Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Heute feiert der Kollege Hans-Werner Bertl seinen
60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses sehr
herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
9 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1}): Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 15/3499 Berichterstattung:
Abgeordneter Eckart von Klaeden
({2})
10 Vereinbarte Debatte zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und zur Umsetzung der EUAgrarreform
11 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem
Gesetz zur Umsetzung der Reform der gemeinsamen
Agrarpolitik
- Drucksachen 15/2553, 15/2790, 15/2843, 15/3165, 15/3494 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller ({4})
12 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({5}) zu dem
Gesetz zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ({6})
- Drucksachen 15/2816, 15/2997, 15/3161, 15/3495 Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
13 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({7}) zu dem
Ersten Gesetz zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksachen 15/3046, 15/3223, 15/3297, 15/3496 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller ({8})
14 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem
Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung
- Drucksachen 15/2573, 15/2948, 15/3077, 15/3079, 15/3298,
15/3497 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg-Otto Spiller
15 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes ({10}) zu dem
Elften Gesetz zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes
({11}) und der Außenwirtschaftsverordnung ({12})
- Drucksachen 15/2537, 15/3076, 15/3304, 15/3498 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
16 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Haushaltsbegleitgesetzes 2005 ({13})
- Drucksache 15/3442 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Dann teile ich Folgendes mit: Der Ältestenrat hat in
seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass in der Haushaltswoche vom 6. September 2004 keine Befragung der
Bundesregierung, keine Fragestunden und keine Aktuellen Stunden stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler
Einigung der Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union auf eine europäische Verfassung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Redetext
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({15})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor 14 Tagen haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf die europäische
Verfassung geeinigt. Mir liegt daran, auch deutlich zu
machen, was das politische Umfeld, der politische Hintergrund dieser Einigung war und ist.
Sie wissen, dass wir den 60. Jahrestag des so genannten D-Day in Frankreich miteinander begangen haben.
Jeder hat gespürt, denke ich, dass die Franzosen und die
Deutschen, die beiden Völker, die so häufig blutige
Kriege gegeneinander geführt haben, einander so nahe
sind wie wahrscheinlich noch nie zuvor.
({0})
Was dort erreicht werden konnte, ist das Verdienst aller Bundesregierungen - ich betone: aller Bundesregierungen -, seit unsere Republik besteht. Es hat mich zutiefst berührt, wie sehr dieses Miteinander, das ja nicht
nur ein Miteinander der beiden Völker, sondern auch ein
Miteinander der beiden Völker für Europa ist, deutlich
geworden ist.
Ich spreche im Namen aller, denke ich, wenn ich
sage, dass der gleiche Prozess auch nach Osten hin erfolgen muss,
({1})
dass wir alles, was in unserer Kraft und in unseren Möglichkeiten steht, tun müssen, um gegenüber Polen, aber
nicht nur gegenüber Polen den gleichen Prozess der Versöhnung und des Miteinanders hinzubekommen.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass mich der
polnische Staatspräsident eingeladen hat, beim 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands in Polen dabei zu
sein. Es ist im Interesse des gesamten Hohen Hauses,
denke ich, wenn dabei genau dieser Aspekt erkennbar
wird; denn dabei wird dann auch deutlich werden, dass
es nicht nur um einen Prozess der Versöhnung zwischen
unseren beiden Völkern, sondern auch darum geht, dadurch der inhaltlichen Einheit Europas mehr Gestalt zu
geben.
Ich füge hinzu: Im nächsten Jahr wird insbesondere in
Russland der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten
Weltkrieges begangen werden. Ich glaube, auch darin
liegt eine Möglichkeit - wo immer denkbar, werden wir
sie zu nutzen versuchen -, den Versöhnungsprozess mit
diesem so großen und wichtigen Land, das auch uns
nahe ist, einzuleiten und voranzubringen.
({2})
Auch das hat mit der europäischen Einheit zu tun; denn
es wird auf diesem Kontinent keine dauerhafte Sicherheit, keinen dauerhaften Frieden und kein dauerhaftes
Wohlergehen für seine Menschen geben können, wenn
es nicht gelingt, Russland auf Dauer durch eine ganz
enge Partnerschaft mit der Europäischen Union zu verbinden. Daran zu arbeiten ist genauso wichtig wie die
Fortführung und Gestaltung des Prozesses der inneren
Einheit in der Europäischen Union.
Vor diesem Hintergrund - politisch, aber auch emotional - haben die Diskussionen um die europäische Verfassung stattgefunden. Ich finde, der Beschluss über die
Verfassung ist wirklich ein Meilenstein auf dem Weg zur
weiteren europäischen Integration. Deshalb ist der Beschluss über die Verfassung zu Recht ein Beschluss von
historischer Tragweite genannt worden.
({3})
Unmittelbar nach dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Südosteuropa zur Europäischen Union wird damit ein ganz wichtiges Zeichen gesetzt: Das größer gewordene Europa findet auch trotz
großer Meinungsunterschiede einen Weg zu einem Miteinander und wächst weiter zusammen. Das hat der Verfassungsprozess deutlich gemacht. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass dieses größer gewordene
Europa entscheidungsfähig und damit politisch führbar
bleibt. Auch dieser Aspekt der Verfassungsdiskussion
- das wird sich in den kommenden Jahren zeigen - darf
nicht kleingeredet werden. Er ist eminent wichtig; denn
es geht ja nicht nur darum, dass das einige Europa größer
wird, es geht auch darum, dass in ihm politisch effizient
gearbeitet werden kann.
({4})
Meine Damen und Herren, Anfang dieser Woche haben wir uns auf einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten verständigt. Ich brauche hier die
teilweise kontroversen Debatten nicht zu wiederholen;
Sie kennen sie alle. In der Person des portugiesischen
Ministerpräsidenten Barroso haben wir aber, wie ich
denke, einen fähigen Kandidaten gefunden. Mir liegt daran, deutlich zu machen, dass der Ministerpräsident Portugals wirklich mehr als eine Chance verdient, zu beweisen, dass er ein guter Kommissionspräsident sein wird,
der die Integration Europas voranbringt. Er kann sicher
sein, dass Deutschland ihn ohne Vorbehalte in seiner Arbeit unterstützen wird.
({5})
Wenn, was ich hoffe und worum ich auch bitte, das
Europäische Parlament ihn bestätigt, kann er mit ganzer
Energie an der weiteren Integration Europas arbeiten,
genauso wie wir das in der Verfassung festgelegt haben.
({6})
- Herr Glos, wollten Sie noch über den Kommissionspräsidenten mit mir reden?
({7})
- Ja, das war nicht einfach nur ein Erkenntnisprozess,
sondern in diesem Prozess war auch auf Machtverhältnisse in Europa zu reagieren.
({8})
Das ist gar keine Frage. Diese Tatsache zeigt, dass man
unter den gegebenen Verhältnissen verantwortlich mit
solchen Fragen umgehen muss.
({9})
Ob allerdings alle Ihre Erwartungen, Herr Glos, erfüllt
werden, dessen bin ich mir nicht so ganz sicher. Möglicherweise wird es zu gegebener Zeit, aber sicher nicht
von mir angestoßen, eine Debatte über die Frage geben,
ob die parteipolitische Politisierung solcher Prozesse
wirklich sinnvoll ist. Auch das ist nicht ausgemacht.
({10})
Mein ganz besonderer Dank gilt Irlands Premierminister Bertie Ahern. Es waren sein Einsatz und das Verhandlungsgeschick der irischen Präsidentschaft, die diesen Erfolg möglich gemacht haben.
({11})
Natürlich ist der Verfassungstext ein Kompromiss.
Wie sollte es auch anders sein? Auch ich hätte mir die
eine oder andere Formulierung und den einen oder anderen Artikel anders vorstellen können. In der Frage der
Mehrheitsentscheidungen oder bei der verstärkten Zusammenarbeit wären wir gern weiter gegangen; aber das
war politisch nicht durchführbar, weil nicht durchsetzbar.
Ebenso ist über die - auch hier im Hohen Haus diskutierte - Frage des Gottesbezuges in der europäischen
Verfassung sehr intensiv debattiert worden. Ich habe
mich in dieser Frage immer dafür eingesetzt, dass die
Verfassung eine Präambel erhält, in der der Bezug zur
christlichen Tradition stärker zum Ausdruck kommt, als
es schließlich erreicht worden ist. Die Präambel der jetzt
beschlossenen Verfassung enthält im ersten Satz den
Hinweis auf das kulturelle, religiöse und humanistische
Erbe Europas.
Wie gesagt, ich hätte gerne eine weiter gehende Formulierung gehabt, eine Formulierung zum Beispiel, die
die griechisch-römischen, die jüdisch-christlichen und
die humanistischen Traditionen und Überlieferungen unseres Kontinents klarer zum Ausdruck bringt. Sie wissen, dass das weder im Konvent noch in der Regierungskonferenz konsensfähig war. Es gibt in Europa ganz
besondere laizistische Traditionen, die mit der Geschichte einzelner Länder sehr verwoben sind und auf
die Rücksicht zu nehmen ist, zumal dann, wenn man,
wie bei dem Verfassungstext notwendig, Einheitlichkeit,
also Einstimmigkeit erzielen muss.
Ich finde gleichwohl, die europäische Verfassung, auf
die wir uns geeinigt haben, ist alles in allem ein guter
Kompromiss.
({12})
Am Ende haben wir einen Interessenausgleich erreicht,
der dem hohen Anspruch, dem eine Verfassung genügen
muss, gerecht wird.
Diese Verfassung war von Anfang an ein Projekt, das
ganz maßgeblich von Deutschland vorangetrieben worden ist. Die Bundesregierung ist stets dafür eingetreten,
die europäische Einigung durch eine europäische Verfassung zu festigen und sie auf dieser Basis fortzuentwickeln. Beharrlich und geduldig haben wir auf dieses Ziel
hingearbeitet. Die ersten Schritte zur Verfassung haben
wir bereits während der deutschen Ratspräsidentschaft
im ersten Halbjahr 1999 getan. Beim Europäischen Rat
in Köln haben wir den Beschluss erreicht, eine Europäische Grundrechte-Charta zu erarbeiten. Wir haben uns
schon damals dafür eingesetzt, dieser Charta einen
rechtsverbindlichen Charakter zu geben. Das ist zunächst am Widerstand einiger Mitgliedstaaten gescheitert. Heute ist diese Grundrechte-Charta integraler und
rechtsverbindlicher Teil der europäischen Verfassung.
Damit sind diese Grundrechte für jeden Bürger Europas
unveräußerlich und auch einklagbar.
({13})
In Köln hatten wir außerdem eine so genannte kleine
Regierungskonferenz vereinbart, die dann im Dezember 2000 in Nizza ihren Abschluss fand. Dadurch sollte
die Europäische Union in die Lage versetzt werden, weitere Mitgliedstaaten aufzunehmen. Wie zuvor schon in
Maastricht und in Amsterdam sind jedoch auch in Nizza
wichtige Fragen unbeantwortet geblieben, zum Beispiel:
Wie sollten die Kompetenzen zwischen den nationalen
und der europäischen Ebene abgegrenzt werden? Wie
muss die Macht zwischen den Brüsseler Institutionen
verteilt werden? Welche Rolle kommt den nationalen
Parlamenten in einer erweiterten Union zu? Schließlich
ging es um die Frage nach der politischen Führbarkeit einer Union mit 25 und bald mehr Mitgliedstaaten.
Durch eine gemeinsame deutsch-italienische Initiative ist es in Nizza dann gelungen, den Verfassungskonvent ins Leben zu rufen. Die Einrichtung eines Konvents, der sich aus Abgesandten der Regierungen und
der Parlamente zusammensetzt, hat sich - ich glaube,
das ist eindeutig - bewährt. Deswegen sollte diese Methode demokratischer Konsultationen auch bei künftigen
Vertragsänderungen, soweit sie nötig werden, angewandt
werden.
({14})
Mehrere wichtige deutsch-französische Initiativen haben die Arbeiten des Konvents geprägt. Dazu gehört der
Beitrag über die institutionelle Architektur der Union,
den ich gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten im Januar 2003 vorgelegt habe. Viele der
deutsch-französischen Vorstellungen sind in die Verfassung eingegangen. Das gemeinsame Auftreten Deutschlands und Frankreichs im Konvent und in der Regierungskonferenz hat erneut gezeigt: Die deutschfranzösische Partnerschaft ist unersetzlich: für die beiden Länder und deren Völker, aber vor allen Dingen
auch für den Prozess der Einigung Europas.
({15})
Fortschritte bei der europäischen Integration kann und
wird es immer dann geben, wenn sich Deutschland und
Frankreich so einig wie möglich sind.
Auch das ist zu sagen: Es gäbe heute keine europäische Verfassung ohne die großartige Arbeit des Konvents und insbesondere ohne die Arbeit und die Entschiedenheit von Präsident Valéry Giscard d’Estaing.
({16})
Ihm, der diesen Konvent geführt hat, gilt deswegen unser besonderer Dank.
Die zehn Beitrittsländer waren von Anfang an gleichberechtigt dabei. Sie waren auch gleichberechtigt an der
Regierungskonferenz beteiligt. Viele meiner Kollegen
waren anfangs skeptisch, ob eine tragfähige Einigung
von 25 Mitgliedstaaten gelingen könnte. Am Ende haben
sich alle bewegt. Das zeigt: Erweiterung einerseits und
Vertiefung andererseits müssen keine Gegensätze sein.
Sie sind gleichermaßen wichtig für den Einigungsprozess in Europa und dafür, dass Europa seine Rolle in der
Welt spielen kann.
({17})
Erweiterung und Vertiefung sind - es ist mir wichtig,
dass das deutlich wird - zwei Seiten einer Medaille.
Ich will noch zwei Persönlichkeiten besonders danken. Besonderer Dank gebührt dem polnischen Ministerpräsident Belka und dem spanischen Ministerpräsidenten
Zapatero. Beide haben das europäische Gesamtinteresse
eben nicht aus den Augen verloren, als sie in Einzelfragen auch für die Interessen ihrer Länder gekämpft haben.
({18})
Bei den institutionellen Kernfragen haben wir Lösungen gefunden, um die Handlungsfähigkeit - das heißt
immer auch: die Entscheidungsfähigkeit Europas
sicherzustellen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die
doppelte Mehrheit. Es war richtig, dass Deutschland an
diesem Prinzip festgehalten hat. Auch das wurde erst
möglich, nachdem wir uns nach Nizza mit Frankreich
auf dieses Prinzip geeinigt hatten. Wie gesagt: Die doppelte Mehrheit ist von zentraler Bedeutung. Sie macht es
nicht nur leichter, Beschlüsse zu fassen - auch das ist
eine Menge wert -, sondern dadurch bringt die Europäische Union auch ihren doppelten Charakter zum Ausdruck: als Union der Staaten und als Union der Bürgerinnen und Bürger. Die Staatenmehrheit unterstreicht die
Gleichberechtigung aller Mitglieder. Ohne sie wird auch
in Zukunft keine Entscheidung in Europa fallen. Das zusätzliche Erfordernis einer Mehrheit der Unionsbürger
verwirklicht das zentrale Prinzip, das in jeder Demokratie selbstverständlich ist: ein Bürger - eine Stimme.
({19})
Ich will nicht verhehlen, dass Deutschlands Stellung
innerhalb der Union durch die doppelte Mehrheit aufgewertet wird. Deshalb habe ich es für vertretbar gehalten,
im Rahmen eines Gesamtkompromisses auf einige Abgeordnete Deutschlands im Europäischen Parlament ab
2009 zu verzichten.
Auch in der Frage der künftigen Zusammensetzung
der Europäischen Kommission haben wir einen fairen
und guten Kompromiss gefunden. Für uns war wichtig,
dass ab 2014 die Anzahl der Kommissare deutlich verkleinert wird. Das war zu einem früheren Zeitpunkt
- wir hätten es durchaus für vernünftig gehalten - nicht
erreichbar. Besonders für die neuen Mitgliedstaaten
- das ist der Grund - ist es wichtig gewesen, dass sie auf
jeden Fall für zehn Jahre in der Kommission vertreten
sein werden.
Das ist gewiss ein Zugeständnis, aber ein vertretbares;
zum einen, weil die Union den Ausgleich zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten braucht, und zum
anderen, weil mitunter gerade den Beitrittsländern Ostund Mittelosteuropas der Verzicht auf ihre neu gewonnene Souveränität schwerer fällt als den anderen Ländern, für die das bereits eine historische Selbstverständlichkeit geworden ist. Diese Länder haben die
Erfahrung, die wir in Deutschland gemacht haben, noch
vor sich, dass nämlich Europa und die Abgabe von Souveränität an Europa zugleich Bedingung und Motor unserer Freiheit sind. Es wäre fatal, wenn wir ihnen - sei es
auch nur symbolisch - die volle Teilhabe verwehrten;
denn wir wollen, dass sie Europa nicht nur als gemeinsamen Markt, sondern als das große gemeinsame politische Projekt der Zukunft ansehen.
({20})
Die Verfassung weitet den Anwendungsbereich von
Mehrheitsentscheidungen erheblich aus. Wir, die Deutschen, hätten es gern gesehen, wenn Europa in dieser
Frage noch weiter hätte gehen können, etwa in der Außen-, aber auch in der Steuerpolitik, insbesondere bei
den direkten Steuern. Das war jedoch gegen den Widerstand einzelner Mitgliedstaaten - hier handelt es sich
keineswegs um die neuen Mitgliedsländer, sondern um
diejenigen Länder, die schon lange dabei sind - nicht
durchsetzbar.
Das Europäische Parlament wird als Mitgesetzgeber
und gleichberechtigter Teil der Haushaltsbehörde neben
dem Rat deutlich gestärkt werden. Das Verfahren der
Mitentscheidung wird zum Regelfall in der Gesetzgebung. Damit stärken wir das demokratische Prinzip in
der Union. Die Bedeutung des Parlaments als Vertretung
der europäischen Bürgerinnen und Bürger wird gestärkt.
Diese Bedeutung muss nach außen deutlicher gemacht
werden. Um die europäische Integration nicht nur zu einer Sache des Verstandes, sondern auch zu einer Herzenssache der Menschen zu machen, brauchen wir nicht
weniger, sondern sehr viel mehr europäische Öffentlichkeit als bislang.
({21})
Für Justiz und innere Sicherheit bringt die Verfassung
wichtige Verbesserungen: beim Kampf gegen Terrorismus und grenzüberschreitendes organisiertes Verbrechen. Mit dem europäischen Außenminister und dem
europäischen diplomatischen Dienst kann Europa
seine gewachsene Verantwortung in der Welt besser
wahrnehmen. Vielleicht kann es nicht alle Erwartungen,
die in der Welt an Europa gestellt werden, erfüllen, aber
einige davon sicher besser als je zuvor. Die Rechte der
nationalen Parlamente werden durch einen Frühwarnmechanismus gestärkt, jedenfalls in den Fällen, in denen
das Prinzip der Subsidiarität verletzt zu werden droht.
Darüber hinaus schafft die europäische Verfassung
mehr Flexibilität, indem sie den Mitgliedstaaten mehr
Möglichkeiten für eine verstärkte, strukturierte Zusammenarbeit eröffnet. Auch dieser Punkt lag uns besonders
am Herzen; denn wir sind davon überzeugt, dass es einigen Ländern, die das wollen, möglich sein muss, bei der
Integration weiter und schneller voranzugehen als andere, wobei das Prinzip der Offenheit des Prozesses für
alle, die hinzukommen wollen, immer gewährleistet sein
muss.
({22})
Es war ein gemeinsames Anliegen von Bundesregierung, Opposition und Ländern, die Kompetenzen zwischen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten
klar abzugrenzen. Das ist mit den entsprechenden Regelungen in der Verfassung gelungen. Ein förmliches Vorschlagsrecht der Kommission gibt es nur dort, wo es
auch eine entsprechende europäische Kompetenz gibt.
Die Wirtschafts- und Finanzpolitik etwa ist und bleibt
Sache der Mitgliedstaaten. Dies wird übrigens von keiner Regierung bestritten. Deshalb kann die Kommission
auch künftig lediglich Empfehlungen zum Abbau des
Defizits in einem Mitgliedsland geben. Die Entscheidungsbefugnis bleibt weiterhin beim Rat.
Ungeachtet dessen brauchen wir in der neuen Kommission eine stärkere Querschnittskompetenz in Fragen,
die die Wirtschafts-, Innovations- und vor allen Dingen
die Industriepolitik betreffen. Es geht um das, was wir
uns in der Lissabon-Strategie als ökonomisches Zukunftsprojekt Europas vorgenommen haben.
Deshalb haben wir gemeinsam mit Frankreich und
Großbritannien angeregt, das Amt eines Wirtschaftskommissars mit einem erheblich gestärkten Verantwortungsbereich zu schaffen. Über diese Frage - es ist mir
wichtig, das zu betonen - wird der neu gewählte Kommissionspräsident, wenn er vom Parlament bestätigt und
vom Rat ernannt worden ist, in eigener Verantwortung
und souverän zu entscheiden haben. Es ist zwar berechtigt, Wünsche zu äußern. Aber es ist wichtig, die Entscheidungskompetenz des Kommissionspräsidenten immer deutlich werden zu lassen. Es geht uns bei dieser
Frage darum, die Kohärenz der Kommissionsvorschläge
mit Blick auf die Lissabon-Ziele zu verbessern. Dieser
Anregung stimmt übrigens die breite Mehrheit der Mitgliedstaaten durchaus zu.
Meine Damen und Herren, es ist darüber diskutiert
worden, wen Deutschland, das nur über einen Kommissar oder eine Kommissarin verfügen wird, in die Kommission schicken wird. Die Bundesregierung wird
Günter Verheugen als deutsches Mitglied der nächsten
Kommission vorschlagen.
({23})
Natürlich habe ich die kontroversen Debatten über diesen Vorschlag, die in der Öffentlichkeit geführt worden
sind, zur Kenntnis genommen. Ich möchte Ihnen nur so
viel sagen: Günter Verheugen ist wohl einer der Kommissare in der abtretenden Kommission, der sich wirklich überragende Verdienste durch seine Arbeit erworben
hat.
({24})
Niemand, aber auch niemand würde verstehen, wenn
ihm angesichts seiner Arbeit und seiner Erfolge als Erweiterungskommissar die Möglichkeit weiterer Arbeit in
der neuen Kommission verwehrt werden würde. Er hat
wirklich Herausragendes geleistet und ist bereits jetzt jemand, der sich um Europa verdient gemacht hat.
({25})
Um in Kraft treten zu können, muss die Verfassung
nun in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. In einigen Mitgliedstaaten wird es Volksabstimmungen geben.
Davor sollte sich niemand, dem an einem Ratifizierungsprozess gelegen ist, fürchten. Es sollte dort eine breite
Unterstützung geben.
Die Abstimmungen - ob im Parlament oder in direkter Demokratie - sind eine Gelegenheit, Gemeinsamkeiten in Europa deutlich werden zu lassen. In Deutschland
wird der Verfassungsvertrag entsprechend den Vorgaben
des Grundgesetzes in einem parlamentarischen Verfahren ratifiziert werden. Nach erfolgter Vertragsunterzeichnung wird die Bundesregierung die hierfür notwendigen Schritte zügig einleiten.
({26})
Europa braucht diese Verfassung, um dem gerecht zu
werden, was seine Bürgerinnen und Bürger von ihm
Frieden zu erhalten, Sicherheit zu gewährleisten, Wohlstand zu mehren und Solidarität zu üben.
Es war Jean Monnet, der bereits in den 50er-Jahren
die Idee einer europäischen Verfassung ins Gespräch gebracht hatte. Wie so vieles in Europa hat es auch dafür
ein schrittweises, beharrliches Vorangehen auf einem
langen Weg gebraucht. Die Einigung und die Vertiefung
Europas können nicht gleichsam von oben vorgegeben
werden. Wir alle in Europa, denke ich, können deshalb
sehr zufrieden sein mit dem, was am 18. Juni dieses
Jahres in Brüssel erreicht worden ist. Die europäische
Verfassung ist eine tragfähige und auch notwendige
Grundlage für ein Europa, das nun noch enger zusammenwachsen kann und zusammenwachsen wird.
Wir wollen dieses starke und geeinte Europa, auch
um unser europäisches Gesellschaftsmodell der Solidarität und der Teilhabe möglichst aller am Sagen und
Haben in Europa weiterzuentwickeln.
({0})
Das so gestärkte und so geeinte Europa wird dann auch
anderen in der Welt ein Partner sein, für eine Welt, in der
Gerechtigkeit und geteilter Wohlstand herrschen, für
eine Welt, in der vor allen Dingen kräftig für ein friedliches Zusammenleben der Völker gearbeitet wird.
({1})
Das ist leichter geworden mit der Verfassung. Sie ist eine
Basis für die weitere politische Arbeit - nicht mehr, aber
eben auch nicht weniger. Deshalb ist sie wichtig für uns
in Deutschland und für Europa.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor
14 Tagen ist es den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelungen, sich auf
den Text für eine Verfassung zu einigen. Wir begrüßen
das. Ich halte das für eine historische Zäsur für die Europäische Union. Es ist eine historische Zäsur zu einem
Zeitpunkt, an dem so etwas wie die Wiedervereinigung
Europas stattgefunden hat. Die Europäische Union hat
jetzt 25 Mitgliedstaaten; zwei werden in kurzer Zeit dazukommen. Da ist es richtig, dass der Versuch unternommen wird, Europa über die Wirtschafts- und Währungsunion hinaus auch die Gestalt einer politischen Union zu
geben. Ich halte das für einen wesentlichen Fortschritt.
Dieses wiedervereinigte Europa hat nun so etwas wie
eine Gründungsurkunde, ein Fundament, auf dem gearbeitet werden kann.
({0})
Ich möchte zwei Gründe nennen, warum das genau zu
diesem Zeitpunkt so wichtig ist: Erstens sind wir am Anfang des 21. Jahrhunderts in einer neuen Welt, in einer
Welt, die nicht mehr geprägt ist durch den Kalten Krieg,
sondern durch Globalisierung. Wenn die europäischen
Nationalstaaten in dieser Welt eine prägende Wirkung
entfalten wollen, wenn wir erreichen wollen, dass wir in
Europa mit unseren gemeinsamen Werten Einfluss auf
diese Welt nehmen, dann ist die Europäische Union dafür die richtige Größe. Vieles können Nationalstaaten
bewegen - das wird auch weiterhin so sein -, aber prägende Kraft in den Globalisierungsprozessen zu entwickeln, wird an vielen Stellen nur Europa gelingen. Dafür
ist dieser Verfassungsvertrag ein wichtiges Dokument.
({1})
Ich will einen zweiten Grund nennen: Wir alle haben
bei der Europawahl gespürt, wie schwierig es ist, die
Menschen davon zu überzeugen, für dieses Europa zur
Wahl zu gehen und ihre Stimmen abzugeben. Wir alle
haben erlebt, dass kleine Gruppierungen zum Teil erhebliche Chancen haben, sich in einer solchen Wahl zu profilieren. Deshalb muss es unser Ziel bleiben, dass dieses
Europa ein Europa der Bürger bleibt. Die Bürger müssen
verstehen, warum wir dieses Europa brauchen und welche Verantwortung es hat.
Wir haben das schon 1999 im Europawahlkampf gespürt. Bereits damals hatten CDU und CSU in ihrem
Europawahlprogramm auf der einen Seite die Forderung
nach der verbindlichen Festlegung der Charta der
Grundrechte verankert und auf der anderen Seite die
Aufgabe, die Zuständigkeiten in Europa in Form eines
Verfassungsvertrages zu ordnen. Dass es etwa zur Europawahl im Jahr 2004 gelungen ist, einen solchen Verfassungsvertrag durchzusetzen und ihm ein Gesicht zu geben, halte ich für eine große Leistung, die auch ganz
erheblich von CDU und CSU mit befördert wurde.
({2})
Ich schließe mich gerne dem Dank des Bundeskanzlers an die irische Präsidentschaft und vor allen Dingen
an den Präsidenten des Konvents an. Ich glaube, dass die
Methode des Konventes die richtige Methode war, um
die Verfassung erst einmal in Gang zu bringen; denn
wenn das nur innerhalb der Regierungskonferenz geschehen wäre, hätte es erheblich mehr Schwierigkeiten
gegeben. Deshalb ist Valéry Giscard d’Estaing, aber
auch unseren Vertretern in dem EU-Konvent in ganz besonderer Weise zu danken. Das Ergebnis dieses Konvents ist jetzt in großen Teilen im Verfassungsvertrag
verankert. Es war ein historischer Moment, als Giscard
d’Estaing sagen konnte: Wir haben mit allen Ebenen der
Politik in Europa gemeinsam ein Dokument erarbeitet.
Das sollte bei der Erarbeitung weiterer Dokumente in
Europa Schule machen.
({3})
Deutschland hat prägend gewirkt. Ich erinnere daran,
dass Roman Herzog die Charta der Grundrechte verhanDr. Angela Merkel
delt hat. Das war eine schwierige, aber auch lohnende
Aufgabe; denn auch dies trägt dazu bei, dass wir den
Bürgerinnen und Bürgern sagen können, welches die
verbindlichen gemeinsamen Werte Europas sind. Europa
wird durch diesen Verfassungsvertrag sehr viel demokratischer. Es ist wichtig, dass das Parlament die volle
Haushaltsbefugnis erhält. Damit bedeutet dieser Verfassungsvertrag für unsere Kolleginnen und Kollegen im
Europäischen Parlament einen Zugewinn an Klarheit
und Transparenz. Er ist aber auch für die Bürgerinnen
und Bürger im Lande ein Zugewinn, weil sie ihre Europaparlamentarier stärker dahin gehend befragen können,
welchen Einfluss sie im Europaparlament genommen
haben.
({4})
Unter dem Strich bedeutet auch das Prinzip der doppelten Mehrheit eine klare Entscheidungsgrundlage, einen Demokratiezuwachs. Allerdings wird es gar nicht so
einfach sein, den Menschen auf einer Versammlung zu
erklären, wie dieses Prinzip der doppelten Mehrheit genau funktioniert. Es gibt eine Reihe von Nebenbedingungen, die sicherlich keine Ausgeburt an Übersichtlichkeit sind. Vom Grundsatz her begrüßen wir das Prinzip
der doppelten Mehrheit. Es war ein schwieriger Prozess,
der aber, wie ich glaube, zu einem vertretbaren Ergebnis
geführt hat.
Meine Damen und Herren, der eigentliche Punkt - ich
komme zurück auf unser Europawahlprogramm von
1999 - war aber, zu klären, wer für was verantwortlich
ist, wie die Zuständigkeiten geordnet sind. Es ist ein
unglaublicher Fortschritt, dass sich nicht nur Deutschland, sondern alle Mitgliedstaaten der Europäischen
Union darauf eingelassen haben, sich mit dieser Frage zu
befassen. Nicht alle sind im Denken in Kompetenzen so
geübt wie wir aufgrund unserer föderalen Ordnung und
unseres Grundgesetzes. Am Anfang fand ein wirklicher
kultureller Prozess statt. Ich habe an vielen Gesprächen
teilgenommen. Die Europäische Volkspartei hat hier
Vorarbeit geleistet. Ein Dank an Wolfgang Schäuble und
Reinhold Bocklet, die immer und immer wieder mit unseren Freunden darüber diskutiert haben, warum man
diese Kompetenzordnung braucht.
({5})
Es ist ganz wichtig, dass klar wird: Ziele im Verfassungsvertrag begründen allein keine Kompetenzen, sondern nur klare Einzelermächtigungen, und diese sind gegeben. Es gibt drei Kategorien von Kompetenzen: die
ausschließlichen Zuständigkeiten, die geteilten Zuständigkeiten und die ergänzenden Zuständigkeiten. Mit diesen drei Kategorien werden wir in Zukunft in Europa
arbeiten. Wir werden darüber wachen, dass nicht über
den Umweg der ergänzenden Zuständigkeiten eigene
Zuständigkeiten entstehen. Auch das ist wichtig für die
Klarheit und Transparenz in der politischen Arbeit zwischen den verschiedenen Ebenen.
({6})
Wenn man sich den Verfassungsvertrag genau anschaut, stellt man fest, dass es eigentlich gar nicht so
viele neue Zuständigkeiten gibt. Es gibt aber erhebliche
Erweiterungen. Bezüglich dieser Erweiterungen möchte
ich positiv hervorheben, dass man erhebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemacht hat. Angesichts des zeitlich eigentlich
recht kurzen Prozesses von Nizza bis jetzt ist insbesondere in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik erheblich mehr Klarheit entstanden. Ich begrüße außerordentlich - ich denke, das ist ein wichtiger Beitrag für
Europa -, dass man sich zum Beispiel auf eine Rüstungsagentur geeignet hat, dass man gesagt hat, man
wolle hier eng zusammenarbeiten. Das sind die Punkte,
in denen Europa noch prägen kann und sich nicht sozusagen auf Dauer in Abhängigkeit begibt. Ich halte das
für außerordentlich vernünftig.
({7})
Ich finde es auch wichtig und fast historisch, dass
man in der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung zum ersten Mal ganz eindeutig den Bezug zur
NATO herstellt - da ist ja viel erreicht, wenn man überlegt, dass nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen
Union Mitglieder der NATO sind - und damit die Wertegemeinschaft in der Verteidigungspolitik noch einmal
betont. Ich begrüße auch außerordentlich, dass es in Zukunft einen EU-Außenminister gibt, der das Gesicht
Europas in der Welt sein kann, was allerdings voraussetzt, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
dann auch bereit, willens und in der Lage sind, in wichtigen außenpolitischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen; ansonsten ist das Amt des Außenministers überflüssig.
({8})
Wenn man sich die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts
anschaut, dann ist sicherlich sehr hervorzuheben, dass
die Zusammenarbeit im Bereich der Innen- und Justizpolitik intensiviert wird. Sie geht jetzt über das rein intergouvernementale Management hinaus: Nicht nur die
Regierungen arbeiten zusammen, sondern es gibt hier
auch europäische Institutionen; ich halte das für wichtig.
Etwas skeptischer bin ich, ehrlich gesagt, bei den erweiterten Zuständigkeiten im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik.
({9})
Hier werden wir aufpassen müssen, dass daraus nicht ein
Mischmasch zwischen nationalen Kompetenzen und
europäischen Kompetenzen entsteht, aber auch das muss
sich einspielen.
({10})
Wir sind zufrieden, dass es gelungen ist, entgegen
dem EU-Konvents-Entwurf jetzt wieder deutlich zu machen, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik von den
Mitgliedstaaten und nicht von der EU koordiniert wird;
das war eine sehr unklare Formulierung. Ich glaube,
angesichts der Kompetenzverteilung ist es wichtig, dass
die Mitgliedstaaten dies tun, und das ist jetzt wieder sichergestellt.
({11})
Ich will ausdrücklich sagen, dass die Haltung der
Bundesregierung zum Stabilitätspakt nach wie vor undurchsichtig bleibt und dass alle Initiativen, die von der
Bundesregierung ausgegangen sind, im Grunde auf eine
Schwächung des Stabilitätspaktes hinausgelaufen sind.
({12})
Das findet nicht unsere Unterstützung.
({13})
Es ist selbstverständlich, dass man in einem Verhandlungsprozess nicht alle Ziele durchsetzen kann. Ich sage
aber für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass die
Frage der Verankerung der christlichen, jüdischen Wurzeln in einem solchen Verfassungsvertrag für uns auf der
Tagesordnung bleiben wird. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir, wenn Europa in einer globalen Welt eine
Rolle spielen will, gefragt werden: Was sind eure Wurzeln, was sind eure geistigen Grundlagen? Die Verankerung des christlichen Erbes ist für uns in diesem Zusammenhang nach wie vor ein Punkt, von dem wir nicht
ablassen werden und den wir in den nächsten Jahren immer und immer wieder vorbringen werden. Wir müssen
lernen, uns wieder zu unseren eigenen Wurzeln zu bekennen. Die Zeiten haben sich geändert.
({14})
Herr Bundeskanzler, ich kenne die französische und
die belgische Diskussion, aber ich glaube, dass sich die
Herausforderungen, vor denen wir stehen, seit der Zeit
der Aufklärung verändert haben. Deshalb müssen wir
die Diskussion wagen können, wie wir nach 200 Jahren
wirklicher Trennung von Kirche und Staat Europa durch
seine Verfassung wieder mit seinen Grundwerten verbinden. Das kann nicht sakrosankt sein, nur weil diese Trennung vor 200 Jahren einmal so festgelegt wurde. Ich bin
nicht unoptimistisch, dass wir an dieser Stelle Erfolge
erzielen können. Das ist ein dickes Brett, aber es lohnt
sich, dieses dicke Brett zu bohren.
({15})
Wir finden es positiv, dass sich die Zahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament künftig stärker
an der Bevölkerungsgröße der Mitgliedstaaten orientieren soll. Dass als konkrete Antwort auf dieses grundsätzliche Bekenntnis Deutschland nun drei Parlamentssitze
verloren hat, gehört nicht zum logischen Teil des Verfassungsvertrags, aber es war sicherlich im Zusammenhang
mit dem Gesamtkompromiss notwendig. Logisch erklärbar ist das vor Ort nicht, wenn wir davon schwärmen,
dass die Zahl der Parlamentssitze an die Bevölkerungsgröße gekoppelt ist.
({16})
Der Einfluss des Europäischen Parlaments bei der
Wahl des Kommissionspräsidenten hat in der Verfassungsdiskussion ebenfalls eine Rolle gespielt. Wir haben
schon 1999 nach der Europawahl gespürt, dass es für die
Menschen schwierig ist, zu verstehen, dass die Parteiengruppierung - bei der Europawahl werden nun einmal
Parteien gewählt, das ist halt so; das hat nichts mit Parteipolitik zu tun, sondern stellt die Grundlage der Wahlen dar -, die die stärkste Kraft ist, auf die Struktur und
das Aussehen der Europäischen Kommission keinen
Einfluss haben soll. Das können Sie in einer Demokratie
niemandem erklären.
({17})
Deshalb sind wir froh, dass es zumindest gelungen ist,
im Verfassungstext zu verankern, dass das Ergebnis der
Wahlen zum Europäischen Parlament bei der Auswahl
des Kommissionspräsidenten berücksichtigt werden
muss.
Dass sich die Staats- und Regierungschefs dem Geist
der zukünftigen Verfassung verpflichtet fühlen, ist mit
der Benennung des portugiesischen Ministerpräsidenten
zum Kommissionspräsidenten deutlich geworden. Ich
begrüße seine Benennung; sie macht uns das Erklären
von Europa sehr viel einfacher.
({18})
Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem etwas verächtlich gebrauchten Begriff des Parteipolitischen in
Europa sagen. Natürlich ist Europa - ich bin ausdrücklich Ihrer Meinung, dass Deutschland und Frankreich
Motor sein müssen - ein Europa der Länder, aber es ist
zunehmend auch ein Europa, in dem sich mit wachsender Integration die unterschiedlichen politischen Vorstellungen der Parteien widerspiegeln. Nicht umsonst haben
die Grünen eine europaweit einheitliche Kampagne gemacht. Sie wissen, dass sich ein Europa, in dem die Grünen die Mehrheit hätten, deutlich von einem Europa unterscheiden würde, in dem die Europäische Volkspartei
die Mehrheit hätte.
({19})
Eine sozialistische Kommissarin für Umweltfragen aus
Schweden macht eine ganz andere Politik als ein Umweltminister aus Österreich oder Italien. Das ist nun einmal so.
Wenn wir diese Vertiefung wirklich wollen, dann
können wir diesen Unterschieden nicht aus dem Weg gehen, sondern müssen uns dazu bekennen.
({20})
Herr Bundeskanzler, wenn die Lissabon-Strategie ein
Erfolg werden soll, wenn Europa im Jahr 2010 der dynamischste und wachstumsstärkste Kontinent der Welt sein
will, wird man um parteipolitische Auseinandersetzungen mit Sicherheit nicht herumkommen. Natürlich werden die Fragen, wie eine Chemierichtlinie oder eine
Biopatentrichtlinie aussehen soll und wie wir uns zur
Grünen Gentechnik verhalten wollen, kontrovers diskutiert werden. Wie sollte es auch anders sein? So ist es
doch auch in diesem Haus. Deshalb bekenne ich mich
ausdrücklich dazu, dass ein integratives vereintes Europa auch parteipolitisch unterscheidbar sein muss; das
halte ich für wichtig und richtig.
({21})
Meine Damen und Herren, es wird jetzt in den verschiedenen Mitgliedstaaten ein Prozess beginnen, in
dem wir uns ausführlich mit den Ratifizierungsfragen
befassen. Ich begrüße, dass die Rechte der nationalen
Parlamente in Deutschland - auch die des Bundesrates -,
sich bei Verletzung des Subsidiaritätsprinzips einzumischen und über Klagerechte zu verfügen, ausdrücklich
verankert sind. Das ist ein ganz wichtiger Bereich der
Kompetenzzuordnung.
Wir sollten im Ratifizierungsprozess unsere Rechte
deutlich machen. Ich glaube, das ist bei der erweiterten
Zuständigkeit, die wir in vielen Fragen haben, für das
Selbstverständnis dieses Hauses ganz wichtig. Wir brauchen - ähnlich wie in der Diskussion der Föderalismuskommission, in der wir abgegrenzte Zuständigkeiten von
Bund und Ländern und Entflechtungen wollen - auch
hier klare Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen dem
Europäischen Parlament und dem Bundestag. Wir müssen aber da, wo es notwendig ist, einhaken können. Genau über diese Frage werden wir im Zusammenhang mit
dem Ratifizierungsverfahren reden. Das ist für das
Selbstverständnis dieses Hauses von größter Bedeutung.
({22})
Europa werden komplizierte Jahre ins Haus stehen.
Die Zusammenarbeit zwischen den 25 Mitgliedstaaten muss sich erst entwickeln. Jeder von uns spürt in
den Gesprächen mit den Freunden in den neuen Mitgliedstaaten, wie schwer sich diese Länder damit tun,
Kompetenzen abzugeben, und wie sehr sie, nachdem sie
in den Beitrittsverhandlungen sehr viel akzeptiert haben,
darum ringen, nicht wieder überfordert zu werden. Es
wird kein gutes Europa geben, wenn zum Beispiel Polen
oder Tschechien diesem Verfassungsvertrag zum Schluss
nicht zustimmt. Deshalb liegt es in unserer Gesamtverantwortung, egal wer an welchem Ort arbeitet, diese
Länder zu überzeugen und nicht zu bedrohen.
Da liegt eine Gefahr. Natürlich müssen Deutschland
und Frankreich Motor sein. Es darf aber niemals - das ist
meine Bitte bezüglich des deutsch-französischen Verhältnisses - der Eindruck entstehen, wie der spanische
Regierungschef Zapatero es gesagt hat, dass es ein Direktorium für Europa gibt. Es muss eine Partnerschaft
zwischen allen Ländern geben, egal wie klein, groß, jung
oder alt sie sind. Alle haben die gleichen Traditionen.
Das muss der Geist von Europa sein.
({23})
Wenn das gelingt, dann wird sich der Abschluss der
Verhandlungen über die Verfassung als ein wirklicher
Meilenstein auswirken. Wir als Deutsche mitten in Europa haben als die größte Volkswirtschaft in diesem Zusammenhang eine übergroße Aufgabe. Wir wollen dazu
beitragen, dass diese Aufgabe erfüllt wird, und zwar
nicht, indem wir die Probleme unter den Tisch fallen lassen und alles schönreden - das wäre falsch für Europa
und das entspräche auch nicht dem Verständnis von einer
ehrlichen Politik -, sondern indem wir sagen: Wir brauchen Europa, um unsere Interessen in der Welt durchzusetzen. In diesem Sinne werden wir die Diskussion begleiten.
Herzlichen Dank.
({24})
Nächster Redner ist der Kollege Franz Müntefering,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
gerade gehört, dass ein Kollege, nachdem ich aufgerufen
wurde, sich auf Gott bezogen hat: oh Gott, oh Gott!
Dazu will ich gleich etwas sagen.
Frau Merkel, da Sie in Ihrer Rede nicht von so viel
Kontroversem gesprochen haben, will ich gleich die beiden kontroversen Dinge ansprechen, die ausgeräumt
werden müssen. Erstens haben Sie etwas zu dieser religiösen Formel, also zum Gottesbezug, gesagt.
({0})
Ich finde, dass der Bundeskanzler sehr plausibel beschrieben hat, wie die Diskussion verlaufen ist. Sie können das ja ruhig sagen; besonders glaubwürdig und überzeugend ist das, was Sie an dieser Stelle veranstalten,
aber nicht.
({1})
Ich empfehle Ihnen, einmal in die Bibel zu schauen.
({2})
In der Bibel steht, dass man sie an ihren Werken und
nicht an der Verfassung oder ihren Worten erkennt.
({3})
Dass Ihre Wurzeln, auf die Sie sich immer berufen, Sie
als besonders gute Christen auszeichnen würden, um es
einmal so zu sagen, kann ich nun überhaupt nicht akzeptieren.
({4})
- Natürlich steckt das immer darin. Das ist ein Stück
Hochmut. Sie schauen sich die anderen Parteien an und
sagen: Ihr seid nicht so christlich wie wir. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass Sie glauben, dass das etwas
besonders Gutes ist. Ich will das ja nicht bestreiten, aber
ich sage Ihnen, verehrte Frau Merkel:
({5})
Lassen Sie das an dieser Stelle! Ich kann nicht erkennen,
dass Sie oder diejenigen, die diesen Gottesbezug als Forderung vor sich hertragen, in der konkreten Politik bei
uns im Land besonders christlich oder besonders glaubwürdig auftreten. Das will ich Ihnen doch einmal sagen.
({6})
- Doch, doch, das muss an dieser Stelle einmal gesagt
werden; denn ich weiß, dass das erst der Anfang von
dem ist, was in den Veranstaltungen vor Ort erzählt wird.
Darüber können wir gerne sprechen. Sie haben an dieser
Stelle nicht den Alleinvertretungsanspruch.
({7})
Zweitens. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie auf
Parteitagen und in Ihrem Wahlprogramm Europa schon
thematisiert haben. Das bestreitet ja keiner.
({8})
- In den ersten zehn Minuten ihrer Rede hat Frau Merkel
den Versuch unternommen, zu beweisen, dass Sie die
Ersten waren, die auf die Idee einer europäischen Verfassung gekommen sind. 1979 - das weiß jeder Sozialdemokrat - hat Willy Brandt die europäische Verfassung
gefordert. Schlagen Sie einmal nach, ob einer von Ihnen
noch früher einen solchen Vorschlag gemacht hat. Dann
wollen wir Ihnen das gerne zugestehen. Wir und Sie haben lange über Europa nachgedacht und gesprochen.
Diese kleinkarierte Beweisführung, wer als Erster diese
Idee hatte, gehört nicht hierher. Das ist eine andere Dimension.
({9})
Dieses Europa - dessen sind wir uns bewusst und hoffentlich sind wir uns darin auch einig - ist die größte historische Leistung in der zweiten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts gewesen.
({10})
Das ist noch nicht allen geläufig. Wir Älteren sollten es
an die jüngeren Menschen weitergeben. Wir Älteren haben noch erlebt, als in Europa Krieg geführt wurde, wie
sich die europäischen Völker zerfleischt haben und gegeneinander aufgestanden sind. Jetzt haben wir seit gut
59 Jahren Frieden in Europa. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass es das über Jahrhunderte hinweg noch nie gab. Das ist ein gemeinsames Verdienst
von uns allen, auch von Ihnen.
({11})
Wir bestreiten nicht, dass Konrad Adenauer mit seiner Westorientierung den Grundstein dafür gelegt hat,
dass dieses Europa entstehen konnte. Wir bestreiten auch
nicht, dass es in der Zeit von Helmut Kohl, als die deutsche Einheit möglich wurde, richtig war, die deutsche
Einheit schnell zu schaffen. Dieses Verdienst wird bleiben; das bestreitet niemand. Das war eine der Voraussetzungen dafür, dass dieses Europa möglich wurde.
Aber Willy Brandt und Walter Scheel waren es, die in
den 60er- und 70er-Jahren dafür gesorgt haben, dass
überhaupt einmal nach Osten geschaut wurde. Wenn es
die Brandts, die Scheels, die Wehners, die Bahrs und all
die anderen, die dabei waren, nicht gegeben hätte, wäre
die Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa nicht möglich gewesen. Da müssen wir uns gegenseitig nichts vormachen.
({12})
Nun haben wir den nächsten Schritt getan. In den Geschichtsbüchern wird stehen, dass in der Zeit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder dieses Europa in diesem
Jahrzehnt durch die gleichzeitige Verbreitung und Vertiefung einen großen Schritt nach vorn gemacht hat.
Dass in diesem Europa Deutschland ein normales Land
geworden ist, was es vorher nicht war - das konnten wir
nicht sein, solange es die Teilung Deutschlands gab -, ist
gelungen. Darauf sind wir stolz. Deshalb sage ich Dankeschön an die Bundesregierung, Dankeschön an Günter
Verheugen, Dankeschön an Jürgen Meyer, der für den
Deutschen Bundestag im Konvent gesessen hat. Wir alle
in Deutschland können heute stolz darauf sein, dass
diese Bundesregierung in dieser Weise Rechte und
Pflichten unseres Landes einbringt und dafür gesorgt
hat, dass dieses Europa diesen Schritt tun konnte. Das ist
eine gute Seite der deutschen Geschichte.
({13})
Am 13. Juni bei der Bundestagswahl haben wir alle
miteinander gemerkt, dass auch andere Dinge eine Rolle
spielten; das ist wohl wahr. Dabei hat die Skepsis gegenüber Europa eine nicht so kleine Rolle gespielt.
({14})
- Ich sage ja, dass dabei andere Dinge eine große Rolle
gespielt haben. - Man darf bei dieser Wahl am 13. Juni
aber einen ganz wichtigen Aspekt nicht verdrängen.
Irgendein Journalist hat dieser Tage geschrieben: Die
Wahl vom 13. Juni ist vorbei und es wird noch immer
über Europa geredet. Genau das ist das Problem. Wir
glauben, wenn die Europawahl ansteht, müssten wir
darüber sprechen und in der Zwischenzeit sei das kein
wichtiges Thema.
Im Europäischen Parlament sitzen jetzt 100 oder
150 ausgesprochene Europaskeptiker oder Europagegner. Das ist keine gute Entwicklung. Ein Teil derer, die in
Deutschland nicht zur Wahl gegangen sind - das sind sicherlich nicht die meisten -, konnte mit diesem Europa
nichts anfangen und wollte sich nicht verorten. Es ist
wichtig, dass wir begreifen: Dieses Europa muss gelingen. Wir müssen gerade jetzt über Europa sprechen.
Deshalb ist es gut, dass wir heute im Deutschen Bundestag einen neuen Ansatz dazu machen. Das begrüße ich
ausdrücklich.
({15})
Dieses Jahrzehnt wird ein Jahrzehnt der Erneuerung
und Modernisierung unseres Landes sein, ein Jahrzehnt
Europas. Heute steht die Verfassung im Mittelpunkt. Das
demokratische Europa gibt sich eine Ordnung.
Grundrechte werden fixiert, Zuständigkeiten bestimmt, Verantwortungen geklärt, Demokratie wird stabilisiert und zum Teil zum ersten Mal präzisiert; die
Rolle des Europäischen Parlaments und sein Verhältnis
zu der Kommission, die Aufgabe der Kommission selbst
und das Verhältnis zum Ministerrat. Die demokratische
Ordnung des Staatenbundes wird aktualisiert, wird angepasst, wird besser und transparenter als bisher formuliert.
Über eines sind wir uns ganz sicher einig: Das, was
jetzt in der Verfassung aufgeschrieben worden ist, ist
noch nicht perfekt. Das wird eingeübt werden müssen.
Verfassungen sind nur so gut, wie sie anschließend in der
Wirklichkeit gelebt werden. Es ist wichtig, sie aufzuschreiben, aber es kommt darauf an, dass die Demokratie
in diesem Europa nun funktioniert.
Konkret begonnen hat die Geschichte dieser Verfassung beim Europäischen Rat in Köln im Jahre 1999. Es
hat bis heute Zweifel, Rückschläge und Widerstände gegeben. Das, was zustande gekommen ist, ist eher nüchtern und realistisch. Das ist auch gut so. Es ist ein Kompromiss und stellt eine Leitplanke für das dar, was zu tun
Europa sich vornimmt. Wenn diese europäische Verfassung eine solche Erfolgsgeschichte wie das Grundgesetz
wird, dann hat es sich gelohnt. Daran wollen wir alle
mitarbeiten.
({16})
Diese Bundesrepublik Deutschland, diese Demokratie,
ist nicht deshalb so gut, weil das Grundgesetz damals
aufgeschrieben worden ist, sondern weil wir die Verfassung gelebt haben, weil wir versucht haben, sie zu praktischer Politik zu machen. Das gilt auch für die europäische Verfassung, über die wir heute sprechen. Wir
müssen sie kennen, aber wir müssen auch versuchen, sie
zu leben und dafür zu sorgen, dass die Menschen begreifen, was dort aufgeschrieben worden ist.
Ich habe einen ganz konkreten und festen Wunsch,
nämlich dass nach der baldigen Vertragsunterzeichnung
durch die Bundesregierung der Deutsche Bundestag und
der Bundesrat sobald wie möglich ihr klares Ja zu dieser
europäischen Verfassung ausdrücken, dass wir sobald
wie möglich im Deutschen Bundestag darüber sprechen,
gemeinsam vorangehen und ein klares Zeichen setzen.
Wir sollten in Deutschland nicht die Letzten sein, sondern wir sollten versuchen, bei den Ersten zu sein, die
nun den Menschen in unserem Land und in Europa sagen: Jawohl, wir wollen diese Verfassung. - Lassen Sie
uns das bald hier im Deutschen Bundestag auf die Tagesordnung setzen und die Verfassung beschließen!
({17})
Der Kanzler hat schon gesagt, dass in dieser Verfassung auch die Frage der Stärkung der nationalen Parlamente behandelt wurde. Man kann anders sagen: Das
Verhältnis der nationalen Parlamente zu dem, was sich in
Europa herausbildet, dieser ganz besonderen Form von
Staatenbund, wird behandelt. Es ist nicht leicht, damit
umzugehen. Es ist ganz wichtig, dass wir selbst begreifen, dass wir uns in diesem nationalen Parlament, dem
Bundestag, intensiver als bisher mit der Frage des Verhältnisses zu Europa auseinander setzen müssen.
Die europäische Verfassung enthält die Aufforderung
an die nationalen Parlamente, sich stärker in die europäische Politik einzubringen. Das ist eine gute Aussage.
Das ist ein Beleg dafür, dass die Demokratie in Europa
immer im Zusammenspiel der europäischen und der nationalen Ebene funktionieren muss, um wirklich Gewicht zu gewinnen. Die Stärkung des Bundestages in
Fragen der europäischen Politik muss auf Kontinuität
und inhaltliche Substanz ausgerichtet sein. Es darf nicht
zur Fortsetzung der innerstaatlichen Blockadepolitik von
CDU/CSU auf der Ebene Europas und mit den Mitteln
der europäischen Politik kommen.
({18})
Die Ausgestaltung neuer Mitwirkungsmöglichkeiten des
Deutschen Bundestages muss zur besseren parlamentarischen Mitgestaltung und Kontrolle und darf nicht zur
Verhinderung und Blockade von Politik führen. Wir wollen Fortschritte und nicht Rückschritte in der europäischen Politik und in der Rolle des Bundestages erreichen. Dafür müssen wir einerseits die bestehenden
Rechte nutzen, die uns unser Grundgesetz gibt; andererseits müssen wir die in der EU-Verfassung enthaltenen
neuen Möglichkeiten in Verbindung mit dem Frühwarnmechanismus zur Subsidiaritätskontrolle konstruktiv
umsetzen. Die Frage der Subsidiarität ist ganz wichtig.
Sie muss vor allem nach innen wirken, um unser Parlament insgesamt europafähiger zu machen. Dazu haben
Bundestagsabgeordnete der SPD konkrete Vorschläge
unterbreitet, die jetzt Grundlage gemeinsamer Beratungen aller Fraktionen im Deutschen Bundestag sind. Ein
bisschen weniger abstrakt ausgedrückt: Wir müssen in
diesem Parlament intensiver und früher als bisher zur
Kenntnis nehmen, was auf europäischer Ebene angedacht und vorbereitet wird. Wir müssen uns in unserer
parlamentarischen Arbeit mit der notwendigen Seriosität
damit auseinander setzen.
Wenn wir auf der nationalen Ebene darauf Einfluss
nehmen wollen, was in Europa geschieht, dann sollten
wir nicht abwarten, bis die Überlegungen in der Europäischen Kommission oder vielleicht auch im Europäischen
Parlament ein Stadium erreicht haben, in dem sie nicht
mehr in der notwendigen Weise beeinflusst werden können. Wir wollen die Rolle des nationalen Parlaments, des
Deutschen Bundestages, innerhalb des sich neu organisierunden Europas stärken.
({19})
Deshalb wird es sehr wichtig sein, dass wir einen Weg
finden, um dieser neuen Aufgabe gerecht zu werden. Daran werden wir in den nächsten Monaten und Jahren gemeinsam arbeiten müssen.
Das wichtigste Amt im europäischen Staatenbund ist
das des Kommissionspräsidenten. Ministerpräsident
Barroso wird mit Unterstützung rechnen können. Ich
gehe davon aus, dass das auch für das Europäische Parlament gilt. Frau Merkel hat eben festgestellt, es gebe
eine konservative Mehrheit im Europäischen Parlament.
Das ist aber ein Irrtum, Frau Merkel. Ein Blick auf die
Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament zeigt,
dass es keine Mehrheiten gibt, weder auf der einen noch
auf der anderen Seite. Das hat etwas mit dem Block der
100 bis 150 Skeptiker zu tun, den ich eben schon angesprochen habe.
Ministerpräsident Barroso wird unsere Unterstützung
bekommen. Das gilt natürlich auch für Günter
Verheugen, der - ich will in diesem Zusammenhang weitergehen als der Bundeskanzler - der Europäischen
Kommission an einer zentralen und sehr wichtigen Stelle
angehören sollte. Ich bin sicher, dass er für uns in
Deutschland und in Europa seiner Arbeit in guter und
bewährter Weise nachkommen wird.
({20})
Dass es irgendwann auch einen europäischen Außenminister geben wird, begrüßen wir alle. Das kann auch
ruhig ein altes europäisches Gesicht sein. Ich meine, Solana wäre an der Stelle eine gute Empfehlung.
({21})
- „Alt“ ist in diesem Zusammenhang ein gutes Wort, das
man ruhig gebrauchen kann.
({22})
So wichtig die Verfassung ist, müssen die Menschen
auch erfahren, dass sie etwas von Europa bzw. vom Frieden und Wohlstand in Europa haben. Deshalb möchte
ich einige Anmerkungen zu den Inhalten machen, die sie
damit verbinden.
Es bleibt bei der Aufgabe und dem Ziel, die Vorgabe
von Lissabon in die Realität umzusetzen, das heißt, dass
sich die Europäische Union auf den Weg macht, bis zum
Jahr 2010 die leistungsfähigste, wirtschaftsstärkste und
wettbewerbsfähigste Wirtschaftsregion der Welt zu werden.
({23})
Das werden wir nur dann schaffen, wenn wir tatsächlich,
wie vorgesehen, 3 Prozent des Gesamthaushalts für Bildung, Forschung und Wissenschaft einsetzen.
({24})
Das wiederum werden wir nur dann erreichen können,
wenn wir in unserem Land selbst vorangehen und dafür
sorgen, dass diese Mittel in die Zukunftsfähigkeit dieses
Landes und Europas investiert werden.
({25})
Wir wissen, dass kein Land in Europa - auch nicht die
Bundesrepublik Deutschland; so stark wir auch sind seinen Wohlstand alleine gegenüber anderen großen
Wirtschaftsregionen der Welt behaupten kann, die sich
längst organisiert haben.
Dieses Europa bietet eine unglaubliche Chance, die
Fähigkeiten und Potenziale der 450 Millionen Menschen
- bald werden es noch mehr sein -, die zu diesem Europa gehören, zukunftsträchtig zu nutzen. Dabei geht es
an vorderster Stelle um Bildung, Ausbildung, Qualifizierung, Forschung und Technologie sowie um die Umsetzung in Arbeit, die daraus für Europa entstehen kann.
({26})
Darüber müssen wir diskutieren. Denn - ich wiederhole
es - die Verfassung ist zwar wichtig, aber die Menschen
in unserem Land müssen wissen, dass sie etwas von Europa haben. Die Menschen können mit Recht erwarten,
dass wir für Frieden und Wohlstand Sorge tragen. Für
uns Sozialdemokraten gehört auch dazu, dass die Tradition des europäischen Sozialstaatsmodells bzw. die Idee
eines Sozialstaats, die in vielen europäischen Ländern
verwirklicht wurde, aufrechterhalten wird.
Das Europa in seiner heutigen Gestalt trägt trotz aller
Verirrungen des letzten Jahrhunderts eine tiefe sozialdemokratische Prägung aus dem vorvergangenen Jahrhundert. Das hat sich auch in den einzelnen Ländern
ausgewirkt. Diese Art des Umgangs mit dem Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortung und Gemeinwohl wollen wir nicht aufgeben. Wir wollen, dass
auch in Zukunft in Deutschland und - so weit wie möglich - in Europa die Grundidee des Sozialstaatsmodells
besteht. Das heißt, wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der zwar jeder Einzelne gefordert ist und als Erstes selbst verantwortlich ist, in der es aber auch Gemeinwohl gibt, das staatlich mitorganisiert wird. Das gehört
dazu. Das soll auch in Europa so sein.
({27})
In unserem Grundgesetz steht, dass die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer und demokratischer Bundesstaat ist. Europa ist zwar kein Bundesstaat. Aber die
Begriffe „sozial“ und „demokratisch“ sollten auch auf
Europa zutreffen. In Europa wird bald mehr Freizügigkeit als heute herrschen. Dabei müssen aber die Rechte
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick
behalten werden. Es geht um Teilhabe, wie der Bundeskanzler gesagt hat. Ich glaube, dass es in dieser Zeit verhängnisvoll für das Ansehen Europas ist, dass die Menschen in Europa in Fällen von freundlichen oder
feindlichen Übernahmen wie beispielsweise bei Vodafone/Mannesmann die Erfahrung machen, dass sich die
Vertreter des Geldes irgendwo oben treffen, während die
Arbeitnehmer in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, in den Niederlanden und in Italien auf die Straße
gehen und sich um ihre Arbeitsplätze Sorgen machen.
Wir müssen gemeinsam eine Linie finden, die garantiert,
dass die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Schwachen und Schwächeren in den europäischen Institutionen glaubwürdig vertreten werden.
Das muss bei uns beginnen.
({28})
Das sind die Aufgaben, die wir vor uns haben. Zu diesen gehört auch, dass wir uns in der Kommission zur
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Gedanken darüber machen, wie in Zukunft das Verhältnis zwischen Deutschland und Europa sein soll, wie wir unsere
nationalen Interessen in Europa wahrnehmen sollen. Wir
haben in Deutschland 17 Wirtschaftsminister und 17 Finanzminister. Ich möchte an dieser Stelle nichts überspitzen und auch keine Vorwürfe erheben. Aber ich sage
mit allem Ernst: Wenn wir es nicht schaffen, in dem größer gewordenen Europa die nationalen Interessen
Deutschlands zu formulieren und gemeinsam zu vertreten - egal ob sie die Wirtschaft, die regionale Entwicklung oder die innere Sicherheit betreffen -, dann werden
wir unserer Aufgabe nicht gerecht. Deutsche Kleinstaaterei wäre ungeeignet, deutsche Interessen in Europa
glaubwürdig und nachhaltig zu vertreten.
({29})
Ich meine das nicht vorwurfsvoll; denn ich bin ein
überzeugter Anhänger des Föderalismus. Das Prinzip
des Föderalismus gilt für uns in Deutschland - ich
glaube, dass damit viele Vorteile verbunden sind - und
in einem gewissen Umfang auch für Europa, Frau
Merkel, auch wenn ich in diesem Zusammenhang das
Wort „Föderalismus“ eigentlich nicht verwenden
möchte. Was sich im Verhältnis zwischen Deutschland
und Frankreich tut - hoffentlich auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen -, ist ein bisschen mit dem
vergleichbar, was in unserem Lande stattfindet. In
Deutschland sind Sie alle glühende Anhängerinnen und
Anhänger des Föderalismus - ich glaube das Ihnen
auch - und sagen: Es ist ganz gut, wenn es in Deutschland Bundesländer gibt, die ein bisschen Tempo machen,
die Avantgarde sind, die nach vorne gehen, die das
Ganze ziehen. Das ist richtig. Ich unterstreiche das. Aber
das sollte bitte schön auch im Hinblick auf Europa gelten. Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, zusammen
mit Franzosen, Polen und anderen für Tempo in Europa
zu sorgen, damit Europa weiter nach vorne gehen und
den guten Weg fortsetzen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({30})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kann
nicht bestritten werden, dass das Vertragswerk, über das
wir hier heute diskutieren, einen ganz bedeutsamen Integrationsschritt in einem wiedervereinigten Europa darstellt. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Deshalb
will ich meine Redezeit jetzt nicht darauf verschwenden,
noch einmal Unterschiede in den Positionen herauszuarbeiten. Wir alle stimmen diesem Vertragswerk zu. Es ist
für uns ein gewichtiger Baustein.
Das eigentliche Problem ist auch nicht, ob der eine
oder andere von uns, was das Subsidiaritätsprinzip oder
das Institutionengefüge betrifft, weiter gehende Mehrheitsentscheidungen wünscht oder ob mancher skeptisch
ist, dass das Institutionengefüge dem Parlament am Ende
wirklich schon den Gestaltungswillen einräumt, den wir
ihm wünschen, und ob das alles so passend ist.
Die Kernfrage ist, ob wir angesichts der Beteiligung
an der Europawahl die Fähigkeit haben, das den Gesellschaften in Europa zu vermitteln,
({0})
ob die politischen Eliten in Europa fähig, willens und in
der Lage sind, diese Bedeutung ihren Bürgerinnen und
Bürgern näher zu bringen.
Das haben wir bis heute nicht überzeugend geschafft.
Für die Mehrheit der Bürger hat dieses Europa noch immer kein Gesicht. Sie treten ihm eher mit Skepsis entgegen. Sie haben die ganze Geschichte, die der Kollege
Müntefering hier vorgetragen hat - Stichwort Frieden -,
eigentlich schon nahezu emotionslos vergessen und holen sie sich nicht mehr ins Gedächtnis zurück.
Die politischen Eliten Europas - dieselben, die dieses
Vertragswerk verhandelt haben und die sich nun bemühen, Repräsentanten in das Institutionengefüge zu senden - haben nach meiner Überzeugung und nach der
Überzeugung der Bundestagsfraktion der FDP große Defizite im politischen Gestaltungswillen.
({1})
Europa hat jetzt eine geschriebene Verfassung. Auch
wir haben eine geschriebene Verfassung, das Grundgesetz. In der Geschichte hat sich aber immer gezeigt, dass
eine geschriebene Verfassung allein nicht genügt, wenn
die, die sie tragen sollen, nicht Gestaltungswillen entwickeln. Jetzt handelt es sich darum, Europa ein Gesicht zu
geben und - das füge ich hinzu - mit einem Stück weltpolitischem Kalkül vorzugehen. Europa muss aus den
Kinderschuhen heraus; es mangelt ihm an geostrategischer Orientierung. Weltpolitisch ist es immer noch so,
als ob wir mit erhobenem Zeigefinger auf dem Beifahrersitz sitzen, anstatt im Vorhinein abgestimmte eigene
Initiativen einzubringen.
({2})
Nur wenn das geschieht, haben wir die richtige Konsequenz aus dem Vertragswerk gezogen. Das Vertragswerk ist nicht alles. Es fordert uns zum Handeln auf. Die
politischen Eliten Europas brauchen einen wirklichen,
auch strategischen Gestaltungsehrgeiz und das müssen
sie auch den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen.
Die Vereinigung Europas bringt mit sich, dass an der
Peripherie jetzt Krisenregionen sind. Die Sicherheitspolitik Europas muss neu bestimmt werden. Wenn wir
sie nicht entwickeln, dann wird das unsere eigene Sicherheit und die der Bürgerinnen und Bürger in Europa
gefährden. Die jetzige Ausdehnung Europas steht für
den Willen zu einem Stück regionaler Stabilitätspolitik.
Man redet in Europa darüber, wie dieser Wille sicherheitspolitisch untermauert werden kann. An dieser Stelle
wird unser Defizit deutlich, weil wir uns einfach nicht
zutrauen, zu sagen, dass für ein so großes und weltpolitisch bedeutsames Europa diplomatische Wirkungen und
Zivilmachtkonzepte allein am Ende möglicherweise
nicht reichen und zur Wirkungslosigkeit verurteilt sind,
wenn wir entsprechende sicherheitspolitische Fähigkeiten nur auf dem Papier entwickeln.
({3})
Wir müssen mit diesem Verfassungsvertragsentwurf
und mit dem, was vereinbart worden ist, etwas anfangen.
Europa ist für uns natürlich nicht nur ein Binnenmarkt,
also nicht nur das Europa der Händler, der Krämer und
des Warenaustausches. Die Lissabon-Strategie ist eine
Antwort. Diese Antwort steht aber auf dem Papier.
Eine der größten Volkswirtschaften dieser Welt - wir
haben die Ehre, sie in diesem Parlament zu vertreten ist der entscheidende Hemmschuh im Hinblick auf die
Entwicklung der Wachstumsraten und auf den Arbeitsmarkt in Europa. Wir, die politische Führung in der Bundesrepublik Deutschland, haben die Aufgabe, dieses
Problem zu lösen.
Der Kollege Müntefering hat es so ausgedrückt: Das
muss ein Europa des Friedens und des Wohlstands sein.
Dagegen ist gar nichts zu sagen. Der gegenwärtige deutsche Beitrag zum Wohlstand in Europa ist der ärmlichste, den eine deutsche Bundesregierung je erbracht
hat.
({4})
Das heißt, wir müssen mit dem Institutionengefüge
und dem Verfassungsvertrag auch etwas anfangen. Wir
brauchen ein Wettbewerbseuropa. Wir brauchen kein
Sozialstaatseuropa, in dem von oben herab diktiert wird
und in dem überall die gleichen Steuersätze gelten. Das
macht die Menschen unmündig. Das verbietet es den
Nationen geradezu, in einen Wettbewerb einzutreten.
Wir sollten in Europa wettbewerbliche Strukturen und
freiheitliche Strukturen aufbauen. Wir sollten nicht Beschwichtigungsstrukturen und Ordnungsstrukturen von
oben herab verordnen mit dem Ziel, möglichst wenig
Wettbewerb zu haben, weil wir in Schwierigkeiten sind.
Das glatte Gegenteil ist für die Bundesrepublik Deutschland notwendig.
({5})
Wir brauchen also: eine klare Perspektive und das
Engagement der politischen Führung!
Wer heute das Institutionengefüge betrachtet, kann
keine sichere Prognose darüber abgeben, welche Institution am Ende überwiegen wird. Es kann sein, dass die
Veränderungen in der Präsidentschaft - eine längere personelle Kontinuität an der Spitze Europas - dann, wenn
der Kommissionspräsident nicht stark genug ist, in der
praktischen Ausprägung wieder mehr zu intergouvernementalen Ansätzen und weniger zu weiteren Integrationsschritten führen. Die Gefahr besteht. Es kommt auf
die Personen an, die in das Institutionengefüge hineingesetzt werden.
Bei aller Begrüßung des Personalvorschlags für die
Spitze der Kommission will ich hier sagen: Wir erwarten
einen starken Präsidenten an der Spitze der Kommission.
({6})
Wir wünschen dem portugiesischen Regierungschef,
dass er diese Persönlichkeit an der Spitze der Kommission sein wird; wir hoffen es.
Wir als Bundestagsfraktion der FDP haben ein klares
Interesse an weiteren Integrationsschritten. Wenn wir
das haben, kommt es auf das Gewicht der Kommission
an. Wenn sie Gewicht entwickeln will - das ist ein ganz
entscheidender Punkt, der hier erwähnt werden muss -,
muss das an der Spitze anfangen.
({7})
Wir haben nichts gegen den Vorschlag Günter
Verheugen einzuwenden. Ich sage das sehr bewusst. Er
war Mitglied unserer Partei. Er ist zu den Sozialdemokraten gewechselt. Er hat als Erweiterungskommissar einen guten Job gemacht. Ihm gebühren Respekt und
Anerkennung. Wir haben aber etwas gegen eine Konstruktion, die mit diesem Personalvorschlag für die
Kommission oft verbunden wird, nämlich durch die Hintertür wieder ein Stück Industriepolitik auf europäischer Ebene zu installieren. Herr Bundeskanzler, wir
wissen, dass jeder seine eigene Industriepolitik macht.
Sie haben Ihre Vorstellung; der französische Staatspräsident hat seine. Wenn wir Europa weiterbringen wollen,
muss es eine Wettbewerbslandschaft und darf es nicht
ein Europa alter Industriepolitik sein. Das muss dann
auch in der Kommission seinen Ausdruck finden.
({8})
Am Ende werden das Institutionengefüge und der
Verfassungsvertragsentwurf nur durch die Personen ein
öffentliches Bild bekommen. Wenn wir Glück haben,
gelingt das. Es muss unser Interesse sein, dass wir dabei
Erfolg haben. Wir können hier nicht große Europadebatten führen und uns überall bemühen, die Menschen zu
überzeugen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass uns bei
schwindender Wahlbeteiligung dieser Gestaltungswille
noch nicht gelungen ist. Das ist eine schmerzhafte Erfahrung gewesen. Wer sich Europa als Konsequenz aus den
Bruderkriegen des vergangenen Jahrhunderts vorstellt
und dann diese Wahlbeteiligung sieht, die ja auch ein Indikator für eine Vorstellung von Europa und für eine
emotionale Bindung ist, der kann nur sagen, dass für die
politischen Eliten in den europäischen Ländern immer
noch mehr Herausforderungen bleiben, als Danksagungen wegen des Verfassungsvertragsentwurfs auszusprechen sind.
Der Verfassungsvertragsentwurf ist richtig. Er ist ein
Integrationsschritt. Aber die eigentlichen Aufgaben
kommen noch. Die Kernaufgabe wird sein, dass wir in
Europa allmählich lernen, aus den weltpolitischen Kinderschuhen herauszukommen und wirklich internationalen Gestaltungswillen zu entwickeln.
({9})
Wenn wir den Gesellschaften das vermitteln könnten,
dann hätten wir die Hauptaufgabe geleistet.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka
Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich darüber, dass es trotz aller Unterschiede unter
den bisherigen Rednerinnen und Rednern doch eine
große Übereinstimmung darüber gibt, das Resultat der
Regierungskonferenz und des Konvents, nämlich den
Verfassungsvertrag für die erweiterte Europäische
Union, durchweg als positiv anzusehen. Ich entnehme
dem zugleich - das freut die Bundesregierung überaus -,
dass wir hier mit einer breiten Zustimmung zum Ratifizierungsgesetz rechnen können; ich hoffe auch, dass die
Ratifikation schnell erfolgen wird. In der Tat, dieser Verfassungsvertrag ist für die erweiterte Union von überragender Bedeutung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, einmal
kurz in die Verfassungsgeschichte einzutauchen. Eine
Verfassung steht erst einmal auf dem Papier. Natürlich
sind zunächst institutionelle Regelungen und Verfahrensentscheidungen von eminent großer Bedeutung. Wer von
den im Jahre 1948/49 Lebenden hat damals außer denjenigen, die es kraft Profession und politischer Berufung
tatsächlich interessiert hat, aktiven Anteil an den Ergebnissen der Konferenz in Herrenchiemsee genommen?
Vertiefen Sie sich einmal in die Verfassungsgeschichte
der Vereinigten Staaten. Der damals stattgefundene Verfassungsprozess gilt ja heutzutage als großes historisches
Vorbild. Sie werden feststellen, dass dieser Prozess damals alles andere als ein populäres Thema war, das eine
Masse an Menschen interessiert hat. Dennoch ist dieses
Vorbild als Maßstab unverzichtbar. Deshalb wird es ganz
entscheidend darauf ankommen, dass wir bezüglich dieser Verfassung, die wir noch nicht haben - manche haben hier so argumentiert, als hätten wir sie schon -, gesamteuropäisch, das heißt unter Einbeziehung aller Teile
der Europäischen Union, sehr intensiv darüber nachdenken, wie wir den Prozess so organisieren können, dass
die Verfassung in der Tat in allen Mitgliedstaaten ratifiziert und tatsächlich Wirklichkeit wird.
({0})
Die zweite Frage ist die der Ausfüllung in der politischen Wirklichkeit. Darauf sollten wir in Zukunft das
Hauptaugenmerk lenken. Ohne jetzt auf die Details des
Verfassungsprozesses einzugehen, glaube ich, dass neben der irischen Präsidentschaft ausdrücklich auch der
italienischen zu danken ist. Lassen Sie mich noch einmal
festhalten: 90 Prozent des Verfassungsvertrages sind
während der italienischen Präsidentschaft konsentiert
worden. Insofern konnte die irische Präsidentschaft auf
den Vorarbeiten der italienischen aufbauen.
Verschiedene Rednerinnen und Redner haben ja zu
Recht darauf hingewiesen, dass wir uns auch fragen
müssen, was die Menschen unter Europa verstehen. Es
wird zwar zu Recht gesagt, dass die geringe Wahlbeteiligung ein Warnsignal war. Ich teile aber nicht die Auffassung, dass damit eine Skepsis gegenüber Europa verbunden ist. Warum nicht? Weil ich im Wahlkampf den
Eindruck gewonnen habe, dass Europa für viele Menschen eine sehr große Bedeutung hat. Die Leute sind
nicht dumm. Sie begreifen sehr wohl, dass die Fragen
der inneren Sicherheit, der äußeren Sicherheit, der Wettbewerbsfähigkeit und der Zukunft der Arbeitsplätze
heute aufs Engste mit Europa zusammenhängen.
Entscheidend ist eine klare Kenntnis der Rollenverteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten. Die
Leute fragen sich sehr wohl, wo die Unterschiede liegen,
wer sie in Europa vertritt, ob dieses Europa ein Gesicht
hat und wer in der Kommission sitzt. Es ist doch tatsächlich so, dass sich die Menschen in der Außen- und
Sicherheitspolitik immer noch an die nationale Ebene
halten. Dafür sind der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister, der Bundesverteidigungsminister und die Entwicklungshilfeministerin zuständig. In der Wirtschaftspolitik hält man sich ebenfalls an die nationale Ebene,
genauso in Fragen der inneren Sicherheit. Das heißt,
Europa wird immer wieder auf die gewählten Repräsentanten heruntergebrochen, die man kennt, also auf die
jeweilige nationale Öffentlichkeit. Daraus aber den
Schluss zu ziehen, die Menschen würden Europa nicht
begreifen, halte ich für einen ganz großen Irrtum.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Nach dem furchtbaren Verbrechen in Madrid hat doch jeder im Volk sofort begriffen, dass es, wenn die Spur zu al-Qaida führt,
nicht nur Spanien betrifft. Es hat jeder sofort begriffen,
dass wir unsere innere Sicherheit im zusammenwachsenden Europa nicht ausschließlich national definieren können. Die Frage der institutionellen Umsetzung, also wer
dafür in Zukunft in Europa steht, ist die brennende politische Frage.
In diesem Zusammenhang muss ich auf Frau Merkel
eingehen. Ich habe überhaupt nichts gegen Parteipolitik, aber Europa ist ein Europa der Bürger und der Staaten. Wir alle wissen, dass es eine hässliche Seite der
Parteipolitik gibt; das betrifft alle Parteien. Es gibt aber
auch eine sehr konstruktive und wichtige Seite der
Parteipolitik. Ich frage mich dabei nur, ob das Entscheidungsverfahren, das jetzt zur Auswahl eines Kommissionspräsidenten geführt hat, zur guten Seite der Parteipolitisierung Europas gehört. Ich meine: Nein.
({1})
Die These, man könne das Funktionieren von Europa anhand dieses Entscheidungsverfahrens besser erklären,
halte ich für völlig falsch. Wenn man das tatsächlich
wollte - lassen Sie mich das schon einmal mit Blick auf
die nächsten Europawahlen festhalten -, dann müssten
die politischen Lager jeweils deutlich erkennbar sagen,
wer ihr Kandidat oder ihre Kandidatin für das Amt des
Kommissionspräsidenten ist.
({2})
Aber es kann nicht sein, dass die Parteipolitisierung im
Hinterzimmer hängen bleibt; denn damit tut man Europa
meines Erachtens nichts Gutes, sondern im Gegenteil
sehr viel Schlechtes.
Wenn man die Parteipolitisierung wirklich will, muss
man entsprechende Schritte gehen. Selbstverständlich
spielen dabei die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten eine Rolle; da wird es keine Parallelität geben.
Ich denke, dass die Verfassung eine große Chance
bietet, diesen Schritt zu gehen. Ob wir mit dieser Kommission und dem Europäischen Parlament tatsächlich
Voraussetzungen für eine bessere Erkennbarkeit der europäischen Verantwortung und damit Identifizierbarkeit europäischer Politik schaffen können, das wird die
Zukunft zeigen. Ganz gewiss aber muss der Bundestag
seine inneren Verfahren ändern; denn es kommt ganz
entscheidend darauf an, dass er seine Frühwarnrolle,
seine Rolle in der Subsidiaritätskontrolle ernst nimmt.
({3})
Ich denke, dass auch aus dem nationalen Parlament heraus ein Politisierungsprozess stattfinden kann, der von
eminenter Bedeutung ist.
Eine der Herausforderungen, die jetzt vor uns liegen,
ist der Ratifikationsprozess. Ich habe sehr sorgfältig zugehört. Frau Merkel, Sie haben sich hier etwas apokryph
geäußert; der tiefere Sinn Ihrer Worte ist mir verschlossen geblieben. Ich hoffe nicht, dass dahinter steckt, dass
die Union meint, irgendwelche Bedingungen an die Ratifikation knüpfen zu können. - Sie schütteln den Kopf;
damit ist das abgehakt.
({4})
- Ich hielte das für keine gute Idee. Sie müssten versuchen, das durchzusetzen, und würden damit scheitern.
({5})
Aber ich finde es gut, dass Sie mich „Heiligkeit“ nennen; das ist wirklich hervorragend.
({6})
Ich sehe, die CSU ist schnell lernfähig.
({7})
- Meinetwegen auch Scheinheiligkeit; das ist egal. Von
Scheinheiligkeit verstehen Sie mehr als ich.
({8})
Ich möchte auf die Punkte zurückkommen, um die es
in Zukunft gehen wird. Es gibt einen großen Konsens
darüber, dass nach der Ratifizierung die Politiken im
Vordergrund stehen werden. Dabei wird die Umsetzung
der Lissabon-Strategie meines Erachtens von überragender Bedeutung sein.
Bei allem Respekt: Wir haben viel zu tun, auch in unserem Land. Gestern haben wir geklatscht, weil der Bundespräsident nicht Schwarzmalerei betrieben hat, sondern Probleme zwar benannt hat, aber mit dem nötigen
Optimismus. Nach den heutigen Worten von Herrn
Gerhardt jedoch scheint über uns nicht die Sonne, sondern ist dort nur dunkles Gewölk und befinden wir uns
in der tragischen Situation des permanenten Rückschritts. Man muss aber doch auch darauf hinweisen,
dass wir große Anstrengungen unternommen haben und
weiter unternehmen werden. Europa ist im internationalen Wettbewerb einer der wichtigsten Faktoren und wird
es auch bleiben. Das auszubauen ist ein wesentliches
Element der Lissabon-Strategie.
({9})
In der innenpolitischen Verengung der Diskussion bei
uns wird immer so getan, als spiele die soziale Dimension keine Rolle. Ich rate dringend dazu, einmal über den
Rhein zu schauen. Bei der Ratifikation durch unseren
wichtigsten Partner, nämlich Frankreich, spielt das soziale Element - und zwar nicht nur in den Reihen der
Linksparteien, sondern durchaus auch bei den bürgerlich-demokratischen Parteien - eine nicht unerhebliche
Rolle. Wenn wir ein Interesse daran haben, die Menschen mitzunehmen, müssen wir begreifen, dass wir einerseits Wettbewerbsfähigkeit und andererseits soziale
Gerechtigkeit sowie ökologische Nachhaltigkeit als
Grundwerte nicht nur in der Verfassung, sondern auch in
der politischen Realität verankern müssen.
({10})
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist
Gott sei Dank weiter, als Wolfgang Gerhardt es gerade
dargestellt hat. Die EU ist durch die gemeinsame Strategie, durch die Rolle, die wir im Nahen und Mittleren Osten, in der Frage der Broader-Middle-East-Initiative und
in ähnlichen Fragen bereits spielen, wesentlich besser
aufgestellt, als Sie es dargestellt haben. Darüber hinaus
ist der gemeinsame Raum des Rechts und der Sicherheit
in Richtung eines Tampere II von großer Bedeutung.
Wir haben jetzt die große Chance, weitergehen zu
können, weil wir garantierte Grundrechte haben. Insofern finde ich das Verhalten einiger ziemlich kleinkariert. In Maastricht hatten diejenigen, die nicht für den
Euro waren, zumindest überhaupt kein Problem damit,
Helmut Kohl und der Bundesregierung für das zu danken, was sie damals erreicht haben.
({11})
- Bei der Verfassung geht es auch nicht um die Türkei.
Aber da Sie das Thema Türkei gerade ansprechen: Die
CSU - ich nehme die CDU bewusst aus - hat mit dem
Thema Türkei überaus erfolgreich Wahlkampf gemacht,
wie man an Ihren Wahlergebnissen in Bayern sehen
kann. Sie haben ein eindeutiges Minus zu verzeichnen.
({12})
Herr Glos, auch in diesem Punkt sind die Menschen
klüger. Jeder weiß, dass es bei der Türkei nicht darum
geht, dass sie heute beitritt. Man muss schon wirklich
zur CSU gehören und gehörig etwas auf den Augen haben, um nicht zu begreifen, welche gewaltigen Fortschritte jetzt unter der AKP-Regierung in der Türkei erzielt wurden, angefangen bei der Umsetzung der
Kopenhagener Kriterien bis - das hätte ich vorher nicht
für möglich gehalten - zu einer konstruktiven Haltung
im Zypernkonflikt, wodurch die Türkei zur Lösung uralter Konflikte im östlichen Mittelmeerraum beiträgt.
Nehmen Sie nur die Abschaffung der Todesstrafe und
die Strafrechtsreform!
({13})
Seit Gründung der Türkischen Republik gibt es jetzt
erstmals Fernsehsendungen in Minderheitensprachen,
unter Einschluss der kurdischen Sprache. Die ehemaligen kurdischen Abgeordneten, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, sind heute alle frei.
({14})
- Herr Glos, Sie wollen keine ernsthafte Diskussion führen, sonst würden Sie anerkennen, dass die Türkei gewaltige Fortschritte gemacht hat, nachdem sie eine Beitrittsperspektive bekommen hatte.
({15})
Sie wollen keine ernsthafte Diskussion, sondern nur Ihre
im Grunde genommen antitürkische Ideologie hier ausbreiten. Das wird nicht funktionieren; die Menschen sind
nicht dumm. Es ist ein langfristiger Beitrittsprozess. Wir
werden diesen Weg entschlossen weitergehen.
({16})
Wir sind der Meinung, dass die für die Europäische
Union entscheidende Sicherheitsfrage in diesem Raum
entschieden wird. Seit Konrad Adenauer, Ludwig Erhard
und - das vergessen Sie immer - Franz Josef Strauß bestehen entsprechende Zusagen. Helmut Kohl, Theo
Waigel und Klaus Kinkel haben diese Zusagen 1997 in
Luxemburg wiederholt. Wir haben sie bestätigt und in
Helsinki und in Kopenhagen operativ umgesetzt. Die Ergebnisse sind beachtlich positiv. Diesen Weg gehen wir
weiter, weil wir Frieden und Stabilität in der Zukunft
dieses gemeinsamen Europas für unsere Menschen wollen.
({17})
Dieses Thema wird Gegenstand von zukünftigen Diskussionen bleiben. Wahlergebnisse sind in dieser Hinsicht sehr lehrreich.
({18})
Meine Partei ist in Bayern mit dieser Position offen im
Wahlkampf angetreten. Wir können uns über das Ergebnis nicht beschweren. Sie sind offen angetreten mit der
Gegenposition. Wenn Sie Realisten sind und rechnen
können, dann werden Sie feststellen, dass Sie erhebliche
Verluste zu verzeichnen haben.
({19})
Mit der Verfassung haben wir die große Chance, das
erweiterte Europa handlungsfähig zu machen.
({20})
- Herr Müller, gehören Sie nicht zur CSU München? Jedenfalls müssten Sie wissen, dass die dortige CSU ganz
andere Probleme hat. Das findet doch alles im Gerichtssaal statt, oder sehe ich das falsch?
({21})
Das Wahlergebnis der CSU München ist wirklich beachtlich.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn die
Verfassung ratifiziert wird - ich bin sicher, dass sie ratifiziert wird -, haben wir die große Chance, das erweiterte Europa politisch handlungsfähig zu machen, es politisch zu integrieren und das Einigungswerk in den vor
uns liegenden zwei Jahrzehnten tatsächlich zu vollenden. Damit können wir Europas Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in einem gemeinsamen Europa mit Leben erfüllen
und das große Friedenswerk Europäische Union tatsächlich vollenden.
Ich danke Ihnen.
({22})
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz
Müntefering, hat heute gegen die Opposition die Heilige
Schrift bemüht. Er zitierte - ich bringe das Zitat
korrekt -: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“
({0})
- Herr Fischer, ich habe mir erlaubt, korrekt zu zitieren.
Das können Sie nachlesen. „An ihren Früchten sollt ihr
sie erkennen.“ Ich finde es ausgesprochen mutig, dass
Sie dieses Zitat bringen. Denn noch nie hat eine Bundesregierung in Deutschland so viele faule Früchte hervorgebracht wie die rot-grüne Regierung, die hier auf der
Bank sitzt.
({1})
Herr Müntefering sprach ganz distanziert von „dieser
religiösen Formel“, die man nicht erreicht habe. Worum
geht es? Das Fundament Europas wird nur dann fest und
stark bleiben, wenn es auf den Werten von Freiheit und
Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und dem Bekenntnis zur Menschenwürde gegründet ist. Nichts hat Europa
und das europäische Menschenbild so sehr geprägt, wie
das christliche Verständnis vom Menschen. Deswegen
ist die Forderung, dass wir in unserer ersten europäischen Verfassung auch Zeugnis darüber ablegen, worauf
unsere Werte gründen, zutiefst berechtigt.
({2})
Ich fand es auch spannend, wie Herr Müntefering
über die Vorgeschichte der europäischen Einigung gesprochen hat und dass er die späten 70er- und 80er-Jahre
bemühte. Erinnern wir uns: Der polnische Freiheitskämpfer Lech Walesa hat die deutschen Sozialdemokraten um Unterstützung angefleht; aber die SPD hat ihm
die kalte Schulter gezeigt, weil sie die guten Beziehungen zur kommunistischen Regierung in Warschau nicht
gefährden wollte. So viel zu den Themen Früchte und
Vorgeschichte der europäischen Einigung.
({3})
Als am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht
ausgerufen wurde, hat Bundeskanzler Helmut Schmidt
seinen Besuch in der DDR fortgeführt und ist dem dringenden Wunsch der polnischen Freiheitskämpfer, diesen
Besuch abzubrechen - auch wir haben ihn aufgefordert,
diesen Besuch abzubrechen -, nicht nachgekommen,
sondern hat eine Pressekonferenz mit Herrn Honecker
gehalten.
({4})
Ich weiß nicht, wo wir mit Europa hingekommen wären,
wenn es in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren nach
der SPD gegangen wäre.
({5})
Der Herr Bundesaußenminister hat eben eine interessante Analyse des Wahlergebnisses im Allgemeinen und
des bayerischen Wahlergebnisses im Besonderen abgegeben. Herr Fischer, wenn man Ihrer Analyse des Wahlergebnisses folgt, müsste Gerhard Schröder - der Bundeskanzler ist leider nicht mehr anwesend - auf der
Stelle zurücktreten. Die CSU in Bayern hat viermal so
viele Stimmen bekommen wie die hier führende Regierungspartei.
({6})
CDU und CSU haben deutschlandweit mehr als doppelt
so viele Stimmen bekommen wie die hier führende Regierungspartei. Wenn man Ihren Worten folgt, also den
Wähler entscheiden lässt, müsste diese Regierung
schlagartig zurücktreten, lieber Herr Fischer.
({7})
Sie haben des Weiteren versucht, eine Ausführung der
Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion bewusst misszuinterpretieren. Deswegen möchte ich im Namen der gesamten Fraktion klarstellen: Die CDU/CSU sagt klar Ja
zu dieser Verfassung, weil wir wissen, dass eine Verfassung, die von 25 Staaten erarbeitet wurde, nie die volle
Erfüllung aller Wünsche sein kann. Diese Verfassung
bedarf aber der Ratifizierung. Im Ratifizierungsprozess
geht es nicht nur um das Ja zur Verfassung, sondern auch
um Fragen, die zum Teil in der Verfassung selbst angelegt sind: Wie gestalten wir den Frühwarnmechanismus
aus? Welche Mitwirkungsrechte gibt es bei der europäischen Gesetzgebung? Wie wird die Subsidiaritätsklage
gestaltet? Wie steht es um die Mitwirkung des Bundestages bei Beitritten? All diese Fragen müssen im Zusammenhang mit der Ratifizierung geklärt werden.
({8})
Wir können uns nicht auf folgendes Spiel einlassen:
Sie nehmen unser Ja zur Verfassung dankend an und
bringen den Bundestag dann mit Ihrem Demokratieverständnis um seine Mitwirkungsrechte bei diesen wichtigen Fragen der europäischen Politik.
Das wollen wir schon zusammen besprechen. Wir
machen in der Tat keine Einzelforderung zur Bedingung;
aber wir machen zur Bedingung, dass sich der Deutsche
Bundestag in Ruhe darüber austauscht, was es im Zusammenhang mit der Verfassung zu regeln gibt.
({9})
Sie haben über die Türkei gesprochen. Hier finde ich
Folgendes wichtig: Wir begrüßen - ich glaube, darüber
gibt es im Deutschen Bundestag eine breite Übereinstimmung - die Reformanstrengungen in der Türkei und unterstützen diese auch.
({10})
Diese Reformen tun der Türkei gut. Ich greife einen Zuruf von Michael Glos auf, über den sich lustig machen
zu können Sie glaubten. Die Herbeiführung der Einhaltung der Menschenrechte, die Einführung der Demokratie, die Abschaffung der Folter, die Herstellung der Gewaltenteilung, die Gleichberechtigung von Mann und
Frau, die Erstellung einer funktionierenden Marktwirtschaft sind doch Dinge, die im Interesse eines jeden
Menschen und eines jeden Staates auf der Welt liegen.
Was ist das für eine Vorstellung von der Europäischen
Union, wenn wir sagen: „Jeder, der das einführt, was wir
für selbstverständlich halten, wird Mitglied der Europäischen Union“? Nein, das, was die Türkei tut, ist gut und
richtig und findet unsere Unterstützung, muss aber von
der Frage, ob die Türkei die Europäische Union überfordert oder nicht, getrennt verstanden werden.
({11})
Wir müssen in Ruhe darüber sprechen, ob wir uns im
Hinblick auf ein 70-Millionen-Volk mit seiner politischkulturellen und wirtschaftlichen Situation, seinem
schnellen Bevölkerungswachstum auf nach Schätzung
der Europäischen Kommission bis zu 100 Millionen
nach dem Jahre 2020 und mit seinen besonderen Problemen, die bestehen bleiben, auch wenn die Gesetze geändert werden - ich hoffe aber, dass auch diese Probleme
eines Tages nicht mehr vorhanden sind -, in einen Beitrittsautomatismus stürzen können, wie das die Regierung offensichtlich betreibt.
Auf dem Gipfel in Helsinki war es eine Fünfminutenaktion, für die Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zu beschließen. Den Gipfel 1997 haben Sie falsch
dargestellt, Herr Fischer. Das Entscheidende 1997 war,
dass der damalige Beitrittsantrag der Türkei von der Regierung Helmut Kohl abgelehnt und eben nicht angenommen worden ist. Sie haben dann 1999 eine andere
Entscheidung getroffen. Jetzt müssen wir in diesem Jahr
entscheiden, ob es zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen kommt.
Unsere Auffassung ist, im Interesse Europas und auch
im Interesse Deutschlands sicherzustellen, dass die Europäische Union die Erweiterungen, vor denen sie steht,
auch tatsächlich verkraftet, dass sie die Erweiterung, die
sie jetzt durchgeführt hat, auch leben kann und dass man,
weil man glaubt, es irgendwann einmal versprochen zu
haben, nicht etwas tut, was die Europäische Union in ihrem Charakter möglicherweise grundlegend verändert
und ihre Integrationsfähigkeit überfordert. Deswegen
bitten wir Sie nachdrücklich, unseren Gedanken, mit der
Türkei eine privilegierte Partnerschaft zu entwickeln,
in das Verhandlungsmandat, wenn es denn zu einem
kommt, mit aufzunehmen, damit wir eine Alternative haben und in dieser Frage am Ende nicht Opfer unserer eigenen Selbstfesselung werden.
({12})
Nun hat uns heute der Herr Bundeskanzler einen recht
interessanten Einblick in sein Demokratieverständnis gegeben und uns bei der Besetzung der Funktionen auf
europäischer Ebene vor Parteipolitik gewarnt. Der Zuschauer am Bildschirm wird dies für eine interessante
und gute Warnung halten.
({13})
Ich finde nur, dass hier Worte und Taten erheblich auseinander klaffen. Es war der Grundsatz aller früheren
Regierungen, die Verantwortung für Europa in zentralen
Fragen parteiübergreifend wahrzunehmen. Die Regierung Helmut Kohl hat beispielsweise Frau Wulf-Mathies
in die Kommission entsandt, weil wir überzeugt waren,
dass sie eine qualifizierte Person ist. Wir wollten, dass
die damalige Opposition an dem europäischen Einigungswerk an verantwortlicher Stelle mitwirken kann.
Sie haben bisher alle Entscheidungen rein parteipolitisch getroffen.
({14})
Beide Kommissare wurden rot-grün besetzt. Auch der
Europäische Gerichtshof wurde rot-grün besetzt. Gleiches gilt für die Benennung des künftigen deutschen
Kommissars. Der Posten soll mit jemandem besetzt werden, der sich zwar Verdienste erworben hat, aber eben
auch langjähriger SPD-Bundesgeschäftsführer war noch bevor man überhaupt darüber sprechen konnte. Das
missbilligen wir.
Wenn man in Europa Funktionen besetzen kann,
sollte man zunächst fragen, wer der Bestqualifizierte für
die zu erfüllende Aufgabe ist, und dann den parteiübergreifenden Verantwortungszusammenhang suchen. Sie
berufen sich auf dieses Prinzip immer dann, wenn Sie es
- wie jetzt bei der Verfassung - brauchen, und verstoßen
dagegen immer dann, wenn Sie das Sagen haben.
({15})
Die Benennung von Herrn Durao Barroso ist auch
ein wichtiger Vorgang. Ich bin froh, dass wir es geschafft
haben, dem Geist der von Ihnen beschlossenen und herbeigeführten Verfassung zum Durchbruch zu verhelfen.
Wir wollen doch nicht die Wahlbeteiligung bei der Europawahl noch weiter senken, indem wir sagen: Leute, ihr
könnt wählen gehen, ihr könnt es auch lassen. Was ihr
wählt, ist egal; wir werden jedenfalls das durchsetzen,
was wir vor der Wahl bereits ausgekungelt haben. - Ich
bin froh, dass das Europäische Parlament sich das nicht
hat bieten lassen.
Es ist richtig, Herr Müntefering, wir haben noch nicht
die absolute Mehrheit im Europäischen Parlament - bedauerlicherweise. Aber dass wir die mit Abstand stärkste
Fraktion im Europäischen Parlament bilden, wird wohl
niemand bezweifeln. Wenn in der Verfassung steht, das
Ergebnis der Wahlen zum Parlament sei zu berücksichtigen, dann muss das auch geschehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schily?
Mit ganz großer Freude. Ich muss jetzt einmal freundlich über ihn sprechen. Er ist der Minister, der den Europaausschuss am freundlichsten behandelt. Jetzt kommt
wahrscheinlich eine unfreundliche Frage, aber ich gestatte sie ihm trotzdem voller Freude. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Hintze. - Es kommt eine
ganz freundliche Frage, für Sie vielleicht überraschend.
Sie haben gerade über die Parteipolitik bei Personalfragen gesprochen. Wie beurteilen Sie denn in diesem Zusammenhang das Angebot an Herrn Ministerpräsident
Edmund Stoiber, das Amt des Kommissionspräsidenten
zu übernehmen?
Das ist eine der erfreulichen Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
({0})
Ich habe allerdings den Verdacht, dass dieses Angebot
von dem Glauben getragen war, die Antwort vorher zu
kennen. Man wusste, dass Herr Stoiber sein Herz in Bayern und in Deutschland hat und dort seine politische Leidenschaft lebt.
({1})
Es wäre natürlich schön gewesen, wenn Sie nicht jemanden gesucht hätten, von dem Sie die Hoffnung hatten, er
lebe seine politische Leidenschaft weiter in Bayern und
in Deutschland.
({2})
Es wäre zum Beispiel schön gewesen, wenn wir beim
Vorschlag für die Besetzung der Position des Kommissars, der die Zuständigkeiten der Kommission für Wirtschaft koordinieren soll, darüber gesprochen hätten, wer
am besten geeignet wäre. Das haben Sie sicherheitshalber nicht getan. Insofern möchte ich Sie ermuntern: Suchen Sie auch in Zukunft weiter. Es gibt viele sehr qualifizierte Menschen aus dem Bereich der politischen Mitte,
die Europa gut täten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Lassen Sie mich noch ein Problem grundsätzlicher
Natur ansprechen. Die Europapolitik dieser Bundesregierung leidet an einer falschen Grundhaltung des Bundeskanzlers und seines Außenministers, wobei sich das
Problem beim Bundeskanzler verschärft darstellt. Als er
1998 hier antrat, hat er sich stets kritisch geäußert. Er
hatte mit Europa wenig im Sinn; das hat sich verbessert.
Er hatte mit Frankreich wenig im Sinn; das hat sich verbessert.
({4})
Aber das war es dann auch schon. In einem wesentlichen
Punkt hat er mit der Kontinuität aller seiner Vorgänger
gebrochen, nämlich mit der Idee, dass Deutschland als
größtes Land in der Europäischen Union die Aufgabe
des Mittlers zwischen den Großen und Kleinen und des
fairen Partners übernimmt. Das Spiel, in dem sich zwei
oder drei Große einigen und die anderen dann nur noch
zustimmen dürfen - nach dem Motto „Vogel friss oder
stirb“ -, ist eben nicht das europäische Spiel.
({5})
Das ist der grundsätzliche Konstruktionsfehler in der Europapolitik dieser Bundesregierung, meine Damen und
Herren.
({6})
Es gibt einen zweiten interessanten Punkt. Der Bundeskanzler hat gesagt: Wir haben jetzt mehr Stimmen im
Rat, dafür haben wir halt ein paar Parlamentssitze im
Europaparlament für Deutschland abgegeben. Was bedeutet das konkret? Es bedeutet konkret, dass das größere Gewicht für die Regierung im Rat - wir hoffen, davon später zu profitieren - mit einer Schwächung der
Stimme der Wähler bezahlt wurde. Die Wähler können
in Zukunft über weniger bestimmen, während das Gewicht der Regierung stärker wird.
Herr Hintze, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Glos?
Mit allergrößter Freude, Frau Präsidentin.
({0})
Herr Kollege Hintze, Sie haben gerade noch einmal
beschrieben, wie die SPD bzw. diese Regierung mit der
Opposition umgeht. Glauben Sie, dass ich den bayerischen Ministerpräsidenten richtig beraten habe, indem
ich ihn an seine Absicht, sich an sein Wahlversprechen
zu halten, nämlich in erster Linie für die bayerischen und
deutschen Wähler zur Verfügung zu stehen, erinnert und
ihm gesagt habe:
({0})
Sie stehen bei den bayerischen und deutschen Wählerinnen und Wählern im Wort? Es gibt Politiker, die sich an
ihr Wort halten.
({1})
Herr Kollege Hintze, können Sie diesem Hohen
Hause bestätigen, dass das Verhalten der SPD und ihres
grünen Partners nicht eben konziliant war, was einen fairen Ausgleich mit der knapp unterlegenen Union - ich
erinnere beispielsweise an die Bundestagsvizepräsidentenfrage - angeht,
({2})
und dass man in diesem Licht den im Februar abgegeben
Schalmeienklängen mit ungeheurem Misstrauen begegnen muss?
({3})
Herr Kollege Glos, ich bescheinige Ihnen erstens die
absolute Qualität Ihrer Ratschläge, nicht nur an den
bayerischen Ministerpräsidenten. Zweitens bescheinige
ich Ihnen gerne, dass sicher selbst diese Regierung weiß,
dass das Wort des bayerischen Ministerpräsidenten etwas gilt
({0})
und dass deswegen das Angebot in diese Richtung für
sie gefahrlos erfolgen konnte. Drittens bescheinige ich
Ihnen gerne, dass Ihre Zweifel absolut berechtigt sind;
denn das, was wir im europapolitischen Prozess erleben,
sieht immer so aus: Wir dürfen der Regierung helfen,
wenn sie uns braucht, aber wir werden nicht beteiligt,
wenn das angebracht ist. Das ist in der Tat die Regel.
({1})
Bei all unseren Entscheidungen kommt es darauf an,
welches Bild wir von Europa haben,
({2})
wie wir uns die Europäische Union vorstellen. Damit im
Zusammenhang stehen die Frage der Erweiterung, die
Frage, wie wir die Verfassung mit Leben erfüllen, und
die Frage, wie wir das deutsche Parlament an den Entscheidungsprozessen in Europa beteiligen.
Wir wollen eine Europäische Union, deren Bürger
sich zusammengehörig fühlen. Wir wollen eine Europäische Union, die als Wertegemeinschaft einen Beitrag zu
einer lebenswerten, gerechten und solidarischen Welt
leistet. Ich finde es beachtlich, was unser neuer Bundespräsident, Professor Köhler, gestern dazu gesagt hat:
({3})
Diese Verantwortung für Europa und die Welt ist uns
wichtig. Das prägt unser Europabild. Wir wollen eine
Europäische Union, die ihren Mitgliedstaaten Zukunft
sichert. Die Verfassung ist nicht das Ende aller Wünsche,
aber sie ist der gute Anfang einer starken politischen
Union.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt haben wir es gehört: Herr Stoiber opfert sich für
Deutschland.
({0})
Ich hoffe, Frau Merkel macht das mit. Das käme uns für
2006 ganz zupass. Viel Schlaues ist Ihnen aber zu diesem generösen Angebot der Bundesregierung auch nicht
eingefallen.
({1})
Herr Hintze, ich bin eben von dem einen oder anderen
Kollegen gefragt worden, ob Sie sich immer so fürchterlich verhalten. Ich habe gesagt: Der Kollege Hintze ist
eigentlich in den Diskussion über Europafragen ein ausgesprochen verträglicher Kollege. Das gilt zumindest für
die Zusammenarbeit im Europaausschuss. Aber offensichtlich müssen Sie hier so auftreten, damit Sie irgendwann einmal in ferner Zukunft unter Frau Merkel Karriere machen. Ihr Verhalten ist möglicherweise Ihrer
Karriere förderlich, dient aber nicht der europapolitischen Arbeit, die wir gemeinsam zu leisten haben.
({2})
- Es ist toll, dass Sie, Herr Kauder, vielleicht noch in
Koalition mit Herrn Glos, von Niveau in diesem Hohen
Hause sprechen. Ich freue mich immer über Ihre tief
schürfenden Reden. Wir können zumindest darüber lachen.
Es gab einmal einen Bundeskanzler, der hat gesagt:
Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. - Wir sind nicht
zum Arzt gegangen, sondern wir haben gemeinsam an
der europäischen Verfassung gezimmert, mit viel Mut
und mit der Bereitschaft, Hürden zu überwinden. Auf
dieses Werk kann die Sozialdemokratie hier in diesem
Hause sehr stolz sein. Die europäische Verfassung ist mit
den Namen von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verbunden und das lassen wir uns auch von Ihnen,
Herr Hintze, nicht nehmen.
Sie missbrauchen die Geschichte als einen Steinbruch, Sie reißen sich da einmal das eine und einmal das
andere Steinchen heraus. Dabei kommen Sie zu Abstrusitäten etwa bei der Beurteilung der Tatsache, dass damals
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - unter
ganz schwierigen Bedingungen - auch mit Repräsentanten der kommunistischen Diktatur zu sprechen hatten.
Ich finde das verwerflich vor dem Hintergrund, dass in
dieser Fraktion Kolleginnen und Kollegen sitzen, die unter der kommunistischen Diktatur gelitten haben und die
selber einen persönlichen Beitrag dazu geleistet haben,
dass diese Diktaturen zerstört werden konnten.
({3})
Lassen Sie also diese Arroganz und denken Sie einmal
über Ihre Herren nach, die nach Chile gefahren sind, die
Michael Roth ({4})
nach Südafrika unter dem Apartheidregime gefahren
sind und ihre eigenen Geschäfte abgewickelt haben.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier in dieser Frage nun wirklich keine Nachhilfe nötig.
({6})
Das Verfassungsprojekt, das wir als Europapolitiker
in den vergangenen Monaten und Jahren zu bewerkstelligen versucht haben, war sicherlich gelegentlich auch
eine Zumutung für die Bürgerinnen und Bürger, weil
sich die Debatten allzu häufig auf Fragen nach Institutionen, Strukturen und Verfahren konzentrierten. Es ging
um Macht. Wir haben vielleicht nicht deutlich genug gemacht, worum es sich bei diesem großartigen Verfassungsprojekt eigentlich dreht: Es geht nämlich darum,
wie wir Globalisierung mit menschlichem Antlitz organisieren können. Wie können wir in einer Welt, die
immer größer wird, wo Grenzen fallen, den Menschen
Sicherheit geben, wie können wir sie vor den Risiken
schützen, wie können wir ein Stückchen Gerechtigkeit
garantieren? Unsere tiefe Überzeugung als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist, dass wir das nur mit
einem starken demokratischen und sozial verfassten
Europa können. Das ist unser Angebot an die Menschen
und diese Frage müssen wir mit dieser europäischen Verfassung in den nächsten Jahren zu beantworten versuchen.
({7})
Aus meiner Sicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
diese europäische Verfassung die Magna Charta des europäischen Sozialmodells, weil sie aufzeigt: Wettbewerb nicht um jeden Preis - der Markt hat seine Grenzen. Das ist ein klares Bekenntnis für Solidarität, dafür
haben einige jahrzehntelang gestritten und Nationalstaaten haben das zu ihrem wesentlichen Identitätsmerkmal
gemacht. Jetzt geht es auch darum, Europa zu einem
Hort der sozialen Stabilität werden zu lassen. Soziale
Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung - all das finden Sie
in dem Zielekatalog dieser Verfassung.
Ich habe mit großer Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass das Wirtschaftsressort der „FAZ“ oder
auch einige Wirtschaftsverbände kritisch angemerkt haben, in dieser europäischen Verfassung sei das Pendel
zwischen Wettbewerb und Sozialmodell einseitig in
Richtung Soziales ausgeschlagen. - Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass
es uns gelungen ist, deutlich zu machen, dass wir Menschen von diesem großartigen Projekt nur überzeugen
können, wenn Europa dazu beiträgt, dass Arbeitsplätze
geschaffen werden, dass es Standards gibt, die für alle
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Gültigkeit haben,
egal ob sie im Osten, im Westen, im Norden oder im Süden dieser Europäischen Union leben. Das ist etwas, wofür Gewerkschaften streiten sollten, dafür sollten aber
auch wir Politiker insgesamt streiten.
({8})
Dieses Modell, liebe Kolleginnen und Kollegen - das
sage ich mit vollem Selbstbewusstsein -, ist auch etwas,
was wir in den internationalen Wettbewerb einbringen
können. Wir müssen deutlich machen, dass es nicht nur
das Prinzip des Hire and Fire gibt, nicht nur das Prinzip,
Standards nach unten abzusenken, sondern dass es Prinzipien gibt, die den Menschen in den Mittelpunkt auch
des wirtschaftlichen Handelns rücken. Ich bin deshalb
sehr optimistisch, dass wir in den kommenden Monaten,
wenn es darum geht, mit Bürgerinnen und Bürgern ins
Gespräch zu kommen, diese Ideen verankern können.
Der größte Erfolg ist sicherlich die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta. Jürgen Meyer ist
heute zu Gast, ich grüße ihn herzlich im Namen der
Fraktion.
({9})
Ich weiß noch, wie er damals fernab der Öffentlichkeit
für die Grundrechte-Charta gestritten hat. Ich denke,
dass ohne diese große Errungenschaft der GrundrechteCharta, in der sich Freiheitsrechte und soziale Grundrechte manifestieren - für alle Menschen verbindlich -,
weniger Faszination von diesem Verfassungsprojekt ausginge. Denn wir sind nicht eine Gemeinschaft allein des
Kapitals und der Konzerne, wir sind eine Gemeinschaft
der Werte.
({10})
Dass dazu natürlich auch religiöse Werte gehören,
steht völlig außer Zweifel. Mich stört aber die Selbstgefälligkeit, mit der Sie versuchen, die Fragen der Religiosität und der Wertegebundenheit von Menschen ausschließlich mit Ihrer Partei zu verknüpfen. Viele von uns
haben, wenn auch nicht in der Plumpheit, mit der Sie gelegentlich vorgegangen sind, für diese Ziele gestritten.
Wir müssen aber respektieren, dass die Europäische
Union nicht allein auf dem Christentum basiert und
dass es Staaten gibt, die eine ganz andere, eine streng
laizistische Tradition haben. Vergessen Sie doch die
großen Erfolge nicht, die in den Verfassungsentwurf aufgenommen wurden: Der nationale Status der Kirchen
wird in Art. 51 respektiert; der Dialog zwischen Kirchen, Gesellschaft und Politik wird verbindlich festgeschrieben; die Grundrechte-Charta, für die die Kirchen
auch in Deutschland engagiert gestritten haben, ist festgelegt worden. All das sind große Erfolge, über die wir
uns gemeinsam freuen sollten.
({11})
Wir haben mehr erreicht, als wir erwarten konnten. Die
Erfolge gehen sogar über das hinaus, was in der Präambel der Grundrechte-Charta festgeschrieben wurde, weil
auch die religiösen Werte in Europa deutlich gewürdigt
werden. Ich denke, wir sollten das Glas nicht leerer machen, als es tatsächlich ist.
({12})
Wir haben gestern bemerkenswerte Reden des Altbundespräsidenten und des neuen Bundespräsidenten gehört. Ich will an das anknüpfen, was Franz Müntefering
soeben zum Ausdruck brachte. Meine Generation - die
jüngere Generation - denkt nicht mehr mit dem gleichen
Respekt wie die ältere Generation an die Wurzeln der
Michael Roth ({13})
Integrationsidee, die eigentlich die Erfolgsgeschichte
Europas ausmacht, zurück. Ohne diese europäische Integration hätte es nicht 59 Jahre lang Frieden in Europa
gegeben. Ich fände es schade, wenn sich die Generation,
die Krieg und Unfreiheit glücklicherweise nicht mehr
selber erleben musste, nicht in angemessener Weise an
diese Zeit erinnern würde. Es sollte unsere gemeinsame
Aufgabe sein, die Frage der Friedenssicherung immer
auch mit dieser wunderbaren Idee der Integration Europas zu verknüpfen.
({14})
Europa braucht neue Leidenschaft und neuen Aufbruch. Ich sage das nicht nur, weil die Beteiligung an der
Wahl zum Europäischen Parlament für alle beschämend
war. Der Bundespräsident forderte gestern: Europa muss
besser erklärt werden. Das mag richtig sein, aber ich
glaube auch, dass sich Europa neu positionieren muss.
Europa muss beweisen, dass es zu mehr Sicherheit im
notwendigen Wandel beiträgt und den Wohlstand garantiert. Wir müssen die Idee des Wohlstands für alle
auch in die Regionen Europas tragen, die bislang diese
Vorzüge noch nicht genießen dürfen.
Die Europäische Union braucht daher mehr Handlungsfähigkeit, damit sie die große Idee, Sozialstaatlichkeit überall zu sichern, auch umsetzen kann. Über die
großen Fortschritte ist bereits gesprochen worden: Das
Europäische Parlament ist gestärkt worden und der
Kommissionspräsident wird gewählt. Ich habe überhaupt kein Problem damit, deutlich zu machen, dass uns
das Gezerre um die Frage der Nominierung des Kommissionspräsidenten nicht gefallen hat, aber unsere Antwort ist nicht die Ihrige, Frau Merkel. Bei Ihnen mag es
aus machttaktischen Gründen normal sein, wenn der
eine oder andere verdiente Mensch als Opfer Ihrer Strategien, andere in Amt und Würden zu bringen, am Rande
des Weges liegen bleibt. Das ist nicht unsere Art.
Wir können uns aber durchaus darauf verständigen,
und das sehr schnell - ich glaube, das ist bei der Nominierung deutlich geworden -, dass die Parteienfamilien
endlich zu mehr Zusammenarbeit bereit sein müssen.
Wir brauchen wirkliche europäische Parteien, die im
Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament mit ihren Spitzenkandidatinnen und -kandidaten den Menschen auch ein personelles Angebot unterbreiten. Damit
hätten wir endlich einen Riegel vor das Gezerre geschoben, das teilweise auch zwischen den Staats- und Regierungschefs stattgefunden hat. Das war der Sache unwürdig. Wir brauchen den parteipolitischen Streit und wir
müssen den Bürgerinnen und Bürgern Gesichter in Europa anbieten. Auf diesen Punkt werden wir uns verständigen können.
({15})
Selbstverständlich gibt es auch Enttäuschungen: weniger Mehrheitsentscheidungen als gedacht. Der Außenminister hat in der vergangenen Europaausschusssitzung dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass auch
wir in der Bundesrepublik eine zum Teil abstruse Diskussion darüber geführt haben. Ich kann mich an den einen oder anderen Kollegen, an Länder und an die eine
oder andere Fraktion erinnern, die der Auffassung waren, dass in diesem oder jenem Bereich unbedingt noch
an der Einstimmigkeit festgehalten werden müsse, damit
man nicht irgendetwas über sich ergehen lassen müsse.
Deswegen bin ich mit einer Kritik an anderen Mitgliedstaaten auch zurückhaltend, die sich zum Teil auch aus
Unverständnis heraus sehr heftig für das Einstimmigkeitsprinzip in wesentlichen Politikfeldern eingesetzt haben.
Sicherlich zeigt die doppelte Mehrheit mit ihren
„Girlanden“, wie der Außenminister sie bezeichnet hat,
dass es noch zu viel Misstrauen und zu wenig Vertrauen
in Europa gibt. Wir müssen noch daran arbeiten, dass
das Misstrauen abgebaut wird und dass wir wirklich zu
einer Vertrauensgemeinschaft in der Europäischen
Union werden. Deswegen ist das Prinzip der Regierungskonferenzen aus meiner Sicht weitgehend überholt.
Es bleibt das große Verdienst des Konvents und auch das
Verdienst der Bundesregierung zu würdigen, die sich immer für diesen Konventsentwurf eingesetzt hat, weil sie
der Meinung ist, dass man etwas Besseres als das, was
Parlamentarierinnen und Parlamentarier - zweifellos
auch mit der Unterstützung von Regierungsvertretern erzielt haben, niemals wird erreichen können. Deswegen
war es gut, dass wir an der Seite derjenigen, die die Arbeiten im Konvent stellvertretend für uns verrichten
durften, so engagiert für diesen Konventsentwurf gekämpft haben.
({16})
Der verfassungsgebende Prozess in Europa ist nicht
am Ende angelangt. Es ist ein dynamischer Prozess. Deswegen sollten wir darauf achten, dass der Konvent erhalten bleibt und gestärkt wird und dass wir es mit dem
Konvent vor allem schaffen, die Bürgerinnen und Bürger
noch mehr mit auf die Reise zu nehmen.
Aus meiner Sicht gibt es mehrere Herausforderungen.
Über den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern
habe ich schon gesprochen. Ich sage das ganz offen: Der
eine oder andere hier ist der Auffassung, es reiche das
Ratifizierungsverfahren über den Bundestag und den
Bundesrat. Richtig, aber das entledigt uns nicht der Verpflichtung, dass wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier bei der Bevölkerung stärker um Unterstützung
für dieses Verfassungsprojekt werben, dass wir uns der
Kritik stellen, dass wir Überzeugungsarbeit leisten und
dass wir das nicht nur hier, sondern auch draußen auf der
Straße, in den Versammlungen und in unseren Parteien
tun. Da ist noch viel Arbeit zu leisten. Ich hoffe, dass wir
uns dazu durchringen können.
Die Stärkung der Europatauglichkeit des Bundestages ist angesprochen worden. Es geht dabei aber nicht
nur um neue Rechte, sondern auch um neue Pflichten.
Herr Kollege Kauder, in der Arbeitsgruppe, die vom
Bundestagspräsidenten einberufen wurde, reden wir sehr
offen und, wie ich denke, auch sehr konstruktiv über
diese Fragen. Es darf aber keine neuen Blockaden geben.
Wir diskutieren in der KoMBO über den Abbau von
Blockaden zwischen dem Bund und den Ländern und
Michael Roth ({17})
dürfen jetzt keine neue Blockaden aufbauen, wenn es um
europäische Fragen geht.
({18})
Wir müssen den Bundestag zu einem konstruktiven Mitgestalter der Europapolitik weiterentwickeln. Das
scheint mir das Wesentliche zu sein, worauf wir uns verständigen sollten.
Lieber Herr Hintze, es gibt auch keine Koppelgeschäfte. Entweder Sie stimmen im Rahmen der Ratifizierung für diese Verfassung oder Sie lassen es bleiben. Die
Fragen, wie wir den Bundestag stärken, die Subsidiarität
ordentlich organisieren und ein Early-warning-System
einrichten können, sind ganz andere Geschichten. Wir
sollten das schön separat voneinander diskutieren und
nicht Dinge zusammenmischen, die nur begrenzt etwas
miteinander zu tun haben.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein historischer Moment. Von Willy Brandt ist gesprochen worden.
Möglicherweise stimmen Sie nicht damit überein; irgendwann einmal wird aber in den Geschichtsbüchern
stehen, dass sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten große Verdienste bei diesem Verfassungsprojekt
erworben haben. Das sollte uns nicht nur mit Stolz erfüllen, sondern auch Ansporn sein.
Die längste und schwierigste Wegstrecke liegt aber
noch vor uns, nämlich nicht nur die Parlamente mit einer
Mehrheit hinter das Verfassungsprojekt zu bekommen,
sondern vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger endlich wieder leidenschaftlich an dieses Verfassungsprojekt und diese wunderbare Europaidee heranzuführen.
Das zumindest sollte unsere gemeinsame Aufgabe sein.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion sieht in der Verfassung auch
einen ganz wichtigen Beitrag zur stärkeren Identitätsstiftung, also dazu, in Deutschland ein Bewusstsein für
die Europäische Union zu schaffen. Wir wollen den Diskurs und den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern
ehrlich führen und nicht nur hier darüber reden. Heute
und in den nächsten Monaten werben wir, die Liberalen,
deshalb dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger am Ende
des Ratifikationsprozesses ihre Stimme für die europäische Verfassung in einer Volksabstimmung abgeben.
({0})
Wir sind zuversichtlich: Natürlich wird es eine Mehrheit
dafür geben, wenn wir ehrlich informieren, worum es
geht und was für ein Gewinn die europäische Verfassung
ist. Wir müssen aber auch deutlich machen, was wir in
den Folgejahren an Verbesserungen erreichen wollen.
Herr Roth, wir müssen wirklich ehrlich informieren.
Sie haben hier - das verstehe ich - betont, wie wichtig
gerade Ihnen die soziale Ausrichtung der Europäischen
Union ist. Wir als Liberale bekennen uns ganz klar zu
den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Aber Sie
müssen auch ehrlich sagen: Was kann die Europäische
Union hier tun? Wo hat sie denn Kompetenzen? Sie hat
doch in der Sozialpolitik nicht die alleinige Kompetenz.
Soziale Umgestaltungen, die notwendig sind, müssen die
Mitgliedstaaten in ihren nationalen Parlamenten machen. Dafür tragen wir hier gemeinsam die Verantwortung.
({1})
Es wäre falsch und gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern nicht ehrlich, wenn wir den Eindruck erwecken
würden, all das, was uns an der Politik in Deutschland
im Bereich der Sozialpolitik, Rente, Gesundheit, Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht passt, könnte über
Europa wieder zurückgeführt werden. Das wird nicht gelingen. Das kann auch nicht sein. Wir in Deutschland
müssen nach wie vor unsere Hausaufgaben auf diesem
wichtigen Themenfeld machen.
({2})
Wir wollen eine zügige Ratifikation mit einer wirklich ehrlichen und umfassenden Information über die
Verfassung. Wir wollen nicht, dass dieser Abstimmungsprozess mit Fragestellungen befrachtet wird, die zwar
für Europa wichtig sind, aber mit der Verfassung in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehen. Deshalb müssen wir die Türkeifrage selbstverständlich ernsthaft diskutieren; dabei müssen wir aber auch die bisherigen
geschichtlichen Weichenstellungen ehrlich einbeziehen
und dürfen sie nicht konterkarieren. Gleichzeitig dürfen
wir die Beantwortung dieser Frage aber nicht zur Bedingung für die Zustimmung zur europäischen Verfassung
machen.
Wir als Liberale unterstützen das Subsidiaritätsprinzip. Politik muss sich, gerade angesichts einer zunehmenden Kompetenz der Europäischen Union in vielen
Fragen, nah am Bürger ausrichten. Wir waren immer dafür, dass die Europäische Union im Bereich der Außen-,
Innen- und Justizpolitik handlungsfähiger sein muss.
Hier brauchen wir eine Stärkung des gemeinsamen
Europas. Da aber, wo die Kompetenzen nicht vorhanden
sind, müssen wir als Parlament die Kontrollaufgaben
wahrnehmen, und zwar ernsthaft. Dies muss bereits zu
einem Zeitpunkt geschehen, zu dem noch keine abschließenden Entscheidungen der Bundesregierung zu
Vorhaben in der Europäischen Union vorliegen.
Das lassen wir uns viel zu häufig aus der Hand nehmen. Wir müssen unsere Kontrollaufgaben viel besser
und engagierter - auch einmal gegen die Position der
Bundesregierung - wahrnehmen. Es ist ganz entscheidend - egal, wer regiert -, dass eine Minderheit im Parlament bei Fragen der Subsidiarität Rechte durchsetzen
kann; denn sonst können wir unsere Kontrollaufgaben
nicht wahrnehmen.
Recht herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Endlich haben wir sie: die europäische Verfassung. Lange wurde verhandelt, erst im Konvent, dann in
der Regierungskonferenz. Am Schluss standen wie immer, wenn sich die Staats- und Regierungschefs einigen
müssen, harte Verhandlungen und zähes Ringen um
einen Kompromiss. Diplomatisches Verhandlungsgeschick und vor allem politischer Wille haben am Schluss
zu einem Ergebnis geführt. Diesmal ist es ein gutes Ergebnis.
({0})
Zum ersten Mal hat die Europäische Union, haben die
Bürgerinnen und Bürger eine Verfassung. Diese Verfassung hat ihren Namen durchaus verdient; denn sie ist ein
Meilenstein in der europäischen Integrationsgeschichte.
Sie ist - das kann man ohne zu übertreiben sagen - das
bedeutendste Werk seit den Römischen Verträgen.
({1})
Die Verfassung markiert auch das Ende der europäischen Teilung; denn sie ist das Fundament, auf dem die
europäischen Staaten in Ost und West ihre gemeinsame
Zukunft aufbauen. Es ist zudem das erste Mal, dass die
neuen Mitgliedstaaten an der Erarbeitung neuer Verträge
beteiligt waren. Eine kleine Nebenbemerkung sei mir
auch gestattet, nämlich dass auch die Kandidatenländer
Bulgarien und Rumänien wie auch die Türkei, Herr
Hintze, mit am Tisch saßen. Nur so viel dazu, dass der
Beitritt der Türkei angeblich die Vertiefung der EU behindern würde.
Zurück zum eigentlichen Thema, zur Verfassung: Sie
ist die logische Folge des Beitritts der zehn neuen Mitgliedstaaten. Lassen Sie mich das einmal ganz plastisch
und lebensnah formulieren. Bekanntlich braucht ein
Kind, das wächst, neue Kleider, denn die alten zwicken
und drücken. Die Verfassung ist das neueste Kleid für
Europa. Sie wird nicht das letzte Kleid sein, denn bekanntlich ist unser Europa noch nicht ganz ausgewachsen. Aber im Moment passt dieses Kleid sehr gut. Es
passt weit besser als das letzte Modell aus Nizza.
Deswegen bin ich auch sehr froh, dass in der Regierungskonferenz am Ende der Gestaltungswille über die
Blockade gesiegt hat. Der Gestaltungswille der deutschen Bundesregierung hat ganz wesentlich zum Erfolg
der Regierungskonferenz und des Konventes beigetragen. Die Teilnahme des deutschen Außenministers am
Konvent und die deutsch-französische Kooperation mit
gemeinsamen Initiativen haben die Dynamik schon im
Konvent gestärkt. Mit der Verhandlungsstrategie, im Gegensatz zur Union den Konventsentwurf nicht aufschnüren zu wollen, hat die Bundesregierung nicht nur den
Respekt vor der Leistung des Konventes zum Ausdruck
gebracht, sondern auch erkannt, dass es einer Regierungskonferenz nie gelingen würde, einen ähnlich guten
Vorschlag zu machen, wie es der Konvent geschafft hat.
Damit sollte sie auch Recht behalten. Denn praktisch
alle Änderungen, die die Regierungskonferenz am Entwurf des Konventes vorgenommen hat, waren Rückschritte. Deswegen bin ich froh, dass es trotz der harten
Verhandlungen in der Regierungskonferenz gelungen ist,
der Europäischen Union eine Verfassung zu geben, die
große Integrationsfortschritte mit sich bringt, Fortschritte von entscheidender Bedeutung in demokratischer Hinsicht, in Bezug auf Transparenz und Effizienz.
Die Einzelpunkte wurden hier schon häufig erwähnt; die
will ich jetzt nicht wiederholen.
Natürlich hätte ich mir noch einiges mehr vorstellen
können, mehr an Integration, mehr an Demokratie. Aber
ich bin Realistin genug, um zu sagen: Das ist der europäische Kompromiss und mehr war nicht drin. - Ich weiß,
dass der Entwurf dort, wo er mir nicht weit genug geht,
anderen schon viel zu weit geht. Deshalb hoffe ich auf
eine erfolgreiche Ratifizierung.
({2})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass das Ratifikationsverfahren in 25 Mitgliedstaaten kein Spaziergang
wird. Umso wichtiger ist es, dass Länder wie Deutschland, die die europäische Integration stärken wollen, mit
gutem Beispiel vorangehen.
({3})
Je mehr Länder die Verfassung möglichst schnell verabschieden, desto stärker wird das Signal an die Zögerlichen, mitzuziehen. Deswegen, Herr Hintze, bin ich sehr
froh, dass Sie Ihre Position in dieser Frage geändert haben und jetzt keine Bedingungen mehr für die Zustimmung der Union im Ratifikationsverfahren stellen.
({4})
- Ach, Herr Müller, ich bin einmal gespannt auf Ihre Bedingungen und darauf, ob die sich in der Union durchsetzen werden.
({5})
In der „FAZ“ vom 22. Juni las ich das noch ganz anders,
Herr Hintze. Ich muss aber ehrlich sagen: Ich hätte mir
auch nicht vorstellen können, dass eine Parteivorsitzende
wie Frau Merkel, die in letzter Zeit doch einen sehr beachtlichen europapolitischen Ehrgeiz entwickelt hat,
({6})
allen Ernstes die europäische Verfassung ablehnen
würde.
({7})
Bei der CSU, Herr Müller, bin ich mir da nicht so sicher.
Immerhin hat Ihre Partei diesen Fehler 1949 schon einmal gemacht und das deutsche Grundgesetz abgelehnt.
({8})
- Ich habe das leider nicht gehört, aber vielleicht war das
auch gut so. - Ich hoffe, dass Sie diesen Fehler nicht
wiederholen. Denn diesmal hätte er weitaus schlimmere
Konsequenzen.
({9})
Ich möchte noch etwas anderes ansprechen. Ich habe
mich bekanntlich in den letzten Europadebatten immer
wieder für ein bestimmtes Thema stark gemacht, nämlich für das Ende des Euratom-Vertrages. Jetzt ist es an
der Zeit, der Bundesregierung für ihr Engagement in dieser Frage zu danken. Leider konnte zwar das große Ziel
der Abschaffung des Euratom-Vertrages nicht erreicht
werden, aber immerhin hat Deutschland gemeinsam mit
Österreich und Irland die Erklärung abgegeben, dass die
Vertragsrevision unser gemeinsames Ziel bleibt.
({10})
Frau Kollegin Lührmann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ja. - Insofern muss ich all jenen widersprechen, die
meinen, es gäbe keine leftovers mehr; denn der Euratom-Dinosauriervertrag ist ganz sicher eines.
Ich möchte zum Schluss den großen deutschen Europäer Walter Hallstein zitieren.
({0})
- Ja, CDU. Auch CDU-Politiker sagen manchmal kluge
Sachen.
({1})
Hallstein hat gesagt:
Wer in europäischen Angelegenheiten nicht an
Wunder glaubt, der ist kein Realist.
In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns realistisch bleiben!
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Viele Wählerinnen und Wähler
haben ihr Desinteresse an der Europawahl bekundet
und sind gar nicht erst hingegangen. Sie haben gespürt,
dass sie über die wirklich wichtigen Fragen, zum Beispiel die Verfassung, nicht selbst entscheiden dürfen.
Wir als PDS konnten bei der Europawahl kräftig zulegen und das hat vor allem zwei Gründe: Erstens haben
wir als PDS uns klar gegen das Rüstungsgebot in der
Verfassung gewandt und zweitens haben wir uns klar für
eine Volksabstimmung über die Verfassung ausgesprochen.
({0})
Wie schlecht Sie, meine Damen und Herren im Bundestag, mit dem Wahlergebnis leben können, haben Sie
gestern gezeigt. Alle Fraktionen - von der CDU/CSU bis
zu den Grünen - haben entschieden, dass die PDS-Europaabgeordneten nicht im Europaausschuss des Bundestages mitwirken dürfen. Wir haben jetzt die absurde
Situation, dass die FDP einen EU-Parlamentarier in den
Ausschuss delegieren kann, wir als PDS aber nicht. Dabei haben wir bei der Europawahl zwar nicht wesentlich,
aber doch besser abgeschnitten als die FDP. Frau
Leutheusser-Schnarrenberger hat gerade die Bedeutung
der Rechte der Minderheiten hervorgehoben. Schade,
dass das gestern vergessen wurde.
Das Europäische Parlament ist neu gewählt worden
und man hat den Eindruck, es geht alles so weiter wie
bisher; das Wahlergebnis hat keine Auswirkungen. Die
Kollegin Dr. Merkel von der CDU/CSU ist schon in
einem anderen Zusammenhang darauf eingegangen.
Die Europapolitik wird nicht im Europäischen Parlament gemacht, sondern zwischen den Regierungschefs
hinter verschlossenen Türen ausgekungelt. Nach dem
letzten EU-Gipfel wird der Eindruck vermittelt, dass die
Verfassung so gut wie in Kraft ist. Doch das ist ein Trugschluss und es kann für die Regierung noch ein böses Erwachen geben. Es gibt nämlich viele Menschen, die sich
mit dieser Verfassung nicht anfreunden können.
Aus der Sicht der PDS gibt es drei Ablehnungsgründe: Erstens. Die Verfassung wurde mit jeder neuen
Verhandlungsrunde undemokratischer. Zweitens. Die
Verfassung wurde mit jeder neuen Verhandlungsrunde
unsozialer. Drittens. Die Verfassung wurde mit jeder
neuen Verhandlungsrunde militärischer. Auf diesen
Punkt möchte ich etwas näher eingehen.
Am 15. Juni haben mehrere Forschungsinstitute das
„Friedensgutachten 2004“ vorgestellt. Die Wissenschaftler beschreiben die Sicherheitsstrategie der EU wie
folgt - ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten -:
Sicherheit ({1}) von der EU in einem eng militärischen Sinne als Voraussetzung für Entwicklung definiert, während die umgekehrte Blickrichtung, die
soziale, ökonomische und rechtliche Entwicklungsfaktoren zum Ausgangspunkt für Sicherheit macht,
unterbelichtet bleibt.
Diese Sicherheitsstrategie wird Europa nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bringen. Es ist fatal, dass es in
der Verfassung keine eindeutigen Aussagen gibt, dass
militärische Interventionen nur als Ultima Ratio zu betrachten sind.
({2})
Dagegen wird eine Rüstungsagentur in der Verfassung
verankert und das Militär auf „robustes Eingreifen“
weltweit vorbereitet. Wofür braucht Europa eine Rüstungsagentur, wenn Europa schon jetzt nach den USA
der größte Rüstungsproduzent der Welt ist? Gegen wen
wollen Sie sich eigentlich rüsten? Wollen Sie in Zukunft
Bin Laden mit 68 Eurofightern jagen, die den Steuerzahler 2,5 Milliarden Euro kosten werden? Reichen dafür
nicht die 44 Eurofighter, die bereits 2,3 Milliarden Euro
gekostet haben?
Die Europäische Union setzt auf die falschen Mittel
zur Lösung der globalen Probleme. Das Verhältnis von
zivilen und militärischen Mitteln stimmt einfach nicht.
Wenn es aus Ihrer Sicht eine in der Verfassung festgeschriebene Rüstungsagentur geben muss, warum gibt es
dann nicht wenigstens auch zum Beispiel eine Agentur
zur friedlichen Konfliktvermeidung und Konfliktlösung?
Wir finden, dass die Überbetonung des Militärischen in
der Verfassung auch deshalb von uns hier so scharf kritisiert werden muss, weil klar ist, dass es nicht ohne Wirkung auf die europäische Innenpolitik bleiben wird,
wenn die EU auf militärische Konfliktlösung in der Außenpolitik setzt.
Sie alle haben sich mehr oder weniger sehr zustimmend zu der Verfassung geäußert. Wenn Sie von der Verfassung so überzeugt sind, wie Sie es in der Debatte dargelegt haben, dann frage ich: Warum haben Sie nicht den
Mut, die Verfassung durch das Volk bestätigen zu lassen?
({3})
Ich schließe mich ausschließlich der Argumentation
von Frau Leutheusser-Schnarrenberger an, die gesagt
hat: Wenn man etwas durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen will, dann muss man sich schon die Mühe
machen, zu den Menschen zu gehen, und ihnen erklären,
worum es eigentlich geht. Es reicht nicht aus, zu sagen:
Wir haben etwas Gutes und Schönes, in Europa sind alle
einverstanden. Vielmehr muss man vor Ort erklären, worum es im Detail geht, damit die Bürgerinnen und Bürger
eine Entscheidung treffen wollen und können. Vor einer
konkreten Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern
scheinen aber die meisten von Ihnen - mit Ausnahme
der FDP - Angst zu haben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Meckel von
der SPD-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute in allen Fraktionen und trotz mancher
aufgeregter Töne deutlich geworden, dass die ganz
große Mehrheit dieses Hauses - bei meiner Vorrednerin
ist das eher nicht der Fall - einig darüber ist, welch ein
großer Erfolg die Verfassung ist.
Wir sollten noch einmal auf die Situation Anfang der
90er-Jahre zurückblicken, als sich nach den Umbrüchen
in Europa, nach dem Sieg von Freiheit und Demokratie
die Frage stellte, wie die EU reagieren soll. Die Erweiterung war nicht von vornherein klares strategisches Ziel.
Es bedurfte vielmehr auch in Westeuropa mancher Überzeugungsarbeit, um den langen Weg der Erweiterung zu
gehen. Dieser Weg ist für viele Länder im Frühjahr dieses Jahres erfolgreich zu Ende gegangen. Aber dieser
Weg ist weiterzugehen, wenn man an Rumänien, Bulgarien, aber auch an andere Länder denkt.
Vor 25 Jahren hat Willy Brandt - das ist schon angesprochen worden - eine europäische Verfassung gefordert. Wer glaubte Anfang der 90er-Jahre, dass das möglich sein wird? Auch enge Verbündete waren skeptisch.
Ich erinnere mich, dass Jacques Chirac in seiner Rede
vor dem Deutschen Bundestag im Jahr 2000 eine europäische Verfassung forderte. Hier hat sich sehr viel getan. Nun liegt ein gemeinsamer Verfassungsentwurf vor.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es
wichtig war, dass wir in Deutschland parteiübergreifend
dafür gearbeitet haben und eingetreten sind. Ich würdige
in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Vertreter der
CDU/CSU im Konvent, die dort Wesentliches geleistet
haben. Herr Altmaier - er ist anwesend - hat gemeinsam
mit Jürgen Meyer dort sehr gute Arbeit geleistet. Viele
Initiativen sind aber auch gemeinsam eingebracht worden.
({0})
Heute haben wir vieles erreicht. Aber wir alle wissen,
dass wir nicht bei den Erfolgen stehen bleiben dürfen.
Es ist von Sicherheit geredet worden. Dabei geht es
nicht nur um den 11. September 2001. Vielmehr gibt es
viele grundsätzliche Fragen, die unsere Sicherheit heute
und in Zukunft bestimmen. Frau Lötzsch, ich möchte in
diesem Zusammenhang daran erinnern: Die Verfassung
ist zwar das zentrale Dokument. Herr Solana hat im letzten Jahr eine Sicherheitsstrategie vorgelegt. Sie ist im
letzten Dezember gemeinsam beschlossen worden. Jetzt
ist sie die europäische Sicherheitsstrategie. Frau
Lötzsch, lesen Sie sich diesen Beschluss einmal durch!
Darin steht alles, was Sie hier einfordern, Stichwort „Bedeutung der integrierten Außenpolitik in den zivilen, in
den ökonomischen und in den diplomatisch-politischen
Dimensionen“. Jeder, der glaubt, dass Sicherheitspolitik
und Friedenspolitik völlig ohne militärische Dimensionen möglich sind, ist naiv. Wir leben nun einmal - „leider“ mag mancher sagen - nicht im Himmelreich.
Wir stehen vor inneren und äußeren Herausforderungen. Innere Herausforderungen - das beziehe ich auf die
Geographie Europas - betreffen unter anderem den
westlichen Balkan. Mitten in der EU gibt es einen Bereich, der für uns eine zentrale Herausforderung ist. Dadurch, dass Kaliningrad von Staaten der Europäischen
Union umschlossen ist, ist Russland unser Nachbar im
Osten. Auch mit Kaliningrad ist eine zentrale Herausforderung verbunden. Dort, also in einer Region umschlossen vom Territorium der EU, gibt es manche Gefahren
- organisierte Kriminalität, Drogen und viele andere Bereiche -, denen wir gemeinsam mit den Nachbarn, zum
Beispiel mit Russland und Staaten auf dem westlichen
Balkan, mit einer eigenen Strategie begegnen müssen.
Ich glaube, dass es auf diesem Gebiet nach den Kriegen in den 90er-Jahren wesentliche Fortschritte gibt. Die
EU, die NATO und die internationale Staatengemeinschaft haben durchaus erfolgreich agiert, nachdem wir
uns überhaupt nicht mehr hatten vorstellen können, dass
es mitten in Europa zu solchen Kriegen und zu solchen
Verbrechen kommt. Wir sehen - die Welt hat es zuletzt
im März im Kosovo gesehen -, wie instabil die Lage ist.
Wenn wir uns die einzelnen Länder anschauen, dann erkennen wir, was alles noch getan werden muss.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Integrationsund Europaperspektive für diese Region, also das, was
der Europäische Rat in Thessaloniki beschlossen hat, der
wesentliche Stabilitätsfaktor ist und dass es zusätzliche
Initiativen braucht. Ich halte zum Beispiel eine KosovoInitiative der Europäischen Union am Anfang des
nächsten Jahres für ausgesprochen wichtig. Wir können
und sollten es nicht wieder den USA überlassen, eine
solche Initiative zu ergreifen. Ich bin sicher, dass die
USA dies tun werden, wenn wir nicht vorher aktiv werden. Kosovo liegt mitten in Europa. Die Staaten dieser
Region haben nicht nur eine europäische Perspektive,
sondern sie wollen auch Mitglied der Europäischen
Union werden. Die Europäische Union sollte gezielt aktiv werden, nicht ohne die USA, natürlich mit den Vereinten Nationen und durchaus auch im Gespräch mit
Russland. Ich wiederhole: Die Initiative sollte von uns,
von Europa, ausgehen.
Die nächste zentrale Frage betrifft die Gestaltung unserer Nachbarschaft. Auch hier hat die Europäische
Union Initiativen ergriffen. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass das öffentliche Augenmerk deutlich
darauf gelenkt ist. Ich freue mich sehr, dass die Europäische Union mittlerweile den südlichen Kaukasus in diese
Strategie mit aufgenommen hat. Das war vorher nicht
der Fall.
Als Letztes möchte ich auf die Frage der Minderheiten innerhalb nationaler Mehrheiten in Europa zu sprechen kommen. Dieser Punkt ist bisher nicht angesprochen worden. Zumindest in Deutschland steht er nicht
im Licht der Öffentlichkeit. Nach 1990 und spätestens
nach 1993, Stichwort „Kopenhagener Kriterien“, hat die
Europäische Union den neuen Mitgliedstaaten immer
wieder gesagt, wie wesentlich die Einhaltung der Minderheitenrechte ist und dass Minderheiten in ihren Regionen, wo sie oft seit vielen Jahrhunderten leben, eine
Chance haben müssen.
Gerade durch den Druck, die entwickelten Kriterien
einzuhalten, ist auf diesem Gebiet in Ungarn, in Rumänien, in der Slowakei, aber auch in anderen Ländern viel
geschehen. Gleichzeitig hat sich Anfang der 90er-Jahre
gezeigt, dass auch der Rechtsrahmen Westeuropas, der
damaligen Europäischen Union und auch des Europarates in dieser Frage noch keineswegs ausreichend ist. Was
die Gestaltung von Recht durch den Europarat - Stichwort „Europäische Menschenrechtskonvention“ - und
die jüngst erarbeitete europäische Verfassung angeht, ist
mehr geschehen, als wir wahrgenommen haben. Insbesondere Ungarn hat sich eingesetzt und wir haben dies
unterstützt.
Nachdem diese Rechte geschaffen worden sind, halte
ich es für wichtig, dass sie nicht nur durch die einzelnen
Staaten implementiert werden, sondern dass sie auch
durch europäische Institutionen gestärkt und begleitet
werden. Wir brauchen eine personelle und institutionelle
Stärkung dieser Dimension des europäischen Rechts.
Ich hielte es für gut, wenn zum Beispiel einer der vielen europäischen Kommissare eine solche Verantwortung bekäme oder wenn es einen Ombudsmann des Europäischen Parlaments mit dieser Verantwortlichkeit
gäbe. Die östlichen und südöstlichen europäischen Länder wären dafür, glaube ich, besonders dankbar. Wir sollten sie darin unterstützen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Gerd Müller von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir
eine ganz besondere Freude, dass ich als CSU-Vertreter
für die CDU/CSU-Fraktion in dieser spannenden Debatte einen Schlusspunkt setzen darf. Herr Außenminister - da Sie wieder im Saal sind, spreche ich Sie direkt
an -, die CSU hat in Bayern bei der Europawahl
57,4 Prozent und damit das beste Ergebnis aller Parteien
in Europa erzielt.
({0})
Wenn wir dieses Votum der Bürgerinnen und Bürger als
Votum für die Politik akzeptieren, die wir in Europa verDr. Gerd Müller
treten, dann muss ein grundlegender Richtungsschwenk
vorgenommen werden.
Die SPD hat es fertig gebracht, das 18-Prozent-Projekt in Bayern umzusetzen. Sie ist bei 15 Prozent und die
Grünen sind bei 11 Prozent gelandet. Das ist die Ausgangslage.
Zum Verfassungsvertrag. Ich blicke dazu auch einmal
auf die Zuschauertribünen; denn die Menschen sollen
solch eine Diskussion ja verstehen. Das Problem ist, dass
sie Europa nicht mehr verstehen. Das geht auch uns so.
Kaum jemand versteht dieses Europa in den Dokumenten. Deshalb titelt die „FAZ“ am 21. Juni: „Ein ungewisser Vertrag für ein ungewisses Europa“.
Das Echo in den europäischen Staaten ist völlig unterschiedlich. Lediglich hier im deutschen Parlament gibt
es eine relativ selektive Wahrnehmung. Man hört nur die
Argumente, die man gern hören will, und verstärkt so
seine eigene Position. Aber auch in Deutschland ist das
Meinungsspektrum wesentlich größer.
Positiv ist, dass wir jetzt eine europäische Debatte mit
der Öffentlichkeit, mit den Bürgerinnen und Bürgern
und in den Parteien führen können. „Liebe Freunde“,
hätte ich fast gesagt; liebe Vertreterinnen und Vertreter
der Grünen, Herr Außenminister, ich erkläre ganz deutlich: Tabus aufzubauen ist der falsche Weg. Wir müssen
schon miteinander reden. Es muss auch noch erlaubt
sein, anders zu denken und anders abzustimmen als Sie.
({1})
„Es muss weitergehen in Europa“, hat der neue Bundespräsident gestern gesagt. Ohne Kleinmut: Mit
80 Millionen Menschen hat Deutschland in der Mitte
Europas eine große Verantwortung. Die Menschen
wollen wissen: Welchen Weg gehen wir in der Europäischen Union der 25? Wir haben ihnen etwas versprochen. Europa sollte einfacher, demokratischer und
durchschaubarer werden. Ich erspare Ihnen, meine Damen und Herren, dass ich Ihnen vorlese, wie die zukünftigen Mehrheitsentscheidungen im Brüsseler Rat zustande kommen. Ich habe es nach dreimaligem Lesen
nicht verstanden. Die Bürgerinnen und Bürger haben
überhaupt keine Chance, das europäische Rechtsetzungssystem jemals zu durchschauen.
Die Regierungschefs haben sich vorgenommen: eine
klare Kompetenzabgrenzung, eine Beschränkung der europäischen Regelungswut, eine Rückübertragung von
Zuständigkeiten auf die Mitgliedstaaten dort, wo es sinnvoll ist, eine Stärkung der Parlamente und ein wertebezogenes Europa.
Was ist herausgekommen? Roger Köppel beschreibt
diesen Verfassungsvertrag in der „Welt“ vom 21. Juni
wie folgt:
Interessanterweise hat der Versuch, die byzantinischen Strukturen der Union zu vereinfachen, das
wohl paragrafenreichste Gesetzeswerk der abendländischen Rechtsgeschichte hervorgebracht. Wenn
es zutrifft, dass sich die Schlüssigkeit einer Verfassung auch in ihrer Prägnanz offenbart, dann ist das
vorliegende Modell vermutlich ein Indiz dafür, dass
die Hausaufgaben nicht erledigt wurden. …
Der Kurs bleibt zentralistisch.
Auch diese Stimmen muss man hier mit diskutieren.
Günther Nonnenmacher, der auch sonst häufig von allen Parteien hier zitiert wird, kommt in der „FAZ“ vom
21. Juni zu dem Schluss:
Dies ist also ein typisch europäisches Dokument,
was bedeutet, daß vermutlich kaum ein „Normaleuropäer“ es je lesen oder sonderlich schätzen wird.
Meine Damen und Herren, die Bundesbank äußert in
ihrer offiziellen Stellungnahme durch Herrn Professor
Weber substantielle Kritik, da die geltende Währungsverfassung, der Maastricht-Vertrag in zentralen Punkten
verändert wird. Wir haben dem deutschen Volk beim
Übergang von der D-Mark zum Euro versprochen, dass
dies niemals der Fall sein wird. Mit der Umsetzung des
Verfassungsvertrages würde dieser Fall eintreten. Dies
betrifft beispielsweise die Unabhängigkeit der nationalen Notenbanken und der Europäischen Zentralbank.
Ernst-Joachim Mestmäcker, der renommierte
Rechtsprofessor und frühere Direktor des Hamburger
Max-Planck-Institutes, kritisiert die Festlegung der
Europäischen Grundrechte-Charta mit folgenden Worten:
Manches an der Charta erinnert an die Rechtstechnik der sozialistischen Staaten: Jeder hat Anspruch
auf alles. Und letztlich bekommt niemand etwas.
Meine Damen und Herren, wir müssen diese Stimmen
aus der Wirtschaft und der Wissenschaft in den parlamentarischen Beratungsprozess einfließen lassen. Man
kann nicht Kolleginnen und Kollegen ausgrenzen, die
sich solchen Positionierungen anschließen.
({2})
Diese Stimmen dokumentieren nämlich auch ganz präzise das Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger.
Lassen Sie mich zu ein paar Einzelpunkten Stellung
nehmen. Natürlich handelt es sich um einen Kompromiss und es gibt eine Reihe einzelner Punkte, die positiv
zu bewerten sind. Ich möchte positiv die Weiterentwicklung des Mitentscheidungsrechtes des Europäischen Parlaments, den verstärkten Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, die Fortschritte in der ESVP - das betone
ich ganz besonders -, die Rüstungsagentur, die Solidaritätsklausel hervorheben. Dies muss man positiv sehen.
Dabei sind wir einen wichtigen Schritt vorangekommen.
Wenn weder der Bundeskanzler noch ein anderer Sprecher heute den Bundesaußenminister gelobt hat, dann
mag es dafür Gründe geben. Aber in den genannten
Punkten sind wir ein Stück weit vorangekommen.
Es gibt aber nicht nur die positiven Seiten; es gibt
auch Schattenseiten. Man muss offen auch mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber reden und diskutieren
können, für welche europäischen Maßnahmen wir Deutschen einen Preis gezahlt haben. Verschweigen hilft
nicht, denn am Schluss müssen wir abwägen, was bei
unserer Entscheidung im Vordergrund steht. Eine Schattenseite des Vertrages ist, dass die Kompetenzabgrenzung, die zum Kern des Verfassungsvertrages gehören
sollte, nicht geschehen ist.
({3})
Professor Peter Huber, der den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität München innehat, bewertet diesen Punkt sehr prägnant:
Vollkommen gescheitert ist die EU-Verfassung
schließlich beim zentralen Anliegen der deutschen
Länder, der Kompetenzbegrenzung.
Er fährt fort:
Der so genannte Acquis Communautaire,
- das ist das Gesetzesregelungswerk der Europäischen
Union dessen Regelungen die kommunale Wasserversorgung heute schon ebenso erfassen wie das Kopftuchtragen in der Schule,
({4})
hat sich als heilige Kuh erwiesen, und die Verfassung bringt hier einen neuen, kräftigen Zentralisierungsschub.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies muss
bewertet werden. Wir wollten in die eine Richtung, fahren aber in die andere Richtung. Man kann sich so verhalten, muss aber auch wissen, was dabei herauskommt.
Der Verfassungsvertrag bringt in zentralen Punkten, in
denen wir vorankommen wollten, nicht den nötigen
Durchbruch. Ich nenne die Verteidigungs-, Außen- und
Sicherheitspolitik. Hier hätte mehr passieren können und
müssen. Wir wollen - ich sage dies sehr deutlich - keinen europäischen Zentralstaat. Wir wollen den Wettbewerb der Ideen, Kulturen, Völker und der Volkswirtschaften in Europa, aber kein Modell einer zentralen
europäischen Wirtschaftsregierung in Brüssel analog
zum französischen Zentralismus. Dies schafft der vorliegende Verfassungsentwurf eben nicht.
({5})
Der Deutsche Bundestag muss sich darüber im Klaren
sein: In 30 weiteren Politikbereichen nimmt sich Europa
weitere ausschließliche, geteilte oder koordinierende
Kompetenzen. Aus 300 verschiedenen Förderprogrammen verteilt Brüssel in Zukunft das Geld der Bürgerinnen und Bürger über das Land. Aus bisher unstrittigen
Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten wie Zuwanderung,
berufliche Bildung, Sport, Zivilschutz und Daseinsvorsorge werden Kompetenzbereiche der EU-Gesetzgebung, wenn auch nicht ausschließliche. Aber die EU
wird in diesen Bereichen mitregulieren und -regeln. Dies
wäre in Amerika vollkommen ausgeschlossen. Unser
Ziel war immer: Gebt Brüssel, was Brüssels ist, nämlich
die Regelung der großen Dinge, aber lasst Berlin, die anderen Mitgliedstaaten sowie Düsseldorf und München
das Ihrige tun, um nah am Bürger die Details zu regeln.
Das wird mit diesem Verfassungsvertrag nicht erreicht.
Wir wollen ein föderales und kein zentralistisches Europa. Wir wollen mehr Freiheit und weniger Dirigismus.
Ich möchte auf einen weiteren zentralen Punkt eingehen. Demokratie braucht - das war die Vorgabe - starke
Parlamente. Wir müssen den Mut haben, unsere Rechte
wahrzunehmen. Dies ist in der Vergangenheit zu wenig
geschehen. Mit diesem Vertrag bewegen wir uns in die
Richtung, dass in Zukunft immer mehr die Exekutive,
das heißt die Regierungen, und damit die Bürokratien in
Europa gestärkt werden. Der Verfassungsvertrag führt
nicht zu einer ausreichenden Parlamentarisierung der europäischen Politik, weder in Straßburg noch in Berlin.
Sie haben, Herr Außenminister und Herr Bundeskanzler, im Vorfeld dieses Verfassungsvertrages das Parlament nahezu ausgeschlossen und die Öffentlichkeit
nicht beteiligt. Sie haben die Ergebnisse der Europawahl
ignoriert und sich damit weiter von den Menschen entfernt. Unsere Parlamente werden in der Rechtsetzung
permanent geschwächt. Die Mitentscheidungsrechte des
Europäischen Parlaments sind nicht zureichend gestärkt
worden und die Rechte des Deutschen Bundestages werden in ihrer Substanz angegriffen.
Aus diesen Gründen gibt es eine qualifizierte Minderheit, auf alle Fälle eine qualifizierte Anzahl von Kolleginnen und Kollegen, die diesen Vertrag ablehnen werden. Wir sollten ihre Argumente ernst nehmen.
Die CDU/CSU schlägt vor, dass wir den europäischen
Verfassungsvertrag für eine breite Diskussion nutzen
und zukünftig weniger Politik verordnen, sondern sie gemeinsam entwickeln. Wir trauen dem Volk. Deshalb
muss der Deutsche Bundestag, sollte dieser Verfassungsvertrag ratifiziert werden, eine neue Qualität von
Mitwirkungsrechten in Bezug auf die europäische Gesetzgebung erhalten. Wir brauchen auch eine Neuorganisation der Zuständigkeiten der Bundesregierung in den
Fragen der Europapolitik.
Wir werden deshalb in das Ratifizierungsverfahren
eine Ergänzung des Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes
einbringen. Das bedeutet: Stellungnahme des Deutschen
Bundestages zu wichtigen europäischen Rechtsetzungsprozessen. Denken Sie an den gestern aus Brüssel erfolgten neuesten Vorschlag eines Baby-Screenings, die
EU-Führerscheinrichtlinie oder die Abschaffung der lebenslangen Haft - und was sonst alles kommt. Da müssen die nationalen Parlamente mitreden können und eine
verbindliche Erklärung an ihre Regierungen abgeben
können.
({6})
Ebenso müssen wesentliche EU-Angelegenheiten wie
die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen - und zwar
vor der endgültigen Fixierung, wie sie der Bundeskanzler in der Türkeifrage vorgenommen hat - oder Vertragsverlängerungen an die Zwei-Drittel-Zustimmung des
Bundestages gebunden sein.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Herr
Müntefering, darüber sollte man miteinander in qualifiDr. Gerd Müller
zierte Gespräche eintreten. Unser Bemühen ist, die Europapolitik auch über die nationalen Parlamente wieder
beim Bürger zu verankern, um zu diskutieren. Wir können nach dieser Europawahl nicht einfach so tun, als
würde das Europäische Parlament in seiner Legitimation
den Bundestag ersetzen. Wir müssen den Bürger da abholen, wo er ist. Dafür muss sich der Bundestag wieder
mehr Mitwirkungsrechte in der europäischen Rechtsetzung nehmen.
({7})
Zur Türkeifrage wurde schon einiges gesagt. Es ist
eine Farce - auch die „FAZ“ bezeichnet das so -, wenn
man sagt, dass die Vorschläge der Kommission abgewartet werden müssten, und von Kopenhagener Kriterien
gesprochen wird, der Bundeskanzler aber gleichzeitig
vorwegnimmt, dass die Beitrittsverhandlungen auf alle
Fälle aufgenommen werden, egal was die Kommission
vorschlägt. Der Bundeskanzler hat sich in dieser Frage
gegen das Parlament gewandt. Er wendet sich auch gegen die Mehrheit im Volk und fügt damit dem deutschen
Volk schweren Schaden zu.
({8})
Auf einer Basis von 25 Prozent Zustimmung des Volkes
und angesichts des nahenden Endes ihrer Regierungszeit
ist diese Bundesregierung nicht legitimiert, in der Türkeifrage solche Festlegungen vorzunehmen.
({9})
Ich komme zum Schluss. Die Ratifizierung kann nicht
in dem Stil „Augen zu und durch“ durchgeführt werden,
nur damit es keiner merkt. Dies ist inakzeptabel. Wir
müssen die Argumente, die von seriösen Persönlichkeiten in unserem Staat vorgebracht werden, diskutieren
und uns für diese Diskussion Zeit nehmen. Wir werden
unserer Verantwortung gerecht werden. Das Europa der
Zukunft muss ein föderales, demokratisches, kultur- und
wertebezogenes Europa sein.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 10 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe und zur Umsetzung der EUAgrarreform
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens zur so
genannten kommunalen Option im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe liegt
Ihnen jetzt das fünfte Gesetz zur Reform des Arbeitsmarktes vor. Wir wollen mit diesen Gesetzen die Beziehungen von arbeitsuchenden Menschen und betreuenden
Organisationen sowie der Bundesagentur für Arbeit neu
gestalten. Wir wollen und wir müssen verkrustete Strukturen am Arbeitsmarkt aufbrechen. Wir müssen auch das
Verhältnis von Eigenverantwortung und staatlicher Unterstützung neu bestimmen. Das ist der Sinn der Arbeitsmarktreformen.
Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe, um die es jetzt geht, gehen wir den größten
Schritt in Richtung einer Veränderung des Arbeitsmarktes und der Beschäftigungspolitik in unserem Land. Es
ist aus meiner Sicht ein längst fälliger Schritt; denn wir
alle müssen nach mindestens zwei Jahrzehnten nicht guter Erfahrungen mit unserer bisherigen Arbeitsmarktpolitik konstatieren, dass wir trotz eines hohen finanziellen
Einsatzes ein nicht ausreichend positives Ergebnis am
Arbeitsmarkt erzielt haben. Um es etwas deutlicher zu
sagen: Unter dem Strich stehen über 4 Millionen Arbeitslose und viele Menschen, die wir als Langzeitarbeitslose bezeichnen, also Menschen, die seit Jahren in
Arbeitslosigkeit verharren. Damit muss Schluss sein.
Das müssen wir ändern. Deshalb brauchen wir eine
Wende in der Beschäftigungspolitik und am Arbeitsmarkt.
({0})
Wir haben nach langwierigen Verhandlungen über das
Kommunale Optionsgesetz im Vermittlungsverfahren
eine Einigung erzielt. Ich möchte zunächst die Gelegenheit nutzen, mich bei denen zu bedanken, die zu dieser
Einigung im Vermittlungsausschuss beigetragen haben.
Ich möchte an dieser Stelle besonders meinen Kollegen
Stiegler und den Kollegen Kauder von der CDU/CSU
hervorheben, die maßgeblich daran mitgewirkt haben.
Erwähnen möchte ich auch noch die Ministerpräsidenten, Frau Kollegin Dückert und alle Kolleginnen und
Kollegen aus den Fraktionen, die über viele Wochen und
Monate maßgeblich daran beteiligt waren.
Mit diesem Gesetz beenden wir, so hoffe ich, das Tauziehen um die Finanzierung und um die Organisation
dessen, was mit der neuen Arbeitsmarktpolitik verbunden ist. Wir gehen jetzt in eine Phase der Realisierung
der Maßnahmen, die wir uns vorgenommen haben und
die Sie als Gesetzgeber bereits im Dezember des letzten
Jahres beschlossen haben.
Es geht um eine Wende am Arbeitsmarkt. Schlagwortartig gesagt: Es geht darum - das ist eine Seite -,
dass wir die beiden Fürsorgesysteme, die wir heute in
Deutschland haben und die nicht miteinander verbunden
sind, sondern teilweise kontraproduktiv nebeneinander
arbeiten, nämlich das staatliche Arbeitslosenhilfesystem
und das kommunale Sozialhilfesystem, zu einem System der sozialen Grundsicherung in Deutschland zusammenlegen. Um dies klar zu sagen: Diese soziale
Grundsicherung in Deutschland wird in der finanziellen
Ausstattung immer noch und weiterhin eines der bestausgestatteten Sozialsysteme der Welt sein.
({1})
Der Kern der Arbeitsmarktreform, die wir vornehmen
wollen, ist die Verabschiedung von der Praxis der - so
müssen wir das nennen - Verwaltung von Arbeitslosigkeit. Damit folgen wir vielen Schlagworten, die Sie in
Diskussionen in diesem Hohen Hause und an vielen anderen Stellen in Deutschland vorgebracht haben. Wir gehen jetzt mit aller Entschlossenheit die Vermittlung in
Arbeit an.
({2})
Wir können nicht weiterhin zuschauen, dass Menschen jahrelang in Arbeitslosigkeit sind. Dabei handelt
es sich keineswegs nur um ältere Menschen; auch
250 000 junge Leute unter 25 Jahren beziehen Sozialhilfe. Wir müssen alles tun, um sie in Arbeit zu vermitteln. Das ist das Kernstück der Veränderung. Das nenne
ich eine Wende - wenn sie so wollen: eine Zeitenwende - am Arbeitsmarkt und in der Beschäftigungspolitik.
Dieses Vorhaben, das sich gesetzgeberisch in einzelnen finanziellen Maßnahmen niederschlägt, führt beispielsweise dazu, dass die Bundesregierung das einhält,
was sie und die Koalition gemeinsam zugesagt haben:
Die Städte und Gemeinden unseres Landes werden nach
der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe mit zusätzlichen 2,5 Milliarden Euro besser
ausgestattet sein als vorher. Auf Deutsch: Ab 1. Januar
2005 stehen den Städten und Gemeinden in Deutschland
2,5 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Das ist wichtig
für die kommunale Investitionsfähigkeit und die kommunale Handlungsfähigkeit. Dies ergänzt das, was wir
im letzten Dezember beschlossen haben, nämlich über
die Veränderung des Gewerbesteueranteils der Städte
und Gemeinden ebenfalls 2,5 Milliarden Euro für die
Kommunen zu mobilisieren.
Zum anderen haben wir die Frage geklärt, wie Kommunen und die Arbeitsagenturen vor Ort zusammenarbeiten: Sie werden das in der Regel in Form von Arbeitsgemeinschaften und in genau 69 Ausnahmefällen
- das haben wir auf dem Kompromisswege beschlossen - in kommunaler Trägerschaft tun. Ich halte diesen
Weg für richtig. Ich halte es aber für noch wichtiger, dass
wir uns nach den Debatten über die Organisation, die zu
den Lieblingsbeschäftigungen in Deutschland gehören,
jetzt wirklich entschlossen der Frage der Arbeitsvermittlung zuwenden.
({3})
Das, worum es jetzt geht, ist das Kernstück der Modernisierung der Beschäftigungspolitik in Deutschland.
Etwas ist erstaunlich: Ich habe gestern, ebenso wie
wir alle und viele Menschen in Deutschland, einer hinsichtlich der Frage der Modernisierung, der Erneuerung
unseres Landes beeindruckenden Rede des neuen Bundespräsidenten zugehört. Diese Rede wurde landauf und
landab zu Recht gewürdigt, und zwar auch in den Zeitungen. Im selben Atemzug - auf Deutsch gesagt: auf
denselben Zeitungsseiten - werden aber die anstehenden
Modernisierungen auf dem Arbeitsmarkt scheinbar nur
unter Schlagworten wie „Chaos“ beschrieben oder werden von dem üblichen Katzenjammer begleitet. In
Deutschland reagiert man auf notwendige Reformen und
Modernisierungsanstrengungen mit geradezu ritualhaften Reflexen, obwohl offensichtlich alle überzeugt sind,
dass sie unternommen werden müssen. Wir dürfen uns
von diesem ritualhaften Reflex in Deutschland nicht aufhalten lassen. Der Modernisierungsprozess ist notwendig.
({4})
Niemand wird bei dieser Modernisierung - um dieses Thema gleich aufzugreifen - abstürzen. Mit der Reform werden wir gut 1 Million Menschen, die heute Sozialhilfe bezieht, die als erwerbsfähig, also in der Lage
ist, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, in das
Zentrum der Arbeitsvermittlung mitnehmen. Auch sie
werden durch die Arbeitsagenturen, die Arbeitsgemeinschaften vor Ort betreut, und zwar auf eine sehr
viel intensivere Weise, als das bisher möglich war, mit
dem Ziel, auch diese Sozialhilfeempfängerinnen und
-empfänger in Arbeit zu vermitteln. Das ist die Aufgabe
und das Ziel. Diese Sozialhilfeempfänger werden in Zukunft, anders als bisher, rentenversichert, krankenversichert und pflegeversichert sein. Gut 1 Million Sozialhilfeempfänger und ihre Familienangehörigen werden in
Zukunft besser gestellt sein als das bisher der Fall gewesen ist.
({5})
Ich wehre mich mit aller Entschiedenheit dagegen,
diesen Personenkreis völlig auszuklammern, wenn über
die Frage, wie es in der Arbeitsvermittlung in Zukunft
zugeht, gesprochen wird. Das ist kein Absturz. Endlich
werden wir uns konzentriert - die Arbeitsagenturen und
die Kommunen gemeinsam - um diese Menschen kümmern.
Es ist falsch, davon auszugehen, dass heutige Bezieher von Arbeitslosengeld in einen Abgrund stürzen. Eine
solche Darstellung ist absurd. Auch die pauschale Darstellung, die ich gerade in der „Bild“-Zeitung gelesen
habe, dass die Arbeitslosenhilfe für Langzeitarbeitslose
im Durchschnitt um 200 Euro gekürzt werde, ist schlicht
falsch.
Mit diesem neuen System stellen wir uns doch ganz
gezielt auf den Bedarf des oder der Einzelnen, der Familien mit Kindern und der Betroffenen mit Partnern ein.
Ich kann Ihnen dazu gern alle möglichen Beispiele nennen, aus denen hervorgeht, dass ein heutiger Arbeitslosenhilfebezieher oder eine Arbeitslosenhilfebezieherin,
der oder die in Zukunft die soziale Grundsicherung erhalten wird, gleichgestellt oder teilweise sogar besser
gestellt sein wird als bisher. Teilweise wird es etwas
schlechter. Aber insgesamt wird niemand in Deutschland
- weder in Ostdeutschland noch in Westdeutschland abstürzen. Alle werden eine bessere Vermittlung bekommen. Es wird ein besseres Bemühen um Vermittlung in
den Arbeitsmarkt geben, als das bisher der Fall gewesen
ist.
({6})
Herr Bundesminister, Sie haben zwar das Recht, so
lange zu reden, wie Sie wollen. Aber Sie reden jetzt auf
Kosten der Redezeit Ihrer Fraktionskollegen.
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Präsident. Das ist
mir entgangen. Das werde ich sofort korrigieren.
Es tut mir Leid, meine Damen und Herren. Aber
wenn man über ein solches Thema spricht, ist es verdammt schwer, sich kurz zu fassen. Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin in diesem Thema offensichtlich
sehr verhaftet.
({0})
- Nein, ich nehme nicht das, was ich brauche, sondern
ich gebe Ihnen, Herr Kollege Stiegler, das, was Sie brauchen.
Ich möchte noch kurz auf Folgendes hinweisen: Gegen das Bild, das den Eindruck vermittelt, es werde zu
Abstürzen und Kürzungen der Zuwendungen für Menschen kommen - das ist ein absurdes Bild -, setze ich
mich zur Wehr. In Wahrheit geht es darum, Menschen in
Arbeit zu vermitteln. Dabei geht es insbesondere um die
jungen Arbeitslosen und die jungen Sozialhilfeempfänger unter 25 Jahren in Deutschland. Um sie geht es
im Ausbildungspakt. Um sie geht es bei dem, was am
1. Januar 2005 mit diesem Gesetz in Kraft treten wird:
Jeder und jede von ihnen wird ein Angebot auf Ausbildung, auf vorschulische Maßnahmen, auf Vorqualifizierung, auf Sprachentraining, auf berufliches Training, auf
einen Arbeitsplatz oder Ähnliches bekommen.
Ich bin überzeugt: Es wird uns als Erstes gelingen
- das ist dringend erforderlich -, die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland drastisch zu reduzieren. Das ist eine
der vornehmsten Aufgaben, die wir mit diesen Arbeitsmarktreformen angehen. Wir werden damit Erfolg haben.
Ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung und darauf,
dass viele der Auseinandersetzungen, die bisher zwischen den Städten, den Ländern, dem Bund und anderen
geführt worden sind, beendet werden und wir uns allesamt jetzt der Aufgabe zuwenden, die Arbeitsvermittlung in Deutschland in der Praxis auf einen realistischen,
Erfolg versprechenden Kurs zu bringen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Kauder von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am Mittwoch dieser Woche wurde eine große
Strukturreform in diesem Land durch ein Ergebnis im
Vermittlungsausschuss Wirklichkeit. Wir von der Union
haben schon vor längerer Zeit gefordert, die beiden Hilfesysteme, die aus Steuern finanziert werden, die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe, zu einem System zusammenzulegen, aus einer Hand zu finanzieren und die Hilfe
zu konzentrieren.
Ausgangspunkt für diesen Tag war der 19. Dezember
des vergangenen Jahres, an dem wir wiederum im Vermittlungsausschuss miteinander Hartz IV beschlossen
haben. Danach kam eine sechsmonatige Verhandlungsphase, die schwierig und immer vom Scheitern bedroht
war. Dies hing unter anderem damit zusammen - darauf
will ich am Anfang meiner Rede hinweisen, bevor ich zu
den Inhalten komme -, dass die Bundesregierung und
die rot-grüne Regierungskoalition - aus welchem Grund
auch immer, Herr Kollege Stiegler - die Zusage, die uns
gegeben wurde, nicht eingehalten haben, dass die Kommunen die Möglichkeit erhalten werden, diese Aufgabe
in eigener Trägerschaft durchzuführen.
({0})
Das war ein gemeinsames Verhandlungsergebnis.
Damals, in dieser Nacht, war klar, dass dies nur mit
einer Grundgesetzänderung gehen wird.
({1})
Dann musste uns Herr Minister Clement mitteilen, dass
diese Grundgesetzänderung in der Regierungskoalition
nicht zu machen sei. Damit begann die ganze Schwierigkeit in dieser Frage. Es ging eigentlich nie darum, ob
diese große Strukturreform durchgeführt wird; wir haben
sie ja miteinander im Dezember beschlossen. Wir haben
darauf beharrt, dass die Kommunen mit dieser Aufgabe
betraut werden. Darum, Herr Minister Clement, sorgen
wir uns nun.
Ich will Ihnen überhaupt nicht absprechen, dass Sie
sich bemühen wollen. Das haben andere uns auch schon
zugesichert und die Lastwagen fahren noch heute mautfrei. Ich will Ihnen Ihr Bemühen gar nicht absprechen,
aber Sie sind nun in der Verantwortung, dafür zu sorgen,
dass für 85 bis 90 Prozent der Menschen, die jetzt von
der Bundesagentur betreut werden, die Umstellung auch
richtig funktioniert. Sie müssen alles daransetzen, dem
gerecht zu werden.
Es war richtig, dass wir gefordert haben, die Kommunen sollten die Aufgabe übernehmen, weil sie näher an
den Menschen sind und weil sie unbürokratischer arbeiten. Dass die Bundesagentur bürokratisch ist, das kann
ich schon heute feststellen, obwohl die Aktion noch gar
nicht angelaufen ist: Die Bundesagentur hat jetzt ein
15 Seiten umfassendes Antragsformular herausgegeben,
das die Menschen ausfüllen müssen. Die Verwaltung
setzt für die Ersterfassung der Anträge zweieinhalb
Stunden an. Das erfordert einen unheimlich großen Personalaufwand. Ich muss auch sagen: Gerade für die
Menschen, die auf diese Hilfe angewiesen sind, wird es
besonders schwierig sein, die dort gestellten Fragen zu
beantworten. Ich könnte Ihnen einige Fragen vorlesen,
bei deren Beantwortung auch wir beide Schwierigkeiten
hätten.
Deswegen kann ich nur sagen: Ich bitte Sie im Inteesse der betroffenen Menschen herzlich, auf die Bundesagentur einzuwirken, damit nicht eine Flut von Bürokratie auf uns zukommt. Man muss die Menschen
konkret ansprechen und man muss ihnen helfen. Es geht
nicht darum, Formulare auszufüllen, sondern die Vermittlung von Menschen in Arbeit zu bewerkstelligen.
({2})
In besonderer Weise betroffen sind die Menschen in
den neuen Bundesländern.
({3})
Wir haben dort eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit. Dort werden die Bemühungen in besonderem
Maße ansetzen müssen, um das Ziel unseres Gesetzentwurfes, den wir aufgrund der Mehrheitsverhältnisse
nicht durchsetzen konnten, zu erreichen. Unser Ziel war:
fordern, aber auch fördern. Man kann den Menschen
nicht Leistungseinschränkungen zumuten, ohne ihnen
nicht zugleich auch das Angebot zu machen, ihren Lohn
aufzubessern und in ganz normale Arbeit zu kommen,
wenn sie sich anstrengen. Wir müssen ihnen sagen: Dabei helfen wir.
({4})
Fördern ist also das Thema. Herr Kollege Stiegler, bei
allem, was wir jetzt gemeinsam vereinbart haben und
wozu wir auch stehen, sage ich: Die Förderung der
Langzeitarbeitslosen war in unserem Gesetzentwurf für
ein Existenzgrundlagensicherungsgesetz wesentlich besser ausgeprägt als im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf.
Wir haben bei diesem Kompromiss nach vielen Diskussionen mitgemacht und stehen auch dazu, weil diese
große Strukturreform notwendig ist. Wir waren auch
deshalb zum Kompromiss bereit, weil wir am Schluss
doch noch gemeinsam eine Lösung für den Einstieg in
die kommunale Selbstständigkeit gefunden haben.
69 Kommunen werden die Möglichkeit bekommen. Wir
hätten natürlich gern mehr gehabt, aber das Erreichte ist
immerhin ein Teilerfolg.
Wir wollen nun, dass in diesem Land ein Wettbewerb zwischen den Kommunen und der Bundesagentur
darüber stattfindet, wer es besser kann. Herr Minister
Clement hat uns zugesagt, dass aus einer späteren Bewertung der Frage, wer es tatsächlich besser kann, auch
die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. Ich
sage Ihnen aus meiner Erfahrung und nach meiner festen
Überzeugung: Die Kommunen können es besser. Sie
müssen dazu nicht 30 000 neue Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter einstellen, wie Sie, Herr Clement, es jetzt bei
diesem Giganten Bundesagentur tun. Ein so großes
Schiff mit 120 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist
nicht mehr zu steuern, es sei denn, durch eine solche Bürokratie.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht jetzt
also darum, das, was wir gemeinsam verabredet haben
und heute gemeinsam beschließen werden, zu einem Erfolg zu machen. Wir wünschen diesen Erfolg. Aber bei
allem, was wir in den letzten Monaten mit dieser Bundesregierung erlebt haben, bleiben Zweifel. Herr
Clement, es hängt von Ihnen ab, ob es nun ein Erfolg
wird oder nicht. Sie wollten, dass dieser Gigant Bundesagentur das macht. Jetzt tragen Sie die Verantwortung dafür, dass es am 1. Januar 2005 auch klappt.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig: Am Mittwoch ist zum Glück der Startschuss
dafür gegeben worden, dass in den Kommunen und im
Land das umgesetzt werden kann, was in Deutschland
schon längst notwendig ist,
({0})
nämlich eine umfassende Reform der Arbeitsmarktpolitik, die auf Integration, auf eine bessere Betreuung
der Langzeitarbeitslosen, auf mehr Dezentralität und
darauf setzt, das Know-how vor Ort in diesen Prozess
einzugliedern.
Eines ist klar: Bei den vielen Gesetzen, die wir auf
den Weg gebracht haben, gibt es nur ein einziges Ziel,
nämlich die Integration der Langzeitarbeitslosen in den
Arbeitsmarkt, weil die überdurchschnittlich lange Dauer
von Arbeitslosigkeit in Deutschland unerträglich ist.
({1})
Die Kommunen werden durch die Revisionsklausel
jetzt in den Stand gesetzt - das ist gut so, das haben wir
von Rot-Grün von Anfang an versprochen -, ihre Aufgaben zu erfüllen. Sie werden um 2,5 Milliarden Euro entlastet. Darin enthalten ist ein Spielraum, um die Kinderbetreuung vor Ort verbessern zu können. Das halten wir
für wichtig, weil heute in Deutschland Arbeitslosigkeit
häufig auf der mangelnden Zahl an Kinderbetreuungsmöglichkeiten beruht.
({2})
Kernstück dieser großen Reform ist in der Tat die
Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: Wir sind das
einzige Land, das sich zwei Systeme nebeneinander leistet. Es ist nicht so, wie immer wieder fälschlich behauptet wird, dass die Arbeitslosenhilfe eine Versicherungsleistung wäre. Sie ist auch eine steuerfinanzierte
Leistung und es ist richtig, dass sich steuerfinanzierte
Leistungen am Bedarf orientieren. Das ist auch dann
richtig, wenn das Ganze Härten beispielsweise für die
Menschen mit sich bringt, die heute Arbeitslosenhilfe
beziehen, nach den Änderungen aber mit ihrem Familieneinkommen über der Bedürftigkeitsgrenze liegen.
Das ist wahr. Solche Fälle wird es geben. Der Minister
hat aber mit Recht darauf hingewiesen, dass die Reform
auch andere Effekte hat: Über 1 Million Menschen
- über diese müssen wir auch reden - wird besser gestellt.
Es war zutiefst ungerecht, dass Sozialhilfeempfänger
keinen Zugang zur aktiven Arbeitsmarktpolitik hatten.
Es ist ein sozialpolitischer Fortschritt, dass die Empfänger des Arbeitslosengeldes II zukünftig auch sozialversichert sind.
({3})
Es ist vor allen Dingen ein familienpolitischer Fortschritt, dass wir einen Kindergeldzuschlag einführen, damit zukünftig Familien nicht deshalb in die soziale Abhängigkeit vom Staat geraten, weil sie Kinder haben.
({4})
Es wurde auch gesagt, dass dieser notwendige Kompromiss, der gefunden worden ist, immer wieder vom
Scheitern bedroht war. Er war wirklich immer wieder
vom Scheitern bedroht, aber dieses Scheitern wollten
wir auf jeden Fall verhindern. Deswegen war der Preis
an manchen Stellen hoch. Ich möchte anhand eines Beispiels Ross und Reiter nennen: Die Zumutbarkeitsregelungen sind von der Union verschärft worden.
({5})
Ich bin jedoch - weil es darüber in der Presse und der
Öffentlichkeit Missverständnisse gab - entschieden
nicht der Ansicht, dass wir an dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses an dieser Stelle noch etwas ändern
können. Viele von den Gewerkschaften fordern das. Ich
bin jedoch davon überzeugt, dass der politische Preis an
dieser Stelle dann noch viel höher wäre als der, den uns
die Union in der Vermittlung schon abgefordert hat.
Wer in diesem Land Lohndumping verhindern will,
der muss andere Antworten finden. Diese liegen meiner
Ansicht nach auch nicht im flächendeckenden Mindestlohn, sondern zum Beispiel in Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Wer Lohndumping verhindern will,
muss sich auch mit dem auseinander setzen, was Herr
Kauder eben wieder angeführt hat. Wir haben doch folgendes Problem: Sie von der Opposition, von der Union
sind im Vermittlungsausschuss an einem Punkt gescheitert, nämlich bei der Durchsetzung des kochschen Konzeptes zum EGG. Es ist schon ein bemerkenswerter
Vorgang, dass Sie heute, da wir über den Vermittlungsausschuss sprechen, mit dem Gesetzentwurf, der dort abgelehnt worden ist, hier erneut auf der Matte stehen.
({6})
Sie fordern einen Niedriglohnsektor, Sie fordern
Zwangsbeschäftigung in den Kommunen - als Voraussetzung, um die Sozialleistungen möglicherweise auch
vollständig streichen zu können. Das stand in Ihrem
Konzept, das fordern Sie heute verdeckt wieder. Das,
meine Damen und Herren, ist verfassungswidrig und unsozial. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, diese Ansätze im Vermittlungsausschuss zu verhindern. Sie haben noch sehr viel mehr vorgesehen - das kann ich jetzt
nicht alles ausführen -, zum Beispiel Leistungssenkung
für Arbeitslosengeld-II-Empfänger, keinen Kinderzuschlag, keine Sozialversicherungspflicht - lauter Verschlechterungen im sozialen Bereich. Damit kommen
Sie heute wieder. Akzeptieren Sie das Vermittlungsausschussergebnis! Das beinhaltet auch, dass wir in
Deutschland keinen Einstieg in einen Niedriglohnsektor
haben wollen, sondern eine Politik, die auf Fördern und
Fordern setzt und den Menschen zu Arbeit verhilft. Wir
haben keine Chance, mit Löhnen wie in Tschechien zu
konkurrieren.
({7})
Frau Kollegin Dückert, kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Meine Damen und Herren, am 1. Januar 2005 wird es in den Kommunen losgehen. Die Ziellinie wir dann noch nicht erreicht sein. Aber
es wird am 1. Januar 2005 schon Angebote aus einer
Hand und eine bessere Betreuung geben. Das ist der
richtige Ansatz, damit müssen wir endlich anfangen. Die
Kommunen machen sich zum Glück auf den Weg.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dirk Niebel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gab gestern und vorgestern auch noch andere
Ergebnisse im Vermittlungsausschuss. Beim Bundesparteitag 2001 hat die FDP ihr Konzept einer Kulturlandschaftsprämie beschlossen. Das Kernstück dieses Konzeptes war die Entkopplung von Produktion und
Beihilfe. Wir sind sehr froh, dass mit dem Vermittlungsergebnis dieses FDP-Konzept für die Zukunftssicherung
der deutschen Landwirtschaft jetzt geltendes Recht wird.
({0})
Weniger positiv sind die Ergebnisse bei der so genannten Hartz-IV-Reform. Wir haben Ende des vergangenen Jahres, im Dezember, hier in diesem Hause auf
Antrag von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und FDP in Form der Bundestagsdrucksache 15/2264
unter anderem Folgendes zum SGB II beschlossen - ich
zitiere -:
Darüber hinaus räumt es
- das SGB II den kreisfreien Städten und Kreisen die Option ein,
ab dem 1. Januar 2005 anstelle der Agenturen für
Arbeit auch deren Aufgaben - und damit alle Aufgaben im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende - wahrzunehmen. Hierzu soll eine faire
und gleichberechtigte Lösung entwickelt werden,
die sicherstellt, dass die optierenden Kommunen
nicht gegenüber den Agenturen für Arbeit benachteiligt werden.
Herr Clement, im Gegensatz zu diesem Beschluss,
den wir hier alle gemeinsam beschlossen haben, sind Sie
wortbrüchig geworden, indem Sie ein Organleihegesetz
vorgelegt haben.
({1})
Statt den Kommunen die Möglichkeit zu geben - wir
alle in diesem Hause, außer den fraktionslosen Kolleginnen, haben das beschlossen -, in eigenständiger Trägerschaft, gleichberechtigt und finanziell abgesichert das zu
tun, was wir alle für richtig halten: sich vor Ort um die
Menschen zu kümmern, die Arbeit suchen - die wieder
dabei sein wollen -, konterkarierte das von Ihnen vorgelegte Organleihegesetz diesen einheitlichen Beschluss
des Deutschen Bundestages.
({2})
Sie haben sich dann im Rahmen des Vermittlungsverfahrens mit der CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen
auf eine Experimentierlösung verständigt und sagten,
als Ihrer Ansicht nach nur 29 Kommunen experimentieren sollten, dass das hart an der verfassungsmäßig tolerablen Grenze gemäß Art. 106 Abs. 8 des Grundgesetzes
ist. Ich befürchte, dass die Lösung mit 69 entsprechenden Kommunen erst recht - noch weiter! - von der verfassungsmäßigen Grenze gemäß Art. 106 Abs. 8 entfernt
sein wird.
({3})
Sie haben darüber hinaus, statt einen Wettbewerb zwischen Kommunen und Arbeitsagentur um die besten Integrationsideen zu schaffen, einen Wettbewerb unter den
Kommunen geschaffen: um die Möglichkeit, überhaupt
optieren zu dürfen. Das hilft nicht den Menschen, das
sorgt dafür, dass es in vielen Ländern ein heilloses Chaos
geben wird, insbesondere in dem Bundesland, für das Sie
lange Verantwortung getragen haben: in NordrheinWestfalen. Wir stehen unmittelbar vor der Sommerpause.
In Nordrhein-Westfalen finden am 26. September die
Kommunalwahlen statt. Bis zum 15. September müssen
sich die Kommunen entscheiden zu optieren. Können Sie
sich annähernd vorstellen, wie viele Kommunen in Nordrhein-Westfalen, wenn die Gremien nicht mehr tagen,
überhaupt in der Lage sein werden, die Optionsmöglichkeit für den zu wählenden nächsten Kreistag in Anspruch
zu nehmen?
({4})
Kollege Kauder hat vorhin den Vordruck zur Befragung der Arbeitslosengeld-II-Bezieher erwähnt. Solche
Vordrucke werden am 19. Juli von der Bundesagentur
verschickt. Das setzt aber bei dem Personenkreis, über
den wir reden, voraus, dass dieser Brief überhaupt zur
Kenntnis genommen und nicht auf den Stapel mit den
vielen Rechnungen gelegt wird. Das setzt zudem voraus,
dass die Empfänger des Lesens - vorzugsweise in deutscher Sprache - hinreichend kundig sind, und es setzt
voraus, dass ein derartiger Antrag ausgefüllt werden
kann. Wenn das alles nicht zutrifft, hat das zur Folge,
dass Sie vielfältige Einzelgespräche führen müssen, um
die Daten zu erfassen, die anschließend von Hand eingegeben werden müssen, weil bei fast 440 verschiedenen
Trägern der Sozialhilfe in Deutschland mit unterschiedlichen EDV-Programmen und bei 180 Agenturen für Arbeit ein technischer Abgleich dieser Daten einfach nicht
möglich ist.
Das bedeutet konsequenterweise, dass wir wieder einmal - genau wie Ende letzten Jahres - versuchen müssen, eine notwendige Reform unter enormem Zeitdruck
umzusetzen. Selbst die Bundesagentur befürchtet, dass
sie Probleme haben wird, eine bessere Betreuung zu gewährleisten. Diese wird es garantiert nicht geben, nicht
einmal für die Jugendlichen bei einem Vermittlungsschlüssel von einem Betreuer auf 75 Arbeitsuchende,
den wir alle gewollt haben. Sie wird darüber hinaus
eventuell sogar Probleme haben, die Leistungen tatsächlich zahlbar zu machen. Das können Sie doch nicht einfach wegwischen.
Um die technischen, die rechtlichen und die finanziellen Voraussetzungen rechtzeitig und ordentlich zu erfüllen, hat die FDP-Bundestagsfraktion beantragt, die
Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe auf den 1. Januar 2006 zu verschieben. Ihre Regierungsfraktionen haben sich noch nicht einmal getraut,
darüber im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zu disDirk Niebel
kutieren. Sie haben den Antrag schlichtweg mit Ihrer
Mehrheit von der Tagesordnung abgesetzt.
({5})
Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, tragen die politische Verantwortung dafür, dass dieser große Reformkomplex auch tatsächlich funktioniert. Die Union hat
sich herauskaufen lassen und versucht jetzt mit einem
Entschließungsantrag, all das, was sie im Vermittlungsverfahren mitgetragen hat, wieder zurückzuholen. Auf
diese Art und Weise werden Sie zumindest bis zu dem
Zeitpunkt, an dem wir gemeinsam dieses Land regieren,
Ihre arbeitsmarktpolitische Kompetenz hinreichend infrage stellen lassen müssen.
({6})
Von daher hoffe ich sehr, dass nicht das passieren
wird, was ich befürchte. Ich hoffe sehr, dass die Menschen in diesem Land, die unserer Hilfe dringend bedürfen, nicht vor ein soziales Chaos gestellt werden. Die politische Verantwortung bleibt aber bei Ihnen. Wir werden
das in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sehen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ludwig Stiegler von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute nicht nur über eine Arbeitsmarktreform, sondern
auch über die Vollendung der kommunalen Finanzreform. Das muss hier zur Kenntnis genommen werden.
2,5 Milliarden Euro werden die Städte und Gemeinden
im nächsten Jahr weniger ausgeben müssen, als sie nach
bisherigem Recht ausgeben mussten. Damit lösen wir
unsere Versprechen gegenüber den Städten und Gemeinden ein.
({0})
Ich sage Ihnen aber: Wir haben eine Erwartung an die
Städte und Gemeinden. Die Koalition hat die Entlastung,
die allein der Bund trägt, auch deshalb beschlossen, weil
wir fest erwarten, dass die gewonnen Mittel für die Betreuung der unter 3-Jährigen aufgestockt und somit mindestens 1,5 Milliarden Euro dafür eingesetzt werden.
({1})
Die CDU/CSU hat im Vermittlungsausschuss abgelehnt, eine solche gemeinsame Erklärung abzugeben.
Das hindert uns aber nicht daran, den Städten und Gemeinden zu sagen, dass wir ihr Handeln sowohl aus bildungspolitischen als auch aus arbeitsmarktpolitischen
Gründen erwarten und dass unsere Bereitschaft zur Entlastung der Städte und Gemeinden aus der Sorge um die
unter 3-Jährigen entstanden ist.
Wir übernehmen einen höheren Anteil an den Wohnkosten, nämlich 29,1 Prozent. Damit ist entgegen allen
Zweiflern sichergestellt, dass die Kommunen nächstes
Jahr entlastet werden. Wir versichern den Kommunen
zudem, dass wir alles dafür tun werden, dass keine Kommune in irgendeinem Land unter die Entlastungsgrenze
fällt.
Ich werde dazu nachher eine Protokollnotiz als Erklärung der Bundesregierung zu Protokoll geben.
({2})
Wir haben hier also Gürtel, Hosenträger und ein
Band, sodass auch die Ängstlichen und Skeptiker wirklich vertrauen können. Die FDP wird trotzdem bei ihren
Zweifeln bleiben. Bleiben Sie ruhig unter den Zweiflern!
Die Zukunft aber gehört den Glaubenden und nicht den
Zweiflern.
({3})
Zur öffentlichen Kritik. Wir haben dieses Gesetz gemeinsam geschaffen und die Verschlechterungen vom
Dezember auf Veranlassung der Union hinnehmen müssen. Ich sage: Herr Laumann, ziehen Sie nicht als Rächer
der Enterbten durch das Land! Wenn Sie hier etwas hätten ändern wollen, dann hätten Sie dem Kauder gestern
im Vermittlungsausschuss andere Weisungen erteilen
müssen.
({4})
Ich habe den Seehofer gefragt, ob er denn eine Mehrheit
für seine Forderungen in diesem Bereich hat. Er ist davongelaufen.
({5})
Deshalb lassen wir es nicht zu, dass die Sozialausschüsse hier herumgaunern und so tun, als hätten sie etwas ganz anderes gewollt, während Herr Kauder für sie
gehandelt hat.
({6})
- Bleiben Sie bitte bei der Wahrheit!
Ich danke allen, vor allem den vielen Trägerinnen und
Trägern, die trotz ihrer Zweifel weitergemacht haben.
Diese haben jetzt bis Ende 2005 Sicherheit und können
weiterarbeiten. Ich danke vor allem meinem Kollegen
Klaus Brandner für die Unterstützung. Es war kein leichtes Geschäft in diesem Bereich. Aber: Was lange währt,
wird endlich gut.
({7})
Herr Präsident, eine Sekunde brauche ich noch, da ich
den Auftrag habe, eine Erklärung der Bundesregierung
zum Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der
Schwarzarbeit und der damit zusammenhängenden Steuerhinterziehung zu Protokoll zu geben.
({8})
- Die Bundesregierung hat im Vermittlungsausschuss
nichts zu sagen. Das sollten Sie eigentlich wissen, Herr
Niebel. Deswegen übergebe ich es.
Herr Präsident, hiermit übergebe ich Ihnen das Protokoll.
({9})
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Kollege Stiegler,
ich glaube, Sie haben da etwas verwechselt.
({0})
Die Pressekommentare, in denen es heißt, dass ich nicht
zu der Höhe der Unterstützungsleistungen gestanden
habe, möchte ich einmal sehen.
({1})
Herr Kollege Stiegler, wenn wir als CDU/CSU allein gewesen wären, hätten wir das für die Betroffenen besser
gemacht,
({2})
weil wir diese Leistungen nicht bei der zentralen Bundesagentur angesiedelt hätten, sondern bei den Kommunen, die näher bei den Menschen sind. Insbesondere die
Auslegung eines so komplizierten Gesetzes hätten wir
gerne in die Hände einer Verwaltung gelegt, die kommunal und parlamentarisch legitimiert ist. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.
({3})
Deswegen muss heute festgehalten werden, dass die
Verantwortung für die Umsetzung allein bei der Regierung liegt. Die Trägerschaft der BA war nicht unser Ziel.
Wir haben jetzt Anfang Juli. Ich bin sehr gespannt darauf, wie die BA diese Umsetzung hinbekommen soll.
Der Fragebogen ist schon ein Beleg dafür. Dieser wird
ihr von 2 Millionen Menschen zugeschickt werden. Das
Feld, in dem man darlegen soll, ob man erwerbsfähig ist
oder nicht, hat eine Breite von zwei Zentimetern. Ich
wünsche allen viel Spaß mit der Entscheidung, die Sie
getroffen haben. Für diese lassen wir uns auf gar keinen
Fall in Mithaftung nehmen.
({4})
Herr Kollege Niebel, Sie haben gesagt, dass zum Beispiel die Kommunen in Nordrhein-Westfalen das
nicht bis zum 15. September 2004 entscheiden können.
Ich will Ihnen sagen, wie man das macht: Morgen früh
um 9.30 Uhr, wenn ich aus Berlin zurück bin, tagen im
Landkreis Steinfurt 24 Bürgermeister. Wir besprechen
dann mit unseren Gemeinden, ob sie der Meinung sind,
dass der Kreis optieren soll. Sie brauchen ja die örtlichen
Sozialämter dafür; denn ansonsten können die Gemeinden diese Aufgabe nicht erfüllen. Am 14. Juli 2004 werden wir im Kreistag einen Beschluss fassen
({5})
und wir hoffen darauf, dass die nordrhein-westfälische
Landesregierung meinen Landkreis zu einem Optionskreis macht.
Ich sage Ihnen: Kommunalpolitiker, die nicht so vorgehen und das nicht wollen, sollen von vornherein die
Finger von der Sache lassen. Ich bin der Meinung, dass
man diese Entscheidung bis zu diesem Zeitpunkt in den
Kommunalparlamenten treffen kann. Hätten wir länger
gewartet, dann hätten Sie bei der Umsetzung in den Landesbehörden riesige Probleme bekommen, weil nur noch
bis zum 1. Januar 2005 Zeit ist.
Herr Kollege Laumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Nein.
Also keine Zwischenfragen.
({0})
Der Landkreistag ist zwar eine großartige Organisation; aber ich bin schon der Meinung, dass man das auf
der kommunalen Ebene hinbekommen kann.
({0})
Wir sind tatsächlich sehr spät dran. Man muss sich
das einmal vorstellen: Wir haben vor Weihnachten des
letzten Jahres die Hartz-IV-Reformen im Grundsatz beschlossen. Dass wir für die Verhandlungen sieben Monate gebraucht haben, lag daran, dass wir uns sagenhaft
schwer getan haben, verlässliche Instrumente zu finden,
mit denen sichergestellt wird, dass die Gemeinden bei
dieser Operation nicht zu kurz kommen und dass der
versprochene Ausgleich in Höhe von 2,5 Milliarden Euro - das hat der Bundeskanzler damals schon in
seiner Rede zur Agenda 2010 im Deutschen Bundestag
zugesagt - auch erfolgt. Um dieses Ergebnis mit einer
echten Entlastung für die Kommunen zu erreichen, haben wir so lange gebraucht. Dadurch haben wir so viel
Zeit verloren.
({1})
Auch dafür tragen Sie die Verantwortung; denn nicht
wir, sondern die Bundesregierung hat in einer Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses die falschen Zahlen
geliefert, was als Folge die Gemeinden belastet hätte.
({2})
Herr Stiegler, da Sie es gerade angesprochen haben,
möchte ich etwas dazu sagen, damit das klar ist: Für
viele Menschen - die Arbeitslosenhilfe bezog sich bisher auf den letzten Lohn; nun wird diese Leistung bedürftigkeitsabhängig - ist dies schon ein Einschnitt.
({3})
Das kann man auch nicht bejubeln. Vielmehr muss man
ganz klar sagen: Das sind Einschnitte.
Aber eines sage ich auch - das richtet sich an Attac
und all diejenigen, die jetzt von der neuen Armut reden -:
Wir leben nach wie vor in einem Land, wo eine Familie
- Vater, Mutter und zwei Kinder -, die von
Arbeitslosengeld II lebt, zusammen mit der durchschnittlichen Miete 1 585 Euro überwiesen bekommt.
Ein normaler Arbeitnehmer, der 176 Stunden im Monat
arbeitet, muss 9 Euro netto verdienen, um auf die gleiche
Summe zu kommen wie eine Familie mit zwei Kindern
im Arbeitslosengeld II.
Wenn dazu jemand sagt, das sei die neue Armut,
dann, glaube ich, hat dieser Mensch noch keine Armut
auf dieser Erde gesehen.
({4})
Dass das nicht schön ist, ist klar. Aber ich finde, wir können stolz darauf sein, in einem Land zu leben, das den
Menschen, die zurzeit nicht arbeiten, solche Leistungen
rechtlich zusichert. Ich finde, auch das sollte man einmal
sagen.
({5})
Ich als Sozialpolitiker ärgere mich schon seit Jahren
über folgende Debatte in Deutschland: Es ist eine Katastrophe, wenn Menschen Sozialhilfe beziehen, und andere Sicherungssysteme müssen sozialhilfefest gemacht
werden. - Es besteht ein Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Es ist eine großartige Sache, dass unser Land ein
solches System hat. Von der Fürsorge in den 50er-Jahren, auf die niemand einen Rechtsanspruch hatte und die
nach bestimmten Kriterien vergeben worden ist, ist es
nun in diesem Land zu einem Rechtsanspruch gekommen. Daran haben wir im Grunde gemeinsam festgehalten. Auch das gehört zur Wahrheit.
({6})
Herr Clement, wenn wir diese Einschnitte für die Arbeitslosen beschließen, haben diese einen Anspruch darauf, dass wir gemeinsam alles tun, damit in Deutschland
mehr Arbeitsplätze entstehen. Gestern hörte ich von der
BASF, dass das grüne Forschungszentrum, der Limburger Hof bei Ludwigshafen, der vor drei Jahren aus Amerika zurückgeholt wurde, aufgrund der Einschränkungen
in Sachen Grüne Gentechnologie und der Veröffentlichungspflicht von Versuchsfeldern für Gentechnologie,
die Rot-Grün durchgesetzt haben, schließen soll und dadurch 300 Menschen arbeitslos werden. Mit dieser Politik wird die Zahl der Arbeitslosen nicht gesenkt.
({7})
Ich wünsche mir sehr, dass Sie sich in der Bundesregierung gegen die Grünen durchsetzen, deren Wähler offensichtlich die sichersten Arbeitsplätze haben. Arbeitsplätze müssen für alle Menschen erhalten bleiben. Sie,
Herr Clement, müssen verhindern, dass diese Vernichtungspolitik fortgesetzt wird. Darauf haben die Menschen ein Recht, vor allen Dingen wenn wir Sozialgesetze beschließen.
({8})
Ein anderes Beispiel ist der Nationale Allokationsplan. Die Leute von der BASF haben mir gestern von
einem Projekt berichtet, bei dem eine Anlage mit einem
Investitionsvolumen von 120 Millionen Euro errichtet
werden soll. Aber der Standort Ludwigshafen steht mit
einem anderen Standort in Ostdeutschland und einem
Standort in Antwerpen, Belgien, in Konkurrenz.
Die Löhne in Belgien sind fast so wie hier; das ist
nicht das Problem. Aber das, was beim Emissionshandel
von den Grünen und Trittin gegen unsere Chemieindustrie durchgesetzt worden ist, wird mit Sicherheit - so
sagten Vertreter der BASF gestern Abend - dazu führen,
dass die Investitionsentscheidung für Belgien und gegen
einen deutschen Standort fällt.
Ich bin demnächst nicht mehr bereit, Sozialkürzungen
für Arbeitslose zu beschließen, wenn in anderen Politikfeldern nicht absolute Priorität für Arbeitsplätze in
Deutschland gilt. In dieser Beziehung müssen Sie sich
noch viel mehr in dieser Regierung durchsetzen.
({9})
Andernfalls lassen Sie die Grünen beiseite und machen
Sie es mit uns! Dann haben Sie eine saubere Politik.
({10})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dirk Niebel.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Laumann, Sie haben bei meinem Versuch, eine Zwischenfrage zu stellen,
({0})
abgewunken und etwas abwertend über den Landkreistag Nordrhein-Westfalen gesprochen. Sie kommen aus
Nordrhein-Westfalen. Der Landkreistag vertritt 57 Landkreise in Nordrhein-Westfalen. Der Landkreistag schrieb
am 29. Juni unter anderem, dass die Frist - 15. September - außerordentlich schwierig sei und dass befürchtet
werde, dass die Kreise voraussichtlich von der Option
ausgeschlossen wären.
Es heißt weiter:
Die Sommerferien beginnen am 22. Juli. Die nächsten Kreistagssitzungen sind ganz überwiegend für
Mitte Juli terminiert. In Nordrhein-Westfalen finden am 26. September Kommunalwahlen statt.
Wird im ersten Wahlgang kein Landrat gewählt, ist
am 10. Oktober eine Stichwahl durchzuführen. Vor
der Kommunalwahl findet im September nach unseren Ermittlungen in allen Kreisen in NordrheinWestfalen keine Kreistagssitzung mehr statt.
({1})
Eine Sondersitzung verbietet sich - ich zitiere weiter -:
schon wegen des Kommunalwahlkampfes, der es
kaum zulässt, eine Entscheidung von einer solch
großen Tragweite in administrativer und finanzieller Hinsicht, wie es die Option darstellt, zu treffen.
({2})
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie als nordrheinwestfälischen Abgeordneten: Entspricht es Ihrem Demokratieverständnis, dass scheidende Kreistage ad hoc
durch eine kurzfristige Befragung der Bürgermeister des
Kreises eine so schwerwiegende Entscheidung über die
Option bzw. Nichtoption treffen, die hinterher ein erst
noch zu wählender Kreistag auszubaden hat? Ich halte
das schlichtweg für falsch.
({3})
Herr Kollege Laumann zur Erwiderung, bitte schön.
Herr Kollege Niebel, ich will ganz klar sagen: Wir
von der Union wollen, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum 1. Januar zusammengeführt werden. Wer
den Termin verschiebt, gefährdet das Projekt der Zusammenlegung. Das ist die Wahrheit.
({0})
Er rechnet auch damit, dass das Projekt gefährdet wird.
Denn diejenigen, die jetzt alles mögliche vorrechnen,
würden in einer solchen Phase die Übergangsfrist bekommen. Ich glaube, dass das Fenster lange genug offen
gestanden hat und dass wir eine so gewichtige Sozialreform jetzt machen müssen. Man muss jetzt zupacken. Es
ist ähnlich wie bei der Wiedervereinigung. Das kann
man nicht verschieben.
({1})
Der zweite Punkt, Herr Kollege Niebel, ist folgender:
Die Kreistage, die sich überlegt haben, zu optieren, umfassen in der Regel Kreise und Gemeinden, die schon
länger in erheblichem Umfang kommunale Beschäftigungspolitik machen. Wenn ein Kreis erst heute mit
kommunaler Beschäftigungspolitik anfängt, sich vorher
aber darüber keine Gedanken gemacht hat, dann soll er
jetzt nicht optieren. Es kann nur derjenige gewissenhaft
optieren, der bislang eine gute kommunale Beschäftigungspolitik gemacht hat.
({2})
Diejenigen, die das gemacht haben und ihre Erfahrung gesammelt haben, bekommen bis zum 15. September einen solchen Beschluss hin. Ich sage Ihnen eines:
Sicherlich fangen bei uns in Nordrhein-Westfalen in
einigen Wochen die Ferien an. Aber wenn es um die
Sorge über Tausende von Menschen in einer kreisfreien
Stadt oder in einem Landkreis geht, dann - so finde ich ist einem Kommunalparlament eine Sitzung in den Ferien zumutbar.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
mich so viele der herbeiströmenden Kollegen von der
SPD eben gefragt haben, worum es hier eigentlich geht,
möchte ich es ihnen erklären: Wir reden heute abschließend über das vierte Hartz-Gesetz, zumindest hier im
Bundestag.
({0})
Draußen, im richtigen Leben, wird Hartz IV noch lange
für Gesprächsstoff sorgen. Das ist spätestens dann der
Fall, wenn Millionen hautnah erleben, was das Gesetz in
der Praxis bewirkt. Denn Hartz IV ist kein Reformpaket;
es ist vielmehr ein Armutsgesetz. Deshalb lehnt die PDS
dieses Gesetz ohne Wenn und Aber ab.
({1})
Sie haben im Vermittlungsausschuss von Bundestag
und Bundesrat zäh um einen Kompromiss gerungen. Die
Kommunen bekommen mehr Geld als ursprünglich geplant. Außerdem werden mehr Kommunen unmittelbar
für ihre Arbeitslosen zuständig sein. Aber das sind nur
die Ausführungsvereinbarungen. Der Kern von Hartz IV
bleibt: Sie greifen Armen in die Tasche und zwingen sie
zur Fron.
Ich habe in den vergangenen Tagen im sozialdemokratischen Liedgut gekramt. Darin heißt es: „Wir haben
selbst erfahren der Arbeit Frongewalt.“ Heute ersetzen
Sie diese solidarische Inbrunst durch eine asoziale
Agenda.
({2})
Hartz IV schafft keine Arbeitsplätze. Aber die Kollateralschäden sind gewaltig. Ich möchte nur drei Beispiele skizzieren:
Wer künftig Arbeitslosengeld II empfängt, muss mit
345 Euro im Westen bzw. 331 Euro im Osten auskommen, immer vorausgesetzt, die Betroffenen und ihre Angehörigen haben vordem ihre Ersparnisse abgeräumt.
Wirtschaftsminister Clement findet das gerecht; er hat
das vorhin noch einmal begründet. Ich nenne das nach
wie vor unsozial.
({3})
Obendrein programmieren Sie damit Altersarmut
vor. Denn die meisten Betroffenen müssen ihre Lebensversicherungen kündigen, um das Arbeitslosengeld II
beziehen zu können. Obwohl das der gesamten Rententheorie widerspricht, wollen Sie dies beschließen.
({4})
Die Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner hat
hochgerechnet, dass allein in der Hauptstadt circa
400 000 Berlinerinnen und Berliner in den Strudel der
Hartz-Gesetzgebung gerissen werden. Bundesweit sind
es Millionen. Die Arbeitsminister der ostdeutschen Bundesländer - über alle Parteigrenzen hinweg - haben
schon vor Monaten festgestellt, dass durch Hartz IV die
Kaufkraft und damit auch die Nachfrage weiter schwinden
({5})
und weitere Unternehmen in die Pleite getrieben werden.
Es werden also keine Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Sie werden vernichtet.
Wer künftig arbeitslos wird, muss jeden Job annehmen, egal wo und wie weit unter Tarif. Damit wird
Billiglohn zum Standard. Die Gewerkschaften warnen
vor sozialpolitischem Sprengstoff.
Liebe Kollegin Dückert, es macht die Sache nicht
besser, wenn - wie Sie zu Recht vorgetragen haben CDU und CSU es gerne noch schlimmer getrieben hätten. Denn auch Sie greifen den Ärmsten in die Tasche.
Noch eine letzte Bemerkung an die Fraktionsvorsitzende vom Bündnis 90/Die Grünen, die Kollegin
Göring-Eckhardt aus Thüringen: Ich wünsche eigentlich
niemandem etwas Schlechtes; aber nach dem, was Sie
zur Verteidigung des Arbeitslosengeldes II vorgetragen
haben, wünsche ich mir, dass Sie demnächst die Folgen
dieser Gesetzgebung selbst spüren müssen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Renate
Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
ein wichtiger Tag für die deutsche Landwirtschaft, die
Verbraucherinnen und Verbraucher, die Umwelt, den
Tierschutz und für den ländlichen Raum. Ich will einige
Anmerkungen dazu machen.
Wir haben jetzt einen Punkt erreicht, über den wir vor
drei Jahren enorm gestritten haben. Wir beschreiten
nämlich einen neuen Weg für eine zukunftsfähige Landwirtschaft. Sie erinnern sich sicherlich: Seinerzeit sprachen wir über „Klasse statt Masse“ und über die Entkoppelung der Zahlungen an die Landwirtschaft, sodass die
Landwirte nicht mehr gezwungen sind, nur deshalb Mais
zu produzieren - was an manchen Standorten unsinnig
sein kann -, weil sie dafür 400 Euro pro Hektar bekommen.
Wir schaffen jetzt ein Stück Gleichheit hinsichtlich
der Produktion und legen Umwelt- und Tierschutzstandards sowie Standards zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit fest. Wer diese Regeln nicht einhält,
dem können die staatlichen Gelder entzogen werden.
Wir haben nicht nur diese Wege beschritten, sondern
darüber hinaus auch die Voraussetzungen geschaffen,
dass wir mit der Agrarreform, die ab 1. Januar 2005 gilt,
in den WTO-Verhandlungen nicht mehr mit dem Rücken
zur Wand stehen, sondern selber einen aktiven Part einnehmen können, was meines Erachtens in Verhandlungen immer besser ist.
({0})
Nach dem ersten Schritt unserer Aktivitäten, der am
1. Januar 2005 beginnt, folgt der zweite Schritt, indem
wir im Zeitraum von 2010 bis 2013 eine Umverteilung
von Geldern mit dem Ziel vornehmen, die Flächenprämien in den deutschen Bundesländern zu vereinheitlichen. Ich weiß, dass das für manche schwer ist. Ich glaube
aber, dass der Zeitraum lang genug ist, um sich darauf
einzustellen, und dass dadurch die Ungerechtigkeiten des
heutigen Agrarsystems ein Stück weit ausgeglichen
werden. Wir haben dabei auch auf die Milchviehbetriebe
Rücksicht genommen.
Es ist nicht einfach, das Kunststück zu vollbringen,
etwas, wofür manche Jahrzehnte gearbeitet haben - wir,
die Koalition, haben das in den letzten drei Jahren
getan -, in zwei Minuten darzustellen. Ich konnte daher
nur einige Punkte antippen.
Zum Schluss möchte ich aber auf keinen Fall vergessen, mich bei all denjenigen zu bedanken, die jahrzehntelang bzw. in den letzten drei Jahren an dem entscheidenden Baustein für die Agrarwende - diesen verankern
wir heute - mitgearbeitet haben. Das sage ich nicht nur
an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen hier im
Haus, sondern bewusst auch derjenigen draußen.
Ich glaube, dass das neue System für mehr Gerechtigkeit sowie für mehr Verantwortung für Tiere und Umwelt sorgen wird und dass es letztendlich die Landwirte
eher belohnen wird, weil die Verbraucher und die Steuerzahler wissen, wofür sie zahlen.
Danke.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Ministerin, die Ehrlichkeit gebietet es, zwischen dem, was wir heute beschließen, nämlich die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses, sowie dem Gesetzentwurf, den Sie erarbeitet haben, und den zugrunde
liegenden EU-Beschlüssen zu differenzieren. Letztere
haben Sie zu verantworten, weil Sie an den Verhandlungen teilgenommen haben.
({0})
Die von Ihnen verhandelten EU-Beschlüsse sind grottenschlecht für die deutsche Landwirtschaft.
({1})
Diese sind die Basis für Ihren vorliegenden Gesetzentwurf und sollen nun in nationales Recht umgesetzt werden. Wir haben im Vermittlungsausschuss noch Verbesserungen erreicht und zumindest das Beste für die
deutschen Landwirte aus dem schlechten Ergebnis, das
Sie von Brüssel nach Hause mitgebracht haben, und aus
der mangelhaften Umsetzung gemacht. Es ist uns gelungen, die Umverteilung innerhalb der Landwirtschaft und
damit die gröbsten Strukturbrüche abzumildern. Wir haben Verbesserungen für die Tierhaltungsbetriebe, insbesondere für die Milchviehbetriebe, dadurch erreicht,
dass wir dafür gesorgt haben, dass die Abschmelzung in
Richtung Flächenprämie erst von 2010 an und nicht
schon von 2007 an, wie Sie das ursprünglich vorgesehen
hatten, erfolgt. Das bedeutet, dass diese Betriebe länger
und in größerem Umfang die bisherigen Prämien erhalten können.
Es ist uns außerdem gelungen, auch etwas für die
Ackerbaubetriebe zu erreichen. Die Länderoption ermöglicht es den Bundesländern, hier einen Ausgleich für
besonders betroffene Betriebe zu schaffen. Die Bundesländer müssen dies natürlich auch akzeptieren und umsetzen.
Es ist uns weiterhin gelungen, den Satz für die nationale Reserve von 1,5 auf 1 Prozent der Prämien zu reduzieren. Es ist uns ebenfalls gelungen, zu erreichen, dass
die Vorschriften, die die deutschen Landwirte einzuhalten haben, nicht schärfer sind als die in anderen EU-Ländern gültigen Regelungen. Des Weiteren ist es uns gelungen, das von Ihnen geforderte Einvernehmen mit dem
Bundesumweltminister zu verhindern.
({2})
Das alles ist nur deshalb gelungen, weil die unionsregierten Bundesländer im Bundesrat geschlossen den Vermittlungsausschuss angerufen haben.
({3})
Sie haben damit zu den Verbesserungen für die Landwirte beigetragen.
({4})
Da der jetzt vorliegende Gesetzentwurf im Vergleich zu
Ihrem ursprünglichen Verbesserungen beinhaltet, werden wir mehrheitlich zustimmen.
Ein Wermutstropfen ist aber die von Ihnen ohne Not
vorgenommene Umverteilung der Mittel zwischen den
Bundesländern. Das wird dazu führen, dass die Landwirte in einigen Bundesländern von Anfang an weniger
Prämien erhalten werden. Dass es angesichts dessen
manchem Kollegen sehr schwer fällt, zuzustimmen, liegt
auf der Hand.
({5})
Ich möchte ebenfalls nicht verschweigen, dass mit der
jetzigen Agrarreform ein Paradigmenwechsel in der
deutschen Landwirtschaft - dieser begann mit den EUBeschlüssen und wird nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf fortgesetzt - vorgenommen wird. Er bedeutet
insbesondere für die Milchviehbetriebe eine Schwierigkeit. Frau Ministerin, Sie haben in Brüssel einer deutlichen Preissenkung bei Milch, einem lediglich teilweisen
Ausgleich für diese Betriebe und auch einer Quotenerhöhung zugestimmt. Das führt zu dramatischen Einkommenseinbrüchen bei den Milchviehbetrieben, und dies,
obwohl ein Viertel der Milcherzeugung Europas in
Deutschland stattfindet.
Dieses Ergebnis war so schlecht verhandelt, dass wir
eine „Sonderregelung Milch“ wollten. Obwohl es einige
Vertreter der Koalitionsfraktionen in öffentlichen Reden
immer wieder verkündet haben, haben Sie einer solchen
Regelung leider nicht zugestimmt. Für die Milchviehbetriebe wurde wenigstens noch eine Verschiebung auf
2010 erreicht.
({6})
Wir haben für diese Betriebe außerdem die Verabschiedung einer Erklärung erreicht, die Bund und Länder
dazu verpflichtet, Überlegungen anzustellen, wie gerade
den Milchviehbetrieben geholfen werden kann. Wir denken dabei beispielsweise an Regelungen über Modulationsmittel.
Da die Ausgangsposition für das zur Abstimmung anstehende Gesetz, die Sie, Frau Ministerin, in Brüssel herbeigeführt haben, so schlecht war, ist es nun aber an
Ihnen, wenigstens im Hinblick auf die Zuckermarktordnung - sie wird auf die Landwirte zukommen - für die
deutschen Bauern ein besseres Ergebnis nach Hause zu
bringen und außerdem sicherzustellen - ich erinnere daran, dass wir in den nächsten Monaten den Haushalt des
nächsten Jahres zu beraten haben -, dass die Landwirtschaft nicht, wie in fast jedem Jahr, als das dasteht, was
sie für Sie immer war, nämlich eine Art Steinbruch, dem
man noch mehr Haushaltsmittel entnehmen kann.
Frau Ministerin, Sie haben noch vieles zu tun.
({7})
Wir werden dem jetzt vorliegenden Kompromissvorschlag - er bringt Verbesserungen für die Landwirte, die
wir vorgeschlagen haben - mehrheitlich zustimmen.
({8})
Ich erteile jetzt der Kollegin Waltraud Wolff von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich hatte ich vor, hier die Freude darüber
zum Ausdruck zu bringen, dass wir gemeinsam ein echtes Vermittlungsergebnis zustande gebracht haben. Frau
Hasselfeldt, Sie haben hier behauptet, dass Frau Ministerin Künast in Brüssel grottenschlecht verhandelt hat.
({0})
Dazu will ich Ihnen Folgendes sagen: Frau Künast hat in
Brüssel die Grundlage für die EU-Agarreform, die wir
jetzt in nationales Recht umsetzen, geschaffen.
({1})
Gestern hat der neue Bundespräsident, Herr Köhler,
seine Antrittsrede gehalten. Er hat unter anderem gesagt:
Deutsche haben die Eigenschaft, zu lange am Althergebrachten zu verhaften, nicht nach neuen Wegen zu suchen; das ist ein großes Problem; der tagespolitische
Streit über Kleinigkeiten bringt uns nicht weiter, sondern
das Finden eines Konsenses über Parteigrenzen hinaus.
Das passt genau zu dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses. Wir haben in einer übergroßen Kraftanstrengung den größten Umlenkungsprozess für die Landwirtschaft Deutschlands in der Nachkriegszeit in Gang
gesetzt.
({2})
Bund und Länder haben die Zielgerade gemeinsam in
Augenschein genommen.
({3})
Es gab zwölf Gründe, derentwegen der Vermittlungsausschuss angerufen worden ist. Ich möchte nur zu drei
Punkten etwas sagen.
Erstens: die Entkoppelung der Direktzahlungen.
Wir haben - das war der Wunsch der Länder - der Verschiebung dieser Regelung zugestimmt. Im Gegenzug
dazu haben wir den Sonderweg in Bezug auf die Milch
nicht eingeschlagen. Liebe Kollegin Hasselfeldt, wer in
Bezug auf die Milch in Deutschland einen Sonderweg
beschreiten will, der muss auch den Bullenmästern und
den Mutterkuhhaltern erklären, warum für sie kein Sonderweg infrage kommt.
Zweitens: nationale Reserve. Wir sind auch auf diesem Gebiet - das will ich hier ganz deutlich sagen - den
Ländern, die nur 1 Prozent des gesamten Prämienvolumens in die nationale Reserve, sprich: zur Regelung von
Härtefällen, einsetzen wollen, entgegengekommen. Wir
haben von Bundesseite aus gesagt: Wir möchten
1,5 Prozent des Prämienvolumens, weil heute niemand
sagen kann, wie groß die Zahl der Betriebe sein wird, die
in eine solche Härtefallregelung einbezogen werden
müssen. Von daher wollten wir auf der sicheren Seite
sein. Inhaltlich konnten Sie dem folgen. Aber nun sind
wir in dem Punkt Ihnen gefolgt und haben „1 Prozent“
akzeptiert. Wenn mehr Betriebe die Härtefallregelung in
Anspruch nehmen, als jetzt angenommen wird, dann haben aber die Länder die Verantwortung dafür, eine Prämienkürzung vorzunehmen.
Zur Cross-Compliance-Regelung, das heißt Umwelt- und Agrarmaßnahmen, möchte ich jetzt eigentlich
nichts mehr sagen. Wir haben besonders auf das Grünland Wert gelegt.
Ich will dann nur noch sagen: Die EU-Agrarpolitik
wird sich mit der Agrarreform entscheidend wandeln. Es
ist ein herzlicher Dank angesagt, glaube ich, und zwar
nicht nur an die Kollegen, die das Ergebnis vorbereitet
haben. Wie ich eingangs schon gesagt habe, haben wir
das über die Parteigrenzen hinweg geschafft, auch mithilfe des Berufsstandes, der an manchen Stellen fortschrittlicher als die CDU/CSU-Fraktion gewesen ist.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Drucksache 15/3541. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der beiden PDS-Abgeordneten bei Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP abgelehnt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Umsetzung der Reform der gemeinsamen
Agrarpolitik
- Drucksachen 15/2553, 15/2790, 15/2843,
15/3165, 15/3494 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller ({1})
Berichterstatter im Bundesrat ist Minister Rudolf
Köberle.
Zur Abstimmung liegt mir eine Vielzahl von Erklä-
rungen gemäß § 31 der Geschäftsordnung vor.1)
Wird das Wort zur Berichterstattung oder zu Erklärungen gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Dies gilt auch für die vier weiteren Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses.
Ich weise darauf hin, dass zur Annahme der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zur Änderung des nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes mit
absoluter Mehrheit angenommenen Gesetzentwurfs
ebenfalls die absolute Mehrheit - das sind 301 Stimmen erforderlich ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3494? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen, großer Teile der CDU/CSU
bei einigen Gegenstimmen der CDU/CSU und mit den
Stimmen der FDP mit der absoluten Mehrheit der Mitglieder angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ({3})
- Drucksachen 15/2816, 15/2997, 15/3161,
15/3495 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
1) Anlagen 2 und 3
Berichterstatter im Bundesrat ist Ministerpräsident
Roland Koch.
Uns liegt eine Erklärung der Bundesregierung zum
Vermittlungsergebnis vor. Sie soll zu Protokoll genom-
men werden.2)
Außerdem liegen mir einige persönliche Erklärungen
nach § 31 der Geschäftsordnung von Abgeordneten aus
allen Fraktionen vor.3)
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3495? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen, großer Teile der CDU/CSU bei drei Gegenstimmen der CDU/CSU und etlichen Enthaltungen aus der
CDU/CSU bei Gegenstimmen der beiden PDS-Abgeordneten und der FDP angenommen.
({4})
- War das eine Enthaltung oder eine Gegenstimme von
Herrn Ströbele?
({5})
- Eine Gegenstimme.
Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({6}) zu dem Ersten Gesetz zur
Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksachen 15/3046, 15/3223, 15/3297,
15/3496 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller ({7})
Berichterstatter im Bundesrat ist Minister Rudolf
Köberle.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3496? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({8}) zu dem Gesetz zur Intensi-
vierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit
und damit zusammenhängender Steuerhinter-
ziehung
- Drucksachen 15/2573, 15/2948, 15/3077,
15/3079, 15/3298, 15/3497 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg-Otto Spiller
2) Anlage 4
3) Anlagen 5 bis 8
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Berichterstatter im Bundesrat ist Staatsminister Erwin
Huber.
Dazu liegt mir ebenfalls eine Erklärung der Bundesre-
gierung zum Vermittlungsergebnis vor, die zu Protokoll
genommen wird. 1)
Dr. Michael Meister möchte eine mündliche Erklärung zur Abstimmung abgeben.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gemäß § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung
möchte ich für mich persönlich und für die Kollegen der
Fraktion eine Erklärung zur abschließenden Abstim-
mung über das Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzar-
beit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung
abgeben.
Das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz definiert zum
ersten Mal den Begriff der Schwarzarbeit und enthält
auch zahlreiche Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung. Ich
begrüße ausdrücklich das Ziel der Bundesregierung,
Schwarzarbeit und damit zusammenhängende Steuerhin-
terziehung zu bekämpfen. Wir stimmen dem Gesetz zu,
obgleich der Gesetzentwurf einseitig auf repressive
Maßnahmen setzt und nicht primär die vielfältigen Ursa-
chen von Schwarzarbeit, sondern nur deren Symptome
bekämpft.
Ursächlich für die Schwarzarbeit sind insbesondere
die steigende Steuer- und Abgabenlast, insbesondere die
Sozialabgabenbelastung, die den Keil zwischen Brutto-
und Nettolöhnen stetig vergrößert. Auch eine überbor-
dende Regulierung des Arbeitsmarktes ist mitursächlich
für das Anwachsen der Schwarzarbeit. Hier wäre drin-
gend eine Flexibilisierung angezeigt. Fehlendes Ver-
ständnis für und mangelnde Akzeptanz von Belastungen
und Vorschriften führen ebenfalls dazu, dass die Bereit-
schaft zur Entrichtung von Steuern und Sozialabgaben
sowie zur Befolgung der Vorschriften sinkt.
Begleitend zu unserem Abstimmungsverhalten möch-
ten wir deshalb festhalten, dass sich die Bekämpfung der
Schwarzarbeit wie auch die anderer Kriminalitätsphäno-
mene nicht auf repressive Maßnahmen beschränken
darf. Repressive Maßnahmen stoßen dort an die Grenzen
ihrer Wirksamkeit, wenn ein entsprechendes Unrechts-
bewusstsein in der Bevölkerung aufgrund falscher Poli-
tik nicht vorhanden ist und die Anreize für die Auf-
nahme legaler Beschäftigung fehlen.
Für die Bekämpfung der Schwarzarbeit muss viel-
mehr ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Prävention auf-
gestellt werden, das die Ursachen von Schwarzarbeit
adäquat reduziert. Hierzu gehören eine entsprechende
Steuerreform - einfacher, niedriger, gerechter -, durch-
greifende Reformen, Flexibilisierung und Deregulierung
des Arbeitsmarktes und Reformen in den sozialen Siche-
rungssystemen. Diese Maßnahmen fehlen im Gesetz.
Das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz stellt deshalb
nur einen Baustein zur Bekämpfung von Schwarzarbeit
dar.
1) Anlage 9
Ich und die Kollegen stimmen dem im Vermittlungsausschuss erzielten Ergebnis zu, weil in ihm das Gesetz
gegenüber seiner Ursprungsfassung verbessert wurde.
Allerdings bleibt die Bundesregierung aus unserer Sicht
aufgefordert, nicht nur die Symptome zu bekämpfen,
sondern auch an die Ursachen heranzugehen und Prävention zu betreiben.
Vielen Dank.
({0})
Wird von den Berichterstattern das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 15/3497? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen
die Stimmen der FDP angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Elften Gesetz zur
Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes
({1}) und der Außenwirtschaftsverordnung
({2})
- Drucksachen 15/2537, 15/3076, 15/3304,
15/3498 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
Berichterstatter im Bundesrat ist Staatsminister
Gernot Mittler.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3498? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll der
bereits gestern überwiesene Entwurf eines Gesetzes zur
Einführung der Europäischen Gesellschaft, Tagesordnungspunkt 31 l, nunmehr zur federführenden Beratung
an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Der bisher
federführende Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit erhält die Mitberatung. Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine
Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
({3}), Irmingard Schewe-Gerigk, Claudia Roth
({4}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts
- Drucksache 15/3445 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
({6})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen mit der
Aussprache beginnen. Ich bitte diejenigen, die an der
Aussprache nicht teilnehmen wollen, möglichst zügig
den Saal zu verlassen und die Gespräche außerhalb des
Saales fortzusetzen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der letzten Legislaturperiode ist der erste
Schritt unternommen worden, homosexuelle Lebenspartnerschaften gesellschaftlich und vor allen Dingen
rechtlich den Ehen anzugleichen. Die Debatte um die
Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes seinerzeit
war nicht einfach. Es gab erheblichen Gegenwind. Das
Bundesverfassungsgericht hat zweimal darüber entschieden. Es hat im Ergebnis festgestellt, dass es aus der Verfassung nicht begründbar ist, Lebensgemeinschaften im
Abstand zur Ehe auszugestalten und sie mit geringeren
Rechten zu versehen.
Aus dieser Entscheidung leiten wir den Auftrag ab,
Lebenspartnerschaften dort, wo sie rechtlich noch nicht
gleichgestellt sind, gleichzustellen. Es geht um keine
sehr großen Zahlen; aber die Menschen, die betroffen
sind, sind darauf angewiesen, dieselben rechtlichen
Möglichkeiten zu erhalten, wie sie für andere Partnerschaften gelten. Schließlich sind sie auch verpflichtet,
gegenseitig Unterhalt zu zahlen, und das Einkommen
des Partners wird bei der Sozialhilfe angerechnet. In den
Fällen, in denen der Staat das Geld nimmt, werden sie
gleich behandelt, aber in den Fällen, in denen er geben
soll, nicht. Das wollen wir jetzt beenden, wenigstens zu
einem großen Teil.
Das heißt im Einzelnen: In Zukunft wird es für homosexuelle Paare die Möglichkeit geben, sich wie vor der
Ehe zu verloben. Daraus folgen bei einer Auflösung der
Verlobung zivilrechtliche Ansprüche und das Zeugnisverweigerungsrecht im Strafprozess. Wie in der Ehe
wird es auch künftig den Güterstand der Zugewinngemeinschaft geben, wenn nichts anderes vereinbart
wurde. In der Partnerschaft - und nur dort - wird es darüber hinaus möglich sein, das leibliche Kind des Lebenspartners zu adoptieren; das ist die so genannte Stiefkindadoption. Das heißt, wenn ein Partner ein Kind
mitbringt oder wenn in einer - lesbischen - Beziehung
ein Kind geboren wird, besteht die Möglichkeit, dass der
andere Partner, wenn er Verantwortung übernehmen und
sich um das Kind kümmern will, dies durch eine Adoption dokumentiert.
Dieses Thema hat insbesondere die Opposition auf
den Plan gerufen.
({0})
- Ja, Sie in der anderen Richtung, das ist wahr. - Ich
habe heute ein Interview mit Frau Merkel in der „Welt“
gelesen, die auf die Frage, was ein Adoptionsrecht für
Lebenspartnerschaften für die Kinder bedeute, geantwortet hat, diese Kinder würden ganz anders aufwachsen
als andere Kinder. Das ist schlechterdings falsch. Was
sie meint, ist die soziologische Wirklichkeit. Dass Kinder in homosexuellen Lebenspartnerschaften aufwachsen, ist Fakt, und zwar unabhängig von der Tatsache, ob
man die Zuadoption erlaubt oder nicht. Das rechtliche
Konstrukt, das dahinter steht, hat mit der soziologischen
Wirklichkeit nichts zu tun. Deswegen bitte ich Sie, darüber einmal nachzudenken.
Der andere Punkt ist: Wir wollen keineswegs, dass
künftig nur noch zuadoptiert wird. Auch künftig soll
nichts unternommen werden können, was sich gegen das
Wohl des Kindes richtet. Es bleibt vielmehr dabei - wie
bei allen anderen Regelungen auch -: Gibt es eine Verpflichtung des leiblichen Vaters - in vielen Fällen ist er
in der Regel nicht bekannt -, muss er zustimmen. Das
gilt auch für die leibliche Mutter. Außerdem müssen die
Behörden entscheiden, ob eine solche Zuadoption dem
Wohl des Kindes dient. Das ist eine Regelung, wie sie
auch ansonsten gilt.
Falls es zu einer Trennung der Beziehung kommt
- auch in diesem Punkt passen wir an -, gibt es künftig
Unterhaltsverpflichtungen. Die Lebenspartner müssen
füreinander einstehen. Die formelle Beendigung der Lebenspartnerschaft wird vereinfacht. Zukünftig ist keine
notarielle Erklärung mehr erforderlich, sondern man
muss nur erklären, wie es ansonsten auch der Fall ist,
dass man getrennt gelebt hat.
Es erfolgt ebenfalls eine Gleichstellung bei der Regelung über den Versorgungsausgleich. Wenn in einer Lebenspartnerschaft Rentenversorgungsansprüche erworben wurden, müssen sie bei der Trennung geteilt werden;
denn man geht eine Partnerschaft ein, um füreinander
einzustehen. Deswegen gelten die Ansprüche auch über
die Beendigung der Partnerschaft hinaus.
Das Gleiche gilt für die Hinterbliebenenversorgung.
Der Partner hat Anspruch auf entsprechende Versorgungsleistungen.
Ich glaube, dass wir in diesem Land insgesamt gesehen der Angleichung von homosexuellen Beziehungen
an heterosexuelle Beziehungen ein ganzes Stück näher
gekommen sind. Den fehlenden Teil - es geht um Vergünstigungen im Bereich des Erbrechts und des Steuerrechts - werden wir auch noch behandeln müssen. Wenn
wir nämlich diese Punkte nicht behandeln, dann wird an
anderer Stelle darüber entschieden. Nicht nur die deutschen Gerichte, sondern insbesondere die europäischen
Gerichte legen inzwischen sehr großen Wert auf diskriminierungsfreie Regelungen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vollmer?
Ja.
Frau Ministerin, ich komme auf das Stiefkindadoptionsrecht zurück, das Sie jetzt planen. Sie haben selber
gesagt, dass es bisher eine eher geringe Anzahl von Lebenspartnerschaften gibt - ungefähr 5 000 -, die das betrifft, und dass Sie nur mit ganz wenigen Fällen rechnen,
bei denen die Stiefkindadoption infrage kommt. Außerdem muss man sagen, dass in diesen Fällen immer gesichert ist, dass sich der Partner oder die Partnerin in fürsorglicher Weise, zum Beispiel in finanzieller Hinsicht,
für das Kind einsetzen kann. Ich frage daher: Warum ist
es notwendig, dieses Gesetz zu machen?
({0})
Frau Abgeordnete, es ist richtig, was Sie sagen. Aber
es gibt viele Bereiche, für die wir Gesetze machen, von
denen immer nur wenige betroffen sind.
({0})
Ich erinnere an das Gesetz zur Sicherungsverwahrung,
das der Deutsche Bundestag vor kurzem beschlossen
hat.
({1})
Es gibt fünf bis höchstens zehn solcher Fälle im Jahr.
Aktuell gibt es acht Fälle.
({2})
Es gibt noch weitere Gesetze, von denen nur wenige in
der Republik betroffen sind.
Ich weiß nicht, wie Ihr Informationsstand ist. Es gab
ungefähr zehn Eingaben an das Ministerium,
({3})
in denen insbesondere lesbische Frauen davon berichtet
haben, wie diskriminierend sie es empfinden, dass sie im
Rahmen einer Beziehung, die schon länger als zehn
Jahre Bestand hat und in die jetzt ein Kind geboren
wurde, diese Verantwortung nicht übernehmen können.
Ich persönlich halte es für richtig, der Lebenspartnerin das Recht auf Adoption zu geben, sodass sie in besonderer Weise für das Kind einstehen kann. Dies hat
mit der Sorge um das Kind zu tun;
({4})
denn das Kind erlangt dadurch weitere Ansprüche, nicht
nur emotionaler Art, sondern auch vermögensrechtlicher
Art.
({5})
Da meine Redezeit abgelaufen ist, möchte ich mit
meinen Ausführungen schließen.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir befassen uns heute in erster Lesung mit einem Entwurf der Regierungskoalition zum Lebenspartnerschaftsrecht. Bevor ich mich dem Inhalt zuwende,
möchte ich doch einige Sätze zum Verfahren sagen.
Ende Mai wurde angekündigt, dass wir heute über
dieses Thema debattieren. Fünf Wochen später, das heißt
vorgestern, wurde uns der Inhalt des Gesetzes erstmals
bekannt. Das ist ein sehr bemerkenswerter Vorgang. Es
geht hier nicht um die x-te Änderung der Vermarktungsverordnung für Olivenöl, sondern um ein gesellschaftspolitisches Grundthema, das seit Bekanntwerden wieder
viele Menschen in unserem Land beschäftigt. Mit Ihrem
überstürzten Vorgehen - Ihr eigener Fraktionsbeschluss
ist, soweit ich gehört habe, gerade drei Tage alt -, wollen
Sie eine eingehende Befassung und Beratung mit Andersdenkenden offenbar von vornherein ausschließen
und das Gesetz im Alleingang durch den Bundestag jagen. Die Empörung der Union haben Sie dabei ganz gelassen einkalkuliert. Diese Missachtung des Parlaments
wird sich nicht auszahlen.
({0})
Dafür ist das Thema zu wichtig, für uns und für die Bürger in unserem Land.
Kommen wir zum Inhalt Ihres Gesetzentwurfs. Sie
wollen eine weit reichende Angleichung des Rechts der
Lebenspartnerschaft an das Recht der Ehe und damit,
wie Sie sagen, Gerechtigkeitslücken schließen und zwar
durch Übernahme des ehelichen Güterrechts, eine weit
gehende Angleichung des Unterhaltsrechts etc.; die Ministerin hat die Einzelheiten gerade ausgeführt. Das
Herzstück ist die Zulassung der Stiefkindadoption. Darauf komme ich gleich zurück.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom Juli 2002 festgestellt, dass Ehe und Lebenspartnerschaften unverbunden nebeneinander stehen und der Gesetzgeber frei ist, für gleichgeschlechtliche Partnerschaften Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe
gleichzusetzen sind oder nahe kommen. Die Union
respektiert diese mehrheitlich getroffene Entscheidung
unseres höchsten deutschen Gerichts.
Das bedeutet aber nicht, dass jetzt alle bundesrechtlichen Regelungen, die an das Bestehen oder frühere Bestehen einer Ehe anknüpfen, quasi automatisch, wie
selbstverständlich auf eingetragene Lebenspartnerschaften übertragen werden und wir dem pauschal zustimmen. Wir behalten uns bei jeder zur Abstimmung stehenden Regelung eine genaue Prüfung vor. Dabei erwarten
wir von der Bundesregierung eine ausführliche rechtliche und auch finanzielle Bewertung jeder Einzelforderung.
Maßstab für die Union war und ist Art. 6 unserer Verfassung. Ehe und Familie sind die Keimzelle jeder
staatlichen Gemeinschaft und die beste Grundlage dafür,
dass Mann und Frau partnerschaftlich füreinander und
als Mutter und Vater für ihre Kinder Verantwortung
übernehmen.
({1})
Die Familie ist der erste und wichtigste Ort, an dem Kinder Geborgenheit und Liebe erfahren; in ihr werden am
besten die Eigenschaften und Fähigkeiten entwickelt, die
Voraussetzung einer freien und verantwortlichen Gesellschaft sind.
Trotz des tief greifenden gesellschaftlichen Wandels,
den wir am Beginn des 21. Jahrhunderts beobachten
können - man denke etwa an die Entwicklung der Scheidungszahlen oder die Geburtenrate -, sind Ehe und Familie die attraktivsten Lebensformen geblieben.
({2})
Sie haben nichts von ihrer grundsätzlichen Bedeutung
für Staat und Gesellschaft - Solidarität und Stabilität eingebüßt. Deshalb sind der besondere Schutz und die
Förderung, die Art. 6 unserer Verfassung Ehe und Familie gewährt, nach wie vor begründet und dürfen nicht zur
Disposition gestellt werden, und zwar mehr denn je. Dabei geht es nicht darum, Homosexuelle als Personen herabzusetzen. Sie haben die gleiche zu schützende Würde
wie alle anderen. Jeder hat das Recht in unserem Land,
den Lebensentwurf zu leben, den er für sich gewählt hat.
Die Union hat dem Lebenspartnerschaftsgesetz
nicht zugestimmt. Das Gesetz hat den gleichgeschlechtlichen Paaren im Februar 2001 einen gesicherten Rechtsrahmen für das auf Dauer angelegte Zusammenleben gegeben; das wollen Sie jetzt ergänzen bzw. erweitern. Es
ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben, dass der
Hamburger Senat, getragen von CDU und FDP,
({3})
dieser Tage eine Bundesratsinitiative beschlossen hat,
mit der Besserstellungen von Homosexuellen, aber auch
diskriminierende Regelungen beseitigt werden sollen;
Sie können es nachlesen. Auch darüber wird zu reden
sein. In keinem Fall wird von der Union jedoch eine
Stiefkindadoption und - ich verweise auf Äußerungen
der Bundesjustizministerin - langfristig im Adoptionsrecht eine Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften mit der Ehe akzeptiert.
Die Adoption ist ein Institut der Kinderfürsorge. Ein
Recht auf Adoption gibt es nicht. Das hat im Übrigen der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt,
als es in Frankreich darum ging, gleichgeschlechtlichen
Einzelpersonen eine Adoption zu Recht zu verbieten.
Unter welchen Voraussetzungen Personen zur Adoption zugelassen werden, bestimmt allein das Kindeswohl. Es ist von der Natur vorgegeben, dass jedes Kind
eine Mutter und einen Vater hat, die für die Entwicklung
des Kindes ihre spezifische Bedeutung haben. Entsprechend dem natürlichen Kindesverhältnis ist die gemeinsame Adoption durch ein Ehepaar die Regel. Würde der
Gesetzgeber gleichgeschlechtliche Paare zur Adoption
zulassen, würden die bisherigen Grundprinzipien durchbrochen mit der Folge, dass ein Kind entgegen dem natürlichen Kindesverhältnis rechtlich zwei Mütter oder
zwei Väter hätte. Das würde das Kind in eine Ausnahmesituation bringen, die sich in der heutigen Gesellschaft nicht rechtfertigen ließe.
({4})
Wenn uns das Wohl unserer Kinder am Herzen liegt
- davon gehe ich nicht erst seit der Kindschaftsrechtsreform 1998 aus -, dann sollten wir in der Diskussion
nicht vergessen, dass die betroffenen Kinder in der Regel
bereits den Tod eines Elternteils oder die Trennung bzw.
Scheidung der Eltern als kritisches Ereignis erlebt haben. Meist ist der Umstand, dass sich ein Elternteil als
homosexuell outet, ebenfalls eine Belastung für diejenigen Kinder, die alt genug sind, zu begreifen, was dies bedeutet.
Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer hat sich
dieser Tage im Berliner „Tagesspiegel“ geäußert - ich
zitiere -:
Kinderperspektive muss einen Vorrang vor Erwachsenenbedürfnissen und -wünschen haben.
Adoption solle nur in Ausnahmefällen, wenn das Kindeswohl nicht anders gesichert werden könne, geschehen.
({5})
Es ist unbestreitbar, dass Kinder aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften Diskriminierungserfahrungen machen. … Kinder wollen
- und brauchen einen Vater und eine Mutter …
Meine Damen und Herren, diesen Ausführungen kann
ich mich uneingeschränkt anschließen.
({6})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
Wir hoffen, dass in diesem wichtigen Punkt in den
jetzt anstehenden Ausschussberatungen doch noch ein
Konsens gefunden werden kann.
Schauen wir abschließend in die Schweiz: Die
Schweiz hat vor zwei Wochen das Lebenspartnerschaftsgesetz beschlossen und dort ebenso wie Frankreich, Norwegen und Finnland die Adoption von Kindern ausgeschlossen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
meine, diese Debatte sollte man ganz gelassen und sachlich führen.
({0})
Ich habe den Eindruck: Manche der hier vorgetragenen
Argumente haben den Charakter von Rückzugsgefechten. Dabei wissen viele, dass diese an der gesellschaftlichen Realität vorbeigehen.
Als wir in der letzten Wahlperiode unseren Entwurf
eines Gesetzes zur Lebenspartnerschaft vorgelegt haben,
hat uns die CDU/CSU - und damals auch der Redner der
FDP - vorgehalten, all das, was wir hier machten, sei
verfassungswidrig.
({1})
Ich darf an den Leitsatz der Verfassungsgerichtsentscheidung vom 17. Juli 2002 erinnern:
Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG
hindert den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und
Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder
nahe kommen.
Deshalb nehmen wir heute dieses Lebenspartnerschaftsgesetz erneut in die Hand, überarbeiten es in seinem zustimmungsfreien Teil und versuchen, soweit wir das in
diesem Rahmen können, die Gleichstellung dieser Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe voranzutreiben.
Das ist auch konsequent so; denn wir haben den Lebenspartnern bereits alle Pflichten der Ehe aufgegeben, übrigens in dieser Wahlperiode ohne Ihren Widerspruch
auch im Sozialgesetzbuch XII, in dem wir die volle
sozialrechtliche Subsidiarität vorsehen, also die Zahlung
von Sozialleistungen durch den Staat an Lebenspartner
verweigern, wenn ein leistungsfähiger Partner da ist. Das
ist auch völlig richtig so.
Aber dann kann man natürlich, verehrte Frau Kollegin Granold, in anderen Rechtsgebieten nicht so tun, als
ob wir das nicht gemacht hätten. Dann müssen wir das,
was der Unterhaltspflicht der Ehe in anderen Rechtsgebieten als Entsprechung gegenübersteht, also bei der
Steuer, der Hinterbliebenenversorgung und bei Fragen
des Beamtenrechtes, auf diese Lebenspartnerschaften
genauso übertragen. Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt
hat inzwischen gesagt: Beim Bundesangestelltentarif
müssen wir aufgrund der gleichen lebenslangen Verpflichtung den Ortszuschlag für Ehegatten auch an Lebenspartner zahlen. Dann müssen wir natürlich im Steuerrecht und auch in der Hinterbliebenenversorgung
das Gleiche tun. Nur das ist logisch und nur das ist übrigens auch fair. Wenn jemand die gleichen Pflichten übernimmt, muss er die gleichen Rechte erhalten.
({2})
Wir schaffen auch gesellschaftlich - das mag zwar ein
kleiner Schritt sein; ich glaube aber, manchen bedeutet
dies emotional etwas - die Möglichkeit des Verlöbnisses. In Zukunft gelten auch für schwule und lesbische
Lebensgemeinschaften die Möglichkeiten: Verliebt, verlobt, verpartnert! Ich glaube, das ist ein schönes Signal.
Aber es ist natürlich nicht der große Durchbruch im Hinblick auf die Gleichstellung.
({3})
Worum der Streit hier im Hause im Kern geht, ist die
Frage der Stiefkindadoption. Dazu muss ich sagen: Mit
den Argumenten derjenigen, die hier Kritik üben,
stimme ich sogar weitgehend überein.
Selbstverständlich muss im Adoptionsrecht und bei
jeder einzelnen Entscheidung über eine Adoption das
Kindeswohl und nichts anderes im Zentrum der Entscheidung stehen.
({4})
Aber worin besteht das Wohl des Kindes? Besteht es darin, dass ein Kind in einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft lebt, aber keine familienrechtliche Beziehung zum zweiten Lebenspartner, zum zweiten
sozialen Elternteil, haben kann? Wie soll man diesem
Kind, das bei Mama und Mami oder bei Papa und Papi
aufwächst, erklären, dass es zwar in dieser Lebensgemeinschaft wie in einer Familie lebt, aber dass der
zweite Partner mit ihm rechtlich eigentlich nichts zu tun
hat, dass er keinen Unterhalt zahlen muss, dass es ihm
gegenüber den Unterhalt nicht geltend machen kann und
dass es auch keine Erbansprüche gegenüber dem zweiten
Elternteil hat? Damit ist für das Kind nichts gewonnen,
sondern eine ganze Menge verloren. Deshalb schaffen
wir das hier für eine Gruppe ab.
Die FDP geht weiter und ich stimme Ihnen bei dieser
Forderung zu. Die Diskussion im Hause zeigt aber: Wir
müssen, um das durchzusetzen, in der Bevölkerung und
wahrscheinlich auch hier im Hause noch einige Überzeugungsarbeit leisten. Die Gesellschaft ist noch nicht so
Volker Beck ({5})
weit. Ich denke, wir werden das Schritt für Schritt machen. Vielleicht erzielen wir ja sogar noch in den Ausschussberatungen einen Fortschritt, wenn wir uns gemeinsam anstrengen. Eventuell benötigen wir dazu aber
auch noch ein bisschen mehr Zeit für die Debatte.
Wir sollten aber nicht so tun, als nähmen Kinder generell Schaden, wenn sie bei gleichgeschlechtlichen Paaren oder bei Alleinerziehenden aufwachsen,
({6})
denn mit dieser gesellschaftlichen Debatte schaden wir
den Kindern, die ohnehin schon in solchen Partnerschaften leben.
({7})
Nehmen Sie bitte Folgendes zur Kenntnis, geschätzte
Kolleginnen und Kollegen von der Union: Wir wissen,
dass gegenwärtig über 10 000 Kinder unter 18 Jahren in
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften leben.
Das ist das Ergebnis des Mikrozensus aus dem Jahre
2003. In jeder sechsten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft leben Kinder.
({8})
- Vielleicht gehen die Partner die nicht ein, weil es ihnen
in der jetzigen Situation gegenüber den Kindern nichts
bringt, weil bislang noch nicht einmal ein gemeinsamer
Familienname mit den Kindern möglich ist. Dieses Problem beseitigen wir hier übrigens auch.
Wenn Sie einmal vergleichen, werden Sie feststellen:
In jeder sechsten Lebensgemeinschaft von Gleichgeschlechtlichen leben Kinder, jede vierte nicht eheliche
heterosexuelle Lebensgemeinschaft hat Kinder und jedes
dritte eheliche Paar lebt aktuell mit Kindern zusammen.
So groß sind die Differenzen also nicht,
({9})
als dass man sagen könnte: Dieser Lebenssachverhalt interessiert uns überhaupt nicht, da schauen wir gar nicht
mehr hin.
Meine Damen und Herren, wir sollten in den Ausschussberatungen sowohl die soziale Entwicklung als
auch die wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem
Thema berücksichtigen.
Herr Kollege Beck, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich glaube, angesichts der Realität kann man nur zu
dem einen Ergebnis kommen, dass man um der Kinder
willen dieses Recht nicht länger verweigert.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe nur drei Minuten Redezeit und muss mich deshalb auf einige wenige Anmerkungen beschränken.
Der Gesetzentwurf, der von Rot-Grün nach knapp der
Hälfte der Legislaturperiode und damit viel zu spät vorgelegt wird,
({0})
ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber er geht viel
zu kurz. Ich denke, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Klarheit gebracht hat. Auch die Rednerin
der CDU/CSU hat deutlich gemacht, dass das in ihrer
Fraktion so verstanden worden ist. Alle Anstrengungen,
die innerhalb der CDU/CSU ergriffen wurden, um die
Bevölkerung dagegen zu mobilisieren, sind im Sande
verlaufen. Sie haben es beschlossen, ohne dass jemals
Aktionen gefolgt sind.
Sie haben damit auch die gesellschaftliche Wirklichkeit erlebt. Volker Beck hat gerade als Beispiel die Zahl
der Kinder genannt, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben. Wir alle wissen aus unserer unmittelbaren Umgebung, dass solche Partnerschaften funktionieren oder nicht so funktionieren. Das ist genau wie bei
allen anderen Partnerschaften, wie in der Ehe und bei
sonstigen gesellschaftlichen Verbindungen auch.
Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir einen vernünftigen Anlauf unternehmen, um zu einer besseren
Gleichberechtigung unserer gleichgeschlechtlich empfindenden Mitmenschen zu kommen. Insbesondere bezüglich des Adoptionsrechts besteht Diskussionsbedarf.
Das Thema wird leider nicht rational diskutiert. Es gibt
eine Menge Sorgen, die man ernst nehmen muss.
({1})
Ich denke aber, wir müssen uns hier an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientieren. Es gibt beispielsweise das Adoptionsrecht für einzelne gleichgeschlechtlich empfindende Personen. Mir ist kein einziger Fall
bekannt, bei dem es Probleme gegeben hätte. Ich bin mir
aber ganz sicher, dass diejenigen, die das kritisch sehen,
dafür gesorgt hätten, dass auch wir hier in Berlin von
solch problematischen Fällen erfahren hätten.
({2})
Es wundert mich, dass die Bundesjustizministerin immer mit Europa argumentiert, denn inzwischen ist in vielen europäischen Nachbarländern die Kindesadoption
durch homosexuelle Paare möglich. Auch von dort sind
mir keine negativen Erfahrungen bekannt geworden.
Auch das gehört zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.
({3})
Deshalb muss ich Ihnen, Frau Vollmer, sagen: Ihre
Zwischenfrage, aber auch Ihr Interview, haben uns bezüglich dieser gesellschaftlichen Akzeptanz leider ein
ganzes Stück zurückgeworfen.
({4})
Ihre Äußerungen haben nach meiner Auffassung nicht
zu einer sachlichen Betrachtung beigetragen, sondern
Emotionen geschürt. Das sollten wir im Interesse der
Kinder nicht tun.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Granold?
Ja, gerne.
Herr Kollege van Essen, ich habe eine Zwischenfrage
die an die Zwischenfrage der Kollegin Vollmer anknüpft. Sie haben die Anzahl der Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben, beziffert. Meine
Frage lautet: Haben Sie auch ermittelt, wie viele minderjährige Kinder davon unter gemeinsamer elterlicher
Sorge leben? Sie wissen, dass die meisten Trennungsund Scheidungskinder unter gemeinsamer elterlicher
Sorge leben.
Wie sollen die Kinder diesen Konflikt zwischen einem mit sorgeberechtigten Vater und einer möglicherweise adoptierenden zweiten Person ertragen, wenn ein
Adoptionsrecht zugestanden wird und das Kind so im
Scheidungsverfahren zur Verhandlungsmasse wird?
Meine Frage: Wie viele Kinder sind von einer solchen
möglichen Adoption betroffen? Ist der Prozentsatz nicht
so gering, dass man dieses doch heikle Thema, das in der
Bevölkerung keine Akzeptanz findet, zunächst zurückstellen sollte?
Sie haben zunächst einmal nach der Zahl gefragt,
Frau Kollegin Granold. Eine solche Zahl ist mir nicht
bekannt. Ich denke aber, dass wir diese Zahl sicherlich
ermitteln können.
Die Konfliktsituation aber, das war der zweite Teil Ihrer Frage, besteht bei allen anderen Adoptionen auch.
({0})
Die Konfliktsituation, die Sie hier aufgezeigt haben, dass
es nämlich leibliche Eltern und neue Adoptiveltern gibt,
haben wir immer. Das ist eine der Aufgaben, die gelöst
werden müssen. Die Entscheidung aber, ob ein Kind zur
Adoption freigegeben wird, ist immer im Interesse des
Kindes zu treffen. Ich glaube, dass die bisherige Debatte
gezeigt hat - auch der Kollege Beck hat vorhin darauf
hingewiesen -, dass Adoption immer im Interesse des
Kindes erfolgen muss.
({1})
Das Kindeswohl hat absoluten Vorrang vor allen anderen
Fragen, auch den Fragen, die Sie, Frau Vollmer, angesprochen haben, so beispielsweise dem Interesse von Erwachsenen.
Es kann aber sehr wohl dem Kindeswohl entsprechen
- um Ihre Frage zu beantworten -, nicht in einem Heim
aufzuwachsen, sondern wirkliche Eltern zu haben, die
sich um das Kind kümmern, die das Kind lieben und dafür sorgen, dass das Kind eine gute Entwicklung nimmt.
Das aber hängt nicht davon ab, welches Geschlecht die
jeweiligen Personen haben, die sich um dieses Kind
kümmern. Vielmehr geht es um die Zuwendung, die jeweils gegeben wird. Darauf kommt es uns an.
({2})
Deshalb haben wir als FDP einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, der das volle Adoptionsrecht vorsieht,
wie es das inzwischen bei vielen unserer europäischen
Nachbarländer gibt. Wir brauchen einen weiteren Schritt
auf dem Wege zur Gleichberechtigung. Wir brauchen
diesen deshalb ganz dringend, weil die Partnerschaften
aufgrund der jetzigen gesetzlichen Lage eine Menge
Pflichten haben, ihnen aber eine große Zahl von Rechten
fehlt. Das, was die Bundesregierung vorlegt, ist nur ein
kleiner Schritt. Wir brauchen mehr und die FDP hat dazu
Vorschläge gemacht.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gute Politik sollte den Menschen die Möglichkeit verschaffen, so zu leben, wie sie gerne leben möchten. Gute
Politik muss immer wieder die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass die Menschen ihre eigenen Pläne verfolgen können. Wir wissen, dass Hunderttausende schwule
bzw. lesbische Paare in unserem Land leben, und sind
deshalb als Gesetzgeber dazu aufgerufen, den rechtlichen Rahmen für das Zusammenleben dieser Menschen
zur Verfügung zu stellen. Sie sollen in unserem Land gut
leben können. Das haben wir mit dem Lebenspartnerschaftsrecht der letzten Legislaturperiode getan und das
tun wir mit der jetzigen Überarbeitung.
Zusammenleben bedeutet auch, füreinander einzustehen. Füreinander einstehen ist etwas, was zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft - im Kleinen wie im Großen - beiträgt. Deshalb ist es richtig, dass wir rechtliche
Regelungen für diesen Vorgang des Füreinandereinstehens haben.
Das Bundesverfassungsgericht hat bei der Bewertung
der ersten rechtlichen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, gesagt, wir hätten den Abstand zwischen Ehe- und
Lebenspartnerschaftsrecht nicht so groß und so künstlich
machen müssen, wie wir ihn gemacht haben. Daraus ziehen wir jetzt die richtige, notwendige Konsequenz, nämlich dass wir den rechtlichen Abstand zwischen den
rechtlichen Regeln der Ehe und dem Lebenspartnerschaftsrecht wieder verringern. Ich glaube, das ist eine
richtige Entscheidung.
Im Übrigen wissen wir, dass die eherechtlichen Regelungen, die wir auch in diesem Bereich mehr oder weniger wirksam werden lassen wollen, eine gute Tradition
haben und deshalb auch denjenigen Menschen helfen,
die als Schwule bzw. Lesben zusammenleben wollen.
({0})
Sie haben ja Recht: Das Bundesverfassungsgericht
sagt - wie Sie und auch die Verfassung -: Ehe und Familie sind geschützt. Aber ich finde, das Bundesverfassungsgericht - das sollte meinungsbildend sein, auch in
diesem Hause - hat auch gesagt: Der Schutz von Ehe
und Familie schreibt nicht vor, dass wir das Zusammenleben von Menschen gleichen Geschlechts nicht auch
rechtlich regeln dürfen, und es schreibt auch nicht vor,
dass wir es nicht genauso regeln dürfen wie die Ehe.
({1})
Das ist eine der Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht getroffen hat. Es ist deshalb nur noch
Ideologie, wenn Sie dieses Institut unserer Verfassung
gewissermaßen in einer vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht gedeckten Weise zitieren, um Ihre
Ablehnung dieses Gesetzentwurfs zu begründen.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht unterstützt die Auffassung, die hinter unserem Gesetzgebungsverfahren steht,
({3})
und deshalb, glaube ich, ist es richtig und sinnvoll, dass
Sie Ihre Meinung in dieser Frage ein bisschen weiterentwickeln.
Was für Sie eine große Rolle spielt, ist die Frage der
verbesserten Adoptionsmöglichkeiten, die wir jetzt im
Gesetz vorsehen wollen. Ich glaube, dass wir klug sind denn ein Gesetzgeber sollte nicht nur gut und gerecht,
sondern auch klug sein -, wenn wir hier schrittweise
vorgehen und jetzt den nächsten Schritt von den bisherigen Regeln aus machen. Wir wollen dort, wo in einer
Lebenspartnerschaft leibliche Kinder vorhanden sind,
eine zusätzliche Adoptionsmöglichkeit einräumen. Ich
bin fest davon überzeugt, dass das mit den Überzeugungen und Vorstellungen der meisten Menschen in unserem Lande übereinstimmt. Ich bin fest davon überzeugt,
dass fast jeder und jede einsieht, dass es gut ist, wenn die
Kinder, die in dieser Familie, in dieser Lebenspartnerschaft, schon sind, auch rechtlich enger an beide Lebenspartner gebunden sein können. Deshalb irren Sie, wenn
Sie meinen, dass die Menschen mit dem Gesetz, das wir
hier vorschlagen, nicht einverstanden sein werden. Ich
bin überzeugt, dass es auf einen großen Konsens stößt,
und es wird deshalb dazu beitragen, dass Sie, ähnlich
wie an anderer Stelle, wieder sagen werden: Wir akzeptieren das nun. - Aber Sie werden sich den nächsten
Schritten wahrscheinlich wieder verweigern.
Aber es ist richtig - gerade wenn man hört, wie Sie
darauf reagieren -, dass wir solche Regelungen treffen.
Sie sind im Interesse der Menschen. Ich glaube, es handelt sich um gute Politik, und es wäre gut, wenn Sie sich
da vorwärts bewegen würden.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute über den Gesetzentwurf, zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsgesetzes den Sie vorgelegt haben. Dieses Gesetz datiert aus
dem Jahre 2001. Auch ich möchte ganz kurz etwas zum
Verfahren sagen: Die Vorlage hat uns Mittwoch früh erreicht. Wir wussten: Es kommt etwas. Wir wussten, dass
wir heute darüber debattieren. Es war äußerst knapp. Ich
denke, das wird man gerade vor dem Hintergrund sagen
dürfen, dass es nicht nur Ihr, sondern auch unser Bestreben ist - ob Sie es glauben oder nicht -, über dieses
Thema seriös und sachlich zu diskutieren. Deshalb halte
ich dieses Vorhaben für nicht besonders günstig; es ist
kein guter Arbeitsstil. Ich bin ebenso der Meinung, dass
dieses parlamentarische Hauruck-Verfahren, zumindest
vor der ersten Lesung, der Behandlung des Themas nicht
gerecht wird und ihr keinen Vorschub leistet.
({0})
- Ach, Herr Beck, hören Sie zu!
Wir zumindest wollen hier keine Klientelpolitik betreiben und ich hoffe, Sie können mir da zustimmen. Wir
wollen dieses gesellschaftspolitisch hoch relevante
Thema angemessen und ohne falsche Ideologie von der
einen oder anderen Seite behandeln. Ich teile nicht die
Einschätzung des Kollegen Scholz, dass über dieses
Thema ein breiter gesellschaftlicher Konsens herrscht.
Ich weiß nicht, wo Sie unterwegs sind; da, wo ich unterwegs bin, gibt es diesen Konsens nicht.
({1})
Damit habe ich auch kein Problem. Mein Problem besteht darin, dass Sie in Ihrer Meinungsbildung nur die
Schwulen- und Lesbenverbände einbeziehen, aber den
Rest der Gesellschaft, der vielleicht mit Ihren Entwicklungsschritten nicht mitkommt und nicht einverstanden
ist, völlig außen vor lassen. Das halte ich für die falsche
Vorgehensweise.
Ziel und Inhalt Ihres Entwurfs ist es ganz offensichtlich, die materiell-rechtliche vollständige Gleichstellung
von Ehe und homosexueller Lebenspartnerschaft zu
erreichen. Sie begründen das - auch das ist in dieser Debatte bereits genannt worden - mit den angeblich künstlichen Unterschieden zwischen beiden Lebensformen.
Dem kann ich so beim besten Willen definitiv nicht folgen und das liegt sicher nicht nur daran, dass ich aus
Bayern komme.
({2})
So sehr es sein muss, sich gesetzgebungstechnisch an
gesellschaftliche Realitäten anzupassen, so sehr muss
man aber auch darauf achten, nicht grundgesetzlich normierte Grenzen zu überschreiten.
({3})
Art. 6 des Grundgesetzes stellt die Ehe unter den besonderen Schutz - nicht unter irgendeinen Schutz - unserer
staatlichen Ordnung. Er gewährleistet als Institutsgarantie den privatrechtlichen Bestand von Ehe und Familie,
weil es in der Ehe auch potenziell angelegt ist, Kinder zu
bekommen. So ist es halt.
({4})
Keine andere Rechts- oder Personengemeinschaft wird
in gleicher Weise von unserer Verfassung geschützt.
Natürlich nimmt das Institut Ehe durch die eingetragene Lebenspartnerschaft keinen Schaden; das ist richtig. Das hat auch niemand von uns behauptet.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
({0})
Mit Ihrem Gesetzentwurf hebeln Sie jedoch die
grundgesetzlich vorgesehene Privilegierung der Ehe
komplett aus. Wir sprechen uns klar gegen die Einbeziehung von Lebenspartnerschaften in das Rentensplitting
sowie in die Hinterbliebenenversorgung der gesetzlichen
Renten- und Unfallversicherung, der Alterssicherung der
Landwirte und des sozialen Entschädigungsrechts aus.
({1})
Ganz vehement wehren wir uns gegen die Einführung
der Stiefkindadoption. Damit würde ein Weg eingeschlagen, den wir für völlig falsch halten. Ich kann mich
auch nicht erinnern, dass im Bundesverfassungsgerichtsurteil die Stiefkindadoption ausdrücklich erwähnt und
befürwortet wurde. Da muss ich Herrn Scholz leider klar
widersprechen; davon spricht das Bundesverfassungsgericht sicher nicht.
({2})
Geht es nach Ihnen, soll künftig ein homosexueller
Lebenspartner das Kind des anderen Lebenspartners aus
einer früheren Beziehung adoptieren können, wenn der
leibliche Vater oder die leibliche Mutter zustimmt. Von
interessierten Verbänden wird der Eindruck vermittelt,
Tausende Kinder lebten in Rechtsunsicherheit in lesbischen und schwulen Elternhäusern. Das erscheint mir
eher unwahrscheinlich. Ich glaube eher, dass hier versucht wird, das allgemeine Adoptionsrecht für eingetragene homosexuelle Lebenspartnerschaften zu erreichen.
Das wird mit uns nicht zu machen sein.
Wir dürfen nicht - die Kollegin Granold hat es bereits
angesprochen - Erwachsenenbedürfnisse über die Bedürfnisse des Kindes stellen.
({3})
Dass Kinder aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften
Diskriminierungserlebnisse haben, will hier wohl wirklich keiner bestreiten. Auch wenn ich in diesem Bereich
noch Trockenschwimmerin bin, kann ich mir vorstellen,
welche Situationen in Kindergärten und Schulen eintreten, wenn plötzlich zwei Mütter oder Väter auftauchen.
Denken Sie auch an die Reaktionen der Umwelt und der
anderen Kinder, die mitunter gnadenlos sein können.
({4})
- Regen Sie sich doch nicht so künstlich auf, sondern hören Sie einfach zu! - Das sollte der Gesetzgeber meines
Erachtens nicht noch forcieren. Ich verweise in diesem
Zusammenhang noch einmal auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Darin ist davon nicht die Rede.
({5})
- Das ist unsachlich, das tut mir Leid!
Natürlich wachsen viele Kinder heute bei nur einem
Elternteil auf; das ist völlig richtig. Allerdings ist es auch
in geschiedenen Familien meistens der Fall, dass der Elternteil, der nicht im Hause wohnt, trotzdem in der
Pflicht ist und die Rolle wie vom Kind gewünscht übernimmt. So soll es ja auch sein.
Überdies gibt es im geltenden Recht bereits das so genannte kleine Sorgerecht für eingetragene Lebenspartnerschaften. Das heißt, wenn ein Lebenspartner die alleinige Sorge für ein Kind hat, kann dem anderen
Lebenspartner eine Mitentscheidungsbefugnis für Dinge
des täglichen Lebens eingeräumt werden. Das ist unserer
Auffassung nach völlig ausreichend. Das heißt: Der Gesetzgeber ist hier nicht gefragt und das ist auch gut so.
Bei aller Gegnerschaft bezüglich der verschiedenen
Punkte, die ich gerade aufgeführt habe und die Sie einfach nicht gerne hören, will ich allerdings nicht verhehlen, dass auch wir in einzelnen Regelungsbereichen Verbesserungsbedarf sehen und dass man das mit uns
durchaus angehen kann, wenn man dies vernünftig und
nicht unsachlich, indem man hier zum Beispiel ständig
dazwischenruft, tut.
({6})
Man kann dies allerdings nicht im Schnellgalopp machen wie jetzt und auch nicht in dem Ausmaß, wie Sie
das vorgelegt haben.
Trotzdem danke.
({7})
Letzter Redner ist der Kollege Johannes Kahrs, SPDFraktion.
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute geht es um Gleichberechtigung
und Gleichbehandlung. Wir haben die werten Kollegen
der Union gehört. Das, was wir heute hier gehört haben,
ist der Grund, warum wir das Lebenspartnerschaftsgesetz in einen ersten und einen zweiten Teil gesplittet haben. Über den ersten Teil reden wir heute, der zweite
Teil ist im Bundesrat an Ihnen gescheitert.
Was ich gehört habe, zeigt, dass es richtig ist, in dem
ersten Teil zum Beispiel auch die Hinterbliebenenversorgung zu regeln und das nicht mit Ihnen zu tun. Heute
wird geregelt, dass schwule und lesbische Partner nach
dem Tod des Lebensgefährten künftig den vollen Rentenanspruch haben. Sie haben gesagt, dass Sie das nicht
wollen und verhindern möchten. Ich glaube, das ist ein
Fehler. Wenn wir hier von Gleichberechtigung reden und
darüber, dass man Pflichten übernimmt, dann muss es
selbstverständlich sein, dass auch die Rechte gleich sind.
Alles andere wäre unanständig.
({0})
Der Hamburger Senat hat eine Initiative beschlossen
und gesagt, dass diskriminierende Regelungen beseitigt
werden sollen. Ferner hat er gesagt, dass wichtige Bereiche der Lebenspartnerschaft noch nicht geregelt sind,
was natürlich eine Verhohnepipelung ist, weil die Union,
die diesen Senat stellt, dies im Bundesrat verhindert hat,
indem sie den zweiten Teil des Lebenspartnerschaftsgesetzes gestoppt hat. Das alles grenzt an Heuchelei.
Gleichzeitig wird gesagt, dass Lebenspartner hinsichtlich der Inanspruchnahme von Freibeträgen und der
Steuerprogression schlechter behandelt werden als Eheleute. Das soll geändert werden, aber nur dann, wenn die
Ehe mindestens fünf Jahre bestanden hat, so der CDUgeführte Hamburger Senat. Das heißt ja, man will Lebenspartnerschaften, die nur zum Schein, zum Beispiel
also aus steuerlichen Gründen, geschlossen werden, verhindern. Wie will man das denn bei einer „normalen“
Ehe verhindern? Woher weiß man, aus welchen Gründen
eine Ehe geschlossen wird? Das ist pure Heuchelei.
({1})
Deswegen werden wir dies nicht mitmachen und für den
gleichen Rentenanspruch von Schwulen und Lesben
kämpfen. Wir werden auch das Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz, also den zweiten Teil, wieder in den
Bundestag einbringen. Im Bundesrat werden wir dann
sehen, ob Sie etwas dazugelernt haben oder nicht.
An dieser Stelle möchte ich mich - das ist mir ein
ganz persönliches Anliegen - noch einmal ganz herzlich
bei der ehemaligen Kollegin Margot von Renesse bedanken. Sie hat diesen Punkt nämlich vorangetrieben.
({2})
Inhaltlich, fachlich und mit ihrer Überzeugungskraft
hat sie uns alle dahin gebracht, wo wir heute sind. Als
Sozialdemokrat bin ich stolz darauf, dass sie das getan
hat. Genauso stolz bin ich darauf, dass wir heute einen
Schritt weitergehen.
Vielen Dank.
({3})
Bevor ich die Aussprache schließe, gratuliere ich dem
Kollegen Norbert Röttgen noch recht herzlich zu seinem
heutigen Geburtstag.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/3445 zur federführenden Beratung an
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, den
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und
an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Helga Daub, Daniel Bahr ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sommerferienregelung verbraucherfreundlicher gestalten - Gesamtferienzeitraum auf
90 Tage ausdehnen
- Drucksache 15/3102 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({2})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Zeitpunkt für die Debatte über diesen FDP-Antrag
ist gut. Am letzten regulären Sitzungstag vor den Sommerferien sind vielleicht die Offenheit und Bereitschaft,
dieses Thema zu diskutieren, größer als zu anderen Zeiten.
Es geht um ein familien- und wirtschaftspolitisches
Thema: familienpolitisch, weil es die Familien in
Deutschland sehr stark interessiert, unter welchen
Bedingungen sie Sommerurlaub machen können; wirtschaftspolitisch, weil es um eine der wichtigsten Wirtschaftsbranchen in Deutschland geht. Die Tourismuswirtschaft trägt 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt in
Deutschland bei. Circa 2,8 Millionen Arbeitsplätze hängen am Tourismus. Diese Arbeitsplätze haben eine Besonderheit: Sie sind zum allergrößten Teil standortgebunden. Sie können den Bodensee, den Schwarzwald
oder Büsum nicht einfach nach Tschechien oder China
verlagern.
({0})
Die Landschaften sind hier und deshalb sind auch die
Arbeitsplätze hier.
Dies ist eben ein ganz besonders wichtiges Thema.
Wenn uns Experten erklären, dass in den nächsten Jahren
400 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen könnten,
dann wissen wir, worüber wir eigentlich reden. Diese
Arbeitsplätze können nur dann hier gehalten und ihre
Zahl kann noch gesteigert werden, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Der Antrag der FDP ist nur ein
Baustein. Man könnte vieles Weitere tun.
Es bedrückt die Tourismuswirtschaft, dass ihr von
dieser Bundesregierung immer neue Dinge auferlegt
wurden oder zumindest nicht die Bereitschaft bestand,
gewisse Dinge abzubauen.
({1})
Die Mehrheit dieses Hauses hat leider unseren Antrag
abgelehnt, das Jugendarbeitsschutzgesetz zu ändern. Damit wollten wir jungen Leuten die Chance auf eine Lehrstelle geben.
({2})
Die Mehrheit in diesem Hause hat unsere Initiativen abgelehnt, die Sperrzeiten zu ändern. Sie müssen es verantworten, dass die Menschen bei schönem Wetter um
22 Uhr nach Hause oder ins Innere gehen müssen und
die Außengastronomie nicht weiter in Anspruch nehmen
dürfen. Sie hätten unseren Anträgen ja zustimmen können.
({3})
Bis heute ist es nicht gelungen, für diesen Bereich
einen reduzierten Mehrwertsteuersatz festzuschreiben.
Im Gegenteil: Der Bundeskanzler hilft Frankreich, für
die dortigen Restaurants den reduzierten Mehrwertsteuersatz einzuführen, verweigert dies aber zugleich unseren Restaurants. So kann eine richtige Politik nicht
aussehen.
({4})
Wir reden heute über die Neufassung der Ferienregelungen. Bisher haben wir einen Zeitraum von 75 Tagen
Gesamtferienzeit. Das heißt, von dem Tag, an dem in
dem ersten Bundesland die Sommerferien beginnen, bis
zu dem Tag, an dem in dem letzten Bundesland die Sommerferien beendet sind, sind es 75 Tage. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat - auf die Initiative des Tourismusausschusses des Deutschen Bundestages und vieler
Verbände - im Frühjahr 2003 gefordert, diesen Zeitraum
auf 90 Tage auszudehnen. Wir haben - das sei hier positiv angemerkt - durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz zwar eine Ausdehnung auf im Schnitt etwa
84 bis 85 Tage erreicht. Aber wir wollen diese 90 Tage
ausschöpfen. Deshalb haben wir heute diesen Antrag
eingebracht.
Man muss einfach wissen, was das bedeutet. Die Verbände haben uns erklärt, dass ein fehlender Ferientag ein
rechnerisches Minus von 1 Million Übernachtungen bedeutet. Wenn man für eine Übernachtung - das ist eine
realistische Zahl - im Schnitt 70 Euro ansetzt, dann heißt
das: Ein fehlender Ferientag bedeutet ein Minus von
70 Millionen Euro. Insgesamt - so die Tourismuswirtschaft - gehen der deutschen Tourismusbranche durch
die jetzige Ferienregelung jährlich circa 1 Milliarde Euro Umsatz verloren. Das kann es nicht sein. Deshalb brauchen wir hier eine Neuregelung.
Es gibt noch einen anderen Aspekt. Für die Familien
- nur sie berührt es; denn von den Sommerferien sind
die betroffen, die Kinder haben - bedeuten diese Regelungen verstopfte Straßen und mehr Schwierigkeiten, ein
entsprechendes Quartier zu finden. Das heißt ferner, dass
diese Quartiere stärker ausgebucht sind und damit die
Preise steigen.
Wenn wir unser Anliegen umsetzen können, dann bedeutet das einen Vorteil für alle Familien. Deshalb sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen.
({5})
Frau Präsidentin, ich weiß, dass Sie dieses Anliegen unterstützen. Lassen Sie mich deshalb bitte noch einen
Schlusssatz sagen. - Wir, die FDP-Fraktion, haben eine
Initiative eingebracht, von der wir wissen, dass sie eigentlich von allen Seiten begrüßt wird. Deshalb möchte
ich Ihnen gerne anbieten: Machen wir aus diesem Antrag
einen interfraktionellen Antrag und beschließen wir ihn
gemeinsam! So erhöhen wir den Druck auf die Kultusministerkonferenz, damit wir möglichst schnell die längere Ferienzeit bekommen, zum Wohl der Familien und
zum Wohl der Tourismuswirtschaft.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Bettina Hagedorn, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich will an das anknüpfen, was Sie,
Herr Burgbacher, gerade eben gesagt haben. Es ist vollkommen richtig, dass wir in der Problemanalyse bezüglich der Sommerferienregelung einig sind: Die Kultusministerkonferenz hat 1999 unglückseligerweise eine
Regelung beschlossen - sie gilt fort bis zum Jahr 2004 -,
die zu durchschnittlich 76,3 Tagen Sommerferien führt.
Das war für die Tourismuswirtschaft und für die Familien insbesondere mit schulpflichtigen Kindern ein unseliger Beschluss. Darum haben wir in der Vergangenheit
gemeinsame Initiativen ergriffen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat beispielsweise dafür gesorgt, dass im letzten
Januar auf der ITB eine große Diskussionsrunde mit den
Vertretern der Tourismuswirtschaft zu diesem Punkt
stattgefunden hat. Im Ziel also waren wir uns immer einig.
Herr Burgbacher, der Punkt ist allerdings folgender:
Ein gemeinsamer Wille und eine gemeinsame Problemanalyse bedeuten nicht zwangsweise, dass man auch die
Mittel findet, um das Problem tatsächlich zu lösen. Ihr
Appell an die Kultusministerkonferenz, den Ferienzeitraum weiter zu entzerren, hört sich zunächst einmal ausgesprochen sympathisch an. Man muss aber ein bisschen
genauer hinschauen, welche Initiativen von wem in der
Vergangenheit gestartet worden sind, von wem sie gestoppt worden sind und was dazu geführt hat, dass wir
noch nicht weiter sind.
Der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz
vom Juni letzten Jahres hat nun dazu geführt, dass sich
ab 2005 der durchschnittliche Gesamtferienzeitraum auf
immerhin 81,8 Tage im Jahr - 5,5 Tage mehr als bisher erhöht. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, insofern sind wir, da gebe ich Ihnen Recht, ein Stück weit
zufrieden. Die Neuregelung wird der Tourismuswirtschaft ein zusätzliches Plus von etwa 385 Millionen
Euro jährlich bringen.
Eines haben Sie aber leider ein bisschen falsch dargestellt. Sie haben gesagt, es sei der Antrag einer Bundestagsfraktion gewesen, der die Ministerpräsidenten zu ihrem Beschluss bewogen habe. In der Tat hat es einen
Antrag der CDU/CSU - die sich gern mit dieser Feder
schmücken würde - im letzten Jahr dazu gegeben. Trotzdem muss ich Ihnen als Schleswig-Holsteinerin widersprechen. Es war nämlich die schleswig-holsteinische
Ministerpräsidentin, Heide Simonis,
({0})
die schon auf der Ministerpräsidentenkonferenz am
27. März letzten Jahres mit einem Antrag die Initiative
in dieser Sache ergriffen hat. Dieser Antrag war identisch mit dem, was die CDU/CSU-Fraktion und die
FPD-Fraktion verschiedentlich hier im Bundestag vorgetragen haben. Im Kern ging es um die Ausdehnung auf
einen Gesamtferienzeitraum von möglichst 90 Tagen
und die Rückkehr zum rollierenden System.
({1})
Sie hat im Übrigen noch etwas geschafft, was durchaus positiv ist. Es ist von uns kritisiert worden, dass die
Kultusminister offensichtlich den Wert der Tourismuswirtschaft in Deutschland ein bisschen zu wenig im
Blick gehabt haben. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, wie viele Arbeitsplätze in Deutschland von
der Tourismuswirtschaft abhängen und wie viel diese
zum Bruttosozialprodukt beiträgt. Ich lege auch Wert auf
die Feststellung, dass in diesem Sektor 100 000 Ausbildungsplätze vorhanden sind. Wer verstärkt die Belange
der Tourismuswirtschaft berücksichtigt wissen will, der
muss dafür sorgen, dass die Wirtschaftsministerkonferenz in Zukunft bei den Kultusministern Gehör finden
muss. Das ist auf Antrag Schleswig-Holsteins geschehen. Es folgte dieser Beschluss und - ich will Ihnen das
in Erinnerung rufen; das habe ich zwar schon einmal getan, aber vielleicht haben Sie es wieder vergessen - dann
wurde ein Konzept erstellt. Das Konzept, das unter der
Federführung des Wirtschaftsministers von SchleswigHolstein, Bernd Rohwer, entwickelt worden ist, wurde
auf der Wirtschaftsministerkonferenz am 14. und
15. Mai 2003 einstimmig beschlossen. Wenn dieses
Konzept umgesetzt worden wäre, hätte sich der Gesamtferienzeitraum auf durchschnittlich immerhin 87,8 Tage
erstreckt. Ich wünsche mir bis heute, dass wir gemeinsam die Umsetzung des Konzepts erreichen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Zahl nennen. Wenn man das Konzept im vergangenen Sommer
umgesetzt hätte, dann hätte das gegenüber der von den
Ministerpräsidenten beschlossenen Regelung für die
Tourismuswirtschaft ein weiteres Plus von 420 Millionen Euro im Jahr - also mehr als 800 Millionen Euro pro
Jahr gegenüber der Regelung von 1999 - bedeutet.
Hochgerechnet auf die Jahre 2005 bis 2010 hätte es für
die Tourismuswirtschaft 2,5 Milliarden Euro zusätzlich
gebracht, wenn der Beschluss der Wirtschaftsministerkonferenz umgesetzt worden wäre.
({2})
In diesem Zusammenhang muss aber daran erinnert
werden, dass sich auf der Ministerpräsidentenkonferenz,
die am 23. Juni vergangenen Jahres getagt hat, leider nur
die SPD-regierten Bundesländer Schleswig-Holstein und
Mecklenburg-Vorpommern vorbehaltlos hinter die Forderung der Wirtschaftsministerkonferenz gestellt haben.
Alle anderen Ministerpräsidenten in Deutschland sind
dem Kompromiss der Kultusministerkonferenz gefolgt.
Das allein ist der Grund dafür, dass sich die Sommerferien jetzt nicht über einen Zeitraum von insgesamt
87,8, sondern nur 81,8 Tagen erstrecken.
({3})
Ich habe Sie und auch Herrn Hinsken, der heute leider
nicht anwesend ist, schon im vergangenen Sommer darauf hingewiesen, dass wir für die gleiche Sache kämpfen. Es geht natürlich auch uns - Sie haben zu Recht darauf hingewiesen - vor allen Dingen um Familien mit
schulpflichtigen Kindern. Ich komme aus einem sehr
tourismusintensiven Wahlkreis in Schleswig-Holstein
und habe es letztes Jahr live erlebt, dass die Strandkörbe
und Betten im Juni und Juli vergangenen Jahres leer waren, bevor im August für die 41 Millionen Einwohner
Nordrhein-Westfalens, Baden-Württembergs und Bayerns die Ferienzeit begann. Als die Reisenden anrollten,
hatten sie große Not, Betten zu bekommen. In dieser
Zeit, die mit dem wunderbaren Hoch „Michaela“ zusammenfiel, hätten die Betten im Schichtwechsel zwei- bis
dreimal belegt werden können. Das war natürlich nicht
möglich, sodass etliche Familien vor dem Schild „Belegt“ standen.
Wir ziehen insofern am selben Strang. Das bedeutet
- darauf habe ich Sie bereits in der Debatte im vergangenen Jahr hingewiesen -: Sie müssen die Landesregierungen, die die größten Blockierer sind - dabei handelt es
sich, wie Sie wissen, in erster Linie um Bayern und Baden-Württemberg -, dazu bewegen, ihre Haltung zu ändern.
({4})
Ich habe Herrn Hinsken schon vor einem Jahr gebeten,
den Versuch zu unternehmen, Herrn Stoiber zu bewegen.
Sonst nimmt Bayern doch immer wieder für sich in Anspruch, so wirtschaftsnah zu sein. Wenn Sie der Tourismuswirtschaft etwas Gutes zu wollen, dann tun Sie das
Ihre, damit er sich auf der Ministerpräsidentenkonferenz
flexibel zeigt.
({5})
- Das gilt auch für Sie, Herr Burgbacher. Ich wiederhole
es: Es gibt in diesem unserem Lande auch CDU/FDP-geführte Regierungen, unter anderem in Baden-Württemberg.
({6})
- Das macht nichts. Sie stellen schließlich die Wirtschaftsminister in den Kabinetten von Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Warum haben
Sie seitdem im Rahmen der Ihnen als Bundestagsabgeordneten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten keine
entsprechenden Initiativen ergriffen?
({7})
- Das sagen Sie, Herr Burgbacher. Herr Hinsken hat sich
im vergangenen Jahr damit herausgeredet, er habe Herrn
Stoiber schon sehr viele Briefe geschrieben. Wenn es Ihnen nicht gelingt, Ihre eigenen Landesregierungen zu
überzeugen, die in dieser Frage zuständig sind, dann ist
es auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit, im Bundestag
einen solchen Antrag vorzulegen. Im Endeffekt kann das
nur ein Showantrag sein.
({8})
Natürlich können wir an die Bundesländer appellieren.
Aber wir haben nun einmal ein föderales System, in dem
die Bundesländer dafür zuständig sind. Ich bitte Sie sehr:
Bewegen Sie Ihre Landesregierungen in die richtige
Richtung, die bisher leider nur durch eine Blockadehaltung geglänzt haben!
({9})
Es hätte der Glaubwürdigkeit gedient, wenn Sie,
nachdem wir ein Jahr darüber diskutiert haben, einmal
gesagt hätten, was Sie inzwischen bei Ihren Bundesländern erreicht haben und warum diese weiter blockieren.
Ich kann Ihnen sagen, dass ich am letzten Montag mit
meiner Landesregierung in Schleswig-Holstein noch
einmal gesprochen habe. Ich darf Ihnen einen schönen
Gruß von Frau Simonis und Herrn Rohwer bestellen.
Wenn es unerwarteterweise dazu kommen sollte, dass
eines der großen Länder des Südens, zum Beispiel
Bayern oder Baden-Württemberg - hier haben Sie ja
Einfluss -, die Initiative, den Wirtschaftsministerkonferenzbeschluss vom 15. Mai letzten Jahres wieder aufleben zu lassen, in der Ministerpräsidentenkonferenz
glaubwürdig mitträgt, dann können Sie ganz sicher sein,
dass Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern
sofort dabei wären. Schließlich haben diese beiden Bundesländer schon im letzten Jahr zu Protokoll gegeben,
dass sie diesen Beschluss umsetzen wollen.
Ich komme zum Schluss. Es wäre für die Familien
wirklich ein Segen, wenn wir an dieser Stelle vorankommen würden.
({10})
Wenn es eine solche Initiative der Länder des Südens
noch einmal geben sollte, dann wäre es nach Aussage
meiner Ministerpräsidentin durchaus möglich, von 2006
an zu einer erneut verbesserten Ferienregelung zu kommen. Wie viele Milliarden dies der Tourismuswirtschaft
bringen würde, habe ich Ihnen schon vorhin vorgerechnet. Aber was man gar nicht messen kann, ist, wie vielen
Familien wir damit pures Urlaubsvergnügen bescheren
würden. Jetzt ist es zur Ferienzeit so, dass man im Stau
steht, dass die Kinder - berechtigterweise - quaken, dass
die Eltern gestresst und genervt sind und dass sich die
Preisspirale wegen der großen Nachfrage wieder nach
oben zu drehen beginnt. Das alles geht gerade zulasten
von Familien mit Kindern.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit!
Herr Burgbacher, nur Mut! Sie werden uns und die
Tourismuswirtschaft an Ihrer Seite haben, wenn es darum geht, die Länder des Südens in die richtige Richtung
zu bewegen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nachdem wir vor einigen Wochen in diesem
Haus zum wiederholten Mal über die Verlängerung der
Sperrzeiten in der Außengastronomie debattiert haben,
erscheint mir auch der Inhalt des FDP-Antrages „Sommerferienregelung verbraucherfreundlicher gestalten“
als ein alter Bekannter. Beide Beispiele machen eines
sehr deutlich: Deutschland tut sich sehr schwer, wenn es
darum geht, die touristischen Rahmenbedingungen in
unserem Land auf unbürokratische und kostengünstige
Art und Weise nachhaltig zu verbessern.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, unterstützen
den heute debattierten Antrag der FDP-Fraktion ausdrücklich, da auch wir dieses Thema mit unserem bereits
im Jahre 2003 in den Deutschen Bundestag eingebrachten Antrag „Schaffung einer familienfreundlichen, verkehrsentlastenden und wirtschaftsfördernden Ferienregelung“ aufgegriffen haben. Frau Hagedorn, ich
unterstütze Sie ausdrücklich. Es gibt zwar das Sprichwort: „Viele Köche verderben den Brei.“, aber hier kann
man durchaus das Gegenteil behaupten. Die vielen Initiativen der Landesparlamente, aber auch des Bundestages,
des Ausschusses für Tourismus und der Fraktionen haben durchaus für Bewegung in der Kultusministerkonferenz gesorgt.
Die derzeitige Regelung der Schulferien in Deutschland ist für extreme Verkehrsverhältnisse in den Sommermonaten und nicht ausreichende Erholungsmöglichkeiten für Familien mit schulpflichtigen Kindern
verantwortlich. Sie ist außerdem sowohl für die Nachfrager als auch für die Anbieter touristischer Produkte und
Dienstleistungen ein großes Ärgernis. Das Hauptproblem besteht darin, dass das Beherbergungsgewerbe in
Spitzenzeiten bei einer zu großen Nachfrage zu geringe
Kapazitäten zur Verfügung stellen kann. Nach Informationen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes
rechnet das Beherbergungsgewerbe bei der neuen Sommerferienzeitregelung mit einem Umsatzausfall in Höhe
von mehr 1 Milliarde Euro. Kollege Burgbacher hat bereits darauf hingewiesen. Zwar gibt es in diesem Jahr einen Korridor von 82 Ferientagen - was ein Plus von
zwölf Tagen im Vergleich zum Vorjahr bedeutet -, jedoch sind wir mit der Neuregelung noch weit vom gewünschten und wirtschaftlich sinnvollen Zeitrahmen von
90 Tagen und mehr entfernt.
Wer als Bundesbürger seine Ferien mit Kindern nicht
in Deutschland verbringen kann, da es aufgrund der hohen Nachfrage entweder keine freien Betten mehr gibt
oder diese nicht mehr bezahlbar sind, weicht oftmals ins
Ausland aus. Obwohl es auch dort in beliebten Ferienregionen zunehmend Engpässe mit daraus resultierenden
hohen Preisen gibt, existieren im Ausland naturgegeben
mehr Ausweichmöglichkeiten. Das hier in Deutschland
hart erarbeitete Urlaubsgeld schafft dann bei unseren
Nachbarn in Europa Arbeitsplätze und sorgt dafür, dass
anderswo die Kassen klingeln.
Für die deutsche Hotellerie und die privaten Vermieter bedeutet dies jedoch, dass sie ihre Betten in der kurzen Hochsaison zwar doppelt und dreifach vermieten
könnten, dass diese Betten in der langen Vor- und Nachsaison jedoch leer bleiben.
Durch die Verkürzung der Hauptsaison muss es unweigerlich zu Preiserhöhungen kommen, da die Hoteliers ihre fixen Kosten auf wenige Tage umrechnen müssen. Dies stellt eine zusätzliche finanzielle Belastung für
Familien mit schulpflichtigen Kindern dar.
Verbunden mit der angespannten wirtschaftlichen
Lage können sich daher viele Familien in Deutschland
überhaupt kein Urlaub mehr leisten. Dass dringender
Handlungsbedarf besteht, verdeutlichen zum Beispiel
die aktuellen Zahlen zur Umsatzentwicklung, die der
Deutsche Hotel- und Gaststättenverband bereithält: War
das Jahr 2002 mit einem Minus von 4,7 Prozent schon
sehr schlecht, so musste das Gastgewerbe im Jahr 2003
erneut einen Rückgang von 5,0 Prozent verkraften. Bevor die Saison 2004 richtig begonnen hat, wies bereits
das erste Quartal dieses Jahres ein Umsatzminus von
1 Prozent aus. Zur Entzerrung der Ferienzeiten in
Deutschland gilt daher der Grundsatz: Kleine Ursache,
große Wirkung.
Mir ist durchaus bewusst, dass dieser Sachverhalt eigentlich nicht in die Regelungskompetenz des Bundes
fällt, da die Ferienkorridore von den Bundesländern in
der Kultusministerkonferenz abgestimmt und einstimmig bestätigt werden müssen. So war es bisher und so
wird es sicher auch in Zukunft sein.
Allerdings hat sich in der Vergangenheit nur zu oft gezeigt, dass die Kultusministerkonferenz allein nicht in der
Lage ist, eine den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Anforderungen Rechnung tragende Lösung zu erarbeiten.
Dass wir uns dennoch im Deutschen Bundestag mit diesem Thema auseinander setzen, liegt an den negativen
Auswirkungen der derzeitigen Regelungen auf Familien,
Wirtschaftsunternehmen und vor allem unsere Umwelt.
Die Sommerferienregelung betrifft die Menschen
zwischen Berchtesgaden - unser Kollege Ramsauer mit
seinem zauberhaften Wahlkreis
({0})
ist ja anwesend - und Flensburg, zwischen Aachen und
Görlitz gleichermaßen und ist daher ein Problem von nationaler Tragweite.
In der Vergangenheit war es undenkbar, dass die bevölkerungsreichsten Bundesländer, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg, zur gleichen Zeit
Sommerferien hatten. Ich appelliere hier auch an die Solidarität der Großen mit den Kleinen, der nördlichen mit
den südlichen Bundesländern.
Der Beschluss der Kultusministerkonferenz zur Sommerferienordnung von 1999 sorgt aber in diesem und in
den kommenden Jahren für eine unzumutbare Verdichtung der Reisezeiten. In der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus auf unseren 2003 eingebrachten Antrag heißt es zusammenfassend und richtig
- ich zitiere -:
Die Fraktion der CDU/CSU hielt es trotz des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz für
richtig, ein Signal zu setzen, damit der angestrebte
Maximalzeitrahmen von 90 Ferientagen durch die
Kultusministerkonferenz nicht zu sehr verwässert
wird. Insofern sei es auch richtig, die Bundesregierung zu ersuchen, ihren Einfluss geltend zu
machen, denn wegen der aufgeworfenen familienpolitischen und verkehrlichen Fragen gehe es um
gesamtwirtschaftliche Komponenten, die eine Bundeszuständigkeit begründen. Es sei Aufgabe des
Tourismusausschusses darauf hinzuweisen, was
eine möglichst weit gehende Entzerrung der Hauptferienzeit bedeutet. So in erster Linie Preisvorteile
für die Urlaubsgäste, vor allem Familien mit Kindern, weniger Stress beim Reiseverkehr, bessere
Auslastung der Beherbergungsbetriebe und dadurch
höhere Umsätze der Tourismuswirtschaft.
Unabhängig von der heutigen Diskussion über den
Antrag einer Neuordnung der Ferienregelung, die übrigens keinen einzigen Euro an Kosten verursachen
würde, ist es notwendig, auch einige Worte über die aktuelle Situation und die Rahmenbedingungen der Tourismuswirtschaft zu sagen. Ich bin davon überzeugt, dass
wir die gegenwärtige Debatte über die Entzerrung der
Sommerferien nicht führen würden, wenn die wirtschaftliche Lage in unserem Land nicht so katastrophal wäre.
Galt dies schon im vergangenen Jahr, so hat sich die Situation dank rot-grüner Politik eher verschlechtert als
verbessert. Solange die Regierung Schröder im Amt
bleibt, sehe ich keine Ansätze für eine spürbare Besserung.
Wenn die Binnenkonjunktur anspringen soll, muss
den Konsumenten wie den Unternehmern vor allem Planungssicherheit und Kaufkraft gegeben werden. Dies ist
in keinem Politikbereich eine Stärke dieser Koalition.
Während der Bundeskanzler und sein Superminister
in ganz Deutschland den wirtschaftlichen Aufschwung
verkünden, muss ehrlicherweise die Frage erlaubt sein:
Wann handelt die Bundesregierung?
({1})
Nun kann man der Regierung nicht vorwerfen, sie
entwickele keine eigenen Ideen. Superminister
Wolfgang Clement schlug beispielsweise vor, gesetzliche Feiertage zu streichen. Nach seinen Vorschlägen
sollen Feiertage, die auf einen Werktag fallen, auf den
darauf folgenden Sonntag verschoben werden. Nach
Medienberichten war die Bundesregierung sogar bereit,
unseren Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober zu opfern.
An dieser Stelle frage ich mich jedoch, ob diejenigen,
die solches fordern, überhaupt den Sinn von Gedenkund Feiertagen erkannt haben.
({2})
Fest- und Feiertage, besonders aus kirchlichem Anlass,
sind ein Stück Kulturgut und Bestandteil überlieferter
Traditionen.
({3})
Die bundesdeutschen Feiertage bieten oftmals die
Möglichkeit, durch so genannte Brückentage Kurzurlaube und Reisen über ein verlängertes Wochenende
durchzuführen, die für den Tourismusstandort Deutschland ein wichtiges Standbein sind. Ich bin mir allerdings
sicher, dass die christlichen und gesetzlichen Feiertage
die wenigen noch vor uns liegenden Monate rot-grüner
Regierungsverantwortung ohne Schaden überstehen
werden.
Der politische Einsatz für eine bessere Ferienregelung
und der Erhalt der deutschen Feiertage machen Sinn,
nicht nur für die Tourismusbranche, sondern ebenfalls
für die Menschen und deren Gesundheit. Mit einer alten
Weisheit möchte ich schließen: Niemand ist unerschöpflich. Jeder Mensch braucht Erholung, damit er nicht zur
Maschine wird, sondern neu zu sich selbst und zu anderen Menschen finden kann.
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen,
hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)
1) Anlage 10
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3102 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf.
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzes 2005 ({0})
- Drucksache 15/3442 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ernst Bahr, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der Einbringung des vorliegenden Haushaltsbegleitgesetzes steigen wir bereits in die parlamentarische Beratung des Haushalts 2005 ein. Wir werden uns dabei
mehr an die Fakten halten, als das der Kollege von der
CDU/CSU eben in Bezug auf die Feriengestaltung getan
hat. Man kommt sich bei solchen Reden manchmal vor
wie im Kabarett.
Lassen Sie mich zu Beginn einige grundsätzliche Bemerkungen zur Haushaltsplanung machen, bevor ich
zum Haushaltsbegleitgesetz komme, das dieses Jahr ausschließlich den Etat des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft betrifft.
Wir wissen, dass soziale Gerechtigkeit nicht allein
für die heutige Generation gelten darf, sondern bereits
hier und heute für künftige Generationen eingefordert
und vorbereitet werden muss. Die Bundesregierung hat
deshalb mit der Agenda 2010 umfangreiche Modernisierungsvorhaben auf den Weg gebracht. Wir müssen uns
den Herausforderungen aus einer zunehmenden Verflechtung der Weltwirtschaft, die auch in der Erweiterung der Europäischen Union zum Ausdruck kommt,
und dem fortschreitenden Alterungsprozess unserer Gesellschaft stellen. Es gilt, unseren Sozialstaat und unsere
Marktwirtschaft zu erneuern und fortzuentwickeln, um
Wohlstand und soziale Gerechtigkeit zukunftsfest zu
machen. Nur wenn wir heute unsere sozialen Sicherungssysteme reformieren, können sie weiterhin bestehen und unseren Kindern Wohlstand und soziale Gerechtigkeit ermöglichen.
({0})
Dies gilt auch für die sozialen Sicherungssysteme in
der Landwirtschaft, die inzwischen mehr als zwei Drittel des Geldes aufbrauchen, das dem Bundesministerium
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
zur Verfügung steht.
({1})
- Nein, lieber Albert; ihr habt das schon falsch gemacht
und wir müssen es korrigieren.
({2})
Wir können deshalb mittelfristig auch in diesem Bereich
nicht an Reformen vorbei, auch wenn diese Erkenntnis
bei der CDU/CSU noch nicht angekommen zu sein
scheint.
Die Renten- und die Gesundheitsreform haben hier
bereits jetzt zu einer spürbaren Entlastung geführt. Ohne
sie hätten wir im Haushalt 2005 des Verbraucherschutzministeriums wesentlich höhere Ausgaben zu schultern.
Nur reicht das bisher Geleistete nicht aus, weshalb wir
heute den vorliegenden Gesetzentwurf beraten.
Konjunkturgerechte Haushaltskonsolidierung ist und
bleibt das Fundament einer verantwortungsvollen und
zukunftsfähigen Haushalts- und Finanzpolitik. Mit den
Ausgaben für Arbeitsmarkt, Sozialversicherungen, Versorgung, Personal und Zinsen sind bereits ungefähr
70 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes gebunden.
Die Mittel für diese fünf Haushaltsbereiche stehen nicht
für Investitionen in Zukunftsaufgaben wie Bildung und
Forschung zur Verfügung. Unsere Konsolidierungspolitik ist deshalb darauf ausgerichtet, das Wachstum konsumtiver Ausgaben zu bremsen und Subventionen abzubauen. Genau um diese Dinge geht es in unseren
Beratungen heute und in den nächsten Wochen.
Neben konjunkturgerechter Konsolidierung und der
Fortsetzung der Reformen brauchen wir aber auch gezielte finanzpolitische Impulse zur Unterstützung der
sich abzeichnenden wirtschaftlichen Erholung. Trotz der
haushaltspolitisch schwierigen Ausgangslage bleiben
wir deshalb dabei, dass die Steuersätze der Einkommensteuer mit Beginn des Jahres 2005 weiter gesenkt werden. Die Entlastung der Bürger und Unternehmen um
weitere 6,8 Milliarden Euro wird dem privaten Konsum
zusätzliche Impulse geben und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen erhöhen. Insgesamt haben wir
es mit unseren steuerpolitischen Maßnahmen trotz der
Blockaden im Bundesrat geschafft, dass die Steuerzahler
seit 1999 um mehr als 52 Milliarden Euro entlastet wurden. Wir reden also nicht nur von Steuerentlastung, sondern handeln auch dementsprechend.
Wir haben das größte Steuerentlastungsprogramm in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Kraft
gesetzt. Der Eingangssteuersatz wurde in der Zeit von
1998 bis 2005 von 29,9 Prozent auf 15 Prozent gesenkt,
der Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent.
Der Grundfreibetrag ist von 6 322 Euro auf 7 664 Euro
angehoben worden. Diese Entlastungen kommen weitgehend den unteren und mittleren Einkommensschichten
Ernst Bahr ({3})
zugute. Unsere Steuersenkungspolitik hat dazu geführt,
dass Deutschland im europäischen Vergleich die niedrigste Steuerquote hat, nämlich 21,7 Prozent im Jahr
2002. Auch die Abgabenquote liegt nunmehr mit
36,2 Prozent im Jahr 2002 im Mittelfeld. Eine weitere
Absenkung der Steuerquote ist vor dem Hintergrund der
notwendigen Zukunftsinvestitionen nicht vertretbar.
Das ständige Gerede von einer radikalen Steuerreform, die aus Sicht der Union auch mit einer radikalen
Senkung der Steuersätze verbunden sein sollte, hat mit
einer seriösen Haushalts- und Finanzpolitik nichts zu
tun.
({4})
Der CDU-Wirtschaftsrat zielt mit seiner neuerlichen
Forderung nach einem Steuerstufenmodell mit Steuersätzen von 10, 20 und 30 Prozent vielmehr einzig und allein darauf ab, Spitzenverdiener massiv steuerlich zu
entlasten. An dieser Stelle möchte ich an den Bericht aller Finanzminister der Bundesländer erinnern, die übereinstimmend festgestellt haben, dass diese Einfachsteuermodelle weder finanzierbar noch verteilungspolitisch
gerecht sind. Das sagen wohlgemerkt übereinstimmend
alle Finanzminister der Länder. Einfachheit ist eben kein
Wert an sich. Die Lebenswirklichkeit ist von komplexen
Sachverhalten geprägt, die eines angemessenen Maßes
an steuerlichen Regelungen bedürfen. Wir haben einige
Schritte in diese Richtung getan. Die Unionsforderungen
im Steuer- und Sozialbereich würden auch nach Einschätzung Ihres Kollegen Herrn Seehofer nicht gedeckte
Kosten von rund 100 Milliarden Euro verursachen. Eine
derart populistische und unsolide Finanz- und Haushaltspolitik ist mit uns nicht zu machen.
Stattdessen stärken wir mit der Innovationsoffensive,
die der Bundeskanzler bereits im März angekündigt hat,
Forschung und Bildung. Wir machen den Ländern und
Gemeinden das Angebot, die Mittel aus der Eigenheimzulage zur Verstärkung von Forschung und Bildung einzusetzen. Die Bundesregierung wird deshalb nach der
Sommerpause einen Gesetzentwurf zur Abschaffung der
Eigenheimzulage vorlegen. Bis zum Jahr 2008 können
somit 3 Milliarden Euro vom Bund und weitere 3 Milliarden Euro von den Ländern und Gemeinden mobilisiert werden. Damit stehen zusätzlich 6 Milliarden Euro
für Forschung und Bildung zur Verfügung, die wir in die
Zukunft der Menschen und in Verbesserungen der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland investieren können.
({5})
Auch der Haushalt des Verbraucherschutzministeriums profitiert von der angekündigten Innovationsoffensive. Im Einzelplan 10 sind 5 Millionen Euro eingeplant, die in der Finanzplanung auf 20 Millionen Euro
im Jahre 2008 anwachsen. Mit diesen Mitteln sollen Innovationen in verschiedenen Bereichen gefördert werden. Dazu gehören neue Verfahren für sichere Lebensmittel, neue Konzepte der Tierhaltungstechnik,
umweltschonende Agrarproduktion sowie neue Unternehmenskonzepte für dünn besiedelte ländliche Räume.
Voraussetzung bleibt an dieser Stelle jedoch die Zustimmung der CDU/CSU im Bundesrat. Da wird sich zeigen,
wie ernst es Ihnen mit dem auch von Ihnen so viel beschworenen Subventionsabbau ist.
Die Mittel für die Agrarsozialpolitik machen mit
einem Ansatz von 3,7 Milliarden Euro bereits 72 Prozent der Gesamtausgaben des Verbraucherschutzministeriums aus. Damit wird deutlich, dass dieser Bereich nicht
von notwendigen Einsparungen ausgenommen werden
kann, zumal es sich um konsumtive Mittel handelt, die
den Spielraum für die übrigen Felder der Agrar- und
Regionalpolitik erheblich einschränken.
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas aus einer Pressemitteilung eines Kollegen in der vergangenen Woche
wiedergeben. Dort heißt es, dass die Summe der rein
konsumtiven Sozial-, Versorgungs-, Zins- und Personalausgaben derart zugenommen habe, dass dadurch im
Jahr 2005 die Steuereinnahmen des Bundes fast vollständig aufgefressen würden. Weiter heißt es, Deutschland habe ein massives Ausgabenproblem, womit wir
auf Kosten unserer Kinder lebten.
({6})
Völlig richtig, was der Kollege Friedrich Merz hier
am 23. Juni gesagt hat! Nur sollte er das vielleicht Herrn
Stoiber und den Agrarpolitikern seiner eigenen Partei sagen, damit es entsprechend berücksichtigt wird.
({7})
Wir haben bereits im vergangenen Jahr mit dem
Haushaltsbegleitgesetz einen Gesetzentwurf zur maßvollen Reduzierung der Sozialausgaben und zum Abbau
von Subventionen vorgelegt. Im Bundesrat wurden diese
Änderungen im Agrarbereich jedoch aus opportunistischen Gründen wieder rückgängig gemacht. Mit Blick
auf den vorliegenden Entwurf zum Haushaltsbegleitgesetz und die kommenden Beratungen zur Eigenheimzulage bin ich schon jetzt gespannt, ob Sie sich den richtigen Erkenntnissen Ihres Kollegen anschließen oder
wieder Klientelpolitik zulasten zukünftiger Generationen betreiben werden.
Insgesamt beläuft sich der Haushalt des Verbraucherschutzministeriums im Entwurf 2005 auf 5,1 Milliarden
Euro. Das sind 108 Millionen Euro bzw. 2,1 Prozent weniger als im Vorjahr. Hinzu kommen die Einsparungen
bei der Subventionierung des Agrardiesels aus dem hier
vorliegenden Gesetzentwurf.
Wir werden diese Änderungen mit Ihnen gemeinsam
beraten. Der vorliegende Entwurf muss dabei nicht das
letzte Wort sein. Für konstruktive Vorschläge Ihrerseits
sind und bleiben wir offen. Es muss jedoch schon etwas
mehr sein als die leeren weißen Blätter, die Sie uns im
vergangenen Jahr vorgelegt haben.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Schindler,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Zuhörer auf den Tribünen! Herr Kollege Bahr, eine
Kernfeststellung Ihrer Rede war, dass 70 Prozent von
Künasts Etat festgelegt seien. Sie müssen aber auch die
Gründe nennen: 19 von 20 Kindern aus bäuerlichen Familien gehen in andere Berufe; das kann man euch nicht
oft genug sagen. Wenn Sie Friedrich Merz zitieren, dass
wir unsere Kinder in Zukunft nicht weiter belasten sollten, kann ich nur entgegnen, Herr Bahr: Es findet seit
20 Jahren permanent statt, dass in einem schrumpfenden
Berufsstand 90 Prozent der Altenlast von wenigen übernommen werden müssen. Diese Zahlen kommen nur zustande, weil die wenigen, die in der Landwirtschaft noch
tätig sind, mit hohen Beiträgen im aktiven wie im passiven Bereich belastet werden. Das darf nicht fortgesetzt
werden.
({0})
Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie das zugeben.
Wir haben vor ungefähr zwei Stunden Hartz IV verabschiedet. Auch in dieser Debatte wurde, vor allem von
unserem Kollegen Karl-Josef Laumann - ebenso haben
wir es gestern Abend in einer anderen Diskussion gehört -, festgestellt: Rot-Grün betreibt derzeit mit System
einen Arbeitsplatzabbau in der Bundesrepublik
Deutschland und verschärft damit den Standortnachteil
der deutschen Landwirtschaft.
Der Einspruch des Bundesrates gegen den Nationalen
Allokationsplan wird nächste Woche mit Kanzlermehrheit zurückgewiesen. Das heißt konkret: Investitionen
im Chemikalienhandel finden nicht mehr in Deutschland
statt; BASF zum Beispiel geht nach Antwerpen oder
Tarragona. Ergebnis: 200 Arbeitsplätze in Deutschland
weniger.
Auch Genforschung im grünen Bereich findet in
Deutschland nicht mehr statt. Vorstände haben beschlossen, in die USA zurückzugehen. Dabei hatten sie erst vor
zwei Jahren den Mut, an den Standort Deutschland zu
gehen.
Ich komme zur Gasölbeihilfe und zu den Kürzungen
im Krankenversicherungsbereich. Herr Diller, ich kann
es nur als Versuch einer späten Rache bezeichnen.
Eigentlich müsste sich Ihr Kollege Herr Thalheim wie
ein gerupftes Huhn vorkommen, weil die Etatansätze bei
den anderen Ministerien gleich bleiben oder erhöht werden, aber der Etat des Ministeriums für Verbraucherschutz und Landwirtschaft gekürzt wird.
Warum gibt es die Dieselölbeihilfe? Sie gibt es, weil
in den anderen Staaten der Europäischen Union die
Steuer niedriger ist. In Österreich beträgt sie 10 Cent; in
Frankreich, in den Niederlanden und in England beträgt
sie sogar nur 6 Cent. Wir liegen derzeit dank der Ökosteuer bei 26 Cent. Die Begründung für diese Beihilfe ist
- auch das gehört zum Hintergrund -: Bauern brauchen
zu 90 Prozent ihren Dieselkraftstoff für das Arbeiten auf
ihren Äckern. Sie benutzen in der Regel nicht die bundesdeutschen Straßen.
Wir sollen den Bauern erklären - die grüne Fraktion
hat diesen Punkt schon angesprochen -, warum das
Flugbenzin bei der Besteuerung bewusst außen vor gelassen wird. Die Landwirtschaft in Deutschland wird im
europäischen Vergleich ganz klar benachteiligt. In den
Grenzregionen - ich nenne beispielsweise Baden oder
das Saarland - gibt es einen Wettbewerbsnachteil gegenüber dem Elsass und Lothringen. Pro Hektar gibt es
eine Steigerung unserer Mehrkosten der Produktion von
derzeit 60 Euro um 56 Prozent. So kommt man auf
Mehrkosten von rund 80 bis 90 Euro. Diese Rechnung
sagt alles. Die Produktion bei uns wird teurer.
Vor einer Stunde haben wir über zukunftsweisende
Entscheidungen in der Agrarpolitik geredet. Was gibt es
in diesem Bereich nicht alles zu verdauen! Die Entwicklung in der deutschen Landwirtschaft ist im vierten Jahr
negativ. Dies hat Rot-Grün unter Frau Künast entscheidend mit zu verantworten. Die Einkommensminderung
pro Jahr beträgt 10 Prozent. Aufgrund der Anzahl von
Betriebsverkleinerungen kann man davon sprechen, dass
es einen brutalen Strukturwandel gibt. Auch den haben
Sie mit zu verantworten. Im Rahmen von Hartz III und
Hartz IV redet man davon, Zukunftssicherung zu betreiben, indem neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Auf
der anderen Seite werden Arbeitsplätze bewusst abgebaut.
Ich komme noch einmal auf den Sozialbereich zu
sprechen. 70 Prozent der Ausgaben von Frau Künast
sind festgelegt. Dies heißt, dass die Krankenversicherungsbeiträge für die aktiven Beitragszahler von durchschnittlich 13 bis 14 Prozent auf 20 Prozent ansteigen.
Erklären Sie den Bauern im Lande, wie das mit dem
Vorhaben von Frau Schmidt zu vereinbaren ist, den Gesundheitsbereich zu stabilisieren und Beitragserhöhungen zu verhindern. Ich muss Ihre Politik nicht vertreten.
Aber ich will diese nackten Tatsachen nennen, die sich
vor allem im Süden und im Südwesten zeigen.
Diese Regierungsvorlage zeigt Ihr schlechtes Gewissen. Man will die Flächenbetriebe des Ostens hinsichtlich Gasöl unterstützen. Aber im Südwesten verursacht
man dadurch Strukturverwerfungen - die napoleonische
Teilung lässt grüßen -, die die Betriebe weiß Gott nicht
zu verantworten haben. So kann man den Standort
Deutschland, was die Industrie und was die Landwirtschaft angeht, in der Zukunft nicht sichern. Sie sind absolut auf dem verkehrten Weg.
Es stehen noch Streichungen bei der Berufsgenossenschaft an, worüber wir im September bei der Beratung
des Haushalts reden werden. Ich nenne ferner das
Schlagwort Vermögen der Landwirtschaftlichen Rentenbank. Obwohl der Bund jedes Jahr die Hälfte der Zinserträge in den Bundeshaushalt einbuchen kann, will man
die Reserven einer vorbildlich geführten Bank um die
Hälfte reduzieren, damit man kurzfristig über dieses Jahr
hinwegkommt. Wer so und auch in Bezug auf die Gemeinschaftsverpflichtungen zwischen Bund und Land so
handelt, der betreibt keine gute Politik der ZukunftsNorbert Schindler
sicherung für unsere Betriebe, aber auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Sie sollten sich Ihr weiteres
Vorgehen gut überlegen.
Wir werden unsere Meinungen in den abschließenden
Beratungen und in den Ausschüssen entsprechend kundtun. Ich bin gespannt, wie sich manches Bundesland zu
diesen Vorstellungen äußert.
Vielen Dank.
({1})
Die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/
Die Grünen, und der Kollege Jürgen Koppelin, FDP,
werden ihre Reden zu Protokoll geben.1) Deswegen rufe
ich als letzten Redner den Kollegen Albert Deß, CDU/
CSU, auf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute debattieren wir den von Rot-Grün eingebrachten Entwurf eines Haushaltsbegleitgesetzes 2005.
Hinter dem harmlos klingenden Titel verbirgt sich der
erneute Versuch, einen ganzen Wirtschaftszweig, die
Landwirtschaft, zu schikanieren. Gleichzeitig begeht
Rot-Grün mit diesem Gesetzentwurf mehrere mir unverständliche Vertrauensbrüche.
Im Dezember letzten Jahres wurden im Vermittlungsverfahren zum Bundeshaushalt 2004 zahlreiche Einschnitte für die Landwirte verhindert, die zu einer einseitigen nationalen Benachteiligung geführt hätten. Jetzt
liegen genau diese bereits im vorigen Jahr geplanten
Einschnitte bei der Besteuerung von Agrardiesel, beim
Zuschuss für die landwirtschaftlichen Krankenversicherungen und auch bei der Berufsgenossenschaft bei RotGrün erneut auf dem Tisch. Die Bauern haben sich darauf verlassen, dass das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Tragen kommt. Jetzt müssen sie bitterlich
erkennen, dass auf Rot-Grün - wie leider so oft - kein
Verlass ist.
({0})
Wichtig für unsere Landwirte und auch für die übrige
Wirtschaft wäre es, wenn diese abgewirtschaftete Bun-
desregierung eine bessere und vor allem wachstums-
orientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben
würde. Dann müsste sie nicht frühere Versprechen bre-
chen und einen Beutezug gegen einen Wirtschaftszweig
führen, der seit mehr als fünf Jahren dem rot-grünen
Würgegriff ausgesetzt ist.
Im Agrarbericht 2004 musste diese Bundesregierung
zum vierten Mal in Folge einen Einkommensrückgang
bei den landwirtschaftlichen Betrieben eingestehen. Die-
ses Mal waren es dramatische 25 Prozent. Für das lau-
fende Wirtschaftsjahr hat die Bundesregierung selbst
eine weitere Einkommensverringerung um bis zu 8 Pro-
1) Anlage 11
zent prognostiziert. Kein anderer Wirtschaftszweig in
unserem Land muss mit solchen Einkommenseinbußen
rechnen.
Die erneut beabsichtigte Kürzung der bereits sehr
niedrigen Steuervergünstigung bei Agrardiesel benachteiligt die deutsche Landwirtschaft - der Kollege
Norbert Schindler hat das bereits erwähnt - auch gegenüber der Schiff- und Luftfahrt. Dort müssen keine Steuern gezahlt werden, weil keine öffentlichen Straßen benutzt werden. Auch die Landwirte verfahren 90 Prozent
ihres Agrardiesels auf ihren Äckern und nicht auf öffentlichen Straßen. Das ist der Grund, warum die Landwirte
einen niedrigeren Agrardieselsteuersatz hatten.
Der Kollege Norbert Schindler hat die unterschiedliche Höhe der Agrardieselsteuersätze in Europa angesprochen: Dänemark: 0; Frankreich: 5,5 Cent; Großbritannien: 6 Cent. Für die deutschen Bauern - ob Großoder Kleinbetriebe - bedeutet das eine gewaltige Wettbewerbsverzerrung. Ich ärgere mich vor allem darüber,
dass Frau Künast auf europäischer Ebene bisher in
keinster Weise versucht hat, eine europaeinheitliche Regelung umzusetzen.
Lieber Kollege Ernst Bahr, wir kennen uns gut. Ich
wäre dankbar, wenn diese Bundesregierung initiativ
würde und sich für einen einheitlichen europäischen
Agrardieselsteuersatz einsetzen würde. Ob der dann bei
10, 20 oder 30 Cent liegt, ist Nebensache. Ich würde den
niedrigeren Satz zwar bevorzugen; aber selbst ein höherer europaweit einheitlicher Satz würde zumindest dazu
führen, dass die Wettbewerbsverzerrung innerhalb Europas aufgehoben wird.
({1})
- Frau Kollegin Wolff, ich werde dort initiativ werden.
Das können Sie mir glauben.
({2})
Das zeigt die Unglaubwürdigkeit dieser Bundesregierung: Sie belastet die deutschen Bauern national und versucht nicht auf europäischer Ebene, einen gerechten
Ausgleich herbeizuführen. Für uns bayerische Landwirte
ist es übrigens besonders schmerzhaft, dass wir weitere
Einschnitte hinnehmen müssen, da unser Nachbarland
den Agrardieselsteuersatz exakt von 30,2 Cent auf
9,8 Cent senkt.
({3})
Es ist natürlich schon schmerzhaft, wenn wir feststellen
müssen, dass hinter der Grenze eine entgegengesetzte
Agrarpolitik gemacht wird, nämlich zugunsten und nicht
zulasten der österreichischen Bauern.
Ein weiterer Punkt ist angesprochen worden, der im
Haushaltbegleitgesetz eine Rolle spielt: die Kürzungen
im landwirtschaftlichen Sozialversicherungssystem.
Hier erfolgt ein zweiter Vertrauensbruch. Ich habe an
den Beratungen der Agrarsozialreform, die 1995 in Kraft
getreten ist, von Anfang bis Ende teilgenommen. Diese
Agrarsozialreform haben wir damals mit der SPD abgesprochen. Der Kollege Schreiner war der Verhandlungsführer für die SPD. Wir haben damals gemeinsam beschlossen, das Agrarsozialsystem zu reformieren. Es
schmerzt mich schon, dass diese gemeinsamen Beschlüsse jetzt, da Rot-Grün regiert, keinen Bestand mehr
haben. Man sollte sich hier auf die Zustimmung der SPD
verlassen können.
Ich finde es ungerecht, dass der landwirtschaftliche
Berufsstand aufgrund der Kosten, die dem Staat im Rahmen des Agrarsozialsystems anfallen, immer wieder an
den Pranger gestellt wird. Ich habe hier schon öfter gesagt: Wenn alle nachgeborenen Bauerntöchter und Bauernsöhne im landwirtschaftlichen Agrarsozialversicherungssystem bleiben dürften, hätte dieses System die
geringsten Probleme mit dem demographischen Faktor.
({4})
Denn in der Landwirtschaft werden nach wie vor im
Durchschnitt doppelt so viele Kinder aufgezogen wie in
der übrigen Bevölkerung.
({5})
Deshalb ist es ungerecht, die Landwirtschaft an den
Pranger zu stellen. Wir haben heute nur noch wenige Betriebe, die in dieses System einzahlen. Unsere nachgeborenen Bauernkinder zahlen aber in das übrige System ein
und stärken es. Deshalb sind die Zuschüsse nur ein gerechter Ausgleich und keine Last für unsere Steuerzahler; das muss man hier klarstellen.
({6})
Wenn ich jetzt aus dem Deutschen Bundestag scheide
und zurückschaue, fällt der Blick auf ein Trümmerfeld,
das Rot-Grün in den letzten Jahren in Deutschland in der
Agrarpolitik angerichtet hat. Aber ich gehe in der Hoffnung ins Europaparlament, dass CSU und CDU bald mit
den Aufräumarbeiten in Deutschland beginnen und wieder günstige und sichere Rahmenbedingungen für unsere
Landwirtschaft schaffen können. In einer Sache bin ich
sehr zuversichtlich - damit habe ich schon einmal eine
Rede geschlossen und damit möchte ich auch heute
schließen -: Ich bin sehr optimistisch und felsenfest davon überzeugt, dass es trotz aller rot-grünen Schikanen
in Deutschland länger Bauern geben wird, als es diese
rot-grüne Bundesregierung geben wird.
Vielen Dank.
({7})
Herr Kollege Deß, wir wünschen Ihnen alles Gute für
Ihre neue Arbeit im Europäischen Parlament.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/3442 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 9. Juli 2004, 13.30 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.