaben
und eine Steigerung der investiven Ausgaben - konnten
die verteidigungsinvestiven Ausgaben auf rund 6,1 Milliarden Euro erhöht werden. Allerdings konnte wegen
des vom Einzelplan 14 zu erbringenden Konsolidierungsbeitrages nur ein kleiner Anteil der bei den Betriebsausgaben eingesparten Mittel tatsächlich für die
Aufstockung der verteidigungsinvestiven Ausgaben genutzt werden.
Beim Verhältnis von Betriebs- zu Investitionsausgaben wurde der Investitionsanteil auf 25,6 Prozent gesteigert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist
wenig. Es ist weniger, als wir erreichen wollten, aber es
ist mehr als 1997. Das müssen Sie sich immer vor Augen
halten lassen.
Wir müssen uns - das sagte Herr Kollege Kossendey
auch deutlich - der Privatisierung zuwenden. Das ist
richtig. Lassen Sie mich deshalb mit zwei Bemerkungen
schließen. Erstens. Blicken wir doch endlich auf erfolgreiche Beispiele zweier Länder, die jahrelange Erfahrungen im Bereich PPP, Public Private Partnership, vorzuweisen haben. Es geht schlichtweg um die intelligente
Strategie des Staates, Zeit einzukaufen, und es geht auch
- dazu bekenne ich mich - um Aufträge an die WirtDr. Elke Leonhard
schaft. Ich möchte eine starke und keine schwache Wirtschaft.
Die Briten verstehen unter „Smart Acquisition“ eine
effiziente Zeit-Kosten-Leistungsrechnung, beispielsweise
zur Beschaffung von Verteidigungsmaterial. Allerdings
kam der Verteidigungsausschuss des House of Commons
in den letzten Wochen zu dem Ergebnis - der Bericht ist
sehr interessant, ich kann Sie nur animieren, diese Lektüre zu lesen -, dass es bei „Smart Acquisition“ Probleme im Verfahren gibt, die verhindern, dass dieser Prozess funktioniert.
Zweitens möchte ich sagen, dass die Vereinigten
Staaten bereits über eine 20-jährige Erfahrung in der
Frage Outsourcing verfügen. Mit der Richtlinie A 76 haben sie eine klare Identifikation aller outsourcbaren Aktivitäten und sie haben, was wichtig ist, Rechtssicherheit
hergestellt. Als politische Maßgaben stehen dabei - erstens - das Senken der Staatsquote, - zweitens - die Reduktion der Anzahl der Bundesangestellten und - drittens Kosteneinsparung im Mittelpunkt der Bemühungen des
Kongresses und des Weißen Hauses. Eine unabhängige
Kommission bewertet die -
Frau Kollegin, Sie sind jetzt weit über die Zeit. Bitte,
beachten Sie das.
Dann komme ich zum Ende. Eine unabhängige Kommission bewertet die Angebote -
Sie müssen jetzt wirklich Schluss machen.
Wer 10 Prozent günstiger ist oder 10 Millionen einspart, der bekommt den Auftrag. Ich glaube, das wäre
ein Weg, der sehr intelligent ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Rauber.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer die Reden von Vertretern der Regierungsparteien nicht nur heute, sondern auch an anderer Stelle
gehört hat, der kann nur staunen. Sie tun so, als seien sie
es gewesen, die damit anfingen, die Bundeswehr für
neue Aufgaben umzustrukturieren.
({0})
Die Wahrheit ist eine ganz andere. Herr Erler, sie waren
es, die gegen alles waren, was zu mehr internationaler
Verantwortung Deutschlands geführt hat.
({1})
Die Petersberger Aufgaben stehen heute synonym für
eine neue Außenpolitik. Sie wurden 1992 unter der
Ägide der CDU auf dem Petersberg formuliert.
({2})
Ich selber kann Ihnen einige Hinweise auf früher
nicht ersparen. Vor elf Jahren, Mitte 1993, standen
1 700 Soldaten in Somalia, um Menschen vor dem Verhungern zu retten und vor Verbrechern zu schützen.
Unsere Soldaten führten damals Transportaufträge zur
Lebensrettung durch, sie reparierten Straßen, sie bauten
Brücken, sie räumten Minen weg und bereiteten Wasser
auf. Per einstweiliger Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht hatten Sie versucht, zu verhindern, dass
bewaffnete Infanterie zum Schutz unserer Soldaten nach
Afrika entsandt wird.
Es war die SPD, die noch im Juni 1994 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes verhindern wollte,
dass deutsche Piloten in den AWACS mitfliegen bzw.
dass sich die Marine in der Adria an der Durchsetzung
des Waffenembargos beteiligt. Es darf schon die Frage
gestellt werden, was auf dem Balkan passiert wäre,
wenn sich Europa rechtzeitig auch mit Waffengewalt
eingemischt hätte. Dieser Bürgerkrieg auf dem Balkan
kostete 250 000 Menschen das Leben und führte dazu,
dass in der Hochphase bis zu 800 000 Menschen bei uns
Asyl fanden, wozu jährlich zwischen 10 und 15 Milliarden Euro als Hilfe zum Lebensunterhalt notwendig waren.
Als Volker Rühe 1994/95 37 000 Soldaten als Krisenreaktionskräfte aufstellen wollte, sprachen die Grünen
von einer Interventionsarmee und von einer Außenpolitik des Neoimperialismus. Es ist die gleiche Partei, die
später, als 150 000 Soldaten als Einsatzkräfte aufgestellt
werden sollten, Beifall klatschte. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien waren so gesehen in erster Linie
eine Kurskorrektur von Rot-Grün im Bereich der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Verteidigungspolitischen Richtlinien gehen uns jedoch nicht
weit genug. Wir wollen eine enge Verzahnung zwischen
der Außen- und Innenpolitik. Es ist schlichter Unsinn, zu
behaupten, wir wollten Wehrpflichtige als Terroristenjäger einsetzen. Dies will niemand. Wir wollen die Bundeswehr auch nicht zum Lückenbüßer für Versäumnisse
der inneren Sicherheit degradieren.
Beslan hat gezeigt, dass diese brutalen Verbrecher, die
sich stellenweise - das ist eine Verhöhnung - Freiheitskämpfer nennen, keine Tabus mehr kennen. Diese vor
Hass blinden Fanatiker, die Kinder bestialisch ermorden,
schrecken vor nichts zurück. Sie zielen auf 5 000, auf
50 000 oder auch auf 5 Millionen Tote, wenn sie nur die
entsprechenden Zerstörungsmittel besitzen. Wir brauchen heute eine Neudefinition der Landesverteidigung, die sich an dem veränderten Spektrum unterschiedlichster Bedrohung ausrichten muss. Unsere
Landesverteidigung war bisher in erster Linie eine Abwehr gegen fremde Mächte oder groß angelegte
Machtblöcke. Heute und zukünftig gilt es, sie verstärkt
auf den Objektschutz und die Luft- und Seeüberwachung
auszurichten.
Katastrophenschutz geht jedoch weit darüber hinaus. Er umfasst auch den Kampf gegen Wasser, Feuer
und Stürme, und zwar national wie international.
Erstellen wir mehrere Bedrohungsanalysen, dann
zeigt sich, dass die Polizei in einigen Fällen weder technisch noch hinsichtlich ihrer personellen Kräfte bzw. der
Ausbildung in der Lage ist, ein Höchstmaß an Sicherheit
zu bieten. Niemand ist so vermessen zu behaupten, dass
es heute einen umfassenden Schutz vor allen möglichen
Gefahren gibt. Zu allem entschlossene Verbrecher und
Fanatiker sind nur begrenzt zu bekämpfen. Dass alle
Kraftwerke, Staudämme, Überlandleitungen, Wasserkraftwerke usw. einschließlich der 15 Millionen Container, die tagtäglich auf See oder an Land unterwegs sind,
geschützt werden können, ist eine Illusion.
Wir wollen die relative Sicherheit erhöhen. Wir wollen die Grundlagen dahin gehend verändern, dass das
vorhandene Kräftepotenzial bei der Bundeswehr übergreifend und auch präventiv genutzt werden kann. In
Deutschland gibt es 36 verschiedene Einrichtungen, die
sich mit der Terrorismusbekämpfung beschäftigen. Wir
brauchen straffere, überschaubare und effizientere Strukturen und eine bessere Abstimmung zwischen dem Bund
und den einzelnen Bundesländern.
Der Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor den
verschiedensten Gefahren muss alleinige Leitlinie sein.
Wir als CDU/CSU sind bereit, einen Beitrag dazu zu
leisten.
({3})
Wir bedanken uns bei unseren Soldaten und Soldatinnen für ihren nicht ungefährlichen Friedensdienst und
wünschen ihnen, dass sie immer sicher und unversehrt
an Leib und Leben zurückkommen.
({4})
Danke schön. - Weitere Wortmeldungen zu diesem
Geschäftsbereich liegen mir nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Einzelplan 23. Das Wort hat zunächst die Frau Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen
- am vergangenen Sonntag - hat der Weltbank-Präsident, James Wolfensohn, in der Frankfurter Paulskirche
einen Appell an uns alle gerichtet, den ich an dieser
Stelle aufgreifen will. Er hat darauf hingewiesen, dass
auf unserem Globus 6 Milliarden Menschen leben.
1 Milliarde davon kämpfen Tag für Tag ums Überleben.
1 Milliarde Menschen haben weniger als 1 Dollar am
Tag zur Verfügung. 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent des Weltsozialprodukts; die restlichen 80 Prozent der Weltbevölkerung müssen sich um
die verbleibenden 20 Prozent des Weltsozialprodukts
streiten.
In rund einer Generation werden wir rund
8 Milliarden Menschen sein. Von den 2 Milliarden Menschen, die bis dahin dazukommen, werden nur
2,5 Prozent in reichen Ländern aufwachsen. Die übergroße Mehrheit von 97,5 Prozent dieser neuen Weltjugend wird mit der Perspektive leben, arm zu sein und zu
bleiben, wenn sich nichts ändert.
Diese jungen Menschen werden aber wissen, dass es
ein besseres Leben gibt. Sie werden sich mit ihrer Situation nicht abfinden wollen. Wolfensohn hat gefragt, ob
wir eine globale Gemeinschaft sind, die durch Umwelt
und Handel, Finanzen und Gesundheit, Fairness und
Vertrauen verbunden ist, oder ob in 20 oder 30 Jahren
Verbrechen, Drogen, Gewalt und Terror die Oberhand
gewinnen werden.
Mein Appell an uns alle - wo auch immer wir politisch stehen - lautet: Lassen Sie uns alle dazu beitragen,
dass die globale Gemeinschaft der Fairness gewinnt!
({0})
Die internationale Gemeinschaft hat ein Bündnis gegen die Armut geschlossen. Sie hat sich acht Gebote zur
gerechten Gestaltung der Globalisierung gegeben. Entwicklungspolitik ist die beste Präventivstrategie gegen
Armut und Perspektivlosigkeit, Gewalt und terroristische Ursachen. Der Kampf gegen die Armut macht Fortschritte. Das ist eine der guten Nachrichten von gestern.
Kofi Annans Bericht an die UN zeigt: Es gibt große
Fortschritte bei der Armutsbekämpfung, beispielsweise
bei Bildung und beim Zugang zu Wasser. Wir dürfen
aber nicht nachlassen und müssen die an den Zielen der
Armutsbekämpfung orientierten globalen Regeln für die
internationale Zusammenarbeit weiter voranbringen.
({1})
Die Ziele der internationalen Gemeinschaft sind auch
die Messlatte für die Arbeit und die Politik der Bundesregierung sowie für unseren Haushalt. In diesem Zusammenhang möchte ich aber auch darauf hinweisen - das
hat die Konferenz von Monterrey ja deutlich gemacht -,
dass Handel und Entschuldung in vielen Fällen längst
zu den wichtigsten externen Finanzquellen der Entwicklungsländer geworden sind. Die Bundesregierung drängt
deshalb darauf, dass die WTO-Konferenz, die so genannte Doha-Runde, zügig abgeschlossen wird und den
Entwicklungsländern tatsächlich Fortschritte bringt. Die
Weltbank schätzt, dass ein realer Einkommensgewinn
von rund 350 Milliarden US-Dollar möglich ist, wenn
diese Konferenz erfolgreich ist, und dass damit
144 Millionen Menschen den Sprung über die Armutsgrenze schaffen können. Deshalb müssen wir dazu beitragen, dass die wichtigen Strukturentscheidungen im
Interesse der Entwicklungsländer getroffen werden.
({2})
Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung sieht eine
Steigerung der Mittel für das BMZ um 1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr vor. Darum habe ich kämpfen müssen. Das sage ich in aller Offenheit; denn jeder kennt die
Haushaltssituation. Wir haben durch unsere Regierung
auch deutliche Steigerungen bei den Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit der Kirchen und der nicht
staatlichen Organisationen vorgesehen. Das finde ich
wichtig. Ich möchte mich gerade an dieser Stelle bei ihnen allen für ihre Arbeit sehr herzlich bedanken.
({3})
Die Steigerung hält uns in dem Korridor, den wir einhalten wollen, um unsere internationalen Verpflichtungen
verlässlich zu erfüllen. Aber um das 0,33-Prozent-Ziel
bis zum Ende dieser Legislaturperiode zu erreichen,
müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen. Ich
möchte hinzufügen, damit das hinlänglich klar ist: Ich
habe noch niemandem einen Vorwurf daraus gemacht,
dass er oder sie mehr Geld für Entwicklungspolitik gefordert hat. Das gilt auch für diese Haushaltsberatungen. - Ich sehe, dass Frau Schulte die Botschaft vernommen hat. Ich glaube aber, dass sie das schon vorher
verstanden hat.
Immer deutlicher wird, dass die zunehmende Verknappung und vor allen Dingen auch die Verteuerung
des Erdöls ein gravierendes Hindernis für die Erreichung von Entwicklungszielen darstellen. Die dauernde
Abhängigkeit von teurem Erdöl führt für viele arme Länder in eine Sackgasse. Aus diesem Dilemma hat die
Konferenz für erneuerbare Energien - wir hatten vorher
noch keine Gelegenheit, über ihre Ergebnisse im Plenum
zu diskutieren - Schlussfolgerungen gezogen. Sie hat
deutlich gemacht, dass die internationale Gemeinschaft
mithilfe der erneuerbaren Energien und der Steigerung
der Energieeffizienz eine globale Energiewende herbeiführen will und so 1 Milliarde Menschen, die bisher keinen Zugang zu Energie haben, aus der Energiearmut und
damit auch aus der generellen Armut herausholen will.
Das ist eine wichtige Weichenstellung, gerade wenn es
um Armutsbekämpfung in der Welt geht.
({4})
Ich möchte daran erinnern, dass auf dieser Konferenz
200 Aktionen verbindlich vereinbarten wurden. Jeder,
der weiß, welch hohen Energieverbrauch China in Zukunft haben wird, erkennt die grundlegende Veränderung, die darin liegt, dass ein Land wie China zugesagt
hat, dass es bis zum Jahr 2010 10 Prozent seiner Gesamtenergieleistung aus erneuerbaren Energien gewinnen
will. Das ist ein unübersehbares Zeichen für die Dynamik dieses Prozesses. Diese wollen wir fördern.
({5})
- Das ist nur unsere Alternative.
Wichtig ist auch der Kurswechsel der Weltbank, auf
den wir und auch Sie in diesem Hause sehr gedrängt haben. Wir haben Vorlagen dazu verabschiedet. Die Weltbank wird ihre Mittel für erneuerbare Energien substanziell aufstocken und sich damit in Richtung einer Bank
zur Förderung erneuerbarer Energien entwickeln, wodurch die finanziellen Voraussetzungen für Entwicklungsländer in Bezug auf diesen Bereich verbessert werden.
({6})
Die Bundesregierung wird ihr Engagement zur Förderung nachhaltiger Energien verstärken. Neben dem,
was wir bisher zugesagt haben - das haben wir auch in
diesem Haushalt verankert -, werden wir mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau eine Kreditlinie schaffen, durch
die in den nächsten fünf Jahren mindestens 500 Millionen Euro an zinsgünstigen Krediten für Unternehmen
- auch für deutsche -, die im Bereich erneuerbare Energien und Energieeffizienz tätig sind, bereitgestellt werden. Damit wird den Entwicklungsländern vielfach
geholfen. Und wir Deutsche haben eine gute Ausgangsposition; denn wir sind in all diesen Bereichen sehr wettbewerbsfähig.
Wir werden auch in der Aidsbekämpfung weiterhin
mit großem Nachdruck tätig sein müssen. Ich will an
dieser Stelle nur sagen: In diesem Haushalt setzen wir
ein deutliches Signal der Steigerung.
({7})
- Ja, wunderbar, Herr Löning. Sie wissen, in diesen Fragen gibt es viel Gemeinsamkeit.
Wir haben die Mittel für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria aufgestockt. Dieser Haushalt sieht für diesen Fonds Mittel
in Höhe von 72 Millionen Euro vor. Das bedeutet eine
Steigerung um 34 Millionen Euro. Wie jeder weiß,
würde ich diesen Ansatz gern weiter aufstocken, wenn
es die Finanzmittel ermöglichten.
In den heutigen Debatten hat die Zukunft Afghanistans mehrfach eine Rolle gespielt. Ich möchte dieses
Thema an dieser Stelle noch einmal unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten ansprechen. Die Zukunft
Afghanistans muss der Bevölkerung gehören und nicht
den Drogenbaronen. Sie muss den Familien und dem
Unternehmergeist gehören und nicht den Terroristen.
Wir wollen dazu beitragen, dass Afghanistan aus dem
Teufelskreis von Drogen, Extremismus und Terror herauskommt und dass es bei den Wahlen ein deutliches
Signal in diese Richtung gibt.
({8})
Gemeinsam mit der Aga-Khan-Stiftung - ich habe
mit dem Aga Khan gestern einen entsprechenden Vertrag
unterschrieben, der sich auf weitere Regionen der Welt
bezieht - schaffen wir bereits seit 2001 in der Provinz
Badakhshan Alternativen zu Einkommen durch
Mohnanbau. Auch dabei gehören politischer und wirtschaftlicher Wandel zusammen.
Eine wichtige Nachricht im Kampf gegen den Drogenanbau: Großbritannien - wir haben oft darauf gedrungen, dass es die Rolle, die es als Führungsnation unter den internationalen Gebern in Afghanistan im
Hinblick auf die Drogenbekämpfung hat, stärker wahrnimmt - hat die Provinz Badakhshan zu der Provinz erklärt, in der die zivile Drogenbekämpfung in den Mittelpunkt der gesamten Arbeit gestellt werden muss. Das
unterstützen wir nachdrücklich; denn wir halten es für
wichtig, in diesem Bereich Alternativen aufzuzeigen.
({9})
Unsere Wiederaufbauarbeit in Afghanistan und das
Wiederaufbauteam in Kunduz - auch das hat in der
Diskussion eben eine Rolle gespielt - haben Modellcharakter gewonnen. Ich will hinzufügen - es hat auch eine
öffentliche Diskussion darüber gegeben -: Das Entwicklungsministerium wird in Faizabad helfen, ein Krankenhaus wiederherzustellen, damit die Bevölkerung besser
versorgt werden kann. Das Verteidigungsministerium
- das habe ich mit dem Kollegen Struck abgesprochen wird im Rahmen der Arbeit des Wiederaufbauteams die
Ausstattung des Krankenhauses sicherstellen.
Über weitere Programme kann ich aber erst dann entscheiden, wenn es zusätzliche Mittel in diesem Haushalt
gibt. Ich bin gerne bereit, die notwendigen Prozesse in
Gang zu setzen. Aber das bedarf entsprechender finanzieller Möglichkeiten.
Den Soldaten ist bereits gedankt worden. Ich möchte
ihnen ebenfalls meinen Dank ausdrücken. Ich will an
dieser Stelle auch sagen: Ich danke allen zivilen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Nichtregierungsorganisationen, aber auch der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, die in Afghanistan eine wunderbare Leistung
erbringen.
({10})
Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Themen zu
sprechen kommen, die sicherlich uns allen auf der Seele
liegen. Morgen werde ich Gelegenheit haben, mit dem
irakischen Übergangspräsidenten al-Jawar zu sprechen.
Unabhängig davon, wo wir in der Frage des Irakkriegs
gestanden haben - wo ich stand, weiß jeder -, haben wir
alle ein Interesse an einem stabilen, souveränen, friedlichen Irak und daran, dass dieser Staat nicht zerfällt.
In der Anfangsphase hat die Bundesregierung vor allem Nothilfe geleistet. Auf der Geberkonferenz in Madrid im Oktober vergangenen Jahres haben wir insgesamt, mit allem Drum und Dran, 200 Millionen Euro für
den Wiederaufbau des Irak zur Verfügung gestellt. Wir
werden auch an der Geberkonferenz im Oktober in
Tokio teilnehmen.
Wir haben Aus-, Fort- und Weiterbildungsaufenthalte
für irakische Hochschullehrer und für Fachleute aus den
Ministerien außerhalb des Irak organisiert. Ich sage noch
einmal: In der jetzigen Situation - jeder weiß, wovon die
Rede ist - kann ich es einfach nicht verantworten, dass
wir deutsche Aufbaufachleute oder staatliche Durchführungsorganisationen in den Irak schicken. Die dazu notwendige Sicherheitslage ist nicht gegeben. Aber wir haben außerhalb des Irak Hilfe und Unterstützung für die
Ausbildung geleistet.
Auch da gilt: Der vorliegende Haushalt sieht keine
zusätzlichen Mittel vor. Ich bin aber selbstverständlich
bereit, Fachleute zu entsenden, wenn die Sicherheitslage
es erlaubt und wenn auch UN, EU und Weltbank das tun.
Voraussetzung: entsprechende Sicherheitssituation und
zusätzliche Finanzmittel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf meiner Namibiareise im August 2004 habe ich für die Bundesregierung
am Waterberg an der Gedenkveranstaltung zum hundertsten Jahrestag der Niederschlagung des HereroAufstands teilgenommen. Es war an der Zeit, denke ich,
das Richtige und Notwendige zu tun und das Richtige
und Notwendige zu sagen.
({11})
Wir erinnern uns: Die deutschen Kolonialherren hatten Ende des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung von ihrem Land vertrieben. Als sich die Herero dagegen wehrten, führten die Truppen des Generals von Trotha gegen
sie, die Nama und Damara einen Vernichtungskrieg.
Ich bin sicher - Ihre Reaktion eben hat es bestätigt -:
Ich konnte mit der Zustimmung von Ihnen im Deutschen
Bundestag bei der Gedenkveranstaltung dort auf dem
Gelände am Waterberg das sagen, was ich gesagt habe:
Wir Deutschen bekennen uns zu unserer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verantwortung und zu der
Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben. Ich
habe im Sinne unseres gemeinsamen Vaterunsers um
Vergebung gebeten.
Mein Ziel war, dass das Gedenkjahr 2004 das Jahr der
Versöhnung zwischen dem namibischen Volk und
Deutschland wird. Ich freue mich darüber, dass wir jetzt
sagen können: Das ist gelungen. Die Vertreter der Herero sagten zu mir: Sie haben die Mauern des Schweigens eingerissen; jetzt können wir in den Dialog eintreten. So sieht das auch die namibische Regierung.
Jetzt gilt es, den Weg der Versöhnung nicht wieder zu
verbauen, sondern zu beschreiten. Juristische Schritte
würden die Versöhnung erschweren. Das habe ich auch
allen Beteiligten gesagt.
Die Bundesregierung wird jetzt auf breiter Ebene
- mit der namibischen Regierung, mit Kirchen und mit
der Zivilgesellschaft - den Dialog fortsetzen und dieses
Moment um der Versöhnung nutzen. Dafür gibt es konkrete Pläne. Die Bischöfe Kameeta und Keeding aus Namibia haben den Vorschlag gemacht, einen Panel on
Reconciliation, einen Versöhnungsrat, zwischen Deutschen und Namibiern einzusetzen. Ich unterstütze diesen
Vorschlag nachdrücklich. Im November werden wir den
Vorschlag bei einer Konferenz, die in Bremen stattfinden
wird, gemeinsam weiterentwickeln.
({12})
Mir geht es darum, dass wir das bisherige Engagement ausbauen und dass wir vor allem den Dialog zwischen Jugendlichen fördern. Ich habe dort ja das Kulturzentrum in Okakarara eingeweiht. Das sollten wir mit
Leben füllen, zu einem Ort des Kennenlernens und des
Austausches zwischen Jugendlichen machen und damit
die Kenntnis der Kultur und den Respekt voreinander
stärker fördern.
Nie waren die Ansprüche an eine gute Entwicklungszusammenarbeit höher als heute. Aber nie waren eigentlich auch die Chancen besser als heute; denn die Geber
gehen im Grundsatz in die gleiche Richtung. Es gibt
nicht mehr das Gegeneinander, das es noch während des
Kalten Krieges gab. Wenn Freiheit, Frieden und Stabilität bei unseren Nachbarn beheimatet sind, dann haben
wir alle etwas davon.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Kraus.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wunschdenken und Realität fallen in der Politik
oft auseinander,
({0})
gerade auch in der Entwicklungspolitik. Noch im April
dieses Jahres hatte das BMZ optimistisch verkündet,
man halte daran fest, bis zum Jahr 2006 0,33 Prozent
des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben.
({1})
- Das glaube ich nicht. Das wäre nur möglich, wenn es
2005 und 2006 eine deutliche Steigerung des Entwicklungshaushaltes gäbe. Frau Kollegin, Sie sind einmal
eine begnadete Haushaltspolitikerin gewesen. Sie werden doch ganz sicherlich übersehen, dass die Steigerungsraten, die hierfür notwendig wären, überhaupt nicht
vorstellbar sind.
({2})
Umso größer ist nun die Enttäuschung über die bittere
Realität nicht nur unter den Entwicklungspolitikern, sondern auch bei den Nichtregierungsorganisationen, den
Kirchen sowie allen entwicklungspolitisch engagierten
Mitbürgern. VENRO hat den Entwicklungsetat 2005 als
herben Dämpfer für die weltweite Armutsbekämpfung
bezeichnet. Ich meine, dass das noch untertrieben ist.
Der Ansatz des nächsten Haushalts liegt ungefähr um
200 Millionen Euro unter dem Ansatz des letzten von
der Regierung Kohl verabschiedeten Haushalts, also
dem für das Jahr 1998, auch etwas unter den Ausgaben
des vorigen Jahres. Da helfen die ganzen Spielereien
nichts. Einmal ist die globale Minderausgabe eingerechnet, einmal ist sie herausgerechnet. Ich bleibe dabei: Es
ist nicht die Steigerung erreicht worden, die notwendig
gewesen wäre, um das Ziel zu erreichen.
Frau Ministerin hat hier beeindruckend dazu aufgefordert, wir alle müssten zusammenhalten, damit das
besser wird. Wir würden das gerne tun, die Sache hat nur
einen Haken: Die rot-grüne Koalition hat immer noch
die Mehrheit und ich glaube nicht, dass sie zu überzeugen ist.
({3})
- Darüber gehen die Meinungen in Deutschland ganz
weit auseinander. Schauen Sie sich einmal die Umfrageergebnisse an, Herr Kollege, dann werden Sie vielleicht
verstehen, was ich meine.
Ich finde es auch sehr nett von der Ministerin, dass sie
sagt, keinem Menschen werde ein Vorwurf daraus gemacht, wenn er für die Entwicklungshilfe mehr Geld fordere. Das kommt unserem Harmoniebedürfnis sehr entgegen, aber helfen tut es natürlich relativ wenig. Ich
denke auch, dass der Haushaltsansatz in Wirklichkeit
noch niedriger ausfallen wird, weil noch weitere Kürzungen angesagt sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Entwicklungspolitiker haben ein Riesenproblem: Ich behaupte, die Masse der politisch interessierten Bürger
ist an Entwicklungspolitik nur nachrangig interessiert.
Ich denke auch, dass sich der Aufschrei der Bevölkerung
wegen des heutigen Haushaltes sehr in Grenzen halten
wird. Unsere Bevölkerung ist ungeheuer großzügig und
spendenfreudig. Wir müssen uns vor niemandem auf der
Welt verstecken, wenn es darum geht, Nothilfe bei Überschwemmungen, Hungersnöten und Katastrophen aller
Art zu leisten. Aber nachhaltige Entwicklungspolitik ist
kein Thema, das die politische Klasse in besonderer
Weise bewegt.
Es bedeutet nicht, dass es bei uns nicht eine beachtlich große Zahl von persönlich engagierten Leuten gibt,
die in großen Nichtregierungsorganisationen oder auch
als Einzelkämpfer große Opfer bringen. Aber insgesamt
handelt es sich hierbei prozentual um eine verschwindend geringe Minderheit. Die Vielfalt des Engagements
reicht von einem Dr. Errös, der als Einzelkämpfer angefangen hat, vieles und Erstaunliches geleistet hat und
heute 1 500 Leute beschäftigt, über Eine-Welt-Läden bis
hin zu Leuten wie dem mir bekannten Bananen-Joe, der
fair gehandelte Bananen vertreibt. Dies alles ist sehr beeindruckend. Ich finde das großartig. Ich denke aber
nicht, dass das unser Problem des mangelnden Interesses
löst, das natürlich auch darauf zurückzuführen ist, dass
es die bipolare Welt nicht mehr gibt und dass die Leute
bei uns sagen, sie hätten andere Sorgen.
Wir müssten alle - ich sage es noch einmal - zusammenhalten und daran arbeiten, dass sich diese Einstellung
ändert. Dazu gehört natürlich auch, dass Entwicklungspolitik effizient betrieben wird. Da muss man bei manchen Organisationen große Zweifel haben. Ich denke
hier zum Beispiel an den EEF. Aber auch in unserem
Land treibt der Bürokratismus teilweise groteske Blüten,
zum Beispiel bei der DEG. Diesen Fall habe ich zurzeit
im Auge; man muss der Sache einmal nachgehen. Man
muss sich nicht wundern, dass die Leute diese Einstellung haben, wenn solche Dinge bekannt werden.
Es gibt viele gute Gründe; die Zeit ist zu kurz, um sie
alle anzuführen. Ich möchte nur kurz vier Gründe anführen, warum wir klar machen müssen, dass es in unserem
eigenen Interesse liegt, unseren Nachbarn - das ist praktisch jedes Land auf der Welt, denn die Entfernungen
sind sehr kurz geworden - zu helfen. Sicherheitsgründe
spielen dabei eine große Rolle. Denken Sie an Aids. Das
ist eine Riesenkatastrophe in Südafrika, die sich jetzt
ausbreitet; davon können alle bei uns betroffen sein.
Denken Sie an den Zuwanderungsdruck, der durch Armut entsteht.
Ebenso haben wir ein Interesse daran, dass es unseren
Nachbarn in wirtschaftlicher Hinsicht gut geht; denn nur
mit Nachbarn, die selber etwas bringen, kann man Handel treiben. Spendenquittungen sind eine schöne Sache,
aber sie sind nicht sehr attraktiv und fördern den Handel
nicht besonders.
Wir müssen natürlich auch an die Umwelt und die
globalen Einflüsse auf sie denken. Wenn heute in Sumatra die Wälder abgeholzt werden, wird das langfristig
auch uns betreffen. Wir müssen uns überlegen, wie wir
dem Naturschutz und dem Klimaschutz gerecht werden
und gleichzeitig die Menschen - die ein Riesenproblem
haben, denn sie brauchen den Raum zum Leben; dort
lebt man von der Landwirtschaft - über Wasser halten
und sie so stellen können, dass sie ein vernünftiges Leben führen können.
({4})
Als weiteren Grund nenne ich unsere humanistische,
christliche Einstellung. Aus moralischen Gründen kann
uns das Schicksal der Menschen auf der Welt nicht
gleichgültig sein.
In diesem Sinne denke ich, dass wir versuchen sollten, diesen Haushalt und das Standing der Entwicklungspolitik in unserer Bevölkerung deutlich zu verbessern.
Vielleicht gelingt es uns, meine sehr verehrten Damen
und Herren. Die Terrorismusentwicklung wird uns unter
Umständen helfen, die Zusammenhänge klar zu machen.
Wenn jemand nichts mehr zu verlieren hat, wenn er
keine Perspektive hat, ist er eher anfällig für radikale
Ideen. Ich glaube, das ist ein ganz starkes Argument.
Dieses zu verbreiten und uns eindringlich für unsere
Ideen und Anliegen einzusetzen, die per saldo ziemlich
gleichgerichtet sind, dafür möchte ich hier werben.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thilo Hoppe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mir ist es in der Sommerpause manchmal schwer gefallen, zu entspannen und richtig abzuschalten. Das lag einerseits an den Bildern, die sich mir während einer Darfur-Reise sehr eingeprägt haben; einige Kollegen waren
ja dabei und haben die schreckliche Not in den Flüchtlingslagern gesehen. Es lag aber auch daran, dass ich
wusste, dass diese Haushaltsrede auf mich zukommen
würde.
Wie soll ich sie beginnen? Wie soll ich argumentieren,
wenn ich einerseits von der Qualität unserer Entwicklungszusammenarbeit sehr überzeugt bin - von einigen
wenigen Ausnahmen abgesehen -, aber andererseits keineswegs mit der Mittelausstattung zufrieden sein kann?
Ich will als Mitglied einer Koalitionsfraktion hier keine
Oppositionsrede halten, aber andererseits kann und will
ich mich auch nicht verbiegen und etwas schönreden.
Deshalb das Unangenehme zuerst: Der vom Kabinett
vorgelegte Haushaltsentwurf reicht noch nicht aus, um
ein deutliches Signal in Richtung 0,33-Prozent-Ziel zu
geben.
({0})
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Dies ist
keine Kritik an der Entwicklungsministerin, die wirklich
vehement für mehr Geld für die Entwicklungspolitik gestritten hat und auch weiterhin streiten wird. Dies ist
vielmehr ein Plädoyer dafür, dass es im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens noch zu Nachbesserungen
kommen möge.
Was heute der Kanzler, der Außenminister und auch
unsere Fraktionssprecherin Katrin Göring-Eckardt zu
den globalen Herausforderungen, zu der wachsenden
Bedeutung der Entwicklungspolitik als präventiv wirkendes Mittel gegen den Terrorismus gesagt haben, gibt
mir Hoffnung, dass es noch gelingen wird, mehr Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit und für die humanitäre Hilfe zu bekommen und den Haushalt entsprechend aufzustocken. Auch die Zahl der Haushälterinnen
und Haushälter, die dies ähnlich sehen, wird, so hoffe
ich, wöchentlich größer.
({1})
- Ich bin gar nicht mehr so pessimistisch wie noch vor
einigen Wochen.
Es gibt auch andere Ereignisse und Tendenzen, die
mich optimistisch stimmen und die mich ein anderes Fazit ziehen lassen als das, was hier an Schwarzmalerei bereits vorgetragen wurde und vielleicht in weiteren Reden
noch vorgetragen wird.
Herr Kraus, Sie haben - vielleicht zu Recht - die geringe Akzeptanz der Entwicklungspolitik in der Bevölkerung bemängelt. Das Gegenmittel wird im Haushalt
bereitgestellt: mehr Gelder für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit. Ich habe die Erfahrung gemacht:
Wenn man mit den Menschen in Schulen, in Vereinen
und in Kirchen spricht und ihnen die Folgen einer unzureichenden Entwicklungspolitik vor Augen hält, dann
kann man sehr viel Akzeptanz für die Entwicklungspolitik gewinnen. Dafür muss man allerdings werben und
sehr viele Gespräche führen.
Unsere Entwicklungspolitik steht auf zwei starken
Beinen. Das eine Bein ist die eher klassische Entwicklungszusammenarbeit, also Hilfe zur Selbsthilfe. Das andere Bein ist die internationale Strukturpolitik. In beiden
Bereichen gibt es Fortschritte. Im Bereich der bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit ist eine alte Forderung
aufgenommen und umgesetzt worden. Es ist eine Länder- und Schwerpunktkonzentration durchgeführt worden. Der Vorwurf der Verzettelung, der oft erhoben
wurde, lässt sich so nicht mehr aufrechterhalten. Es gibt
eine verbesserte internationale Abstimmung. Auch der
Mix von bi- und multilateralen Instrumenten ist gut austariert.
Im Bereich der internationalen Strukturpolitik gibt es
Fortschritte bei den WTO-Verhandlungen. Was in unserem Antrag zur WTO vom Juli gefordert wurde - Agrarfragen zuerst lösen, radikal herunter mit den Agrarexportsubventionen und mehr Marktzugang für die
Entwicklungsländer -, ist inzwischen stärker in das Regierungsverhalten und letztendlich auch in die Position
der Europäischen Union eingeflossen. Mein Kollege
Sascha Raabe und ich haben Kritik geübt, auch in den eigenen Reihen. Da hat es Veränderungen und Fortschritte
gegeben, zumindest Schritte in die richtige Richtung.
Heidemarie Wieczorek-Zeul hat in Cancun die Baumwollsubventionen angeprangert. Renate Künast ist es in
zähen Verhandlungen gelungen, dass die europäischen
Baumwollsubventionen drastisch heruntergefahren werden. Ähnliches muss es nun auch auf dem Zuckersektor
geben. Die europäische Zuckermarktordnung ist ein
entwicklungspolitisch schädliches und für die europäischen Steuerzahler ein sehr teures Subventionsungetüm.
Hier muss es zu einer Reform kommen, die positive Entwicklungsimpulse, aber auch Anreize für eine umweltgerechte und nachhaltige Produktion gibt. Die CDU/
CSU muss sich entscheiden, ob sie sich als Förderer einer wirklichen Entwicklungsrunde oder in erster Linie
als Lobbyist für Nordzucker und Südzucker versteht. Da
steht Ihnen noch eine wichtige innerfraktionelle Diskussion bevor.
({2})
Große Fortschritte gibt es im Energiebereich. Angesichts der Turbulenzen auf den Weltölmärkten schimmert es inzwischen auch den hartnäckigsten „Fossilen“,
dass kein Weg an den erneuerbaren Energien vorbeiführt. Die Ministerin hat bereits eindrucksvoll von den
Erfolgen der Erneuerbare-Energien-Konferenz berichtet.
Zusätzlich zu der Summe von 1 Milliarde Euro, die der
Bundeskanzler bereits in Johannesburg für den Ausbau
erneuerbarer Energien und für Maßnahmen für mehr
Energieeffizienz zugesagt hat, hat die Bundesregierung
auf der Konferenz in Bonn weitere 500 Millionen Euro
für diesen Bereich angekündigt.
Nehmen wir ein drittes Beispiel - auch das stimmt
mich optimistisch -, nämlich die aktive Rolle, die die
Bundesregierung zur Eindämmung des Krieges in
Darfur spielt. Joschka Fischer, Heidemarie WieczorekZeul und Kerstin Müller waren und sind von der Motivation getrieben, dass die internationale Gemeinschaft kein
zweites Ruanda zulassen darf. Deutschland hat dafür gesorgt - auch gegen Widerstände von Bündnispartnern -,
dass dieses Thema auf die Agenda des Weltsicherheitsrates kam. Die Krise ist zwar noch längst nicht überwunden; das wissen wir alle. Aber inzwischen gibt es wenigstens keine Behinderung der humanitären Hilfe mehr.
Deutschland leistet seinen Beitrag bei der Versorgung
der Flüchtlinge und bei der Unterstützung der Waffenstillstandskommission der Afrikanischen Union.
Dass es nicht nur durch Umschichtungen in den Etats
des Auswärtigen Amts und des Entwicklungsministeriums, sondern auch durch eine gemeinsame Anstrengung im Kabinett zusätzliche außerplanmäßige Mittel
vom Finanzminister gibt, ist in diesem Fall auf eine gute
Zusammenarbeit des Auswärtigen Amts und des Entwicklungsministeriums zurückzuführen.
({3})
Hoffentlich ist das eine Tendenz für weitere gemeinsame
strategische Anstrengungen.
({4})
Wir wissen, dass bei der Erreichung der Millenniumsziele noch sehr große Herausforderungen bewältigt werden müssen. Die Weltbank hat errechnet, dass die Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit verdoppelt werden
müssen.
({5})
Dieses ehrgeizige Ziel ist nur zu erreichen, wenn es weitere Akteure gibt und wenn die Privatwirtschaft stärker
in die Pflicht genommen wird. Aber es muss auch neue
Finanzierungsinstrumente im Bereich der Haushaltsmittel für verstärkte Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit geben.
Am 20. September dieses Jahres treffen sich in New
York auf Einladung des brasilianischen Präsidenten Lula
mehrere Staatsoberhäupter, um über innovative Finanzierungsinstrumente im Kampf gegen den weltweiten
Hunger nachzudenken. Ich erwarte von der deutschen
Regierung, dass sie mit konkreten Vorschlägen nach
New York reist. Denn ohne neue Finanzierungsquellen
zu erschließen, werden wir die gigantischen Herausforderungen nicht schultern können.
({6})
- Da bin ich ganz anderer Meinung.
Ich bringe jetzt noch ein Instrument in die Diskussion,
das vielleicht auch Sie schlimm finden. Die Diskussion
um eine Devisenumsatzsteuer, um die Tobin Tax, und
die Diskussion um eine weltweite Quellensteuer sollten
wieder belebt werden. Es gibt hierzu Beschlüsse des belgischen Parlaments und überraschenderweise auch eine
neue Initiative der indischen Regierung. Das könnte
dazu beitragen, dass dieses Thema wieder neu auf die
Agenda gesetzt wird. Die Bundesrepublik Deutschland
sollte die Diskussion um neue Finanzierungsinstrumente, einerseits um die Tobin Tax und andererseits um
die Weltquellensteuer, aber auch die Diskussion um die
Einführung von Nutzungsentgelten für öffentliche Güter
wieder beleben. Wir brauchen diese neuen Finanzierungsinstrumente, um im Kampf gegen den Hunger bestehen zu können.
({7})
Eine Entwicklungspolitik, die die Kluft zwischen
Arm und Reich verringert, die die Zahl der Hungernden
drastisch senkt, die die natürlichen Ressourcen schont
und die die biologische Vielfalt erhält, damit auch nachfolgende Generationen auf unserem Planeten leben können, eine solche Entwicklungspolitik stellt keine Almosen zur Verfügung, sondern leistet wichtige und
wertvolle Investitionen in unsere gemeinsame Sicherheit
und in unsere Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Löning.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
hier schon mehrfach die ODA-Quote angesprochen worden. Heute Morgen hat der Bundeskanzler in seiner
Rede einen bemerkenswerten Satz gesagt, den ich hier
sinngemäß zitieren will. Er sagte: Deutschland hält seine
internationalen Verpflichtungen auf Punkt und Komma
ein. Das finden wir lobenswert; das ist eine richtige Einstellung für eine Bundesregierung.
Bloß, ich muss ehrlich sagen: Hier im ganzen Haus
glaubt doch niemand ernsthaft - außer vielleicht Frau
Schulte -, dass wir es schaffen, bis zum Jahr 2006, wie Sie
auf internationaler Ebene zugesagt haben, 0,33 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben.
({0})
Dies würde bedeuten, dass der Etat von 2005 auf 2006
um 1 Milliarde Euro aufgestockt werden müsste. Es ist
doch eine Illusion und ein Vorgaukeln falscher Tatsachen, was Sie da betreiben, Frau Ministerin. Es ist nicht
in Ordnung, mit unseren internationalen Partnern so umzugehen.
({1})
Ich fordere Sie hier auf: Anstatt an dieser Illusion
festzuhalten, sollten wir lieber darüber diskutieren, wie
wir mit dem Geld, das vorhanden ist - wenn es ein bisschen mehr ist, ist es ja in Ordnung -, vernünftig und zielgerichtet umgehen.
({2})
Ich glaube, das wäre für die internationale Glaubwürdigkeit Deutschlands sehr viel besser, als an dieser Fiktion
festzuhalten.
Dass die Weltgemeinschaft bis 2015 die Halbierung
der Armut erreichen will, ist ehrgeizig, aber ein wichtiges Ziel für die Weltgemeinschaft; deswegen will ich das
hier ausdrücklich betonen. Das ist ein Signal gerade
auch von uns Industrieländern an die Entwicklungsländer; denn es gibt keine Menschenwürde in Armut. Es ist
wichtig, dass wir an diesem politischen Ziel festhalten.
Dieses Ziel unterstützen selbstverständlich auch die
Freien Demokraten uneingeschränkt.
Was wir nicht unterstützen, sind die Politikansätze,
mit denen Sie versuchen, das zu betreiben. Ich glaube,
die entsprechenden Ansätze im Haushalt sind falsch gewählt. Es wird nämlich nicht danach geschaut, was in
den letzten Jahren erfolgreich war, sondern das gemacht,
was in der Öffentlichkeit gut ankommt und was man dort
hören will. Es wird nicht danach geschaut, wo Länder erfolgreich waren.
Ich will hier ein Beispiel nennen: Indien ist seit
40 Jahren Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Indien empfängt in der Summe
den größten Anteil deutschen Entwicklungsgeldes überhaupt. Indien hat bei der Bekämpfung der Armut seit
Anfang der 90er-Jahre Erfolg, seit die indische Regierung dazu übergegangen ist, mutige Wirtschaftsreformen
einzuleiten, Marktwirtschaft und freiem Handel mehr
Raum zu geben und den Menschen die Freiheit zu geben, ihren Unternehmensgeist und ihre Kreativität umzusetzen und sich selbst ihr Geld zu verdienen.
Es ist nachgewiesen - es gibt da Untersuchungen von
der Weltbank, von der KfW und von vielen anderen
Institutionen -, dass zu dieser sehr erfolgreichen Reduzierung der Armut in Indien all die Armutsbekämpfungsprogramme im Rahmen der Entwicklungshilfe leider nichts beigetragen haben. Wir müssen uns dieser
Wahrheit stellen und umstrukturieren. Statt für Programme, von denen wir wissen, dass sie keinen Erfolg
haben, sollten wir das Geld für vernünftige Vorhaben
ausgeben, die den Leuten helfen, ihre Armut zu überwinden.
Wir brauchen Beratungsprogramme im politischen
Bereich und Beratung zur Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit sowie für die Entwicklung von Marktwirtschaft und freiem Handel. Das ermöglicht den Menschen, ihre Armut aus eigener Kraft zu überwinden.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle noch etwas anderes in Bezug auf Indien sagen. Indien hat im Bereich der Softwaretechnologie in den letzten Jahren eine beeindruckende Entwicklung genommen. Es ist dabei, in anderen
Technologiebereichen genauso beeindruckende Entwicklungen zu nehmen. Es gibt ein eigenes Ministerium
für Biotechnologie. Die Inder sind sich darüber klar,
dass sie im wissenschaftlichen Bereich mithilfe der besten Köpfe, die sie haben, und mithilfe von viel Geld sehr
viel erreichen können, dass sie damit ihr Land nach
vorne bringen können. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich finde
außerordentlich unterstützenswert, was die indische Regierung da macht.
Aber es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass die indische Regierung Geld und Know-how in die Entwicklung von Spitzentechnologie und in die Entwicklung
ihres Landes steckt, gleichzeitig aber die Armutsbekämpfung im eigenen Land von uns gemacht wird. Ich
halte das für ein krasses Missverhältnis. Wir müssen den
Eliten sagen: Das müsst ihr selber leisten. Ihr habt die
Ressourcen; ihr habt das Know-how. Es gibt in Indien
eine breite NGO-Landschaft, die sich mit Armutsbekämpfung beschäftigt. Die Inder müssen das alleine auf
die Beine stellen.
Wir müssen die Ehrlichkeit haben, zu sagen: Wir setzen das Geld, das wir für Indien ausgeben, für vernünftige Sachen ein. Es würde zum Beispiel sehr viel mehr
Sinn machen, die politischen Stiftungen mit mehr Geld
auszustatten, um politische Beratung zu ermöglichen. Es
würde sehr viel mehr Sinn machen, im wissenschaftlichen Bereich eine engere Kooperation zu suchen. Es
würde auch viel Sinn machen, mehr Stipendien von
deutschen Universitäten an indische Studenten zu vergeben, um die Austauschmöglichkeiten zu verbessern.
({4})
Ähnliches könnte man im Übrigen über China sagen.
China empfängt nach wie vor den zweitgrößten Anteil
deutscher Entwicklungshilfe. Frau Ministerin, es ist
doch ein Treppenwitz der Geschichte, dass ein Land, das
einen Taikonauten für 2 Milliarden Euro ins All schickt,
von uns Entwicklungshilfe bekommt. Ich kann das gegenüber meinen Wählern nicht vertreten. Ich finde es
nicht richtig, das zu machen.
({5})
Wir müssen den Chinesen sagen: Ihr könnt es selber. Tut
es selber! Dabei habt ihr unsere volle Unterstützung.
Aber das Geld brauchen wir für eine andere Art von Zusammenarbeit.
In diesem Zusammenhang kann man zum Beispiel
den Rechtsstaatsdialog unterstützen. Aber Armutsbekämpfungsprogramme, wie Sie sie betreiben, gehen in
die falsche Richtung.
({6})
Wir brauchen in der Entwicklungspolitik - das ist
schon angesprochen worden - eine regionale und sektorale Neusortierung vieler Bereiche. Es ist richtig, dass
es Länder gibt, die unserer Unterstützung bedürfen, besonders in Afrika. Der Stichpunkt Aids wurde genannt.
In solche Länder sollten die Mittel gehen. Wir müssen
den Mut aufbringen, Ländern, die es aus eigener Kraft
geschafft haben, zu sagen: Ihr könnt es alleine. Ihr
braucht unser Geld nicht mehr. Wir konzentrieren die
Mittel auf die, die sie wirklich brauchen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir ziehen heute Bilanz über sechs Jahre rot-grüner Entwicklungszusammenarbeit. Diese Bilanz wird in der Tat
öffentlich nicht so intensiv diskutiert wie andere Teilbilanzen, sie fällt aber genauso katastrophal aus wie die
rot-grüne Regierungspolitik insgesamt.
({0})
Sie planen gegenüber 2004 - ungeachtet aller Zahlentricksereien, die Sie auch in anderen Bereichen vornehmen - eine weitere Kürzung der entwicklungspolitischen Ausgaben. Ihr Etatansatz für 2005 liegt um circa
220 Millionen Euro unter dem des Jahres 1998, dem
letzten Haushalt, den eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung zu verantworten hatte.
({1})
Der Kollege Hoppe hatte in der ihm eigenen, wie ich
finde: sehr erfrischenden Ehrlichkeit auf das Unbehagen
hingewiesen, das ihn dabei treibt. Es stände Ihnen gut
an, dieses Unbehagen zu teilen und auch die politischen
Konsequenzen daraus zu ziehen.
Diese Entwicklung ist schon deshalb überaus bedauerlich, weil die Entwicklungszusammenarbeit in den
letzten Jahren bekanntlich einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs erlangt hat. Sie ist als dritte wichtige
Säule neben die Außen- und Sicherheitspolitik getreten.
Sie ist unverzichtbar für die Armutsbekämpfung und den
Aufbau funktionsfähiger Staats- und Gesellschaftssysteme insbesondere in ehemaligen Kriegs- oder Bürgerkriegsländern. Dies zeigen nicht zuletzt die aktuellen
Entwicklungen in Afghanistan, im Kosovo und im Irak.
Die kontinuierliche Kürzung des Entwicklungshaushalts
ist daher ein geradezu fataler Schritt in eine falsche
Richtung, da sie unseren eigenen außen- und sicherheitspolitischen Interessen eklatant zuwiderläuft.
({2})
Rot-Grün versucht zwar - auch das erleben wir seit
Jahren - immer die Flucht durch die argumentative Hintertür, es komme nicht so sehr auf die Quantität als auf
die Qualität der Entwicklungszusammenarbeit an. Im
Grundsatz ist das auch richtig, nur hat sich auch die
Qualität deutscher Entwicklungszusammenarbeit in
den letzten sechs Jahren markant verschlechtert.
({3})
Ich will nur ein paar Beispiele in Erinnerung rufen.
Das Aktionsprogramm 2015 zur Armutsbekämpfung muss ehrlicherweise bereits drei Jahre nach seiner
Verkündung als weitgehend gescheitert betrachtet werden.
({4})
Wir begrüßen zwar, dass die Bundesregierung erstmals
einen ressortübergreifenden Ansatz für die Bekämpfung
der Armut anstrebt. Doch kommt das Programm über
den Zustand des Deklaratorischen leider kaum hinaus.
Auf einen Umsetzungsplan für die sehr allgemein formulierten Zielsetzungen warten wir bis heute vergebens.
({5})
Es ist der rot-grünen Bundesregierung auch nicht gelungen, auf die fortwährenden Kürzungen im BMZ-Etat
mit regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzungen erfolgreich zu reagieren. Ein reines, mehr oder weniger erratisches Gießkannenprinzip kann nicht die geeignete Antwort sein. Ungeachtet ihrer eigentlichen
Bedeutung für die Armutsbekämpfung gewährt die Bundesregierung gerade Sektoren wie Bildung und Gesundheit eine immer geringere finanzielle Unterstützung.
Als CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützen wir
mit Nachdruck Entschuldungsinitiativen. Allerdings
laufen diese ins Leere, wenn die gewonnenen finanziellen Ressourcen nicht zur Bekämpfung von Armut verwendet, sondern anderweitig missbraucht werden.
({6})
Leider hat es die Bundesregierung oftmals unterlassen,
die Entschuldung an diese Bedingung zu knüpfen, und
hat damit zur weitgehenden Wirkungslosigkeit dieser
Maßnahmen beigetragen. Es drängt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer mehr der Verdacht auf, dass
Sie, weil Sie keine Mittel haben, die Sie in den BMZHaushalt einstellen können, versuchen, die Erhöhung der
ODA-Quote auf 0,7 Prozent bzw. 0,33 Prozent dadurch
schönzurechnen, dass Sie vor allem in die Entschuldung
gehen, und das ohne jeden Bezug zur Sachgerechtigkeit
solcher Maßnahmen.
({7})
Das halten wir für falsch; wir werden das auch in Zukunft entschieden kritisieren.
({8})
Selbst die Bundesregierung hat übrigens mittlerweile
erkannt, dass eine schlechte Koordination der vielfältigen Geberaktivitäten Effektivitäts- und Effizienzeinbußen nach sich zieht. Ihrer Ankündigung, auf Verbesserungen in diesem Bereich hinzuwirken, sind bisher
jedoch keine Taten gefolgt, die finanzielle Auswirkungen gehabt hätten.
Eine weitere, auch von der Bundesregierung erkannte
Baustelle ist die EU-Entwicklungszusammenarbeit.
Nun wäre gerade die Bildung einer neuen Kommission
ein Anlass gewesen, auch in Brüssel entschieden auf
eine effizientere Entwicklungsarbeit zu drängen.
({9})
Wo bleiben denn da Ihre Initiativen, meine Damen und
Herren?
({10})
Wir haben es deutlich als unser Ziel formuliert, dass
man - das legt doch die Struktur des BMZ und auch unserer Außenpolitik insgesamt nahe - die Entwicklungszusammenarbeit in Brüssel konzentriert und nicht in
viele Kommissionen aufteilt.
({11})
Wo sind in diesem Zusammenhang Ihre Initiativen? Sie
haben es geschafft, dass eine Partei, die bei der Europawahl 21 Prozent bekommen hat, wieder einen Kommissar stellt. Sie arbeiten aus innenpolitischen Gründen mit
allen Kräften daran, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Aber Sie sollten sich in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf anderes konzentrieren. Das wäre besser.
({12})
Diese Beispiele verdeutlichen, dass Rot-Grün auch in
diesem von den Menschen in unserem Land leider weniger beachteten politischen Bereich nicht seine Hausaufgaben erledigt und nicht in der Lage ist, hier ein gutes
Zeugnis vorzuweisen.
Dass die Unionsparteien sowohl in quantitativer als
auch in qualitativer Hinsicht bessere Vorschläge haben,
haben wir in der Vergangenheit deutlich gemacht und
das werden wir auch in Zukunft tun. Wir wollen in der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit und Armutsbekämpfung endlich effiziente Strukturen schaffen. Das
heißt auch, dass regionale Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit bei den Staaten gesetzt werden müssen, die stabile interne Rahmenbedingungen sicherstellen können. Anderenfalls droht eine Fortsetzung
der auch von Rot-Grün betriebenen Ressourcenverschwendung. Auch wollen wir andere sektorale
Schwerpunkte setzen, die sich mit der Verbesserung der
Regierungsführung und mit den Basissektoren Bildung,
Gesundheit und Energie beschäftigen, wobei wir eine
rein ideologisch motivierte Fokussierung auf erneuerbare Energien ablehnen.
Die Frau Ministerin hat eben die Anstrengungen angesprochen, die man in China unternehmen will, um den
Anteil regenerativer Energien zu erhöhen.
({13})
Das unterstützen wir. Aber dazu gehört auch, wie heute
in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen ist, dass chinesische Offizielle gerade in diesen Tagen angekündigt haDr. Ralf Brauksiepe
ben, in den nächsten 15 Jahren mindestens 30 neue
Kernkraftwerke zu bauen, und dass sie damit im weltweiten und europäischen Trend liegen.
({14})
Es macht also wirklich Sinn, in diesem Bereich auf einen
bewährten Energiemix zu setzen und sich nicht auf einzelne Bereiche zu fokussieren, die allein keine Lösung
sein können.
({15})
Wir machen uns nachdrücklich für die von Rot-Grün
ständig versprochene bessere Koordinierung der Geberaktivitäten stark. In diesem Zusammenhang fordern
wir Sie auch auf, endlich Maßnahmen zu unternehmen,
damit der Rückgang der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit gestoppt wird. GTZ und KfW müssen mit ihrer international hoch anerkannten Arbeit auch zukünftig
eine entscheidende Rolle spielen. Deswegen ist es nötig,
dass die Bundesregierung so schnell es geht Verhandlungen mit multilateralen Entwicklungsinstitutionen dahin
gehend führt, dass wir zukünftig nur noch die Organisationen bedienen, die Effizienz, Transparenz und Koordinierung garantieren können. Wir brauchen mehr bilaterale Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der
beschränkten Mittel, die wir haben.
({16})
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur den
Rat geben: Beschäftigen Sie sich ernsthaft mit unseren
Vorschlägen, anstatt, wie zuletzt durch die Ministerin
mit Blick auf die Politik der USA im Irak geschehen, mit
plumper antiamerikanischer Rhetorik auf sich aufmerksam zu machen. Frau Ministerin - das ist uns wirklich
ein dringendes Anliegen -, Sie vertreten noch für zwei
Jahre eine Institution, die Bundesregierung, die unabhängig von Personen in der Welt noch über eine gewisse
Restreputation verfügt.
({17})
In der Funktion der Juso-Bundesvorsitzenden müssten
Sie diese Rücksicht nicht nehmen. Aber benehmen Sie
sich gegenüber unseren wichtigen Bündnispartnern bitte
anders, als Sie es in Form Ihrer ständigen antiamerikanischen Ausfälle tun.
({18})
Damit beschädigen Sie unsere internationale Reputation
und unsere internationalen Interessen.
({19})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir sind jedenfalls fest entschlossen, Sie anknüpfend
an die erfolgreiche Politik, die wir in den 80er- und 90erJahren gemacht haben, auch weiterhin mit unseren Alternativen zu konfrontieren. Dann wird die Entwicklungspolitik auch wieder den Stellenwert bekommen,
der ihr gebührt.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef
Dzembritzki.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben soeben einen erfolgreichen Wadenbeißer,
aber einen wenig erfolgreichen Entwicklungspolitiker
erlebt. Das ist eigentlich ein bisschen schade, Kollege
Ruck, weil der Austausch bisher sehr kollegial war.
Manch kritische Bemerkung ist es ja auch wert, aufgenommen zu werden. Aber dann sollte man doch im Rahmen der Fachlichkeit bleiben und die Dinge nicht verdrehen.
({0})
Herr Brauksiepe, da Sie uns den Haushalt vorhalten,
sage ich Ihnen: Jeder von uns wäre glücklicher, wenn die
Summe noch etwas höher ausfallen würde. Als Sie seinerzeit die Regierung übernommen haben, haben Sie
von uns eine ODA-Quote von 0,47 Prozent übernommen. Als Sie uns das Ressort dann zurückgegeben haben, lag sie bei 0,26 Prozent. Wir haben eine Steigerung
auf 0,28 Prozent erreicht und wollen 0,33 Prozent. Das
ist unbestreitbar. Aber wir dürfen doch die objektiven
Probleme nicht so verdrehen, so außer Acht lassen, wie
Sie das hier tun.
({1})
Meine Damen und Herren, ich kann sehr wohl verstehen, dass der Kollege Hoppe schlaflose Nächte hatte,
nachdem er im Sudan gewesen ist. Aber wegen der
Haushaltsdiskussion hätte ich keine schlaflosen Nächte
gehabt, denn das Ressort liegt in guten Händen.
({2})
Wir haben den Wandel, der gerade im entwicklungspolitischen Bereich seit einigen Jahren weltweit zu verzeichnen war, mit unserem Haus, mit der Ministerin
Wieczorek-Zeul, mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hervorragend bewältigt. Anders als hier der Oppositionspolitiker Brauksiepe darstellen will, ist der Ruf
der Bundesrepublik doch gerade durch die exzellente
Entwicklungsarbeit in den zurückliegenden Jahren entscheidend verbessert worden.
({3})
Ich glaube, dass es eine richtige Entscheidung der internationalen Staatengemeinschaft war, für die Bekämpfung der weltweiten Armut konkrete Zielmarken zu
formulieren und sich an diesen zu orientieren. Wir dürfen doch nicht schon jetzt, im Jahr 2004, meinen, dass
das Ziel bis 2015 nicht erreichbar ist. Wir wollen es erreichen und wir müssen uns darum bemühen. Ich denke,
dass die Millenniumsziele, die hier klar formuliert worden sind, für uns weiterhin ein Auftrag bleiben.
({4})
Dass wir uns gleichzeitig den neuen Herausforderungen
wie der weltweiten Verbreitung von HIV/Aids sowie
dem völligen Zerfall von Staaten und der Bedrohung
durch internationalen Terrorismus zu stellen haben, ist
doch alles unbestreitbar und in diesem Haus auch Konsens.
Wir haben in den zurückliegenden Tagen wieder bitter
erlebt, dass einige Probleme, die uns seit Jahrzehnten begleiten, wie die fortschreitende Zerstörung der Naturressourcen durch Bevölkerungswachstum der ärmeren Länder und der ungezügelte Energie- und Rohstoffhunger,
der hier befriedigt wird, unsere klimatische Entwicklung weltweit beeinträchtigen. Ich finde es durchaus interessant, dass auch in den USA erneut Diskussionen
stattfinden, ob man sich im Zusammenhang mit dem
Kioto-Protokoll nicht doch anders entscheiden muss, als
man es bisher getan hat.
({5})
Ich finde, dass die Konsequenz, die wir aus den Herausforderungen und Problemen gezogen haben, um
unsere Ziele zu erreichen, nämlich in der Entwicklungspolitik von Einzelprojekten wegzukommen und überzugehen zu einer kohärenten, ressortübergreifenden Arbeit,
eine vernünftige Entscheidung ist; dies wird hier auch
getragen. Herr Kraus, Sie haben zu Recht die gute Nachbarschaft angesprochen, die wir - auch international pflegen wollen. Ich glaube, dass wir gerade mit der Arbeit unseres Ministeriums dieser guten Nachbarschaft
dienen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will hier unterstreichen, dass ich die Rede und die Art und Weise, wie
sich Frau Wieczorek-Zeul in Namibia eingebracht hat,
befürworte - wir Parlamentarier stehen inhaltlich dahinter -, und hier auch ein Wort des Dankes an die Ministerin richten.
({6})
Von Herrn Brauksiepe ist die Entschuldung angesprochen worden. Auch in diesem Bereich müssen wir
uns nicht verstecken: Ich denke nur an die PRSPs, die als
Instrument entwickelt und gehandhabt werden. Das sind
vernünftige Entscheidungen.
Ich bin dem Kollegen Löning dankbar, dass er nicht
nur die Erhöhung der finanziellen Mittel angesprochen
hat, sondern auch, wie die 3,8 Milliarden Euro, die zur
Verfügung stehen, genutzt werden. Wir haben uns um
Strukturpolitik zu kümmern und können auch hier als
Parlamentarier sagen, dass vernünftige strukturpolitische
Entscheidungen getroffen worden sind und mit auf den
Weg gebracht wurden.
({7})
Sie haben China und Indien angesprochen. Leider
reicht die Zeit in einer solchen Plenardebatte für eine
ausführliche Diskussion nicht aus. Ich bin der Meinung,
dass wir großen Diskussionsbedarf haben, dass wir aber
vorsichtig sein müssen bei der Beantwortung der Frage,
ob man hier noch Entwicklungszusammenarbeit praktizieren soll oder nicht. Das Ressort umfasst jedoch auch
den Bereich wirtschaftliche Zusammenarbeit.
({8})
Die Erfolge Chinas bei der Hungerbekämpfung zum
Beispiel beruhen gerade auf unserer Zusammenarbeit,
die wir mit diesem Land pflegen und führen.
In diesem Zusammenhang werden immer die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte angesprochen. Das
Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung unternimmt hier entscheidende Schritte im
Wege des Rechtsstaatsdialogs. Das ist ein Pfund, mit
dem wir wuchern können. Wenn man mit jungen Leuten
in den Universitäten in China diskutiert, dann merkt
man, dass diese Arbeit erfolgreich war. Dafür bin ich
sehr dankbar.
Wir hatten gerade mehr oder weniger das Vergnügen,
uns noch einmal mit der Situation in China auseinander
zu setzen. In den Gesprächen mit dem Gesundheitsminister ist zum Ausdruck gebracht worden, dass vor allem
in den Bereichen, in denen die Chinesen besondere Erfahrungen haben - nehmen Sie den Medizinbereich -,
eine Zusammenarbeit gesucht wird.
({9})
Eine solche Zusammenarbeit müssen wir pflegen. Wir
sind doch darauf angewiesen, mit Ländern wie Indien
und China eine hervorragende Kooperation und Zusammenarbeit zu haben. Ich denke, wir müssen bereit sein,
unsere Interessen zu formulieren. Unser Interesse ist es
eben, die Zukunftssicherung auch durch die Zusammenarbeit mit diesen Ländern zu betreiben.
({10})
- Herr Kollege Löning, ich denke, dass man im Dialog
vieles erörtern kann. Ich habe zum Beispiel in China darüber diskutiert, ob man nicht auch zu trilateralen Entwicklungskonzepten kommen kann. Warum denn auch
nicht? Wir sind doch nicht so borniert, zu sagen, dass wir
die Einzigen sind, die Weisheiten haben. Ich finde, daraus könnte man durchaus Honig saugen.
({11})
Die Sonne scheint hier so schön herein und blendet
mich, sodass ich Sie alle gar nicht mehr sehe. Leider
sehe ich aber die Uhr und sie läuft und läuft.
({12})
Nehmen Sie den Aidsfonds und die Arbeit, die von
uns hier geleistet wird. Im Zusammenhang mit den Etatdebatten habe ich mich noch einmal mit den Zahlen beschäftigt; Sie haben sie selbst. Wir erhöhen den Betrag
von 38 Millionen Euro auf 78 Millionen Euro. Schauen
Sie sich an, was zum Beispiel aus dem Europäischen
Entwicklungsfonds in den Aidsfonds geflossen ist! Es
handelt sich um eine dreistellige Millionensumme und
wir sind mit etwas über 23 Prozent daran beteiligt. Hier
ist also viel passiert.
Gerade mit Blick darauf, dass die Bundesregierung
ihre internationalen Aufgaben zu erfüllen und wahrzunehmen hat, sage ich: Ich glaube, dass wir uns in diesem
Bereich nicht zu verstecken brauchen und dass wir alle
miteinander einen guten Grund haben, das 0,33-ProzentZiel anzustreben, weil wir dann ein perfektes Ergebnis
hätten.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und schenke der CDU/CSU 23 Sekunden.
({13})
Dafür wird die schöne Sonne leider abgestellt.
Als Letzter in dieser Debatte hat der Abgeordnete
Peter Weiß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
in der Entwicklungszusammenarbeit eine erfreuliche
Tatsache, die man festhalten sollte, nämlich den Inhalt
des von der Frau Bundesministerin eingangs vorgetragenen Zitats des Weltbankpräsidenten Wolfensohn: Die
acht großen Millenniums-Entwicklungsziele, die
189 Staats- und Regierungschefs, unter ihnen der deutsche Bundeskanzler, im Jahre 2000 unterzeichnet haben,
und auch die Festlegung der Bundesregierung, als einen
ersten Schritt zur Erfüllung dieser Ziele den Anteil der
deutschen Entwicklungshilfeausgaben am Bruttonationaleinkommen bis zum Jahr 2006 auf 0,33 Prozent zu
steigern, finden uneingeschränkte Unterstützung. - Ich
finde, das ist eine erfreuliche Tatsache.
Für alle, die guten Willens an die Umsetzung dieser
Ziele gehen, gibt es aber eine große Enttäuschung, nämlich den vorliegenden Bundeshaushalt 2005. Frau
Bundesministerin, aufgrund dieses Haushalts sind alle
Aussagen betreffend das 0,33-Prozent-Ziel dieser Bundesregierung Schall und Rauch.
({0})
Das Merkwürdigste ist, wie Sie so kunstvoll mit Zahlen herumfabulieren. Sie erfinden eine Steigerung Ihres
Haus-haltsansatzes 2005 gegenüber 2004 dadurch, dass
Sie einfach eine globale Minderausgabe einrechnen. Sie
verspielen Ihre Kämpferqualitäten leider dafür - was Sie
meisterhaft verstehen -, in der öffentlichen Darstellung
aus einem Minus ein Plus zu machen, statt für eine Erhöhung der Entwicklungsgelder einzutreten.
({1})
Das ist das eigentlich Enttäuschende an dieser Haushaltsdebatte und der Art und Weise, wie Sie das finanzielle Desaster der deutschen Entwicklungszusammenarbeit öffentlich darstellen.
({2})
Zu Recht ist in der Debatte mehrmals erwähnt worden, dass man die hehren Zielsetzungen, zu denen sich
die Staats- und Regierungschefs mit den Millenniumszielen verabredet haben, auch dann, wenn die finanziellen Mittel so beschränkt sind, wie sie es sind, erreichen
könnte, wenn man sich darauf konzentriert.
Schaut man sich aber die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen des Bundeshaushaltes 2005 an, dann wird man
feststellen, dass die Mittel für die entwicklungspolitischen Handlungsfelder und -aktionen, die nachweislich
zur Armutsbekämpfung beitragen, nicht erhöht worden
sind und Sie die angeblich stärkere Armutsorientierung
im Bundeshaushalt dadurch erreichen, dass Sie unterschiedlichen Maßnahmen der indirekten Armutsbekämpfung, der so genannten strukturellen Armutsbekämpfung,
das Etikett „Armutsbekämpfung“ als Aufpepperle anheften, die dieses Etikett bisher nicht trugen.
({3})
Eine solche Art von Etikettenschwindel hilft uns nicht
bei der Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit und hilft vor allen Dingen den Ärmsten der Armen
dieser Welt nicht.
({4})
Ein weiterer Punkt. Wenn wir schon so wenig Mittel
zur Verfügung haben, dann sollte die Bundesregierung
dies unseren Partnern in Brüssel und New York mitteilen. Ich finde es beängstigend, in welchem Maße wir unsere eigene deutsche Handlungsfähigkeit einschränken.
Um in Brüssel und New York nicht den Offenbarungseid
leisten zu müssen,
({5})
steigern wir die Zuschüsse an die europäischen und internationalen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit um 73 Millionen Euro. Weil wir aber nicht
mehr Geld im Haushalt haben, kürzen wir um die gleiche Summe den deutschen Organisationen die Zuschüsse für ihre Arbeit.
Peter Weiß ({6})
Nun kenne ich die rechtliche Problematik. Aber wenn
ich erlebe, wie sich auch verehrte Kolleginnen und Kollegen aus den rot-grünen Koalitionsfraktionen, insbesondere wenn sie von Reisen zurückkommen, über die Ineffizienz des Einsatzes europäischer Entwicklungsgelder
beklagen, für die sie neue Beweise gefunden haben, und
wie auch immer wieder über die Ineffizienz der Arbeit
von UN-Organisationen berichtet wird, dann frage ich
mich: Welchen Sinn macht es, diejenigen, die wenig effizient sind, mit diesem Haushalt finanziell zu belohnen
und diejenigen, die anerkannt gut arbeiten, mit diesem
Haushalt finanziell zu bestrafen? Das kann niemand einsehen.
({7})
Die Bundesministerin hat zu Recht die erfolgreiche
Entwicklungszusammenarbeit der nichtstaatlichen, der
privaten Träger, der Kirchen, Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, angesprochen. In der Tat halte ich
es für bemerkenswert, dass uns die kirchlichen Hilfswerke trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen sich viele Menschen in Deutschland befinden, im
letzten Jahr wieder mehr Spendengelder für die Entwicklungszusammenarbeit einwerben konnten als im Vorjahr.
Diese beachtliche Leistung muss herausgestellt und
sollte belohnt werden. Nur stimmt Ihre Aussage nicht,
Sie würden die Arbeit dieser Institutionen stärker unterstützen, Frau Ministerin. Ich weiß nicht, welchen Haushalt Sie lesen; denn Sie halten sie nominell auf dem gleichen Stand.
Nach der Haushaltsdebatte in dieser Woche und nach
den Ankündigungen und Berechnungen des Herrn Bundesfinanzministers müssen wir damit rechnen, Herr
Staatssekretär Diller, dass Sie eine globale Minderausgabe von mindestens 3,4 Milliarden Euro in den
Haushalt 2005 drücken wollen. Egal, wie hoch die globale Minderausgabe im Haushalt 2005 ausfällt - es steht
ja schon eine drin -, es ist doch zu erwarten, dass Sie,
Frau Ministerin, wieder so verfahren werden wie in diesem Jahr, dass nämlich im Wesentlichen die Nichtregierungsorganisationen, die Kirchen, die Stiftungen und die
Personalfachdienste, diese globale Minderausgabe erwirtschaften müssen. Das heißt, dass deren Haushaltszahlen schon heute nicht stimmen. Das sollte man der
Ehrlichkeit halber sagen.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin der
Überzeugung, dass die Entwicklungspolitik eine echte
Renaissance erleben könnte, wenn wir weltweit eine Bewegung für die Milleniumsziele initiieren könnten. Ich
glaube, dass sich viele Menschen, die mittlerweile den
Glauben an und das Zutrauen in die Wirksamkeit der
Entwicklungspolitik verloren haben, wieder für diese
Aufgabe begeistern würden, wenn wir sie davon überzeugen könnten, dass im Rahmen der deutschen, der europäischen und der internationalen Politik die konkreten
Ziele - bis zum Jahr 2015 wollen wir die Zahl der Menschen in extremer Armut um die Hälfte reduzieren - tatsächlich umgesetzt werden sollen.
Ich halte es für eines der großen, wenn nicht für das
entscheidende Versagen von Rot-Grün, dass Sie mit Ihren Haushalten sowohl inhaltlich als auch konzeptionell
und finanziell diese großartige Chance, die wir eigentlich hätten, nicht wahrnehmen. Das ist leider die Negativbotschaft des Bundeshaushaltes 2005.
({9})
Die Kollegin Kortmann hat für eine Kurzintervention
um das Wort gebeten. - Bitte.
Zweck dieser Kurzintervention ist nicht, Herrn Weiß
anschließend noch drei Minuten für weitere Darstellungen zu überlassen, sondern ehrlich zu sagen, worüber
wir eigentlich reden, wenn wir über Entwicklungsfinanzierung sprechen.
Der erste Punkt betrifft die ODA-Quote. Detlef
Dzembritzki hat bereits darauf hingewiesen, dass sie zu
Beginn des Jahres 1982 0,47 Prozent betrug und dann
bis zum Jahr 1998 auf 0,26 Prozent abgesenkt wurde,
und zwar in wirtschaftlich guten Zeiten. Das müssen Sie
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:
({0})
In wirtschaftlich guten Zeiten haben die beiden damaligen Regierungsfraktionen dazu beigetragen, dass die
ODA-Quote systematisch gesenkt wurde. Meines Erachtens ist viel Gesundbeterei dabei, wenn Sie das jetzt kritisieren.
Ich bitte Sie, Ihrem Kollegen Kraus mitzuteilen, dass
zur Erreichung der ODA-Quote auch die Bundesländer
einen wichtigen finanziellen Beitrag leisten sollen. Der
Freistaat Bayern ist daran relativ wenig beteiligt. Er finanziert keine eigenen Entwicklungsvorhaben, er hat
keinen eigenen Ausschuss und keine eigenen Förderkriterien. Ich würde Ihnen aus nordrhein-westfälischer
Sicht gern ein bisschen Entwicklungshilfe leisten, damit
Sie sehen, wie man das besser machen kann.
Zweiter Punkt: Sie betonen hier die Priorität der
Entwicklungspolitik sehr stark, Herr Weiß.
Frau Kollegen, halten Sie jetzt einen richtigen Redebeitrag? Das ist eigentlich nicht Sinn einer Kurzintervention.
Nein, ich gehe auf die Punkte ein, die Herr Weiß genannt hat. Er sagte, die Bedeutung der Entwicklungspolitik müsse hervorgehoben werden. Ich frage mich
nur, warum auf der Website der Union unter den sechs
wichtigsten Politikfeldern die Entwicklungspolitik überhaupt nicht zu finden ist, nicht einmal unter dem kohärenten Ansatz von Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Also auch da mehr Märchen!
({0})
Zu den Steigerungsraten - heute ist mehrfach von
Halbzeitbilanzen geredet worden -: Eine Bilanz für die
Zeit von 1998 bis 2004 weist Steigerungsraten im Entwicklungshaushalt bei den Kirchen um 10 Prozent, bei
den politischen Stiftungen um 17 Prozent, bei der Sozialstrukturhilfe um 49 Prozent und bei den privaten Trägern um gar 75 Prozent aus.
Wenn Sie meinen - das als vierter Punkt -, die Finanzierung über Budgethilfe, wie Sie sie rühmen, vornehmen zu können, kann ich nur sagen: Die bisher geleisteten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Budgethilfe
bezeichnen die Ergebnisse als schlecht bis hin zu desaströs. Sie sagen, Großbritannien sei darin Vorreiter. Die
verabschieden sich von der Strukturhilfe, von personellem Angebot, von Monitoring und vom multilateralen
Ansatz, weil es nur noch um die finanzielle Bereitstellung geht. Statt heute zu sagen -
Frau Kollegin, das hat nicht den Charakter einer
Kurzintervention. Sie halten eine eigene Rede mit ausgearbeiteten Punkten. Das ist eigentlich nicht Sinn der
Sache. Außerdem ist die Zeit jetzt wirklich vorbei.
Ich habe das mitgeschrieben. Herr Weiß kritisierte bestimmte Entwicklungsfinanzierungsmodelle.
Dann kann Herr Weiß jetzt antworten.
Darf ich noch einen Satz hinzufügen?
Nein, die drei Minuten sind jetzt vorbei.
({0})
Herr Weiß, möchten Sie antworten?
Frau Kollegin Kortmann! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wer seit sechs Jahren die Bundesregierung
stellt, der sollte nicht immer noch Reden halten müssen,
bei denen er weit in die Vergangenheit hineingreift, um
sich für sein Handeln zu entschuldigen,
({0})
sondern er sollte durch eigene Erfolge für sich selber
sprechen können. Dass Sie das offensichtlich nicht tun
können, zeigt das Scheitern Ihrer Politik.
({1})
Erstens. Fakt ist, dass Sie die 0,33 Prozent - das ist ein
Versprechen dieser rot-grünen Bundesregierung - nicht
erreichen werden. Das müssen wir von der Opposition
mit Bedauern feststellen.
({2})
Zweitens. Die deutsche ODA-Quote, also die offizielle Hilfequote für Entwicklungsländer, setzt sich zu
78 Prozent aus den Beiträgen des Entwicklungsministeriums und zu 18 Prozent aus den Beiträgen des Auswärtigen Amtes zusammen. Das zeigt deutlich: Diese beiden
Elemente beeinflussen im Wesentlichen die ODAQuote, nicht die Beiträge von Bundesländern oder von
Gemeinden.
Deswegen ist die entscheidende Frage: Schafft es die
Bundesregierung mit ihren beiden wichtigsten Haushalten im Bereich der auswärtigen und der internationalen
Zusammenarbeit, die Mittel bereitzustellen, die zu einer
Steigerung der ODA-Quote notwendig sind? Ja oder
Nein?
({3})
Drittens. Die von Ihnen dargestellten Steigerungen
der Mittel für die Nichtregierungsorganisationen und
die Kirchen resultieren im Wesentlichen aus der Auflösung von Sondertiteln, was ich begrüße, und der Zuführung dieser Mittel in den Haushalt dieser Institutionen.
({4})
Deswegen muss ich betonen: Mit Taschenspielertricks
und Umrechnungsmodalitäten, wie Sie sie praktizieren,
werden die Mittel nicht erhöht.
({5})
Fakt ist: Mit dem Haushalt 2005 liegt die rot-grüne Koalition immer noch unter dem Ansatz des Jahres 1998, als
die letzte Bundesregierung unter Helmut Kohl einen
Haushaltsentwurf aufgestellt hat. Deswegen sind die
sechs Jahre rot-grüner Entwicklungspolitik keine Erfolgsstory, sondern leider ein Rückschritt. Das bleibt
festzustellen.
({6})
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung, weil weitere Wortmeldungen nicht vorliegen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 9. September
2004, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen einen schönen Abend, besonders
den Besuchern auf der Tribüne.
Die Sitzung ist geschlossen.