Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/1/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die Sitzung nach Art. 56 des Grundgesetzes. Im Namen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland, die Besucher auf den Tribünen und die Bürgerinnen und Bürger, die im Fernsehen diese besondere Sitzung verfolgen. Ich heiße sie alle willkommen. Besonders herzlich begrüße ich den scheidenden Bundespräsidenten Dr. Johannes Rau und seine Frau Christina Rau. ({0}) Ebenso herzlich begrüße ich den neuen Bundespräsidenten Professor Horst Köhler und seine Frau Eva Köhler. ({1}) Wir haben uns hier zur Vereidigung und Amtseinführung des neu gewählten Bundespräsidenten versammelt. Gleichzeitig wollen wir Johannes Rau danken, der nach fünf Jahren aus dem Amt scheidet - nach fünf überaus bewegten, schwierigen Jahren für unser Land und für die ganze Welt. Als Johannes Rau am 1. Juli 1999 - übrigens noch im Bonner Plenarsaal - in sein Amt eingeführt wurde, da hielten wir die Jahrtausendwende für die bevorstehende große Zäsur. Wir konnten nicht wissen, dass uns Monate danach eine Zeitenwende ganz anderer Art einholen würde - unerwartet, brutal und heimtückisch -: durch die menschenverachtenden Terroranschläge von New York und Washington. Sie stehen für eine neue Qualität von Hass und Gewalt, Angst und Unsicherheit: in den internationalen Beziehungen, aber auch im Alltag der Menschen überall auf der Welt. Angesichts dieser neuen, unerwarteten Herausforderungen war es umso wichtiger, dass wir in Ihnen einen Bundespräsidenten hatten, der den Menschen im Lande Orientierung und Halt gegeben hat, einen Bundespräsidenten, der einen reichen Schatz an politischer und internationaler Erfahrung mitgebracht hat und der auch im Ausland hohes, ja höchstes Ansehen genießt. Herr Bundespräsident Rau, dank Ihrer Offenheit, Sensibilität und Herzlichkeit hatten Sie bereits Freunde in aller Welt, als Sie das höchste Staatsamt angetreten haben. In den letzten fünf Jahren sind unzählige Zeichen von Respekt und Vertrauen hinzugekommen. Ich will nur zwei besonders erwähnen, die herausragend waren: die Einladungen aus Israel und aus Polen, vor den Parlamenten beider Länder zu sprechen, eine Ehre, die Ihnen als erstem deutschen Politiker zuteil wurde und die Sie genutzt haben, das Vertrauen in unser Land zu stärken. ({2}) Die Beziehungen zu Israel und zu Polen werden wegen unserer schwierigen, belasteten Vergangenheit immer ganz besondere Beziehungen sein. Obwohl Sie sich dieser historischen Verantwortung bewusst waren, haben Sie die Entscheidung getroffen, vor der Knesset in deutscher Sprache zu reden. Sie haben diesen mutigen Schritt damit begründet, dass es weniger darauf ankommt, in welcher Sprache man spricht, als darauf, was man sagt. Und Sie haben die richtigen Worte gefunden in Israel, auch in Polen und in den vielen anderen Ländern, die Sie bereist haben. In Polen waren Sie so oft wie in keinem anderen Land, zuletzt am Vorabend der Osterweiterung der Europäischen Union. Es war richtig, dass der deutsche Bundespräsident in dieser historischen Stunde vor den polnischen Parlamentariern deutlich gemacht hat, dass uns die Pflege der deutsch-polnischen Beziehungen eine Herzensangelegenheit ist. Das ist sie auch für Johannes Rau ganz persönlich, der sich dem Motto Willy Brandts verpflichtet fühlt, dass wir ein Volk guter Nachbarn sein wollen. Es ist ein großartiger Beweis für die Kraft des europäischen Gedankens, dass Polen und Deutsche, Westeuropäer und Osteuropäer unter dem einen Dach der Europäischen Union vereint und freundschaftlich zusammenleben. Johannes Rau hat das in Polen als ein „Wunder“ bezeichnet. Redetext Präsident Wolfgang Thierse Johannes Rau war kein Präsident diplomatischer Unverbindlichkeit. So wie er aus Überzeugung in Polen für gute Nachbarschaft warb, so mahnte er aus Überzeugung in China die Einhaltung der Menschenrechte an. Als Bundespräsident war er versöhnlich, aber nicht anbiedernd. Auch im eigenen Land hat er stets gesagt, was gesagt werden musste, auch wenn es unbequem war; ich denke etwa an seine öffentliche Rüge für die politisch Handelnden nach dem Scheitern des Zuwanderungsgesetzes. In Fragen, die ihm wichtig waren, hat er deutlich Position bezogen. Dazu hat er nicht zuletzt die alljährliche Berliner Rede genutzt, die von seinem Vorgänger Roman Herzog initiiert und von ihm selbst dann institutionalisiert wurde. Die notwendige Überparteilichkeit dieses Bundespräsidenten, so wie Johannes Rau sie interpretiert hat, ist weit entfernt von Überzeugungslosigkeit. Alle Berliner Reden von Johannes Rau zeichnen sich dadurch aus, dass sie ausgewogen argumentieren, aber zugleich auch klar Position beziehen. Am frischesten dürfte uns noch seine letzte Mahnung und Ermunterung in Erinnerung sein, dass wir Politiker uns stärker um Wahrhaftigkeit, um Glaubwürdigkeit, um Anstand bemühen sollten, um das Vertrauen der Bürger immer neu zu gewinnen. Nachhaltige Wirkung hat gewiss auch seine große Rede zu Fragen der Bio- und Gentechnik hinterlassen, in der er für mehr Behutsamkeit und Besonnenheit im Umgang mit den ethischen Problemen der wissenschaftlichen Forschung plädierte, für einen Fortschritt nach menschlichem Maß eintrat - aus einer religiös fundierten Ehrfurcht vor der menschlichen Würde heraus. Denn für Johannes Rau ist Politik nie von den Werten zu trennen, die er für sein Leben und für den Zusammenhalt der Gesellschaft für unersetzlich hält. Schon in seiner Antrittsrede hat er keinen Hehl daraus gemacht, dass der christliche Glaube das Fundament ist, auf dem seine politischen Überzeugungen ruhen. Wer Stoff für das Nachdenken, wer Wegweisung sucht, der lese Johannes Raus Berliner Reden nach! ({3}) Johannes Rau war ein ausgesprochen fleißiger Präsident. Rund 900 Besuchstermine im In- und Ausland hat er während seiner Amtszeit absolviert, über 700 Reden gehalten, Tausende von Briefen geschrieben, unzählige Gespräche mit den Bürgern geführt - ein immenses Arbeitspensum, eine stolze Bilanz. Doch Zahlen allein sagen nur wenig darüber aus, was der scheidende Bundespräsident geleistet und bewirkt hat. Sie sagen nicht, wie vielen Menschen er Mut gemacht hat, wie vielen er Vertrauen in unseren Staat und in unsere Demokratie geschenkt hat, wie vielen er neue Sichtweisen eröffnet hat. In Zeiten der lauten Töne, der aggressiven Häme ist er durchs Land gereist, hat Menschen zugehört und sie das Zuhören gelehrt. Er hat seine beneidenswerte Gabe, ein Menschenfischer zu sein, dazu verwandt, ein guter Botschafter der Bürgergesellschaft zu werden, mit Humor, mit Seele, mit Empathie für die Menschen und ihre Ängste und Hoffnungen. Ich danke Ihnen besonders für Ihre eindrucksvoll-sensible Rede in Erfurt nach der entsetzlichen Bluttat. ({4}) Den Zusammenhalt der Menschen zu fördern - sowohl in Zeiten politischer Trennung als auch nach der Überwindung der deutschen und europäischen Spaltung -, das war und ist ein lebensprägendes Motiv Johannes Raus. Seine politische Laufbahn begann in den 50er-Jahren. Damals trat er in die Gesamtdeutsche Volkspartei Gustav Heinemanns ein, weil er davon überzeugt war, dass wir uns nicht mit der deutschen Teilung abfinden dürften. Auch in den späteren Jahren - als SPD-Abgeordneter im Landtag, als Wissenschaftsminister und schließlich als Ministerpräsident von NordrheinWestfalen - hielt er an diesem Ziel fest und reiste immer wieder nach Ostdeutschland. Er pflegte den Kontakt trotz aller Widrigkeiten und Spitzeleien. Er war vielen ein treuer und verlässlicher Freund. Ganz offenbar haben die Ostdeutschen das nicht vergessen und sie haben das persönliche Interesse des Bundespräsidenten an ihren Sorgen und Problemen gespürt. Johannes Rau hat jedenfalls die Zustimmung von mehr als zwei Dritteln aller Ostdeutschen. In diesem Fall bin ich gerne bereit, den Ergebnissen von Meinungsumfragen zu glauben. Seinen Anspruch, Präsident aller Deutschen zu sein und den Zusammenhalt von Ost und West zu stärken, hat der scheidende Bundespräsident in unzähligen Besuchen und Gesprächen mit den Menschen in Ost und West eingelöst. Damit hat er nicht zuletzt auch gezeigt, dass sich die Eignung zu diesem Amt nicht in der Erfüllung bestimmter formaler Kriterien wie Mann oder Frau, Ostdeutscher oder Westdeutscher erweist, sondern vor allem in der Persönlichkeit und den Leistungen des jeweiligen Amtsinhabers. ({5}) Herr Bundespräsident, verehrter Johannes Rau, mit Ihnen hatten die Menschen in Deutschland einen Präsidenten, der die Lebenserfahrung und die Glaubwürdigkeit hatte, „moralische Instanz“ zu sein. Sie konnten in schwieriger Zeit Rat und Orientierung, Zuspruch und Zuversicht geben; denn Sie vereinen in sich in glücklicher Weise politische Erfahrung, Lebensklugheit und Menschenfreundlichkeit. Ihre Fähigkeiten und Gaben haben nicht nur anderen Menschen Vertrauen eingeflößt, sondern auch Ihnen persönlich geholfen, schwierige Zeiten durchzustehen. Ich will hier nicht von Krankheit und anderen Schicksalsschlägen reden; auch die haben Sie zu überwinden und zu verkraften gehabt. Ich will daran erinnern, dass Ihnen - auch das ein Ausdruck der veränderten Stimmung im Lande - die Zeit Ihrer Kandidatur und der Anfang Ihrer Amtszeit von einer skandalsüchtigen Öffentlichkeit nicht gerade leicht gemacht worden sind. Ich halte es auch im Rückblick für einen höchst bedenklichen Vorgang, dass einige Medien nicht einmal mehr vor der Würde des höchsten Staatsamtes Halt gemacht haben. Aber Sie haben diejenigen, die Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit eher abschätzig behandelt haben, auf überzeugende Weise widerlegt, auf eine Weise, die Ihnen die überwältigende Zustimmung der Bürger unseres Landes eingebracht hat. ({6}) Präsident Wolfgang Thierse So hat Johannes Rau auch die schwierigen Seiten dieses gewiss schönen Amtes erlebt und erfahren. Zwischen dem in unserer Mediengesellschaft immer stärker werdenden Zwang zur Unterhaltung und dem unausweichlichen Ernst der Politik besteht ein Zwiespalt, der den Bundespräsidenten, der doch vor allem über das gesprochene Wort wirkt, in besonderer Weise betrifft. Wie soll, wie kann er sich Gehör verschaffen, wenn auf 40 Kanälen rund um die Uhr geredet wird? Wie soll er Gedankentiefe weitergeben, wo alles auf oberflächliche Zerstreuung ausgerichtet scheint? Johannes Rau hat sich diesem Dilemma auf eine für ihn typische Art und Weise entzogen: indem er nicht auf Kameras, sondern auf Menschen zuging. Wie oft ist gerade diese seiner Fähigkeiten, auf Menschen zuzugehen, beschrieben und bewundert worden! Die Nähe zu den Menschen war ihm ein Bedürfnis und es war ihm ernst mit dem von ihm oft zitierten Diktum Hannah Arendts, Politik sei angewandte Liebe zur Welt. Den scheidenden Bundespräsidenten hat immer die Frage bewegt, welches Bild vom Menschen und welches Bild vom menschlichen Zusammenleben wir haben und vermitteln. Das Wohl der Menschen gilt ihm als der Maßstab, an dem sich Politik zu orientieren hat. In seiner Antrittsrede hat er gemahnt, diesen Maßstab auch anzulegen, wenn es um die große politische Gestaltungsaufgabe der Gegenwart geht, die Globalisierung. Die entscheidenden Fragen dabei waren für ihn, wie privates Wirtschaften und öffentliche Verantwortung im Interesse aller in ein neues Gleichgewicht gebracht werden könnten und wie das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bei uns zu Hause und auf unserem Globus gelöst werden solle. Mit Sorge beobachtet er, dass gewachsene Werte an Verbindlichkeit, bewährte Institutionen an Bindekraft verlieren und viele von allem den Preis kennen und von nichts mehr den Wert. So hat Johannes Rau davor gewarnt, über dem Streben nach wirtschaftlichem Erfolg den Wert von Solidarität für den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu unterschätzen. Deshalb verteidigt er vehement die Schutzfunktion des Staates und das Modell des europäischen Sozialstaates. Ich bin sicher, dass dieses Thema, das Sie so bewegt hat, noch lange über Ihre Amtszeit hinaus aktuell bleibt. Das gilt auch für die Fragen der Zuwanderung und der Integration, das Thema Ihrer ersten Berliner Rede. Es ist leider nicht mehr gelungen, vor Ablauf Ihrer Amtszeit das Zuwanderungsgesetz zu beschließen. Wir alle wissen, dass Sie es gerne noch selbst unterzeichnet hätten. Auch dies ist eine Aufgabe, die uns weiter beschäftigen wird. ({7}) Herr Bundespräsident Rau, in vielen Gesten haben Sie gezeigt, wie gern Sie dieses Amt ausgeübt haben weil Sie darin mehr bewirken und gestalten konnten, als man dem Amt gemeinhin zuschreibt. Johannes Rau, wir haben es bemerkt: Das Amt hat Sie ausgefüllt und Sie haben das Amt ausgefüllt - als ein wirklicher Bürgerpräsident! ({8}) Vor kurzem haben Sie erzählt, Sie läsen von Verfassungsrechtlern, dieses Amt sei „ärmlich“ ausgestattet dabei hätten Sie selbst es als eine überaus reiche Erfahrung erlebt. Auch für uns Deutsche war - das darf ich wohl im Namen aller sagen - die Amtszeit von Johannes Rau eine Bereicherung. Viel dazu beigetragen hat Ihre Frau Christina, die mit Ihnen gemeinsam unser Land stets mit der gebotenen Würde, aber auch mit der ihr eigenen frischen und herzlichen Art vertreten hat. ({9}) Wie es inzwischen gute Tradition ist, verehrte Frau Rau, haben Sie Ihre bis dahin geübte Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit aufgegeben und sich dankenswerterweise für viele gute Zwecke engagiert eingesetzt besonders vehement für die Kinder- und Jugendarbeit. Sehr geehrter Herr Rau, verehrte Frau Rau, wir danken Ihnen von Herzen für alles, was Sie für unser Land, für die Demokratie und für die Menschen getan haben, und wünschen Ihnen für die Zukunft alles, alles erdenklich Gute. ({10}) Sehr geehrter Herr Köhler, heute übernehmen Sie das höchste deutsche Staatsamt, in das Sie die Bundesversammlung am 23. Mai gewählt hat. Jede Persönlichkeit, die dieses Amt innehat, führt es auf ihre individuelle Art und Weise. Ein solcher Wechsel des Amtsinhabers ist daher immer ein Neuanfang; doch vielleicht ist er es heute in besonderem Maße. Der scheidende und der neu gewählte Bundespräsident kommen aus verschiedenen Berufen, Traditionen, Generationen. Was das für die kommende Amtsperiode bedeutet, können wir natürlich noch nicht absehen. Auch habe ich Ihnen heute noch keine Laudatio zu halten. Doch möchte ich Ihnen sagen, wie sehr wir gespannt sind, wie Sie die Herausforderungen meistern, die mit diesem Amt verbunden sind. Groß sind auch die Erwartungen an Sie. Deshalb wünscht Ihnen das deutsche Parlament gutes Gelingen und eine glückliche Hand. Ich wünsche Ihnen für Ihre große Aufgabe viel Kraft und Klugheit und Gottes Segen. ({11}) Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, Dieter Althaus.

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Meine Herren Präsidenten! Herr Bundeskanzler! Exzellenzen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundestag und Bundesrat sind heute zusammengetreten, um Professor Horst Köhler als neuen Bundespräsidenten zu vereidigen und in sein Amt einzuführen. Doch zunächst habe ich die ehrenvolle Aufgabe, im Namen des Bundesrates dem scheidenden Bundespräsidenten Johannes Rau und seiner Frau Christina herzlich zu danken. Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident Rau, haben das höchste Amt in unserem Staat geprägt - mit Humor Präsident des Bundesrates Dieter Althaus und Bibelfestigkeit. Dabei konnten Sie auf einen immensen politischen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Sie zählen zu den Persönlichkeiten, die das politische Leben in unserem Land über Jahrzehnte maßgeblich mitgestaltet haben: als engagierter Kommunalpolitiker und Oberbürgermeister von Wuppertal, als langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Die beruflichen Stationen haben gewechselt; Ihr ganz persönlicher, auf Ausgleich und Vermittlung setzender Politikstil und Ihre Motivation blieben unverändert: Sie wollten Politik aus christlicher Verantwortung gestalten. Ihre Bereitschaft, sich in Politik und Gesellschaft aktiv einzubringen, geht auf eine Art Pfingsterlebnis im Jahr 1950 zurück, ein Erlebnis, das Sie für Ihr ganzes Leben geprägt hat: Sie waren 19 Jahre alt, als der damalige Bundesinnenminister Gustav Heinemann bei einer Tagung der Schülerbibelkreise in Marburg die These vertrat, Christen sei der Verzicht auf politische Verantwortung nicht erlaubt, ja, er sei gar nicht möglich, wörtlich: … denn der, der nicht handelt, lässt sich behandeln und der, der nicht handelt, ist dem Mitmenschen kein Nächster. Dem Mitmenschen ein Nächster sein - diesem Leitsatz sind Sie stets treu geblieben. Herr Bundespräsident Rau, Ihr jahrzehntelanges politisches und gesellschaftliches Engagement ist auch daraus erwachsen, dass Sie sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden wollten. Ich erinnere zum Beispiel an Ihr Engagement in der Gesamtdeutschen Volkspartei Anfang der 50er-Jahre, als Ihr Mentor Gustav Heinemann sowie Helene Wessel und andere Mitstreiter überzeugt waren, der Weg zur Wiedervereinigung könne nur unter Verzicht auf die Wiederbewaffnung und die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland offen gehalten werden. Der spätere Wechsel zur Sozialdemokratie ist Ihnen nach eigener Aussage - wörtlich - „sehr schwer gefallen“. ({0}) Es ist Ihnen und Ihrer Frau Christina gelungen - so hat es Wolfgang Thierse am 23. Mai 2004 in der Bundesversammlung wörtlich gesagt -, „unseren Blick immer wieder neu dafür zu schärfen, welche Bereicherung die Einheit unseres Landes und das Zusammenwachsen Europas für uns bedeutet“. In der Tat: Die Einheit unseres Vaterlandes und das Zusammenwachsen Europas in Frieden und Freiheit bereichern uns alle. ({1}) Frieden und Freiheit sind eben keine Selbstverständlichkeit. Deshalb ist und bleibt es wichtig, immer wieder an die Bedeutung dieser Werte zu erinnern, gerade in einer Zeit des Umbruchs, in der sich Deutschland gegenwärtig befindet. Sehr geehrter Herr Bundespräsident Rau, vor Ihrer Zeit im höchsten Staatsamt dieser Republik gehörten Sie fast drei Jahrzehnte dem Bundesrat an, davon 20 Jahre lang als Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Landes. Sie haben es in dieser Zeit sogar zweimal geschafft, Präsident des Bundesrates zu sein. Es ist unbestritten, dass der föderale Staatsaufbau einen wichtigen Beitrag zu unserer freiheitlichen Ordnung leistet. Wo subsidiär gedacht und gehandelt wird, ist die Gefahr geringer, dass sich einseitige und unkontrollierbare Machtpotenziale bilden, die die Freiheit bedrohen oder zumindest einschränken. Nicht umsonst ließ die SED in der damaligen DDR zuerst die Länder zerschlagen - ein Willkürakt, der von der Bevölkerung niemals akzeptiert wurde. Es war deshalb keine Überraschung, dass mit dem Ruf nach der deutschen Einheit im Herbst 1989 auch der Ruf nach der Wiedergründung der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen laut wurde. Sie, verehrter Herr Bundespräsident Rau, sind ein engagierter Verfechter des föderalen Prinzips. Aber Sie weisen auch darauf hin, dass die politisch Verantwortlichen - das geht vom Bund bis zu den Kommunen - zu oft in einer „Verflechtungsfalle“ gefangen sind. Wir haben die Aufgabe, den Föderalismus lebendig zu halten und weiter zu stärken, „weil aus der Vielfalt eine Stärke erwächst, von der alle Länder profitieren können“. In den letzten Jahren ist die Einsicht gewachsen, dass der Föderalismus, unbestreitbar ein Eckpfeiler unserer Demokratie, aus der Symmetrie geraten ist. Deutschland braucht weniger Kompetenzwirrwarr und schnellere, einfache Entscheidungsprozesse, die für die Menschen nachvollziehbar sind. Die Vorteile liegen auf der Hand: mehr Bürgernähe und Transparenz, eine stärkere Orientierung an regionalen Besonderheiten, ein offener Wettbewerb um die beste Politik. Die föderale Ordnung, so haben Sie einmal gesagt, Herr Bundespräsident, erwachse aus Zusammengehörigkeitsgefühl, Vertrauen, Solidarität und gegenseitigen Zugeständnissen. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass den Vätern und Müttern des Grundgesetzes etwas Entscheidendes gemeinsam gewesen ist: das Bewusstsein, nicht bloß für Einzelinteressen, sondern für das Gemeinwesen als Ganzes verantwortlich zu sein, und der feste Wille, dieser Verantwortung nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden. Es ist richtig: Eine Reform unserer föderalen Verfassung kann nur in einem solchen Geist gelingen. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung genau von diesem Geist leiten lässt und deshalb zu greifbaren Ergebnissen gelangt. Sie, verehrter Herr Bundespräsident Rau, haben Reformen in Politik und Gesellschaft angemahnt und Sie haben in Ihrer letzten Berliner Rede auch gesagt, auf welcher Basis dies geschehen muss. Die Grundlage für die notwendigen Veränderungen, für eine menschliche Gestaltung der Zukunft sind Vertrauen und Verantwortung. Sie haben wörtlich gesagt: „Vertrauen in die, die Präsident des Bundesrates Dieter Althaus für uns Verantwortung tragen, und die Bereitschaft, selber Verantwortung zu übernehmen“. Was tun wir, die politisch Verantwortlichen, um verloren gegangenes Vertrauen bei den Menschen zurückzugewinnen? Werden wir unserem Auftrag gerecht? Das sind Fragen, denen sich nicht nur die politische Klasse, sondern auch die Wirtschaftselite stellen muss, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Die anhaltende Wachstumsschwäche und die damit verbundene Krise auf dem Arbeitsmarkt ist, so meine ich, die größte Bewährungsprobe. Die Arbeitslosigkeit ist, um es mit Ihren Worten auszudrücken, die „größte Wunde der Gesellschaft“. Sie gefährdet auf Dauer den inneren Zusammenhalt der Nation. Um der Zukunft unseres Landes willen sind substanzielle Reformen zwingend. Herr Bundespräsident Rau, Sie haben in zahlreichen öffentlichen Reden und Stellungnahmen wichtige Akzente gesetzt. Ihre Position zur Genforschung hat mich besonders beeindruckt. Wenn der Mensch eben nicht das Maß aller Dinge ist, dann gibt es auch Grenzen in der Politik, Grenzen wirtschaftlicher, technischer und medizinischer Machbarkeit. Was ethisch unvertretbar ist, wird nicht dadurch zulässig, dass es wirtschaftlichen Nutzen bringt. ({2}) Ihre eindringliche Mahnung ist aktueller denn je. Sie wollten Schritt für Schritt Menschen zusammenführen. Dabei lag Ihnen das Verhältnis zwischen Deutschen und ausländischen Mitbürgern besonders am Herzen. In Ihrer ersten „Berliner Rede“ haben Sie dazu aufgerufen, „ohne Angst und ohne Träumereien“ aufeinander zuzugehen. Dabei haben Sie mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Integration zweierlei voraussetzt: die Offenheit der angestammten Bevölkerung und die Bereitschaft der neu Dazugekommenen, auch dazugehören zu wollen. Dass Deutschland eine grundlegende Neuregelung der Zuwanderungspolitik braucht, war stets Ihre feste Überzeugung. Es ist gut, dass eine Lösung gefunden ist, dank einer gemeinsamen erfolgreichen Arbeit. In Ihre Amtszeit fallen Konflikte in Europa und anderen Teilen der Welt, die viele Opfer gefordert haben. Ich denke etwa an den Balkan, an Afghanistan und den Irak, aber auch an die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, der vor keinem Land Halt macht. Sie haben deutlich gemacht, dass es in unserem eigenen deutschen Interesse liegt, Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Wo zivile Mittel zur Konfliktlösung nicht mehr greifen - wie das Beispiel Milosevic gezeigt hat -, müssen wir bereit sein, Gewalt auch mit militärischen Mitteln zu begegnen - und diese Bereitschaft muss glaubwürdig sein. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir Deutsche eine besondere Verantwortung für den Staat Israel und das jüdische Volk tragen. Als erstes deutsches Staatsoberhaupt durften Sie vor dem israelischen Parlament sprechen und haben um Vergebung für die Verbrechen des Holocaust gebeten. Herr Bundespräsident Rau, die Menschen haben Sie als volksnahen Präsidenten erlebt, der seine Aufgaben mit Lebensfreude und Humor wahrgenommen hat. Ich danke Ihnen im Namen des Bundesrates und, so denke ich, im Namen aller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ganz herzlich für diesen Dienst. ({3}) Sehr verehrte Frau Rau, Sie haben als First Lady die Belastungen mitgetragen, die mit dem Amt des Bundespräsidenten verbunden sind. Als Schirmherrin verschiedener Organisationen haben Sie sich besonders für die Entwicklungschancen von Kindern und jungen Menschen eingesetzt. Ihr vielfältiges soziales Engagement, das mit dem heutigen Tag nicht beendet sein wird, hat vielen geholfen und Zeichen gesetzt. Mit Ihrer ebenso natürlichen wie den Menschen zugewandten Art haben Sie die Herzen gewonnen. Auch Ihnen gebührt der Dank des Bundesrates, den ich an dieser Stelle von ganzem Herzen ausspreche. ({4}) Sie, verehrter Herr Bundespräsident Köhler, haben nach Ihrer Wahl dazu aufgerufen, wieder mehr auf die „Kraft der Freiheit“ zu vertrauen. Es ist die Kraft, die dazu beigetragen hat, die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes zu erreichen, einen föderalen Bundesstaat mit starken, selbstbewussten Ländern zu vollenden. Sie verstehen sich nicht nur als Bundespräsident aller Deutschen. Sie möchten als Präsident aller Menschen, die in Deutschland leben, etwas von dem zurückgeben, was Ihnen die Heimat geschenkt hat. Mit Ihnen ist eine Persönlichkeit zum Staatsoberhaupt gewählt worden, die in den letzten Jahren herausragende Positionen im Ausland bekleidet hat: zunächst als Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, anschließend als Direktor des Internationalen Währungsfonds in Washington. Ich sehe darin eine große Chance: Sie verfügen über den klaren, unverfälschten Blick, der sich häufig erst durch die Sicht von außen, aus einiger Distanz ergibt. An Ihrem Beispiel wird deutlich, dass Weltoffenheit und Patriotismus keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen. ({5}) Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Sie haben sie nach Ihrer Wahl vor der Bundesversammlung umrissen. Eine grundlegende Erneuerung des Landes ist überfällig. Antworten müssen auch auf die neuen Anforderungen gegeben werden, die im europäischen und internationalen Kontext auf Deutschland zukommen. Was Deutschland im 21. Jahrhundert sein will, was es sein kann und wohin dieses Land will, darüber müssen wir ernsthaft diskutieren. Herr Bundespräsident Köhler, Sie gelten als ein Mann des klaren Wortes, der offenen und notfalls unbequemen Worte, dem bereits in seinen früheren Funktionen ein hohes Maß an politischer Unabhängigkeit bescheinigt Präsident des Bundesrates Dieter Althaus worden ist. Damit verfügen Sie über eine wichtige Eigenschaft, die Sie für das höchste deutsche Staatsamt geradezu prädestiniert. In der notwendigen Auseinandersetzung um die richtigen Lösungen für unser Land sind die Menschen dankbar für jedes mutige und klare Wort, das zu mehr Entschlossenheit, Tatkraft, Stetigkeit und Orientierung bei den sozialen und wirtschaftlichen Reformen führt. Im Namen des Bundesrates wünsche ich Ihnen und Ihrer Frau, die Sie bei Ihren Aufgaben unterstützen und begleiten wird, Gottes Segen und eine glückliche Hand für unser Vaterland. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Präsident Rau, nun haben Sie das Wort. Dr. h. c. Johannes Rau: Herr Bundestagspräsident! Herr Bundesratspräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin in den vergangenen Wochen oft gefragt worden, ob ich im Hinblick auf das Ende meiner Amtszeit wehmütig sei. Ich habe wahrheitsgemäß geantwortet: Nein. Der Wechsel ist ein Wesenszug der Demokratie. So wie meine Vorgänger ihre ganz besonderen Begabungen in das Amt des Bundespräsidenten eingebracht haben, so habe auch ich das zu tun versucht und so werden es auch Sie, Herr Bundespräsident Köhler, tun; dessen bin ich mir sicher. Es ist aber doch ein ganz besonderer Tag für mich, denn heute geht eine lange politische Wegstrecke zu Ende. Die beiden Präsidenten haben es schon angesprochen. Im Dezember 1952 gewann mich Gustav Heinemann für seine neue Partei. Heute übergebe ich das Amt, das er einst innegehabt hat, an meinen Nachfolger. Ich habe in diesen Jahren viel erlebt. Ich durfte an entscheidenden Entwicklungen und Ereignissen in der Geschichte unseres Landes teilhaben. Darum empfinde ich in diesem Augenblick vor allem Dankbarkeit. Ich will deshalb zunächst Dank sagen: zuallererst meiner Frau, ({0}) die mich zusammen mit meiner Familie in den vergangenen Jahren so großartig unterstützt und dabei so viel Verständnis für manche Zumutung gezeigt hat. Ich möchte ihr ganz besonders dafür danken, dass sie mit so viel Einsatz und Erfolg das in der Verfassung gar nicht vorgesehene Amt der Frau des Bundespräsidenten mit ihrem eigenen Stil ausgefüllt hat. ({1}) Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundespräsidialamt, die mir in diesen Jahren zur Seite standen, und den vielen Menschen, die mir in ganz unterschiedlichen Funktionen geholfen haben, die mich beraten, die mich begleitet, die mich beschützt haben. Sie alle sind auch gemeint, wenn ich selber in diesen Tagen den Dank anderer erfahre. ({2}) Meine Damen und Herren, ich will keine Bilanz der vergangenen fünf Jahre ziehen. Aber zwei Gedanken sind mir doch wichtig. Im kommenden Jahr werden wir den 60. Jahrestag des Kriegsendes begehen. Viele Menschen haben inzwischen ein sehr nüchternes Verhältnis zu solchen Gedenktagen. Für mich und für viele Menschen meiner Generation ist das anders. Ich habe die Befreiung von der Diktatur noch selber erlebt und ich habe erfahren, wohin diese Diktatur geführt hat. Ich habe erlebt, wie sich ein Volk veränderte, wie verführbar Menschen sind und wie ein menschenverachtendes Regime die Welt mit Krieg und Zerstörung überzog. Ich habe erlebt, wie Menschen verschleppt wurden und nie mehr wiederkehrten. Ich habe furchtbare menschliche Tragödien erlebt und war selber Zeuge schrecklicher Bombenangriffe. Ich sage das, weil die Erinnerung an diese Zeit häufig zum bloßen Ritual geworden ist und weil wir dadurch den Blick verlieren könnten für ein großes Geschenk, das mich bis heute mit großer Dankbarkeit erfüllt: Deutschland hat eine zweite Chance erhalten und wir haben diese Chance genutzt. Unser Volk lebt seit sechs Jahrzehnten in Frieden. Wir leben zum ersten Mal in unserer Geschichte in Freundschaft mit allen unseren Nachbarn und gestalten ein Europa des Friedens. Ich wünsche mir, dass wir daran gelegentlich denken, wenn uns im politischen Tagesgeschäft Kleinmut überfällt oder wenn die politischen Auseinandersetzungen allzu kleinlich werden. Ich wünsche mir auch, dass wir uns der Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts bewusst bleiben. Rechtsstaatlichkeit, der unbedingte Einsatz für Menschenrechte und die Bereitschaft zu fairem Ausgleich haben uns zu einem weltweit geachteten Mitglied der Völkergemeinschaft werden lassen. Wir tragen Verantwortung. Das ist eine Verpflichtung, die über die Wahrung der eigenen Interessen weit hinausgeht. Das hat uns viel Vertrauen eingebracht. Dabei liegt mir ein Land und die Freundschaft zu seinen Menschen besonders am Herzen. Sie haben es erwähnt. Ich will heute wiederholen, was ich vor vier Jahren vor der Knesset gesagt habe: Die Mitverantwortung für Israel ist ein Grundgesetz deutscher Außenpolitik seit der Gründung unseres Staates. ({3}) Das galt ganz unabhängig von Regierungen und politischen Entscheidungen und Handlungen und das muss auch in Zukunft gelten. Der zweite Gedanke hat ebenfalls mit Verantwortung zu tun, mit der Verantwortung füreinander. Nach dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt habe ich bei der Trauerfeier für die Opfer dieses unfassbaren Verbrechens gesprochen. Es war eine der schwierigsten Reden, die ich je gehalten habe. Ein Satz war mir besonders wichtig: Wir müssen einander achten und wir müssen aufeinander achten. Viele haben mir damals zugestimmt. Wir sollten uns aber nicht nur in Zeiten von Unglück und Krisen, nicht nur bei Hochwasser oder anderen Katastrophen an das erinnern, was eine Gesellschaft erst menschlich macht. Unser Land lebt vom Fleiß und vom Dr. h. c. Johannes Rau Einfallsreichtum seiner Menschen. Unser Land lebt aber auch von Solidarität und Mitgefühl, von praktizierter Nächstenliebe. Es ist schrecklich, wenn Menschen keine Arbeit finden. Es muss die wichtigste Aufgabe der Politik bleiben, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Noch schlimmer aber ist es, wenn Menschen keinen Platz in der Gesellschaft finden. Wir tragen Verantwortung füreinander und es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne Solidarität. Das gilt im Kleinen wie im Großen. ({4}) Solidarität ist mehr als das Bündnis der Schwachen mit den Schwachen. Solidarität heißt, dass die Starken für die Schwachen einstehen. Solidarität heißt, dass wir Verantwortung füreinander übernehmen: Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Einsame und Gesellige, Arbeitende und Arbeitslose. Solidarität heißt, dass jeder dem Land gibt, was er kann. Das bedeutet, dass wir gelegentlich das Wohl der ganzen Gesellschaft über die eigenen Belange stellen: in Ost und West, in den starken und in den schwächeren Regionen unseres Landes. Dieser Zusammenhalt in Deutschland war mir eine Herzenssache. Ich habe mich in den vergangenen fünf Jahren bemüht, für die Mehrheit zu sprechen und zugleich den Minderheiten zur Sprache zu verhelfen. Ich bin unendlich vielen Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Begabungen, Stärken und Talenten begegnet. Jeder Mensch in unserem Land - ganz gleich, woher er kommt, was er glaubt, was er leistet oder verdient - hat seine eigene Geschichte und seine eigene Würde. ({5}) Ich bin dankbar für das Vertrauen, das mir so viele Menschen entgegengebracht haben, und für die Offenheit, mit der sie mir begegnet sind. Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Bundespräsident Köhler, dass Sie die gleiche Offenheit und das gleiche Vertrauen erfahren. Bei aller Kritik: Es ist ein wunderbares Land, in dem wir leben. Ich wünsche unserem Land Mut, Zuversicht und Gottes Segen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Präsident Rau, in Respekt vor Ihrer Leistung haben sich die Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates erhoben, um im Namen des deutschen Volkes vor der Öffentlichkeit zu bekunden: Johannes Rau hat sich um das Vaterland verdient gemacht. ({0}) Meine Damen und Herren, am 23. Mai dieses Jahres hat die Bundesversammlung Herrn Professor Dr. Horst Köhler zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Herr Professor Dr. Horst Köhler hat vor der Bundesversammlung die Wahl angenommen und mit dem heutigen Tage das Amt des Bundespräsidenten angetreten. Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsident, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten. Dazu bitte ich auch den Herrn Präsidenten des Bundesrates. ({1}) Herr Bundespräsident, ich halte die Urschrift des Grundgesetzes und bitte Sie, den nach Art. 56 vorgeschriebenen Eid zu leisten.

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Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Bundespräsident, Sie haben den vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen für Sie und unser Vaterland. ({0}) Das Wort hat der Herr Bundespräsident.

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Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Herr Präsident des Bundesrates! Herr Bundespräsident Rau! Sehr verehrte Frau Rau! Herr Bundeskanzler! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Meine Damen und Herren! Ich danke ganz herzlich für die freundlichen Worte und guten Wünsche. Darüber freue ich mich. Sie sind mir Ansporn und Ermutigung für mein Amt. Ihnen, sehr verehrter Herr Bundespräsident Rau, ist gedankt und Sie sind gewürdigt worden. Ich erinnere mich gern an unsere Diskussion über die Globalisierung. Wir waren uns einig, dass die Globalisierung Chancen bietet, dass sie aber auch der politischen Gestaltung bedarf. Für Sie, lieber Herr Rau, ist es immer der einzelne Mensch in seiner unverwechselbaren Würde, der im Zentrum Ihres Denkens und Handelns steht. Und es ist Ihr christlicher Glaube, der Ihr Menschenbild prägt. So haben Sie das Vertrauen der Menschen gewonnen. So waren Sie im besten Sinne ein Bürgerpräsident. So bleiben Sie uns Vorbild. Lieber Herr Rau, wir danken Ihnen heute dafür. Wir danken Ihnen für Ihren großen Dienst an unserem Land. ({0}) Sie sagten einmal: „Ohne meine Frau hätte ich dieses Amt nicht ausfüllen können.“ Ich bin überzeugt: Auch mir wird es nicht anders gehen. ({1}) Umso mehr, liebe Frau Rau, gebühren auch Ihnen heute Respekt und Anerkennung. Mit Ihrem zupackenden Einsatz vor allem für Kinder in Not und dabei besonders für Bundespräsident Professor Dr. Horst Köhler Straßenkinder haben Sie Herzen geöffnet und gewonnen. Sie haben gezeigt: Not und Bedürftigkeit sind nicht anonym. Dahinter stehen Namen, Namen von Menschen, mit deren Schicksal man sich nicht abfinden darf. Sie haben viel Gutes getan, liebe Frau Rau. Danke dafür! ({2}) Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zunächst von etwas berichten, was mich in dieser Form schon etwas verwundert hat. Seit dem 23. Mai, dem Tag der Bundesversammlung, werde ich immer wieder gefragt: „Was genau lieben Sie an Deutschland?“ oder „Warum lieben Sie denn Deutschland?“ Wenn ich dann auf die Landschaften, die Dialekte, die Literatur, die Musik verweise, sagen die Leute: „Na ja, das ist sicher richtig.“ Aber sie sagen auch: „Das allein kann es ja wohl nicht sein.“ Und tatsächlich: Landschaft, Sprache, Musik - ist das wirklich alles? Zumal in einer Zeit, in der nicht wenige Menschen in Deutschland große Sorgen haben, in der unser Land unübersehbar in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist, in der sich neue Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft bemerkbar machen. Spaltungen, wie sie es in dieser Form vor zwei oder drei Jahrzehnten noch nicht gab. Damit meine ich nicht allein Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Ich meine die Unterschiede, die mitten durch unsere Gemeinschaft gehen: Menschen, die Arbeit haben, und diejenigen, die ohne Aussicht auf Arbeit leben; Gutverdienende ohne Kinder und Familien mit Kindern oder Alleinerziehende ohne geregeltes Einkommen und Perspektive. Ich meine die dramatische Alterung der Bevölkerung mit drohenden Konflikten zwischen Alt und Jung. Und ich meine auch die Gefahr der Entwicklung von Parallelgesellschaften in unseren Städten, ausgelöst dadurch, dass die Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion nicht klappt. Meine Damen und Herren, wahr ist aber auch: Die Schönheit unseres Landes, die Geschichte unseres Landes, die Probleme unseres Landes - das alles ist und bleibt Deutschland. Das ist unser Land - wir haben kein anderes Land -, das ist unsere Heimat. Und wahr bleibt auch: Trotz aller Schwierigkeiten, Probleme und Krisen, die unser Land zurzeit durchläuft, geht es uns Deutschen weit besser als drei Vierteln der Menschheit. ({3}) Wissen wir eigentlich, was es heißt, von weniger als 2 Euro am Tag leben zu müssen - wie über 3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten? Doch ich will diesem Argument auch keinen falschen Zungenschlag geben. Dass es anderen in der Welt schlechter geht, ist sicherlich kein Trost für diejenigen bei uns, die ihren Cent dreimal umdrehen müssen. Dennoch: Unser Land sollte uns etwas wert sein. Trotz aller aktuellen Schwierigkeiten stehen das Grundgesetz und die soziale Marktwirtschaft für eine besonders glückliche und friedliche Phase unseres Landes; Bundespräsident Rau hat darauf hingewiesen. Ich selber bin Teil einer Generation, die die Geschichte der Bundesrepublik als einzigartige Erfolgsgeschichte miterlebt hat, von der Aussöhnung mit unseren Nachbarn über das Wirtschaftswunder bis zur Wiedervereinigung. All dies sind große historische Leistungen und gute Gründe, uns selbst zu vertrauen, uns etwas zuzutrauen. Es sind für mich gute Gründe, unser Land, unsere Heimat, zu lieben. Und deshalb frage ich: Kann es uns egal sein, ob unser Land wächst und gedeiht oder im globalen Wettbewerb weiter zurückfällt? Kann es uns egal sein, ob einer der Motoren Europas immer mehr ins Stottern gerät, wie manche sagen? Ich denke, nicht. Warum? Erstens, weil unsere Partner in Europa und in der Welt auf uns schauen und zu Recht viel von uns erwarten. Wir sind 80 Millionen Menschen im Herzen Europas und wir haben gar keine andere Wahl, als Verantwortung zu übernehmen. Deutschland muss ein Land sein, das Ideen zur politischen Gestaltung hat und zum Ausgleich fähig ist, das souverän ist und gleichzeitig weiß, dass es seine Partner dies- und jenseits des Atlantik braucht. Vor wenigen Wochen wurden wir daran erinnert, dass andere Völker - im Besonderen die Vereinigten Staaten von Amerika - dafür gekämpft haben, dass wir Deutsche in Freiheit leben können. Das sollten wir nie vergessen. ({4}) Für mich ist Freiheit der wichtigste Wert, der Europa und Amerika dauerhaft verbindet, und ich sehe Amerika weiterhin als Hort der Freiheit. Es ist wahr: Die Amerikaner haben ihre Fehler gemacht, wir Europäer die unsrigen. Klar ist für mich aber auch: Niemandem kann an einem Zerrbild Amerikas in der Welt gelegen sein. Das schadet allen, die auf dieser Welt für Freiheit und Demokratie eintreten. Wir Deutsche sollten uns um eine gute Partnerschaft und einen neuen Dialog mit Amerika bemühen - selbstbewusst und auch fähig zur Kritik unter Freunden, mit denen uns gemeinsame Werte und Interessen verbinden. ({5}) Gemeinsame Werte und gemeinsame Interessen - das trägt mehr und weiter als nur Dankbarkeit. Viele Menschen unseres Landes leisten bereits jeden Tag in vorbildlicher Weise ihren Beitrag für Freiheit und internationale Stabilität. Ich möchte unseren Soldaten, der Polizei, dem Bundesgrenzschutz, dem Technischen Hilfswerk, den karitativen Organisationen und den vielen Nichtregierungsorganisationen danken. Sie leisten in aller Welt einen großartigen Dienst und sind exzellente Botschafter für Deutschland. ({6}) Meine Damen und Herren, Deutschlands Schicksal entscheidet sich vor allem in Europa. Versöhnung und Zusammenarbeit in Europa haben uns Freiheit, Frieden und Wohlstand gesichert. Wer hätte vor 50 Jahren all dies zu glauben gewagt? Die Erweiterung der Europäischen Union und die Einigung der Staats- und Regierungschefs auf den Verfassungsvertrag sind weitere Meilensteine auf dem Weg zu einem vereinten Europa, einer Bundespräsident Professor Dr. Horst Köhler Wertegemeinschaft. Deutschland sollte diesen Weg weiter mit Festigkeit und auch Geduld gehen. Aber es muss uns nachdenklich stimmen, dass kaum mehr als vier von zehn Deutschen bei der diesjährigen Europawahl wählen gingen. Zu viele Bürger verstehen Europa offensichtlich nicht. Lassen Sie uns gemeinsam Europa besser erklären. Ich möchte als Bundespräsident dazu beitragen, das Gefühl der europäischen Identität zu stärken. Sie verdrängt die nationale Identität ja nicht. Transparenz, demokratische Entscheidungsprozesse und eine klare Zuordnung der Kompetenzen - das wird den Menschen das Gefühl nehmen, einer anonymen Bürokratie in Europa ausgeliefert zu sein, und daran wird die neue Verfassungswirklichkeit gemessen werden. Die deutsch-französische Freundschaft ist in über vier Jahrzehnten von einer Vision zu gelebter Wirklichkeit geworden. Sie war entscheidend für die Einigung Europas. Eine neue historische Phase für Europa hat mit der Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 begonnen. Ich empfinde diese Phase gerade angesichts meiner eigenen Biografie als Auftrag und Verpflichtung. ({7}) Deshalb werde ich mich für persönliche Begegnungen Deutscher mit den Menschen in den neuen Mitgliedsländern einsetzen, insbesondere für Begegnungen zwischen jungen Menschen. Und deshalb wird mich meine erste Auslandsreise nach Polen und nach Frankreich führen. ({8}) Ich wünsche mir allerdings auch ein Europa, das die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten vorbildlich unterstützt, konkret durch weitere Öffnung der Märkte für die armen Länder und auch durch mehr öffentliche Entwicklungshilfe. ({9}) Bei meiner Arbeit für den Weltwährungsfonds habe ich Hunger und unermessliche Not gesehen, vor allem bei Frauen und Kindern. Doch ich habe auch gesehen, dass gezielte Entwicklungszusammenarbeit viel Gutes tun kann. Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas. ({10}) Ist es nicht eine Frage der Selbstachtung Europas, sich mit Blick auf unsere eigenen Fundamente, unsere Werte und Geschichte in Afrika ehrlich und großzügig zu engagieren? ({11}) Meine Damen und Herren, es gibt einen zweiten, noch wichtigeren Grund, warum wir uns nicht einfach mit dem derzeitigen Zustand unseres Landes abfinden sollten: Wir haben die Verantwortung, die schöpferischen Kräfte der Menschen zu wecken und zur Entfaltung kommen zu lassen. Aus ureigenem Interesse braucht Deutschland einen neuen Aufbruch. Wir müssen die Spaltungen in unserer Gesellschaft überwinden. Das werden wir aber nur schaffen, wenn wir ihre Ursachen bekämpfen und nicht nur Symptome beschreiben und wenn wir unser Land so sehen, wie es ist. Wir haben Stärken, aber wir haben auch Schwächen. Es kommt darauf an, die Stärken zu bewahren und auszubauen. Aus den Schwächen gilt es zu lernen. Ich bin sicher, wir haben alle notwendigen Talente. Was uns fehlt, sind die richtigen Rahmenbedingungen, das richtige Klima, damit sich diese Talente entfalten können. Wir sollten uns nicht selber einreden, wir könnten das nicht packen. ({12}) Bundespräsident Roman Herzog hat schon 1997 gesagt: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“ Er hatte Recht. Nur haben wir seitdem viel Zeit verloren. Warum bekommen wir den Ruck noch immer nicht hin? Weil wir alle immer noch zu sehr darauf warten, dass er passiert. ({13}) Was braucht man für einen Ruck? Nun, man braucht vor allen Dingen Ideen, die verwirklicht werden. Jeder Einzelne hat Ideen, Sie und ich. Aber wir kämpfen nicht genug um ihre Verwirklichung. Wir alle warten. ({14}) Das gilt auch für die Parteien. Die Agenda 2010 weist in die richtige Richtung. ({15}) Was wir jetzt brauchen, ist Konsequenz und Stetigkeit bei der Fortsetzung dieses Weges. ({16}) Deshalb sage ich der Mehrheit im Bundestag und der Mehrheit im Bundesrat: Wir können uns trotz aller Wahlen kein einziges verlorenes Jahr für die Erneuerung Deutschlands mehr leisten. ({17}) Wir brauchen den Mut der Bundesregierung zu Initiativen, die den Weg der Erneuerung konsequent fortschreiben, und wir brauchen den Mut der Opposition, ihre Alternativen umfassend und vollständig klar zu machen. ({18}) Wir brauchen noch etwas: die Fähigkeit zu konstruktiven Kompromissen. Die Einigung über das Zuwanderungsgesetz und das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zur Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zeigen, dass Deutschland in Bewegung kommt. Ich begrüße das. ({19}) Auch die überparteiliche Diskussion zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung - Herr Bundesratspräsident Althaus hat darauf hingewiesen - macht mich zuversichtlich. Derzeit erfordern zu viele Gesetze des Bundestages die Zustimmung des Bundesrates. ({20}) Bundespräsident Professor Dr. Horst Köhler Das Ergebnis sind Kompromisse, hinter denen die Menschen nicht mehr erkennen können, wer wofür verantwortlich ist. ({21}) Ich wünsche mir, dass die Politik die Kraft findet, ihre Zuständigkeiten in Bund, Ländern und Gemeinden klar zu trennen und zu ordnen und Wettbewerb für die bessere Politik zu ermöglichen. ({22}) Nicht zuletzt wünsche ich mir mehr politischen Spielraum für die Verwirklichung von Ideen auf kommunaler Ebene; denn dort droht uns einiges wegzubrechen. ({23}) Wenn wir in diesen Fragen weiterkommen, ist für die Reformfähigkeit unseres Landes viel gewonnen. Meine Damen und Herren, wenn wir wissen, wo wir hinwollen, ist auch ein mühsamer Weg erträglich. Überall wird gesagt, dass wir Reformen brauchen. Ich selbst habe das auch gesagt. Viele Menschen können das Wort Reform aber schon nicht mehr hören. Es ist uns offensichtlich nicht gelungen, das Ziel der Reformen zu erklären. Dieses Ziel zu erklären ist unsere Verpflichtung. ({24}) Was ist denn unser Ziel? Nun, ich sage es ganz einfach: Wir wollen aus Deutschland wieder ein erfolgreiches Land machen, ein Land, in dem Menschen gerne leben, vor allen Dingen ein Land, in dem Menschen Arbeit finden und ihre Ideen entfalten können, ein zuversichtliches Land, ein zupackendes Land, ein Land der Ideen. Das sollten wir erreichen und das können wir erreichen. ({25}) Unsere deutsche Geschichte ist gespickt mit ideenreichen Köpfen. Genau heute, am 1. Juli, vor 358 Jahren wurde Gottfried Wilhelm Leibniz geboren. Dieser Universalgelehrte dachte nicht nur über die mittlerweile sprichwörtliche „beste aller Welten“ nach, sondern hatte dafür auch ganz praktische Ideen, zum Beispiel die Nutzung des Windes zur Grubenentwässerung im Harzbergbau. ({26}) Das ist Ihnen nicht zukunftsträchtig genug? ({27}) Leibniz hat auch, unabhängig von Newton, die Differenzialrechnung erfunden und das binäre Zahlensystem mit den Ziffern 1 und 0 eingeführt, auf dem die moderne Computertechnik fußt - vor über 300 Jahren. Ideen müssen aber zu Taten werden. Sie müssen es werden können. Warum sind wir dennoch in den letzten Jahrzehnten bei Ideen und Innovationen zurückgefallen? Es gibt unzählige Beispiele dafür, wo Ideen in Deutschland entstanden sind, die Arbeitsplätze aber anderswo, zum Beispiel die braunsche Röhre, Konrad Zuses erster Computer oder - ganz aktuell - die MP3-Technik. Ich erkläre jedem nach der Sitzung, was MP3-Technik ist. ({28}) Das ist etwas ganz Modernes. - Diese Dinge wurden bei uns erfunden. Aber weiterentwickelt und wirtschaftlich ausgewertet wurden sie vor allen Dingen anderswo. Ähnliches droht derzeit bei der Nano- und Biotechnologie zu passieren. Hier müssen wir etwas ändern, damit wir nicht zum Brachland der Ideen werden. ({29}) Von der Globalisierung hat Deutschland als Exportnation gerade in den letzten 50 Jahren profitiert wie kaum ein anderes Land der Welt. Wahr ist aber auch, dass uns aktuell immer mehr Länder überholen. Heute heißt es eben in der ganzen Welt mit Respekt zunehmend „Made in China“ oder „Made in Malaysia“. Unsere Antwort kann nicht Abschottung sein, sondern nur die kreativeren Ideen „Made in Germany“. ({30}) An diesem Punkt gibt es für uns Deutsche sogar eine gute Nachricht von der Fußballeuropameisterschaft. ({31}) Der offizielle Ball der EM wird zwar in Asien produziert. Sein aufwendiges Know-how, also der darin enthaltene Wissensanteil, stammt aber aus Deutschland und sichert bei uns Arbeitsplätze. Anders als sein bleischweres, vom Regen voll gesogenes Vorgängermodell beim „Wunder von Bern“ 1954 hat der EM-Ball 2004 eine nahtlose Oberfläche; das ist eine Spitzenleistung deutscher Materialforschung. ({32}) Das zeigt: Vor allem mit Innovationen und Wissensvorsprung können wir einen Weg finden, auch in der Globalisierung Arbeitsplätze bei uns zu sichern. Dazu gehört noch mehr, aber das ist ein wichtiger Teil. Es gibt heute noch unternehmerische Erfolgsgeschichten in Deutschland, zum Beispiel bei der Softwareentwicklung oder im Maschinenbau. Hier gibt es auch deutsche Technologie- und Weltmarktführer. Aber wir haben zu wenige solcher Unternehmen. Wir brauchen mehr davon. Auch im sozialen Bereich brauchen wir noch mehr Ideen, Ideen wie die der Berliner Stadtmission. Diese hat vor fünf Jahren gemeinsam mit privaten Spendern und Firmen das „Zentrum Lehrter Straße“ gegründet. Eine Anlaufstation für Wohnungslose und Strafgefangene ist dort entstanden, ein Jugendgästehaus und gesellschaftliches Forum zugleich. Ohne auf den Staat zu warten, haben sich hier Bürger zusammengeschlossen, um anderen Bürgern in Not tatkräftig zu helfen. Sie waren mutig, kreativ, risikobereit. Sie haben nicht gewartet. Solche Beispiele gibt es noch mehr in Deutschland und wir brauchen auch noch mehr. Auch das sind Ideen „Made in Germany“; auch das lässt mich hoffen und macht mich zuversichtlich. ({33}) Bundespräsident Professor Dr. Horst Köhler Warum tun wir uns aber momentan noch so schwer mit der Erneuerung? Von all den vielen möglichen Antworten möchte ich zwei herausgreifen: Zum einen klammern wir uns schlicht zu sehr an dem fest, was wir haben. Zum anderen leben wir zu sehr in der Angst zu scheitern. Der Sozialstaat ist für mich eine zivilisatorische Errungenschaft, auf die wir stolz sein können. ({34}) Aber der Sozialstaat heutiger Prägung in Deutschland hat sich übernommen. Das ist bitter, aber wahr. ({35}) Wir haben es vor allen Dingen nicht geschafft, den Sozialstaat rechtzeitig auf die Bedingungen einer alternden Gesellschaft und einer veränderten Arbeitswelt einzustellen. Weitere Staatsverschuldung ist auch kein Ausweg, weil die hohen Schulden schon jetzt die Zukunft unserer Kinder belasten. ({36}) Wir brauchen einen Mentalitätswandel in unserem Land, eine neue Balance von Eigenverantwortung und kollektiver Absicherung. Wir müssen auch die Sozialpolitik nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit gestalten, also bei allen Entscheidungen, allen Gesetzesvorhaben immer auch die Auswirkungen auf zukünftige Generationen, unsere Kinder, berücksichtigen. Das haben wir zu lange vernachlässigt. ({37}) Uns allen muss dabei bewusst sein: Der Umbau des Sozialstaates verlangt schon jetzt vielen Menschen in Deutschland vieles ab. Es gibt soziale Härten, weil Einschnitte Menschen treffen, die ohnehin nicht viel haben. Ich weiß das und wir alle sollten das wissen. Niemand kann seriös bereits nach kurzer Zeit neue Verteilungsspielräume versprechen. Umso mehr müssen wir darauf achten, dass alle Verantwortung tragen und Opfer bringen, und zwar entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit. ({38}) Wir brauchen eine „Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land“, wie es die deutschen katholischen Bischöfe formuliert haben. Wohlweislich: Entwicklung, nicht Abriss oder Abbau; Entwicklung als Umbau. Dazu brauchen wir auch die Kraft, Lagerdenken in unserer Gesellschaft zu überwinden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft - wir sitzen alle in einem Boot. Jeder kann Verantwortung für das Wohl des Landes übernehmen. Jeder kann Vorbild sein, zum Beispiel der Krankenpfleger, die Lehrerin, der Jugendtrainer im Sportverein, die Journalistin, der Unternehmer. Die meisten Unternehmer in Deutschland leisten Vorbildliches in schwieriger Zeit. Diesen Unternehmern ist klar, dass gerade in der Wissensgesellschaft motivierte und leistungsbereite Mitarbeiter das größte Kapital eines Unternehmens sind. Ich wünsche mir, dass Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft gerade in dieser schwierigen Zeit in Deutschland eine Kultur der Verantwortung und der Mäßigung vorleben. ({39}) Ein zweiter Grund, warum wir uns in Deutschland mit der Erneuerung so schwer tun, ist - ich habe das bereits erwähnt - die Angst zu scheitern. Rückschläge und Irrtümer sind aber Teil des menschlichen Tuns. Wichtig ist, sich nicht aufzugeben, immer wieder Neues anzufangen und sich nicht hängen zu lassen. Denken Sie an die Leipziger Olympiabewerbung! Ich möchte die Probleme und Fehler Einzelner dabei nicht herunterspielen. Dennoch: In Leipzig wurde Neues, Großartiges angepackt. Leipzig wagte es, mit Städten wie New York, London oder Paris in Wettbewerb zu treten. Es hat am Ende nicht gereicht. Aber ich bin mir ganz sicher: Die Erfahrung wird die Leipziger und übrigens auch die Rostocker stärker machen. ({40}) Menschen mit Mut, Ideen und Verantwortungsbewusstsein fallen nicht vom Himmel. Sie werden geprägt: in der Familie, in der Schule, im Wohnviertel. Deshalb sind Bildung und Erziehung der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Bildung und Erziehung das bedeutet, Kreativität zu fördern, Ideen zu wecken und Werte zu vermitteln. Das gelingt nur denen, die Vorbilder schaffen und Ideale selbst vorleben und an denen sich junge Menschen orientieren oder auch reiben können. Hier haben wir aus meiner Sicht möglicherweise den größten Handlungsbedarf. Bildung heißt, in Herzen, aber auch in Köpfe zu investieren. Wir brauchen ein Bildungswesen, das Leistung fördert, Freude am Lernen vermittelt und selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist. ({41}) Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft entwickelt sich eine Renaissance der Familie. Das spüre ich und das gibt mir Zuversicht. Diese Entwicklung muss gestärkt und gefördert werden. Über Familie und Kinder habe ich vor kurzem einen bemerkenswerten Satz gelesen: Kinder sind die einzig unkündbare Beziehung. ({42}) Deshalb kommt es darauf an, dass sich die Eltern wieder ihres Erziehungsauftrags bewusst werden. Das heißt vor allem: Sie müssen Vorbild sein. Wir wissen: Vater und Mutter zu sein ist einer der schwierigsten Berufe, zumal heute, in einer Zeit, in der junge Menschen um Arbeitsplätze und soziale Anerkennung ganz anders kämpfen müssen als meine Generation: Sie haben es heute schwerer. Bildung und Familie müssen auch deshalb zusammen und neu gedacht werden, weil uns die rapide Alterung unserer Gesellschaft vor gewaltige Probleme stellt. Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft. Daher ist es so Bundespräsident Professor Dr. Horst Köhler wichtig, dass Deutschland als Land der Ideen vor allem ein Land für Kinder wird. ({43}) Deutschland muss zu einem Land werden, in dem wir es nicht zulassen, dass Kinder verwahrlosen können, in dem es kein Schild mit der Aufschrift „Spielen verboten“ mehr gibt ({44}) und in dem Kinderlärm kein Grund für Gerichtsurteile ist. ({45}) Dabei sollte klar sein: Kinder sind nicht allein Frauensache, sondern Elternsache. ({46}) Die Mehrheit der jungen Menschen wünscht sich die Vereinbarkeit von Kind und Beruf. Aber da ist noch ein weiterer, sehr wichtiger Punkt: Wir müssen zu einem Land werden, in dem die Gleichberechtigung von Frau und Mann selbstverständlich ist. ({47}) Und das gilt nicht zuletzt für Führungspositionen von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschland gehört hier zu den Entwicklungsländern. Das kann ich Ihnen aufgrund meiner internationalen Erfahrung berichten. ({48}) Wir Männer müssen uns klar machen: Es geht dabei nicht einmal so sehr um das Thema Kinder und Familien. Es geht vielmehr um die Kreativität und die Kompetenz der Frauen. Wir brauchen sie dringend. ({49}) Wir müssen die Kraft haben, Familiengründungen auch parallel zu Ausbildung, Berufstätigkeit und Aufbau einer Existenz möglich zu machen. Ich appelliere an Politik und Wirtschaft, an Verbände und Verwaltung, vor allen Dingen an die Selbstverwaltungseinrichtungen: Schaffen Sie schneller bessere Bedingungen! Helfen Sie mit, dass Frauen und Männer die Entscheidung für eine berufliche Karriere frei treffen können, ohne sich deshalb gegen Kinder entscheiden zu müssen! ({50}) Wir brauchen mehr Kindertagesstätten und bessere Arbeitszeitmodelle, die es möglich machen, Beruf und Zuhause zu verbinden. ({51}) Gleichzeitig ist es mir ganz wichtig, zu sagen: Auch die Mütter, die sich zu Hause für ihre Familien engagieren wollen, sollten in unserer Gesellschaft stärker Anerkennung finden, sichtbar und handfest. ({52}) Einen besonderen Appell möchte ich an die jungen Menschen in Deutschland richten. Das 21. Jahrhundert ist euer, ist Ihr Jahrhundert! Bei der Erneuerung Deutschlands geht es vor allem um Ihre Zukunft, um die der jungen Menschen. Es geht um Ihre Ideen, Ihren Einsatz. Sie haben so viel Freiheit, so viele Chancen! Nehmen Sie das 21. Jahrhundert in die Hand! Und - auch das ist ganz wichtig - verwerfen Sie nicht die Erfahrung der Alten. Sie ist wertvoll und hilfreich. Natürlich, meine Damen und Herren: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Aber auch hier gibt es eine gute Nachricht: Für Ideen und Engagement ist man nie zu alt. ({53}) Das ist mein Appell an die Älteren: Gehen Sie auf die Jungen zu! Sie werden gebraucht! Die neue Gemeinschaft zwischen Alt und Jung ist eine große Chance für uns und unser Land der Ideen im 21. Jahrhundert. ({54}) Ja, meine Damen und Herren, wir müssen diesen Umbruch bei uns und in der Welt als Chance begreifen und nutzen. Wir haben in der Vergangenheit in Deutschland erfahren, dass die Kraft der streitigen Debatte, die Kraft zur Überwindung von Gegensätzen und die Kraft der Freiheit zu Gutem geführt haben: Westbindung, Wirtschaftswunder, auch die 68er mit ihren Impulsen und Auswüchsen, ({55}) die deutsche Einheit, die europäische Einigung. Trotz vieler, oftmals bitterer Auseinandersetzungen haben wir Brücken gebaut, Gegensätze überwunden, Lösungen gefunden. Mut zur Zukunft sollte uns nicht zuletzt die Erinnerung daran machen, was vor 15 Jahren in Deutschland geschah: Den Menschen in Ostdeutschland gelang eine friedliche Revolution. Ihr Mut und ihre Veränderungserfahrung sind wertvoll für uns alle. ({56}) Wir sind jetzt als ein Volk gefordert. Meine Damen und Herren, ich weiß, dass ich hier und heute nicht alles und alle Gruppen in unserem Land angesprochen habe. Ich mache mir keine Illusionen, dass einige, die sich nicht wiederfinden, enttäuscht sein werden. Besonders denen möchte ich sagen, aber nicht drohen: Mit der heutigen Rede ist ja nicht das letzte Wort gesprochen. ({57}) Dabei will ich zugleich einräumen: Niemand hat auf die vielen offenen Fragen in dieser Zeit bereits alle Antworten. Wir müssen mit Offenheit leben. Wichtig ist, dass wir als Individuen und als Gesellschaft dialog- und lernfähig bleiben. Meinen Amtseid verstehe ich als Verpflichtung, zur Erneuerung Deutschlands beizutragen. Als Bundespräsident werde ich hinschauen, nachfragen, auch hinterfragen. Persönlicher Kompass ist mir dabei mein christliBundespräsident Professor Dr. Horst Köhler ches Menschenbild und das Bewusstsein, dass menschliches Tun am Ende immer vorläufiges Tun ist. Ich bin Optimist. Von Goethe stammt der Satz: Niemand weiß, wie weit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat. Lassen Sie uns unsere Ideen und unsere Kräfte versuchen! Wir können in Deutschland vieles möglich machen. Dazu brauchen wir zugleich mehr Freiheit und mehr Gemeinschaft. Ich bin sicher: Wir werden es schaffen. Ich glaube an dieses Land, weil ich an seine Menschen glaube. Vielen Dank. ({58})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Bundespräsident, ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Rede. Nun singen wir gemeinsam unsere Nationalhymne. ({0}) Mit den besten Wünschen für Sie schließe ich die gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. ({1})