Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die erste Beratung des Gesetzentwurfes des
Bundesrates zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz - Drucksache 15/1491 - zu erweitern. Außerdem ist
vereinbart worden, die gestern bereits überwiesenen Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen sowie des Bundesrates, jeweils zum Abbau von Statistiken - Drucksachen 15/3306 und 15/2416 -, nachträglich auch an den
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur
Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 18 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Beschleunigung
von Verfahren der Justiz ({0})
- Drucksache 15/1491 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Eine Aussprache ist für heute nicht vorgesehen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen daher
gleich zur Überweisung. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/1491 an
den Rechtsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Vermittlungsausschusses. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen
jetzt gleich als Zusatzpunkte 19 und 20 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe also zunächst den Zusatzpunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Zwölften Gesetz
zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksachen 15/2109, 15/2360, 15/2849,
15/3164, 15/3384 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch
Berichterstatterin im Bundestag ist Gudrun SchaichWalch, Berichterstatter im Bundesrat Minister Rudolf
Köberle. Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist;
das gilt auch für die noch folgenden weiteren Empfehlungen des Vermittlungsausschusses. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 15/3384? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
({2})
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 20:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Erneuerbaren
Energien im Strombereich
- Drucksachen 15/2327, 15/2539, 15/2593,
15/2845, 15/2864, 15/3162, 15/3385 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller ({4})
Berichterstatter im Bundestag ist Abgeordneter
Michael Müller, Berichterstatter im Bundesrat Ministerpräsident Christian Wulff. Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das
Wort zu Erklärungen gewünscht? - Auch das ist nicht
der Fall.
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 15/3385? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
({5})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Gentechnikrechts
- Drucksache 15/3088 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({7})
- Drucksache 15/3344 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({8})
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Gerda Hasselfeldt, Peter H.
Carstensen ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Grüne Gentechnik in Deutschland nutzen Verlässliche Rahmenbedingungen für einen
verantwortungsvollen Einsatz in der Landwirtschaft schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Chancen der Grünen Gentechnik nutzen Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren
- Drucksachen 15/2822, 15/2979, 15/3344 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({11})
Ulrike Höfken
c) Beratung der Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Daniel Bahr ({13}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Distanzierung der Bundesregierung von gesetzeswidrigen Zerstörungen von Freisetzungsversuchen mit gentechnisch veränderten Pflanzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlinburg durchführen
- Drucksachen 15/1825, 15/2352, 15/3383 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({14})
Ulrike Höfken
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuordnung des Gentechnikrechts liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Herta Däubler-Gmelin, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Entwurf
eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts
der Bundesregierung in der durch den federführenden
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft geänderten Fassung. Ich empfehle Ihnen die
Annahme des von uns gefassten Beschlusses und auch
des Entschließungsantrages.
({0})
Ich glaube, das ist deswegen richtig, weil es sich hierbei um ein sehr wichtiges Gesetz handelt. Es geht ja darum, festzulegen, unter welchen Bedingungen genveränderte Pflanzen und genverändertes Saatgut bei uns in der
Landwirtschaft eingesetzt werden dürfen. Diese Frage,
die unter dem Stichwort „Grüne Gentechnik“ in der
Öffentlichkeit heiß diskutiert wird, ist für die Verbraucher und für die Landwirte von hohem Interesse. Wie
wir wissen, sind sie zum allergrößten Teil außerordentlich besorgt und haben große Bedenken. Dagegen stehen
die Interessen von agrochemischen Unternehmen, die
mit neuen Produkten, die sie für gut halten, in den Markt
kommen wollen.
Auch in der Öffentlichkeit sind diese Fragen außerordentlich umstritten. Wir haben hier im Deutschen Bundestag schon mehrfach Grundsatzauseinandersetzungen
unter verschiedenen Aspekten geführt.
In diesem Gesetzentwurf geht es aber nicht nur um
die Grundsatzauseinandersetzungen. Es gibt auch eine
Menge von Fragen, die im Detail sorgfältig bedacht und
geregelt werden mussten. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in guter Weise.
So wie die Europäische Union vorgegeben hat, soll es
die Möglichkeit geben, genveränderte Pflanzen und genverändertes Saatgut in der Landwirtschaft einzusetzen.
Unser Gesetz stellt dafür allerdings strenge Regeln auf.
Diese strengen Regeln sind nötig, weil damit garantiert
und sichergestellt werden kann, dass Landwirte auch
weiterhin ganz normal ohne genveränderte Pflanzen
wirtschaften können und dass der ökologische Landbau
auch weiterhin - wie bisher - möglich ist. Vor allen Dingen sind sie auch nötig, damit die Verbraucherinnen und
Verbraucher, die in ihrer überwältigenden Mehrheit genveränderte Lebensmittel ablehnen, die Produkte unserer
Landwirte auch weiterhin kaufen.
Gerade im Interesse der Landwirte und auch der Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wir nicht, dass
gentechnisch veränderte Lebensmittel sozusagen schleichend, unkontrolliert und zunächst unbemerkt in unsere
Ladentheken kommen.
({1})
Wir wollen vielmehr, dass dann, wenn bei uns genveränderte Lebensmittel erzeugt werden, nicht nur die Risiken
sehr viel genauer bestimmt, sondern dass durch Kontrolle auch Transparenz, Garantie, Wahrheit und Klarheit
möglich werden.
Nun habe ich Ihnen die Grundsätze aufgezählt. Es ist
für einen Gesetzgeber natürlich nicht ganz leicht, diese
Grundsätze in ihrer Breite so zu regeln, dass Garantie,
Wahrheit, Klarheit und Transparenz auch tatsächlich gesichert sind. Es ist allerdings notwendig, dass das nicht
nur versucht, sondern auch mit Erfolg erreicht wird, weil
nur so Sicherheit und Vertrauen bei Verbraucherinnen
und Verbrauchern, also in der Öffentlichkeit, und Klarheit für die Landwirte stabilisiert werden können. Genau
das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Zum Ersten tun wir dies durch klare Aussagen
({2})
über das Standortregister, das wir in zwei unterschiedliche Stufen eingeteilt haben, nämlich einmal in einen öffentlich einsehbaren Teil, aus dem sich ergibt, wo genveränderte Pflanzen auf landwirtschaftlichen Flächen
ausgebracht werden, und einmal in einen eher geschützten Teil, aus dem lediglich Personen mit einem berechtigten Interesse, also Nachbarn solcher Landwirte, die
sich für genveränderte Pflanzen entscheiden, oder auch
Imker, auf deren Interesse ebenfalls ganz besonders einzugehen ist, Näheres erfahren können, damit die notwendigen Informationspflichten erfüllt und die notwendigen
Vorkehrungen getroffen werden können.
Wir haben darüber hinaus klare Regelungen für die
Haftung der Landwirte in diesem Gesetzentwurf verankert. Dazu gehört zunächst einmal die gute fachliche
Praxis. Was heißt das? Das heißt: Wenn genveränderte
Pflanzen verwandt werden, dann müssen die ihnen innewohnenden Risiken berücksichtigt werden. Man darf nur
unter dieser Bedingung anbauen, um diejenigen, die
keine genveränderten Pflanzen anbauen oder ökologisch
wirtschaften wollen, nicht zu beeinträchtigen. Es muss
also eine ganze Reihe von klaren Informationspflichten
geben, und zwar nicht nur Pflichten für die anbauenden
Landwirte, sondern auch für ihre Erzeuger und Lieferanten.
Diese Informationspflichten sind notwendig für die
Abwägung der Risiken für Mensch, Tier und Umwelt
und für die Haftung bei Schäden. Es geht zudem auch
um Risiken, die sich aus der Auskreuzung ergeben können, wobei die Auskreuzungsrisiken zum Beispiel bei
Raps noch größer sind als die bei Kartoffeln. Nochmals:
Der Grund für unsere strengen Regelungen ist, dass die
Landwirte, die keine genveränderten Pflanzen nutzen
oder ökologisch produzieren wollen, nicht ins Abseits
gedrängt werden, sondern dass ihnen Sicherheit garantiert werden muss.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Herzog, SPD-Fraktion?
Aber selbstverständlich.
Frau Kollegin, Sie haben von Landwirten gesprochen,
die dieser Technik skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Können Sie mir sagen, ob das folgende Geschehen in der kleinen südpfälzischen Gemeinde Böbingen
ein Einzelfall ist? In der Woche, in der wir die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs vorgenommen haben, hat
diese Gemeinde eine Aktion gestartet unter dem Titel
„Gentechnikfreies Böbingen“. An der Spitze dieser Bewegung war der örtliche Vorsitzende der Bauern- und
Winzerschaft, Herr Gerhard Staub, im Einsatz und der
Gemeinderat und der Ortsbürgermeister haben sich dieser Aktion in Gänze angeschlossen.
({0})
- Bevor sich die Kolleginnen und Kollegen der Opposition noch mehr ereifern, will ich hinzufügen, dass die
Damen und Herren, die sich an dieser Aktion beteiligt
haben, nach meiner Kenntnis keine Funktionäre der SPD
oder der Grünen sind. Vielmehr ist jener Herr Staub bei
der Wahl am 13. Juni mit dem besten Stimmenergebnis
in den Gemeinderat Böbingen gewählt worden.
({1})
Vielen Dank, Kollege Herzog. Schauen Sie: Die Opposition hat es natürlich leicht. Sie kann gegen alles sein
und gegen jedes Gesetzesvorhaben demonstrieren. Das
ist sozusagen das natürliche Recht der Opposition.
Unsere Aufgabe als Mehrheitsfraktion in diesem
Haus ist es, die unterschiedlichen Interessen zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Wir müssen
insbesondere auch Sprecher für die Landwirte sein, die
dieser Technik skeptisch gegenüberstehen. Wie Sie wissen, tun wir das, und zwar nicht nur durch die klaren Regelungen, die ich gerade erläutert habe, sondern auch
durch die Möglichkeit, freiwillig gentechnikfreie Zonen zu schaffen. Sie haben ein Beispiel genannt. Aus der
Uckermark sind mir Beispiele bekannt. In BadenWürttemberg gibt es eine erhebliche Zahl solcher Aktionen. Das gilt ebenso für Bayern und andere Länder.
In unsere Regelungen nehmen wir natürlich auch die
Anregungen aus der Praxis und die der Bauernverbände
- seien es die des Deutschen Bauernverbandes, des Bauernbundes, des Imkerbundes oder der ökologisch wirtschaftenden Landwirte - auf. Das sehen Sie an unserem
Gesetzentwurf. Wir haben sie zu einer Anhörung eingeladen. Die Ergebnisse der Anhörung finden sich in den
Formulierungen unseres Ausschussänderungsantrages
wieder.
({0})
Lassen Sie mich noch zu weiteren Inhalten unseres
Gesetzentwurfes kommen. Der Gesetzentwurf enthält
natürlich Kontrollpflichten und Kontrollrechte der öffentlichen Hand. Es gehört zu den legitimen staatlichen
Aufgaben, dafür zu sorgen, dass Gesetze eingehalten
werden. Mich schmerzt es trotz meines Respekts für das
natürliche Bedürfnis der Opposition, alles abzulehnen,
immer wieder, wenn die Kontrollaufgaben oder -pflichten als Bürokratie verteufelt werden. Wenn man nicht
kontrollieren kann, dann hat das Aufstellen von Regeln
relativ wenig Sinn.
Im Bundesrat haben gerade die Kolleginnen und Kollegen aus den CDU- bzw. CSU-geführten Ländern darauf hingewiesen, dass sie erhebliche Bedenken gegen
die Einführung von Landesstandortregistern hätten.
Wir sind diesen Bedenken entgegengekommen und haben uns dafür ausgesprochen, die Länderstandortregister
nicht obligatorisch zu machen. Deshalb haben wir das
Bundesregister vorgeschlagen, das ich Ihnen gerade vorgestellt habe. Das hatte zur Folge, dass der Gesetzentwurf in Verbindung mit einigen anderen Regelungen zustimmungsfrei wurde. Das begrüßen wir ausdrücklich,
und zwar deswegen, weil damit verhindert wird, dass
von einer bestimmten Seite in diesem Haus das Gesetzesvorhaben unendlich in die Länge gezogen werden
kann. Die Landwirte, deren Interessen wir vertreten, sind
darauf angewiesen, dass sie jetzt Sicherheit haben.
({1})
Die Landwirte brauchen Planungssicherheit bis zum
Ende dieses Sommers. Darauf haben uns alle Praktiker
aus der Landwirtschaft hingewiesen. Dem sind wir entgegengekommen.
Wir sind auch der Meinung, dass zusätzlich einiges
auf europäischer Ebene geklärt werden muss. Deswegen
haben wir einen Entschließungsantrag eingebracht, mit
dem wir die Bundesregierung in zwei wichtigen Bereichen zu Aktivitäten auffordern. Zum einen sind wir der
Meinung, es wäre sehr vernünftig, wenn wir europaweit
geltende Haftungsregelungen hätten, und zwar einerseits
deswegen, weil sie die Klarheit und die Planungssicherheit für alle Beteiligten erhöhen, und andererseits, weil
damit wettbewerbsrechtliche Verzerrungen vermieden
oder auch Unterschiede im Umweltbereich stärker berücksichtigt werden können. Deswegen drängen wir so
darauf, dass derartige Regeln europaweit vereinbart werden.
Zum Zweiten hat das auch mit dem Haftungsrisiko
der Landwirte zu tun. Natürlich haften die Landwirte für
das, was sie selber verantworten müssen und können,
nämlich für die Verletzung der guten fachlichen Praxis.
Darüber hinaus gibt es aber das so genannte Koexistenzrisiko. Das ist ein technischer Ausdruck, der sich auf das
Risiko der Auskreuzung einer Pflanze bezieht, was zur
Folge hat, dass konventionell oder biologisch wirtschaftende Landwirte - das ist die überwiegende Mehrheit ihre Produkte nicht mehr loswerden und deshalb einen
wirtschaftlichen Schaden haben. In einem solchen Fall
sollten eigentlich die Erzeuger haften. Dafür gibt es bisher auf europäischer Ebene noch keine Regelung. Eine
solche einzuführen wäre sehr gut. Bis dahin allerdings
- das empfiehlt der Ausschuss allen Landwirten, die sich
für den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft
entscheiden - sollten diese Landwirte von ihren Lieferanten eine Freistellung für diese Risiken verlangen.
Dieses Petitum kommt auch von den Bauernverbänden.
Wir haben es aufgenommen und sind der Meinung, dass
man das nicht laut genug fordern kann.
({2})
Ein weiterer Punkt aus dem Entschließungsantrag, der
uns ebenfalls wichtig ist, besagt, dass Lücken im Kennzeichnungsrecht durch einheitliche Regelungen auf EUEbene geschlossen werden müssen. Wir wissen, dass tierische Produkte heute auch dann von der Kennzeichnung
ausgenommen werden, wenn die Tiere mit gentechnisch
veränderten Futtermitteln, Pflanzen oder was auch immer gefüttert werden. Das halten wir für falsch und für
ein Element der Verunsicherung.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wer für eine neue
Technologie, die bestimmte Wirtschaftsunternehmen auf
den Landwirtschaftsmarkt bringen wollen, weil sie sich
etwas davon versprechen, Vertrauen schaffen will, der
muss sowohl für die Haftung als auch für die Transparenz, die Wahrheit und die Klarheit - das betrifft die
Kennzeichnungsrichtlinien - klare Konsequenzen ziehen. Wir tun hier, was wir in Ausformung des europäischen Rechts tun können. Der nächste Schritt muss jetzt
im europäischen Recht erfolgen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Neuregelung des Gentechnikrechtes und die heutige Debatte hätten eigentlich bereits im Oktober 2002 hier
stattfinden müssen. Zwei Jahre lang haben Sie, die Koalition, die Fortentwicklung der Gentechnik verzögert,
blockiert, Forschung verhindert und Verfahren verschleppt. Zwei Jahre lang haben Sie sich im Bundeskabinett gestritten und waren unfähig, eine Lösung vorzulegen. Zwei Jahre lang hat das eine Ministerium die
Forschung im Freiland finanziell unterstützt, während
das andere Ministerium die Forschung veräppelt hat, wie
es die „Zeit“ im Dezember zutreffend formuliert hat.
Zwei Jahre lang haben Sie in Brüssel kleinlaut beigegeben, wenn Entscheidungen zur Gentechnik angestanden haben. Zwei Jahre lang haben Sie im eigenen Land
nicht das Geringste getan, um hinsichtlich unserer klimatischen, strukturellen und landwirtschaftlichen Bedingungen zu belastbaren praktischen Erfahrungen vor
Ort zu kommen und damit die notwendigen Grundlagen
für die Ausformulierung dieses Gesetzes zu schaffen. So
aber sind wir auf Vermutungen oder allenfalls Daten aus
zweiter Hand angewiesen.
Zwei Jahre lang haben Sie nichts vorangebracht. Deswegen fordere ich Sie auf: Hören Sie endlich auf, öffentlich - wie auch eben wieder - nach Sündenböcken zu suchen!
({0})
Sie haben den Stillstand gewollt, den Sie demzufolge
auch verantworten müssen.
({1})
Inzwischen hat Sie offensichtlich die Panik ergriffen,
dass Sie von der europäischen Entwicklung überrollt
werden könnten und dass die Bürger merken könnten,
dass Sie zu wenig Vorsorge getroffen und zu spät und
unzureichend gehandelt haben. Nun bestimmt plötzlich
politische Willkür das Handeln. Alle Verfahrensbeteiligten werden vor den Kopf gestoßen, wie es extremer nicht
vorstellbar ist.
Die Frau Ministerin hat erst gestern Morgen wieder
erklärt, sie wolle alle Beteiligten an einen Tisch holen
und im Verbund mit allen Gruppen zu vernünftigen Ergebnissen kommen. Sie reden doch sonst immer davon,
alle Beteiligten zusammenzubringen; aber bei der grünen Gentechnik denken Sie gar nicht daran. Sie säen nur
Zwietracht und verhindern jede eingehende Beratung.
Sie stiften in der Bevölkerung und der Landwirtschaft
Verwirrung, indem Sie die Zusammenhänge völlig
falsch erklären. Denn Gentechnik spielt inzwischen in
fast jedem Stall, fast jeder Apotheke und fast jedem Lebensmittel eine Rolle.
Sie haben in dieser Woche den Boden jeder seriösen
parlamentarischen Behandlung dieses Themas - ich formuliere das bewusst vorsichtig - verlassen.
({2})
Dass Sie nach zwei Jahren Vorlaufzeit die Runde der
hoch angesehenen Wissenschaftler und Experten erst
zwei Tage vor der entscheidenden Abstimmung eingeladen haben, zeigt am deutlichsten, was Sie von den Ratschlägen der Wissenschaftler und Experten halten. Bis
heute liegt nicht einmal ein Protokoll darüber vor, welche Verbesserungsvorschläge in der Runde am Montag
vorgetragen wurden.
({3})
Dann haben Sie uns Dienstagabend lange nach Büroschluss ein einseitiges Fax mit Entschließungsanträgen
Ihrer Fraktion zugesandt. Es enthielt keinen Vermerk
und keinen Hinweis darauf, dass Sie anschließend in der
Nacht klammheimlich auch noch einen 40-seitigen Änderungsantrag per E-Mail an die längst abgeschalteten
Computer nachsenden würden.
({4})
In einer solchen Art und Weise kann man mit einem so
wichtigen Thema, über das schon seit Monaten diskutiert wird, nicht umgehen.
Nicht einmal in der entscheidenden Ausschusssitzung
am Mittwochmorgen lag Ihr Antragspaket in schriftlicher Form zur Beratung vor. Auf unseren Antrag hin
musste es erst hereingeschleppt werden, weil auf den Tischen nichts auslag, Frau Vorsitzende.
({5})
- Das ist nicht falsch; es ist vielmehr die Wahrheit. Das
können alle Kollegen bestätigen.
({6})
Kollege Heiderich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Däubler-Gmelin?
Nein, ich gestatte im Moment keine Zwischenfrage. Nachträglich hat sich herausgestellt, dass Sie auch noch
eine wesentliche Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes mit aufgenommen haben, wovon weder in der
Anhörung noch in der vorigen Fassung des Gesetzentwurfs die Rede war. Eigentlich hätten wir eine neue Anhörung beantragen können; diesem Antrag hätten Sie
stattgeben müssen.
Wer so handelt und das Parlament in einer solchen Art
und Weise düpiert, der will keine Diskussion zur Sache;
er will vielmehr etwas durchboxen, ohne dass ihm andere in die Karten schauen können. Das ist Ihr wirkliches Ziel.
({0})
Dabei besteht gar kein Anlass zu einer solch plötzlichen Blitzaktion. Frau Künast selber hat doch das gegenwärtig für den wissenschaftlich begleiteten Erprobungsanbau der Bundesländer genutzte Saatgut zu
diesem Zweck zugelassen. Sie wird doch hoffentlich gewusst haben, was sie da getan hat.
({1})
Sie weiß hoffentlich ebenfalls, dass dieser Anbau sicher
und unbedenklich ist. Sonst hätte ihr Haus die Zulassung
nicht erteilen dürfen. Aber Ihr jetziger Affront gegen die
betroffenen Länder, die im Grunde die Aufgabe übernommen haben, die Sie seit zwei Jahren hätten erledigen
müssen, ist kein Ausdruck verantwortlichen Handelns
Ihrerseits.
({2})
Sie alle, auch Frau Künast, wissen außerdem, dass in
diesem Jahr für den allgemeinen landwirtschaftlichen
Anbau in Deutschland überhaupt keine gentechnisch
veränderte Sorte zugelassen ist, dass also überhaupt kein
Anbau bei den Landwirten stattfinden kann. Selbst wenn
demnächst die Europäische Union eine gentechnisch
veränderte Maissorte freigeben sollte, dann könnte der
Mais erst im kommenden Frühjahr ausgesät werden. Bis
dahin wären aber die neuen gesetzlichen Regelungen allemal in einem geordneten Verfahren umsetzbar gewesen. Ihre Nacht-und-Nebel-Aktion wäre also nicht notwendig gewesen.
({3})
Der krampfhafte Versuch, jetzt andere für das chaotische Durcheinander der Koalition haftbar zu machen, ist
wirklich der Gipfel der Unverfrorenheit. Schließlich,
Frau Vorrednerin, waren es doch gerade SPD-regierte
Bundesländer, von Rheinland-Pfalz bis MecklenburgVorpommern, die deutliche Nachbesserungen am bisherigen Gesetzentwurf verlangt haben. Die ständigen Behauptungen von einer Blockade an unsere Adresse sind
schlicht unwahr, um nicht noch schärfere Formulierungen zu verwenden. Ich fordere Sie auf, endlich damit
aufzuhören.
({4})
Hören Sie endlich auf, eine Debatte auf diesem Niveau
zu führen, wie Sie das in dieser Woche tun!
Herr Kollege Röspel, die Bio- und Gentechnik stellt
ein großes Wachstumspotenzial dar. Das erklärt Ihr
Bundeskanzler nahezu jeden Sonntag. Eine solche neue
Technologie, die sich weltweit schon auf breiter Basis
durchsetzt, kann man den Bürgern aber nicht von oben
aufstülpen. Man kann ihr schon gar nicht durch populistisches Wegducken vor der Verantwortung gerecht werden, wie Sie das jetzt in starkem Maße tun. Man kann sie
erst recht nicht mit einer starken Verunsicherung der
Bürger begleiten. Dem müssten Sie eigentlich entgegentreten. Aber Sie tun im Moment das genaue Gegenteil.
({5})
Durch das, was Sie jetzt hastig vorgelegt haben, wird
die gesamte Verantwortung für diese Technologie letztendlich bei den Bauern abgeladen. Diese, die sowieso
schon das schwächste Glied in der Kette sind, sollen nun
für die Versäumnisse von Rot-Grün geradezu an das
Hoftor genagelt werden, um einmal diesen Ausdruck zu
verwenden.
({6})
Wieder einmal müssen die Bauern für Rot-Grün herhalten. Diese fatale Konsequenz scheint Ihnen selbst zu
dämmern. Wie sonst sollte man die in Ihrem Entschließungsantrag formulierte untaugliche Aufforderung an
die Landwirte verstehen - ich zitiere -, „sich durch ihre
Lieferanten haftungsmäßig freistellen zu lassen“? Mit
Koexistenz hat diese Aufforderung gar nichts mehr zu
tun.
({7})
Sie säen mit Ihrer Hauruckaktion Zwietracht in
Deutschland. Sie isolieren Deutschland in Europa. Sie
blockieren eine Forschung, die Deutschland zu einer
Spitzentechnologie hätte verhelfen können, wie das auch
von Abgeordneten aus Ihren Reihen immer öfter dargestellt wird.
({8})
Wenn ich darf, möchte ich zum Schluss noch Ihren
Minister Clement zitieren. Er stellt fest: Jedes zertrampelte Genmaisfeld ist eine zerstörte Chance. ({9})
Sie haben in dieser Woche sehr viele Chancen für die
Biotechnik in Deutschland zerstört. Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf und die heutige Diskussion sind
ein Negativum für Deutschland und seine Zukunft.
Schönen Dank.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Lieber Herr Kollege Heiderich, ich
hätte Sie das gerne selbst gefragt. Da Sie aber keine Zwischenfrage zugelassen haben, mache ich das jetzt im
Rahmen einer Kurzintervention.
Sie haben mich ja auch in meiner Eigenschaft als
Ausschussvorsitzende angesprochen. Ich habe bereits
vorher erklärt, dass ich viel Verständnis dafür habe, dass
die Opposition sozusagen von ihrem natürlichen Recht,
gegen alles zu sein, Gebrauch macht.
({0})
Dass Sie jetzt aber in neun Minuten Redezeit zur Sache
gar nichts gesagt haben, halte ich für bemerkenswert. Da
Sie zum Verfahren, dem Sie sich lang und breit zugewandt haben, auch einige Unrichtigkeiten gesagt haben,
muss ich das einfach sachlich richtig stellen:
Der Entschließungsantrag, der von Ihnen nicht gerügt
wurde, ist gestern um 19.46 Uhr per E-Mail an jedes
Büro gegangen. Um 20.16 Uhr kamen die Änderungsanträge. Dass Sie es als „klammheimlich“ bezeichnen, dass
die E-Mail-Übermittlung der Änderungsanträge 30 Minuten später erfolgte, halte ich für geradezu komisch.
Dass Sie bei 20.16 Uhr von „in tiefster Nacht“ reden,
wird selbstverständlich auch die Öffentlichkeit einigermaßen amüsieren.
Sie haben in einem Punkt völlig Recht - lassen Sie
mich das wiederholen; das haben wir auch im Ausschuss
zum Ausdruck gebracht -: Wir haben die Änderungsanträge erst am Dienstag fertig stellen können, weil wir
- übrigens Ihr Interesse voraussetzend - die Anhörung
vom Montag in die Formulierung der Änderungsanträge
aufgenommen haben. Das gehört zu unserer Pflicht.
({1})
Ich finde es schade, dass Sie sich der Beratung entzogen haben.
({2})
Dass es sich um ein Hauruckverfahren handele, kann
man eigentlich nicht sagen, weil wir im Plenum des
Deutschen Bundestages schon mehrfach über das Thema
debattiert haben und weil vor allen Dingen der Bundesrat seine Einwände nach langer Diskussion bereits am
- ich bitte die Öffentlichkeit und die verehrten Kolleginnen und Kollegen der Opposition, auf das Datum zu achten - 2. April dieses Jahres in schriftlicher Form vorgelegt hat.
Vielen Dank.
({3})
Kollege Heiderich, Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Frau Vorsitzende, ich kann verstehen, dass Sie jetzt versuchen
wollen, das wirklich unseriöse und an den üblichen demokratischen Verfahren völlig vorbeigegangene Verhalten in dieser Woche in irgendeiner Form zu rechtfertigen.
({0})
Ich habe eben deutlich auf Folgendes hingewiesen:
Wenn Sie schon per Fax um 19.47 Uhr
({1})
- oder um 19.46 Uhr - einen einseitigen Antrag verschicken, dann hätte es der Anstand geboten, dass man
darauf schreibt: Achtung, per E-Mail kommen in einer
Stunde noch 40 Seiten hinterher.
({2})
Frau Vorsitzende, Kollegen haben mich angerufen
und haben mit mir über den Antrag gesprochen. Sie haben gesagt: Hier ist etwas gekommen. Darf ich dir das
einmal vorlesen? - Nachdem ich die drei Sätze gelesen
hatte, die in diesem Antrag standen, habe ich gesagt: Na,
wenn es denn sonst nichts ist, dann ist die Problematik
morgen früh nicht so bedeutsam.
Dann haben Sie das andere per E-Mail versandt, obwohl die Computer um 20 Uhr oder um 21 Uhr natürlich
längst abgeschaltet waren - so habe ich das eben formuliert; ich habe hier nichts von „tiefer Nacht“ gesagt; Sie
müssen einmal genau zuhören -,
({3})
sodass darauf niemand aufmerksam werden konnte.
Am nächsten Morgen wäre es Ihre Pflicht gewesen,
diesen Antrag auf den Tisch zu legen.
({4})
Dieser Pflicht sind Sie nicht nachgekommen. Die Kollegen mussten Sie mehrfach auffordern, die Exemplare
erst einmal herbeizuschaffen, damit man überhaupt lesen
konnte, was in diesem Antrag steht. - So sind die Dinge
abgelaufen.
Ich wiederhole: Mehrere Kollegen haben mir bestätigt, dass sie die von Ihnen per E-Mail versandten Anträge gar nicht bekommen haben. Schon allein das wäre
ein Grund, die Verhandlung abzusetzen. Wir haben auch
darauf verzichtet, eine Anhörung zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes durchzuführen, obwohl Sie dies
zusätzlich eingebracht hatten.
Sie haben in dieser Woche das parlamentarische Verfahren mit Füßen getreten. Nun versuchen Sie hier nicht,
das auch noch scheinheilig zu rechtfertigen.
Schönen Dank.
({5})
Da der Kollege Wolfgang Zöller uns die Ehre erweist, seinen Geburtstag hier mit uns zu verbringen,
möchte ich ihm herzlich gratulieren.
({0})
Nun erteile ich Kollegin Ulrike Höfken von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Kollegen von der CDU/CSU sind echt
süß. CDU und CSU sind doch die Parteien, die für die
Verlängerung der Ladenöffnungszeiten und für die Ausdehnung der Wochenarbeitszeit eintreten. Dennoch
schaffen sie es noch nicht einmal, ihren eigenen Laden
während der Geschäftszeiten des Bundestages offen zu
halten. Also, ich bitte Sie!
({0})
Man kann ja bei guten Wahlergebnissen übermütig werden. Wir werden das nicht.
({1})
- Oh nein! - Die Frage ist aber, ob Sie sich einen Gefallen tun, wenn Sie sich hinter einem Scharfmacher wie
Herrn Heiderich versammeln, der eine reine Lobbyismuspolitik betreibt.
({2})
Wenn ich mit den Kollegen von der CDU zusammensitze, wie das heute Abend in der Eifel auf dem Ziegenhof von Regino Esch der Fall sein wird - das gilt aber
auch für Trier oder Rheinland-Pfalz überhaupt -, dann
nehmen sie ganz andere Positionen ein - der Kollege
Herzog hat das dargestellt -; sie sagen nämlich: Sorgen
Sie bloß dafür, dass es ein strenges Gentechnikgesetz
gibt!
Es kann doch nicht wahr sein, dass Sie sich gegen die
wirtschaftlichen Interessen der übergroßen Mehrheit der
Betriebe, die Interessen der übergroßen Mehrheit der
Verbraucher und sogar die der großen Handelskonzerne
stellen! Gestern haben Sie ein großes Theater gemacht,
als ich da etwas kritisiert habe. Heute handeln Sie gegen
diese Handelsinteressen. Das muss man sich doch einmal auf der Zunge zergehen lassen.
({3})
Sie haben noch einmal die zerstörten Chancen erwähnt. Wir als Grüne sehen keinen Nutzen im Einsatz
der Gentechnik im landwirtschaftlichen Bereich.
({4})
Wir sehen die zahlreichen ungeklärten Risiken für die
Verbraucher. Wir sehen in der Gentechnikfreiheit einen
großen Marktvorteil für die deutsche Landwirtschaft,
übrigens gerade für Regionen wie die Eifel und die Mittelgebirgslagen.
Hier muss man auch noch einmal etwas klarstellen.
Vor allem pauschale Aussagen wie die, es hätten sich
keine gesundheitlichen Risiken ergeben, stehen auf
sehr wackeligen Füßen.
({5})
Sie wissen ganz genau: Es gibt zehn weltweit anerkannte
Studien. Fünf davon sagen, es gebe nachteilige Ergebnisse.
({6})
Fünf Studien, privatwirtschaftliche übrigens, sagen, es
gebe keine. Eine so dünne Datenbasis kann auf keinen
Fall dazu führen, das Vorsorgeprinzip,
({7})
das auch die EU vorschreibt - vertun Sie sich da nicht:
Auch die EU-Richtlinie schreibt das vor -, außer Acht
zu lassen. Deswegen müssen wir genau dieses Gentechnikgesetz jetzt vorlegen.
({8})
Herr Heiderich, ich finde Ihre Anmerkungen - um das
einmal vorsichtig auszudrücken - reichlich realitätsverdrehend; denn erst im April lag die Kennzeichnungsund Herkunftsverordnung der EU-Kommission vor. Die
Kennzeichnungsregeln waren erst zu diesem Zeitpunkt
abgestimmt. Unser Gesetz vorher zu machen wäre reichlich absurd gewesen. Erst zu dem Zeitpunkt gab es die
Grundlage dafür. Das Durchführungsgesetz haben Sie
im Bundesrat aufgehalten. Man muss sich das einmal
vorstellen: Sie haben die Verbraucher daran gehindert,
über die Kennzeichnung ihre Informationsrechte wahrnehmen zu können.
({9})
Das war eine reine Verzögerungstaktik, die Sie jetzt uns
vorwerfen. Das ist ja wohl das Allerdickste!
Zum Erprobungsversuch. Da passiert das Gleiche.
Selbstverständlich wissen wir alle: Es gibt nach alten
EU-Regeln zugelassene Produkte, mit denen wir uns
heute auseinander setzen müssen. Es sind alte Zulassungen, die natürlich rechtlich entsprechend bewertet werden müssen.
({10})
Aber es ist doch ganz klar: Sie halten das Gentechnikgesetz im Bundesrat auf, um diese Rechtslücke für einen
geheim gehaltenen Erprobungsanbau zu nutzen. Das ist,
finde ich, ein dickes Ding.
({11})
Es ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung, hier
Rechtssicherheit zu schaffen, und das tun wir auch.
Um auch das noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir
setzen hier die Regeln der EU um. Manche fragen: Warum verbietet ihr das Ganze nicht, wenn man sich nicht
sicher sein kann, ob das nicht doch Schäden verursacht?
Wir nutzen in Deutschland aber in einer einmaligen Art
und Weise die nationalen Möglichkeiten aus - das ist
ein in Europa einmaliges Gesetz, auf das viele andere
europäische Länder schauen -, um die gentechnikfreie
Produktion zu schützen, die Verantwortung der Produzenten festzuschreiben, entsprechend dem Spielraum die
gute fachliche Praxis in ihren Rahmenbedingungen zu
klären, festzulegen, dass die ökologisch sensiblen Gebiete geschützt werden, und über ein transparentes
Standortregister - meine Kollegin hat alles das schon
dargestellt - sicherzustellen, dass es die Möglichkeit
gibt, Haftungsansprüche geltend zu machen.
({12})
Die gute fachliche Praxis - das zum Schluss - wird
natürlich von den Bundesländern noch ausgestaltet werden.
({13})
Ich denke, diese sollten wir gemeinsam festlegen. Ich
hoffe, dass der Bundesrat und die Länder hier ihre Verantwortung wahrnehmen
({14})
und auch entsprechende Verordnungen erlassen. Ich
finde es fahrlässig, wenn die Länder stattdessen durch
die Missachtung und Streichung sämtlicher Schutzmaßnahmen, die in unserem Gesetz vorgesehen waren,
({15})
ein Chaos produzieren. So etwas könnte man wirklich
nicht mittragen. Lassen Sie uns hierbei lieber gemeinsam vorgehen.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegin Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, warum ihr so fröhlich seid. Wenn wir einmal ganz
kritisch in uns gehen und den Diskussionsprozess betrachten, dann kommen wir automatisch zu der Feststellung, dass wir vor dem Scherbenhaufen des Diskursprozesses über die Chancen und Risiken der Grünen
Gentechnik in Deutschland stehen.
({0})
Der im Ausschuss beschlossene Gesetzentwurf ist ein
Dokument des Scheiterns, nichts anderes.
({1})
Auf dieses Ergebnis kann hier wirklich niemand stolz
sein.
({2})
Mit dieser Einschätzung stehe ich übrigens nicht allein.
Ich war schon überrascht, dass mich ein Vertreter von
Greenpeace, der das genauso sieht, angesprochen hat.
({3})
Dabei muss man sehen, dass dieses kein Einzelfall ist.
Erinnern wir uns an die Diskussionen um die Rote Gentechnik: Das Verfahren zur Herstellung von Insulin
durch gentechnisch veränderte Bakterien ist in Deutschland entwickelt worden. Das Verfahren zur Genehmigung der Produktionsstätte hat 13,5 Jahre gedauert.
({4})
- Zu dieser Zeit gab es in Hessen eine rot-grüne Regierung. Diese ist abgewählt worden und durch eine
schwarz-gelbe Regierung ersetzt worden. So wird es
auch Ihnen ergehen.
({5})
Das Ergebnis der Diskussionen um die Rote Gentechnik ist bekannt: Sie hat sich durchgesetzt, sie ist akzeptiert, sie ist auf dem Markt. Sie wissen aber auch, dass
die Wertschöpfung außerhalb des Landes stattfindet und
auch die Arbeitsplätze außerhalb des Landes geschaffen
wurden. Genau diese Entwicklung wird es auch bei der
Grünen Gentechnik geben. Auch sie wird sich durchsetzen. Jeder beteiligte Akteur weiß dieses auch; wer das
nicht zugibt, belügt die Leute. Wir alle wissen das.
({6})
Wir alle wissen auch, dass Fermentationsprodukte von
gentechnisch veränderten Organismen längst in aller
Munde sind.
({7})
Die Regierung hat es mir in ihrer Antwort auf meine Anfrage vor einiger Zeit bestätigt. Ich bedanke mich bei
Herrn Thalheim für die korrekte Beantwortung.
Wir wissen auch, warum die Diskussion gescheitert
ist. Sie wurde nämlich allein risikoorientiert geführt. Es
sind sehr hypothetische und nur theoretisch vorhandene
Risiken angeführt worden.
Ich will noch eines hinzufügen: Die Trennungslinie bei
der Einschätzung von Grüner Gentechnik verläuft nicht
zwischen Gegnern und Befürwortern. Die Trennungslinie
verläuft zwischen Menschen, die Verantwortung für das
Gemeinwesen empfinden, und solchen, die sich allein
auf ihre punktuelle Gesinnung verlassen.
({8})
Wir haben einen Streit zwischen Verantwortungsethik
und Gesinnungsethik.
({9})
Auf der Seite derjenigen, die diese Frage gesinnungsethisch beurteilen, steht Greenpeace. Auf der Seite derjenigen, die diese Frage verantwortungsethisch beurteilen,
steht zum Beispiel die DFG, aber auch viele andere.
({10})
Vor diesem Hintergrund war es zwangsläufig, dass die
Diskussion scheiterte. Sie musste scheitern, weil sich
verantwortliche Politiker auf die Seite der Gesinnungsethiker gestellt haben und ihrer Verantwortung als Regierungsmitglieder nicht gerecht geworden sind.
({11})
- Die FDP hat sich sehr klar zur Gentechnik geäußert.
Ich brauche das nicht zu wiederholen.
Der Grund dafür, dass der Werbefeldzug von Greenpeace Erfolg hatte, ist die Verunsicherung der Menschen. Wie man die Menschen in Deutschland verunsichert, haben wir beispielsweise bei der Debatte um BSE
erlebt. Greenpeace hat jedoch keinen Erfolg bei Menschen, die gut ausgebildet sind, die selbstbewusst sind
und die bereit sind, sich selbstständig ein Urteil zu bilden. Diese können nicht so leicht beeinflusst werden.
({12})
Das bedeutet, dass die Regierung, wenn sie in einem
Diskussionsprozess Konsens erzielen will, dafür sorgen
muss, dass es sich um selbstbewusste Diskussionspartner handelt.
({13})
Sie dürfen nicht verunsichert werden. Es muss eine offene und ehrliche Diskussion geführt werden. Dadurch
kann vermieden werden, dass Verunsicherung entsteht.
({14})
- Frau Hiller-Ohm, auch Sie haben sich daran beteiligt,
die Menschen zu verunsichern.
Wir wissen alle: Wer Angst hat, ist nicht frei, selbst zu
entscheiden.
({15})
Das Schüren von Ängsten nimmt den Menschen die
Möglichkeit, eigenverantwortlich zu handeln. Genau
deswegen, Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
führen Sie mit so viel Lust Risikodebatten und sprechen
von Risikotechnologien. Damit schaden Sie der Demokratie; denn Demokratie setzt auf mündige, eigenverantwortlich handelnde Bürger, während Sie über das Schüren von Ängsten die Bürgerinnen und Bürger
bevormunden wollen. Sie sind eine zutiefst unliberale
Partei.
({16})
Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf ab. Er kann die
Koexistenz nicht organisieren, weil er den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen durch die verschuldensunabhängige Haftung de facto unmöglich macht. Die
Bundesregierung hat versäumt, eine Lösung für die Versicherung von Haftungsansprüchen auf den Weg zu bringen. Das wäre das Beste gewesen.
({17})
Der Gesetzentwurf bedient ausschließlich die Machtinteressen von Gentechnikgegnern. Auch dies lehnt die FDP
ab. Der Schwellenwert von 0,9 Prozent bleibt, anders als
die „FAZ“ berichtet hat, bestehen, auch wenn die jetzt
gewählte Formulierung einen anderen Anschein zu erwecken sucht. Das ist unredlich.
Die Regierung hat versäumt, Vertrauen in staatliches
Handeln zu schaffen. Dieses Vertrauen ist die Voraussetzung dafür, dass der legitime Wunsch der Öffentlichkeit
nach Transparenz beim Anbau gentechnisch veränderter
Pflanzen erfüllt werden kann, ohne dass dies zur Zerstörung von Feldern missbraucht wird.
({18})
Ihre klammheimliche Freude an Feldzerstörung ist nicht
zu übersehen. Es ist eine Schande, dass Sie beim Erprobungsanbau immer wieder von Geheimhaltung sprechen. Das ist schlicht nicht wahr.
({19})
Sowohl das Konzept des Versuches als auch alles andere
ist öffentlich und kann von all denen, die ein berechtigtes Interesse haben, eingesehen werden. Wenn Ministerin Künast darauf hingewirkt hätte ({20})
- Ich wäre Ihnen dankbar, wenn auch ich zu Ende reden
dürfte.
Kollegin Happach-Kasan, Sie müssen aber zum Ende
kommen, denn Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich
überschritten.
({0})
Ich komme zum Schluss.
Der Gesetzentwurf entwertet Investitionen von Forschungseinrichtungen und Betrieben in die Erforschung
der Grünen Gentechnik, weil er verhindert, dass die Ergebnisse bei uns wirtschaftlich genutzt werden. Das ist
eine Vernichtung von Geld. Für unser Land mit hoher
Arbeitslosigkeit, ein Land, das weit reichende Reformen
vor sich hat, ist dieser Gesetzentwurf eine Katastrophe.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Ulrich von
Weizsäcker, SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine verehrten Damen
und Herren! Der Kritik der Opposition an der außerordentlichen Eile muss ich mich anschließen;
({0})
sie war auch für uns im Umweltausschuss außerordentlich belastend. Ich muss allerdings den Vorwurf zurückweisen, das habe mit irgendeiner Art von Geheimhaltung zu tun. Es war einfach der Ablauf der Ereignisse,
vom Einspruch des Bundesrates über die Antwort der
Bundesregierung usw.; ich brauche das jetzt nicht weiter
auszuführen. Wir alle hätten über den Gesetzentwurf lieber in Ruhe beraten.
Lassen Sie mich aber zum Inhalt kommen; das ist das
Wichtigste. Ich will ihn aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten, zum einen aus dem ökologischen
und zum anderen aus dem wissenschaftspolitischen.
Umweltbesorgnisse sind letzten Endes wohl der wichtigste Grund für die sehr große Zurückhaltung, die man
der Grünen Gentechnik vielerorts entgegenbringt. Frau
Dr. Happach-Kasan, die Verunsicherung geht nicht von
Rot-Grün aus, sondern von der Sache.
({1})
Es ist eindeutig, dass große Unsicherheit besteht - und
zwar nicht nur im einfachen Volk, sondern auch unter
den Spitzenwissenschaftlern -, was eigentlich die langfristigen Auswirkungen sind. Nun so zu tun, als gehe es
um den Standort Deutschland, eine Durchbrechertechnologie, Schwellenüberwindung usw., ist, vorsichtig gesagt, mindestens gegen das Vorsorgeprinzip.
Weil die ökologischen Besorgnisse so weit verbreitet
sind, behauptet nun umgekehrt die Befürworterseite immer wieder, die Grüne Gentechnik sei gut für die Umwelt.
({2})
Dies habe ich versucht irgendwo in den verfügbaren
Publikationen belegt zu finden und bin nicht fündig geworden. Selbstverständlich - das ist geradezu hineindefiniert - nimmt der Pestizideinsatz erst einmal ab, wenn
man das Pestizid, zum Beispiel Bt-Toxin, in die Pflanzen
hineinmanipuliert. Aber schon nach wenigen Wachstumsperioden sind wir wieder bei dem alten Pestizideinsatz angelangt.
({3})
Das heißt, dieses Vorgehen hat überhaupt nicht geholfen.
Dann kommt hinzu, dass sich der mit Abstand größte
Teil der Grünen Gentechnik überhaupt nicht mit Bt-Toxin, sondern im Wesentlichen mit der Toleranz gegenüber Unkrautvernichtungsmitteln beschäftigt, insbesondere das von Monsanto entwickelte Round-up. Da sieht
man sofort, schon in der ersten Wachstumsperiode, eine
Vermehrung des Herbizideinsatzes.
({4})
In Argentinien hat dies mittlerweile zu absolut desaströsen Auswirkungen geführt. Dort sind Tausende von
Quadratkilometern, die tonnenweise mit Glyphosat vollgekippt worden sind, biologisch tot - und dies bis hin zu
den Bodenorganismen, die normalerweise für die Humusbildung verantwortlich sind. Das heißt, es kommt zu
wirklich schwersten ökologischen Zerstörungen - und
dies nicht trotz, sondern wegen der Gentechnik. Das
muss man doch einmal zur Kenntnis nehmen.
({5})
Weil nun die ökologischen Erfahrungen mit der
Round-up-Toleranz negativ und die mit dem Bt-Toxin
bestenfalls neutral sind - von den gesundheitlichen Aspekten, von denen Frau Höfken gesprochen hat, will ich
einmal ganz absehen -, bringen die Gentechniker immer
wieder Pflanzen in die Diskussion, die gegen Trockenheit, versalzte Böden oder gegen allerlei Schädlinge
- sie kommen zum Beispiel mit dem Goldenen Reis oder
mit irgendetwas anderem Schönen - gentechnisch robust
gemacht werden. Dies ist Window Dressing. Man versucht, etwas an die Wand zu malen, was in der Praxis
entweder gar nicht vorhanden ist oder keinen Nutzen
bringt. Das ist die bisherige Erfahrung.
({6})
Ob diese versprochenen Wunderpflanzen - oder
manchmal auch Wunderfische - ökologisch unbedenklich sind, steht völlig in den Sternen. Das Umweltgutachten 2004 des Sachverständigenrats für Umweltfragen
widmet der Grünen Gentechnik ein ganzes Kapitel. Der
Rat sagt, dass bezüglich der ökologischen Risiken riesige Ungewissheiten bestehen. In diesem Gutachten
wird der ökologische Landbau als besonders schutzwürdig betrachtet. Es ist völlig klar, dass die von der Europäischen Kommission in die Diskussion gebrachte und
in die Praxis eingeführte Formel von der Koexistenz keinerlei Garantie für das Überleben des ökologischen
Landbaus bietet. Man sollte sich dieses Wort einmal auf
der Zunge zergehen lassen. Schon das Wort „Koexistenz“ ist eine sprachliche Täuschung. Da muss man mit
den gedanklichen Mitteln des Vorsorgeprinzips und der
gesetzlichen Umgebung ausdrücklich dafür sorgen, dass
wenigstens die Koexistenz Wirklichkeit wird.
Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Worte zur wissenschaftspolitischen Diskussion sagen. Mich hat ein
Brief des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, adressiert an Frau Däubler-Gmelin, sehr beunruhigt. Er sagt dort, dass die Forschung, die sich mit der
Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen
beschäftigt, nicht mehr stattfinden könne. Dazu fällt mir
ein, was mir ein norwegischer Forscher sagte:
95 Prozent der Forscher, die zur Grünen Gentechnik arbeiten, stehen de facto auf der Payroll der Industrie. Das
heißt, es ist gar kein Wunder, dass diejenigen, die im
Wesentlichen die Kommerzialisierung im Sinn haben,
Besorgnisse haben, wenn man ernsthaft über die ökologischen Auswirkungen forschen möchte.
({7})
- Es ist ganz richtig, dass manche dieser Fragen überhaupt erst noch erforscht werden müssen.
({8})
Lassen Sie mich mit einer versöhnlichen Schlussbemerkung enden. Wenn man die Grüne Gentechnik dort
einsetzt, wo sie wirklich eindeutig - also ähnlich wie die
Rote Gentechnik - Nutzen stiftet, den man mit herkömmlicher Züchtung nicht erreichen kann - zum Beispiel bei
Pflanzen, die sich als Diätgrundlage für Menschen mit
bestimmten Stoffwechselkrankheiten eignen -, wird man
von uns Umweltschützern und auch von dem vorliegenden Gesetz keinerlei Schwierigkeiten bekommen. Denn
dabei handelt sich um Größenordnungen, die man ohne
weiteres auch in geschlossenen Gewächshäusern züchten
kann.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Happach-Kasan.
Professor von Weizsäcker, die Verunsicherung der
Menschen vor zehn Jahren ging - da gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht - von der Sache aus. Zu jener Zeit war
der Öffentlichkeit, den Medien, aber auch den Politikern
relativ wenig bekannt, dass Gene in jedem Lebensmittel
vorhanden sind. Es war wenig darüber bekannt, was sich
bei der Züchtung vollzieht. Es ist auch wenig über die
zukünftigen Auswirkungen diskutiert worden. Meine
Kritik ist, dass wir den Diskurs nicht offen, nicht ehrlich
und nicht ohne das Schüren von Ängsten geführt haben.
Dies muss sich meines Erachtens gerade Rot-Grün auf
die Fahne schreiben lassen.
Ich finde es bedauerlich, dass Sie in Ihrem Debattenbeitrag die Forschung von Industrieunternehmen kritisiert haben. Wir wollen, dass angewandte Forschung
nicht vom Staat, sondern von Industrieunternehmen bezahlt wird. Daher dürfen wir diese Forschung nicht als
interessengeleitet und deswegen als nicht gut diskreditieren. Ich glaube, dass das eine falsche Vorgehensweise
ist.
({0})
Wir wollen Grundlagenforschung in den Universitäten und wir wollen die angewandte Forschung von Industrieunternehmen und von mittelständischen Unternehmen, weil sie aus der Forschung einen Profit ziehen
können. Wir wollen, dass Unternehmen Gewinn machen.
Ich habe in Ihrem Beitrag die Auseinandersetzung mit
Aussagen des Leiters des Max-Planck-Instituts für Züchtungsforschung, Professor Saedler - er ist sicherlich
nicht industriegeleitet -, vermisst, der auf dem Forum
des Max-Planck-Instituts sehr deutlich gemacht hat, dass
zum Beispiel 4 Millionen chinesische Baumwollanbauer
mit der Gentechnik einen enormen Erfolg für die Umwelt erzielen.
({1})
Dabei handelt es sich nicht um das Ergebnis von industrieller Forschung, wie Sie immer behaupten. Wie gesagt, es ist ein Erfolg für die Umwelt und damit ein Erfolg für die Menschen, weil es keine Unfälle mit
Pflanzenschutzmitteln gegeben hat. Es ist außerdem ein
Beitrag zur Weiterentwicklung des Landes, weil die Anbauer einen größeren Gewinn erzielt haben, als dies mit
anderen Verfahren möglich wäre. Genau das wollen wir
diesen Ländern ermöglichen. Wir wollen aber nicht, dass
das satte Europa solche Entwicklungen in der Dritten
Welt verhindert.
Bitte berücksichtigen Sie in der Diskussion die Aussagen von Jacques Diouf, der im FAO-Bericht sehr deutlich gemacht hat, wie wichtig die Weiterentwicklung einer solchen Forschung für die Ernährungssituation in der
Dritten Welt ist. Sie ist damit im Interesse der Menschen
in diesen Ländern. Ich bitte, das zu berücksichtigen.
({2})
Kollege von Weizsäcker, Sie haben Gelegenheit zur
Reaktion.
Frau Dr. Happach-Kasan, Sie geben mir Gelegenheit,
festzustellen, dass ich die von der Industrie bezahlte
Forschung weder für überflüssig noch für schlecht gehalten habe. Ich habe lediglich gesagt, dass zum Inhalt
dieser Forschung nicht die Forschung hinsichtlich ökologischer Risiken gehört.
Hätte ich auf Herrn Professor Saedler antworten wollen, dann hätte ich die ziemlich negativen Ergebnisse in
Karnataka in Indien mit den praktisch gleichen Sorten
erwähnt.
Wenn ich auf den FAO-Bericht eingegangen wäre,
dann hätte ich Stimmen aus den Entwicklungsländern zitiert, die ausdrücklich die Besorgnis äußern, dass die
Grüne Gentechnik eine Privatisierung des Saatgutes und
damit eine Schlechterstellung der wirklich Hungernden
und der einfachen Landbevölkerung zur Folge haben
könnte.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetz soll eine EU-Richtlinie in
deutsches Recht gegossen werden. Es geht um gentechnisch veränderte Organismen. Entsprechend groß sind
die Kontroversen in der Landwirtschaft, in der Wissenschaft und bei Umweltverbänden. Wir erleben die Kontroverse heute auch hier im Haus.
Das eigentliche Problem können wir hier im Bundestag nicht mehr lösen. Wer gentechnisch veränderte Organismen produziert, nutzt und in Verkehr bringt, der muss
auch mit den Risiken leben. Die EU hat den Einsatz von
gentechnisch veränderten Organismen freigegeben. Die
Bundesrepublik ist an EU-Recht gebunden. Folglich
muss es uns vorrangig darum gehen, die Risiken zu minimieren und klare Regeln zu setzen, wer in Schadensfällen haftet.
({0})
Damit bin ich beim ersten Punkt: Die Haftpflicht und
die Beweislast kann nur bei denjenigen liegen, die von
gentechnisch veränderten Organismen profitieren wollen, also nicht bei denen, die traditionelle und ökologische Landwirtschaft betreiben und aus schlechter Nachbarschaft den Schaden ziehen. Aus demselben Grund
lehnt die PDS einen Schadensfonds ab, der aus Steuergeldern gespeist wird.
({1})
Glaubt man einschlägigen Umfragen, dann gibt es in
der Bevölkerung eine große Ablehnung gegenüber gentechnisch veränderten Organismen. Das ist verständlich,
zumal es bisher keine verlässliche Risikoforschung gibt.
Der Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker hat eben sehr
eindrucksvoll die Probleme und Erfahrungen in der Grünen Gentechnik dargestellt. Bürgerinnen und Bürger
wollen völlig zu Recht wissen, was sie kaufen und verzehren. Deshalb müssen Produkte mit gentechnisch veränderten Bestandteilen entsprechend markiert sein. Bürgerinnen und Bürger wollen aber auch wissen, wo sie
wohnen und leben, ob sie etwa in der Nähe von Versuchsfeldern leben, auf denen gentechnisch veränderte
Organismen angebaut werden. Ich denke, es ist nicht
hinnehmbar, wenn Versuchsfelder für gentechnisch veränderte Pflanzen geheim gehalten werden.
({2})
Die PDS im Bundestag fordert also Transparenz und
zugleich gesellschaftliche Kontrollen bezüglich Risiken und Nebenwirkungen; denn auch in der Landwirtschaft gilt: Vorbeugen ist besser als Heilen. Es gibt doch
unbestritten Pflanzen, deren Verbreitung nicht begrenzbar ist. Landwirte und Umweltverbände verweisen dabei
immer wieder auf den Raps. Er verstreut sich über die
Lande und ist obendrein winterresistent. Deshalb ist es
aus meiner Sicht richtig, wenn für gentechnisch veränderte Sorten ganz besondere Auflagen gelten sollen - allemal, um eine Vermischung mit natürlichen Rapsbeständen, aber auch mit Naturschutzgebieten zu
vermeiden.
Wer aus guten Gründen Abstand davon nimmt, gentechnisch veränderte Organismen zu verwenden, der
muss auch Abstand wahren können, gerade auch vor ungewollter Verunreinigung. Das ist ein Gebot der Vernunft. Das ist ein schützenswertes Recht der herkömmlichen Landwirte, der Imker usw. Ich finde, das ist auch
ein wichtiges Gut im Verbraucher- und Vertrauensschutz.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Martin Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grüne
Gentechnik bietet vielfältige Chancen. Sie ermöglicht
beispielsweise die Züchtung von Pflanzen, die widerstandsfähiger gegen Schädlinge, Krankheiten und Dürre
sind, die Gewinnung von hochwertigen nachwachsenden
Rohstoffen und die Entwicklung von Nahrungsmitteln
mit bestimmten zusätzlichen Qualitätsmerkmalen. Es ist
schon bemerkenswert, dass in dieser Debatte von den
Rednern der Koalition nicht ein einziges positives Wort
über den Nutzen und die Chancen der Gentechnik gesagt
worden ist.
({0})
Im Gesetzentwurf ist die Förderung der Gentechnik in
Ziffer 3 des § 1 auch genannt. Aber was die Koalition
und was insbesondere die Grünen davon halten, kann
man Ausführungen der Kollegin Höfken entnehmen. In
der Einleitung zu einem Internetforum schreibt sie:
Das Gesetz ist ein wichtiges Mittel, der weiteren
schleichenden Einführung von gentechnisch veränderten Produkten in Deutschland Einhalt zu gebieten.
Dr. Martin Mayer ({1})
({2})
Sie wollen die Gentechnik also nicht.
Ich nehme das Beispiel Koexistenz. Bei der Koexistenz geht es um das Nebeneinander von alternativer und
herkömmlicher Landwirtschaft und dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen. Es ist für uns selbstverständlich - ich betone das -, dass wir die alternativ wirtschaftenden Betriebe vor Nachteilen bewahren wollen. Im
Schadensfall muss es selbstverständlich sein, dass ein finanzieller Ausgleich erfolgt. Es kann aber nicht sein,
dass mit der Haftungsregelung der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland praktisch
verhindert wird. Das ist eine einseitige Ausrichtung dieses Gesetzes, die die Landwirte benachteiligt und letztlich auch dem Standort erhebliche Nachteile bringt.
Die unionsgeführten Länder haben im Bundesrat Vorschläge unterbreitet, wie eine ausgewogene Haftungsregelung gestaltet werden könnte. Bei einigermaßen gutem Willen der Bundesregierung wäre es möglich
gewesen, einen vernünftigen Kompromiss zu finden.
({3})
Wie sehr die Grünen ideologisch gegen die Gentechnik sind, haben sie auch mit ihren Plakaten zur Europawahl deutlich gemacht. Sie haben mit der Parole „Good
Food statt Gen Food“ die Grüne Gentechnik diffamiert.
({4})
- Sie machen den Bürgern zuerst Angst und dann instrumentalisieren Sie diese Angst für Ihre parteipolitischen
Zwecke.
({5})
Um eine sachgerechte Lösung des Nebeneinanders zu
finden, ist der Erprobungsanbau dringend notwendig.
Dass Sie an einer sachgerechten Lösung nicht interessiert sind, wird daran deutlich, dass Sie den Erprobungsanbau diffamieren und ihn hemmen, wo immer es möglich ist.
({6})
Ihre Einstellung wird auch in Ihrer Haltung zur Registrierung und Veröffentlichung von Daten über den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen deutlich.
Hier ist den Grünen der Datenschutz plötzlich nicht
mehr so wichtig. Aber es geht doch darum, dass in
Deutschland aggressive Gruppen aus Umweltorganisationen allzu oft vom Faustrecht Gebrauch gemacht und
Felder mit gentechnisch veränderten Pflanzen brutal verwüstet haben. Die zuständige Bundesministerin hätte
sich hier durchaus klar von diesen Taten distanzieren
müssen.
({7})
Man gewinnt doch den Eindruck, dass hier wohlwollendes Augenzwinkern stattfindet. Das halte ich für einen
Skandal.
({8})
Besonders gravierend wirkt sich die Blockadewirkung des Gesetzentwurfs auf die Forschung in
Deutschland aus. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat dazu in der letzten Woche eine Ausarbeitung
vorgelegt und ihre Sorgen dargelegt. Das, was als Gefährdungspotenzial angesprochen wird - so die DFG,
nicht ich -, ist durch experimentelle Daten nicht gedeckt.
({9})
Obwohl es in der Welt schon Millionen von Hektar von
Flächen mit gentechnisch veränderten Pflanzen gegeben
hat, ist bisher noch kein einziger Fall einer Schädigung
aufgetreten.
({10})
Über die Gefahren kann zunächst nur spekuliert werden.
Diese Spekulationen muss man natürlich ernst nehmen,
aber es gab bisher noch keine Schäden. Auch das muss
man deutlich aussprechen.
({11})
Die DFG kritisiert außerdem die einseitige Haftungserklärung sowie die geplante Aufteilung der zentralen
Kommission. Sie schreibt abschließend:
Dadurch würde wissenschaftliches Arbeiten auf
dem Gebiet der Grünen Gentechnik erschwert,
wenn nicht gar unmöglich gemacht.
Der Vizepräsident der DFG formuliert es noch deutlicher:
Sollte diese Haftungsregelung in Kraft treten,
würde die faktische „Innovation“ auf dem Gebiet
der Grünen Gentechnik darin bestehen, dass diese
Arbeiten künftig außerhalb Deutschlands stattfinden.
Ich finde, es darf nicht sein, dass wir die Wissenschaft in
Deutschland in diesem Bereich praktisch zum Erlahmen
bringen.
({12})
Eine derartige Entwicklung trifft im Übrigen auch die
über 100 mittelständischen Pflanzenzüchter, die sich in
einem schwierigen internationalen Wettbewerb behaupten müssen.
({13})
Auch sie müssten ihre Produktion und ihre Forschung
ins Ausland verlegen.
Dr. Martin Mayer ({14})
Es darf doch nicht sein, dass wir, weil wir ein gentechnikfreies Deutschland wollen, ein arbeitsplatzfreies
Deutschland schaffen.
({15})
Mittel- und langfristig wird es eine weltweite Ausdehnung der Anwendungen der Gentechnik geben. Das ist
so sicher wie das Amen in der Kirche.
({16})
Für Deutschland wird es um die Frage gehen, ob wir bei
dieser Entwicklung nur Zuschauer sind oder an ihr als
echte Beteiligte mitwirken, die dann auch die Standards
mitbestimmen,
({17})
die in der Forschung mitreden, die die Gefahren selbst
definieren und rechtzeitig abwenden sowie letztendlich
wirtschaftlichen Nutzen ziehen und neue Arbeitsplätze
schaffen.
({18})
Das Beispiel der Anwendung der Roten Gentechnik
in der Arzneimittelherstellung sollte uns eine Warnung
sein. Aufgrund unserer ablehnenden Haltung musste
Deutschland seine führende Rolle als Pharmastandort an
die Briten und viele andere Länder abgeben. Dieses Beispiel sollte sich nicht wiederholen. Deshalb fordere ich
im Interesse der Zukunft Deutschlands die Bundesregierung auf, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen und gemeinsam mit der Union einen neuen zu erarbeiten, der
Zukunftschancen für Deutschland eröffnet.
({19})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte nicht unmittelbar an diesen „sachlichen“ und
„differenzierten“ Beitrag anknüpfen, sondern zunächst
auf einige Ausführungen der Kollegin Happach-Kasan
eingehen. Frau Happach-Kasan, Sie haben gesagt,
Greenpeace und die Skeptiker in Sachen Grüne Gentechnik hätten bei intelligenten Leuten keine Chance. Das
halte ich für eine bemerkenswerte Aussage. Ich nehme
doch an, dass Sie die Skepsis, die in Sachen Grüne Gentechnik bei 70 Prozent unserer Bevölkerung vorherrscht,
nicht als Dummheit auslegen.
({0})
Mit einem solchen Maß an Arroganz können wir mit den
Befürchtungen der Bevölkerung nicht umgehen.
Wenn es die ganzen Vorteile der Grünen Gentechnik, die laut Ernst von Weizsäcker von der Gentechnikindustrie reklamiert werden, wirklich gibt - es ist besser
für die Umwelt, es ist besser für die Bekämpfung des
Welthungers, es ist besser für die Nahrungsmittelqualität - und wenn die Industrie diese ganzen Vorzüge wirklich herauskehren will, dann soll sie einmal beweisen,
dass das auch wirklich so ist. Bisher ist an dieser Front
wenig geschehen. Die empirische Evidenz ist eigentlich
eine andere. Diese Behauptungen können nicht belegt
werden.
({1})
Die Hypothese, die auch Herr Heiderich vorgetragen
hat, halte ich für dreist und an den Haaren herbeigezogen. Herr Heiderich hat gesagt, es sei sowieso schon
überall Gentechnik drin und man könne quasi gar nichts
mehr machen. Nein, Herr Heiderich, das stimmt nicht.
Es ist noch nicht überall Gentechnik enthalten. Sinn der
Politik ist es ja gerade, Transparenz, Wahrheit und
Klarheit herzustellen.
({2})
Dass Sie das nicht wollen, steht auf einem anderen Blatt.
Sie können aber nicht so tun, als ob die Grüne Gentechnik quasi über uns käme und man nichts dagegen tun
könne. Nein, es gibt Gestaltungsspielraum.
({3})
Das bedeutet eben Verantwortungsethik und keine Gesinnungsethik.
Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Däubler-Gmelin?
Gerne, kein Problem.
Kollege Loske, ich würde gerade in Anknüpfung an
Ihre Aufforderung an die Industrie eine Frage an Sie
richten: Gesetzt den Fall, die Industrie wäre wirklich der
Meinung, es gäbe keinerlei Risiken oder zumindest
keine, die einzugehen unverantwortlich wäre, sind Sie
dann nicht auch der Meinung, dass die Industrie zur Vertrauensbildung zum Beispiel auch die möglichen Haftungsrisiken, die sich aus der Koexistenzregelung ergeben, freiwillig übernehmen sollte, statt sich so nachhaltig
dagegen zu wehren?
Ich glaube, dass diejenigen in der Industrie, die dieser
Technologie zum Durchbruch verhelfen wollen - die
gibt es ja; man führt ja laufend Gespräche mit ihnen -,
eine Bringschuld gegenüber der Öffentlichkeit haben,
die Vorzüge wirklich kenntlich zu machen. Insofern
müssen sie in ihrem eigenen Interesse für ein hohes Maß
an Transparenz sorgen. Sie können auch keine Lasten
auf Dritte abwälzen. Ich glaube daher, dass eine konsequente Orientierung am Vorsorge- und Verursacherprinzip, die sich in Haftpflichtregelungen niederschlägt, im
eigenen Interesse der Industrie liegt. Das ist meine Meinung.
({0})
Kollege Loske, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan?
Selbstverständlich.
Kollege Loske, Sie haben natürlich Recht: Wir müssen die Befürchtungen der Menschen ernst nehmen und
sie informieren, damit sie selbst in der Lage sind, entsprechend ihrem Willen zu entscheiden. Nehmen Sie
aber bitte zur Kenntnis, dass ich nicht von „intelligent“
und „dumm“ gesprochen habe. Das ist nicht richtig.
({0})
Ich habe von gut ausgebildeten und selbstbewussten
Menschen gesprochen. Die beantworten ihre Fragen selber und sind nicht auf eine Orientierungshilfe seitens der
Verbände angewiesen. Sie können das selber. Darauf
wollte ich aufmerksam machen.
Ich nehme an, dass mein Freundes- und Bekanntenkreis im Durchschnitt gut ausgebildet ist. Da herrscht
eine gesunde Portion Skepsis. Das sind Leute, die sich
bilden, die lesen und sich informieren. Insofern finde ich
eine solch arrogante Attitüde einfach nicht angemessen.
Das muss ich ganz klar sagen.
({0})
Zu Ihrer Differenzierung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik: Sie haben gesagt,
dass die Gesinnungsethik eine Sache der Grünen und der
Ökologen sei,
({1})
während die Verantwortungsethik bei Ihnen liege. Das
haben Sie uns zwischen Mund und Nase zu verstehen
gegeben. Ich glaube, verantwortlich sein heißt, Wahlfreiheit und Transparenz sicherzustellen, ökologisch sensible Gebiete zu schützen und sich konsequent am Vorsorge- und Verursacherprinzip zu orientieren. Das ist
praktizierte Verantwortungsethik, aber keine Gesinnungsethik. Das ist ganz eindeutig.
({2})
Meine Redezeit ist zwar leider kurz, aber da die Redner der Union, was ich wirklich bemerkenswert finde,
überhaupt nichts zu ihren eigenen Vorstellungen gesagt,
sondern nur auf uns herumgehackt haben, will ich noch
ein paar Unterschiede zwischen uns herausarbeiten:
Erstens. Die Union will, dass die „gute fachliche Praxis“ gestrichen wird.
({3})
Wir halten das für falsch. Wir brauchen eine Definition
der „guten fachlichen Praxis“.
({4})
Zweitens. Die Union will, dass der Schutz ökologisch sensibler Gebiete gestrichen wird. Wir sind der
Meinung, dass zum Beispiel die FFH-Gebiete und
Natura 2000, also ökologisch sensible Gebiete, eines gewissen Schutzes bedürfen, weil wir nicht wissen, welche
Auswirkungen auf die biologische Vielfalt entstehen.
Auch das ist ein gewaltiger Unterschied zwischen uns.
({5})
Drittens. Die Union will die Haftungsregelungen
aufweichen. Wir wollen, dass die Haftungsregelungen
ambitioniert sind. Vor allem wollen wir - das hat Frau
Däubler-Gmelin sehr schön beschrieben -, dass die Haftung zumindest in der ersten Phase, wenn noch keine europaweite Klärung vorliegt, nicht bei den Bauern liegt.
Sie soll bei den Unternehmen liegen, die diese Produkte
in Verkehr bringen. Ich wundere mich wirklich, dass die
CDU/CSU dies ablehnt. Das muss man den Bauern noch
einmal gut erklären.
({6})
Viertens. Wir wollen ein transparentes Standortregister. Die jeweiligen Standorte sollen, sofern ein berechtigtes Interesse vorliegt, flurstückscharf bekannt gegeben werden. Sie wollen das nicht. Sie wollen dieses
Thema also klammheimlich behandeln.
Ich will auch einmal auf die „klammheimliche
Freude“, die von Ihnen angesprochen wurde, zurückkommen. Für mich und meine Freundinnen und Freunde
kann ich ganz klar sagen: Wir freuen uns natürlich nicht
darüber, dass solche Felder platt getrampelt werden.
Aber auch eine Politik der Geheimhaltung bzw. des Unter-der-Decke-Haltens ist nicht gut.
({7})
Wir brauchen eine vernünftige Dialogkultur. Dieser
Gesetzentwurf schafft dafür eine gute Grundlage. Er ist
gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher und für
die Umwelt. Durch ihn geben wir denjenigen in Landwirtschaft und Industrie, die in diese Technologie einsteigen wollen, Sicherheit. Ich persönlich - das gebe ich
ganz offen zu - bin kein Anhänger dieser Technologie
und auch meine Partei ist ihr gegenüber nicht besonders
positiv eingestellt.
({8})
Aber dieser Gesetzentwurf schafft faire Chancen. Insofern ist er auch gut, weil er Chancengleichheit herstellt.
Danke schön.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Gentechnikrechts auf Drucksache 15/3088.
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3344, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. - Hierzu liegt von der Kollegin
Undine Kurth und dem Kollegen Winfried Hermann
eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages vor. - Ich bitte nun diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3344 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit
wie soeben angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3348 ab.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 22 b. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
auf Drucksache 15/3344 fort. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/2822 mit dem Titel „Grüne Gentechnik
in Deutschland nutzen - Verlässliche Rahmenbedingungen für einen verantwortungsvollen Einsatz in der Landwirtschaft schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2979 mit dem Titel
„Chancen der Grünen Gentechnik nutzen - Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enhaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie
soeben angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft auf Drucksache 15/3383. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der FDP auf Drucksache 15/1825
mit dem Titel „Distanzierung der Bundesregierung von
gesetzeswidrigen Zerstörungen von Freisetzungsversuchen mit gentechnisch veränderten Pflanzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/2352 mit dem Titel „Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Apfelsorten
in Pillnitz und Quedlinburg durchführen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 23 sowie
Zusatzpunkte 12 und 13 auf:
23 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Mit Innovationen auf Wachstumskurs - eine
einheitliche Strategie
- Drucksache 15/2971 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Präsident Wolfgang Thierse
ZP 12 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Forschung 2004
- Drucksache 15/3300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innovationsstrategie für Deutschland - Wissenschaft und Wirtschaft stärken
- Drucksache 15/3332 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Analyse ist klar: Das Schiff Deutschland ist in
schweres Fahrwasser geraten. Wir verlieren auf vielen
technologischen Feldern und dafür tragen Sie die Verantwortung.
({0})
Wir verlieren bei der Mikroelektronik und bei den Halbleitern, weil die Märkte in Asien sehr viel interessanter
sind. Wir verlieren in der Kernenergie durch rot-grüne
Ideologen. Die Unterhaltungselektronik ist schon weg.
Wir sind längst nicht mehr die Apotheke der Welt: Von
den 130 Forschungsstandorten, die die 30 weltweit größten Pharmaunternehmen haben, befanden sich 2001
noch genau zehn Forschungslabore in Deutschland. Der
Chemie droht die Luft auszugehen durch die Brüsseler
Chemikalienrichtlinie. Sowohl bei Spitzentechnologien
als auch bei technologischen Dienstleistungen sind wir
tief in den roten Zahlen. Wir mögen noch Exportweltmeister sein, wir sind aber nicht mehr Wertschöpfungsweltmeister.
All das ist kein Betriebsunfall: Rot-Grün hat seit 1998
alles unternommen,
({1})
um den Wettbewerb zu drosseln, den Arbeitsmarkt zu
verriegeln und überkommene institutionelle Arrangements - auch in der Wissenschaft - zu zementieren.
({2})
Wir brauchen wieder mehr Wachstum und Innovation, doch die Frage ist: Wie schaffen wir den
Schwenk? Wir schaffen ihn garantiert nicht mit rot-grüner Effekthascherei. Mit Fanfaren werden immer wieder
neue Programme und Wettbewerbe angekündigt; Innovation ist übrigens bei Rot-Grün all das, gegen das sie
noch vor ungefähr einem Jahr waren, zum Beispiel Eliten. Doch bei der Forschung vor Ort kommt nichts an:
Viele Institute warten ausgerechnet im Jahr der Innovation noch immer auf längst zugesagte Fördermittel.
Die Halbzeitbilanz des Jahres der Technik ist in der
Tat vernichtend: Greifbare Ergebnisse gibt es nicht. Geld
wird allerdings verbrannt, nämlich in Form von Papieren, Kongressen und Kampagnen. Je erfolgloser Sie
sind, desto marktschreierischer werden Ihre Parolen.
Herr Müntefering spricht übrigens schon gar nicht
mehr vom Jahr der Innovation; er spricht mittlerweile
vom Jahrzehnt der Innovation.
({3})
Er tut dies nach dem Motto: Wer bietet mehr? Vielleicht
ist es demnächst ein Jahrhundert.
Es gab einmal einen gewissen Generalsekretär Scholz
- wer war das eigentlich noch? -, der Anfang des Jahres
eine einsame Elite-Uni schaffen wollte. Dann kam das
Preisausschreiben „Brain up!“ - Deutschland sucht seine
Super-Uni -, mit dem Frau Bulmahn allenfalls zur aussichtsreichsten Kandidatin für den Titel „Sprechpanscherin des Jahres“ geworden ist. Es wurden viele Innovationsbüros eingerichtet, aus denen zwar wieder
Papiere kommen, aber definitiv keine Innovationen.
({4})
Derweil treffen sich beim Kanzler die Innovationsräte,
also die großen Runden der Konzerchefs. Der Mittelstand ist hier wie üblich ausgeschlossen. Weil „Räte“ bekanntlich von „raten“ kommt, trifft dies die Sache hier
wohl sehr genau.
Es nützt dem Land auch nichts, wenn man Wirklichkeitsverweigerung betreibt. Auf dünnster Datenbasis
wird behauptet, es gebe in Deutschland keinen Braindrain. Wenn man sich die Studien aber einmal genauer
anschaut, dann kommt man zu einem ganz anderen
Ergebnis. Nicht umsonst klagt der HRK-Präsident
Gaehtgens, dass Deutschland die fähigsten Doktoranden
weglaufen. Der Siemens-Vorstand Klaus Wucherer konstatierte dieser Tage in der „Welt“, dass ideologische Abwehrkämpfe gegen Technik die Forscher geradezu aus
dem Land treiben würden.
({5})
Es gehen vor allem Naturwissenschaftler, die sich in
den USA und in Großbritannien bessere Forschungsbedingungen erwarten. Veraltete Tarifregelungen,
schlechte Aussichten für den akademischen Mittelbau
und zu kleine Forschungsbudgets - die Liste der Mängel
ist lang.
({6})
Sie verweisen in Ihrer Antwort derweil auf die vielen
Studenten der Kulturwissenschaften. Die kommen wohl
eher wegen der Leistungen in der Vergangenheit zu uns,
also quasi ins Museum Deutschland. Wir brauchen aber
die Zukunft.
({7})
Es fehlen schon heute 10 000 bis 20 000 Ingenieure.
In der Biotechnologie verweisen Sie immer wieder auf
die hohe Anzahl der Unternehmen in Deutschland. Sie
vergessen aber regelmäßig, zu erwähnen, dass hier bislang fast keine Produkte zur Marktreife gelangt sind.
Ihr Forschungsbericht 2004 ist ein Offenbarungseid.
Sie rühmen sich, dass der Anteil der Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt wieder bei
2,5 Prozent angekommen ist. Gleichzeitig vergessen Sie
aber, zu erwähnen, dass wir vor der Wiedervereinigung
bereits bei 2,8 Prozent waren und auch längst wieder
dort sein müssten.
({8})
Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei Ihnen Lichtjahre auseinander. 250 Millionen Euro mehr wollen Sie
im nächsten Jahr von Hans Eichel haben. Das würde
nicht einmal die Kürzungen aufwiegen, die Sie in diesem Jahr hinnehmen mussten. Wie vorgestern in der
„FAZ“ zu lesen war, hat sich die Tauss-Truppe durchaus
löblich, aber dennoch kläglich bemüht, mehr Geld zu bekommen. Die Finanzpolitiker der SPD haben Ihnen eine
klare Absage erteilt.
({9})
Ich denke, die Präsidenten der großen Forschungsorganisationen werden auch diesen Coup nicht so schnell
vergessen: Der Kanzler hat dem Aufwuchs von
3 Prozent zwar großzügig zugestimmt, die Forschungsorganisationen mussten dies dann aber mit der Kürzung
der Projektmittel bezahlen. Ihre Politik hat kein System
und keine Strategie. Die schweren Ordnungsstörungen,
an denen unsere Gesellschaft nach sechs Jahren RotGrün leidet, sind im Kern durch drei Defizite bedingt:
Zum einen ist das der Verlust des Denkens in Zusammenhängen und Ursachenketten.
({10})
Zweitens ist das ein geradezu epidemisches Kurzfristdenken und drittens der daraus herrührende Verlust vorausschauender Verantwortung.
Kennzeichnend war der Satz von Frau Bulmahn in
der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom
25. April 2004 auf die Frage nach der Grünen Gentechnik. Frau Bulmahn, Sie sagten: In der Forschung sind
wir hier sicher so gut wie alle anderen Länder. Über die
Anwendung entscheidet nicht die Forschung.
({11})
Hier liegt doch gerade der Hase im Pfeffer. Vor fünf
Minuten haben Sie in diesem Haus mit Ihrer Mehrheit
ein Gentechnikverhinderungsgesetz durchgepeitscht.
({12})
Das ist das komplette Gegenteil von Innovationen. Ein
wenig Pflanzengenomforschung reicht nicht aus, Frau
Bulmahn. Wir brauchen hier ein klares Commitment bezüglich der Grünen Gentechnik und anderer Technologien. Sie können sich in Ihrem Kabinett aber nicht
durchsetzen.
Das Innovationssystem ist quasi wie ein Reißverschlusssystem zu verstehen: Die Zähne müssen ineinander greifen. Unser vorgelegte Antrag „Mit Innovationen auf Wachstumskurs - eine einheitliche Strategie“
enthält solche Reißverschlusselemente. Es beginnt in der
Schule. Rot-Grün hat über Jahre versucht, den Leistungsgedanken aus den Schulen zu verbannen.
({13})
PISA hat es an den Tag gebracht: Mathematik und Naturwissenschaften müssen wieder stärker gefördert werden.
Die Zukunft unseres Landes liegt zudem in den
Hochschulen. Wir begrüßen den Wettbewerb, der jetzt
mit den Ländern verabredet werden soll. Voraussetzung
ist jedoch, dass Ihnen, Frau Bulmahn, tatsächlich mehr
Geld zur Verfügung steht. Doch davon ist bislang nichts
zu spüren. Klar ist, dass die Hochschulbauförderung
zwischen 2003 und 2007 von 1,1 Milliarden Euro auf
760 Millionen gekürzt werden soll. Damit bleibt das
Ganze ein Nullsummenspiel.
Trennen Sie sich vom Korsett des Hochschulrahmenrechts. Am Mittwoch haben wir im Ausschuss beschlossen, das Selbstauswahlrecht der Hochschulen endlich zu stärken. Ich kann mich noch genau daran
erinnern, wie Sie sich vor kurzem hier im Deutschen
Bundestag mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben.
({14})
Jetzt mussten Sie auf Druck der Länder und durch ein
eindeutiges Gutachten des Wissenschaftsrates klein beigeben.
({15})
Sie sind die Getriebene und nicht die Speerspitze, wenn
es um die Entwicklung eines leistungsfähigen Hochschulwesens geht.
Ich komme zur Forschung. Forschung ist die Basis
von Innovationen. Aber leider haben Sie hier ein völlig
falsches Verständnis. Forschung muss frei sein;
({16})
denn sie dringt zum Teil ins Unbekannte, noch nicht einmal Geahnte vor.
({17})
Man kann sie nicht auf bestimmte Missionen festlegen
und erklären: Gefördert wird das, was Arbeitsplätze
schafft. Glauben Sie vielleicht, dass sich die Erfinder des
Transistors vor 40 Jahren vorstellen konnten, welche
Revolutionen sie damit in Gang setzen?
Wir brauchen eine stärkere Grundlagenforschung und
eine Exzellenzforschung. Das heißt aber auch, dass sich
die Forschungsorganisationen an den Projektmitteln, die
hoch kompetitiv sind, beteiligen können. Das hat der so
genannte Dudenhausen-Erlass mit einem Instrument der
70er-Jahre verhindert. Das ist das Gegenteil von Wettbewerb.
({18})
Ein kurzer Satz zu den neuen Bundesländern. Vor
kurzem hat Herr von Dohnanyi die Cluster wieder entdeckt. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Union bereits
in den 90er-Jahren sowohl im Bund als auch in den Ländern die Clusterbildung vorangetrieben hat. Dresden ist
dafür ein hervorragendes Beispiel, aber es gibt noch andere. Ich kann Sie nur auffordern, diese Cluster weiterhin zu fördern und sich insbesondere um die neuen Bundesländer, zum Beispiel mit Forschungsprämien, zu
kümmern.
({19})
Ich komme zu meinem letzten Punkt. Wir brauchen
eine Aufbruchstimmung und eine Technikbegeisterung
in Deutschland, um bei der Dynamik mit den anderen
Ländern wieder mithalten zu können.
({20})
Es sind nicht nur die behindernden gesetzlichen Regelungen, sondern es ist auch die Stimmung, die in diesem
Land erzeugt wird. Das beredte Schweigen der Bundesregierung, wenn Ökoterroristen Versuchsfelder niedertrampeln, sagt eigentlich alles.
({21})
Kollegin Reiche, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wir müssen Bildung und Forschung entfesseln. Es
gibt keinen Fortschritt, wenn Menschen kein Vertrauen
in die Zukunft haben. Wir wollen eine Politik, die dieses
Vertrauen in die Zukunft rechtfertigt und Technikinnovation in unserem Land wieder voranbringt.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Bundesministerin Edelgard
Bulmahn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Novalis - er ist einigen vielleicht
bekannt - hat einmal gesagt: Wer will, der kann auch. Sie, liebe Frau Reiche, wollen nicht, Sie können auch
nicht. Sie wollen schlechtreden.
({0})
Wir wollen und wir können auch.
({1})
Wir wollen, dass Deutschland stark in Bildung und Forschung ist.
({2})
Wir wollen, dass wir durch Innovationen erfolgreich
sind. Wir wollen, dass wir die Grundlagen für den
Wohlstand in unserem Land ausbauen und stärken, damit die Menschen auch in zehn oder 20 Jahren in diesem
Land gut leben können.
({3})
Die Zahlen des jüngsten Bundesberichtes Forschung
belegen eindrucksvoll: Wir können auch erreichen, was
wir erreichen wollen. Zwischen 1998 und 2003 sind die
Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung
um rund 1 Milliarde Euro gestiegen,
({4})
und das trotz des ungeheuren Drucks, die Finanzen zu
konsolidieren. Ich möchte nur daran erinnern: Die Regierung Kohl hatte allein zwischen 1992 und 1998 die
Ausgaben in diesem Zukunftsbereich um rund
670 Millionen Euro gekürzt.
({5})
Unser entschiedenes Handeln dagegen hat auch die
Wirtschaft zu Investitionen ermutigt. So ist der Anteil
der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am
Bruttoinlandsprodukt von 2,3 Prozent im Jahre 1998,
dem letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung, auf aktuell 2,5 Prozent angewachsen. So ist die Realität.
({6})
Der Bundesbericht Forschung 2004 macht deutlich:
Deutschland hat seine starke Position auf den internationalen Technologiemärkten behaupten können. Im
Jahr 2002 betrug allein bei den Gütern der Hoch- und
Spitzentechnologie - das sind die Wirtschaftstreiber der Exportüberschuss 132 Milliarden Euro. Bei forschungsintensiven Gütern liegen wir mit einem Weltmarktanteil von 14,9 Prozent nach den USA auf Platz 2.
Vertrauen in unsere Leistungsfähigkeit ist also durchaus
gerechtfertigt. Es ist politisch falsch, Frau Reiche, wenn
man wie Sie versucht, dieses Vertrauen systematisch kaputtzureden und zu zerstören.
({7})
Dieses Land ist leistungsfähig. Wir können eine ganze
Menge leisten und wir sollten das Vertrauen in unsere eigene Leistungsfähigkeit nicht zerstören, sondern weiter
erhöhen.
Die Bundesregierung hat mit ihrer Forschungsförderung den Vorsprung in den wichtigen Zukunftsbranchen
unserer Wirtschaft ausgebaut, zum Beispiel in der Informationstechnologie. Mit dem Programm IT-Forschung
2006 stellt die Bundesregierung insgesamt 3 Milliarden
Euro für die Forschung zur Verfügung. Deutschland ist
heute einer der modernsten IT-Standorte der Welt. Das
schafft zukunftssichere Arbeitsplätze, und zwar gerade
in den neuen Ländern. Mit der Förderung meines Hauses, des Ministeriums für Bildung und Forschung, ist in
der Region Dresden das Silicon Valley Europas entstanden.
({8})
Es unterstreicht im Übrigen auch der sächsische Ministerpräsident, dass wir durch eine konzentrierte Forschungsförderung das Silicon Valley Europas haben aufbauen können.
({9})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Reiche?
Lassen Sie mich den Gedanken noch kurz zu Ende
führen.
Insgesamt wurden dort 6 Milliarden Euro an zusätzlicher Wertschöpfung mobilisiert und unmittelbar
11 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Das ist unsere
Strategie, unsere Politik.
({0})
Wir stärken unser Potenzial, stärken und sichern damit
Arbeitsplätze und stellen die richtigen Weichen für die
Zukunft.
Bei den Strukturen und Rahmenbedingungen für eine
effiziente Forschung sind wir energischer als jede Regierung zuvor vorangegangen. Wir haben bei der Vergabe
von Forschungsmitteln den Wettbewerb massiv
verstärkt, unter anderem durch die Umstellung der
Finanzierung der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten
deutschen Forschungsorganisation, auf die programmorientierte, wettbewerbliche Finanzierung und durch die
Ausweitung der Projektförderung meines Hauses, durch
die wir gerade die Kooperation zwischen Hochschulen
und außeruniversitären Forschungseinrichtungen und
der Wirtschaft stärken. Damit geben wir einen wichtigen
Impetus für die wirtschaftliche Entwicklung.
Bei der Professorenbesoldung haben wir das Leistungsprinzip eingeführt. Ich sage ausdrücklich hier im
Bundestag, dass ich es außerordentlich bedauere, dass
die Länder zu langsam und zu zögerlich sind, dieses
Bundesgesetz umzusetzen.
({1})
Gerade in den unionsregierten Ländern wird dieses Gesetz nicht umgesetzt. Dabei schaffen wir damit eine
wichtige Voraussetzung dafür, dass gute Leistungen in
Lehre und Forschung
({2})
entsprechend honoriert werden können. Richten Sie Ihre
Kritik bitte an Ihre Landesregierungen. In drei SPDregierten Bundesländern ist das Gesetz bereits umgesetzt
worden. Sie von der CDU/CSU hinken kräftig hinterher.
Mit der Junior-Professur haben wir die Perspektiven
für den wissenschaftlichen Nachwuchs verbessert. Statt
mit Anfang 40 können die Wissenschaftler jetzt schon
mit Anfang 30 unabhängig forschen und lehren. Ich sage
ausdrücklich, Frau Reiche: Ich bin die erste Forschungsministerin gewesen, die dieses Thema aufgegriffen hat.
Meine Vorgänger haben es überhaupt nicht zur Kenntnis
genommen. Wir haben nicht erst Ende der 90er-Jahre
eine problematische Entwicklung gehabt, sondern schon
Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre. Das müssten
Sie bei einer klaren Analyse wissen. Wir haben jetzt endlich eine Trendumkehr. Jetzt merken Sie, dass es ein Problem gab.
({3})
Die Zahlen der ausländischen Studierenden wachsen pro
Jahr. Die OECD-Studie zeigt, dass wir ein Gewinnerland
bei der so genannten Brain-Circulation sind.
({4})
- Lesen Sie die Studie, Frau Reiche, und nehmen Sie das
bitte zur Kenntnis.
({5})
Von Ihrem Antrag „Mit Innovation auf Wachstumskurs - eine einheitliche Strategie“ hätte ich ein bisschen
mehr Kreativität erwartet.
({6})
Das zu fordern, was die Regierung bereits alltäglich tut,
Sie aber in Ihrer Regierungszeit nicht geleistet haben, ist
nicht besonders originell.
Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen, die mir
besonders wichtig sind. Ich stimme Ihnen zu: An den
Hochschulen wird sich die Zukunft unseres Landes entscheiden.
({7})
Für die Bundesregierung sind deshalb zwei Punkte entscheidend. Erstens. Wenn wir für Forscher, Nachwuchswissenschaftler und junge Leute aus aller Welt attraktiv
sein wollen, dann müssen wir unsere Wissenschaft auch
im Ausland entsprechend vertreten. Aus diesem Grund
brauchen wir Spitzenuniversitäten, die auch international wahrgenommen werden und ein hohes Renommee
haben. Deshalb will ich die Hochschulen, die klare Konzepte haben, wie sie eine weltweite Spitzenstellung erreichen wollen, mit einem Wettbewerb finanziell so unterstützen, dass sie ihre Konzepte verwirklichen können.
({8})
Dabei geht es mir auch darum, die Forschung wieder auf
den Campus zu holen und diese Forschung deutlich zu
stärken. Das ist die Zielsetzung. Hinzu kommt eine dritte
Komponente. Mit den Exzellenzclustern werden Bund
und Länder die stärkere Vernetzung zwischen Hochschulen und außeruniversitärer Forschung, aber auch
zwischen der Wirtschaft fördern und stärken. Mit den
Graduiertenschulen werden wir die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses verbessern.
Zusammengenommen ist es das größte Programm zur
Stärkung der Universitäten seit mehr als zehn Jahren.
Mit diesem großen Programm können wir die Entwicklungsmöglichkeiten unserer Hochschulen unterstützen
und ihnen einen nachdrücklichen Schub geben.
({9})
- Frau Reiche, wir werden die dafür notwendigen zusätzlichen Mittel aufbringen. Das wissen der Bundesfinanzminister, der mir darin zustimmt, wie auch die gesamte Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen.
Darin sind wir uns einig. Wir stellen sicher, dass die
finanzielle Förderung der Hochschulen auch in der
Breite fortgesetzt wird.
({10})
Im Übrigen hat der Bund - auch das bitte ich zur
Kenntnis zu nehmen - die Breitenförderung in den vergangenen Jahren um 23 Prozent erhöht. Wenn das auch
alle Länder getan hätten, dann stünden wir heute vor einer besseren Ausgangsposition.
({11})
Frau Ministerin, ich darf Sie noch einmal fragen, ob
Sie die Zwischenfrage der Kollegin Reiche zulassen.
Ja.
Frau Ministerin, Sie haben eben die noch ausstehende
Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zum Förderprogramm für die Hochschulen angesprochen. Ich
frage Sie in diesem Zusammenhang, ob Sie zusagen
können, dass zusätzliche Mittel bewilligt werden, und
wie Sie in diesem Zusammenhang bewerten, dass die
Europa-Universität Viadrina eine beträchtliche Summe
- in der Presse wurde von 50 Millionen Euro in zwei
Tranchen berichtet - erhalten soll, ohne sich dem Wettbewerb zu stellen, und ob auch diese Mittel aus Ihrem
Haushalt finanziert werden müssen.
Liebe Frau Reiche, Bund und Länder haben am
7. Juni eine klare Verständigung über die Eckpunkte der
Förderung erreicht. Ich stehe zu dieser Verständigung
und ich gehe davon aus, dass alle Länder bereit sind, die
Forschung an den Hochschulen zu stärken, und zwar so,
dass unsere Hochschulen auf internationaler Ebene nicht
nur mithalten können, sondern auch die Position einnehmen, die ich für notwendig und wichtig erachte, nämlich
ein starkes und gutes internationales Renommee zu haben und dadurch als „Leuchtturm“ zu wirken.
Ich stehe zu dieser Verständigung und stelle ausdrücklich fest, dass wir die Breitenförderung der Hochschulen so fortsetzen wie in den vergangenen Jahren.
Wir haben sie schließlich um 23 Prozent erhöht.
({0})
Ich weise noch einmal darauf hin: Wenn die Länder die
Mittel im gleichen Umfang erhöht hätten, dann stünden
wir heute besser da.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen
von Ihnen angesprochenen Punkt eingehen. Sie haben
darauf hingewiesen, dass wir mehr Stellen für den Mittelbau brauchen.
({1})
Das ist ausdrücklich zu bejahen, aber das liegt nicht in
der Zuständigkeit des Bundes, sondern der Länder.
({2})
Gerade deshalb ist es notwendig, dass Bund und Länder
die Ausgaben für die Hochschulen erhöhen.
Zur Viadrina: Es gibt eine Vereinbarung zwischen
dem polnischen Staatspräsidenten, dem französischen
Staatspräsidenten und dem deutschen Bundeskanzler,
die so genannte Weimarer Erklärung. Wir arbeiten daran,
diese Vereinbarung umzusetzen, sodass für die drei beteiligten Länder gemeinsame Studiengänge und Studienabschlüsse entwickelt und die Verbindungen zwischen
den drei Ländern deutlich gemacht werden. Wir haben
das zum Beispiel mit dem Verbund deutsch-französischer Hochschulen ebenfalls deutlich gemacht. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir in Deutschland, im Herzen Europas, eine wichtige Rolle übernehmen, wenn wir
die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen diesen
drei Ländern stärken. Alles andere werden Sie dann sehen.
({3})
Darüber hinaus habe ich Anfang Januar dieses Jahres
den Bundesländern angeboten, das Hochschulrahmengesetz auf das zu beschränken, was unbedingt bundeseinheitlich geregelt werden muss. Die Bedingung dafür
ist allerdings, dass die Bundesländer die neuen Freiheiten auch an die Hochschulen weitergeben; das ist entscheidend.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das zurückkommen, was Sie, Frau Reiche, gesagt haben. Wenn Sie
behaupten, die Bundesregierung habe das Auswahlrecht
der Hochschulen nicht stärken wollen, dann sagen Sie
die Unwahrheit. Deshalb sage ich Ihnen ganz ausdrücklich: Hören sie auf, die Unwahrheit zu sagen! Die Bundesregierung und insbesondere die Bundesministerin hat
schon vor eineinhalb Jahren in ihrer Stellungnahme zu
den Vorschlägen der Bundesländer ausführlich auf mehreren Seiten klargestellt, dass wir das Auswahlrecht der
Hochschulen erheblich ausweiten wollen, und zwar viel
weiter, als es die Bundesländer vorgeschlagen hatten.
Die Koalitionsfraktionen haben in Übereinstimmung mit
mir jetzt einen Kompromiss vorgeschlagen. Mein ursprünglicher Vorschlag ging zwar deutlich weiter. Aber
ich finde, dass wir einen sinnvollen Weg gefunden haben, um das Auswahlrecht der Hochschulen auszuweiten. Auch wenn man parteipolitisch die Kontroverse
sucht, sollte man schlicht bei der Wahrheit bleiben. Das
ist wirklich besser, Frau Reiche.
({4})
Auch in einem anderen Punkt stimmen wir überein.
Forschung bewegt sich in mehrjährigen Zyklen; das ist
richtig. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass die großen
Forschungsorganisationen in den nächsten Jahren planbare Mittelzuwächse in Höhe von 3 Prozent von Bund
und Ländern erhalten. Im Gegenzug sollen sich die Forschungsorganisationen auf Reformen verpflichten. Mehr
Mittel im Wettbewerb vergeben, Versäulung aufbrechen
durch mehr Kooperation und Vernetzung der Forschungsorganisationen, mehr Chancen für unkonventionelle Forschungsansätze und damit für Sprunginnovationen, mehr Möglichkeiten für den Nachwuchs, das sind
die Ziele des Paktes für Forschung und Innovation.
({5})
Um diese Ziele so schnell wie möglich zu erreichen,
arbeiten wir seit langem mit der Wissenschaft und der
Wirtschaft an abgestimmten Innovationsstrategien.
Erst im Februar dieses Jahres hat die Bundesregierung
für das wichtige Feld der Nanotechnologie ein Strategiekonzept vorgelegt, das die Grundlagenforschung mit der
Anwendung verzahnt. In vergleichbarer Weise arbeiten
die Impulskreise der Partner für Innovation für Zukunftssektoren wie Energie, Mobilität, Medien, Vernetzung oder Gesundheit. Hier werden Pionieraktivitäten
aufgezeigt und konkrete Handlungsempfehlungen zur
Erschließung der Innovationspotenziale in diesen Themenfeldern formuliert. Effizienz entsteht auch hier durch
ein eng abgestimmtes Vorgehen mit der Wissenschaft
und der Wirtschaft. Sie sehen, was wir schon heute tun.
Aber Sie fordern das erst für morgen.
Wir beschließen heute den Entwurf eines Gesetzes
zur Förderung von Wagniskapital. Diese Neuregelung ist
ebenfalls wieder ein wichtiger Beitrag für die Erhöhung
der Innovationskraft technologieorientierter Unternehmen sowie ein wirksamer Anreiz für Unternehmensgründungen. Forschung und Innovation müssen mehr
Aufmerksamkeit erfahren.
Nur wenn Forschung und Innovation als Schlüssel
für unsere Zukunft begriffen werden, wird es auch gelingen, Subventionen zu reduzieren und Zukunftsinvestitionen zu stärken. Dies, meine sehr geehrten Damen und
Herren auch von der Opposition, ist die Aufgabe von allen, die in diesem Land Verantwortung tragen. Die Bundesregierung hat mit der Empfehlung, die Eigenheimzulage zu streichen, einen zielführenden und praktikablen
Vorschlag auf den Tisch gelegt. Ob Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, diesem Vorschlag zustimmen werden oder ob Sie aus parteitaktischen Gründen diese wichtige Zukunftsoption verhindern wollen,
({6})
ist der Lackmustest, den Sie bestehen müssen.
({7})
An dieser Frage wird sich entscheiden, ob Sie es mit
wohlklingenden Bekenntnissen ernst meinen oder ob ihnen die Zukunft von Bildung und Forschung in Wirklichkeit egal ist.
Frau Ministerin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin zum Schluss gekommen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Cornelia Pieper, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, Sie haben für Vertrauen in Ihre Forschungspolitik geworben.
({0})
Wir von der Opposition sagen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
({1})
Frau Bulmahn, Sie sind und bleiben eine Traumtänzerin,
weil Sie die wirklichen Zahlen, die sich nicht nur in diesem Bundesbericht Forschung, sondern auch im internationalen Wettbewerb abzeichnen, einfach nicht zur
Kenntnis nehmen.
Ein wichtiger Indikator für die Stärke eines Wirtschafts- und Wissenschaftsstandortes sind die Ausgaben
für Forschung und Entwicklung. Bezogen auf den Anteil am Bruttoinlandsprodukt liegt Deutschland jetzt
zwar, das gebe ich zu, mit 2,52 Prozent ungefähr im Mittelfeld. Zieht man aber einen Vergleich zu führenden Industrienationen wie Schweden, Finnland, Japan und
USA, dann erkennt man: Die Mitwettbewerber laufen
uns davon.
({2})
Wir alle wissen durch die Studie des Stifterverbandes
für die Deutsche Wissenschaft von Anfang 2004, Frau
Ministerin, dass die Aufwendungen der Unternehmen
für Forschung und Entwicklung im Jahre 2003 erstmals
wieder abgenommen haben. Das ist ein alarmierendes
Signal. In einer nationalen Innovationsstrategie müssen
wir den Unternehmen wieder den nötigen Spielraum für
Innovationen und Investitionen geben. Das hat Ihre Bundesregierung nicht getan.
Schauen Sie sich Frankreich und Großbritannien an:
Diese Länder schaffen Anreize, damit die Unternehmen
in Forschung und Entwicklung investieren. Großbritannien lässt zu, dass bis zu 150 Prozent der Investitionen in
Forschung und Entwicklung steuerlich abgeschrieben
werden können. Der BDI hat diese Woche vorgeschlagen, eine Forschungsprämie zuzulassen: Wenn Unternehmen in Forschung und Entwicklung mehr investieren, dann sollte das mit 25-prozentigen Zuwendungen an
die Hochschulen und Forschungseinrichtungen begleitet
werden. Das sind Ideen, Frau Ministerin. Setzen Sie
doch im „Jahr der Innovationen“, das Sie selbst ausgerufen haben, auch einmal neue Ideen um und streiten Sie
mit uns darüber! Wir haben von Ihnen - jedenfalls
heute - nichts Neues gehört.
({3})
Sie haben Novalis zitiert. Ich zitiere Benjamin
Franklin: „Investitionen in Wissen bringen die besten
Zinsen.“ Das ist so. Wenn sich Deutschland nicht aus der
Spitzengruppe der Forschungsnationen verabschieden
will, dann sind jährliche Steigerungen der gesamten
F-und-E-Ausgaben notwendig. Dass wir in Deutschland
sechsmal mehr für Soziales als für Bildung ausgeben, ist
eine fatale Schieflage. Es ist die Ursache dafür, dass wir
nicht zu mehr Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft
kommen.
Lassen Sie mich noch einmal Franklin zitieren:
„Gläubiger haben ein besseres Gedächtnis als Schuldner.“ In diesem Zusammenhang verweise ich auf die
Versprechungen der Bundesregierung. Die Ausgaben
des Bundes für Forschung und Entwicklung und insbesondere die Ihres Ministeriums sind eben nicht in dem
Umfang gestiegen, wie Sie es angekündigt haben.
Ich erinnere Sie hier daran, dass Sie die Zukunftsinvestitionen bereits von 1998 bis 2002 verdoppeln
wollten. Sie haben eine Steigerung von 12,2 Prozent
erreicht. Der Europäische Rat hat im März 2000 in Lissabon den Beschluss gefasst, dass die Länder der Europäischen Union zukünftig 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung ausgeben. Diesen Beschluss
haben Sie haushaltspolitisch nicht umgesetzt, Frau
Ministerin. Wo sind denn die Realisierungen Ihrer Ankündigungspolitik? Das vermissen wir.
({4})
Wir können nicht erkennen, wie Sie in der mittelfristigen Finanzplanung erreichen wollen, dass die Ausgaben
für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. Wenn das
Bruttoinlandsprodukt nicht wächst, was man unter Ihrer
Regierung ja befürchten muss, dann würde das bedeuten,
dass Sie in Ihrem Haushalt jährlich 210 Millionen Euro
mehr für Forschung ausgeben müssten. Ich frage Sie,
nachdem Sie sich zu diesem EU-Beschluss bekannt haben: Wo ist das Geld?
({5})
3,7 Milliarden Euro wurden 2003 für die Subventionierung von Windmühlen ausgegeben. Ökologische
grüne Prestigeobjekte sind der Bundesregierung wichtiger als Investitionen in die Köpfe. Wenn Sie mich fraCornelia Pieper
gen, dann gebe ich Ihnen einen Tipp: Wenn Sie in die
Hochschulen investieren wollen, dann sollten Sie diese
Subventionen kürzen und das Geld in die Schulen und
Hochschulen dieses Landes stecken. Das hilft uns mehr
als das, was Sie hier vorschlagen. Das alles sind nur
Luftblasen.
Will Deutschland seine Führungsposition in Europa
halten, muss es der Forschungsförderung ein weitaus höheres Augenmerk als bisher schenken. Hierzu wird ein
klares Forschungskonzept benötigt. Ein solches Konzept
von der Bundesregierung, von Ihnen, Frau Bulmahn,
vermisse ich.
Es gibt eine beängstigende Entwicklung auch bei der
technologischen Dienstleistungsbilanz. Unter Ihrer Regierung haben wir in dieser technologischen Dienstleistungsbilanz einen Rekordnegativsaldo erreicht. Betrug
er 1990 noch knapp 0,5 Milliarden Euro, so betrug er
2001 schon 7,5 Milliarden Euro. Das ist eine dramatische Entwicklung, die eben nicht für eine gute Forschungspolitik Ihres Hauses spricht, Frau Bulmahn.
({6})
Besorgniserregend ist natürlich auch der drastische
Rückgang beim Forschungs- und Entwicklungspersonal in der Wirtschaft. Das können wir im Forschungsbericht nachlesen. Deutschland liegt mit 6,5 Forschern
pro 1 000 Einwohnern zwar noch über dem EU-Durchschnitt; jedoch sind es in Japan zehn und in den USA
neun Forscher pro 1 000 Einwohner. Im Osten Deutschlands beträgt der Anteil am gesamtdeutschen Entwicklungspersonal lediglich 9 Prozent. Hier müssen Sie mehr
Akzente setzen, wenn wir auch im Interesse des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern
dort Wachstumskerne erhalten wollen und neue Wachstumskerne entstehen lassen wollen.
Die Bundesregierung hat, was die Forschungspolitik
anbelangt, aus meiner Sicht versagt. Die Bundesregierung ignoriert vieles, insbesondere die Motive der Abwanderung von Nachwuchswissenschaftlern, von
Doktoranden, die weitestgehend in die interessanteren
Staaten dieser Erde gehen, in die Staaten, in denen unter
leichteren Bedingungen zu forschen ist. Deswegen kann
ich Sie nur auffordern, Frau Ministerin: Ändern Sie das!
Es gibt ja diesen netten Witz: Auf die Frage, was ein
deutscher Forscher braucht, um internationale Anerkennung zu erlangen, antwortet ein in den USA lebender
Forscher knapp: Ein Flugticket. - Das, finde ich, sollte
in Zukunft nicht die Linie unserer und Ihrer Politik sein.
Frau Ministerin, machen Sie den Weg frei für mehr
Freiheit und Wettbewerb der Hochschulen! Greifen Sie
auf die Vorschläge zurück, die wir Ihnen gemacht haben!
Reformieren Sie das Hochschulrahmengesetz! Schaffen
Sie die ZVS ab und lassen Sie das Studiengebührenverbot fallen! Geben Sie den Hochschulen durch Wissenschaftstarifverträge mehr Flexibilität! Wir haben ein Gesamtkonzept dafür vorgelegt, wie es mit Innovationen in
Deutschland vorangehen kann, um so zu einem neuen
Wachstum für Deutschland und zu mehr Arbeitsplätzen
zu kommen.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile Kollegen Hans-Josef Fell, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Reiche, Sie fordern zu Recht eine Aufbruchstimmung in Deutschland ein. Nur, wer das mit
solch mies machenden Worten wie Sie tut, wird nicht
Aufbruchstimmung erreichen, sondern einen Abbruch
ernten.
({0})
Ihre Auswahl von Zitaten und Beispielen spricht da
für sich selbst. Sie zitieren den Vorstand von Siemens
sinngemäß dahin gehend, die Forschungsbereiche in
Deutschland seien nicht ausreichend.
({1})
Sie haben vergessen, den Vorstand von General Electric
zu zitieren, der ausgerechnet nach Deutschland kommt,
({2})
und zwar wegen der Stärke des Forschungsstandorts
Deutschland, wegen der Unterstützung durch die Bundesregierung, wegen der Märkte, die Sie immer ablehnen. Einer der drei Schwerpunkte von General Electric
in Garching bei München ist die Forschung für erneuerbare Energien.
({3})
Das sollten Sie wissen. Sie sollten diese Strategie und
die damit verbundenen Investitionen nicht ablehnen, so
wie Sie es erst heute Vormittag wieder getan haben, als
Sie das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Erneuerbare-Energien-Gesetz abgelehnt haben.
({4})
Sie sollten klar und ernst über diese Sachen reden. Ich
werde darauf noch zurückkommen.
Kollege Fell, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Reiche?
Bitte.
Herr Kollege Fell, Sie scheinen mit dem von mir Zitierten nicht ganz zufrieden zu sein.
({0})
Deshalb möchte ich jetzt jemanden ins Feld führen, der
unverdächtig ist, nämlich den ehemaligen Präsidenten
der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, der sagt:
Zwar mögen wir nicht so schlecht sein, wie wir uns
gerne machen, aber deshalb sind wir noch lange
nicht so gut, wie wir gerne wären, vor allem aber,
wie wir sein müssten, um im weltweiten Wettbewerb nicht nur im Rudel mitzulaufen.
Mich würde Ihre Haltung zu den Ausführungen von
Herrn Markl interessieren.
({1})
- Das Thema war „Schlechtreden“!
Frau Kollegin Reiche, es ist ohne Zweifel richtig,
dass die Bedingungen für den Forschungsstandort
Deutschland noch verbessert werden können und verbessert werden müssen.
({0})
Dies hat Professor Markl zum Ausdruck gebracht. Ich
denke, bezüglich dieser Zielvorstellung stimmen wir mit
ihm überein. Dies hat nichts mit der Miesrederei zu tun,
die Sie bei jeder Rede an den Tag legen.
({1})
Dass Deutschland ein starker Forschungs- und auch
Wirtschaftsstandort ist, hat Frau Ministerin Bulmahn
schon ausgeführt. Nachdem Sie das kritisiert haben, will
ich wiederholen, was wir geleistet haben: Rot-Grün hat
die Forschungsausgaben von 1998 bis zum Jahre 2003
um 1 Milliarde auf inzwischen 9 Milliarden Euro erhöht.
({2})
Ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist inzwischen von
2,3 auf 2,5 Prozent gestiegen. Dies ist wichtig. Natürlich
bekennen wir uns zu einem weiteren Ausbau. Wir halten
an dem 3-Prozent-Ziel fest. Wir sagen aber auch genau,
was dieses 3-Prozent-Ziel bedeutet. Wir kennen die
knappe Haushaltslage. Dennoch scheuen wir uns als
Fachpolitiker nicht, klar zu bekennen: Als erster Schritt
auf dieses Ziel hin müssen im Haushalt 2005
500 Millionen Euro bereitgestellt werden. In den nächsten Jahren muss der Betrag ansteigen, wenn der Bund
seine Verantwortung für diesen Bereich wirklich ernst
nehmen will.
({3})
Es steht fest: Unsere Erfolge können sich tatsächlich
sehen lassen. Von Frau Ministerin Bulmahn haben wir
hierzu bereits einige Beispiele gehört. Ich will diese
nicht vertiefen, aber doch noch einmal darauf hinweisen,
dass wir bei Gütern der Hoch- und Spitzentechnologie
weltweit den höchsten Exportüberschuss haben, dass
Deutschland bei den forschungsintensiven Gütern einen
Weltmarktanteil von 14,9 Prozent hat und damit auf
Platz zwei liegt. In Bezug auf Veröffentlichungen wissenschaftlicher Art liegen wir weltweit auf Platz drei.
Damit sind wichtige Parameter genannt, die die hohe
Qualität des Forschungsstandorts Deutschland aufzeigen.
({4})
Zugleich sehen wir, dass auch in einzelnen Bereichen
Erfolge nicht ausbleiben. Die Lasertechnologie wurde
genannt. Inzwischen beträgt unser Weltmarktanteil bei
Lasern für Materialbearbeitung 40 Prozent. In diesem
Sektor wurden alleine in den letzten Jahren 50 000 neue
Arbeitsplätze geschaffen.
Ich komme zurück auf die erneuerbaren Energien.
Unsere Politik, Frau Pieper, fördert Innovationen im Bereich Windkraft übrigens nicht durch Subventionen.
({5})
Ich weiß nicht, warum Sie einfach nicht verstehen, was
Subventionen sind. Der Europäische Gerichtshof hat
klar festgelegt: Einspeisevergütungen stellen keine Subventionen dar. Nehmen Sie das endlich einmal zur
Kenntnis.
({6})
Die innovativen Instrumente, die wir in diesem Bereich
anwenden, sind marktkonform. Hierdurch wurde erreicht, dass in den letzten Jahren 60 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Inzwischen gibt es in diesem
Bereich, wo einer der größten Märkte der Welt entsteht,
120 000.
Wir nehmen auch die Markteinführung ernst, nicht
nur durch Gesetzesvorgaben, sondern auch im gesamten
Komplex der Innovation. Ich nenne beispielsweise das
Stichwort Bildung: Dank der Unterstützung von Frau
Ministerin Bulmahn konnte auf der Erneuerbare-Energien-Konferenz die Gründung einer offenen Universität
initiiert werden, die zunächst als Internetplattform organisiert ist. Sie will Ausbildung in diesem Bereich sowie
durch Forschungsvernetzung weltweiten Know-howTransfer voranbringen. Eine Anschubfinanzierung ist
vom BMBF in Aussicht gestellt worden. Dafür möchte
ich mich ausdrücklich bei der Ministerin bedanken. Die
UNESCO bildet das Dach über dieser Universität. Wir
haben eine breite Palette an Angeboten, um immer wieder die Einführung von Innovationen, vor allen Dingen
auch den zukunftsorientierten, die uns besonders wichtig
sind, zu unterstützen.
({7})
Wir sehen, dass wir weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen ergreifen müssen. Ich
nenne beispielsweise die Kapitalschwäche, die wir in
Deutschland im Venture-Capital-Bereich haben. Herr
Riesenhuber hat zu Recht immer wieder darauf hingewiesen. Wir haben bereits beschlossen, wie wir hier vorgehen wollen. Ich erinnere noch einmal an die Einführung eines Dachfonds, der mit 500 Millionen Euro
ausgestattet wird und der die Liquidität bei Risikokapital erhöhen wird. Heute werden wir einen Gesetzentwurf
verabschieden, der die steuerlichen Rahmenbedingungen für das Venture Capital verbessern wird. Sie sehen:
Wir nehmen unsere Aufgabe ernst, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen.
({8})
Ich komme auf das 3-Prozent-Ziel in Bezug auf das
Verhältnis der Forschungsmittel zum Bruttoinlandsprodukt zurück. Der Bundeskanzler hat sich wie die
Regierungsfraktionen immer wieder zu diesem Ziel bekannt und auch einen guten Gegenfinanzierungsvorschlag vorgelegt. Die Abschaffung der überholten
Eigenheimzulage würde Bund und Ländern den notwendigen Spielraum für die Erhöhung der Forschungsmittel geben. Aber wer wie Sie die Eigenheimzulage höher gewichtet als Investitionen in Forschung und
Entwicklung, der zeigt, dass er reformunfähig ist, weil er
trotz knapper Haushaltsmittel nicht bereit ist, von Subventionen, wie Frau Pieper zu Recht sagt, auf Investitionen in Bildung und Forschung umzuschichten, was notwendig ist. Ich fordere Sie auf, Ihren Widerstand gegen
die Abschaffung der Eigenheimzulage endlich aufzugeben und sich mehr für Bildung und Forschung einzusetzen.
({9})
Ich mahne Sie auch an, Ihre Verantwortung in den
Ländern viel ernster zu nehmen; denn Forschungsausgaben sind nicht nur Ausgaben des Bundes. Man kann
beobachten, wie in den Ländern, gerade in den unionsregierten Ländern, Ausgaben für Bildung und Forschung
zusammengestrichen werden. Wir können uns an die
Studentenproteste an den Hochschulen Anfang dieses
Jahres erinnern, gerade in Bayern - weil Sie das vorhin
erwähnt haben.
({10})
Wir sehen, dass Sie Ihre Verantwortung in den Ländern
nicht in ausreichendem Maße wahrnehmen. Wir wünschen uns höhere Ausgaben.
Ich möchte auch an uns selbst eine Mahnung richten:
Der notwendige Aufwuchs für die Forschungseinrichtungen - wir stehen hinter diesem Ziel - darf nicht zulasten der Projektmittel gehen. Projektmittel sind wichtig,
um neue Maßnahmen zu ergreifen, um schnell handeln
zu können, um angesichts der Herausforderungen der
Gesellschaft, zum Beispiel durch die alternde Gesellschaft oder durch die knappen Erdölressourcen dieser
Welt, neue Innovationen auf den Weg zu bringen. Diese
Projektmittel werden wir beispielsweise auch brauchen,
um, nachdem wir endlich den Durchbruch beim Zuwanderungsgesetz erreicht haben, kluge Köpfe nach
Deutschland zu holen. Wir werden sie nur dann nach
Deutschland holen können, wenn wir ihnen hier auch
Forschung ermöglichen.
Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir bei den
kommenden Haushaltsberatungen nicht nur die institutionellen Mittel im Blick haben, sondern auch die Projektmittel, die wir genauso stärken müssen wie alle anderen Ausgaben im Bereich der Forschung.
({11})
Wir werden diese Projektmittel und andere Forschungsanstrengungen einsetzen, um endlich die großen
Herausforderungen der Welt anzugehen. Die steigenden
Erdölpreise sind nicht nur ein Zeichen dafür, dass wir
mit unserem Wirtschaften ein Problem haben; nein, sie
sind eine Mahnung an uns, endlich auch die ökologischen Grenzen des Wachstums in dieser Welt ernst zu
nehmen. Wir stehen an der Schwelle zur Verknappung
des Erdöls in dieser Welt. Umso wichtiger ist es, dass
wir, als in erneuerbaren Energien weltweit führende Nation, Forschung, Innovationen und auch die Markteinführung weiter intensivieren und stärken. Nachwachsende Rohstoffe im Bereich der Chemie als Erdölersatz
und Energieersatz werden eine der großen Herausforderungen sein neben den Innovationen, die notwendig sind,
um endlich die Probleme der alternden Gesellschaft angehen zu können.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Kollege Professor Heinz
Riesenhuber von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Frau Ministerin hat markant begonnen: Wer
will, der kann. - Das ist großartig. Frei nach Eugen Roth
könnte man ergänzen: Das ist es gerade, selbst wollen
können ist schon Gnade.
({0})
Jetzt wollen wir einmal überlegen, was Sie wollen können. Was Sie wollen können, hängt von zwei Dingen ab:
Das eine ist das zur Verfügung stehende Geld - darüber
haben Herr Fell, Frau Flach und andere gesprochen, auch
Sie selber, Frau Ministerin - und das andere sind die Visionen bezüglich dessen, was Sie erreichen wollen.
Wie sieht es beim Geld aus? Wir sind ja in der glücklichen Lage, heute über den Bufo 2004 diskutieren zu
dürfen, denn er ist voller Erkenntnisse.
({1})
- Das ist der Bundesforschungsbericht; ich bitte sehr um
Nachsicht. Dieses wertvolle Buch ist uns eben als Tischvorlage serviert worden,
({2})
sodass wir die Möglichkeit haben, es durchzulesen, bevor wir in die Debatte eintreten.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass Seite für Seite dieses
Berichts aus dem Internet herausgezogen werden kann.
Professionalität ist in der Politik manchmal ganz wichtig; aber dies ist hier nicht mein Thema.
Der Bufo rechnet Folgendes vor: Wenn in Europa
Ausgaben in Höhe von 3 Prozent des Bruttosozialprodukts für Forschung erreicht werden sollen, dann
müsste Deutschland 3,5 Prozent leisten. Jedes Land
müsste einen Prozentpunkt mehr leisten; denn man kann
nicht erwarten, dass die Polen plötzlich um 1,5 oder
2 Punkte springen.
Das bedeutet für uns in Deutschland: Wir müssen von
rund 53 Milliarden Euro Ausgaben auf rund 73 Milliarden kommen. Dies ist ein Zuwachs von gut 20 Milliarden. Jetzt rechnen wir davon einmal ab, dass die Wirtschaft zwei Drittel zahlt. Dann bleiben knapp
7 Milliarden Euro für die öffentliche Hand. Die Länder
zahlen ungefähr die Hälfte. Dann bleiben 3,5 bzw.
3,6 Milliarden Euro für den Bund. Das heißt, diese
Summe müssten wir aufbringen. Das dividieren wir
durch sechs Jahre - das können wir im Kopf -:
({3})
Dann sind wir bei einem Plus von 600 Millionen Euro
pro Jahr - und das bei Nullwachstum. Wenn die Wirtschaft wächst, sind es ein paar 100 Millionen mehr.
Das hat der Bundeskanzler beschlossen. Das war
nämlich der Beschluss des europäischen Gipfels. Das ist
also das, was wir brauchen. Der Bundesforschungsbericht belehrt uns aber, dass die Forschungsmittel des
Bundes im letzten Jahr um insgesamt 279,8 Millionen
Euro zurückgegangen sind. Das ist kein sehr guter Beginn für einen dynamischen Aufbruch in eine neue Welt,
in der Sie all die großartigen Ziele, die Sie angesprochen
haben, kraftvoll verwirklichen wollen.
({4})
Da gibt es natürlich interessante Diskussionen. Herr
Fell hat uns mit juristischem Sachverstand - Gott sei
Dank sind wir beide, lieber Herr Fell, keine Juristen - erläutert, dass der Europäische Gerichtshof erkannt hat,
dass die Vergütungen für Strom aus Windkraft und anderen erneuerbaren Energien keine Subvention seien.
Wenn wir aber pro Jahr 2,5 Milliarden Euro für eine einzige Technik ausgeben, dann ist der Volkswirtschaft und
Frau Lieschen Müller wurscht, ob das mit Steuern oder
durch die Stromrechnung bezahlt wird. Denn es wird abgezockt.
({5})
In eine einzige Technik werden Mittel in einer Größenordnung eingesetzt, die vielmal so groß ist, wie SPD-Regierungen beim schnellen Brüter und beim Hochtemperaturreaktor oder später CDU/CSU-Regierungen es
jemals getan haben.
Also, Herr Fell, die Stärke unseres Antrags, über den
wir heute diskutieren, liegt nicht nur darin, dass wir hier
Dinge feststellen, bei denen wir einen Konsens haben.
Dass wir Wachstum brauchen, ist inzwischen Konsens.
Die kuschelige Strategie des Nullwachstums, die vor einiger Zeit üblich war, ist längst vorbei. Dass wir Wachstum nur durch Innovationen und nicht durch ein Mehr
vom Gleichen bekommen, darin sind wir uns einig. Aber
dass eine einheitliche Strategie auf Ziele hin fehlt, das
macht die ganze Schwäche aus.
({6})
Deshalb entsteht durch die Wirklichkeit auch keine Faszination.
Ich würde mich freuen, wenn ich von unserem hochverehrten Herrn Bundeskanzler mal eine Rede über den
Aufbruch in die Wissensgesellschaft hören könnte.
Herr Kollege Professor Riesenhuber, darf ich Ihren
Redefluss kurz unterbrechen?
Ich bin gerade so schön in Fahrt; aber bitte schön.
Der Kollege Fell würde gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Halten Sie aber die Uhr an!
Die halte ich selbstverständlich an. - Bitte, Herr Fell.
Herr Kollege!
Die Uhr steht. Sie können sich überzeugen.
Halten Sie sie noch ein bisschen länger an.
({0})
Herr Kollege Riesenhuber, Sie haben gerade die Ausgaben im Bereich der Energieforschung in Bezug auf die
Windenergie, den schnellen Brüter und andere Techniken angesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, wie sich die Mittelverteilung in der Energieforschung weltweit in den letzten 50 Jahren entwickelt hat.
Nach Aussagen der OECD und vor allem der Internationalen Energieagentur in Paris sind in den letzten
30 Jahren 70 Prozent aller OECD-weiten öffentlichen
Energieforschungsmittel in die Kernenergie, also in die
Kernfusion und in die Kernspaltung, geflossen. Das Ergebnis ist eine Deckung von - je nach Berechnungsbasis - 5 bis 7 Prozent des Weltenergiebedarfs.
Ich frage Sie: Ist das nicht Ausdruck dafür, dass dies
im Forschungsbereich einer der größten Misserfolge ist,
wenn man andererseits sieht, dass nur etwa 2, 3 oder
4 Prozent der öffentlichen Forschungsmittel für erneuerbare Energien ausgegeben wurden, diese aber bereits
12 Prozent des Weltenergiebedarfs decken?
Herr Kollege Fell, ich will Ihnen meine Antwort in
zwei Teilen geben.
Zum ersten Teil. Für die Kernenergie ist ziemlich
viel Geld ausgegeben worden. Ich war immer sehr beeindruckt davon, dass sich Bundeskanzler Schmidt dafür
entschieden hat, den schnellen Brüter und den Hochtemperaturreaktor zu bauen. Die Forschungsminister
Matthöfer, Hauff und von Bülow
({0})
haben mit großer Leidenschaft immer größere Beträge
dafür ausgegeben. Es gab Projekte, die völlig außer Kontrolle geraten sind, sodass wir im Jahre 1982 Überhänge
oder so genannte Bugwellen - so wurde es vornehm genannt - von Hunderten von Millionen vorfanden. Das alles hat nichts mit den heute laufenden Leichtwasserreaktoren in Deutschland zu tun. Sie sind mit Ausnahme des
Bereichs der Sicherheitsforschung, in der der Staat flankierend tätig war, von der Industrie bezahlt worden und
können wirtschaftlich betrieben werden.
({1})
- Herr Tauss, ich habe schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich Ihre wohlklingende Stimme heute hören
darf.
({2})
Herr Kollege, antworten Sie noch auf die Frage von
Herrn Fell? Nur dann kann ich die Uhr noch weiter anhalten.
Ja. - Herr Fell, ich komme jetzt zum zweiten Teil
meiner Antwort, nämlich zu den erneuerbaren Energien. Die erneuerbaren Energien haben wir mit großer
Leidenschaft vorangebracht. Wir haben 1982 den Growian, eine gespenstische Fehlkonstruktion, vorgefunden.
Wir mussten die Windenergie neu aufbauen. Es wurden
alle möglichen Typen getestet: senkrechte Achsen,
waagerechte Achsen, Einflügler und Mehrflügler. Wir
haben die Windparks in Pellworm aufgebaut sowie das
100-Megawatt-Windprogramm und das 300-MegawattWindprogramm aufgelegt.
({0})
Die Idee war aber die: Der Staat bringt die Forschung
voran. Danach müssen die Neuentwicklungen auf den
Markt,
({1})
wo sie sich bewähren müssen. Ich bin sogar der Ansicht,
dass der Staat die Markteinführung mit fördern soll.
Aber es darf keine Dauersubvention des Staates in
Höhe von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr geben.
({2})
In den nächsten Jahren werden wir für die Subventionen
für die erneuerbaren Energien mehr als für die Kohle
ausgeben. Das kann nicht die Strategie sein.
({3})
Sie und ich sind der Überzeugung, dass die Windenergie sich prächtig entwickelt hat. Entlassen Sie sie
also sozusagen in die Freiheit der Märkte und hängen Sie
sie nicht an den Tropf des Staates.
({4})
Subventionen gehen auf verschlungenen Wegen immer
zu Leuten, die daran gut verdienen. So sieht die Wirklichkeit in dieser beschränkten Welt aus.
({5})
Ich möchte noch eine kurze Bemerkung anfügen. In
Bezug auf die gesellschaftlichen Ziele sollte der Bundeskanzler einmal mit großer Leidenschaft vom Aufbruch
in die Wissensgesellschaft sprechen.
({6})
Uwe Jean Heuser hat gestern in der „Zeit“ geschrieben:
Will man aber eine Volkswirtschaft reformieren,
müssen sich die Bausteine schon zu einem Mosaik
zusammenfügen. Wenn aber der Chefreformer
selbst nicht weiß, wie das Bild aussehen soll, dann
fällt alles auseinander.
Dann sind die vielen wunderschönen Einzelprogramme
ephemere Belanglosigkeiten, „Stroh der Zeit“, wie
Enzensberger sagen würde. All diese Programme sind
nicht Teil einer großen Strategie, sondern einzelne
Punkte, die jeweils nur für eine Pressemeldung gut sind.
({7})
Zu dem Aufbruch in die Wissensgesellschaft lässt
sich sagen, dass damit nicht das Verschmelzen von Computern, Telefonen und Fernsehgeräten gemeint ist. Die
Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft, die mit Wissen
umgehen kann, in der Wissen wächst und in der Wissen
für jedermann, der damit umgehen und die Wirklichkeit
verantwortlich gestalten kann, zu jeder Zeit verfügbar
ist. Deshalb haben wir den Antrag so gestellt. In einem
großen Bogen angefangen bei der Erziehung und Bildung in Schulen über die Universitäten bis zur Technik
und Wirtschaft haben wir eine geschlossene Vision von
der Zukunft im Rahmen einer einheitlichen Strategie
dargestellt.
({8})
Dies habe ich in keiner Rede des Bundeskanzlers über
die Wissensgesellschaft entdeckt.
({9})
Wenn er diese großen Signale nicht aussendet, dann bekommen wir nicht die notwendige Begeisterung in diesem Land. Sie ist nicht dadurch zu erreichen, dass wir
noch mehr Gelder - was prima ist - noch präziser verteilen. Nur aus dem Geist der Zuversicht erwächst Unternehmungsgeist.
Die jungen Leute, die Naturwissenschaften studieren
und die wir brauchen, gehen davon aus, dass man in der
Technik Erfolge erzielen muss. Für sie ist es kein Erfolg,
dass der Transrapid in China fährt, dass die Grüne Gentechnik in Deutschland nicht angewandt wird, dass es
den Ausstieg aus der Kernenergie gibt, dass die Maut gegen die Wand gefahren wird und dass das Dosenpfand
beherrschendes Thema über Monate bleibt. Nein, sie
wollen, dass es eine zündende Bereitschaft gibt, um aus
Zuversicht, Kompetenz und Unternehmungsgeist eine
Zukunft aufzubauen. Genau das ist es. Bis jetzt löst die
Leidenschaft des Bundeskanzlers und seiner strahlenden
Forschungsministerin noch nicht die Begeisterung aus,
die dafür notwendig ist, dass die Herzen der Menschen
bewegt werden und die jungen Leute Freude an der Zukunft haben.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der
SPD-Fraktion.
({0})
Ungeachtet dessen, lieber Kollege Riesenhuber, dass
wir uns alle fragen, wo die Substanz Ihrer Rede gewesen
sein mag, möchte ich doch sagen: Mit Ihnen macht es im
Gegensatz zu Frau Reiche wenigstens Spaß. Übrigens,
einer Ihrer Fraktionskollegen hat kürzlich zu mir gesagt,
ich solle mich nicht aufregen, Frau Reiche werde politisch nur falsch geführt. Machen Sie das einmal Ihrer
Fraktionsführung klar; denn schon bei Ihnen wird das so
wahrgenommen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute stehen der Bundesbericht Forschung 2004 und zwei Anträge der Opposition zur Forschungs- und Innovationspolitik auf der Tagesordnung. Das dicke Werk liegt auf
dem Tisch. Seit Mai konnte man das übrigens schon
nachlesen; jetzt hat es nur noch eine Drucksachennummer bekommen, lieber Kollege Riesenhuber. Ich würde
einfach empfehlen - das gilt vor allem für Frau Reiche
mit ihrer seitenlangen Polemik, auch in Ihren Anträgen -: Lesen Sie doch einfach einmal objektiv!
({1})
Unternehmen Sie den Versuch, dieses dicke Werk auch
einmal durchzuarbeiten - von mir aus im stillen Kämmerlein -, und kommen Sie dann wieder und reden mit
uns!
({2})
Ich will aber noch ganz kurz auf Herrn Riesenhuber
eingehen. Ich habe eine Seite aus dem Bundesbericht
herausgerissen, die ich hier vorzeige. Es geht hier um
Kurven. Das Kürvchen, das da unten beginnt, stellt Ihre
Zahlen dar; die Kurve, die da oben endet, gibt unsere
Zahlen wieder.
({3})
Bei allem Streit, den wir miteinander haben: Schauen
wir uns doch einmal das an, was auf dem Tisch liegt.
Wer von den Besuchern auf der Tribüne das Werk gerne
hätte, dem kann ich sagen: Es kann beim Bundestag angefordert werden.
Lieber Herr Riesenhuber, ich komme noch einmal auf
das Thema Kernkraft. Mir liegt es gar nicht, jetzt in
Leidenschaft zu verfallen. Sie haben allerdings gesagt:
Die Industrie bezahlt. Mir fällt jetzt dazu eine Sitzung
ein, die ich in dieser Woche im Ministerium hatte. Es
geht darum, dass für eine abbruchreife WAK-Anlage, die
in meinem Wahlkreis steht, wieder einmal 80 Millionen
aus dem Forschungshaushalt herübergeschoben werden.
Ich habe den Vertreter des Ministeriums gefragt: Warum
eigentlich müssen wir dafür zahlen, dass eine abbruchreife WAK-Anlage - diese Wiederaufarbeitungsanlage
wurde damals von Ihnen gepuscht - abgebrochen werden muss? Daraufhin hat er mir gesagt: Dabei handelt es
sich um einen begnadeten Vertrag, den Herr Riesenhuber
noch abgeschlossen hat. Damals ging man davon aus,
dass die Abbruchkosten bei 2 Milliarden liegen. Liebe
Frau Pieper, wenn wir über Subventionen reden, dann
gehört auch Folgendes dazu: Bei der Kernkraft kostet
der Abbruch allein dieser Anlage 2 Milliarden. Damals
wurde zwischen Riesenhuber und der Industrie vereinbart: 1 Milliarde - damals D-Mark - zahlt die Industrie;
1 Milliarde zahlt der öffentliche Bereich. Zwischenzeitlich sind wir bei Abbruchkosten von 4 Milliarden DM
angekommen; es sind jetzt also 2 Milliarden Euro. Nur
ist folgendes Interessante passiert: Die Industrie bleibt
bei 1 Milliarde DM und die übrigen 3 Milliarden DM
sind von der öffentlichen Hand und damit vom Steuerzahler aufzubringen. Dieses Geld fehlt heute im Forschungsetat. Das waren Ihre Verträge, Herr Riesenhuber;
sie stellen einen Teil des Ärgers dar, den wir heute haben.
({4})
Herr Kollege Tauss, Kollege Professor Riesenhuber
würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Erlauben
Sie das?
Lieber Herr Riesenhuber, im Grunde wollte ich heute
keine Zwischenfragen zulassen, weil ich eigentlich seit
11 Uhr einen wichtigen innovationspolitischen Termin
habe. Bei Ihnen mache ich jetzt eine Ausnahme. Aber
nur ganz kurz, bitte.
({0})
Ich vermute, dass die Anlage, über die Sie sprechen,
in Karlsruhe steht.
Ja!
Ferner vermute ich, dass es sich dabei um einen Forschungsreaktor handelt.
Ja!
Außerdem vermute ich, dass dies ein Reaktor ist, der
in der Zeit von Bundeskanzler Schmidt, SPD, errichtet
worden ist, und ich vermute, dass die Vereinbarungen,
um die es hier geht, getroffen worden sind - daran erinnere ich mich -, um eine erhebliche Erhöhung der ursprünglich vereinbarten Summe festzulegen. Die Industrie zu überzeugen, einen Forschungsreaktor, der von
staatlichen Wissenschaftlern erfunden und vom Staat gebaut worden ist, mit Milliarden zu unterstützen - wir haben 1 Milliarde, wie Sie sagen, vereinbart -, das ist
schon eine beachtliche Leistung. Was ich erwartet hätte,
wäre, dass Sie sagen: Lieber Herr Riesenhuber, das haben Sie fantastisch gemacht; wir hätten nie geglaubt,
dass es möglich ist, bei der Industrie durchzusetzen, dass
sie für eine staatliche Investition einsteht. - Insofern, lieber Herr Tauss: bitte mehr Dankbarkeit!
({0})
In manchen Punkten waren Sie, lieber Herr
Riesenhuber, im Gegensatz zu Ihren Nachfolgern wirklich nicht schlecht. An diesem Punkt muss ich Ihnen
jetzt aber ganz ehrlich sagen: Die Geschichte hinkt. Ich
weise nur deswegen darauf hin, weil hier immer wieder
insbesondere in Bezug auf die nachwachsenden Rohstoffe und die regenerativen Energien so getan wird, dass
der Staat Unheimliches leistet. Ich weiß, dass es auch
während unserer Regierungszeit Fehlentwicklungen in
Sachen Kernkraft gegeben hat, aber wenn Sie das Geld,
das Sie damals hatten, in andere Formen dezentraler
Energieversorgung investiert hätten, sähen die energiepolitische Bilanz und die deutschen Erfolge auf dem
Weltmarkt anders aus. Darum geht es mir.
({0})
Zu der ständigen Forderung der Industrie „Rein in die
Kernkraft“ muss ich sagen: Sie muss dann, egal ob Forschungsreaktor oder nicht, die finanzielle Verantwortung
dafür übernehmen. Ihre Forderungen müssen dann auch
aus ihrer Kasse und nicht nur vom Forschungsetat und
vom Steuerzahler finanziert werden. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
({1})
Auch über die Windkraft wird immer wieder debattiert. Der Kollege Fell hat das eine oder andere, so zum
Beispiel die Subventionen, die keine Subventionen sind,
angesprochen. Dafür bin ich Ihnen, Kollege Fell, dankbar. Die Subventionskurve verläuft degressiv - Herr
Riesenhuber, Sie fordern von uns Subventionsabbau -,
und genau das ist richtig.
Der Staat hat bei der Entwicklung Vorleistungen erbracht und in den Bereich der erneuerbaren Energien investiert. Sie und wir haben geforscht; da werfe ich Ihnen
den Growian gar nicht vor. Die Erkenntnisse, die wir damals bezüglich der Großtechnologien und der OffshoreWindparks am Meer gewonnen haben, können wir heute
sehr gut verwenden. Darüber besteht kein Dissens. Die
Subventionen werden richtigerweise ständig zurückgefahren.
Wir müssen in diesem Bereich weiter forschen und
neue Techniken am Markt einführen. Wenn diese sich
am Markt etabliert haben, müssen wir dafür sorgen, dass
wir die Mittel für neue Projekte freisetzen. Das ist intelligente Politik und der Kerngedanke des Gesetzes zur
Energieeinspeisung, zu dem wir übrigens einmal eine
gemeinsame Position - das hat sich heute geändert - hatten.
({2})
Frau Reiche, Sie haben sich heute wieder bemüht, alles schlechtzureden. Ich weigere mich, alles gutzureden.
Übrigens, der Artikel aus der „FAZ“ war nicht ganz richtig; die Ehre gebührt ein Stück weit meinem Kollegen
Fell. Herr Schwägerl hat hier falsch zitiert. Aber es ist
ein anderes Thema, was die „FAZ“ vor welchem Hintergrund und mit welcher Absicht auch immer schreibt.
Richtig ist: Wir wollen mehr Geld und wir werden
über das Geld jetzt und in der Beratung über den Bundeshaushalt reden. Jetzt wollen wir aber mal über das
Geld aus Ihrer Bilanz reden. Frau Ministerin Bulmahn
hat bereits darauf hingewiesen: Sie haben von 1992 bis
1998 die Mittel für den Bereich Bildung und Forschung um 670 Millionen Euro gekürzt. Wenn es um Bilanzen geht, gehört es zur Fairness, dass Sie einmal sagen: Die Reduzierung in unserer Regierungszeit um
670 Millionen Euro war ein Fehler. - Wenn das die Basis
für ein gemeinsames Gespräch wäre, kämen wir
wahrscheinlich weiter. Wir dagegen haben die Ausgaben
für Forschung und Entwicklung um 1 Milliarde auf rund
9 Milliarden gesteigert. Das ist Fakt.
Hier wird immer wieder Herr Rüttgers angesprochen.
Dazu möchte ich sagen: Die Kürzungen der Mittel hatte
Herr Rüttgers zu verantworten. Da er immer wieder in
Talkshows eingeladen wird, in denen er sich sehr eloquent über das Thema Bildung und Forschung auslässt,
({3})
muss ich noch einmal darauf hinweisen, dass er dafür die
Verantwortung trägt. Die kann ihm auch keiner abnehmen.
Ich frage mich übrigens ganz nebenbei, woher eigentlich der schlechteste Bildungs- und Forschungsminister,
den wir in diesem Lande jemals hatten, für sich die Berechtigung ableitet, das Land Nordrhein-Westfalen zu regieren. Ich denke, auch die Nordrhein-Westfalen müssen
wissen, was unter der Ägide des Herrn Rüttgers passiert
ist. Genau in diesem wichtigen Zukunftsbereich ist massiv gekürzt worden,
({4})
weil er bei Helmut Kohl lieb Kind sein wollte, während
er bei Herrn Waigel nicht einmal am Pförtner vorbeigekommen ist, wenn er seine Etatvorstellungen einreichen
wollte. Auch das muss der Korrektheit halber einmal gesagt werden.
Vom 3-Prozent-Ziel - darüber sind wir uns alle
einig - sind wir noch weit entfernt. Die Frau Staatssekretärin schaut uns interessiert an. Liebe Barbara
Hendricks, wir suchen natürlich auch im Finanzministerium nach Verbündeten. Aber ich stimme dem Finanzminister und dem Ministerium völlig zu: Verbündete brauchen wir nicht nur im Finanzministerium, sondern auch
und vor allem dort, wo die Freunde von der anderen
Seite durch ihre Mehrheit im Bundesrat Verantwortung
tragen.
Damit sind wir in der Tat beim Thema Eigenheimzulage. Ich weiß, das ist ein Thema, über das auch bei uns
strittig diskutiert wird und werden muss. Es geht hier
auch um die Realisierung der Träume kleiner Leute nach
einem eigenen Haus. Das ist völlig klar. Aber gerade
weil Sie nur populistische Wahlkämpfe bestreiten und
damit durchs Land ziehen, werden wir doch eine Frage
stellen dürfen. Ist es in einer Zeit, in der die Marktzinsen
beim Bauen geringer sind als früher Bausparzinsen und
in der wir große bildungspolitische Probleme haben
- ich nenne beispielhaft PISA und die Probleme an den
Universitäten -, wirklich unzumutbar, darüber in diesem
Land eine Diskussion zu führen und zu sagen: Den jungen Menschen, von denen auch einige heute hier auf der
Tribüne sitzen, verhelfen wir zwar gern zu einem Häuschen, aber wenn die Alternative dazu marode Hochschulen, marode Universitäten und ein schlechtes Bildungssystem bedeutet, ist für mich zumindest in Zeiten
knapper Kassen die Entscheidung klar: Ich würde mich
immer für Bildung und Forschung entscheiden, auch
wenn das nicht populär ist.
({5})
Ich wünsche mir, dass auch Sie einmal etwas derart Unpopuläres sagen und nicht so tun, als ob in diesem Lande
alles möglich wäre: mehr Gesundheit, weniger Beiträge,
weniger Steuern, mehr Straßen, höhere Renten. Sie versprechen alles und gelegentlich auch mehr Bildung, obwohl Sie von dem Wahlverhalten der Bevölkerungsschichten mit der geringsten Bildung am meisten
profitieren.
Haben Sie doch einmal den Mut, an dieser Stelle zu
sagen „Hier würden wir selbst Prioritäten setzen“, anstatt immer allen alles zu versprechen. Am Schluss bleiben die Menschen immer enttäuscht zurück. Wir wollen
in diesem Haushalt Prioritäten für Bildung und Forschung auch dann, wenn wir uns bei der einen oder anderen Rentnerin oder bei der einen oder anderen Bevölkerungsgruppe gelegentlich unbeliebt machen. Dieser
schwierigen Aufgabe stellen Sie sich nicht und dies
werfe ich Ihnen vor. Das ist Ihr großes politisches Versagen in diesem Lande.
({6})
Ohne Bildung fehlen uns die Fachkräfte von morgen.
Das ist völlig klar. Ich hoffe, wir sind uns darin einig,
dass wir unsere wichtigsten Ressourcen stärken müssen,
nämlich das Wissen und Können der Menschen in
Deutschland, unsere technologische Leistungsfähigkeit
und die Innovationskraft unserer Unternehmen.
Genau deshalb unternehmen wir unsere Initiativen.
Eines übrigens ganz nebenbei - auch die Ministerin hat
über unsere Initiative zur Förderung von Spitzenuniversitäten gesprochen -: Selbstverständlich besteht hier im
internationalen Vergleich Handlungsbedarf. Meine sehr
verehrten Damen und Herren, werfen Sie doch einmal
einen Blick in den Bundesbericht Forschung 2004. Ich
habe zuvor schon an Sie appelliert, sich den Bericht anzuschauen.
Sie fordern - darüber haben wir gestern diskutiert eine Novellierung des Berufsbildungsrechts. - Tun wir.
Sie fordern, dass Spitzenleistungen an Hochschulen besonders unterstützt werden. - Die Vereinbarungen mit
den Ländern haben wir getroffen. Am 9. Juli wird in der
BLK noch einmal darüber diskutiert,
({7})
in einem Gremium, das Sie ganz nebenbei abschaffen
wollen. Also, auch das machen wir.
Sie fordern, die Forschung an Hochschulen durch
Kooperation und Vernetzung zu stärken. - Tun wir.
({8})
Sie fordern, die Einführung eines Wissenschaftstarifvertrages zu prüfen. Das ist ja goldig. Wir prüfen nicht nur,
sondern wir arbeiten seit geraumer Zeit daran. Wir kommen aber bei den Ländern keinen Millimeter weiter. Es
gibt kein einziges Land - auch keines, in dem die FDP
mitregiert, liebe Frau Pieper -, das bisher eine Initiative
zur Einführung eines Wissenschaftstarifvertrages ergriffen hätte.
({9})
Machen Sie doch etwas in diesem Bereich! Ich habe
überhaupt nichts dagegen. Da sind wir uns einig.
({10})
Der Kollege Körper kann bestätigen, dass wir diese Forderung nach einem Wissenschaftstarifvertrag, die uns
schon mehrere Male in nächtlichen Runden zusammengeführt hat, miteinander realisieren wollen. Die Länder
aber müssen mitmachen. Darf ich sagen, dass es an der
Regierung nicht scheitern wird, wenn die Länder mitmachen? - Der Regierungsvertreter, der derzeit nicht auf
der Regierungsbank sitzt, nickt.
Der nächste Punkt betrifft das Hochschulrahmengesetz. Sie wollen jegliche Hochschulrahmenregelungen
abschaffen. So haben wir es von Ihnen bei der Föderalismuskommission gehört. Der Herr Röttgen will sogar die
berufliche Bildung so ganz nebenbei in Länderverantwortung überführen. Frau Seib, ich freue mich auf die
ersten bayerischen Kfz-Mechaniker,
({11})
die ersten nordrhein-westfälischen Versicherungskaufleute usw. Lassen Sie diesen Unfug! Holen Sie Ihren
Herrn Röttgen und einen Teil Ihrer Ministerpräsidenten
auf den Boden der Vernunft zurück!
({12})
Jetzt komme ich zu den Gütern der Hoch- und Spitzentechnologie. Ich stimme Ihnen zu, dass wir auch hier
besser sein könnten. Bei forschungsintensiven Gütern
liegen wir aber weltweit auf Platz 2. Das ist nun keine
schlechte Ausgangsbasis. Wir haben uns diesen Platz in
den letzten Jahren weiß Gott hart erkämpft. Diese Position bröckelt an einigen Punkten - übrigens mehr zu Ihrer Zeit als zu unserer Zeit; das hängt mit den Kürzungen
zusammen - und daher müssen wir den Weltmarktanteil
erhöhen. Aber dazu brauchen wir auch die Finanzminister der Länder. Es kann nicht sein, dass der Bund in Bildung und Forschung investiert, seinen Haushalt um
30 Prozent aufstockt, wie wir es gemacht haben, und die
reichen Länder - ich rede jetzt nicht von Berlin, das ist
schlimm genug - wie etwa Bayern in ihrem Zuständigkeitsbereich abbauen und kürzen, wie die Demonstrationen der Studierenden gezeigt haben.
Ganz nebenbei: Es gibt Länder wie Rheinland-Pfalz
- auch dieses Land ist nicht mit Gütern in unendlich großer Zahl gesegnet -, das für seine Unis ein zusätzliches
Programm in einer Größenordnung von 125 Millionen
Euro aufgelegt hat. In Bayern wird gekürzt, in Rheinland-Pfalz aufgestockt und der Bund soll das, was Sie in
den Ländern versäumen, durch seine Etatmittel ausgleichen? So bekloppt ist das BMBF in der Tat nicht.
({13})
- Wir wären bekloppt, wenn wir das täten.
Hier muss die Verantwortung der Länder eingefordert werden. Auch der Finanzminister sagt uns völlig zu
Recht: Lieber Herr Tauss und lieber Herr Fell, erwartet
bitte nicht, dass der Bund die Versäumnisse der Länder
ausgleicht. Denn letztendlich würde das zu einem Nullsummenspiel bei den Investitionen in Bildung und Forschung führen und das sollten wir nicht betreiben.
({14})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege!
Lieber Herr Präsident, Ihren Einwurf an dieser Stelle
befürchtend, habe ich die kommende Passage in meinem
Manuskript bereits durchgestrichen, weil mir klar war,
dass meine Redezeit dafür nicht mehr ausreicht.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit
und richte an Sie, Frau Kollegin Reiche, nur noch den
Wunsch: Lesen Sie den Bericht und kehren Sie in der
Forschungs- und Bildungspolitik zu einer sachlichen Debatte zurück. Dann macht es auch mehr Spaß. Lieber
Kollege Riesenhuber, Sie sind immerhin ein Beispiel dafür, wie man Debatten belebt. Das ist etwas, was Ihren
Nachfolgern noch fehlt. Aber das ist ein anderer Punkt.
Ich wünsche noch einen schönen Tag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Vision
beschreibt man bekanntlich die Kunst, Unsichtbares zu
sehen. Darauf scheint sich unsere Bundesforschungsministerin sehr gut zu verstehen. Denn die Flut der frohen Botschaften, die aus dem BMBF immer wieder auf
uns einprasseln, kann nur so begründet werden. Liebe
Frau Ministerin, Sie können zwar die Anzahl Ihrer Pressemitteilungen verdoppeln und die Schlagzahl noch weiter erhöhen, aber schon heute druckt niemand mehr das,
was Sie herausgeben; denn es ist klar, dass das, was von
Ihnen kommt, mehr Schein als Sein ist.
Ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Wir werden es
Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie sich, weil Sie
Ihre Hausaufgaben in der Gegenwart nicht richtig machen, auf Ihr Motto „Deutschland. Das von morgen.“ zurückziehen und uns auf die Zukunft vertrösten. Nein, wir
müssen heute das Fundament legen, damit wir in Zukunft erfolgreich sein können.
({0})
Wie sieht diese Zukunft aus? Gerade haben die IHKn
aus Sachsen und wohl auch aus anderen Bundesländern
an den Bundeskanzler geschrieben und ihn aufgefordert,
doch endlich das umzusetzen, was man im HightechMasterplan versprochen hat. Wir stellen immer wieder
fest: Im von Ihnen ausgerufenen „Jahr der Innovation“
kürzt die Bundesregierung im Forschungshaushalt, allein im Bereich der Projektmittel - wenn es also, was
auch Sie gesagt haben, um Wettbewerb geht - in diesem
Jahr um 11 Prozent. Da können Sie uns viel darüber erzählen, welche Mittel Sie in der Vergangenheit aufgestockt haben. Heute wird gekürzt, und da die Mittelbindung in den langfristigen Programmen sehr hoch ist,
kann in vielen Bereichen nicht ein einziges neues Projekt
begonnen werden. Darauf komme ich noch zurück.
Exemplarisch möchte ich auf Pro Inno eingehen, ein
wichtiges Programm, durch das vor allen Dingen die
Innovationskompetenz in mittelständischen Unternehmen vorangetrieben werden soll. Pro Inno I wurde im
Oktober 2001 vorzeitig und abrupt gestoppt; nicht weil
die Unternehmen keine Ideen mehr hatten oder weil die
Qualität der Anträge gering war, sondern weil der Regierung das Geld für Innovationen fehlte.
Seit acht Monaten warten die betroffenen Betriebe
nun darauf, dass das Nachfolgeprogramm Pro Inno II
endlich gestartet wird - vergeblich. Ich prophezeie Ihnen, dass es auch bis Ende dieses Jahres nicht gestartet
wird, weil das BMWA bei den Innovationsprojekten
bzw. -programmen eine Sperre von 15 Prozent verhängt
hat. Das führt dazu, dass keine neuen Projekte mehr bewilligt werden können, weil die Vorlaufphase so lang
und die Bugwelle so hoch sind.
({1})
- Herr Tauss, für Pro Inno II sind für das Jahr 2004 Mittel in Höhe von 108 Millionen Euro angekündigt worden. Bisher ist jedoch nicht ein einziger Cent ausgezahlt
worden. Über 600 Unternehmen warten auf Geld, das
ihnen im vergangenen Jahr zugesagt worden ist, das sie
aber bis heute nicht bekommen haben. Ihr HightechMasterplan, Frau Bulmahn, liest sich mittlerweile wie
eine Mischung aus Märchenbuch und Sündenregister.
({2})
Meine Damen und Herren, innovativ ist, wer auf besondere Situationen besondere Antworten findet. Die
DFG hat dies wieder einmal getan und Vorschläge für
Innovationsgruppen in den neuen Ländern unterbreitet.
Wenn die Bundesregierung wirklich zukunftsweisend
sein will, setzt sie diese Vorschläge um. Die DFG will
- aufbauend auf bestehenden Forschungsvorhaben - gezielt Kooperationen von Wirtschaft und Wissenschaft
fördern: Ideen sollen bis zur Marktreife entwickelt werden und dann zu attraktiven Arbeitsplätzen für den akademischen Nachwuchs, gerade in den neuen Bundesländern, führen. Denn wir wissen ja, dass junge
Wissenschaftler oft bis zur Promotion in den neuen Ländern bleiben und dann abwandern. Wir müssen versuchen, zu erreichen, dass diese Leute in den neuen Ländern bleiben. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bevor wir
das Geld in die Viadrina stecken, sollten wir es lieber für
so ein Projekt nehmen; davon haben alle neuen Länder
etwas, da ist es auf jeden Fall sinnvoller angelegt.
({3})
Meine Damen und Herren, wir machen den Menschen
Hoffnung, dass mit Innovation, mit Technologie Arbeitsplätze hier in Deutschland entstehen können, dass wir im
Wettbewerb - gerade dem im Zuge der EU-Osterweiterung, aber auch allgemein im Zeichen der Globalisierung - bestehen können. Doch wie ist die Wirklichkeit?
Eines der zukunftsträchtigsten Projekte ist das europäische Satellitennavigationssystem „Galileo“, mit
3,5 Milliarden Euro ein großes Gemeinschaftsprojekt
der Europäischen Union. Wir zahlen davon gut und
gerne 20 Prozent. Beim ersten Call, als es um die Ausschreibung vorbereitender Maßnahmen ging, sind nur
9 Prozent des Budgets an deutsche Unternehmen gegangen. Der Grund dafür ist relativ einfach: Die Technologiepolitik dieser Bundesregierung ist in keiner Weise
strategisch aufgebaut,
({4})
deshalb fällt auch der Nutzen für unser Land gering aus.
Andere Länder stocken ihre Etats für Luft- und Raumfahrt auf, um Kompetenz aufzubauen und dann bei solchen strategischen Projekten erfolgreich zu sein. RotGrün kürzt stattdessen den Titel „Forschungsförderung
von Technologievorhaben der zivilen Luftfahrtindustrie“. Das Ergebnis, meine Damen und Herren, ist verheerend: Deutschland bezahlt den Wirtschaftsaufschwung in anderen Ländern
({5})
und verspielt die Chance auf neue Arbeitsplätze für die
eigene Bevölkerung. Hier müssen wir dringend gegensteuern: Wir brauchen eine strategische Forschungspolitik. Kommen Sie endlich in die Gänge: Forschungspolitik ist kein Selbstzweck, sondern dient dazu,
Arbeitsplätze hier in unserem Land zu schaffen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marion Seib von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Geschichte kennt Beispiele verpassMarion Seib
ter Gelegenheiten zur Reform. Das klassische ist das
China des 16. Jahrhunderts - vielleicht ist Ihnen das
neu -: Hatte das Reich nicht stolze Schiffe, den Buchdruck und ganz viele Gelehrte? Wozu also etwas ändern?
So dachte man. Doch die Bürokratie erstickte jede Initiative. Dann kam Europa und China fiel zurück.
Wir Deutschen haben trotz Hü und Hott der rot-grünen Regierung noch viel Innovatives - zweifelsohne -:
exzellente Forscher, Ingenieure, Hightech-Firmen.
Deutschland verkauft seine Autos in alle Welt und nennt
sich selbst Exportmeister. Wozu also etwas ändern?
Die Globalisierung zwingt uns aber, kritischer zu sein
und hinzusehen: Eine von der Universität Schanghai aufgestellte Rangfolge der 500 besten Hochschulen hat unerbittlich klargestellt, wo deutsche Bildungsstätten heute
im internationalen Wettbewerb spielen, nämlich in der
zweiten Liga. Deutsche bekommen zwar noch immer
Nobelpreise, aber meist forschen sie seit Jahren in den
USA oder abseits der Uni in Einrichtungen wie den
Max-Planck-Instituten.
({0})
Deutsche Unternehmen forschen und entwickeln zunehmend im Ausland. 2001 - hören Sie zu, Herr Kollege! gaben sie dort bereits 36 Prozent ihrer Forschungsetats
aus; 1999 war es erst etwa ein Viertel. Die Zahl der Absolventen in den ingenieurwissenschaftlichen Kerngebieten ist in den vergangenen Jahren bereits um rund
ein Drittel gesunken.
({1})
Der Verein Deutscher Ingenieure hat errechnet, dass Jahr
für Jahr 20 000 Ingenieure fehlen werden; das ist eine
Prognose für die Zukunft, verehrte Kollegen.
Der Haushaltsentwurf, den Forschungsministerin
Bulmahn für das Jahr 2005 vorgelegt hat, spiegelt das
ganze Versagen der Regierung wider. Die Sozialsysteme
und das Subventionsunwesen - hier sei das Stichwort
Steinkohle erwähnt - sind so zu reformieren, dass die
notwendigen produktiven Mittel für Bildung und Forschung freigesetzt werden.
({2})
Vor allem kann die Ministerin hier und heute nicht erklären, wo sie die öffentlich versprochenen Mittel hernimmt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschland
muss im Bereich Forschung und Entwicklung wieder an
die Weltspitze und dafür benötigen wir ein zukunftsträchtiges Hochschulsystem. Die Hochschulen brauchen vor allem mehr Freiheit, auch die Freiheit,
Studienbeiträge zu erheben und über das Geld eigenverantwortlich zu verfügen. Die Hochschulen brauchen die
Freiheit, um die Balance zwischen Forschung und Lehre
zu finden, und sie brauchen die Freiheit, um ihre Positionen und ihr Profil im Wettbewerb mit anderen Hochschulen in Europa zu definieren und um sich die Studierenden und ihr Personal auszusuchen.
Es geht in dieser Diskussion aber auch und vor allem
um die Setzung der Innovations- und Forschungsschwerpunkte. Innovationspolitik ist mehr als Energiepolitik.
({3})
Sie aber, verehrte Damen und Herren von Rot-Grün,
eiern herum, in der Gen- und Nanotechnologie genauso
wie in der Kern- und Fusionsforschung.
({4})
Beim Transrapid, bei der Maut und in der Gentechnik
leisten Sie Offenbarungseide. Wir haben es heute Morgen mitbekommen: Im Tunnelbau und im Brückenbau
geht vorhandenes Wissen dramatisch verloren, weil die
Anwendung fehlt und die Forschung hierzu eingestellt
wird,
({5})
obwohl in diesen Feldern andere Staaten - weltweit riesige Fortschritte machen.
Forschung und Entwicklung brauchen langfristige
Planungssicherheit und Anwendungsmöglichkeiten. Unternehmen brauchen berechenbare Rahmenbedingungen.
Geben Sie der Wissenschaft und der Wirtschaft die Möglichkeit, sich selbst zu entfalten; denn nur so erwächst jenes Selbstbewusstsein, aus dem die großen Leistungen
entstehen, auf die Deutschland wirklich dringend angewiesen ist.
({6})
Noch einmal: Was ist notwendig?
({7})
Erstens brauchen wir deutlich mehr Geld für die Forschung, für die Lehre und für Investitionen. Solange der
öffentliche Bildungs- und Forschungsetat nicht höchste
Priorität hat und die Ministerin nicht erklären kann, woher das bereits versprochene Geld kommt, sägt Deutschland an dem Ast, auf dem es sitzt.
Zweitens brauchen wir eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen, insbesondere für
Neugründungen. Erst wenn es wieder Freude macht, etwas zu unternehmen, wird es auch wieder Unternehmer
geben. Merken Sie sich: Wer Arbeitsplätze will, der
braucht Arbeitgeber.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine exzellente Bürokratie ist ein Standortvorteil. Eine aufgeblähte Demokratie ist ein Standortnachteil. Deshalb
brauchen wir - ich sage das in aller Deutlichkeit - eine
Brandrodung des Dickichts der Bürokratie, die inzwischen mandarinenhafte Züge angenommen hat und die
Forscher und Unternehmer mit ihrem Antrags- und Formularwesen schikaniert und blockiert.
({9})
Nehmen Sie Abschied von Ihrem zentralistischen
Herrschaftsgehabe, wie es gerade wieder auf der Regierungsbank demonstriert wird, und folgen Sie unserem
Antrag mit seinen Empfehlungen!
({10})
Dann wird es in unserem Land mit der Innovations- und
Investitionsfreude wieder bergauf gehen.
Besten Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2971, 15/3300 und 15/3332 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 14 a und 14 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben
- Drucksache 15/2361 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang
Schäuble, Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 15/2649 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 15/3338 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann ({4})
Silke Stokar von Neuforn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Clemens Binninger,
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Sicherheit im Luftverkehr
- Drucksachen 15/747, 15/3338 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann ({6})
Silke Stokar von Neuforn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben stellt die Bundesregierung den
Schutz der zivilen Luftfahrt vor kriminellen oder terroristischen Angriffen auf eine gute, qualifizierte und
übersichtliche Grundlage.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten Ressorts und insbesondere den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen
ein herzliches Dankeschön für die geleistete Arbeit, aber
auch für die gute Diskussion und die daraus folgenden
Entscheidungen im politischen Bereich zu sagen.
({0})
Der Gesetzentwurf schafft eine zuverlässige Voraussetzung für die Streitkräfte, um die Polizei bei ihren Aufgaben wirksam zu unterstützen, wenn dies die einzige
Möglichkeit zur Abwendung einer Gefahr für das Leben
von Menschen ist. Auch die Zulässigkeit eines Flugzeugabschusses wird in sehr engen Grenzen geregelt. Es
wäre unredlich und unverantwortlich, einer Klärung gerade in diesem extremen Fall auszuweichen.
Auf der Basis von Art. 35 unseres Grundgesetzes bietet der Gesetzentwurf die Rechtssicherheit, auf die insbesondere die Angehörigen der Streitkräfte Anspruch
haben.
({1})
Ich halte es für einen Vorteil, dass die Sicherheitsarchitektur der Verfassung mit ihren knappen, aber ausreichenden Bestimmungen nicht angetastet und kein Tor
für weiter gehende Forderungen geöffnet wird.
({2})
Zu Recht halten wir an der bewährten Trennung
zwischen Polizei und Bundeswehr fest. Das neue Luftsicherheitsgesetz fasst daneben erstmals alle Regelungen
zusammen, die der Abwehr von Gewaltakten gegen den
Luftverkehr dienen. Der zugrunde liegende Leitsatz lautet: Luftsicherheit aus einer Hand.
({3})
Neben den Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte
handelt es sich hierbei um die Vorschriften bezüglich der
Eigensicherungsmaßnahmen der Flughafenbetreiber und
Luftfahrtunternehmen, die hoheitlichen Maßnahmen zur
Kontrolle der Passagiere und ihres Gepäcks sowie die
Regelungen über die Zuverlässigkeitsprüfung von Personengruppen im Bereich der Luftfahrt. Wichtig ist, dass
diese Regelungen im Einklang mit der internationalen
Entwicklung stehen. Das möchte ich hier ausdrücklich
festhalten.
({4})
Wir straffen die Zuständigkeiten und schaffen eine einheitliche Aufsicht durch das Bundesministerium des Innern. Wir passen wichtige Vorschriften der seit
Januar 2002 geltenden europäischen Luftsicherheitsverordnung an und erweitern den Kreis der Personen, die
sich einer Zuverlässigkeitsprüfung unterziehen müssen.
Gestatten Sie mir einen Hinweis im Hinblick auf die
Diskussion im Innenausschuss. Die Herausnahme der
Nachberichtspflicht für die Sicherheitsbehörden der
Länder im Zusammenhang mit den Regelungen zur Zuverlässigkeitsprüfung begründet entgegen den Behauptungen der Opposition keine Sicherheitslücke.
({5})
Im Gegenteil: Die seit langem praktizierten Überprüfungen unter anderem des Flughafenpersonals werden zurzeit - das möchte ich hier deutlich unterstreichen - in
dieser umfassenden Form weltweit nur in Deutschland
durchgeführt.
({6})
Es bleibt bei der Nachberichtspflicht der Sicherheitsbehörden des Bundes. Durch den bereits vorhandenen
intensiven Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern, insbesondere die
Zugriffsmöglichkeit auf das gemeinsame nachrichtendienstliche Informationssystem, abgekürzt NADIS genannt, ist sichergestellt,
({7})
dass alle wesentlichen Erkenntnisse den Luftsicherheitsbehörden nachberichtet werden können.
Abschließend noch eine Anmerkung zu den Klagen
aus dem Bereich der Industrie, ihr würden mit diesem
Gesetzentwurf Sicherheitsaufgaben aufgebürdet, die in
die Verantwortung des Staates fallen. Dem widerspreche ich ausdrücklich. Bei sämtlichen Vorhaben im Rahmen der Terrorismusbekämpfung muss uns allen klar
sein, dass der Staat allein Sicherheit nicht garantieren
kann. Wir brauchen ein hohes Maß an Engagement und
Eigenverantwortung der privaten Betreiber für die Sicherheit des Luftverkehrs.
({8})
Dies entspricht meiner Auffassung nach dem Leitbild
der Verantwortungsteilung zwischen Staat und Wirtschaft in einem modernen Staat. Der Staat formuliert den
Rahmen an Sicherheitsstandards und ist dort mit seinen
Sicherheitsbehörden tätig, wo er selbst die hoheitliche
Verantwortung trägt. Ebenso müssen die privaten Betreiber in dieser Sicherheitspartnerschaft ihre Aufgaben
wahrnehmen. Aber - das füge ich hinzu - wir werden im
Rahmen der Umsetzung der EG-Luftsicherheitsverordnung darauf achten, dass es nicht zu ungebührlichen
Wettbewerbsverzerrungen kommt. Dafür werden wir uns
in Europa einsetzen.
({9})
Ich glaube, dass uns mit der Verabschiedung dieses
Gesetzes ein wichtiger Schritt zur Gewährleistung der
Sicherheit dieses bedeutenden Verkehrsträgers gelungen
ist. Dies dient auch dem Vertrauen der Bevölkerung und
damit ist mittelbar ein wesentlicher Beitrag für den weiteren wirtschaftlichen Erfolg dieser Branche geleistet
worden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Clemens Binninger
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute in zweiter
und dritter Lesung über das Luftsicherheitsgesetz abschließend beraten,
({0})
so gibt es in einem Punkt keinen Streit, nämlich dass wir
angesichts der terroristischen Bedrohung alles tun müssen, um die Sicherheit im Luftverkehr zu erhöhen und
die Gefahr von Anschlägen zu reduzieren. Alleiniger
Maßstab für unsere Debatte muss daher sein: Erreicht
die Bundesregierung mit dem vorgelegten Gesetzentwurf diese Ziele oder erreicht sie sie nicht?
({1})
In diesem Zusammenhang fällt schon auf, dass die
Bundesregierung einen langen zeitlichen Vorlauf gebraucht hat, bis endlich ein Gesetzentwurf kam. Erst
zweieinhalb Jahre nach den Anschlägen von New York
und eineinhalb Jahre nach dem Geisterflieger von Frankfurt konnten wir über ein solches Gesetz beraten.
({2})
Interessant an dem Verfahren war Folgendes: Nachdem
der Gesetzentwurf der Bundesregierung fast unverändert
({3})
ein Jahr lang im internen und parlamentarischen Verfahren war, gab es am letzten Wochenende vor der heutigen
Abstimmung umfangreiche Änderungen. Ein Jahr lang
haben Sie nichts getan, aber am letzten Wochenende
wurden umfangreiche Änderungen vorgenommen, die
das Gesetz nicht besser, sondern im Gegenteil schlimmer
machen. Man kann zu Recht sagen: Das Gesetz, das Sie
heute vorgelegt haben, ist verfassungswidrig, unpraktikabel und schafft eher Sicherheitsdefizite, als dass es
Sicherheit produziert.
({4})
Wenn man den Stimmen aus der Regierungsfraktion
glauben darf - das tue ich einfach einmal -,
({5})
dann war nicht das Bundesinnenministerium für diese
Änderungen verantwortlich, sondern Ihr Innenexperte
Wiefelspütz, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion am
Wochenende darauf gedrängt hat, dass Änderungen vorgenommen wurden. Im Ergebnis wurde es leider noch
schlechter. Ich sage an die Adresse von Herrn Minister
Schily, auch wenn er heute bedauerlicherweise nicht da
sein kann: Wer solche Freunde hat, braucht keine
Feinde.
({6})
Jetzt zu den inhaltlichen Mängeln. Sie regeln mit diesem Gesetz den Einsatz der Bundeswehr im Innern
- das, was die Grünen angeblich nicht wollen -, in Form
des denkbar schwersten Grundrechtseingriffs überhaupt,
nämlich des Abschusses einer zivilen entführten Verkehrsmaschine, die zu einer Waffe umfunktioniert werden soll. Sie tun dies ohne verfassungsrechtliche Grundlage und stützen sich immer noch auf Art. 35 des
Grundgesetzes, auf die Amtshilfe. Sie haben sich auch
nicht von einer Sachverständigenanhörung beeindrucken
lassen, in der ganz klar wurde, dass eine Verfassungsänderung notwendig, mindestens aber eine Klarstellung
geboten ist.
({7})
Herr Kollege Binninger, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ja, gerne.
Bitte, Herr Ströbele.
({0})
Herr Kollege, waren Sie bei der Anhörung anwesend?
Wenn nein, haben Sie sich vielleicht erzählen lassen,
dass der von Ihnen benannte Sachverständige, der hoch
verehrte Kollege Scholz, ehemaliger Vorsitzender des
Rechtsausschusses, diese Ihre Auffassung nicht vertreten
hat, sondern ausdrücklich erklärt hat, eine Verfassungsänderung sei nicht erforderlich?
({0})
Ich gestehe es uns allen zu, dass wir lieber die Argumente hören, die die eigene Position stärken. Aber Herr
Professor Scholz hat in einem Punkt meiner persönlichen Meinung nicht ganz entsprochen; er geht nämlich
davon aus, dass die Verhinderung des Unglücksfalls von
Art. 35 Abs. 2 und 3 GG umfasst wird. Er hat aber zum
Schluss noch einmal deutlich gemacht, dass er - wie
auch Ihre Sachverständigen; ich war übrigens im Gegensatz zu den meisten von Ihnen die ganze Zeit anwesend eine verfassungsrechtliche Klarstellung für zwingend
notwendig hält.
({0})
Eine unterschiedliche Auffassung besteht nur in der
Definition des Unglücksfalles, aber nicht hinsichtlich
der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung.
({1})
Im Ergebnis bleibt Folgendes festzuhalten: Wir haben
nach wie vor keine verfassungsrechtliche Grundlage für
den Einsatz der Bundeswehr im Innern. Wir lassen die
Menschen, die im Zweifel handeln müssen, mit ihrer
Verantwortung allein. Sie können der deutschen Öffentlichkeit nicht vermitteln, dass wir die Bundeswehr zwar
für alle möglichen Aufgaben um die Welt schicken, dass
aber ihr Einsatz zum Schutz der eigenen Bevölkerung
nicht erlaubt ist, und zwar nur deshalb, weil Sie sich gegen eine verfassungsrechtliche Regelung sperren.
({2})
Wenn man Ihren Gesetzentwurf liest - was ich Ihnen
gerne empfohlen hätte, Herr Kollege Ströbele -, wird
deutlich, dass er völlig unpraktikabel ist, was den Einsatz der Bundeswehr angeht. Sie beschreiben selber,
dass zwei Fälle eintreten können. In dem einen Fall,
nämlich wenn von einer Flugzeugentführung mehrere
Länder betroffen sind, kann der Bund entscheiden. In
dem Fall, dass nur ein Land betroffen sein sollte - das ist
je nach Größe der Maschine nicht unwahrscheinlich -,
muss das betreffende Bundesland zunächst einmal den
Einsatz von Streitkräften beim Bund anfordern; die Anforderung wird dann an den Bundesverteidigungsminister und dann an das Lage- und Führungszentrum zur
Luftsicherheit in Kalkar weitergeleitet. Erst dann können
die Maschinen aufsteigen. Das ist völlig unpraktikabel
und hat mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun.
({3})
- Nein, Sie entwickeln Theorien.
Bei einer Flugzeugentführung kommt es doch auf
jede Minute an und es sind möglichst kurze Befehlsketten notwendig. Sie aber sehen in Ihrem Gesetzentwurf
vor, dass zuerst das Land den Einsatz von Streitkräften
beim Bund anfordern muss, der die Anforderung zunächst prüft, bevor gegebenenfalls die Maschinen aufsteigen können. Das Gesetz ist an dieser Stelle nicht nur
verfassungswidrig, sondern auch unpraktikabel.
({4})
Richtig ärgerlich und auch unverantwortlich sind die
vorgesehenen Regelungen im Zusammenhang mit Personal bzw. Personen, die sich regelmäßig auf einem
Flughafen aufhalten. Die in einer Nacht-und-NebelAktion
({5})
eingefügten Verschlimmbesserungen wie auch die vorgenommenen Streichungen spotten jeder Beschreibung.
({6})
- Es mag sein, dass Sie in der Gartenhütte von Herrn
Wiefelspütz besser Politik machen können, aber es gehört trotzdem in den Ausschuss.
({7})
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: In
dem Fall, dass eine Person am Flughafen beschäftigt ist,
würde jeder vernünftige Mensch davon ausgehen, dass
von der Luftsicherungsbehörde zwingend eine Überprüfung dieser Person beim Verfassungsschutz und bei
der Polizei durchgeführt wird, dass Verfassungsschutz
und Polizei zwingend verpflichtet sind, Informationen,
die sie nachträglich erhalten, der Luftsicherheitsbehörde
mitzuteilen, und dass die Verfassungsschutzbehörden
diese Personendaten in einer gemeinsamen Datei abspeichern dürfen.
All dies ist aber in Ihrem Gesetzentwurf nicht vorgesehen. Die Luftsicherheitsbehörde ist nicht verpflichtet,
entsprechende Anfragen durchzuführen. Polizei und
Verfassungsschutz sind nicht mehr verpflichtet, nachträglich gewonnene Erkenntnisse mitzuteilen. Die Verwendung von elektronischen Daten ist den Landesverfassungsschutzbehörden untersagt, obwohl eine
entsprechende Regelung in Ihrem ersten Gesetzentwurf
vorgesehen war.
Das alles haben Sie gestrichen. Für mich ist das ein
Stück aus dem Tollhaus. Meiner Ansicht nach wird mit
dem Gesetzentwurf keine Sicherheitsüberprüfung gewährleistet, sondern es ist eher eine Beschäftigungsgarantie für die Aktivisten von al-Qaida an deutschen Flughäfen.
({8})
- Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, Ihren eigenen Gesetzentwurf zu lesen, der
noch bis zum Freitag der vergangenen Woche Gültigkeit
hatte. In dieser Fassung des Gesetzentwurfs waren die
Regelungen, die ich eben angemahnt habe, noch enthalten. Dann wurden sie gestrichen.
Besonders ärgerlich ist daran, dass Sie sie nicht gestrichen haben, weil Sie inhaltlich davon überzeugt waren. Denn inhaltlich ist der Gesetzentwurf viel schlechter
geworden. Sie haben die Regelungen nur aus einem
Grund gestrichen: Sie wollten das Gesetz zustimmungsfrei machen,
({9})
um die Zustimmung des Bundesrates zu umgehen. Das
war Ihre einzige Motivation, den Gesetzentwurf so zu
verschlechtern. Im Ergebnis sind Regelungen vorgesehen, die weniger Sicherheit produzieren. Im Gegenteil:
Sie reißen sogar Sicherheitslücken auf und werden uns
nicht weiterhelfen. Dazu kommt es nur deshalb, weil Sie
nicht bereit waren, Sicherheit in dem Maße zu schaffen,
wie es für uns alle notwendig ist.
({10})
- Nein, es liegt allein an Ihnen, Herr Ströbele. Die Regierung weiß mittlerweile, dass Sie die Sorge haben,
dass in dem Falle, dass der Vermittlungsausschuss über
das Gesetz entscheiden muss, der eigene Regierungspartner dem Gesetz nicht zustimmt, weil Sie - ähnlich
wie beim Zuwanderungsgesetz - nicht mehr gebraucht
werden. Das wird auch seine Gründe haben. So wäre es
sicherlich auch mit diesem Gesetzentwurf gekommen.
Sie nehmen also bewusst Änderungen von Sicherheitsvorschriften in Kauf, nur damit der Gesetzentwurf zustimmungsfrei wird.
Ich möchte an die Adresse des Bundesinnenministers
Folgendes sagen: Er reist in den letzten Wochen landauf,
landab und erhebt ständig die Forderung: Wir brauchen
eine engere Vernetzung, einen besseren Informationsaustausch und einen stärkeren Datenverbund zwischen
den Sicherheitsbehörden, damit wir den Bedrohungen
durch den Terrorismus gewachsen sind. Das unterstütze
ich. Hier bin ich seiner Meinung. Aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird er das genaue Gegenteil erreichen: Er unterbindet den Informationsfluss zwischen
den Sicherheitsbehörden und verbietet den Landesverfassungsschutzbehörden sogar, Erkenntnisse in eine gemeinsame Datei einzustellen, und zwar wider besseres
Wissen. Das ist für mich ein Stück aus dem Tollhaus.
({11})
- Nein, Herr Kollege Ströbele, das ist nur die Wahrheit,
die bittere Wahrheit, und zwar zur Enttäuschung der
Menschen in diesem Land.
Sie müssen mir ja nicht glauben. Wenn Sie aber Ihren
alten Gesetzentwurf, der noch bis letzte Woche Freitag
Gültigkeit hatte, mit dem neuen vergleichen und sich die
Änderungen anschauen, dann werden Sie genau die gleichen Punkte feststellen, die ich gerade kritisiert habe und
die Sie nur gestrichen haben, weil Ihnen die Sicherheit
der Menschen in diesem Land egal ist - das war bei den
Grünen schon immer der Fall - und weil es Ihnen auf die
Zustimmungsfreiheit des Gesetzentwurfes angekommen
ist. Das war Ihre einzige Motivation.
({12})
Wir werden nach wie vor darauf drängen, dass es in
diesem Land eine klare verfassungsrechtliche Grundlage
für den Einsatz der Bundeswehr im Innern gibt; denn wir
brauchen sie und können den Menschen nicht vermitteln, warum wir die Bundeswehr in allen Krisenherden
dieser Welt, nicht aber zum Schutz der Bevölkerung im
eigenen Land einsetzen dürfen. Wir sehen für den Einsatz der Bundeswehr im Innern klare Grenzen vor. Ihr
Totschlagargument, wir wollten sie für alles einsetzen,
ist falsch. Wir wollen die Bundeswehr im Innern nur im
Kampf gegen terroristische Bedrohungen und dann auch
nur, wenn Polizei und Bundesgrenzschutz nicht können,
einsetzen. Dafür werden wir nach wie vor eintreten.
Wir werden des Weiteren für ein Luftsicherheitsgesetz eintreten, das keine Sicherheitslücken aufreißt wie
Ihres, sondern eine umfassende Sicherheitsüberprüfung
vorsieht. Wir werden weiterhin alles dafür tun, dass Ihre
Regelungen keinen Bestand haben werden. Im Kern
muss man Ihnen vorhalten, dass Sie zwar immer ankündigen, alles für die Sicherheit zu tun, dass Sie aber nicht
bereit sind, für Sicherheit zu sorgen.
Sie haben § 7 des Entwurfs des Luftsicherheitsgesetzes so geändert, dass die Landesbehörden nachträglich
gewonnene Erkenntnisse nicht weitergeben dürfen.
Man muss sich das einmal an einem praktischen Beispiel
vor Augen führen. Jemand soll in einem sensiblen Bereich eines Flughafens beschäftigt werden, zum Beispiel
bei den Tankanlagen. Die Überprüfung ergibt, dass kein
Bezug zur islamistischen Szene besteht. Er wird eingestellt. Vier Monate später fällt der Name des Betroffenen
in einem anderen Bundesland auf. Nun müsste diese Erkenntnis eigentlich verpflichtend mitgeteilt werden.
Aber genau das haben Sie gestrichen.
({13})
Das ist doch niemandem zu vermitteln.
Ein anderes Beispiel: Man muss doch den Landesverfassungsschutzbehörden erlauben, Personaldatensätze in
einer gemeinsamen Datei zu speichern, damit festgestellt
werden kann, ob Personen, die wegen islamistischer Bestrebungen aufgefallen sind, an einem Flughafen beschäftigt sind. Aber genau das haben Sie gestrichen. Das
wäre nach Ihrem alten Gesetzentwurf noch möglich gewesen, nach Ihrem neuen aber nicht mehr. Das war Ihnen offenbar egal. Die Sicherheit in diesem Land interessiert Sie, vor allem die Grünen, nicht.
Ich möchte Ihnen zum Abschluss noch eines vorhalten: Sicherheit für die Menschen in diesem Land macht
man entweder ganz oder gar nicht.
({14})
Sie haben sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für
„gar nicht“ entschieden. Diesen Weg geht die CDU/
CSU-Fraktion nicht mit. Wir werden Sie immer wieder
mit unseren Forderungen nach mehr Sicherheit für unsere Bevölkerung und für unser Land konfrontieren.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zivile
Flugzeuge sind am 11. September 2001 von Terroristen
als Waffe eingesetzt worden. 3 000 Menschen fanden an
einem Tag den Tod. Selbst wenn ein erneuter Angriff mit
zivilen Flugzeugen unwahrscheinlich ist, müssen wir die
Instrumente zur Verfügung stellen, um eine solche nicht
auszuschließende Bedrohungslage bewältigen zu können.
Im internationalen Luftverkehr werden der Einsatz
der NATO und damit der Einsatz der Bundeswehr bei
einer schwerwiegenden Bedrohung des Luftraums geregelt. Es handelt sich hier lediglich um eine Regelungslücke im Bereich des innerdeutschen Luftverkehrs.
Ich kann der Auffassung der FDP, die sie im Innenausschuss vorgetragen hat, hier ein Stück weit folgen.
Sie will dieses Luftsicherheitsgesetz nicht, weil sie es in
das Ermessen der Exekutive stellen will, wie in einer
vergleichbaren Situation zu handeln ist. Wir haben uns
entschieden, die parlamentarische Verantwortung zu tragen und für die Handelnden, soweit es in so einer Situation überhaupt möglich ist, Rechtssicherheit herzustellen.
Was Sie vorgetragen haben, ist richtig: Im Luftsicherheitsgesetz wird genau das geregelt, was das GrundSilke Stokar von Neuforn
gesetz schon heute ermöglicht. Die Regierung hat in
einer Notsituation selbstverständlich die Handlungspflicht - unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Rechtssicherheit schaffen wir hier insbesondere für
die Ausführenden, zum Beispiel für die Piloten der Bundeswehr.
({0})
Vor diesem Hintergrund und weil es unser Verfassungsauftrag ist, ist es richtig, dass im Bereich der Nothilfe
das Parlament und nicht die Exekutive handelt.
Die Anhörung im Innenausschuss, werter Herr Kollege Binninger - ich bin ebenfalls von Anfang bis Ende
da gewesen und habe mich insbesondere über Herrn
Scholz gefreut - hat bestätigt: Für die im Luftsicherheitsgesetz vorgesehenen Maßnahmen der Amtshilfe
der Bundeswehr liefert Art. 35 Grundgesetz eine ausreichende Grundlage. Art. 35 Grundgesetz hat nämlich
nicht nur die Schadensbeseitigung, sondern auch die
Verhinderung eines Unglücksfalles im Blick. Auch als
Nichtjuristin muss ich sagen: Was wäre das für eine Verfassung, wenn man davon ausginge, dass erst gehandelt
werden dürfe, wenn der Schaden eingetreten sei. Das ist
eine absurde Vorstellung.
({1})
Durch das Grundgesetz ist das, was Sie darüber hinaus wollen, nicht gedeckt. Frau Merkel, Ihre Vorsitzende, hat öffentlich angekündigt, das Luftsicherheitsgesetz im Bundesrat zu blockieren. Sie wollen eine
weitgehende Grundgesetzänderung zum Einsatz der
Bundeswehr im Innern durchsetzen. Wir wollen die Sicherheitsarchitektur, die sich in Deutschland bewährt
hat, erhalten.
Die Bundessicherheitsbehörden Bundespolizei, Nachrichtendienste, Bundeswehr und - als vierte Säule - Bevölkerungsschutz nehmen unterschiedliche Aufgaben
wahr. Eine Vermischung der Aufgaben führt nicht zu
mehr Sicherheit, höchstens zu mehr Wirrwarr. Optimieren wollen wir die Zusammenarbeit durch eine verbesserte Koordination und Kommunikation.
({2})
Hier haben wir ohne Grundgesetzänderung genügend
Entscheidungsspielraum.
Sie haben Recht: Es war natürlich eine bewusste Entscheidung, das Luftsicherheitsgesetz zustimmungsfrei
zu gestalten. Sie betreiben im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss entweder Blockadepolitik oder Sie
schaffen ein heilloses Durcheinander, zum Beispiel
jüngst in der Rentenfrage oder bei Hartz IV. Der internationale Terrorismus ist eine reale Bedrohung. Rot-Grün
ist weder bereit, Blockade zuzulassen, noch ist es bereit,
Durcheinander zuzulassen. Wir handeln verantwortlich
und wir verhandeln ohne Zeitverzögerung.
({3})
Ich habe selten so einen Unsinn gehört wie das, was
Sie hier beschrieben haben. Dadurch, dass das Luftsicherheitsgesetz zustimmungsfrei gestaltet worden ist,
ist - das sage ich hier offen - die von Ihnen benannte Sicherheitslücke nicht entstanden. Es ist an Ihnen vorbeigegangen, dass wir die Berichtspflicht der Länder auf
einem ganz anderen Wege gestärkt haben.
({4})
Die Länder sind verpflichtet, alle relevanten Informationen zum internationalen Terrorismus an die Bundesbehörden unverzüglich und nicht nur im Rahmen der
Nachberichtspflicht weiterzuleiten.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es
wäre gut, wenn die Landesbehörden dazu gebracht würden - das steht auch in Ihrer Verantwortung -, nicht nur
dieser Berichtspflicht nachzukommen, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Meldung von Informationen optimiert wird.
({5})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Binninger?
Ich erlaube eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Herr Binninger.
Frau Kollegin Stokar, Sie haben gerade gesagt, die
Berichtspflicht sei geregelt. Wir debattieren hier über
das Luftsicherheitsgesetz. Können Sie mir den Paragraphen nennen, in dem geregelt ist, dass die Sicherheitsbehörden der Länder verpflichtet sind, Erkenntnisse an die
Luftsicherheitsbehörden zu melden? Das war doch mein
Kritikpunkt.
({0})
- Das ist nicht automatisch so.
Herr Kollege Binninger, ich habe gesagt, dass außerhalb des Luftsicherheitsgesetzes - ({0})
- Sie können sich darüber bei Ihren Kollegen in der Innenministerkonferenz informieren. Oder muss ich Ihnen
jetzt den Unterschied zwischen einem Spezialgesetz und
einem darüber stehenden Gesetz erläutern?
({1})
Wir haben es dort geregelt, wo es hingehört, nämlich
im Bereich der Verordnungen zum Verfassungsschutz.
Das gehört dahin, weil wir natürlich einen besseren Informationsaustausch nicht nur im Bereich der Zuverlässigkeitsüberprüfungen und im Bereich des Luftsicherheitsgesetzes haben wollen, sondern weil wir generell
sicherstellen wollen, dass die Landesämter für Verfassungsschutz und auch die Sicherheitsbehörden der Länder die Informationen noch schneller und noch zuverlässiger an den Bund liefern. Wenn Sie ein bisschen
Ahnung von NADIS hätten,
({2})
müssten Sie wissen, dass das genau in diesem Bereich
geregelt werden muss und eben nicht nur im Luftsicherheitsgesetz geregelt werden kann.
({3})
Deswegen ist das, was Sie hier zur Sicherheitslücke gesagt haben, Unsinn.
Ich komme zum Schluss meines Beitrages. Wir setzen
mit dem Luftsicherheitsgesetz insbesondere die EU-Verordnung und internationale Verträge um. Deswegen wollen wir uns auch nicht auf Ihr Spielen auf Zeit einlassen.
Ich möchte noch auf das Problem eingehen, das Herr
Körper schon angesprochen hat. Wir werden eine sehr
interessante Diskussion über das Spannungsverhältnis
von Sicherheitsinteressen und Wirtschaftsinteressen bekommen. Zu der Gebührenfrage gibt es ein Bundesverwaltungsgerichtsurteil. Ich persönlich setze mich dafür
ein, dass wir an den Flughäfen eine freiwillige Evaluation der Sicherheitsmaßnahmen zulassen. Der Flughafen
Hannover hat sich untersuchen lassen. Solche Untersuchungen führen zu interessanten Ergebnissen. Wir alle
können es uns nicht leisten, viel Geld für schlechte
Sicherheit auszugeben.
Zu der Frage: Was ist im Flughafenbereich hoheitliche Aufgabe und was liegt in der Verantwortung der
Flughafenbetreiber, wie hat also die Kostenaufteilung
auszusehen?, werden wir weitere Diskussionen führen.
Zu diesen Kostenfragen werden wir hier ergänzend tätig
werden.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Ziel, die Luftsicherheit zu optimieren, sind sich alle in
diesem Haus mit Sicherheit - das ist überhaupt nicht die
Frage - einig; dieses Ziel teilen wir natürlich. Es ist auch
erfreulich für uns, dass die Regierungskoalition der Einschätzung der FDP gefolgt ist, dass eine Änderung des
Grundgesetzes zur wirksamen Abwehr von Luftangriffen nicht erforderlich ist. Das war immer unsere Position. Das wird unsere Position bleiben.
({0})
Unstrittig ist ebenso der Ansatz, es durch vorsorgende
Sicherheitsmaßnahmen erst gar nicht dazu kommen zu
lassen, dass ein Flugzeug entführt und eventuell als
Waffe missbraucht wird. Daher sind Sicherheitsmaßnahmen wie Zuverlässigkeitsüberprüfungen der Mitarbeiter
an Flughäfen, Sicherheitskontrollen der Passagiere und
auch das Verbot der Mitnahme bestimmter Gegenstände
völlig richtig und wahrscheinlich überhaupt die einzige
Möglichkeit, solche Vorfälle wie die vom 11. September
zu verhindern.
Dem Kernpunkt des Gesetzentwurfes kann die FDPBundestagsfraktion allerdings nicht zustimmen: Die Ermächtigung des Bundesverteidigungsministers, unter
bestimmten Umständen im Benehmen mit dem Bundesinnenminister den Abschuss eines Luftfahrzeuges anzuordnen
({1})
und damit zur Abwehr einer Bedrohung Dritter den sicheren Tod der Flugzeuginsassen in Kauf zu nehmen,
berührt außerordentlich schwierige ethische und verfassungsrechtliche Fragen.
({2})
Die FDP hält es für falsch, den Extremfall, nämlich den
Einsatz eines entführten Flugzeugs als Waffe gegen
Dritte, normieren zu wollen.
({3})
Es wurde heute immer wieder auf die Anhörung verwiesen. Professor Baldus, einer der Sachverständigen
bei der Anhörung zum Luftsicherheitsgesetz, bezeichnet
dies als klassische Situation eines moralischen Dilemmas. Der im Entwurf des Luftsicherheitsgesetzes vorgesehene Einsatz des letzten Mittels, die Einwirkung mit
Waffengewalt, hat zwangsläufig den Tod der für die Gefahr Verantwortlichen, im Falle einer entführten Maschine aber auch den Tod der Passagiere, die für die Gefahrenlage keine Verantwortung tragen, zur Folge. Die
FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass für
solche unkalkulierbaren Situationen die in der deutschen
Rechtsordnung seit langem entwickelten allgemeinen
Grundsätze anzuwenden sind.
({4})
Schon zu Beginn der Debatte über das Luftsicherheitsgesetz hat die FDP darauf hingewiesen, dass die Regeln für
Notstand und Nothilfe ausreichen, um die im Einzelfall
erforderlichen Entscheidungen zu treffen.
Ein Weiteres, liebe Kolleginnen und Kollegen: Durch
dieses Gesetz senken wir die Schwelle für Eingriffe sehr
stark ab. Das halten wir für bedenklich. Wenn ein solcher Fall auftritt, kann der Bundesverteidigungsminister
nach unserer festen Überzeugung handeln.
({5})
Wenn das Gesetz in Kraft tritt und er damit ermächtigt
wird, das zu tun, dann gibt es auch Fälle - das behaupte
ich -, wo er handeln muss. Das wollen wir verhindern.
({6})
Deshalb sagen wir: Es reichen die bisherigen Regelungen zum Notstand und zur Nothilfe.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, der
die Kosten betrifft.
({7})
Herr Kollege Burgbacher, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Sehr gerne.
Bitte schön, Herr Wiefelspütz.
Sie haben ja nun gerade die Kostenfragen angesprochen. Obwohl Sie schon viel zu lange reden, Herr Kollege Burgbacher, hätte ich doch gerne von Ihnen erläutert bekommen, wie Sie sich denn einen Umgang mit
dieser Fragestellung überhaupt vorstellen.
Ich bin Ihnen für die Frage dankbar, Herr Kollege
Wiefelspütz. Ich denke, dass diese Frage tatsächlich nur
sehr schwierig zu beantworten ist.
Zuerst einmal halte ich es für kritisch, wenn der Staat
Kosten in Bereichen, wo - davon gehen wir ja aus - eigentlich das staatliche Gewaltmonopol gilt, auf private
Unternehmen überwälzt; denn der Staat hat für Aufgaben, die in sein Gewaltmonopol fallen, auch die Kosten
zu tragen.
Einen zweiten Punkt halte ich in diesem Zusammenhang für sehr wichtig: Wenn der Staat Maßnahmen beschließen kann, deren Kosten aber andere tragen müssen, dann könnte der Staat relativ locker auch weitere
solcher Maßnahmen beschließen, da er sie ja nicht bezahlen muss.
Ein dritter Punkt: Gerade in diesem Bereich herrscht
ein sehr harter Wettbewerb. Es ist für Fluggesellschaften
und für Passagiere einfach, auf Alternativen auszuweichen. Deshalb können wir nicht beliebig Kosten überwälzen, sondern wir müssen auch sehen, wie stark hierdurch der Wettbewerb, der ja europaweit stattfindet,
behindert wird. Deshalb rate ich bei Maßnahmen in diesem Bereich zu größter Vorsicht. Wir müssen uns ja im
Ausschuss noch einmal im Detail darüber unterhalten.
({0})
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erläutert
Herr Kollege Burgbacher, ich bitte, dann auch zum
Schluss zu kommen.
- ich bin bei meinem letzten Satz -, warum die FDP
diesen Gesetzentwurf ablehnt. Diese Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht. Wir haben darüber
viele Diskussionen geführt. Es ist uns aber nicht möglich, dem Gesetzentwurf in dieser Form zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Hofmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach den beiden Beiträgen
von der FDP und von der CDU/CSU muss man sich einmal vor Augen führen, welches Gesetz zustande gekommen wäre, wenn CDU/CSU und FDP an der Regierung
wären.
({0})
Die CDU/CSU sagt, das Gesetz gehe ihr nicht weit genug; die FDP sagt, die Gesetze, die es schon jetzt gebe,
reichten aus. Wenn beide zusammen an der Regierung
wären, dann gäbe es kein Gesetz;
({1})
sie wären nicht in der Lage, für mehr Sicherheit in der
Luft zu sorgen. Die Konstellation von CDU/CSU und
FDP wäre ein Sicherheitsrisiko für dieses Land. So sieht
es nüchtern betrachtet aus.
({2})
Frank Hofmann ({3})
Wir betreten mit diesem Gesetz sicherlich Neuland.
({4})
Wir haben lange Diskussionen geführt, die sich auch gelohnt haben. Die Sicherheitskompetenz von Rot-Grün
wurde hart erarbeitet
({5})
und bewährt sich auch hier und heute mit dem Gesetz
zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben. Es ist ein
schlüssiges Gesamtkonzept. Mit dem Gesetz gibt es
Luftsicherheit aus einer Hand. Die Kritik von der CDU/
CSU, vorgetragen von Herrn Binninger, ist eine Kritik
der aufgeblasenen Backen: viel Luft und nichts dahinter.
({6})
Herr Binninger, wenn Sie bei den Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs zugehört hätten, dann
wüssten Sie, dass Sie damit nicht weiterkommen, dass
Sie das aus Ihrer Rede eigentlich hätten streichen können.
({7})
Zur Frage der Grundgesetzänderung. Für den Generalinspekteur der Bundeswehr besteht aus militärischer
Sicht keine Notwendigkeit, das Grundgesetz zu ändern.
Auch für den Vorsitzenden des Bundeswehr-Verbandes
besteht aus militärischer Sicht keine Notwendigkeit, das
Grundgesetz zu ändern. Ebenso sieht der GdP-Vorsitzende Konrad Freiberg keine Notwendigkeit, das Grundgesetz zu ändern. Die Verfassungsressorts BMI und BMJ
sehen ebenfalls keine Notwendigkeit, das Grundgesetz
zu ändern. In den entscheidenden Punkten unterstützt
uns auch die Mehrheit der Sachverständigen. Wir stehen
also mit diesem Luftsicherheitsgesetz fester denn je auf
dem Boden des Grundgesetzes.
({8})
Im Gegensatz zu Herrn Burgbacher und der FDP sind
wir der festen Überzeugung: Wenn ein Rechtsstaat zu
solchen Mitteln greift, wie wir es bei der Luftsicherheit
tun, dann braucht er auch eine gesetzliche Grundlage.
Gerade weil der Eingriff so ungeheuerlich ist, muss der
Gesetzgeber nach öffentlicher Diskussion die Verantwortung übernehmen. Im Gesetz ist vor allem zu klären,
wer konkret im Ernstfall die Befehle gibt. In diesem Fall
ist es der Verteidigungsminister. Deshalb ist klar: Eine
gesetzliche Regelung ist in einem Rechtsstaat zwingend
geboten.
Wir, die Regierungskoalition, haben das Gesetz mit
einem Änderungsantrag zustimmungsfrei gestellt. Warum? Wir wollen, dass das Gesetz schnell in Kraft tritt,
dass es ohne Grundgesetzänderung in Kraft tritt und dass
die Bundeswehr nicht als Hilfspolizei eingesetzt wird.
Zusammengefasst heißt das: Wir wollen Gefahrenabwehr, nicht Krieg. Wenn Sie, Herr Binninger, ebenso wie
Herr Bosbach bei der ersten Lesung und Herr Beckstein
behaupten, die Bundeswehr dürfe zwar in Afghanistan,
nicht aber in Deutschland zum Schutz der Bürgerinnen
und Bürger eingesetzt werden, dann ist das demagogisch.
({9})
Im Kosovo und in Afghanistan übernimmt die Bundeswehr Aufgaben des Peace Keeping, damit Polizeistrukturen entwickelt werden können. Die Bundeswehr soll
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Polizei überhaupt entstehen kann. Deutschland ist jedoch kein Krisengebiet, sondern eine stabile Demokratie mit gut funktionierender Polizei. Deshalb ist Ihr Argument
entschieden zurückzuweisen.
({10})
Ein Satz zum Abschluss. Die Frage eines Einsatzes
der Bundeswehr stellt sich bei Ihnen aus anderen Gründen. Bei der Polizei in Bayern, Hessen oder wo auch immer werden Stellen gestrichen und dann wird nach der
Bundeswehr gerufen. Das ist Ihre Antwort auf die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.
({11})
Sie können das fordern; wir werden dazu nicht die Hand
reichen. Mit einer Militarisierung unserer Gesellschaft
bekämpft man nicht den internationalen Terrorismus.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
geht heute um zwei Fragen. Erstens. Soll die Bundeswehr künftig im Inneren quasi als Militärpolizei agieren
dürfen? Die PDS im Bundestag sagt dazu Nein.
({0})
Zweitens. Sollen entführte Flugzeuge samt Insassen notfalls abgeschossen werden dürfen? Auch dazu sagen wir
Nein.
({1})
Wir müssen heute dennoch darüber diskutieren, weil die
CDU/CSU das Erste will und die SPD und die Grünen
zumindest das Zweite wollen.
Das Grundgesetz schreibt bekanntlich die strikte
Trennung zwischen Bundeswehr und Polizei vor. Dafür
gibt es historische und sachliche Gründe. Sie gelten fort.
Die Versuche der CDU/CSU, das Trennungsgebot aufzuPetra Pau
weichen oder aufzuheben, sind nicht neu. Neu ist, dass
selbst die SPD damit liebäugelt.
({2})
Verteidigungsminister Struck hat unlängst ein Bundeswehrkontingent für den Einsatz im Inneren gefordert.
Seine Begründung war, das stärke die Wehrpflicht. Ich
finde das - mit Verlaub - absurd und auch von vorgestern.
({3})
Nun komme ich zu dem Gesetzentwurf, wonach entführte Passagierflugzeuge notfalls vom Himmel geschossen werden sollen. Ich könnte es mir leicht machen
und einfach verlesen, was Burkhard Hirsch, der Altliberale, dazu in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb. Ich
belasse es heute bei einem kurzen Zitat: Kein Rechtsstaat hat es bisher gewagt, seiner Polizei oder seinen Soldaten zu erlauben, auf Verdacht hin die Opfer eines Verbrechens in wohlmeinender Absicht zu erschießen. Die
Bundesregierung kann nicht bei klarem Verstand sein. Das vermute nun auch ich inzwischen und frage mich:
Was ist eigentlich von der Demokratiepartei SPD übrig
und wo ist die Bürgerrechtspartei Bündnis 90/Die Grünen abgeblieben?
({4})
Beide Versuche, den Einsatz der Bundeswehr im Inneren
zu legitimieren und auf Verdacht unschuldige Opfer zu
töten, sind allerdings inzwischen keine Ausrutscher
mehr.
({5})
- Sie werden ja mit den Entführern nicht mehr darüber
verhandeln können, was sie denn vorhaben, sondern Sie
werden entscheiden müssen. Also geht es tatsächlich um
ein Abschießen auf Verdacht.
({6})
Wir erleben seit längerem eine Militarisierung der Politik im Inneren wie im Äußeren. Ich wiederhole: auch in
der EU-Politik. Denn im Entwurf der EU-Verfassung
steht ein Aufrüstungsgebot. Ein Friedens- und Abrüstungsgebot sucht man vergebens.
Bemerkenswert daran ist: Das wird von allen Bundestagsparteien toleriert und honoriert, von der CDU/CSU,
von der FDP, von der SPD und selbst vom Bündnis 90/
Die Grünen. Ich finde das grundsätzlich falsch. Deshalb
lehnt die PDS im Bundestag beide heute vorliegenden
Anträge ab. Die Bundeswehr hat in der Innenpolitik
nichts zu suchen. Einen so genannten finalen Rettungsschuss gegen unschuldige Passagiere darf es rechtsstaatlich nicht geben.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben, Drucksache 15/2361. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3338, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der fraktionslosen
Abgeordneten angenommen.
Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 35 und Art. 87 a des Grundgesetzes auf
Drucksache 15/2649. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3338, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei
Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Ablehnung
durch die Koalitionsfraktionen, die FDP-Fraktion und
die fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3338 empfiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/747 mit dem Titel „Mehr Sicherheit im
Luftverkehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Deutsche Personalpräsenz in internationalen
Organisationen im nationalen Interesse konsequent erhöhen
- Drucksache 15/2652 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Christian Ruck von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Antrag, den unsere Fraktion heute einbringt, liegen folgende Überlegungen zugrunde: Unser politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Dasein wird immer
mehr von internationalen Faktoren beeinflusst. Die Globalisierung greift immer mehr in unser alltägliches Leben - offen oder auch unmerklich - ein. Die Auswirkungen der Globalisierung werden zunehmend durch ein
Geflecht aus internationalen Regeln und internationalen
Institutionen gelenkt. Deren Einfluss nimmt auch hier in
Deutschland immer mehr zu.
Deutschlands Wirtschaft ist auf der anderen Seite traditionell stark nach außen orientiert und von äußeren
Einflüssen abhängig. Damit bekommen zum Beispiel
Organisationen wie die Welthandelsorganisation, WTO,
deren Regelsetzung und Streitschlichtung den Welthandel auf völlig neue Grundlagen stellt, eine immense Bedeutung. Dazu gehört auch die Europäische Union, die
- darüber wurde in diesen Tagen bei uns diskutiert - immer mehr nationale Regelungskompetenzen der EU-Mitgliedstaaten, also auch Deutschlands, übernimmt.
Deswegen ist es für uns wichtig, die Politik dieser Organisationen zu beobachten und mitzugestalten. Es ist naiv,
anzunehmen, dass eine bloße Präsenz und eine bloße Beteiligung an den Diskussionen in den jeweiligen Lenkungsgremien ausreichen.
({0})
Die Mechanismen und Inhalte heutiger Politikentscheidungen werden auch auf internationaler Ebene immer komplexer. Um dort mitreden zu können und Entscheidungen mittreffen zu können, ist ein immenser
Wissens- und Erfahrungsschatz gefordert, der für unsere
Ministerien und für unsere Verwaltung angesichts des
schrumpfenden Personalbestandes und der wachsenden
Aufgaben immer schwieriger aktivierbar ist.
Es gibt den Grundsatz: Wer an einer internationalen
Schaltstelle sitzt, der kann hinsichtlich der Interessen
seines Landes Entscheidendes bewirken. Das Verständnis für deutsche Wünsche und deutsche Politikvorstellungen zur Lösung der Probleme ist bei deutschen
Landsleuten sicherlich stärker ausgeprägt als bei Verwaltungsfachleuten mit spanischem oder englischem Pass.
Die Realität in den internationalen Institutionen und
deren Personallandschaft sieht aus dem Blickwinkel
Deutschlands allerdings ziemlich düster aus. Wir haben
einfach zu wenig Deutsche in internationalen Organisationen. Zum Beispiel haben wir in der EU-Kommission
trotz eines Bevölkerungsanteils von 22 Prozent und einer Beitragsquote von 23 Prozent lediglich einen Personalanteil von etwas über 12 Prozent.
({1})
- Ich wusste gar nicht, dass auch Sie reden, Herr
Ströbele. - Diese Zahl wird sich nach der EU-Osterweiterung zu unseren Ungunsten verändern.
Das UN-Sekretariat besteht trotz einer deutschen
Beitragsquote von knapp 10 Prozent nur zu etwas mehr
als 5 Prozent aus Deutschen. Bei der WTO, die immer
wichtiger wird, haben wir bei einer Beitragsquote von
9 Prozent nur einen Personalanteil von 4 Prozent. Bei
der Weltbank, die für uns Entwicklungspolitiker besonders wichtig ist, haben wir einen Stimmrechtsanteil von
gut 6 Prozent und eine Personalquote von 3 Prozent.
Wir haben ja neulich über MONUC diskutiert. An
den 600 Millionen Dollar sind wir ja mit rund 10 Prozent
beteiligt. Bei der Mission sind 12 600 Leute eingesetzt
und von uns ist nur ein Beamter dabei. In vielen UNMissionen, auch in vielen zivilen UN-Missionen haben
wir überhaupt niemanden.
Andere Länder wie Frankreich und Großbritannien
sind da viel geschickter. Sie betreiben eine gezielte Kaderpolitik und rekrutieren Erfolg versprechende Kandidaten für alle internationalen Personalebenen. Dabei gehen sie viel strategischer als wir vor. Deutschland hat
sich in Personalfragen jahrzehntelang sehr zurückgehalten. Ich glaube, es ist höchste Zeit, das Ruder herumzuwerfen und eine personalpolitische Offensive für Deutsche in internationalen Organisationen zu starten,
({2})
auch deshalb, weil der Druck auf uns, dass wir uns international betätigen mögen, ständig stärker wird. Dann
können wir unsererseits Druck in Richtung einer größeren Effizienz der internationalen Organisationen erzeugen. Wir brauchen eine umfassende Personalstrategie
für den Nachwuchs. Ferner brauchen wir ein internationales Netzwerk, das wir mithilfe unserer Landsleute aufbauen und das uns dabei hilft, das Verständnis für unsere
Vorstellungen und Anliegen zu erhöhen und uns des
Wissens und des Erfahrungsschatzes der internationalen
Organisationen zu bedienen.
Die Arbeit fängt beim Nachwuchs an. Längst überfällig ist eine verstärkte Ausrichtung der Regelstudiengänge, der postuniversitären Kurse und Praktika an unseren Hochschulen auf eine Tätigkeit in internationalen
Organisationen. Das im BMZ angesiedelte Programm
für beigeordnete Sachverständige ist richtig und ist auch
erfolgreich; aber es ist viel zu gering ausgestattet und es
muss intensiver genutzt werden.
Wir müssen aber auch die Arbeit in internationalen
Organisationen für gute deutsche Bewerber aus der Verwaltung und der Wirtschaft attraktiver machen. Dies bedeutet zum Beispiel für die öffentliche Verwaltung, dass
die vorübergehende Tätigkeit in einer internationalen
Organisation als expliziter Pluspunkt für die weitere
Karriere gewertet wird und dass auch die Reintegration
- das gilt nicht nur für die Bundesregierung, sondern allgemein für die Verwaltung - , wenn der Betreffende wieder zurückkehrt, wesentlich verbessert werden muss.
Wir müssen ebenfalls die Durchlässigkeit zwischen
öffentlichem Dienst und privater Wirtschaft erhöhen,
damit auch fähigen Interessenten aus der Privatwirtschaft der Einstieg in internationale Organisationen
schmackhaft gemacht werden kann.
Wir dürfen auf keinen Fall in eine alte Unsitte verfallen, die uns oft zu Recht vorgehalten worden ist, dass
nämlich diese Organisationen zuweilen auch als Abschiebebahnhof für unbequeme oder weniger fähige Mitarbeiter missbraucht werden. Ferner müssen wir Kontakt
mit denjenigen halten, die wir in die internationalen Organisationen geschickt haben. Nicht ohne Grund werfen
wir unseren Kollegen in internationalen Organisationen
manchmal vor, dass sie nicht mehr wissen, woher sie
kommen. Das hängt natürlich auch damit zusammen,
dass wir uns alle bisher zu wenig für die Karriere der Betreffenden eingesetzt haben. Auch das sollten wir in Zukunft besser machen.
Wir müssen noch viel deutlicher erkennen - das ist
auch die Grundlage unseres Antrags -, dass die Zukunft
unseres Landes nicht von uns allein, sondern immer
mehr von Entscheidungen in Brüssel, New York oder
Genf abhängt. Wir müssen unsere personalstrategischen
Scheuklappen ablegen und viel konsequenter als bisher
auf eine Erhöhung der deutschen Personalpräsenz in internationalen Organisationen hinarbeiten. Ich glaube,
dies ist eine notwendige und wichtige Investition in
Deutschlands Zukunft. Deswegen fordere ich uns alle
auf, über den vorgelegten Antrag der CDU/CSU-Fraktion in den Ausschüssen konstruktiv, energisch und ergiebig zu diskutieren.
({3})
Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin
Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine
Frage, Herr Ruck, die internationale Personalpolitik ist
uns allen sehr wichtig. Gerade vor dem Hintergrund der
Globalisierung - da stimme ich Ihnen zu - ist es bedeutsam, auch durch deutsches Personal die Politik der internationalen Organisationen mitzugestalten.
Was aber ist passiert? Seit den 80er-Jahren gibt es
eine Reihe von Beschlüssen zur Verbesserung der internationalen Personalpolitik. Es geschah jedoch wenig.
Die Zahl der deutschen Mitarbeiter im internationalen
Bereich ging in diesem Zeitraum sogar zurück. Heute
bezeichnet die Presse diese fehlenden Jahrgänge als
„deutsche Delle“. Genau das hat sich geändert.
Wir sind das Problem aktiv angegangen. Die Initiative, die Sie jetzt vorschlagen, wurde bereits gestartet
und läuft längst. Deshalb können wir in diesem Bereich
einige Erfolge nachweisen. Was haben wir gemacht?
Erstens. Im Bundeskanzleramt übernahm 1998 der
Chef des Bundeskanzleramtes persönlich die Führung
bei der Koordinierung von Spitzenbesetzungen in der
EU, in Wirtschafts- und Finanzorganisationen und in
wichtigen Bereichen der Vereinten Nationen.
Zweitens. Im Auswärtigen Amt haben wir die Stelle
eines Koordinators - dazu gibt es einen Vorschlag in Ihrem Antrag - für die internationale Personalpolitik geschaffen. Er untersteht direkt dem Staatssekretär. Dort
kommen Vertreter und Vertreterinnen aller Bundesministerien, des Kanzleramtes sowie der Bundesländer regelmäßig zusammen, um sich in internationalen Personalfragen zu koordinieren und Bewerbungen abzusprechen.
Drittens. Im April 2002 wurde in engem Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, das ZIF, gegründet. Es ist in diesem Bereich weltweit führend. Das
Zentrum rekrutiert ziviles Personal für internationale
Friedenseinsätze, die von den Vereinten Nationen, der
OSZE, der Europäischen Union oder anderen internationalen Einrichtungen beschlossen und durchgeführt werden.
Wir trainieren Mitbürgerinnen und Mitbürger aller
Berufszweige, die bereit sind, sich für Einsätze in friedenserhaltenden Maßnahmen oder als Wahlbeobachter
zu engagieren.
({0})
Damit besitzen wir erstmals eine Personalreserve. Eine
solche gab es zu Ihrer Regierungszeit nicht. Aber wir
sind uns einig, dass eine solche Reserve gut ist, um
schnell und gezielt qualifiziertes Fachpersonal bereitstellen zu können. Das ZIF ist führend und beispielgebend
in Europa.
({1})
Das heißt, die von Ihnen geforderte Koordinierung
findet längst statt; die Bundesländer sind integriert und
das hat zu entsprechenden Erfolgen geführt. So hat sich
der Anteil des deutschen Personals bei internationalen
Organisationen im vergleichbaren höheren Dienst seit
1998 um 1 300 Personen auf circa 4 700 Personen erhöht.
Mit einem weiteren Beispiel gehe ich ganz konkret
auf das, was Sie angesprochen haben, ein: Seit 2001 hat
das Auswärtige Amt über 2 000 Bewerberinnen und Bewerber, die sich für den zentralen Aufnahmewettbewerb der EU interessieren, auf diesen Concours konkret
vorbereitet. Selbst Vorstellungsgespräche werden in kleinen Gruppen geübt. Der Aufwand lohnt sich: Die deutschen Bewerberinnen und Bewerber stellen jetzt die
größte Gruppe in der EU; das heißt, jeder fünfte Platz
auf den Rekrutierungslisten für EU-Beamte ging an uns.
Sie haben den Nachwuchs angesprochen. Auch hier
ist der Erfolg deutlich messbar: Unter den EU-Beamten
stellten wir bislang etwa 12 Prozent, beim Nachwuchs
stellen wir nun aber 20 Prozent. Das ist ein Kompliment
an den deutschen Nachwuchs, der offensichtlich akademisch gut ausgebildet ist und meist eine große Fremdsprachenkompetenz aufweist.
Darüber hinaus haben wir im Auswärtigen Amt Datenbanken über alle freien Stellen bei internationalen
Organisationen geschaffen, die für jeden über das Internet zugänglich sind. Dort sind ständig zwischen 800 und
900 Ausschreibungen aufgelistet und fast 300 000 Bürgerinnen und Bürger haben sich hier schon informiert.
Eine solche Übersicht war eine jahrzehntealte Forderung; wir haben sie umgesetzt. Auch können hier alle,
die sich für qualifiziert halten, ihren Lebenslauf einstellen. Sie erhalten damit einen Abgleich der theoretisch
für sie interessanten Ausschreibungen. Über 7 000 Nutzerinnen und Nutzer haben sich registrieren lassen. Die
Folge: Die Zahl der Bewerbungen steigt und mittelfristig
damit auch die Zahl der Einstellungen.
Sie merken also: Der Schwerpunkt unseres Engagements richtet sich an die Öffentlichkeit; denn ein Großteil der deutschen Beschäftigten bei internationalen Organisationen kommt aus dem privaten Bereich und nicht
aus dem öffentlichen Dienst.
Gleichwohl haben wir auch die beamtenrechtlichen
Regelungen in der Bundeslaufbahnverordnung verbessert; das heißt, jetzt wird eine erfolgreiche Tätigkeit bei
einer internationalen Organisation als zusätzliches Qualifikationsmerkmal bei der Karriereentscheidung berücksichtigt. Damit wird erstmals das „Spiralmodell“, das in
Ihrem Antrag erwähnt wird, also der Wechsel von Beamten zwischen Mutterhaus und internationalen Organisationen auf immer höheren Stufen, lohnend.
Angesichts solcher Erfolge sollten wir aber nicht vermessen werden. So können wir zum Beispiel nicht, wie
Sie, Herr Ruck, fordern, den finanziellen Beitrag, den
wir zur EU und zu den internationalen Organisationen
leisten, als alleinigen Maßstab für eine personelle Repräsentanz nehmen. Die Folge wäre nämlich, dass sich entwickelnde Länder dann keine Chance hätten, in den internationalen Organisation ausreichend vertreten zu sein.
Das können wir politisch nicht wollen.
({2})
Deshalb gibt es in vielen Organisationen so genannte
Margen, an denen sich die angemessene personelle Präsenz messen lässt. Ich finde, nur dieser Vergleich ist ehrlich.
Wenn Sie Ihre eigenen Forderungen gegenüber der alten Bundesregierung aus der alten Bundestagsdrucksache noch einmal nachlesen, werden Sie zugeben, dass
wir diese Vorschläge weitgehend verwirklicht haben.
Unsere Bemühungen werden auch genau beobachtet.
Sie haben Frankreich erwähnt. Als größtes Lob betrachte
ich zum Beispiel eine Bemerkung des französischen „Figaro“ vom Oktober 2002, den ich abschließend zitieren
möchte:
Mittlerweile schneiden die deutschen Teilnehmer
beim EU-Concours besser ab als die französischen
Bewerber. Der Grund: Berlin hat den Stier bei den
Hörnern gepackt und die Vorbereitung und Betreuung organisiert.
Sie sehen: Es hat sich viel verändert. Das meiste haben wir schon umgesetzt und wir arbeiten gemeinsam
weiter an dem Ziel einer größeren Repräsentanz von
deutschem Personal in internationalen Organisationen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Hoyer von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir ehrlich sind, sind wir uns bei diesem Thema in
der Analyse ziemlich einig. Der Antrag der Unionsfraktionen geht in die völlig richtige Richtung. Wir können
im Ausschuss noch über einige Details sprechen; aber
die Richtung stimmt.
Bei pragmatischer Betrachtung der Situation und
wenn man nicht nur Zahlenspiele im Deutschen Bundestag diskutieren will, stelle ich mir jedoch die Frage, ob
man sich nicht vielleicht von der Berichterstattung an
den Deutschen Bundestag trennen und stattdessen eine
intensive Berichterstattung in den jeweils zuständigen
Ausschüssen vornehmen könnte. Dort könnte man auch
offen über Qualität reden, ohne internationale Empfindlichkeiten zu verletzen. Hierüber müssten wir untereinander eigentlich gesprächsfähig sein.
({0})
Ich finde es gut, dass Sie, Frau Staatsministerin, einige positive Entwicklungen vorgetragen haben. So gibt
es zum Beispiel beim EU-Concours eine sehr erfreuliche Entwicklung. Die Situation dort hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Ich finde es insgesamt
gut, dass die Bundesregierung damit die Initiative fortführt, die 1996 die damalige Bundesregierung ergriffen
hat. Die Initiative geht zurück auf eine Studie der
Konrad-Adenauer-Stiftung, die vom Auswärtigen Amt
und vom Bundeskanzleramt aufgegriffen worden ist. Ich
würde einen großen Fehler machen, wenn ich die Bundesregierung dafür kritisieren würde, dass sie das konsequent fortsetzt.
Trotzdem stimmt im Ergebnis vieles noch nicht. Dafür sprechen nicht nur die Quantitäten in den internationalen Organisationen, sondern häufig auch die Qualitäten. Es hat nicht viel Sinn, Planstellen einfach nur zu
addieren. Wir müssen vielmehr auch über die entsprechenden Funktionen sprechen, die die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter wahrnehmen sollen.
({1})
Betrachtet man die Personalpolitik aus Sicht der zuständigen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in
den zuständigen Ministerien und sonstigen Behörden,
stellt man fest: Es fehlt an Nachhaltigkeit. Auf dem Gebiet der politischen Zielsetzung ist mittlerweile viel passiert. Faktum ist aber, dass viele der in Personalverantwortung stehenden Beamten noch nicht mitbekommen
haben, dass ein Beamter, der zu einer internationalen Organisation wechselt, nicht aus den Augen und aus dem
Sinn gehen darf. Das ist in der Realität aber nach wie vor
der Fall.
({2})
Hier gibt es viel zu verbessern. Da müssen wir dranbleiben.
Hier braucht sich der Bund im Übrigen auch nicht zu
verstecken, weil das in der Privatwirtschaft häufig nicht
anders ist. Ich habe lange in einer Organisation gearbeitet, die sich mit internationaler Personalentwicklung befasst, und kann daher sagen, dass es in vielen Bereichen
der Privatwirtschaft auch so ist, dass Mitarbeiter in Personalabteilungen eine gewisse Neigung haben, jemanden zu vergessen, der früher einmal im Unternehmen
ganz wichtig war und jetzt in einer Auslandsverwendung
ist. Hinterher wird für diesen krampfhaft eine Reintegrationsmöglichkeit gesucht. Häufig wird jemand, den
einerseits die Bundesregierung auf Kosten der Steuerzahler als Experten irgendwohin geschickt hat, damit er
sich für diese internationale Organisation einsetzt, der
andererseits aber auch Kompetenzen erwirbt, die man
hier sehr gut nutzen könnte, nachher in der Liegenschaftsverwaltung eingesetzt. Ich könnte Ihnen hier massenhaft Beispiele aus der Praxis nennen. Hier gibt es viel
zu verbessern.
Nationale Experten auf Kosten der Steuerzahler zu
entsenden hat nur dann Sinn, wenn das mit einem Personalentwicklungskonzept verbunden ist. An diese Aufgabe sollten wir dringend herangehen und die Frage der
Reintegration in den Vordergrund stellen.
Ein letztes Wort: Auf der internationalen Bühne setzt
sich mehr und mehr das Bestenprinzip durch. Deswegen
ist es richtig, dass wir, wenn wir Personalpolitik betreiben, strikt darauf achten, dass die Qualität das Entscheidende ist. Dann werden wir es eher schaffen, unsere Ansprüche auf internationaler Ebene durchzusetzen.
({3})
Die von der Staatsministerin dargestellte Verbesserung
der qualitativen Situation sollte daher durchaus ermutigend sein.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Dzembritzki
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, alle Diskussionsbeiträge zeigen auf, dass wir
dicht beieinander sind. So gesehen bin ich froh, dass
CDU/CSU das Thema der Präsenz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in internationalen Institutionen in
ihrem Antrag aufgreift. Dieses Thema sollten wir unserer dauernden Aufmerksamkeit unterwerfen. Herr
Kollege Ruck, Sie erheben in Ihrem Antrag einige konstruktive Forderungen, die die Notwendigkeit der Fortführung unserer Bemühungen unterstreichen. Ich denke,
auch in unseren weiteren Beratungen werden wir sehr
konstruktiv zusammenarbeiten.
Allerdings weisen sowohl die Staatsministerin als
auch Kollege Hoyer darauf hin, dass in den zurückliegenden Jahren entscheidende Verbesserungen eingeleitet
worden sind und dass die Ergebnisse, was die Tendenz
der Entwicklung betrifft, durchaus positiv sind. Ich
glaube, bei uns herrscht Einmütigkeit darüber, dass der
Einfluss der internationalen Institutionen kontinuierlich
zunimmt. An dieser Stelle darf ich uns in die Verantwortung nehmen, dies noch viel stärker in die Köpfe unserer
Bevölkerung zu tragen. Denn wenn man sich beispielsweise die Wahlbeteiligung bei der Europawahl ansieht, dann ist das deprimierend. Das ist ein Signal dafür,
dass wir es bisher nicht geschafft haben, diese internationale Verantwortung aufzuzeigen.
Wir wissen, dass immer mehr Entscheidungen auf supranationaler Ebene getroffen werden und dass es deswegen wichtig ist, dort auch Einfluss zu haben. Das
heißt, dass unsere Personalpräsenz auf allen Ebenen verstärkt werden muss, damit wir unsere Interessen vertreten und unsere Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen
können.
Herr Kollege Ruck, ich persönlich hätte überhaupt
kein Problem damit, wenn unser Personaleinsatz in einigen Institutionen größer als unser materieller Einsatz
wäre. Trotzdem will ich noch einmal das unterstreichen,
was die Staatsministerin gesagt hat. Wir müssen darauf
achten, dass wir diejenigen mitnehmen, die wir auch in
anderen Debatten immer vor Augen haben: die Entwicklungsländer.
Wir können nicht nur über die Erhöhung unseres Anteils im Bundeshaushalt streiten, sondern wir müssen
auch sehen, dass immaterielle Unterstützung ebenfalls
hilfreich sein kann. Aber ich glaube, das ist letztendlich
kein Widerspruch. Seit Übernahme der Regierungsverantwortung haben wir ja aufgezeigt, dass wir uns gerade
im internationalen Bereich einbringen und positionieren
und dass der Einsatz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier eine große Rolle spielt.
({0})
Ich habe mich wirklich gefreut, Herr Kollege Ruck, dass
der Weg, der beschritten worden ist, selbst in Ihrem Antrag als richtig anerkannt und auch die Bereitschaft, einen Konsens zu finden, signalisiert wird.
Nun zur Situation in den 80er- und 90er-Jahren. Herr
Hoyer, Sie haben als Partner bzw. Zeugen die KonradAdenauer-Stiftung angeführt, die uns damals darauf
hingewiesen hat, dass hier ein Riesennachholbedarf besteht, den man begonnen hat auszugleichen.
Aber Folgendes muss man auch aus unserer Perspektive durchaus kritisch bzw. als Herausforderung sehen:
Die starken Jahrgänge, die ihren Berufseinstieg in den
70er-Jahren hatten, gehen bald in Pension. Viele, die
Spitzenpositionen erreicht haben, werden sich in den
nächsten Jahren zurückziehen. Dadurch wird ein überproportionaler Rückgang stattfinden, der sich nicht automatisch durch die Jahrgänge, über die jetzt verhandelt
wird, ausgleichen lässt.
Auch das Thema Qualität ist angesprochen worden.
Wir müssen feststellen, dass die Fremdsprachenkenntnisse der mittleren Generation häufig nicht optimal sind.
Wir haben also darauf zu achten, dass das, was jetzt an
Aufgaben zu bewältigen ist, in besonderer Weise auch
mit jüngerem Nachwuchs bewerkstelligt wird. Wir stimmen erfreulicherweise darin überein, dass wir einen
Nachwuchs haben, der seine Qualität unter Beweis gestellt hat und mit dem wir wirklich zufrieden sein können.
All das, was von der Bundesregierung eingeleitet und
von der Staatsministerin schon angesprochen worden ist
- etwa die Veröffentlichung der Stellenausschreibungen
internationaler Organisationen auf der Homepage des
Auswärtigen Amtes seit 2001, die hier ständig angesprochen wird -, ist ein exzellenter Service, der auch
über Detailinformationen verfügt und Bewerberprofile
schafft, die so zugeschnitten sind, dass viele eine Chance
haben, sich einzubringen. Ich denke, dass auch die
Kooperation der verschiedenen Ressorts anerkennenswert ist, um gerade für den Bereich des mittleren Managements geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu
finden, und dass die Auslandsvertretungen aktiv mit einbezogen sind. Ich glaube, das alles sind gute Zeichen.
({1})
Was ich hier noch einmal anerkennend herausstellen
will, ist zum Beispiel die Vorbereitung für den Concours auf europäischer Ebene. Das ist wirklich ein Erfolgsprogramm gewesen und das sollte man auch weiterführen. Ich glaube, wir alle können uns auf die Schulter
klopfen, dass die dauernde Diskussion über die Frage
„Wie verstärken wir unsere internationale Präsenz?“ mit
dazu beigetragen hat, dass wir unseren Anteil in internationalen Organisationen erhöhen konnten. Wir sollten
ganz zufrieden sein, dass das funktioniert hat.
Das ist, wenn man so will, eine Auflistung von Bausteinen. Wir müssen sehen, dass zum Beispiel der Koordinator für Internationale Personalpolitik beim Auswärtigen Amt und der Chef des Bundeskanzleramtes als
wichtige Koordinatoren mit die Geschicke lenken.
Wir müssen aber auch aufpassen, dass die Programme
weitergeführt werden. Die eigentlichen Einstiegsangebote sind nämlich internationale Jugend- und Bildungsprogramme - seien es Sprachprojekte, europäischer Freiwilligendienst, ERASMUS-Stipendien oder
das Carlo-Schmid-Programm für Hochqualifizierte oder
internationale Praktika. Diese Programme müssen weiterlaufen. Denn wer sich mit deutschen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern unterhält, die den Einstieg in internationale Organisationen gefunden haben, stellt fest, dass
diese Programme häufig eine Einstiegsmöglichkeit darstellten. Deswegen halte ich sie für einen ganz wichtigen
Bereich, um potenzielles Personal zu werben.
({2})
Vieles mehr muss gemacht werden. Herr Kollege
Dr. Ruck, mit dem Jahresbericht - auch mit der Ergänzung, die Herr Hoyer vorgenommen hat - sollte man
sich konstruktiv beschäftigen. Ich halte die Idee, ihn zur
intensiven Diskussion direkt in die Ausschüsse zu geben, für einen überlegenswerten Punkt. Ich hätte da
überhaupt keine Bedenken.
Ich will noch einmal auf die Forderung einer konsequenten Anwendung des Spiralmodells eingehen, die
Sie erheben, damit im Ausland gewonnene Erfahrungen
auch angemessen honoriert werden. Ich will zugeben:
Im Falle von Herrn Köhler haben Sie das Modell konsequent angewandt, wenngleich das unseren Anteil an internationalen Spitzenpositionen nicht gestärkt hat. Kollege Ströbele hat schon einen berechtigten Zwischenruf
gemacht: Die Zurückhaltung des bayerischen Ministerpräsidenten stärkt unsere internationale Präsenz ebenfalls nicht. Aber nun einmal Ironie und Freude über die
Entwicklung von Herrn Köhler beiseite - dieses Spiralmodell ist ja keine neue Erfindung der Union, sondern
auch wir versuchen das zu realisieren. Das ist hier auch
von Ihnen, von Herrn Hoyer und von Frau Müller angesprochen worden.
Wir müssen aber auch hier selbstkritisch sein. Bei aller Anerkennung und bei allem Respekt, Frau Müller,
denke ich, dass der gesetzliche Rahmen „Beamtengesetz“ noch nicht ausreicht. Wir müssen darauf hinwirken, dass die Mentalität in unseren Behörden wirklich
verändert wird, sodass ein Auslandseinsatz nicht als Urlaub vom eigentlichen Arbeitsplatz angesehen wird, sondern dass ein solcher Einsatz bei der Rückkehr berücksichtigt und wirklich als Pluspunkt angesehen wird. Die
Bundesregierung hat durch eine Änderung der Bundeslaufbahnverordnung 2002 festgestellt, dass eine „erfolgreich absolvierte Tätigkeit“ besonders zu berückDetlef Dzembritzki
sichtigen ist. Die Interpretation von „erfolgreich“ hat zu
großen Diskussionen geführt: Man könne das ja nicht
richtig beurteilen, das alles sei nicht vergleichbar.
Wir machen uns selbst Probleme, wo eigentlich keine
sind.
Unsere französischen Nachbarn haben all diese
Dinge natürlich weitaus pragmatischer geregelt. Wir
sollten uns nicht davon abbringen lassen, immer wieder
die entsprechende Forderung einzubringen. Es ist für die
entsendenden Behörden - ob Bundes- oder Landesbehörden - sinnvoll, Mitarbeiter in den Auslandsdienst
zu schicken; denn es ist eine Bereicherung, wenn diese
zurückkommen und ihre Erfahrungen in ihren Job einbringen können. Im Grunde wäre es wenig hilfreich, um
jetzt hier nicht andere Worte zu gebrauchen, wenn die
Kompetenz und das Erfahrungswissen, das sie mit zurückbringen, nicht entsprechend genutzt werden könnten.
({3})
Oder nehmen Sie Großbritannien; Ihr Antrag bezieht sich darauf. Ich weiß nicht, ob Sie das „European
Fast-Stream“-Programm meinen. In Großbritannien zum
Beispiel werden Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten
Bereichen, also aus allen Ministerien, herangezogen, die
quasi als Taskforce temporär im Einsatz sind. Mit den
erworbenen Erfahrungen finden sie die Motivation, für
längere Zeit in internationale Jobs zu gehen. Hieraus ist
sicherlich einiger Honig zu saugen.
So gesehen finde ich es schön, dass man hier am
Samstag um 13.06 Uhr
({4})
- am Freitag um 13.06 Uhr - eine solch breite Konsensdebatte führt. Ich habe nur um zehn Sekunden überzogen.
Vielen Dank und schönes Wochenende.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Klaus Rose,
am Freitag um 13.06 Uhr.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Ich möchte den allgemeinen Konsens nicht trüben. Ich
bin im Gegenteil sehr dankbar, dass eine jahrelange Diskussion heute wieder einmal Konturen bekommt, weil
das Thema nicht nur wichtig ist, sondern uns auch am
Herzen liegt und weil doch nicht alles in Ordnung ist.
Ich freue mich zwar, dass auch vonseiten des Auswärtigen Amtes viele Erfolgsmeldungen kamen, wir werden
bei den Diskussionen im Ausschuss und vor den künftigen Entscheidungen, die auf diesem Feld notwendig
sind, aber schon noch nachbohren.
Mir geht es auch darum: Wir haben in dieser Woche
- es passt halt sehr gut zusammen - sehr stark um die
Zuwanderung gerungen, damit die Besten im Ausland zu
uns kommen. Deshalb muss es auch im deutschen Interesse liegen, dass die besten Deutschen im Ausland
Entscheidungen treffen können. Diese Entscheidungen
müssen sie auch zugunsten und im Interesse der Deutschen durchsetzen. Das möchte ich heute noch stärker
herausarbeiten. Wir wollen keinen allgemeinen internationalen öffentlichen Dienst bekommen, in dem man
Konturen verliert, sondern in ihm müssen deutsche Interessen durchaus vertreten werden.
Ich betone das nochmals: Nachdem wir in fast allen
internationalen Organisationen zu den größten Beitragszahlern gehören, haben wir auch die Pflicht und die Verantwortung, mit eigenem Personal Linien zu ziehen. Es
ist klar festzustellen, dass die internationale Verflechtung ein Netz von deutschen Topmitarbeitern braucht
und dass dieses Personal nicht nur Beobachter bei Konferenzen sein soll, sondern auch Weichen stellen muss,
weil die Multinationalität und die Internationalität der
Welt laufend größer werden. Mit unserem Antrag - formuliert von Dr. Christian Ruck; ich betone das, weil ich
am Schluss auf etwas hinaus möchte - haben wir dieser
Entwicklung Rechnung getragen.
({0})
Natürlich gab es auch in der Vergangenheit immer
wieder bekannte Deutsche in internationalen Organisationen. Das ist also nicht erst seit der neuen Bundesregierung so. Ich will nicht vom alten Walter Hallstein anfangen; denn das ist wirklich zu lange her, das weiß
kaum mehr jemand.
({1})
Ich nenne unsere großen und wichtigen Leute auf der
Führungsebene der Vereinten Nationen. Als Assistant
Secretary General gab es Klaus Töpfer, Michael Steiner,
Angela Kane, Karl Theodor Paschke und General Eisele.
Das alles sind bekannte Namen, die sich einen sehr guten Ruf erworben haben. Wenn man heute irgendwo hinkommt, kann man sich auf diese Leute berufen. Sie haben nicht nur persönlich etwas erreicht, sondern auch in
der Sache. Hier haben die Deutschen wirklich einen großen Beitrag geleistet.
({2})
Es ist logisch, dass bei der NATO und auch auf der EUEbene sehr gute Deutsche Präsenz gezeigt haben. Auch
heute kann man darauf noch stolz sein. Mit Horst
Köhler, dem zukünftigen Bundespräsidenten, erwähne
ich einen weltweit guten Namen.
Warum es mir darauf ankommt, ein Netzwerk von
Dauermitarbeitern und auch jungen Kräften im internationalen Bereich aufzubauen, möchte ich kurz unterstreichen.
Ich erkenne an, dass es im Auswärtigen Amt eine Koordinierungsstelle gibt - ab und zu rede ich mit den dort tätigen Damen und Herren -, und bin ganz sicher, dass sie
dankbar dafür sind, dass wir diesen Antrag heute eingebracht haben und uns in den nächsten Monaten darüber
austauschen werden. Sie fühlen sich dadurch gestützt
und gestärkt. Wir werden ihnen helfen, zu weiteren Erfolgen zu kommen.
Wir brauchen eine systematische Personalpolitik.
Die Ansätze, die vorhanden sind, sollten wir überall gemeinsam unterstützen. Ich persönlich erwarte allerdings
eine wirklich systematische Personalpolitik und einen
ständigen Erfahrungsaustausch. In Zeiten moderner
Kommunikation sollte kein Beamter - wie man so locker
sagt - jottwede oder gar verschollen sein. Er darf auch
nicht die Entwicklung in Deutschland aus den Augen
verlieren, sich abkoppeln oder gar zu einem internationalen Neutrum werden. Das möchte ich zusammen mit
meiner Fraktion nicht. Ein solcher Beamter sollte weiterhin mit Deutschland verbunden bleiben und auch die
deutsche Politik aufmerksam verfolgen.
Meine Vorstellung ist - Sie verzeihen mir, dass ich
aus einer meiner früheren Tätigkeit einen Vergleich
ziehe - ein gegliedertes System von „Berufs- und Zeitsoldaten“, die im besten Sinne des Wortes im internationalen Dienst tätig sind. Einige sollen ein ganzes Leben
vor Ort bleiben und andere sollen nur zeitweise hinzukommen, gut integriert werden und dann zu Hause entsprechende Ergebnisse bringen. Wir haben dankenswerterweise im Auswärtigen Ausschuss den Unterausschuss
Vereinte Nationen. Damit haben wir viele Möglichkeiten, auf die Vereinten Nationen und die vielen Sonderorganisationen, die es dort gibt, nicht nur zu schauen,
sondern auch Einfluss zu nehmen.
Die Prozentzahlen, die in diesem Zusammenhang immer genannt werden, stören mich. Denjenigen, die immer davon reden, was man prozentual zahlt und was
man dafür an Personal stellen müsste, kann ich nur sagen, dass das nicht stimmt. Man muss auch die Qualität
und die inhaltlichen Weiterentwicklungen sehen. Lassen
Sie mich dazu Folgendes sagen: Der vorhandene Personalschlüssel, der immer wieder angeführt wird, wird
von uns in den nächsten Wochen garantiert kritisch hinterfragt. Ich glaube nicht alles, was gesagt wird, und
auch nicht, dass alles bestens ist. Wir werden uns den
Personalschlüssel auf alle Fälle genau anschauen. Auch
kann ein Personalschlüssel, selbst dann, wenn er wirklich in Ordnung sein sollte, überprüft und neu gefasst
werden.
Ich sehe, dass meine Redezeit leider dem Ende entgegengeht. Bei dem neuen EU-Parlament und der neuen
EU-Kommission werden Tausende von neuen Beamten
gebraucht. Ich als alter Haushälter sage: Hoffentlich
werden diese Beamten bei den nationalen Parlamenten
und Ministerien abgezogen, damit die Strukturen nicht
überall neu aufgebläht werden. Aber ich bin mir nicht so
sicher, ob das tatsächlich geschehen wird.
Am Anfang habe ich erklärt: Der Antrag ist vom Kollegen Ruck. Nachdem wir heute so große Einigkeit und
Konsens festgestellt haben, gehe ich davon aus, dass wir
uns in den nächsten Wochen und Monaten alle gemeinsam einen Ruck geben, um diesem Antrag zum Erfolg zu
verhelfen.
({3})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2652 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
- Drucksachen 15/2887, 15/2945 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederholungstaten durch
nachträgliche Anordnung der Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 15/2576 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederholungstaten durch Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 15/3146 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 15/3346 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Dr. Jürgen Gehb
Jerzy Montag
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Ich bedanke mich, dass Sie
mir das Wort erteilt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen! An diesem Freitagmittag beraten wir drei Gesetzentwürfe, die seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar vorliegen. Wir haben diese
Entwürfe zügig, aber vor allen Dingen gründlich beraten, wie es bei diesem problematischen und schwierigen
Thema nicht anders geht. Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechtsausschuss bedanken, dass wir die Beratungen heute abschließen können.
Es geht einerseits um den Schutz der Bevölkerung vor
hochgefährlichen Straftätern, andererseits um den
schwersten Eingriff, den unsere Strafrechtsordnung zulässt, nämlich die Sicherungsverwahrung. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass dieses Mittel
auch im Wege der nachträglichen Anordnung zur Verfügung steht, wenn der Schutz der Bevölkerung nicht anders gewährleistet werden kann. Alle vorliegenden Entwürfe sehen deshalb diese Möglichkeit vor. Über die
jahrelang umstrittene Grundsatzfrage besteht jetzt weitgehend Einigkeit.
Einig waren sich die Entwürfe in der ursprünglichen
Fassung auch in der Ersttäterregelung. Der Begriff ist
eigentlich ungenau, aber er hat sich nun einmal eingebürgert. Der Regierungsentwurf sah praktisch die gleichen Voraussetzungen wie die Entwürfe von Union und
Bundesrat vor. Das haben wir nicht zuletzt nach dem Ergebnis der Sachverständigenanhörung geändert, in der
teilweise recht kritisch auf Ersttäterregelungen eingegangen wurde. Tatsächlich müssen wir bei diesem Täterkreis die Anordnungsmöglichkeit unbedingt auf diejenigen Verurteilten beschränken, bei denen die Prüfung
künftiger Gefährlichkeit schon nach Art und Schwere
der Anlasstat nahe liegt. Diese Anforderung erfüllt unsere Regelung. Sie verlangt eine Verurteilung wegen
eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung usw. und
eine Verurteilung zu mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe.
Auch den Straftatenkatalog, den wir jetzt für die
Mehrfachtäterregelung vorschlagen, halte ich für angemessener als die anderen Vorschläge. Zugegeben, es
geht um Nuancen, aber diese Nuancen können sehr weit
reichende Folgen für die Betroffenen haben. Das Bundesverfassungsgericht hat nun einmal die besonders
hochrangigen Rechtsgüter genannt, deren Bedrohung die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
rechtfertigen kann.
Ein ganz wichtiger Punkt ist für mich schließlich das
Verfahren. Wenn eine so einschneidende Sanktion im
Raum steht, kann darüber nur mit den stärksten Verfahrensgarantien verhandelt werden. Das wird durch das
Hauptverhandlungsmodell unseres Entwurfs gesichert,
und das wird auch dadurch garantiert, dass zwei unabhängige, im Strafvollzug nicht mit dem Betroffenen befasste Gutachter ihre Prognose abgeben müssen. Weil in
unserem Entwurf diese Verfahrensgarantien gewährleistet sind, fällt mir die Zustimmung zur nachträglichen
Sicherungsverwahrung leichter.
Wenn ich sage, dass mir heute die Zustimmung leichter fällt, dann will ich keineswegs verschweigen, dass
ich der nachträglichen Sicherungsverwahrung lange
skeptisch gegenübergestanden habe.
({0})
Ich halte es deshalb auch für wichtig, dass wir uns möglichst konkret vor Augen führen, worüber wir heute entscheiden: Jemand hat eine schwere Straftat begangen
und wurde deswegen zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt, die er teilweise verbüßt hat. Darf der Staat jetzt
noch, erst nach Verurteilung und weitgehender Verbüßung der Strafe, entscheiden, dass dieser Mensch als gefährlich einzuschätzen ist und auf unbestimmte Zeit eingesperrt bleiben muss?
Ich persönlich habe Respekt vor denjenigen, die hier
Nein sagen. Bis zum 10. Februar hätte ich beispielsweise
dem Kollegen van Essen zugestimmt. Seitdem haben wir
jedoch mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine andere Ausgangslage. Dieser muss man
einfach Rechnung tragen. Ich meine übrigens auch, dass
man den Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts nicht einfach unterstellen sollte, sie hätten
sich mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
nicht auseinander gesetzt. Wir wissen genau, dass das
Gericht dieses Thema in der mündlichen Verhandlung
sehr ausführlich besprochen hat.
Für eine nähere Auseinandersetzung mit der Menschenrechtskonvention fehlt hier leider die Zeit. Wir haben dies im Berichterstattergespräch und im Rechtsausschuss schon eingehend diskutiert. Ich bleibe bei der
Auffassung, dass unser Gesetz über die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht konventionswidrig ist.
Bis zum 30. September müssen nach diesem Bundesgesetz Entscheidungen über diejenigen Verurteilten getroffen sein, die derzeit noch nach Landesstraftäterunterbringungsgesetzen inhaftiert sind. Justizminister Becker
aus Sachsen-Anhalt hat erst Anfang dieser Woche wieder einmal öffentlich auf die Gefahr hingewiesen, die er
bei Freilassung eines Verurteilten in seinem Bundesland
sieht. Er hat deshalb den Bundestag aufgefordert, zügig
zum Abschluss der Beratungen zu kommen. Nach der
Entscheidung von heute ist klar: Wir haben unsere Aufgabe gemacht. Jetzt sind die Länder im Bundesrat an
der Reihe. Herr Becker und seine Kolleginnen und Kollegen haben es selbst in der Hand, wie schnell das Gesetz in Kraft treten wird. Jetzt können die unionsgeführten Länder im Bundesrat beweisen, dass sie bereit sind,
Verantwortung zu übernehmen, was sie bei uns immer
anmahnen, und dass sie nicht nur hilflose Parteistrategen
sind.
({1})
- Ich danke Ihnen, Herr Kauder. Wenn Sie mir richtig
zugehört hätten - was Sie üblicherweise nicht tun -,
dann hätten Sie gehört, dass ich meine Bedenken zurückgestellt habe und zu diesem Entwurf stehe. Vielleicht sollten Sie einmal zu dem stehen, was Sie immer
wieder herausposaunen.
({2})
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert
Röttgen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit über vier Jahren, seit Januar 2000, fordern
CDU und CSU, dass der Staat die Möglichkeit eröffnet,
hochgefährliche Wiederholungstäter auch dann noch in
Haft nehmen zu können, wenn sich ihre Gefährlichkeit
erst während des Vollzugs der Freiheitsstrafe herausstellt.
({0})
- Als wir noch an der Regierung waren, haben wir die
nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt. Es ist
völlig richtig: Wir haben sie eingeführt.
({1})
Wir haben 1998 vorgehabt, weiterzuregieren, weil wir
ein gutes Programm haben und noch viele sinnvolle
Maßnahmen vorhaben.
({2})
Wir haben nicht gesagt, dass alles absolviert ist.
Wir haben seit dem Jahr 2000 die Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung gefordert.
({3})
- Ich akzeptiere, dass Sie fragen, warum wir das nicht
schon vorher getan haben.
({4})
Auch wir können dazulernen. Aber die Frage, die sich
heute, im Juni 2004, stellt, Kollege Schmidt, ist: Warum
haben Sie in Ihrer Regierungszeit vier Jahre gewartet?
Sie haben mehr als vier Jahre länger gebraucht.
({5})
Wir fordern es seit zwei Legislaturperioden.
Sie sollten nicht die Verantwortung, die Sie dadurch
auf sich genommen haben, dass Sie unsere Forderungen
vier Jahre lang zurückgewiesen haben, von sich weisen.
Sie sollten vielmehr zu dieser Verantwortung stehen und
das tun, was Sie vier Jahre in seiner Notwendigkeit bestritten haben.
({6})
Sie schwenken jetzt nach über vier Jahren auf die
Linie der Union ein
({7})
und übernehmen zu 80 Prozent - ich betone: zu 80 Prozent, nicht zu 100 Prozent - die Vorstellungen von CDU
und CSU. Dadurch dass unsere Vorschläge von Ihnen
übernommen werden, halten wir sie jetzt nicht für falsch.
Ich gehe auch nur deshalb auf die Vergangenheit ein,
weil ich darauf hinweisen möchte, dass Sie jetzt einen
richtigen Kurswechsel vollziehen. Bei den meisten von
Ihnen geschieht das aber wider die eigene Überzeugung.
Sie gehorchen einem empfundenen Druck.
({8})
Das ist die Wahrheit. Die Mehrheit von Ihnen lehnt den
Kurswechsel der Sache nach ab. Sie gehorchen politischem Druck. Das ist Ihr Problem.
Aber immerhin handeln Sie jetzt, nach vier Jahren.
Ich rede immer wieder von diesen vier Jahren; denn so
gut es ist, dass Sie einschwenken, kann und darf die Politik nicht so lange zusehen und warten, wenn es um den
Schutz der Bevölkerung vor schwerster Kriminalität
geht.
({9})
Das ist doch die Konsequenz, die wir ziehen müssen.
Wir haben die Verantwortung, zu handeln, statt jahrelang
zuzusehen und abzuwarten.
In unserem Land gibt es nur wenige hochgefährliche
Straftäter und Wiederholungstäter. Es ist zwar kein Massenphänomen, aber es gibt solche Täter; es gibt einige
wenige hochgefährliche Straftäter. Das haben die Unterbringungsgesetze gezeigt, die in CDU- und CSUgeführten Bundesländern im Sinne einer Notstandsgesetzgebung geschaffen worden sind. Ich spreche von
Notstandsgesetzgebung. Da Sie über vier Jahre die Gesetzgebung verweigert haben, haben die unionsgeführten
Länder - obwohl Sie den Standpunkt vertreten haben,
dass es Sache des Bundes sei und damit auch vor dem
Bundesverfassungsgericht Recht bekommen haben - im
Sinne eines Notstandes festgestellt, dass gehandelt werden muss. In den CDU- und CSU-geführten Ländern, die
dies getan haben, sitzen acht hochgefährliche Wiederholungstäter ein.
Ich frage mich, warum kein Bundesland, in dem die
SPD den Ministerpräsidenten stellt, ein solches Gesetz
eingeführt und darauf gedrungen hat, dass dies auch auf
Bundesebene geschieht. In keinem SPD-geführten Bundesland gibt es untergebrachte Wiederholungstäter.
({10})
Frau Kollegin, ich frage Sie: Gibt es gefährliche Straftäter nur in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg oder
Bayern und nicht in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland? Sind diese Bundesländer
anders, oder liegt es daran, dass Sie in den Ländern, in
denen Sie regieren, die Verantwortung - ich nehme diesen Begriff von Herrn Hartenbach sehr gerne auf; denn
das ist die Kernfrage - nicht wahrnehmen, weil Sie politisch nicht in der Lage sind, solche Gesetze durchzusetzen?
({11})
Die Wahrheit rot-grüner Rechtspolitik ist: Sie selber
schaffen es nicht, solche Gesetze zu realisieren. Sie sind
dazu nur in der Lage, wenn außergewöhnlich starker
Druck ausgeübt wird.
Ich gehe auf diese Fragen deshalb ein, weil es hier um
den Grundsatzstreit geht, den wir über die These der
CDU/CSU führen, dass der Staat dann, wenn er auf die
Instrumente einer rationalen und rechtsstaatlich ausgestalteten Kriminalitätspolitik verzichtet, die Akzeptanz
des Rechtsstaates unterhöhlt. Das machen Sie leider systematisch.
({12})
Jetzt gibt es einen Beispielsfall, in dem Sie auf Druck
nachgegeben haben. Das ist die DNA-Analyse, die - rational und rechtsstaatlich ausgestaltet - möglich wäre.
Sie haben aber nicht die Einigkeit, sie durchzusetzen.
Andere Beispiele sind Massenphänomene wie Graffiti
und die Kronzeugenregelung. Auf dem Gebiet der inneren Sicherheit enthalten Sie als Abgeordnete der Koalition dem Staat systematisch mögliche rationale und
rechtsstaatliche Mittel der Kriminalitätsbekämpfung und
-prävention vor.
({13})
- Das ist in der Tat ein ungeheurer Vorwurf. - Wir müssen einen Grundsatzstreit über die Beispiele führen, die
ich eben genannt habe. Sie machen den Staat in bestimmten wichtigen Bereichen unfähig, auf Kriminalität
zu reagieren.
({14})
Wir wollen die zur Diskussion stehenden Instrumente
nicht mit Hurra, sondern abwägend, rechtsstaatlich ausgestaltet und rational einsetzen. Das, was wir jetzt bei
der nachträglichen Sicherungsverwahrung in die Wege
leiten und was Sie vier Jahre verhindert haben, brauchen
wir auch auf anderen Gebieten. Das ist der Gegenstand
des Grundsatzstreites, den CDU/CSU und Rot-Grün auf
dem Gebiet der inneren Sicherheit führen.
({15})
- Graffiti ist ein Massenphänomen. Ihre Ministerin redet
öffentlich anders. Wir erwarten von ihr, dass sie im Parlament entsprechend handelt.
Wer dem Staat die entsprechenden Instrumente verweigert, der muss offen mit den Bürgern reden. Mein
Appell an die FDP lautet deshalb: Die FDP-Fraktion
sagt heute als einzige Nein zu der Möglichkeit einer
nachträglichen Sicherungsverwahrung. Das ist das Ergebnis Ihrer Abwägung und Ihr Recht. Es widerspricht
allerdings dem Ergebnis unserer Abwägung. Ich fordere
Sie auf - weil das zur Wahrheit als Teil von Verantwortung gehört -, dass Sie der Bevölkerung sagen: Wir, die
FDP-Fraktion, sind dafür, acht gefährliche Wiederholungstäter, die jetzt untergebracht sind, freizulassen.
({16})
- Nein, das ist der Sachverhalt sowie die Konsequenz
der Auffassung der FDP und Ihrer privaten Auffassung,
meine Damen und Herren von der SPD.
Wenn wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute
nicht verabschieden, werden diese gefährlichen Straftäter freigelassen; das ist ganz sicher. Sie müssen den
Menschen die Wahrheit sagen und ihnen darlegen, welche Konsequenzen Ihre Politik hat.
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist nach
unserer Auffassung Teil einer rechtsstaatlichen Kriminalpolitik. Das geltende Recht sieht ja schon die Möglichkeit vor, die Sicherungsverwahrung im Urteil anzuordnen oder vorzubehalten. Im Unterschied dazu wird
bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung die Bewertungsgrundlage in zeitlicher Hinsicht ausgeweitet.
Die Möglichkeit, eine Prognose darüber abzugeben, ob
ein Straftäter gefährlich ist oder nicht, wird erweitert, genauso wie die Erkenntnisgrundlage, die vom Zeitpunkt
der Urteilsverkündung bis hin zur Freilassung - unter
Würdigung des Vollzugsverhaltens - reicht. Es geht
nicht um rechtskräftige Verurteilung. Sicherheitsverwahrung ist Prävention und keine Verbüßung von Strafe.
({17})
- Sie müssen sich nach all Ihren Zwischenrufen jetzt
wirklich entscheiden. Ich glaube, es steht fest, dass Sie
innerlich bei der alten Linie bleiben; Sie sind der Auffassung, unser Gesetzentwurf sei falsch. Wenn Sie das in
dieser Debatte durch Zwischenrufe so penetrant zum
Ausdruck bringen, dann fordere ich Sie auf, zu Ihrer
Überzeugung zu stehen und gegen den Gesetzentwurf
der Bundesregierung zu stimmen.
({18})
Diese Doppelzüngigkeit - Sie wollen diesem Gesetzentwurf zwar zustimmen, weisen aber alle Argumente dafür
zurück - lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das ist
wohl klar.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind hier nicht
in einer Talkshow. Es also sollte daher nicht dauernd in
den Vortrag des Redners hineingeredet werden, sodass
man ihn nicht mehr verstehen kann. Ein Zwischenruf ist
natürlich okay und guter parlamentarischer Brauch.
Aber der Redner muss im Fluss sprechen können.
Ihre Bedenken haben in dem Gesetzentwurf Niederschlag gefunden. Sie haben unsere Linie zwar nicht zu
100 Prozent übernommen, aber die Justizministerin - sie
kann heute nicht da sein - hat Konzessionen machen
müssen. CDU und CSU sind die Einzigen, die eine widerspruchsfreie Position vertreten. Sie haben Einschränkungen gemacht, die widersprüchlich, also nicht konsequent, sind. Sie sehen zum Beispiel nicht vor, dass in all
den Fällen, in denen im Urteil Sicherungsverwahrung
angeordnet werden kann, dies auch nachträglich geschehen kann. Das ist widersprüchlich. Wenn der Unterschied lediglich darin besteht, dass der Staat über den
Straftäter mehr weiß, dann macht es keinen Sinn - das
haben Sie gemacht -, den Anwendungsbereich der nachträglichen Sicherheitsverwahrung gegenüber den Möglichkeiten der Verhängung im Urteil einzuschränken.
Das ist widersprüchlich.
Wir sind die einzige Fraktion, die konsequent die
Auffassung vertritt, dass in all den Fällen, in denen im
Urteil zum Schutz der Bevölkerung Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, dies auch nachträglich
geschehen kann. Sie vertreten diese Position nicht. Ihrer
Auffassung nach ist noch nicht einmal die Gesamtheit
der Verbrechen Anlass genug, die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung einzuführen.
Sie haben die Ersttäterregelung weiter so verschärft,
dass Anwendungsfälle kaum denkbar sind. Der Regierungsentwurf sah noch einen Strafrahmen von vier Jahren vor. Sie sind weiter gegangen.
Wir halten es für falsch, dass Sie dafür sorgen wollen,
dass bei 20- und 21-Jährigen, die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt worden sind, die Möglichkeit einer
Sicherungsverwahrung nur unter nicht praktikablen Bedingungen angewandt werden kann. Sie sind auf unseren
Kurs zwar eingeschwenkt, aber Sie vollziehen ihn nur
halbherzig nach und schränken die Praktikabilität ein.
Darum stimmen wir für unseren Gesetzentwurf.
Ich komme zum Schluss. Auch wir haben es uns mit
unserem Gesetzentwurf schwer gemacht. Das ist kein
Privileg der Fraktionen, die ihn ablehnen oder die Veränderungen vorgenommen haben. Auch wir haben eine
ernsthafte, rechtsstaatliche Abwägung zwischen dem
Freiheitsanspruch des Straftäters und dem Schutzanspruch potenzieller Opfer vorgenommen.
Es geht nicht um irgendwelche gefährlichen Menschen und um irgendwelche Straftäter, sondern um solche, die ihre Gefährlichkeit bereits bewiesen haben und
deren Gefährlichkeit durch ein eigenes, rechtsstaatliches
und unabhängiges Verfahren erneut festgestellt worden
ist. Im Hinblick auf diese - ganz wenigen - Fälle sind
wir der Auffassung, dass das potenzielle Opfer auf Kosten des Straftäters, der seine Gefährlichkeit schon bewiesen hat, zu schützen ist. Allein die CDU/CSU-Fraktion
nimmt die gebotene rechtsstaatliche Abwägung vor.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jerzy Montag.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Dr. Röttgen, ich habe Sie in den mittlerweile
zwei Jahren gemeinsamer Arbeit hier im Bundestag besser kennen gelernt. Deswegen bin ich überzeugt, dass
Sie das, was Sie hier erzählt haben, selbst nicht glauben.
({0})
Anders als in Fachgesprächen ziehen Sie hier in der
Öffentlichkeit eine Rechtsshow ab. Ich weise Ihre
pauschalen und unqualifizierten Angriffe auf unsere
Rechtspolitik mit aller Entschiedenheit zurück. Unsere
Rechtspolitik gehorcht rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Grundsätzen.
({1})
Wir werden uns von Ihnen nicht auf die schiefe Bahn des
Populismus in der Rechtspolitik bringen lassen.
({2})
Unser Land hat im präventiven Bereich auf das Mittel
der Folter und im repressiven Bereich auf die Todesstrafe zur Ahndung von Straftaten verzichtet. In einem
Rechtsstaat wie unserem ist eine Freiheitsentziehung auf
unbestimmte Zeit und ohne eine Bindung an die Schuld
des Straftäters das allerletzte, das allereinschneidendste
Mittel, das es gibt. Eine solche Verwahrung in Unfreiheit
ist eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass Menschen
nur aufgrund einer richterlichen Entscheidung, nur in einem rechtsstaatlichen Verfahren und nur als Reaktion
auf schuldhaftes rechtswidriges und strafbewehrtes Verhalten in Unfreiheit gehalten werden dürfen.
Dies war auch der Grund dafür, dass die Grünen die
Sicherungsverwahrung über viele Jahre völlig abgelehnt
haben.
({3})
Deshalb machen wir es uns heute in dieser Diskussion
über die Regelungen auch so schwer. Deshalb achten wir
so akribisch darauf - im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Dr. Röttgen -, dass die gebotenen, notwendigen und
unabweisbaren Regelungen in einem völlig korrekten
und rechtsstaatlichen Verfahren eingeführt werden.
({4})
Der Ihnen heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung mit den notwendigen
Änderungen, die die Grünen, die SPD und das Bundesjustizministerium gemeinsam erarbeitet haben, ist ein
tragbarer Kompromiss zwischen dem notwendigen
Schutz von Freiheitsrechten auch der schlimmsten Straftäter und dem notwendigen Schutz möglicher Opfer solcher Täter in der Zukunft.
({5})
Uns Grünen fällt die Zustimmung zu diesem Gesetz
schwer - ich verhehle das nicht -, aber wir stimmen
heute zu, weil das Gesetz nach unserer Überzeugung
bestmöglich geraten ist.
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung trennt die
Würdigung der Persönlichkeit und der Person zeitlich
von der Würdigung der aufzustellenden Gefährlichkeitsprognose. Das führt zu zwei gerichtlichen Entscheidungen gegen den Täter auf der Grundlage derselben Tat. Die Grünen haben darin lange Zeit einen
Verstoß gegen Art. 103 Grundgesetz gesehen, nach dem
es eben nicht zulässig ist, einen Menschen zweimal wegen derselben Sache vor ein Strafgericht zu bringen.
Das Verfassungsgericht hat nunmehr zum Bereich
schwerster Verbrechen entschieden, dass die Gefährlichkeit solcher Straftäter auch nachträglich überprüft werden kann, dass in einem solchen nachträglichen Verfahren die Gefährlichkeitsprognose aber nur aufgrund der
Täterpersönlichkeit und der Tat aufgestellt werden kann,
das Verhalten des Täters im Vollzug dazu nur ergänzend herangezogen werden darf. Wir richten uns bei unserem Gesetzentwurf genau nach dieser Forderung des
Bundesverfassungsgerichts.
Sie tun das nicht. Die Regelung, die Sie vorschlagen,
ist in gefährlicher Nähe zu den Regelungen der verfassungswidrigen Ländergesetze,
({6})
die nicht nur aus formellen Gründen, Herr Dr. Röttgen,
sondern auch deshalb für verfassungswidrig erklärt worden sind, weil die Länder das Verhalten im Vollzug zu
einem entscheidenden Argument bei der Gefährlichkeitsprognose machen wollten.
({7})
- Das stimmt. Lesen Sie es in Ihrem eigenen Gesetzentwurf nach!
Bei der Sicherungsverwahrung für Ersttäter haben
wir das Problem der Qualität und der Aussagekraft psychiatrischer Gutachten, die dazu erstellt werden müssen.
Alle, die mit solchen Gutachten zu tun haben - die
Staatsanwälte, die Richter, die Verteidiger und die Sachverständigen selbst -, erklären, dass es bei den Feststellungen und Schlussfolgerungen solcher psychiatrischer
Gutachten eine hundertprozentige Richtigkeit nicht gibt.
Ganz im Gegenteil: Diejenigen, die Vertrauen in solche
Gutachten haben, gehen von einer Fehlerquote aus, die
so hoch ist, dass es, wenn man sie zur Grundlage eines
Gerichtsurteils machen würde, im Zweifel immer einen
Freispruch und nie eine Verurteilung geben würde. Deshalb verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die
Fehleranfälligkeit der Gutachten ausdrücklich mit einem Korrektiv versehen wird: strengste formelle Begrenzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung und ein transparentes, rechtsstaatliches und die
Verfahrensrechte der Betroffenen achtendes Anordnungsverfahren.
Ich komme zum Schluss, indem ich sage: Alle diese
Anforderungen für Ersttäter erfüllen wir in unserem Gesetzentwurf. Sie erfüllen sie nicht. Sie wollen keine öffentliche Verhandlung, keine Pflichtverteidigung, keine
Revisionsmöglichkeit.
Herr Kollege!
Sie wollen ein Beschwerdeverfahren. Deswegen kann
man Ihrem Gesetz nicht zustimmen.
Herr Kollege!
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. - Ich bitte Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, angesichts der Frist, die am 30. September 2004 abläuft und
die wir alle zu beachten haben: Springen Sie über Ihren
eigenen Schatten und stimmen Sie - ({0})
Bevor ich das Wort dem Kollegen Jörg van Essen
gebe, möchte ich alle darauf hinweisen: Wenn wir in der
Tagesordnung wie geplant fortfahren, sind wir gegen
halb vier bis Viertel vor vier am Ende. Deshalb bitte ich,
mir zu erlauben, dass ich, wie eben geschehen, etwas
strenger vorgehe.
({0})
Kollege van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben heute eine Frage zu entscheiden, die ganz außerordentlich schwierig ist. Sie lässt sich vor allen Dingen nicht mit einer solchen Polemik behandeln, wie ich
sie vorhin leider beim Kollegen Röttgen, den ich wie andere auch sonst eigentlich als einen sehr angenehmen
und ernsthaften Gesprächspartner kenne, erlebt habe. Ich
glaube, dass das dem Thema wirklich nicht angemessen
ist.
({0})
Es gibt viele in diesem Raum, die heute zustimmen
werden, die aber trotzdem größte Bedenken haben. Sie
stimmen deshalb mit größtem Bedenken zu, weil sie die
doppelte Verpflichtung sehen: Auf der einen Seite wissen wir, dass hochgefährliche Täter, die es in vielen Bereichen gibt, wie ich als Oberstaatsanwalt weiß, tagtäglich entlassen werden. Das ist Wirklichkeit in unserem
Land. Dies geschieht ja nicht nur in dem Bereich, um
den es hier geht. Ich sage leider, da Strafvollzug ja eigentlich bessern soll, es aber in vielen Fällen nicht tut.
Deswegen sind ja viele derer, die im Gefängnis sitzen,
nicht nur einmal, sondern häufig dort. Es handelt sich
hierbei also um ein allgemeines Problem. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich sicherstellen, dass
Rechtsgrundsätze - davon lebt ein Rechtsstaat wie die
Bundesrepublik Deutschland - nicht zu sehr strapaziert
werden.
({1})
Wir befinden uns hier in einer Grenzsituation. Ich
habe Respekt vor denen, die nach sorgfältiger Abwägung zu einer anderen Entscheidung als ich kommen.
Ich bitte aber diese wiederum um Respekt für diejenigen
- unsere Fraktion gehört dazu -, die das nicht so wie sie
sehen.
({2})
Ich finde, es gehört zum guten parlamentarischen Umgang, dass das Verhalten eines jeden Einzelnen in einer
solchen Frage, bei der aus guten Gründen sowohl die
eine als auch die andere Auffassung vertreten werden
kann, respektiert wird.
({3})
- Richtig. Aber ich habe eben gesagt, dass ich aus meiner dienstlichen Tätigkeit auch andere Fälle kenne, in
denen es zu Ergebnissen kommt, die Sie eben aufgezeigt
haben.
Ich will begründen, warum wir als FDP uns nicht entschließen können, zuzustimmen:
Der erste Punkt ist die Europäische Menschenrechtskonvention. Herr Staatssekretär, es ist richtig, das
Bundesverfassungsgericht hat sich in der mündlichen
Verhandlung mit ihr befasst, aber sie im Urteil nicht erwähnt. Damit steht das fest, was wir in der Anhörung gehört haben: Alle Sachverständigen, die sich ernsthaft mit
dieser Frage befasst haben, haben gesagt, dass das, was
hier beabsichtigt wird, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, insbesondere mit Art. 5 dieser Konvention, nicht vereinbar ist. Das haben wir zur Kenntnis
zu nehmen.
Der zweite Punkt, der mir ganz erhebliche Sorge
macht, ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung
für Ersttäter. Kollege Montag, Sie haben zu Recht auf
dieses besondere Problem hingewiesen. Gerade beim
Ersttäter weiß man nach der ersten und einzigen Tat
nicht, wie er sich weiter entwickeln wird. Gerade bei
dieser Gruppe ist jede Prognose schwierig. Wenn wir
dann noch den Hinweis von Professor Leygraf aus der
Sachverständigenanhörung berücksichtigen, dass wir
nur sehr wenige Sachverständige haben, die in der Lage
sind, hierzu sachlich und kompetent etwas zu sagen,
dann wird die Problematik deutlich, vor der wir stehen.
Ich finde, auch das muss in die Abwägung mit einfließen.
Deshalb sagt meine Fraktion Nein. Ich habe nur drei
Minuten Redezeit; deswegen können meine Ausführungen nur stichwortartig sein. Wir haben, wie gesagt,
Respekt vor den Meinungen der anderen, aber wir erbitten auch Respekt für unsere Auffassung.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen
heute am Ende einer vierjährigen Debatte und haben
eine Entscheidung zu fällen, die für mich die schwierigste der Entscheidungen ist, die ich in den sechs Jahren
meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag zu treffen hatte. Von daher, Herr Kollege van Essen, haben Sie
unseren Respekt, wenn Sie sich anders entscheiden;
denn Sie haben in der Sache mit uns um die Ergebnisse
gerungen.
({0})
Wir brauchen uns auch nicht mehr gegenseitig zu
überzeugen; ich glaube, ich habe in diesen Jahren zu diesem Thema acht oder neun Reden gehalten.
Herr Kollege Röttgen, wir tragen - mit breiten Schultern - die Verantwortung dafür, dass wir so viel Zeit gebraucht haben, um die Diskussion zu dem Ergebnis zu
führen, das wir heute vor uns liegen haben. Ich möchte
noch einmal ganz kurz die Gründe benennen, warum wir
uns so schwer getan haben.
Zunächst einmal muss man wissen, worüber wir reden. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist das eigentliche Lebenslänglich. Nachträgliche Sicherungsverwahrung heißt im Regelfall, dass der Mensch, den der
Staat wegzusperren beschlossen hat, aus der Haft nicht
wieder herauskommt.
Zweitens bewegen wir uns mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf einem ganz schmalen Grat, im
Grenzbereich zwischen Polizeirecht und Strafrecht.
Drittens geht es um reine Prävention - darauf ist
schon hingewiesen worden -, nicht um eine schuldangemessene Strafe.
Viertens erfolgt die Entscheidung auf der Grundlage
einer Prognose - Herr Kollege van Essen hat darauf hingewiesen -, für die wir psychiatrische Gutachter brauchen. Wir wissen, dass es in Deutschland nur eine Hand
voll Personen gibt, die ein solches Gutachten erstellen
können. Wer in seinem Leben schon einmal auf der
Grundlage einer Prognose über Menschen urteilen
musste, weiß, wie schwer das ist. In meinem Beruf bis
1998 war das der Fall.
Der letzte Punkt - er ist hier noch nicht angesprochen
worden -: Mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung greifen wir im Ergebnis in das Rechtsstaatsprinzip
ein.
({1})
Wir greifen nachträglich in bereits abgewickelte, der
Vergangenheit angehörende Tatbestände ein, für die wir
ein Urteil des erkennenden Gerichts haben. Ein solcher
Eingriff ist in der Strafprozessordnung eine große Ausnahme. Die Wiederaufnahme zulasten eines Angeklagten ist ein seltener Fall, der in zehn Jahren vielleicht einmal vorkommt.
Das waren die Zweifel, mit denen wir uns über Jahre
geplagt haben. Es gibt - auch das gehört zu einem
Rechtsstaat - zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Februar dieses Jahres, mit denen für
mich zwar nicht die Zweifelsfragen geklärt sind, durch
die aber der Rahmen abgesteckt ist, in dem der Rechtsstaat zu handeln hat. Daraufhin haben wir entsprechend
gehandelt.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Strafrechtsbegriff neu definiert. Es hat ihn sehr weit gefasst und
den reinen polizeirechtlichen Teil als Gegenstand des
Strafrechts definiert. Entscheidend aber ist der Satz, dass
ein „Konzept nachträglicher Anordnung einer präventiven Verwahrung noch inhaftierter Straftäter bei entsprechend enger Fassung nicht von vornherein unter dem
Verdikt der Verfassungswidrigkeit“ steht.
Genau diesen Rahmen haben wir mit dem Gesetz,
über das wir heute abzustimmen haben, auszufüllen versucht. Ob uns das gelungen ist, werden wir sehen, wenn
das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüft
worden sein wird. Es ist klar, dass es dort landen wird
- es wird vielleicht ein Jahr dauern - wenn der erste
Straftäter entsprechend unserem Gesetz untergebracht
worden sein wird. Das Bundesverfassungsgericht wird
dann prüfen, ob wir den engen Rahmen dessen, was
rechtsstaatlich vertretbar und notwendig ist, um die Gesellschaft vor schwersten Straftätern zu schützen, richtig
ausgeschöpft haben.
Wir haben in den vergangenen vier Jahren - von daher haben Sie, Herr Kollege Röttgen, nicht ganz die
Wahrheit gesagt - ein dreigestuftes Modell der Sicherungsverwahrung geschaffen. Schon im Jahre 2002 haben wir eine Regelung getroffen: die vorbehaltende Sicherungsverwahrung. Im ersten Urteil kann, wenn die
Prognose nicht ganz sicher ist, eine vorbehaltende Sicherungsverwahrung festgestellt werden. Dann folgt die
Strafhaft. Wenn man dann neuere Erkenntnisse hat, kann
der Vorbehalt in den Ausspruch der Sicherungsverwahrung umgewandelt werden. Es ist ja nicht so, dass wir
hier nichts getan und nicht gehandelt hätten. Ich denke,
diese dreigestufte Lösung können wir der deutschen Öffentlichkeit jetzt anbieten. Wir haben damit unsere Verantwortung wahrgenommen.
Ich möchte mit einem Zitat aus dem „Tagesspiegel“
vom 11. Februar dieses Jahres schließen. Das war ein
Tag danach, als das zweite Urteil des Bundesverfassungsgerichts hierzu ergangen ist. Unter der Überschrift
„Grenzgesetz“ schreibt dort der Kommentator:
Die Sicherungsverwahrung schützt nicht vor den
sechs Millionen Straftaten im Jahr, sie schützt nicht
vor dem Anstieg der Gewaltkriminalität, und ob sie
überhaupt nur einem Kind das Leben rettet, wird
immer Spekulation bleiben.
Wir sollten uns bewusst sein, dass „der demokratische,
freiheitliche Staat nicht nur keine absolute Sicherheit“
garantieren kann.
… er kann gar keine Sicherheit garantieren vor den
Perversionen und den Perversen dieser Welt. Aber
er kann alles tun, was in seiner Macht steht.
Das tun wir heute.
Schönen Dank.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung. - Es gibt mehrere persönliche Erklärungen zur Abstimmung, und zwar von den Abgeordneten Beck
({0}), Hermann, Schewe-Gerigk, Dümpe-Krüger,
Wegener, Roth ({1}) und Ströbele, die wir zu
Protokoll nehmen.1) - Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3346, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bis auf
zwei Gegenstimmen von den Grünen und gegen die
1) Anlagen 3 bis 6
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen wor-
den.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung mit dem eben festgestellten
Stimmenverhältnis, also mit Zustimmung der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen bis auf zwei Gegenstim-
men des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Gegenstim-
men von CDU/CSU und FDP, angenommen worden. Es
gab keine Enthaltung.
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der
Fraktion der CDU/CSU zum Schutz der Bevölkerung
vor schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche
Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah-
rung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3346,
den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen
die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt worden. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes des
Bundesrates zum Schutz der Bevölkerung vor schweren
Wiederholungstaten durch Anordnung der Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung. Der Rechtsausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3346, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und der FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU ab-
gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Otto
Bernhardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Vereinheitlichung der Umsatzgrenze bei der Berechnung der Steuer nach
vereinnahmten Entgelten
- Drucksache 15/3193 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms,
Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 15/359 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 15/2617 Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Stefan Müller ({5})
Carl-Ludwig Thiele
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Peter Rzepka.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sowohl der Gesetzentwurf der
Unionsfraktion, den wir in erster Lesung beraten, als
auch der Gesetzentwurf der FDP-Fraktion, dessen
zweite und dritte Lesung stattfindet, sehen Änderungen
des Umsatzsteuergesetzes vor.
Ziel des Gesetzentwurfs der Unionsfraktion ist es, den
Liquiditätsengpässen der kleinen und mittleren Unternehmen aufgrund schleppender Zahlungseingänge entgegenzuwirken, die Wachstums- und Beschäftigungsgrundlagen kleiner und mittlerer Unternehmen zu
festigen und damit einen Beitrag zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und zum Erhalt von Arbeitsplätzen zu leisten.
Die Umsatzsteuer ist grundsätzlich nach vereinbarten
Entgelten, der so genannten Sollbesteuerung, zu berechnen und zu erheben. Die Steuer entsteht also mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistung
ausgeführt wurde, unabhängig davon, ob der Leistungsempfänger die Rechnung bereits bezahlt hat. In bestimmten Fällen sieht das Umsatzsteuergesetz - das ist
die Ausnahme von diesem Grundsatz - die Besteuerung
nach vereinnahmten Entgelten, nach den Regeln der so
genannten Istbesteuerung, vor. Hier entsteht die Steuerschuld erst mit der Bezahlung der Rechnung durch den
Leistungsempfänger, also regelmäßig zu einem späteren
Zeitpunkt, wodurch die Liquidität der Unternehmen verbessert wird. Voraussetzung dafür ist, dass der Gesamtumsatz des Unternehmens im vorangegangenen
Jahr nicht mehr als 125 000 Euro betragen hat, keine
Buchführungspflicht besteht oder die Umsätze von einem Angehörigen der freien Berufe getätigt werden.
Eine weitere Ausnahme besteht bis zum 31. Dezember 2004 zugunsten von Unternehmen in den neuen
Bundesländern, bei denen an die Stelle des Betrags von
125 000 Euro ein Betrag von 500 000 Euro tritt. NachPeter Rzepka
dem der Streit zwischen dem Bundeswirtschaftsminister
Clement und dem Bundesfinanzminister Eichel inzwischen beigelegt ist, ist es zwischen den Regierungsfraktionen und der Unionsfraktion unstrittig, dass die
Vergünstigung der höheren Umsatzgrenze von
500 000 Euro für die Unternehmen in den neuen Bundesländern mindestens bis 2006 beibehalten werden soll.
Das gemeinsame Ziel von Regierungsfraktionen und
Unionsfraktion ist es, den besonderen Problemen der
kleinen und mittleren Unternehmen in Ostdeutschland
bei Eigenkapital und Liquidität Rechnung zu tragen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass der von den Regierungsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Abgabenordnung, der im Laufe des heutigen
Tages auch noch beraten wird und in dem die Verlängerung der Regelung für die neuen Bundesländer enthalten
ist, von uns zwar abgelehnt wird. Dies geschieht aber
nicht wegen dieses Grundes, sondern aus anderen Gründen. Ich stelle deshalb ausdrücklich fest, dass wir uns in
der Zielsetzung mit Blick auf die neuen Bundesländer einig sind.
Unser Gesetzentwurf geht allerdings über das gemeinsame Ziel hinaus. Wir wollen die erhöhte Umsatzgrenze von 500 000 Euro bundeseinheitlich einführen
und dies ohne zeitliche Befristung. Wir leisten damit einen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung in Deutschland und tragen auch der wirtschaftlichen Entwicklung
Rechnung. Die Umsatzgrenze von 250 000 DM bzw.
jetzt 125 000 Euro in den alten Bundesländern gilt im
Wesentlichen unverändert seit 1968, sodass schon aus
diesem Grunde eine Anpassung, sprich: Erhöhung, gerechtfertigt erscheint.
Darüber hinaus hat sich infolge der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung die Zahlungsmoral bundesweit verschlechtert, sodass auch aus diesem Grunde die
Verbesserung der Liquidität der kleinen und mittleren
Unternehmen durch das Hinausschieben der Pflicht zur
Abführung der Umsatzsteuer bis zur Bezahlung der
Rechnung durch den Leistungsempfänger erforderlich
ist. Nicht zuletzt schaffen wir auf dem von uns vorgeschlagenen Weg auch Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, da wiederkehrende Diskussionen über die Verlängerung der Sonderregelung für die neuen Bundesländer
überflüssig werden.
Unseres Erachtens befinden wir uns mit unserem Gesetzesvorschlag auch im Einklang mit der maßgebenden
6. EG-Richtlinie. Wir halten ferner die Auswirkungen
auf die öffentlichen Haushalte für vertretbar. Noch im
April dieses Jahres hat das Bundesfinanzministerium die
sich aus unserem Gesetzentwurf ergebende einmalige
Steuermindereinnahme mit 700 Millionen Euro beziffert. In den Beratungen des Finanzausschusses in dieser
Woche wurde diese Angabe korrigiert und nunmehr ein
Betrag von 2,8 Milliarden Euro genannt, also das Vierfache.
({0})
Dieser Vorgang belegt einmal mehr, Herr Kollege, wie
unzuverlässig die Angaben dieses Finanzministers über
Auswirkungen von Steueränderungen sind.
({1})
Wir halten aber an unserer Initiative fest, weil es sich lediglich um eine Verschiebung der Entstehung der Umsatzsteuer bei den einzelnen Unternehmen in verhältnismäßig begrenztem Umfang handelt. Wir hoffen auch,
dass unser Gesetzentwurf im Interesse der betroffenen
kleinen und mittleren Unternehmen, die in besonderer
Weise unter der von dieser Regierung verursachten
Wachstums- und Beschäftigungskrise leiden, eine Mehrheit in diesem Hause finden wird.
Die FDP fordert in ihrem Gesetzentwurf, grundsätzlich das Kalendervierteljahr als Voranmeldungszeitraum
für die Umsatzsteuer einzuführen und die Verpflichtung
zur monatlichen Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen abzuschaffen. Obwohl wir die Zielsetzung des
FDP-Antrages, einen Beitrag zum Bürokratieabbau zu
leisten, im Grundsatz teilen und unterstützen, werden
wir uns heute bei der Abstimmung dennoch der Stimme
enthalten. Da es bei der überwiegenden Anzahl der Unternehmen zu einer späteren Abführung der Umsatzsteuer kommen wird, kann dies bei Bund, Ländern und
Kommunen zu erheblichen Liquiditätsproblemen führen. Andererseits würden diejenigen Unternehmen, die
bei einem Vorsteuerüberhang Umsatzsteuererstattungsansprüche haben, diese erst mit zeitlicher Verzögerung
geltend machen können, was bei diesen Unternehmen zu
Liquiditätsengpässen führen kann. Schließlich ist nicht
auszuschließen, dass der zunehmende Umsatzsteuerbetrug, der nach unterschiedlichen Schätzungen zu Steuerausfällen in einer Größenordnung von 14 Milliarden bis
20 Milliarden Euro pro Jahr führt, durch die Abgabe von
vierteljährlichen statt monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen erleichtert wird. Nach unserer Auffassung
müssen deshalb die mit dem FDP-Antrag aufgeworfenen
Fragen noch einer eingehenderen Überprüfung, möglicherweise im Rahmen eines weiteren Gesetzgebungsverfahrens, unterzogen werden.
Lassen Sie mich zum Schluss meines Beitrags mit
einigen Worten auf die von der Parlamentarischen
Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen,
Frau Dr. Hendricks, erhobene Forderung nach einer
Bundessteuerverwaltung eingehen. Frau Dr. Hendricks
fordert die Übertragung der Verwaltungskompetenz für
die Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer, über
die wir heute sprechen, von den Bundesländern auf den
Bund. Offensichtlich handelt es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver, das die Konzeptionslosigkeit dieser
Bundesregierung angesichts der Notwendigkeit einer radikalen Vereinfachung und grundlegenden Reform des
deutschen Steuersystems überdecken soll. Anstatt die
Vollzugsdefizite im Rahmen des geltenden Steuerrechts
zu beklagen, sollte sich diese Regierung der Aufgabe
einer grundlegenden Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung stellen. Denn die materiellen
Defizite des deutschen Steuerrechts, das zunehmend
auch von Fachleuten als chaotisch wahrgenommen wird,
sind die entscheidenden Ursachen für die Defizite im
Steuervollzug. Der Grund ist nicht das Fehlen einer Bundessteuerverwaltung.
Die Vorschläge der Opposition in diesem Haus liegen
mit dem gemeinsamen steuerpolitischen Programm von
CDU und CSU sowie mit dem Gesetzentwurf der FDP
zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur
Abschaffung der Gewerbesteuer auf dem Tisch. Wir
warten nach wie vor auf beratungsfähige Gesetzentwürfe
dieser Bundesregierung.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Lydia Westrich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Freitags ist anscheinend immer der Steuerdebattentag ohne Publikum. Das ist schade, schließlich
sind unsere Debatten spannend und die Sachpolitik in
diesem Haus ist wichtig.
Das Publikum ist ja da.
Der vorliegende Tagesordnungspunkt klingt natürlich
sehr sachbezogen und Herr Rzepka hat uns sehr ausführlich den Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Vereinheitlichung der Umsatzgrenze bei der Berechnung der Steuer
nach getätigten Einnahmen geschildert. Wir haben weiter den Gesetzentwurf der FDP zur Abschaffung der monatlichen Umsatzsteuervoranmeldung vorliegen; über
diesen Gesetzentwurf haben wir bereits im März sehr
ausführlich im Plenum diskutiert. Der hieraus zu erwartende Steuerausfall von circa 15 Milliarden Euro steht
immer noch im Raum, Herr Pinkwart, ebenso wie die
entgegengesetzte Forderung des Bundesrechnungshofs.
Dessen Ermittlungen zum Umsatzsteuerbetrug brauche
ich Ihnen nicht vorzustellen, wir kennen sie zur Genüge.
Die monatliche Erstellung von Umsatzsteuervoranmeldungen ist eine Forderung des Bundesrechnungshofs zur
Erschwerung möglicher Betrugsfälle bei der Umsatzsteuer.
({0})
Bayerns Finanzminister, Kurt Faltlhauser, sagte erst
neulich: Die Erhöhung des politischen Drucks - damit
meint er uns - ist zwingend notwendig;
({1})
es geht nicht an, dass angesichts leerer öffentlicher Kassen den Bürgern dramatische Einschnitte zugemutet
werden und wir gleichzeitig Banditen, die Millionen erschwindeln, davonkommen lassen. Da hat der Mann
wirklich einmal Recht.
({2})
Mit Ihrem Entwurf, meine Damen und Herren von den
Freien Demokraten, ginge das Erschwindeln noch ein
wenig schneller.
({3})
Es ist - das will ich zugeben - ein Abwägungsprozess zwischen notwendigem Verwaltungsaufwand für
die Unternehmen und dem Behalten von Instrumenten in
der Hand des Staates, mit denen er seine Einnahmen sichern und Wettbewerbsverzerrungen auf dem Markt für
alle mindern kann. Aber was heißt abwägen für Sie? Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei Ihnen wie so oft sehr
weit auseinander. Dabei unterstelle ich Ihnen ausdrücklich den ernsthaften Anspruch, mit uns gegen den Steuermissbrauch zu kämpfen.
({4})
Wir werden Ihren Gesetzentwurf natürlich ablehnen;
denn er wirkt sich auch, allem Gerede über die Entbürokratisierung zum Trotz, auf den Haushalt aus.
15 Milliarden Euro sind keine Peanuts. Es werden
15 Milliarden Euro verschenkt und kein Vorschlag zur
Gegenfinanzierung wird von Ihnen gemacht.
({5})
Im Finanzausschuss haben Sie einen neuen Antrag eingebracht, ganz im Tenor des Gesetzentwurfs der CDU/
CSU, den wir gleich behandeln werden. Auch er führt zu
Steuerausfällen von 4,2 Milliarden Euro und auch er enthält keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung.
Ich habe doch Zweifel, ob Sie bei den Haushaltsberatungen überhaupt präsent sind. Es ist lange her, seit Sie
einen Finanzminister gestellt haben.
({6})
Bei dieser verantwortungslosen Umgangsweise mit den
Einnahmen des Staates sehe ich auch keine Zukunft für
Sie als Freie Demokraten in dieser Richtung.
({7})
Dabei brauchen wir unsere gemeinsamen Anstrengungen; denn wir haben - wie Sie selbst immer sagen das gleiche Ziel. Die Umsatzsteuer ist neben der Lohnsteuer die bedeutsamste Einnahmequelle für die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden. Uns allen ist
klar: Die Einnahmen könnten weit höher sein, wenn
nicht mehrere Schlupflöcher im Umsatzsteuerrecht und
vor allem gemeinschaftliche Betrugsdelikte im großen
Stil zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe führen würden.
Der Bericht des Bundesrechnungshofs spricht von jährlich 15 Milliarden bis 20 Milliarden Euro, die dem Fiskus verloren gehen. Das bedeutet, dass sie bei der Finanzierung von wichtigen Gemeinschaftsaufgaben fehlen.
Wir haben zuallererst die Pflicht, alles zu tun, um die
Steuereinnahmen, die uns per Gesetz zustehen, auch zu
erhalten, Herr Rzepka. Das hat natürlich auch etwas mit
dem Gesetzesvollzug zu tun.
({8})
Sie wissen, die Betrugspraktiken sind vielfältig: Es
werden Vorsteuern geltend gemacht, denen keine
Erwerbsgeschäfte mit entsprechenden Umsatzsteuerzahlungen gegenüberstehen; Firmen entziehen sich als
Subunternehmer der Zahlung von Steuern und Sozialabgaben, während die Auftraggeber Vorsteuern und Betriebsausgaben abziehen; Scheinunternehmen werden
nur zum Zweck der Ausstellung von Rechnungen gegründet; Scheinunternehmen werden gezielt in die Insolvenz geschickt, um bei der Rückabwicklung von
Geschäften die ausgezahlten Vorsteuern einbehalten zu
können usw. Die Fantasie ist im verbrecherischen Raum
anscheinend grenzenlos. Allein die so genannten Karussellgeschäfte verursachen Schäden in Höhe von
5 Milliarden Euro - Tendenz steigend.
Wir reden hier von wirklich kriminellen Energien und
nicht von Kavaliersdelikten. Offenbar lädt das bestehende Recht dazu ein, es zu umgehen und auszunutzen.
({9})
Umsatzsteuerbetrug hat in Deutschland Hochkonjunktur.
Er ist einfacher und effektiver als jeder Banküberfall und
das können wir gemeinsam nicht zulassen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat hierauf schon mit
verschiedenen Gesetzen reagiert, unter anderem mit dem
2002 in Kraft getretenen Gesetz zur Steuerverkürzungsbekämpfung. Diese Gesetze haben Sie als Opposition
alle abgelehnt. Wir wollen damit insbesondere den organisierten Umsatzsteuerbetrug bekämpfen. Dass aber
noch weitere Maßnahmen notwendig sind, die an der
Wurzel des Übels anpacken, darüber sind wir uns alle
einig. Die vorgeschlagenen Wege sind vielfältig und natürlich hat jeder seine eigenen Risiken und Schwierigkeiten.
So hat bereits 2001 der Finanzminister aus Rheinland-Pfalz, Gernot Mittler, ein Konzept vorgestellt, das
der Umsatzsteuerkriminalität einen Riegel vorschieben
soll. Kernpunkt dieses Konzeptes ist es, die Umsatzsteuer innerhalb der Lieferkette überhaupt nicht mehr zu
erheben. Damit würde der Umsatzsteuerbetrug in Form
von Karussellgeschäften auf jeden Fall vermieden. Außerdem würde der Zahlungsverkehr zwischen Finanzverwaltung und Unternehmen erheblich verringert, also
entbürokratisiert.
Derartige Veränderungen - das wissen Sie selber betreffen aber auch grenzübergreifende Lieferungen. Sie
können deshalb nicht national vorgenommen werden.
Wir haben schmerzhaft erfahren, dass die EU-Mühlen
sehr langsam mahlen. Ich bin jedoch der Meinung, dass
Steuerausfälle in der EU in Höhe von 60 Milliarden Euro
durchaus ein Thema sind, mit dem sich der Ecofin-Rat
öfter beschäftigen müsste.
Weil Abstimmungsprozesse auf EU-Ebene ihre Zeit
brauchen, arbeitet die Bundesregierung schon länger an
einem eigenen Vorschlag. Dieser wird auch ohne Zustimmung der Kommission umsetzbar sein. Dazu soll
bei der Umsatzsteuer künftig von der Soll- zur Istbesteuerung übergegangen werden. Das hieße, ein Leistungsempfänger erhält erst dann seine Vorsteuer erstattet, wenn er seine Umsatzsteuer entrichtet hat. Es ist
auch denkbar, dass der Empfänger einer Ware die Umsatzsteuer nicht an seinen Lieferanten, sondern direkt an
das Finanzamt zahlen muss.
Auch dieses System ist natürlich missbrauchsempfänglich. Um diesen Missbrauch auszuschließen, brauchen wir ein computergestütztes Kontrollverfahren, so
genannte cross-checks, die die Finanzverwaltungen ergänzend anwenden müssen. Dieses System hätte den
Vorteil, dass die Umsatzsteuer von den Unternehmen
nicht mehr vorfinanziert werden müsste. Sie hätten damit einen erheblichen Liquiditätsvorteil. Allerdings wird
das vermehrt Verwaltungskosten verursachen; das will
ich gar nicht verschweigen. Wir müssen gemeinsam
Wege finden, den bürokratischen Aufwand so gering wie
möglich zu halten.
Das Bundesfinanzministerium hat dazu bereits eine
Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Dazu werden
bereits jetzt auf freiwilliger Basis bei den Unternehmen
Angaben über die Anzahl der jährlich gestellten Rechnungen erhoben. Das Modell einer generellen Istversteuerung mit cross-check wird derweil in der Bund-LänderArbeitsgruppe weiterentwickelt. Die Unternehmerverbände haben großes Interesse an einer Mitarbeit in dieser
Arbeitsgruppe bekundet.
Dies betrifft auch den Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion, der auf der Tagesordnung steht, und den angekündigten der FDP-Fraktion, dessen Umsetzung
4,2 Millionen Euro teuer sein soll. Der Gesetzentwurf
der CDU/CSU als Sofortmaßnahme für die Unternehmen löst keines der angesprochenen Probleme; er ist
eine reine Sofortmaßnahme und kostet eine Menge Geld.
Das wird vom Finanzministerium, wie es bei einem Gesetzentwurf anders als bei einer schriftlichen Frage üblich ist, sehr sorgfältig berechnet. Deswegen kommen
wir auf unterschiedliche Beträge. Da aber gerade Sie als
Opposition immer gegen Schnellschüsse polemisieren,
müssen Sie unsere jetzige Ablehnung verstehen.
Ich bin zufrieden, dass Sie beide im Finanzausschuss
signalisiert haben, an einer ausführlichen Beratung der
verschiedenen Modelle interessiert zu sein. Das haben
wir im Finanzausschuss ja schon bei der internen Anhörung im Januar beschlossen und für den Herbst vereinbart. Ich bitte Sie wirklich herzlich, dieses Mal über Ihren parteipolitischen Schatten zu springen und für eine
sachgerechte Lösung, wie sie sich Finanzpolitiker eigentlich wünschen, offen zu sein.
Sie haben doch gerade erst Ihre schmerzhaften Erfahrungen bei unseren Verhandlungen über das Alterseinkünftegesetz hinter sich. Sie als Fachpolitiker wissen
ganz genau, dass Sie, wenn Sie bei unseren Beratungen
über dieses Gesetz effektiv mit uns zusammengearbeitet
hätten, mehr herausgeholt hätten. Wir als Koalition können zufrieden sein, und Sie können sich überlegen, wie
Sie sich beim Thema Umsatzsteuer in Zukunft verhalten
wollen.
Im Ziel sind wir uns doch einig: Wir wollen die ehrlichen Unternehmen vor kriminellen Wettbewerbsverzerrungen und alle Bürgerinnen und Bürger vor Steuerforderungen schützen, die sie wegen verbrecherischer
Machenschaften einiger weniger zusätzlich erfüllen
müssen. Ich glaube, es lohnt sich, gemeinsam für dieses
Ziel zu arbeiten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas
Pinkwart.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Westrich, ich begrüße es außerordentlich,
dass Sie am Ende Ihrer Rede zu den realen Faktoren zurückgekehrt sind, indem Sie gesagt haben, dass wir gemeinsam bekämpfen wollen, dass wenige das Steuerrecht zulasten aller missbrauchen. Jawohl, das wollen
wir!
Aber eingangs Ihrer Rede haben Sie in einer Weise
polemisiert, die Ihnen, wenn ich das sagen darf, doch gar
nicht eigen ist und die ich massiv zurückweisen möchte.
({0})
Das taten Sie, als Sie sich zu unserem Vorschlag geäußert haben, das zu tun, was ohnehin im Umsatzsteuergesetz steht. Im Umsatzsteuergesetz steht nämlich, dass
grundsätzlich das Kalendervierteljahr als Voranmeldungszeitraum dienen soll. Diesen Grundsatz wollen wir
auf alle Unternehmen anwenden. Gegenwärtig müssen
1,5 Millionen Unternehmen aufgrund der Tatsache, dass
sie die Umsatzgrenze unterschreiten, Gott sei Dank nur
vierteljährlich ihre Umsatzsteuer anmelden. Uns geht es
darum, dass weitere 1,5 Millionen Unternehmen diesen
bürokratischen Aufwand ebenfalls nicht jeden Monat,
sondern nur quartalsweise betreiben müssen.
Wenn wir mit Ihrer Schlussformulierung übereinstimmen, dass nur ganz wenige mit hochkrimineller Energie
unser Umsatzsteuerrecht leider missbrauchen, dann sind
das nicht die 1,5 Millionen Unternehmen, die wir gegenwärtig zwingen, ihre Umsatzsteuervoranmeldung monatlich abzugeben, sondern nur wenige Unternehmen
- es handelt sich vielleicht um eine zwei- oder dreistellige Zahl -, die hier Missbrauch üben. Die Auswirkungen sind zugegebenermaßen milliardenschwer. Aber hier
geht es nicht um die 1,5 Millionen Unternehmen, die wir
durch unseren Gesetzentwurf entlasten wollen.
({1})
Das will ich Ihnen einmal in Zahlen darstellen. Gegenwärtig müssen 1,5 Millionen Unternehmen pro Jahr
zwölf Erklärungen und die abschließende Jahresmeldung, also 13 Meldungen, abgeben. Zukünftig müssten
sie, die Jahresmeldung eingerechnet, nur vier Erklärungen abgeben. Das entspricht gegenwärtig 18 Millionen
Vorgängen pro Jahr, die wir durch unseren Gesetzentwurf auf 6 Millionen reduzieren könnten. Das würde die
Unternehmen entlasten, Arbeitsplätze schaffen, an diesem Standort Investitionen ermöglichen und - auch das
ist wichtig, Frau Westrich - die Finanzverwaltungen entlasten.
Hier kommt nun Ihre Parlamentarische Staatssekretärin Frau Hendricks ins Spiel. Denn in der letzten Sitzung
des Finanzausschusses hat sie uns erläutert: Die Höhe
des Umsatzsteuermissbrauchs - die Sie maßgeblich zu
verantworten haben, weil Sie dagegen noch nichts Wirksames unternommen haben - sei im Wesentlichen darauf
zurückzuführen, dass die Personalausstattung in den
Finanzverwaltungen nicht hinreichend sei.
Hier müssten die Länderfinanzverwaltungen mehr
Personal einsetzen, um Kriminalität wirksam bekämpfen
zu können. Da sage ich: Bauen Sie doch hier Bürokratie
ab - bezüglich der Masse der Firmen, die sich redlich
verhalten - und setzen Sie die Mitarbeiter dann gezielt
ein, um Missbrauch zu bekämpfen.
Ich möchte einen zweiten Punkt kurz ansprechen: Ich
komme auf den Unionsantrag; es gibt hier viele Initiativen, mit denen versucht werden soll, die kleinen und mittleren Unternehmen umsatzsteuerrechtlich zu entlasten.
Wir gehen weiter - wir haben das auch im Finanzausschuss bereits im Zusammenhang mit einem entsprechenden Änderungsantrag besprochen -, indem wir vorschlagen, von der Soll- auf die Istversteuerung - auf beiden
Seiten, bei den Ausgangsumsätzen wie bei den Eingangsumsätzen - überzugehen. Selbst das Bundesfinanzministerium sagt, dass man durch eine solche Umstellung auch
den Umsatzsteuermissbrauch wirksam bekämpfen
könnte; er beträgt jährlich zwischen 14 Milliarden und
20 Milliarden Euro. Wir könnten diesen Missbrauch mit
unserer Initiative zum einen viel wirksamer bekämpfen,
zum anderen könnten wir mit dieser sehr umfassenden
Regelung dem Mittelstand, den kleineren und mittleren
Unternehmen, die gerade in der gegenwärtig schwierigen
wirtschaftlichen Situation vor Liquiditätsproblemen stehen und dadurch stark insolvenzanfällig sind, grundlegend helfen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Von all
meinen Vorrednern und meiner Vorrednerin ist der Umsatzsteuerbetrug angesprochen worden. Es ist völlig
richtig, dass das ein großes Problem ist, das wir hier in
Deutschland haben. Die Schätzungen liegen bei
14 Milliarden Euro, 16 Milliarden Euro - Ifo-Institut in
München zum Beispiel -, 18 Milliarden Euro, wieder
andere sprechen von bis zu 20 Milliarden Euro. Lassen
Sie es jetzt einmal „nur“ die niedrigste Schätzung sein,
es ist schlimm genug. Wir kennen verschiedene Vorschläge, um gegen diesen Missbrauch vorzugehen. Es ist
allerdings so, dass bislang niemand ein Modell hat, mit
dem das Ziel auch erreicht wird: weder die Betrugsbekämpfungsbehörden noch die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, noch die politischen Gremien, die sich
- das sage ich gerade an die Zuhörerinnen und Zuhörer
auf den Tribünen gerichtet - selbstverständlich auch seit
Jahren mit der Frage des Umsatzsteuerbetruges beschäftigen. Wir befinden uns in einer Phase, in der das Bundesfinanzministerium durch Feldversuche klären will,
welches Modell am gescheitesten funktioniert. Ich finde,
wir sollten abwarten, bis diese Ergebnisse da sind, damit
wir in diesem Hause einvernehmlich gemeinsam mit
dem Bundesrat bzw. mit den Ländern im Herbst einen
vernünftigen Weg suchen können und auch mit denjenigen aus der Fachwelt, die bewusst sagen: Macht keinen
Schnellschuss! Ihr baut eventuell einen Haufen Bürokratie auf, aber es hilft nicht bei der Betrugsbekämpfung.
({0})
Dafür plädiere ich wirklich, denn es geht um die Sache
und nicht darum, vorschnell irgendetwas zu entscheiden,
das am Ende vielleicht doch, Herr Professor Pinkwart,
Probleme aufwirft.
({1})
- Die Opposition tut sich mit schnellen Vorschlägen immer leicht, das wissen Sie doch; darüber müssen wir
doch nicht reden.
Worum es jetzt hier und heute geht, ist die Frage: Wie
können wir für kleinere und mittlere Betriebe - vor allen
Dingen in den neuen Bundesländern - eine Situation
schaffen, dass sie erst dann ihrer Umsatzsteuerpflicht
nachkommen müssen, wenn die Rechnungen bezahlt
sind? Es geht darum, dass die Betriebe nicht auf den
Kosten sitzen bleiben, sondern die Umsatzsteuer erst abgeführt wird, wenn die Rechnung bezahlt wird; nicht
mehr und nicht weniger steht jetzt hier zur Diskussion.
Es gibt eine Übereinstimmung zwischen der rot-grünen Regierung und den CDU- bzw. FDP-regierten Ländern - übrigens auch mit der CSU -, die da lautet: Lasst
uns diese Sonderregelung, die für die neuen Bundesländer gilt und Ende dieses Jahres ausläuft, für zwei Jahre
verlängern. Danach liegt in diesen Ländern die Umsatzgrenze des Betriebes, bis zu der man diese Möglichkeit
hat, nicht bei 125 000 Euro, sondern bei 500 000 Euro.
Dies wirkt sich auf die Liquidität der Betriebe positiv
aus.
Ich halte das für richtig. Wir haben es hier mit einem
einmaligen Steuerausfall in Höhe von geschätzt
260 Millionen Euro zu tun. Einmalig bedeutet, dass es
sich auf das nächste Jahr verlagert. Wenn die Rechnungen bezahlt werden, dann kommt die Umsatzsteuer natürlich rein. Wenn sie nicht bezahlt werden, weil das Unternehmen nicht mehr existiert, dann hat der Staat Pech
gehabt. So ist es nun einmal.
({2})
Die Union hat vorgeschlagen - ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich den Kerngedanken richtig finde -,
das auf die Westländer auszuweiten, also im gesamten
Bundesgebiet zu machen, und die Liquidität in den einzelnen kleineren und mittelständischen Betrieben über
eine solche Maßnahme besser zu sichern. Ich weiß allerdings nicht - das ist der Punkt, an dem wir uns aufgrund
der haushälterischen Verantwortung unterscheiden, die
wir gegenüber allen Ebenen, den Ländern, den Kommunen und auch uns selbst, haben -, wo wir diese 2,8 Milliarden Euro auftreiben sollen, die uns dann im Haushalt
fehlen würden. Ich weiß auch nicht, wo wir die 4,2 Milliarden Euro auftreiben sollen, die uns aufgrund des Vorschlages der FDP im nächsten Haushalt fehlen würden.
({3})
Es gibt keinen Deckungsvorschlag. Deswegen ist es
zwar gut gemeint, aber es ist nicht finanzierbar.
Aus diesem Grund kann ich nur sagen: Wir müssen
die Vorschläge ablehnen, weil wir sie nicht finanzieren
können; wir müssten sie also über neue Schulden finanzieren. Aber das können wir der Gesamtheit nicht zumuten.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/3193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/359 zur
Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2617, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung
von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Zusatzpunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung
- Drucksache 15/904 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 15/3339 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Grasedieck
Kerstin Andreae
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Dieter Grasedieck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit unserem neuen Gesetz verbessern wir, die
Koalition, viele Lebenssituationen. Ich will nur zur Verbesserung in den Bereichen der Aus-, Fort- und Weiterbildung sprechen.
Unsere Väter erlernten einen Beruf. Eine Ausbildung
reichte für das gesamte Leben. Wenn man heute einmal
die Veränderungen betrachtet, dann erkennt man, dass
das längst Vergangenheit ist. Heute muss man innerhalb
des Berufes und innerhalb der Ausbildung flexibel vorgehen. Viele Veränderungen treten auf. In den letzten
20 Jahren hat sich die Situation dramatisch verändert.
Auch viele von uns haben mehrere Berufe erlernt.
Wenn man sich die Berufsbilder einmal anschaut,
dann sieht man, dass in den unterschiedlichsten Berufen
Veränderungen vorgenommen wurden. Schauen Sie sich
einmal die Sprünge vom Dreher zum Zerspanungstechniker und vom Schlosser zum Industriemechaniker an.
Vor allem die Inhalte der theoretischen Ausbildung sind
bei den modernen Berufen wesentlich größer geworden.
Wir alle, Jung und Alt, müssen uns auf ein lebenslanges
Lernen einstellen. Die SPD wird langfristig unser erfolgreiches Konzept - Innovation und Bildung - auch in den
nächsten Jahren fördern und unterstützen.
Wir müssen uns auf Entwicklungen der Wirtschaft
flexibel einstellen. Deshalb brauchen wir gerade in den
Zukunftsberufen viele Ausbildungsplätze. Für das, was
jetzt zwischen Unternehmern auf der einen Seite und
Bundeskanzler Schröder und Wolfgang Clement auf der
anderen Seite ausgehandelt wurde, können wir nur Dank
sagen. Dabei sind 30 000 neue Ausbildungsplätze erreicht worden. 30 000 junge Menschen mehr haben die
Chance, sich eine Existenz zu erarbeiten.
Das ist ein Erfolg unseres Gesetzes zur Ausbildungsplatzabgabe, das wir gemeinsam mit den Grünen eingebracht haben. Dadurch ist der Druck erhöht worden.
({0})
Es ist natürlich auch ein Erfolg unserer Regierung, ein
Erfolg von Wolfgang Clement und Gerhard Schröder.
Unser neuer Gesetzentwurf soll diese Überlegung weiterführen. Damit wollen wir in der Hauptsache zwei
Ziele erreichen: Erstens. Das lebenslange Lernen in
Form von Weiterbildung und Fortbildung soll scharf von
der Ausbildung getrennt werden. Zweitens. Das Gesetz
soll helfen, Streit zu vermeiden und die Gerichte zu entlasten.
Wir unterscheiden klar zwischen der ersten Berufsausbildung und dem Erststudium auf der einen Seite
und der Weiter- und Fortbildung auf der anderen Seite,
wie es in unserem Gesetzentwurf vorgesehen ist. Durch
die Ausbildung wird eine Existenzbasis erarbeitet. Das
fördern wir dadurch, dass Aufwendungen für die Ausbildung durch Sonderausgaben bis zu 4 000 Euro angerechnet werden. Dieser Betrag für Sonderausgaben
wurde wesentlich erhöht. Aktuell beträgt er noch
920 Euro, bald werden es 4 000 Euro sein. Deshalb begrüßen die Wohlfahrtsverbände - im Hearing wurde das
ganz besonders deutlich - diese Verbesserung. Alles andere, was danach geschieht, wird über Werbungskosten
abgerechnet. Das ist eine klare Abtrennung und eine einfach handhabbare Gesetzgebung; die Streitanfälligkeit
wird reduziert.
Genau das ist unser Ziel. Verfahren, die es noch vor
zwei Jahren gab, werden der Vergangenheit angehören.
Ein Beispiel: Eine Rechtsanwaltsgehilfin studiert neben
ihrem Beruf an der Fachhochschule. Die Ausgaben dafür
betragen 3 200 Euro. Das war deshalb ein Streitpunkt,
weil nur Sonderausgaben von 920 Euro anerkannt wurden. Solche Gerichtsverfahren wird es in Zukunft nicht
mehr geben. Auch bei berufsbegleitenden Promotionen
greift unser neues Gesetz. Die Frage, ob es sich um Werbungskosten oder um Sonderausgaben handelt, ist klar
geregelt.
Aus diesem Grunde begrüßt die Deutsche Steuergewerkschaft den Gesetzentwurf. Sie schreibt in ihrem
Gutachten: Die bisher schwierigen und streitanfälligen
Abgrenzungsfragen zwischen Sonderausgaben und Werbungskosten werden wesentlich vereinfacht. - Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sollten
sich die Argumente der Steuergewerkschaft etwas näher
ansehen und sich damit auseinander setzen. Dazu wünsche ich Ihnen gute Einsichten.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg
Fahrenschon.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen! Ihr Gesetzentwurf
zur Änderung der Abgabenordnung erinnert an einen
Eisberg. Von einem Eisberg sind bekanntermaßen nur
10 Prozent zu sehen. Der wesentlich größere Teil verbirgt sich jedoch unter der Wasseroberfläche. Gerade das
aber macht einen Eisberg brandgefährlich.
({0})
Mit Ihrem Gesetzentwurf verhält es sich ähnlich. Sie
haben aus einer einfachen und guten Bundesratsinitiative
im Handumdrehen ein unüberschaubares Artikelgesetz
mit vielen versteckten Tücken gemacht. Ursprünglich
wurde vom Bundesrat - darüber müsste man eigentlich
an erster Stelle reden - eine Änderung des Gemeinnützigkeitsrechts für Körperschaften des öffentlichen
Rechts in den Deutschen Bundestag eingebracht. Denn
durch das Investitionszulagengesetz aus dem Jahre 1999,
das Rot-Grün zu verantworten hat,
({1})
gilt für die Steuerbegünstigung eines Fördervereins zusätzlich, dass auch die Einrichtung bzw. Körperschaft,
für die die Mittel beschafft werden, selbst steuerbegünstigt sein muss. Im Klartext bedeutet das, dass einer Vielzahl gemeinnütziger Fördervereine, die staatliche oder
kommunale Einrichtungen sind wie zum Beispiel
Museen und Theater, aber auch Kindergärten und sogar
Pflege- und Altenheime, der Verlust der Gemeinnützigkeit droht, es sei denn, die geförderten Einrichtungen geben sich selbst eine Satzung. Das war nicht richtig, sondern das war ein erheblicher fachlicher Fehler.
({2})
Der entscheidende Fehler in Ihrem damaligen Gesetzeswerk besteht in der Tatsache, dass gerade staatliche Museen und Theater qua Definition ausschließlich und
zweifelsfrei bereits steuerbegünstigte Zwecke im Sinne
des § 52 der Abgabenordnung verfolgen.
Das heißt, wir haben wieder einmal ein Paradebeispiel dafür, wie Rot-Grün im deutschen Steuerrecht völlig überflüssig einen weißen Schimmel schafft, der unnötige Bürokratie nach sich zieht. Denken Sie einmal
daran, was es heißt, eine Satzung zu erarbeiten, eine Satzung zu beschließen, eine Satzung beim Registergericht
zu hinterlegen und eventuell die Satzung im Laufe der
Zeit ständig anpassen zu müssen. Aus dem Grunde muss
man dem Bundesrat danken, dass er sich der Sache angenommen hat und die Abgabenordnung so verändert, dass
für Gemeinnützigkeit der Fördervereine von Betrieben
gewerblicher Art die Gemeinnützigkeit der geförderten
Einrichtung nicht mehr Voraussetzung ist.
Diese Initiative des Freistaats Bayern mit dem Ziel,
den bürokratischen Aufwand bei den Vorschriften über
die Voraussetzungen für die Gemeinnützigkeit zu vermeiden, begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich.
({3})
Aus Sicht der Union hätte dies schon längst verabschiedet werden können. Denn das Gesetz wurde am
14. März 2003 vom Bundesrat beschlossen und dem
Bundestag seitens der Bundesregierung am 2. Mai 2003
zur Beratung überstellt. Über ein Jahr lang sah sich RotGrün nicht in der Lage, zuzustimmen, und hielt es seit
Anfang dieses Jahres stattdessen für notwendig, ständig
neue und im Grunde völlig sachfremde Themen in die
Gesetzesvorlage einzubringen.
Die Bundesratsinitiative wurde Ihrerseits zu einem so
genannten Omnibusgesetz umfunktioniert. Wir sprechen deshalb heute neben dem Gemeinnützigkeitsrecht
zusätzlich noch über die Einschränkung der Abzugsfähigkeit von Berufsausbildungskosten, die Änderung
beim Entlastungsbeitrag für Alleinerziehende, die Verkürzung der Anmelde- und Abführungspflichten für die
Kapitalertragsteuer auf Dividenden, die Verlängerung
der Istbesteuerungsregelung für die neuen Länder nach
§ 20 Umsatzsteuergesetz und zu guter Letzt noch über
die Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol.
({4})
Mit dem ursprünglichen Inhalt der Gesetzesvorlage des
Bundesrates hat das leider überhaupt nichts mehr zu tun.
({5})
Schlimmer noch: Die Vorgehensweise, nach der ersten Lesung im Deutschen Bundestag zusätzlich noch
viele andere Gesetze auf eine Gesetzesvorlage zu packen, ist verfahrensrechtlich mehr als bedenklich. Nach
§ 62 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
ist dieses Verhalten sogar unzulässig; denn der Ausschuss ist verpflichtet, die ihm überwiesene Vorlage zügig zu erledigen. Dies hat der Finanzausschuss bei diesem Gesetz weit verfehlt.
Bereits Mitte März 2003 hat der Bundesrat seine Initiative beschlossen. Heute schreiben wir immerhin den
18. Juni 2004. Durch Ihr Taktieren kam es also zu einem
erheblichen Zeitverlust. Den entsprechenden Brandbrief
der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände kann ich gerne zu Protokoll geben. Darin fordern
alle drei kommunalen Spitzenverbände Anfang Januar,
schnellstmöglich der Bundesratsinitiative zuzustimmen.
Weiterhin ist das Verhalten unzulässig, weil - so sind
nun einmal die Arbeitsregeln in unserem Parlament - ein
Ausschuss grundsätzlich kein Initiativrecht besitzt. Änderungen, Erweiterungen und Ergänzungen dürfen nur
eingebracht werden, wenn sie in unmittelbarem Sachzusammenhang zur eigentlichen Vorlage stehen. Aus Sicht
der Bundestagsfraktion der CDU/CSU ist kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Änderung des Gemeinnützigkeitsrechts für Körperschaften des öffentlichen Rechts und den übrigen Änderungsanträgen zu
erkennen. Deshalb stellt sich hier die nicht unwesentliche Frage, ob das Gesetz hinsichtlich der übrigen Änderungsanträge überhaupt auf verfassungskonforme Weise
zustande kommen kann.
Wir haben - ich erwähne das, weil dieser Punkt sicherlich noch angesprochen wird - dabei mitgemacht.
Wir haben zusätzliche Punkte aufgenommen und sie in
einer besonderen Anhörung behandelt. Das war auch gut
so. Insbesondere den Entlastungsbetrag von Alleinerziehenden hätten wir sicherlich nicht optimiert, wenn wir
diese Anhörung nicht durchgeführt hätten. Es gibt aber
zwei Punkte, nämlich die Änderungen hinsichtlich der
Umsatzsteuer sowie das Branntweinmonopol, die nicht
einmal in der Anhörung im Mittelpunkt standen.
Ich bleibe bei dem von mir verwendeten Bild des Eisbergs. Statt Bürokratie abzubauen, schaffen Sie mit der
Neuregelung hinsichtlich der Abschaffung bzw. Verkürzung der Frist zur Anmeldung und Abführung der Kapitalertragsteuer auf Ausschüttungen sogar noch mehr
Bürokratie, und zwar insbesondere für den deutschen
Mittelstand.
Herr Kollege, denken Sie bitte daran, Ihre Redezeit
einzuhalten.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die
Union zwar den ursprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrats ausdrücklich unterstützt, aber nicht bereit ist,
dem gesamten Konvolut zuzustimmen. Wir werden sehen, was der Bundesrat mit Ihrem Gesetzentwurf macht.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Dass
der Bundesrat eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht hat, um vernünftige Regelungen zur steuerlichen
Behandlung gemeinnütziger Einrichtungen zu schaffen, ist zu begrüßen. Darin sind wir uns einig.
Wir wissen allerdings auch, was es bedeutet, wenn ein
Land im Bundesrat eine Initiative einbringt, die zunächst
mit den anderen Ländern und dem Bundesfinanzministerium koordiniert und letztendlich vom Gesetzgeber, dem
Parlament, auf den Weg gebracht werden muss, zumal
auch bestimmte Fristen einzuhalten sind.
Insofern kann man zwar beklagen, dass es so lange
gedauert hat - es hätte in der Tat nicht ganz so lange dauern müssen, Herr Fahrenschon; das ist richtig -, aber
ganz so schnell, wie Sie es dargestellt haben, geht es
nicht, weil das Gesetzgebungsverfahren, die Fristen und
die Modalitäten zwischen Bundestag und Bundesrat einzuhalten sind.
Wir hatten den kommunalen Spitzenverbänden rechtzeitig mitgeteilt, dass wir die Gesetzesänderung auf den
Weg bringen, sodass auf kommunaler Ebene Planungssicherheit gegeben war. Denn es war klar: Weder die
Union noch die rot-grüne Koalition noch die FDP würden einen solchen Vorstoß ablehnen. Damit stand fest,
dass die Gesetzesänderung erfolgen wird. Insofern war
es nicht tragisch, dass wir sie einige Wochen länger liegen gelassen haben - ich drücke das bewusst so aus -,
weil wir noch andere Punkte, die wir vernünftigerweise
regeln wollen, mit der Abgabenordnung in Verbindung
gebracht haben.
Nun ließe sich einwenden: Es gibt eine Lokomotive
mit einem Waggon daran - das ist die Initiative des Bundesrates -; das reicht eigentlich aus. Die rot-grüne Fraktion hat nun aber noch ein paar weitere Waggons angehängt. Aber jeder Waggon, der noch angehängt wurde,
fährt in die richtige Richtung und hat insofern seine Berechtigung.
({0})
Das gilt für die Regelungen für allein erziehende Mütter
und Väter, sodass eben nicht mehr, wie es bislang im Gesetz geregelt ist, der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende entfällt, wenn das Kind 18 Jahre alt wird.
Nach der vorgesehenen Regelung wird der Entlastungsbetrag von staatlicher Seite vielmehr so lange gewährt,
bis der Kindergeldanspruch für ein Kind entfällt. Es
macht schließlich keinen Sinn, wenn eine allein erziehende Mutter eines 17-Jährigen, der sich in der Ausbildung befindet, den Entlastungsbetrag bekommt, die allein erziehende Mutter eines 22-Jährigen, der sich in der
Ausbildung befindet, aber nicht, obwohl die anfallenden
Kosten gleich hoch sind. Das war eine völlig unsinnige
Regelung, die im Dezember in einer Nacht-und-NebelAktion im Bundesrat getroffen wurde. Die unionsgeführten Länder wollten gar nichts für die Alleinerziehenden
tun. Die rot-grüne Regierung hat einen Vorschlag unterbreitet, der allerdings nicht 100-prozentig das umfasst,
was wir politisch erreichen wollten. Deswegen ist es
richtig, dass dieser Waggon angehängt wird.
({1})
Wir haben einen weiteren wichtigen Bereich aufgegriffen, bei dem es um die Zukunft von Bildungsaufwendungen geht. Wir sind der Auffassung, dass Investitionen in Bildung in einer Dienstleistungs- und
Wissensgesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnen.
({2})
Aus diesem Grund müssen wir schon froh sein, dass der
Bundesfinanzhof die Möglichkeit eingeräumt hat, eine
sehr weit reichende Abzugsfähigkeit von Bildungsaufwendungen als Werbungskosten zu erlauben. Man muss
sehen, dass es hier Hürden gegeben hat, die es erst einmal zu überwinden galt.
Langfristiges Ziel muss natürlich sein, dass Sach- und
Humaninvestitionen steuerlich gleichbehandelt werden
und gleichermaßen abzugsfähig sind. Angesichts der
Zeit, in der wir leben, und der Entwicklung in unserer
Gesellschaft ist es nicht mehr zu legitimieren, dass zwar
die Kosten für eine Maschine, die man sich in die Halle
stellt, voll abzugsfähig sind, dass aber Investitionen in
Bildung die Abzugsfähigkeit versagt bleibt.
({3})
Mit der von uns geplanten Maßnahme gehen wir einen
Riesenschritt in die richtige Richtung. Es ist also berechtigt, auch diesen Waggon anzuhängen. Er wird ziemlich
schnell mit in die richtige Richtung fahren.
Dem, was Herr Fahrenschon zu den anderen Themen
inhaltlich gesagt hat, kann ich mich nur anschließen. Zu
den Fragen betreffend die Umsatzsteuer habe ich schon
in meiner vorhergehenden Rede Stellung genommen, auf
die ich an dieser Stelle verweisen möchte.
Der Zug ist auf einem guten Gleis. Auch die Richtung
stimmt.
Danke schön.
({4})
Jetzt hat der Abgeordnete Dr. Pinkwart noch einmal
für drei Minuten das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es handelt sich bei dem heute vorgelegten Gesetzentwurf fürwahr um ein Omnibusgesetz, mit dem
verschiedene steuerrechtliche Anliegen befördert werden sollen. Dabei haben die Anhörungen wie auch die
Beratungen im Ausschuss gezeigt, dass mit diesem
„Omnibus“ leider nicht alles mitgenommen wird, was
dringend befördert gehört. Dafür werden wiederum andere Dinge mitgenommen, die zumindest in der jetzigen
Form nicht befördert werden sollten.
Die Rechtsänderungen im Bereich des Gemeinnützigkeitsrechts und die einkommensteuerliche Behandlung Alleinerziehender werden von der FDP-Fraktion
dabei als äußerst sinnvolle Regelungen angesehen und
als Einzelrechtsänderungen jeweils begrüßt.
({0})
Dagegen greift das im Gesetzentwurf enthaltene
umsatzsteuerliche Besteuerungsverfahren - das ist in
der vorangegangenen Aussprache schon diskutiert worden - bei weitem zu kurz. Die Verlängerung der auf die
neuen Bundesländer bezogenen Sonderregelungen ist
zwar notwendig. Aber zum einen müsste der Anwendungsbereich auf die gesamte Bundesrepublik Deutschland ausgeweitet werden und zum anderen müsste die
Umsatzgrenze für Unternehmen auf 2,5 Millionen Euro
angehoben werden.
({1})
Zudem muss in dieser Höhe die Istbesteuerung auch auf
der Leistungseingangsseite gelten.
Der eben angesprochene Systemwechsel von der
Soll- zur Istbesteuerung wird nicht - hier gehe ich auf
das ein, was Frau Scheel vorhin gesagt hat - die von Ihnen genannten über 4 Milliarden Euro Mindereinnahmen für den Staat zur Folge haben. Sie als Ausschussvorsitzende wissen, dass das Bundesfinanzministerium
ausdrücklich gebeten worden ist, die eigenen Berechnungen noch einmal zu überprüfen, was auch zugesagt
worden ist; denn von der Systemumstellung erwartet
auch das Bundesfinanzministerium eine wirksamere
Missbrauchsbekämpfung. Insofern werden die Mindereinnahmen, wenn überhaupt welche entstehen, deutlich
geringer ausfallen.
Das, was mit dem Omnibusgesetz nicht mitgenommen worden ist - das bedauern wir außerordentlich, weil
dies gegenwärtig Hunderttausende mittelständische
Unternehmen in diesem Land massiv bedrückt -, ist die
von der Bundesregierung zusammen mit den Ländern
gegen die Stimmen der FDP im Vermittlungsausschuss
beschlossene Neuregelung des § 8 a des Körperschaftsteuergesetzes. Wir haben deshalb im Rahmen der Ausschussberatung beantragt, diese Neuregelung zurückzunehmen. Gegenstand des § 8 a ist, dass Zinszahlungen
von Unternehmen in gewissen Fällen nicht mehr als
Betriebsausgaben geltend gemacht werden können, sondern als verdeckte Gewinnausschüttung behandelt werden müssen. Dabei handelt es sich nach der gegenwärtigen Gesetzeslage auch um Bankkredite, die von
Unternehmern privat verbürgt worden sind. Das ist der
typische Mittelstandskredit. Er soll nach der geltenden
Rechtslage nicht mehr als Betriebsausgabe abgesetzt
werden können. Das führt - Sie alle wissen das - zu einer massiven Verunsicherung im Mittelstand: Es gibt
Hunderte von Eingaben aus diesem Bereich. Verbände
und Sachverständige haben darauf hingewiesen, dass es
der dringenden Regelung bedarf, um einer weiteren Investitionszurückhaltung und damit dem Verlust von Arbeitsplätzen entgegenzuwirken.
({2})
Wir haben in den Ausschussberatungen hierzu eine
ganz klare Änderung vorgeschlagen. Das BMF-Schreiben reicht nicht; es schafft nicht - das ist hinreichend
klar geworden - die notwendige Rechtssicherheit. Ich
fordere die Regierung und die Regierungsfraktionen
dazu auf - sie sind in Zugzwang -, dieses Problem zu lösen. Wenn sie das nicht tun, wird sich das Beschäftigungsproblem in diesem Land weiter verschärfen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ingrid ArndtBrauer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das,
was wir heute debattieren, könnte man „Änderung der
Abgabenordnung und weiterer Gesetze“ nennen. Unter
diesen weiteren Gesetzen befindet sich eines, wozu ich
erfreulicherweise sagen kann: Da haben alle zugestimmt. Ich finde das sehr vernünftig, denn es zeigt sich:
Die Lebenswirklichkeit ist nicht immer so, wie wir sie
gerne hätten; aber wir müssen uns ihr stellen.
Das Gesetz, an das ich denke, behandelt den Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende. Diese Personen
haben das Problem, dass sie dadurch wirtschaftliche
Nachteile erleiden, dass sie in der Regel ohne Partner leben, weswegen sie nicht die Vorteile einer Zweierbeziehung mit Kind genießen können. Um dem entgegenzuwirken, haben wir Anfang dieses Jahres einen Freibetrag
in Höhe von 1 308 Euro eingeführt. Bedingung für diesen Freibetrag ist, dass mindestens ein minderjähriges
Kind in der Familie lebt.
Die Erfahrung zeigt allerdings: Es gibt durchaus Familien, besser: Teilfamilien, in denen nicht nur ein minderjähriges Kind lebt. In solchen Familien lebt häufig
auch ein Kind über 18. Das ist nicht gleichbedeutend mit
einem Lebenspartner. Meine eigene Lebenswirklichkeit
- ich habe zwei Kinder über 18 und zwei unter 18 - zeigt
mir, dass die Kinder über 18 nur bedingt zur Erziehung
und Betreuung meiner unter 18-Jährigen beitragen. Finanziell tragen sie dazu überhaupt nicht bei. Um das auszugleichen, erweitern wir das bestehende Gesetz um die
Personengruppe, die nicht nur mit einem minderjährigen
Kind, sondern auch mit einem Kind über 18, für das ein
Anspruch auf Kindergeld bzw. Freibetrag besteht, zusammenlebt. Das ist gut und vernünftig.
Ich freue mich - das sage ich ausdrücklich -, dass alle
zugestimmt haben. Wenn wir mit den anderen Angelegenheiten genauso ruhig und sachlich umgegangen wären, dann hätten wir vielleicht auch bei den anderen Details Einigkeit erzielen können. Es ist nicht immer
schlimm, Gesetzesinhalte aneinander zu reihen, damit
sie möglichst schnell, womöglich rückwirkend, in Kraft
treten können. In diesem Fall war eine solche Aneinanderreihung notwendig. Das Gesetz zur Neuregelung der
Ansprüche der Alleinerziehenden - wir werden es heute
verabschieden - gilt rückwirkend zum 1. Januar 2004.
Das heißt, die Alleinerziehenden haben in diesem Jahr
keinen Nachteil. Ich denke, das ist gut. Ich freue mich,
dass das so zustande gekommen ist.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian von
Stetten.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Heute ist schon verschiedentlich erwähnt worden: Die
Bundesländer, die über den Bundesrat einen Gesetzentwurf mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung“ eingebracht haben und damit
eigentlich nur die Gemeinnützigkeitsregeln etwas verändern wollten, wundern sich heute schon - sie sind die
Antragsteller -, was alles im Bundestag heute beschlossen werden soll.
Ehrlich gesagt, auch ich wundere mich. Der Kollege
Fahrenschon ist auf die eigentlichen Ziele der Bundesländer ausführlich eingegangen und er hat auch begründet, warum wir dem ursprünglichen Gesetzentwurf
gerne zugestimmt hätten.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, was Sie im Nachhinein alles in dieses Gesetz
hineingepackt haben, ohne dass ein sachlicher Zusammenhang mit der Vorlage des Bundesrates besteht, ist
nicht akzeptabel. Wir haben Sie im Finanzausschuss
mehrfach gebeten - wir haben sogar einen entsprechenden Antrag gestellt, der es uns ermöglichen sollte -, den
sinnvollen Forderungen der Bundesländer nachzukommen und anschließend die von Ihnen nachträglich eingebrachten Punkte in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren mit uns gemeinsam zu diskutieren.
Sie haben es anders entschieden. Sie machen mal wieder einen verfahrenstechnisch fragwürdigen Schnellschuss und der Schnellschuss ist zudem noch halbherzig.
Schauen Sie einmal in Ihren eigenen Entwurf hinein!
Nehmen Sie beispielhaft die Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Sie wollen eine Sonderbehandlung der neuen
Bundesländer bei der Umsatzbesteuerung nach vereinnahmten Entgelten; Sie wollen die Geltungsdauer der
Umsatzgrenze von 500 000 Euro um zwei Jahre verlängern. Sie begründen es damit, dass Sie die Liquiditäts-,
Wachstums- und Beschäftigungsgrundlage kleiner und
mittlerer Unternehmen in den neuen Ländern stärken
wollen. Es ist positiv, dass Sie den Mittelstand stärken
wollen.
({0})
Aber nicht nur in den neuen Bundesländern leidet der
Mittelstand unter Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik.
In ganz Deutschland gibt es Unternehmenspleiten in
noch nie dagewesenem Ausmaß.
({1})
Es waren 40 000 Unternehmenspleiten allein im Jahr
2003, also alle zwölf Minuten ein mittelständischer Betrieb weniger - alle zwölf Minuten! Wir brauchen die
Grenze von 500 000 Euro für ganz Deutschland.
({2})
- Sie hätten zuhören müssen! Genau vor einer Stunde
haben wir zu diesem Thema unseren Entwurf in einem
ordnungsgemäßen Verfahren in den Bundestag eingebracht. Deswegen sollten Sie heute die von Ihnen im
Ausschuss beschlossenen Ergänzungen zurückziehen
und sich in das ordnungsgemäße Verfahren zu dem Entwurf, den wir formuliert haben, einbringen.
Nachdem Rot-Grün hier so ein Durcheinander veranstaltet hat - Sie haben das in einem Zwischenruf
eingeworfen -, hat sich die FDP dazu verleiten lassen,
zum Thema § 8 a Körperschaftsteuergesetz noch einen
hinten dranzuhängen. Herr Professor Pinkwart, Sie haben völlig Recht: Der § 8 a muss geändert werden. Er
muss aber in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren
geändert werden.
({3})
Lieber Herr Staatssekretär, es reicht nicht aus, dass Sie
die berechtigten Interessen der Betroffenen mit einem
einfachen BMF-Schreiben aufnehmen wollen. In
Deutschland müssen Gesetze gelten und nicht irgendwelche Verwaltungsbriefe.
({4})
Zum Abschluss bitte ich Sie ausdrücklich, hierzu einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. An dessen Beratung wollen wir uns dann konstruktiv beteiligen.
({5})
Herzlichen Dank.
({6})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung über den vom Bundesrat
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Abga-
benordnung kommen, möchte ich Ihnen bekannt geben,
dass aus den Reihen der Fraktion der CDU/CSU
21 Erklärungen zur Abstimmung vorliegen, die wir zu
Protokoll nehmen.1)
({0})
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt auf Drucksache 15/3339, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer
möchte Ihn ablehnen? - Gibt es Enthaltungen? - Es
bleibt bei dem schon eben festgestellten Ergebnis: SPD
und Bündnis 90/Die Grünen stimmen zu, CDU/CSU und
FDP lehnen ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
§ 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs
- Drucksache 15/2951 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für
den Bundesrat der sächsische Staatsminister Horst
Rasch.
Horst Rasch, Staatsminister ({2}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bei der im Gesetzentwurf des Bundesrates vor-
geschlagenen so genannten Abrisskündigung handelt es
sich um ein Rechtsinstrument des Stadtumbaus. Der
Begriff des Stadtumbaus weist auf einen Prozess hin, der
1) Anlage 7
uns über einen längeren Zeitraum beschäftigen wird. Dahinter verbirgt sich das große Problem des Wohnungsleerstandes, das in den neuen Bundesländern bereits in
erheblichem Umfang auftritt. Angesichts der demographischen Entwicklung ist jedoch auch in den alten
Bundesländern damit zu rechnen, dass ein Stadtumbau
zur Behebung von Strukturproblemen erfolgen muss.
Lassen Sie mich zur Illustration nur zwei Zahlen nennen: In den neuen Ländern stehen über 1 Million Wohnungen leer, in Sachsen allein mehr als 400 000. Wenn
Sie in Rechnung stellen, dass wir etwa 4,3 Millionen
Einwohner haben, kommen Sie zu dem Schluss, dass
etwa jeder zehnte Sachse eine leer stehende Wohnung
okkupieren könnte.
({3})
- In einem Plattenbau im Allgemeinen. - Einem Überschuss in dieser Größenordnung kann man nicht mit Einzelmaßnahmen begegnen. Hier sind Gesamtkonzepte
gefragt. Das heißt konkret, dass Planungen zur Verkleinerung von Wohngebieten erstellt werden müssen, die in
einem Rahmenkonzept für die jeweilige städtische Entwicklung eingebettet sind. Den Kommunen, die diesen
Prozess im Wesentlichen in Zusammenarbeit mit den
Wohnungsunternehmen und den Wohnungsbesitzern bewältigen müssen, stehen damit schwierige Aufgaben bevor. Sie können diese Aufgaben nur bewältigen, wenn
ihnen das notwendige rechtliche Instrumentarium zur
Verfügung steht.
Der Anfang hierzu wurde mit der Einfügung eines
Abschnitts „Stadtumbau“ in das Baugesetzbuch erst
kürzlich von Ihnen erfolgreich auf den Weg gebracht.
Die Abrisskündigung gehört jedoch als weiterer zivilrechtlicher Aspekt ebenso zu diesem notwendigen Instrumentarium.
({4})
- Ich bedanke mich.
Mit der Abrisskündigung wollen wir den schnellen
vollständigen Freizug von Gebäuden ermöglichen, die
abgebrochen werden sollen. Sie soll die Rechtssicherheit
für alle Beteiligten erhöhen und den Stadtumbau voranbringen. Es hat um den Sinn dieser Regelung bereits eine
intensive Diskussion gegeben. Lassen Sie mich insofern
auf die rechtlichen Aspekte besonders eingehen:
Der Vermieter soll einen Mietvertrag kündigen können, wenn das Wohngebäude überwiegend, das heißt zu
mehr als 50 Prozent, leer steht und entsprechend der
städtebaulichen Planung der Gemeinde teilweise oder
vollständig beseitigt werden soll. Gleichzeitig muss der
Vermieter dem Mieter Wohnraum in vergleichbarer Art,
Größe und Ausstattung nachweisen.
Gefragt worden ist in diesem Zusammenhang, ob wir
nicht mit der Kündigungsmöglichkeit aus berechtigtem
Interesse nach § 573 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch
oder der gerade erst in den neuen Ländern zugelassenen
Verwertungskündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB
ausreichend Kündigungsmöglichkeiten für die Vermieter
Horst Rasch, Staatsminister ({5})
leer stehender Gebäude haben. Dies ist gerade nicht der
Fall.
({6})
Eine aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofs
vom März dieses Jahres hat bestätigt, dass die Verwertungskündigung nicht den Fall des bloßen Abrisses von
Wohnhäusern ohne Neubebauung oder Umnutzung betrifft.
Entgegen der Auffassung der Bundesregierung kann
auch nach der Entscheidung des BGH nicht von einer
gesicherten Rechtslage für den flächenhaften Rückbau
von Wohngebäuden ausgegangen werden. Das BGHUrteil setzt sich lediglich mit der Abgrenzung von Abriss- und Verwertungskündigung auseinander. Bezüglich der Voraussetzungen einer konkreten Kündigung im
Rahmen des § 573 Abs. 1 BGB, insbesondere zum
Thema Interessenabwägung und Mieterschutzerwägungen, wurden keine Ausführungen gemacht.
Hinzu kommt, dass man in diesem Bereich bei nur
vier vom BGH angesprochenen unterinstanzlichen Urteilen - wobei allein zwei aus dem konkret entschiedenen Instanzenzug stammen - wohl noch nicht von einer
gefestigten Rechtsprechung ausgehen kann. Dies gilt
umso mehr, als die Vorgaben der vereinzelten Rechtsprechung auch teilweise recht unterschiedlich sind. Während das Amtsgericht Jena und das Landgericht Gera
eine Kündigungsmöglichkeit anerkennen, wenn der
Leerstand auf demographischer Entwicklung beruht und
der Abriss im Rahmen eines Stadtentwicklungskonzepts
erfolgt, sieht das vom BGH aufgeführte Urteil des Amtsgerichts Leipzig eine Kündigungsmöglichkeit jedenfalls
dann nicht vor, wenn der Vermieter das Objekt aktiv entmietet oder von jeglichen Vermietungsmaßnahmen ausgenommen hat, also keine Instandhaltungsmaßnahmen
oder Vermietungsbemühungen vorgenommen hat.
Des Weiteren bestehen in diesem Zusammenhang bezüglich der Rechte der Mieter ganz erhebliche Unsicherheiten. In vielen Fällen haben die Unternehmen
von sich aus und gerade aufgrund der rechtlichen Unsicherheit über eine Kündigungsmöglichkeit bereits im
Vorfeld den Mietern jeweils entsprechend üppige Angebote unterbreitet. Das vom BGH bestätigte Landgericht
Gera spricht sogar von überobligatorischen Angeboten
der Wohnungswirtschaft.
({7})
Was jedoch eine obligatorische Berücksichtigung der
Mieterinteressen darstellt, wurde von der Rechtsprechung bisher nicht hinreichend klargestellt. Dass die
Wohnungswirtschaft solche überobligatorischen Angebote bei flächenhaftem Abriss in Zukunft nicht mehr betriebswirtschaftlich tragen kann, braucht bei der derzeitigen Wohnungsmarktlage in den neuen Bundesländern
nicht mehr näher erläutert zu werden. Auch hier würde
mit der Ermöglichung der Abrisskündigung nunmehr
eine klare Regelung getroffen. Die Abrisskündigung berücksichtigt die Interessen der Mieter, da der Vermieter
verpflichtet ist, Ersatzwohnraum vergleichbarer Art,
Größe und Ausstattung nachzuweisen. Unsere Wohnungsgesellschaften im Osten tragen schon jetzt jeden
Mieter auf Händen; denn er ist der Einzige, der ihnen in
dieser wirtschaftlichen Situation wirklich helfen kann.
({8})
Meine Damen und Herren, letztendlich war der entschiedene Fall des BGH insofern ein Sonderfall, als es
sich um einen trotz langer Verhandlungen und großzügiger Zahlungsangebote übrig gebliebenen Einzelmieter
handelte. Ob ein berechtigtes Interesse von den Gerichten auch dann bejaht wird, wenn noch 20 oder 30 Prozent der Mieter vorhanden sind und nach städtebaulichen
Entwicklungskonzepten der bestehende Leerstand auf
ein Gebäude konzentriert werden soll, ist unklar. Zu warten, bis nur noch ein einziger Mieter in einem Wohnblock wohnt, um ihn dann, möglicherweise mit einer
Kündigung aus berechtigtem Interesse nach § 573
Abs. 1 BGB, herauszuklagen, ist kein akzeptabler Weg
für den flächenhaften Rückbau, der in vielen Städten ansteht.
Wichtig ist: Kein Mieter wird auf der Straße stehen.
Betroffene werden vielleicht in einen Block in der Nachbarschaft oder in einen anderen Stadtteil ziehen; denn
wir müssen dafür sorgen, dass unsere Stadt in sinnvoller
Weise umgebaut werden kann, und zugleich den Betroffenen rechtliche Sicherheit bieten.
({9})
Dies ist ein Anliegen, das in die Zukunft weist. Die Weichen dafür müssen aber jetzt gestellt werden. Deshalb
bitte ich Sie: Schaffen Sie die Rechtsinstrumente, die für
den Stadtumbau notwendig sind.
({10})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Verehrte Rechts- und Mietfreunde! Verehrter Herr Staatsminister! Erst vor kurzem wurde auf Initiative des Bundesrates das Verbot der Verwertungskündigung für
Altmietverträge in den neuen Ländern aufgehoben. Seit
dem 1. Mai 2004 gibt es diese Beschränkung der Vermieterrechte auch in Ostdeutschland nicht mehr. Das ist
bei dem herrschenden Wohnungsleerstand auch vernünftig.
Mit diesem Gesetzentwurf schießt der Bundesrat aber
über das Ziel hinaus. Das Sonderkündigungsrecht hat für
die Leerstandsproblematik keine Bedeutung; Praktiker
bestätigen mir das immer wieder. Ohnehin wird das Problem in der Praxis durch das Angebot von Ersatzwohnungen und die Übernahme von Umzugskosten durch
den Vermieter in den meisten Fällen befriedigend gelöst.
Wo eine einvernehmliche Lösung nicht erzielt wird,
ermöglicht bereits das geltende Recht den Vermietern
die Abrisskündigung. Für die Generalklausel des § 573
Abs. 1 BGB hat sich eine sehr vernünftige RechtspreParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
chung zur Abrisskündigung entwickelt, die der Bundesgerichtshof mittlerweile in vollem Umfang bestätigt hat.
Die Rechtsprechung stellt den Unterhaltskosten für das
Gebäude die Mietzahlungen der verbleibenden Mieter
gegenüber und überprüft bei einem erheblichen Missverhältnis außerdem, ob die Mieter besonders schutzbedürftig sind. Damit werden die Interessen der Vermieter in
Fällen erheblichen Leerstands angemessen berücksichtigt.
Berücksichtigt wird aber auch, dass eine Kündigung
durch den Vermieter nur bei einem Interesse von Gewicht in Betracht kommt. Dieser Ansatz ist mir wichtig,
weil die Wohnung nun einmal der Lebensmittelpunkt
des Mieters ist und deshalb eine hohe soziale Bedeutung
hat.
({0})
Wir haben also einen ausreichenden Kündigungstatbestand und auch die erforderliche Rechtssicherheit für die Ausübung von Abrisskündigungen. Ich
kann keine ernsthafte Gefahr eines Missbrauchs durch
die Mieter erkennen. Der Wunsch eines Mieters, sich
eine Auszugsbereitschaft teuer bezahlen zu lassen, wird
von der Rechtsprechung unmissverständlich als vertragsfremd und nicht schutzwürdig behandelt.
Auch die Prämisse der Rechtsprechung, dass der Vermieter nur kündigen darf, wenn er den Leerstand nicht
selbst verschuldet hat, führt bei den Abrissfällen nicht zu
einer Beschränkung der Vermieterrechte. Ein schuldhaftes Handeln des Vermieters wird nämlich ausdrücklich
verneint, wenn der geplante Abriss wegen erheblichen
Leerstands im Rahmen eines Stadtentwicklungskonzepts
erfolgen soll. Der BGH hat in diesem Zusammenhang
übrigens auch keine Bedenken gegen die Einschätzung
der Vorinstanz erhoben, dass es der wirtschaftlichen Entscheidung des Vermieters überlassen sein muss, welches
von mehreren in Betracht kommenden Gebäuden abgerissen werden soll.
Der Gesetzentwurf würde gegenüber dem geltenden
Recht keine zusätzliche Rechts- und Planungssicherheit
schaffen. Auch hier werden auslegungsbedürftige
Rechtsbegriffe verwendet, über deren Bedeutung im
Streitfall wieder die Gerichte entscheiden müssen. Ich
sehe auch nicht, dass der Gesetzentwurf im Streitfall das
Verfahren beschleunigen könnte. Denn der gesetzliche
Kündigungsschutz des Mieters, also das Recht zum Widerspruch gegen die Kündigung und der Räumungs- und
Vollstreckungsschutz, bleiben selbstverständlich unangetastet - und hier spielt ja bekanntlich die Musik.
Der Vollständigkeit halber will ich noch darauf hinweisen, dass für den Gesetzentwurf auch aus städtebaulicher Sicht kein Bedarf besteht. Nach dem Baugesetzbuch besteht bereits für die Gemeinden die Möglichkeit,
in förmlich festgelegten Sanierungsgebieten und Entwicklungsbereichen oder zur Durchführung städtebaulicher Gebote Miet- oder Pachtverhältnisse aufzukündigen. Die von Ihnen, Herr Staatsminister Rasch, zitierte
Entscheidung ist eben eine typische Einzelfallentscheidung des BGH. Man muss sorgfältig und genau die
Gründe nachlesen; dann wird man sehen, dass man dies
nicht verallgemeinern kann.
Deswegen möchte ich unterstreichen, dass gegenwärtig für das vorgeschlagene Sonderkündigungsrecht in
Abbruchsfällen weder ein rechtliches noch ein praktisches Bedürfnis besteht.
Verehrte Frau Präsidentin, ich bitte festzuhalten, dass
ich heute meine Redezeit eingehalten habe.
({1})
Vielen herzlichen Dank. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Henry Nitzsche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein
Mann soll im Laufe seines Lebens ein Haus bauen, einen
Sohn zeugen und einen Baum pflanzen.
({0})
Nun werden aber seit 30 Jahren in Deutschland nicht genug Söhne - meinetwegen auch Töchter - gezeugt, um
die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Diese Entwicklung hat weit reichende Folgen für den Bestand und die
Entwicklung unserer Städte. Der Prozess des Stadtumbaus in Deutschland hat nicht nur die wirtschaftliche
Fehlentwicklung - besonders in den letzten sechs
Jahren -, sondern auch die Demographiebombe als Ursache.
Wir sprechen heute über einen Gesetzentwurf des
Bundesrates, der vom Freistaat Sachsen initiiert wurde.
Wesentliche Gründe liegen in der sächsischen Wohninfrastruktur. Von den mehr als 2,2 Millionen Plattenbauten in den neuen Ländern stehen allein in Sachsen
mehr als 660 000. Waren 2001 noch 75 Prozent aller leer
stehenden Wohnungen im unsanierten Altbau, so holt
der Plattenbau mit rascher Dynamik auf: 2002 betrug
der Leerstand 38 000, im Plattenbau dagegen schon
58 000 Wohnungseinheiten.
Bereits mit Antrag vom 28. Januar vergangenen Jahres mit dem Thema „Stadtentwicklung Ost - Mehr Effizienz und Flexibilität“ hat meine Fraktion unter Punkt 5
ein Sonderkündigungsrecht für Rückbauvorhaben gegenüber Mietern eingefordert. Die Begründung vor anderthalb Jahren ist heute aktueller denn je. Kommunale
Wohnungsunternehmen und Genossenschaften müssen
in die Lage versetzt werden, Stadtentwicklungskonzepte
zügig in ihrem Bereich umzusetzen. Dazu ist es unter anderem erforderlich, den verstreuten Wohnungsleerstand
in städtebaulich gewünschten Wohnobjekten zu konzentrieren. Im Normalfall nimmt die Mehrheit der Mieter
Umzugsangebote bei entsprechender Entschädigung an.
Dennoch erschweren einzelne Mieter durch überzogene
Forderungen den Freizug. Um aber den Stadtumbau im
notwendigen Umfang umsetzen zu können, wird dieses
Instrument dringend benötigt.
({1})
In den vergangenen Sitzungen haben wir den Stadtumbau in das Baugesetzbuch integriert. Das ist ein erfreulicher Anfang zur Wahrnehmung der Realitäten.
Realität ist aber auch, dass mehr als 1 Million Wohnungen in den neuen Bundesländern leer stehen. In
Sachsen sind es, wie Staatsminister Horst Rasch erwähnt
hat, über 440 000 Wohnungen. Um den jährlichen Zuwachs an leer stehenden Wohnungen abzuarbeiten, müssen wir in Sachsen circa 20 000 Wohnungen pro Jahr abreißen.
Halten wir fest: Der Statdumbau beginnt zu greifen.
Aber die ersten beiden Jahre liefen zäh an. Abgerissen
wurden bisher vorrangig Gebäude, die bereits leer gezogen waren. Die Wohnungswirtschaft hat der Politik vertraut. Die Vorbereitung des Leerzuges fand zum Teil
schon statt, als Details der Forderung noch diskutiert
wurden. Der Leerstand gleicht einem Schweizer Käse.
Er muss konzentriert werden auf den Abbruch geeigneter Gebäude.
Bisherige Rechtsinstrumente reichen hierfür nicht
aus. Bei der Kündigung aus allgemein berechtigtem Interesse, Herr Staatssekretär, welche letztlich übrig bleibt,
greifen die Punkte Vandalismus, Eigenbedarf und Verwertung nicht beim Stadtumbau. Deshalb ist gezieltes
Freilenken nur über eine Abrisskündigung möglich. Der
von Rot-Grün strapazierte Mieterschutz ist nicht gefährdet. Die Vermieter sind naturgegeben daran interessiert,
ihre Mieter zu behalten.
Sehen wir dem kommenden Stadtumbau West ins
Auge, dann erkennen wir, dass uns diese Probleme
schnellstens einholen werden. Spätestens dann werden
alle begreifen, dass die Abrisskündigung eine wichtige
Rahmenbedingung für den Stadtumbau ist, die den Staat
obendrein nichts kostet.
Meine Damen und Herren Sozialdemokraten und
Bündnisgrüne, schieben Sie nicht Ihr falsch verstandenes Verhältnis zu den Mietern vor! Lassen Sie uns zu
den objektiv richtigen Ergebnissen kommen!
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Staatsminister Rasch! Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf des Bundesrats eindeutig abgelehnt, und zwar mit der Begründung - sie wurde
schon vorhin vom Parlamentarischen Staatssekretär
Hartenbach vorgetragen -, es gebe weder ein rechtliches
noch ein praktisches Bedürfnis für einen Paragraphen,
der den besonderen Kündigungstatbestand „Abrisskündigung“ enthält. Unsere Fraktion schließt sich dieser
Auffassung ausdrücklich an, was ich kurz begründen
möchte.
Erstens. § 573 Abs. 1 BGB ermöglicht es, dass der
Vermieter aufgrund eines berechtigten Interesses kündigen kann. Diese Vorschrift wurde in der Rechtsprechung in einer Reihe von Fällen schon angewandt.
Zweitens. Wir haben mit Wirkung zum 1. Mai die so
genannte Verwertungskündigung in Kraft gesetzt. Sie
ist jahrelang von der ostdeutschen Wohnungswirtschaft
und von den ostdeutschen Ländern gefordert worden mit
der Begründung, diese sei eine wichtige Voraussetzung
für notwendige Abrisse. Dieser Forderung haben wir
nachgegeben. Wie gesagt, diese Form der Kündigung
wurde zum 1. Mai eingeführt.
Drittens. Wir haben - auch darauf hat Herr Hartenbach
hingewiesen - zusätzlich einen Paragraphen zum Stadtumbau in das Baugesetzbuch geschrieben. Die entsprechenden Instrumente sind eben genannt worden. Jahrelang ist dies von der ostdeutschen Wohnungswirtschaft
und den ostdeutschen Ländern gefordert worden.
Ich muss an dieser Stelle sagen, dass das Anliegen,
eine Abrisskündigung einzuführen, aus sachlichen Gründen abzulehnen ist. Darüber hinaus bin ich aber auch ein
wenig verärgert. Im Rahmen der Mietrechtsnovelle ist
ein ähnlicher Vorschlag diskutiert worden. Aber die ostdeutschen Länder waren sich nicht einig. Sie haben diesen Vorschlag letztendlich abgelehnt und gefordert, dass
die Kündigungen auf Basis der Verwertungskündigung
erfolgen sollen. In der Zwischenzeit ist eine Reihe von
Rechtsprechungen ergangen, die die Position der Bundesregierung und der rot-grünen Koalition gestärkt haben.
Wir haben der Forderung nach Einführung der Verwertungskündigung trotzdem nachgegeben. Sie wurde
zum 1. Mai wirksam.
Kaum sind wir dem permanenten Ruf nach Zulassung
der Verwertungskündigung nachgekommen, wird eine
neue Forderung nachgeschoben.
({0})
Das macht mich besonders ärgerlich. So geht es nicht.
({1})
Erstens ist es nicht überzeugend, so mit einem Gesetz
umzugehen. Zweitens kann man der Gesellschaft nicht
zumuten, dass Gesetze nach dem Motto „Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln!“ ständig geändert werden. Das ist wirklich nicht zumutbar.
({2})
Als Letztes noch ein inhaltliches Argument. Ich
glaube, dass es politisch nicht hilfreich ist, auf ein solches Instrument zu setzen. Ich würde dem Freistaat
Sachsen nicht dazu raten. Bisher werden die Kündigungen und Umsetzungen, die vorgenommen werden müssen, um größtenteils leer stehende Häuser für den Abriss
freizumachen, konstruktiv zwischen Vermietern und
Mietern geregelt. Auch die Mietervereinigungen planen
keine Proteste; denn sie sehen ein, dass der Stadtumbau
eine schwierige Aufgabe ist. Alle Beteiligten geben sich
Mühe, konstruktiv mitzuwirken.
Wir wissen, dass es einzelne Mieter gibt, die glauben,
daraus einen persönlichen Vorteil ziehen zu können.
Aber es wäre politisch nicht hilfreich, den Abriss als besonderen Kündigungsgrund einzuführen und damit das
Signal zu geben, dass damit ganze Häuser freigekündigt
werden könnten.
Momentan wird die schwierige Aufgabe des Stadtumbaus in allen neuen Ländern kooperativ von den Vermietern und den Mietern gelöst. Das muss hoch anerkannt
werden. Das geforderte Instrument hingegen würde den
sozialen Frieden gefährden. Damit sollte man nicht
zündeln. Alle Beteiligten sind daher gut beraten, diesen
Gesetzentwurf wieder in der Schublade verschwinden zu
lassen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren den Gesetzentwurf des Bundesrates, mit dem
dieser eine Abrisskündigung als eigenständiges ordentliches Kündigungsrecht des Vermieters normieren
möchte. Der Bundesrat begründet dies damit - das ist
heute vom Kollegen Nitzsche wiederholt worden -, dass
sich derzeit für wirtschaftlich notwendige Abriss- und
Rückbaumaßnahmen weder im städtebaulichen Teil des
Baugesetzbuchs noch im Bürgerlichen Gesetzbuch eine
ausreichende Rechtsgrundlage finde und auch die Rechtsprechung keine hinreichende Rechtssicherheit biete.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, dass der
Bundesrat es sich mit dieser Gesetzesinitiative doch etwas einfach macht. Im Bereich des Mietrechts gibt es nie
hundertprozentige Rechtssicherheit. Ich nenne nur das
Beispiel Eigenbedarf.
Unbestritten ist sicherlich, dass erhebliche Wohnraumleerstände, die sich insbesondere in Ostdeutschland
vorfinden, für die Eigentümer ein großes Problem darstellen. Das deutsche Mietrecht zeichnet sich aber gerade dadurch aus - ich meine, dass wir das beibehalten
soll-ten -, dass es versucht, die Interessen von Vermietern und Mietern gleichermaßen zu beachten. Eine Gesetzesänderung sollte deshalb nur dann vorgenommen
werden, wenn wir entweder ein praktisches oder ein
rechtliches Bedürfnis haben.
({0})
Genau hieran habe ich meine Zweifel. Bereits das geltende Recht ermöglicht den Vermietern nämlich unter
bestimmten Voraussetzungen eine Kündigung in so genannten Abrissfällen. Insbesondere die Rechtsprechung
hat - der Staatssekretär hat darauf hingewiesen - über
die Generalklausel des § 573 BGB einige Lösungen entwickelt.
Sie hat dabei allerdings auch deutlich gemacht, dass
eine Kündigung durch den Vermieter wegen der sozialen
Bedeutung der Wohnung für den Mieter als Lebensmittelpunkt nur bei einem Interesse von einigem Gewicht in
Betracht kommt. Ich halte das für ebenso richtig wie den
Grundsatz für vernünftig, die hier zur Diskussion stehende Problematik nicht durch ein pauschales Sonderkündigungsrecht, sondern weiterhin über die bereits
bestehenden Möglichkeiten im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung zu lösen.
Ein pauschales Sonderkündigungsrecht würde meiner Auffassung nach einfach zu weit gehen. Es würde
nicht nur die Fälle in Leipzig und in Chemnitz betreffen,
die Sie im Auge haben, sondern auch die schönen Gegenden in München. Zumindest in diesen Bereichen
könnte es zu Missbrauch führen. Sich einfach auf einen
überwiegenden Leerstand eines Gebäudes und eine entsprechende städtebauliche Planung zurückzuziehen
würde die Interessen der Mieter völlig außer Acht lassen.
Hat ein Mieter zum Beispiel im umgekehrten Fall ein
berechtigtes Interesse an einer Kündigung, zum Beispiel
weil er berufsbedingt umziehen muss, gibt es für ihn
kein pauschales Sonderkündigungsrecht wegen Umzugs.
Es erfolgt vielmehr auch hier eine Lösung über die bereits bestehenden Regelungen.
Problematisch ist zudem, dass der Bundesrat einige
auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe verwendet. So
stellt sich die Frage, was unter einem „überwiegenden
Leerstand“ zu verstehen ist. Liegt er möglicherweise
schon bei 51 Prozent? Damit würde das Sonderkündigungsrecht aber weit über die bisher von der Rechtsprechung akzeptierten Fälle hinausgehen.
Man fragt sich auch, inwieweit hiernach noch ein Verschulden des Vermieters an dieser Situation eine Rolle
spielen würde. Bezeichnenderweise heißt es in der Begründung des Bundesratsentwurfs - ich zitiere -:
Auch die von den Gerichten in diesem Zusammenhang getätigte Einschränkung, die Situation dürfe
nicht das Ergebnis des Verhaltens der Vermieter
sein, … entspricht nicht den aktuellen Bedürfnissen
der Wohnungswirtschaft.
Das mag vielleicht zutreffen, aber ich halte diese Begründung schlichtweg für eine Frechheit. Von Ausgewogenheit der unterschiedlichen Mietparteieninteressen
gibt es keine Spur mehr.
({1})
Das muss man sich einmal verdeutlichen. Offenbar soll
eine Abrisskündigung selbst dann möglich sein, wenn
der Vermieter den Leerstand zu verschulden hat. Das
kann aber doch nun niemand ernsthaft wollen.
Ich erinnere zudem daran, dass wir erst vor gar nicht
langer Zeit hier über die Aufhebung der in den neuen
Ländern geltenden Sonderregelung zur Verwertungskündigung debattierten. Das ist bereits angesprochen
worden. Diese war bis dahin dort aufgrund des nach der
Wiedervereinigung herrschenden Wohnraummangels
und der befürchteten Verdrängung von Mietern verboten.
Als Hauptargument für die Aufhebung dieser Sonderregelung - der Staatssekretär Hartenbach weiß das wurden stets die Leerstandsproblematik im Osten und
das stringente Bedürfnis nach Kündigungsmöglichkeiten
zum Zweck des Gebäudeabrisses genannt. Das war seinerzeit das Hauptargument in der Debatte. Auch die
Kollegen Wanderwitz von der CDU und Günther von
der FDP argumentierten damals so.
Wir sind dem nachgekommen und haben diese Sonderregelung gemeinsam aufgehoben.
({2})
- Sie sagen, sie bringt nichts. Diese Regelung gilt seit
sechs Wochen. Wie können Sie nach sechs Wochen beurteilen, ob diese Regelung etwas bringt oder nicht? Das
ist doch unmöglich.
({3})
Insoweit stellt sich für mich die Frage, wieso dies alles
nun plötzlich nicht mehr ausreichen soll. Wenn eine gewisse Evaluierung stattgefunden hat, kann man vielleicht darüber reden, aber nach sechs Wochen können
wir doch noch gar nichts dazu sagen.
Der Bundesgerichtshof hat im Übrigen zwischenzeitlich eine weitere Grundsatzentscheidung zu dieser
Thematik getroffen; der Herr Minister hat sie schon angesprochen. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom März dieses Jahres steht nunmehr für
die Rechtsprechung fest, dass der Abriss von Wohnraum
mit Ersatz als Verwertung im Sinne von § 573 Abs. 2
Nr. 3 BGB anzusehen und der ersatzlose Abriss weiterhin über die Generalklausel des § 573 Abs. 1 BGB zu regeln ist. Das gibt ein Stück Rechtssicherheit.
Da der Gesetzentwurf des Bundesrates hierauf überhaupt nicht eingeht, würde der neue Kündigungsgrund
insbesondere über die Grundsätze der sonstigen Verwertungskündigung weit hinausgehen. Aus diesen Gründen
- das kann ich Ihnen jetzt schon sagen - werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Ich kann meinen Kollegen nur empfehlen, den Bürgern in ihrem Bundesland deutlich zu machen, welch
„ausgewogene“ Mietpolitik Sie betreiben.
Ich danke Ihnen.
({4})
Der Kollege Rainer Funke hat seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben.1) Damit kann ich die Aussprache schlie-
ßen.
1) Anlage 8
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 15/2951 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 17 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital
- Drucksache 15/3189 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von Wagniskapitalgesellschaften
- Drucksache 15/1405 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 15/3336 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Die Kollegen Hilsberg, Fahrenschon, Scheel und
Thiele haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll
geben zu können. Sie sind damit einverstanden?2) -
Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung von Wagnis-
kapital. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei-
ner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 15/3336,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/
CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit dem soeben festgestellten Stimmenverhältnis ange-
nommen worden.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf zur Besteuerung von Wagniskapitalge-
sellschaften: Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
2) Anlage 9
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP und bei Enthaltung
der CDU/CSU abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({3}) zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen
Post AG zur Erbringung bestimmter Post-
dienstleistungen
- Drucksachen 15/3186, 15/3337 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singhammer
Die Kollegen Barthel, Singhammer, Klöckner,
Hustedt und Funke haben gebeten, ihre Reden zu Pro-
tokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie einverstanden? - Das
ist der Fall.
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Arbeit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
über die Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen
Post AG zur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen, Drucksache 15/3186. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in
Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig
angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Rainer
Brüderle, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Errichtung einer „MagnusHirschfeld-Stiftung“
- Drucksache 15/473 ({4})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({5})
- Drucksache 15/3345 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Bätzing
Irmingard Schewe-Gerigk
1) Anlage 10
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/3361 Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Hagedorn
Antje Tillmann
Antje Hermenau
Otto Fricke
Es ist vereinbart, dass anstelle des Berichts gemäß
§ 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ der genannte
Gesetzentwurf jetzt abschließend beraten werden soll, da
inzwischen die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Familien, Senioren, Frauen und Jugend vorliegt. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Sabine Bätzing.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Errichtung einer „Magnus-HirschfeldStiftung“ ist kein neues Thema.
({0})
Ich möchte auch gleich zu Beginn meiner Rede festhalten, dass deren Errichtung keine Erfindung der FDP ist.
Dieser Gesetzentwurf trägt eine rot-grüne Handschrift
und keine gelb-blaue.
({1})
- Frau Lenke, hören Sie zu, dann wissen Sie gleich, warum wir nicht zustimmen werden!
Ich möchte daran erinnern: Wir haben in der letzten
Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Errichtung
einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ eingebracht. Leider
wollte sich uns damals die Opposition nicht anschließen.
({2})
Die CDU/CSU stimmte gegen den Entwurf. Die Kolleginnen und Kollegen von der FDP enthielten sich.
({3})
- Hören Sie mir doch bitte zu!
({4})
Der Bundesrat erhob Einspruch, sodass der Entwurf auf
die lange Bank geschoben wurde und der Diskontinuität
unterfiel.
Zu Ihrem Agieren hier, meine Damen und Herren von
der Opposition, fällt einem leider nur der harte Begriff
Populismus ein.
({5})
Sie schreiben nicht nur unseren Gesetzentwurf ab, sondern Sie haben damals leider auch unser Angebot, den
Entwurf gemeinsam einzubringen, abgelehnt. In der Opposition lassen sich leicht Forderungen stellen. Jetzt
wollen Sie die Regenbogenfahne vor sich herwehen lassen
({6})
und den nötigen Wind dafür haben Sie schon gemacht.
Aber so kann man keine solide und verantwortungsvolle
Politik machen.
({7})
Es wird offensichtlich, dass es Ihnen hier nur um die
eigene Profilierung geht. Die Ernsthaftigkeit, die der Errichtung der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ zugrunde
liegt, scheinen Sie völlig außer Acht zu lassen.
Wir wollen jetzt nicht zwischen meinem und deinem
Gesetz unterscheiden, denn wir sind uns der Bedeutung
dieses Themas bewusst. Es geht uns auch nicht darum,
uns davonzustehlen. Wir stehen zu den Zielen der
„Magnus-Hirschfeld-Stiftung“
({8})
und begrüßen sie ausdrücklich. Auch das haben wir bereits in der ersten Lesung zu diesem Gesetzentwurf deutlich gemacht.
({9})
An dieser Stelle jetzt davon zu sprechen, dass homosexuelle NS-Opfer bei Rot-Grün unter die Räder kommen,
({10})
wie es in einer Pressemitteilung des Kollegen Gehb von
der Union heißt - der jetzt leider nicht mehr hier ist -, ist
schlicht falsch.
({11})
Dem einstimmigen Beschluss des Deutschen Bundestages vom Dezember 2000 haben wir zahlreiche Taten folgen lassen. So war es nämlich die Bundesregierung, die
im Bereich der Wiedergutmachung und Entschädigung
von NS-Unrecht einen Schwerpunkt ihres Handelns gesetzt hat und auch in der Koalitionsvereinbarung die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern als fortlaufende Verpflichtung ansah.
Darüber hinaus sind im Bundesentschädigungsgesetz
und im Allgemeinen Kriegsgefangenengesetz ebenfalls
zahlreiche Verbesserungen erfolgt, die die Haltung der
Bundesregierung nachdrücklich untermauern. Von daher
müssen wir uns von Ihnen keine Lehrstunde erteilen lassen,
({12})
wenn es darum geht, die Verbrechen der Nazidiktatur als
Unrecht anzuerkennen und, sofern das überhaupt möglich ist, auszugleichen.
({13})
Die Rede, die der Kollege van Essen bei der ersten
Lesung für die FDP-Fraktion gehalten hat, hat mir außerordentlich gut gefallen.
({14})
Ich möchte, wenn Sie, Frau Präsidentin, mir das erlauben, daraus zitieren:
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich daher entschlossen, die Initiative erneut in den Bundestag
einzubringen und
- jetzt wird es interessant zu einer Zeit zu beraten, die nicht geprägt ist von
den lauten Tönen des Wahlkampfs.
Das habe ich dem Kollegen van Essen so auch abgenommen. Seine Fraktionskolleginnen und Fraktionskollegen
scheinen aber nicht viel von den leisen Tönen, die dieses
ernste und wichtige Thema begleiten sollten, zu halten.
({15})
Denn am 26. Juni, also am nächsten Wochenende, lädt
der CSD ein, nach Berlin zu kommen, um für eine
gleichberechtigte und vielfältige Gesellschaft zu demonstrieren.
({16})
Vielleicht erklärt ja dieses Datum, warum die FDP-Fraktion nun versucht hat, auf eine Abstimmung zu drängen
und uns in die Enge zu treiben.
({17})
Aber diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland sagt in seiner
Pressemitteilung von gestern, die Stiftungsfrage sei nicht
prioritär und sie werde auch auf dem CSD nicht thematisiert. Diese Presseerklärung wurde gestern veröffentlicht.
({18})
Dem stimme ich nicht zu;
({19})
denn die Stiftungsfrage ist für uns - ich habe es vorhin
erklärt - von großer Bedeutung.
({20})
Der LSVD sagt weiter: Andere Themen wie das Lebenspartnerschaftsgesetz und die Antidiskriminierungspolitik seien wichtig.
({21})
Hier gebe ich ihm Recht. Wir legen Eckpunkte zu beiden
Themenbereichen vor, die sich in den Gesetzentwürfen
auch wiederfinden werden. Hier, meine sehr geehrten
Damen und Herren, bin ich auf Ihre Unterstützung gespannt.
({22})
Denn es geht darum, Toleranz und Akzeptanz in unserer
Gesellschaft zu etablieren.
({23})
Ich habe jetzt mehrfach dargelegt, dass wir den Inhalt,
Sinn und Zweck der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ ausdrücklich begrüßen. Jedoch müssen wir, anders als vielleicht die Opposition, auch der finanzpolitischen Realität
ins Auge sehen, die derzeit keine Finanzierung der Stiftung erlaubt. Frau Lenke bezeichnet unsere Bedenken
bezüglich der Finanzierung als „heuchlerisch“.
({24})
Frau Lenke, heuchlerisch wäre meines Erachtens eine
positive Beschlussfassung zur „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“, wohl wissend, dass die finanziellen Mittel nicht
zur Verfügung stehen. Denn das wäre Augenwischerei,
verantwortungslos und der Bedeutung dieses Themas
nicht angemessen.
({25})
Gleiches gilt auch für die Herabsetzung des Stiftungskapitals. Das wäre reine Kosmetik.
({26})
Wir haben Ihnen mehrfach erklärt - Kollege Gehb hat
das auch auf seine schriftliche Anfrage an Staatssekretär
Diller vom 21. Mai als Antwort bekommen -, dass im
Haushalt derzeit kein Geld für die Stiftung bereitgestellt
werden kann und dass auch für das Jahr 2005 keine Mittel eingeplant werden können. Von daher ist Ihr Vorhaben, die Stiftung erst 2005 zu errichten, ebenfalls nichts
anderes als Kosmetik.
Ich komme zum Schluss. Im Sinne einer verantwortlichen Politik und ohne Augenwischerei können wir uns
daher leider nicht anders entscheiden, als den Gesetzentwurf der FDP schweren Herzens abzulehnen. Meine sehr
geehrten Damen und Herren, Sie haben uns zu der heutigen Abstimmung gedrängt.
({27})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit?
Ja. - Wir hatten Ihnen eine Einigung angeboten. Aber
Sie haben sich für einen Alleingang entschieden.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaela Noll.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Entschuldigen Sie, wenn ich einmal kurz
sage: Frau Kollegin Bätzing, das, was Sie gerade von
sich gegeben haben, war eine glatte Unverschämtheit.
({0})
Wer im letzten halben Jahr verfolgt hat, wie bei uns im
Ausschuss die Beratungen stattgefunden haben - nämlich gar nicht, weil Sie die Behandlung des Themas permanent vertagt haben, den Punkt von der Tagesordnung
heruntergenommen haben, es zu keinem Berichterstattergespräch kam -, wird verstehen, wenn ich sage, dass
ich mittlerweile, gelinde gesagt, einen dicken Hals bekomme.
({1})
Das Schöne an den Plenarprotokollen ist ja, dass man
hinterher noch einmal alles nachlesen kann. Was Sie
heute sagen - dass Sie es mit der Haushaltslage nicht
vereinbaren können, weil die Gelder nicht da sind -, das
haben Sie uns letztes Mal vorgehalten bzw. Ihr Kollege
Volker Beck. Er sagte:
Die CDU hat dagegen gestimmt. Im Klartext heißt
das doch: Die Union will die Stiftung gar nicht. Ich
habe den Eindruck, sie will sich aus dem Konsens
vom Dezember 2000 stehlen.
({2})
Um das zu bemänteln, bauen Sie eine wüste Vorwurfskulisse auf.
({3})
- Sie sagten, dass die Errichtung der Stiftung mit der
Haushaltslage angeblich nicht vereinbar ist. Das heißt,
was Sie heute als Rechtfertigung benutzen, haben Sie
uns einmal vorgeworfen! Das ist Ihre Unehrlichkeit.
({4})
Es ging schlichtweg nur um die Besetzung des Kuratoriums; Sie wissen ganz genau, welche Interessen da im
Vordergrund stehen. Also seien Sie doch ehrlich!
({5})
Bevor ich jetzt zu dem Gesetzentwurf komme - dem
eigentlichen Gegenstand -, müssen wir hier einmal festhalten, dass wir es erst vor zehn Jahren geschafft haben,
die letzten Reste dieses § 175 aus dem Strafgesetzbuch
zu entfernen. Damit war endlich Schluss mit der Verfolgung Homosexueller, die es schon seit dem Mittelalter
gibt. Wir haben viel davon verdrängt und vieles davon
ist vergessen worden. Es war gerade Magnus Hirschfeld,
der sich für diese Gruppe eingesetzt hat, der dieses Komitee gegründet hat und auch als Erster eine Petition für
die Streichung des § 175 eingereicht hat.
Sie wissen, was 1933 stattgefunden hat, in welcher
Situation die Homosexuellen sich befanden. Sie sind unterdrückt worden, es gab gesellschaftliche Ächtung, es
gab Kastrationen. Es ging bis hin zur Verschleppung in
Konzentrationslager. Unerbittlich wurde gegen die Menschen vorgegangen. Sie wurden verachtet, verfolgt und
psychisch gebrochen. Wenn Sie sich dann hinstellen und
auf diese Art und Weise argumentieren, finde ich das
mehr als menschenunwürdig.
({6})
50 000 Menschen waren Opfer dieser Verfolgungen und
nur eine kleine Minderheit hat überlebt.
({7})
- Nein, das ist nicht überzogen. Es geht hier nämlich um
die Opfer.
Das Schöne an der ganzen Sache, die Sie uns hier gerade vorhalten, ist, Sie haben Ihre Pressemitteilung, ich
habe meine Pressemitteilung und die halte ich Ihnen
gleich vor; dann sehen Sie einmal die andere Sichtweise.
Unser Bestreben ist nach wie vor, dass diese Menschen
eben nicht vergessen werden. Wir sind deswegen ausgesprochen traurig, dass es wieder nicht gelingen wird, die
Stiftung zu errichten.
({8})
- Nein, das war damals so und das ist heute so.
Wir sind damals gemeinsam gestartet, mit einem einstimmigen Bundestagsbeschluss. Diese Chance haben
Sie wieder nicht genutzt. Die FDP-Fraktion ist jetzt aktiv
geworden, weil Sie, wie gesagt, keinen eigenen Gesetzentwurf eingebracht haben. Deswegen kann ich Frau
Lenke und Herrn van Essen nur danken. Ich hätte mir
natürlich schon sehr gewünscht, dass wir einen gemeinsamen Gesetzentwurf eingebracht hätten.
({9})
- Das hätte geklappt.
Wir unterstützen den Gesetzentwurf, weil wir zu dem
einstimmigen Beschluss des Bundestages stehen. Ich
kann Ihnen nur eines sagen: Tun Sie mir einen Gefallen,
bevor Sie hier groß kritisieren -
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dem Thema
sollte man sich verständigen können. Ich glaube, das ist
wichtig genug. Deswegen bitte ich, die Kollegin in Ruhe
sprechen zu lassen. Es ist ja nicht so einfach, wenn man
ständig unterbrochen wird.
({0})
Es ist nur so: Ich habe im Ausschuss wirklich permanent versucht, Berichterstattergespräche zu führen. Ich
bin ja hier nicht alleine. Frau Kollegin Lenke kann bestätigen, dass die Behandlung des Themas immer wieder
vertagt worden ist und von der Tagesordnung heruntergenommen wurde. Deswegen fühle ich mich persönlich
betroffen, wenn Sie sich jetzt hinstellen und sagen, die
Errichtung der Stiftung sei an uns gescheitert. Das ist
einfach gelogen.
({0})
Allen Leuten, die Interesse an der Sache haben,
kann ich nur empfehlen, die Beschlussempfehlung und
den Bericht zum Gesetzentwurf der FDP, Drucksache 15/473, zu lesen. Dort steht unter Nr. 2, wie die
Beratungen vonstatten gegangen sind. Offenkundig haben Sie uns erstens hingehalten und zweitens haben Sie
die Beratung verzögert.
Bis Mittwoch hatte ich wirklich die Hoffnung, dass
wir es in einem gemeinsamen Gespräch schaffen könnten, etwas gemeinsam auf den Weg zu bringen. Eine Diskussion unter den Berichterstattern war aber offensichtlich nicht erwünscht. Sie wissen ja, wie es am Mittwoch
ausgegangen ist. Sie haben dagegen gestimmt. Damit ist
Rot-Grün der historischen Verantwortung nicht gerecht
geworden. Das sehe nicht nur ich so.
({1})
Jetzt kommen wir zu dem für Sie vielleicht unangenehmen Teil. Ihre
Verweigerungshaltung kann zu einem Vertun der
einmaligen Chance führen, endlich ein angemessenes Andenken an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus zu schaffen … Jedes weitere taktische Verzögern mit Hinnahme des Risikos des
parlamentarischen Scheiterns ist eine Schande im
Angesicht der Verfolgung und Ermordung der Lesben und Schwulen durch das Naziregime.
Dieses Zitat stammt nicht von mir, sondern aus dem Arbeitskreis „Lesben und Schwule in der SPD“.
({2})
Gleich lautend ist auch die Pressemitteilung des
„Aktionsbündnisses Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ von
heute; auch das halte ich Ihnen gerne vor
({3})
- aber die, die auf den Tribünen sitzen, haben sie vielleicht noch nicht gelesen -:
Keine Lobby bei Rot-Grün: Konfliktentschädigung
für homosexuelle NS-Opfer wird verweigert. Sie
sind entsetzt. Es ist gescheitert. Es ist ein Schlag ins
Gesicht aller Menschen. Die warmen Worte des
Deutschen Bundestages bleiben hohl, wenn keine
Taten folgen. Auf Untaten wie die heutige Ablehnung kann dagegen verzichtet werden.
Mein Fazit in der Sache lautet, dass auch hier gilt:
Versprochen - gebrochen. Wer sich auf Rot-Grün verlässt, der ist verlassen.
({4})
Das Worte hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Bätzing, dass Sie sich als junge Abgeordnete hier dafür
hergeben, für die SPD-Fraktion eine solche Erklärung
abzugeben, tut mir wirklich sehr Leid.
({0})
Zunächst sagten Sie, wir hätten Sie gedrängt. Sie wissen ganz genau, dass dieser Antrag seit dem 19. Februar
2003 hier zur Entscheidung vorliegt. Und da reden Sie
von Drängen! Frau Bätzing, wir haben mindestens vier
oder fünf Berichterstattergespräche geführt.
Ihr Hauptpunkt sind die Finanzen.
({1})
Sie hätten heute hierher kommen, einen Änderungsantrag vorlegen und sagen können, dass Sie die Mittel auf
die doppelte Zeit strecken. Auch dann wäre es heute zur
Stiftung gekommen. Wenn Sie allerdings kein Geld ausgeben wollen, dann ist klar, dass Sie heute mit Nein
stimmen. Das ist das Ergebnis.
({2})
Hier geht es um eine Stiftung für die während des
Dritten Reiches verfolgten Homosexuellen. Dabei handelt es sich um ein typisches nationalsozialistisches
Unrecht. Es sollte ein Denkmal gesetzt werden. Die
Beschlüsse in der letzten Legislaturperiode waren einstimmig. Vor zwei Jahren hat Volker Beck zusammen
mit den anderen Grünen die Errichtung dieser „MagnusHirschfeld-Stiftung“ in letzter Minute verhindert. Sie ist
an den überzogenen Maximalanforderungen der Grünen
gescheitert.
({3})
Folgendes ist ganz wichtig: Wir haben Änderungen in
dem Gesetzentwurf vorgenommen. All diese Änderungen sind dergestalt, dass Sie ihnen hätten zustimmen
können.
({4})
Ich sage Ihnen: Bündnis 90/Die Grünen hat eine Einigung ganz bewusst verhindert, weil es einseitige Verbandsinteressen rücksichtslos - das sage ich hier im
Deutschen Bundestag ganz deutlich - über das Gemeinwohl stellt. Diese Dinge hätte ich von den Grünen nie
und nimmer erwartet.
({5})
Heute sind es nicht nur die Grünen, die die Zustimmung
zu dieser Stiftung unmöglich gemacht haben, auch Frau
Bätzing und die SPD haben daran ihren Anteil.
Ich will Ihnen nur sagen: Wir hätten alles möglich
machen können, um hier einen gemeinsamen Antrag zu
stricken. Sie haben sich total verweigert. Es wäre nicht
an der Erfüllung irgendwelcher Forderungen von Ihnen
als Voraussetzung für eine Einigung gescheitert. Sie haben es hier zum Break kommen lassen. Daran sehe ich,
dass die Errichtung der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ in
dieser Legislaturperiode bedauerlicherweise an RotGrün gescheitert ist.
({6})
Ich will Ihnen noch eines sagen, weil Sie darauf hingewiesen haben, was Sie alles getan haben: Sie wissen
ganz genau, dass durch die „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ überhaupt nichts an der individuellen Entschädigung geändert worden wäre; denn die Ansprüche aus
dem Allgemeinen Kriegsgefangenengesetz, aus den
dazu ergangenen Härterichtlinien und aufgrund anderer
Vorschriften bleiben von dem kollektiven Ausgleich
durch die Errichtung der Stiftung unberührt. Man kann
es schon gar nicht mehr glauben. Frau Bätzing, in der
Anhörung des Rechtsausschusses im Juni 2002 ist das
bestätigt worden.
Frau Bätzing, all Ihre Argumente, die Sie gegen die
Zustimmung für diese Stiftung vorgebracht haben, habe
ich im Deutschen Bundestag entkräftet.
({7})
Es ist kein Argument mehr übrig geblieben, welches gegen die Zustimmung zu diesem Gesetz spricht.
Frau Kollegin Lenke.
Ich muss sagen: In unserer demokratischen Gesellschaft, also natürlich auch hier im Parlament, habe ich
immer Hochachtung vor traditionellen linken Ideen gehabt. Diese Ideen haben die beiden Fraktionen SPD und
Grüne heute im Deutschen Bundestag verraten.
({0})
Die Abgeordneten Schewe-Gerigk und Johannes
Kahrs haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll ge-
ben zu können.1)
({0})
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
schließe ich damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 15/473 zur Errichtung einer „Magnus-HirschfeldStiftung“. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung,
den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/2989 ({1})
1) Anlage 11
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({2})
- Drucksache 15/3257 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Brunnhuber
Die Abgeordneten Beckmeyer, Brunnhuber, Blank,
Hettlich, Friedrich und die Parlamentarische Staats-
sekretärin Mertens haben gebeten, ihre Reden zu Pro-
tokoll geben zu können.2) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf
Drucksache 15/3257, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit - trotz der heftigen Debatte eben - am
Ende doch noch einstimmig angenommen worden.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 30. Juni 2004, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.