Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Ich bitte Sie, sich zu erheben.
({0})
Heute vor 51 Jahren protestierten in Ostberlin und in der
DDR mutige Männer und Frauen gegen schlechte Arbeitsbedingungen, gegen Misswirtschaft und die Erhöhung der Arbeitsnormen, also gegen eine indirekte Senkung der Löhne durch die SED-Führung. Doch das
waren nur die Anlässe für Massenproteste, die spontan
das ganze Land erfassten und nicht mehr und nicht weniger forderten als Demokratie, politische Freiheit, gleiche
Rechte für alle. Schon damals wurde vielen Menschen
klar, dass diese politischen Ziele nur unter der Bedingung der deutschen Einheit zu erreichen sein werden.
Dieser Aufstand hat viele Opfer gekostet: Für die einen
wurde jede berufliche Zukunft abgeschnitten, andere
mussten jahrelang ins Gefängnis, viele, zu viele bezahlten mit ihrem Leben für ihre Sehnsucht nach Freiheit,
Gerechtigkeit und Einheit. Wir gedenken der Opfer des
17. Juni 1953.
Erst seit die deutsche Einheit 36 Jahre später von einer anderen Generation Ostdeutscher erreicht worden
ist, die dieselbe Sehnsucht, dieselben politischen Ziele
hatten, werden wir den Menschen, die diesen Aufstand
gewagt haben, wirklich gerecht. Sie waren geistige und
politische Vorgänger und mutige Vorbilder der Bürgerbewegung des Herbstes von 1989. Sie lehren uns, dass
Freiheit und Demokratie nicht von selbst entstehen, sondern erkämpft werden müssen, dass Freiheit und Demokratie die Prinzipien politischer Ordnung sind, die mehr
als alle anderen dem Menschen gemäß sind. Und sie lehren uns hoffentlich auch, dass Freiheit und Demokratie
keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern immer wieder neu des Engagements bedürfen, immer wieder neu
gelernt und verteidigt werden müssen. Auch deshalb
wollen wir die Männer und Frauen, die Helden und Opfer des 17. Juni 1953 nie vergessen. - Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir nun in die
Tagesordnung eintreten, möchte ich den beiden Kollegen Bernd Schmidbauer und Hans-Christian Ströbele
jeweils zu ihrem 65. Geburtstag sowie der Kollegin
Verena Wohlleben zu ihrem 60. Geburtstag nachträglich die besten Wünsche des Hauses aussprechen.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
1 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren
Wiederholungstaten durch Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 15/3146 ({2})
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
2 Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISESS 90/
DIE GRÜNEN: Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung ({4})
- Drucksache 15/3307 ({5})
3 Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb ({6})
- Drucksache 15/3308 ({7})
4 Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die
Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union ({8})
- Drucksache 15/3309 ({9})
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Heinen, Julia
Klöckner, Peter H. Carstensen ({10}), weiterer
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Über-, Fehlund Mangelernährung wirksam bekämpfen
- Drucksache 15/3310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({11})
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({12}), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Berufsausbildungsrechts
- Drucksache 15/3325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({14})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung
des Sozialgerichtsgesetzes ({15})
- Drucksache 15/3169 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Rechtsausschuss
({16})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Melde-
rechtsrahmengesetzes
- Drucksache 15/3305 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Statistiken ({17})
- Drucksache 15/3306 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Statistiken
- Drucksache 15/2416 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Wright,
Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, Albert
Schmidt ({20}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mehr
Sicherheit für Radfahrer - insbesondere Schutz vor
Unfällen mit LKW im Stadtverkehr
- Drucksache 15/3330 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
8 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({22})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({23}): Übersicht 7 über die dem Deut-
schen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem
Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/3334 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses ({24}) zu der Streitsache
vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 412/04
- Drucksache 15/3341 Berichterstattung:
Andreas Schmidt ({25})
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Steffen Kampeter, Bernhard Kaster, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ausweitung
der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung in Zeiten
knapper Kassen
- Drucksache 15/3311 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({26})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner ({27}), Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({28}), Thilo Hoppe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zum Gedenken an die Opfer des
Kolonialkrieges im damaligen Deutsch-Südwestafrika
- Drucksache 15/3329 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Förderung von Regional- und Minderheitensprachen in Deutschland
- Drucksache 15/3328 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({29})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
12 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bundesbericht Forschung 2004
- Drucksache 15/3300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({30})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({31}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Innovationsstrategie für Deutschland - Wissenschaft und Wirtschaft stärken
- Drucksache 15/3332 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({32})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Präsident Wolfgang Thierse
14 a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben
- Drucksache 15/2361 ({33})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble, Hartmut
Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes ({34})
- Drucksache 15/2649 ({35})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({36})
- Drucksache 15/3338 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann ({37})
Clemens Binninger
Ernst Burgbacher
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Innenausschusses ({38}) zu dem Antrag der Abgeordneten Clemens Binninger, Wolfgang Bosbach,
Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Mehr Sicherheit im Luftverkehr
- Drucksachen 15/747, 15/3338 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann ({39})
Clemens Binninger
Ernst Burgbacher
15 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
der nachträglichen Sicherungsverwahrung
- Drucksachen 15/2887, 15/2945 ({40})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut
Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 15/2576 ({41})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederholungstaten durch
Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 15/3146 ({42})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({43})
- Drucksache 15/3346 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Joachim Stünker
Dr. Jürgen Gehb
Dr. Norbert Röttgen
Jerzy Montag
Jörg van Essen
16 Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung
- Drucksache 15/904 ({44})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({45})
- Drucksache 15/3339 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Grasedieck
Georg Fahrenschon
Kerstin Andreae
Dr. Andreas Pinkwart
17 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von
Wagniskapital
- Drucksache 15/3189 ({46})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Besteuerung von
Wagniskapitalgesellschaften
- Drucksache 15/1405 ({47})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({48})
- Drucksache 15/3336 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Georg Fahrenschon
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Ferner sollen die Tagesordnungspunkte 12 a und b
- Gesamtstrategie für Südosteuropa - heute erst nach
Tagesordnungspunkt 20 sowie der Tagesordnungspunkt 26 - Güterkraftverkehrsgesetz - am Freitag als
letzter Tagesordnungspunkt beraten werden. Der Tagesordnungspunkt 28 - Futtermittelgesetz - soll ohne Debatte behandelt werden. Des Weiteren soll Tagesordnungspunkt 24 - Bundesanstalt für Immobilienaufgaben - abgesetzt werden.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 112. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner,
Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für einen
Helsinki-Prozess für den Nahen und Mittleren
Osten
- Drucksache 15/3207 überwiesen:
Auswärtiger Ausschuss ({49})
Sind Sie mit den genannten Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Präsident Wolfgang Thierse
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
3 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Eine neue Ernährungsbewegung für Deutschland
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Heinen, Julia Klöckner, Peter H. Carstensen
({50}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Über-, Fehl- und Mangelernährung wirksam
bekämpfen
- Drucksache 15/3310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({51})
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Zu der Regierungserklärung liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft, Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir geben in unserem Gesundheitssystem jährlich weit über
71 Milliarden Euro an Folgekosten für ernährungsmitbedingte Erkrankungen aus; so lauten die letzten Berechnungen. 71 Milliarden Euro pro Jahr - ich glaube,
das ist eine Zahl, die uns beeindruckt.
Es gibt noch andere Fakten, die einen beeindrucken
können. Eine britische Studie besagt zum Beispiel, dass
die heutige junge Generation die erste Generation sein
wird, die vor ihren Eltern stirbt. Ein dreijähriges Mädchen erlag einem Herzinfarkt infolge von Übergewicht.
Mit ihren drei Jahren wog sie 38 Kilogramm.
Wenn wir uns die Schuleingangsuntersuchungen anschauen, erkennen wir: Übergewicht und seine Folgen
sind ständig wachsende Probleme. Das sagen auch immer mehr Ärzte und Ärztinnen, die in diesem Bereich tätig sind.
Wir haben es an dieser Stelle tatsächlich mit einem ernährungs- und gesundheitspolitischen Problem mit dramatischen Auswirkungen zu tun. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit rund 1 Milliarde
Menschen übergewichtig ist. Das ist ein Sechstel der
Weltbevölkerung. Davon leiden mindestens 300 Millionen Menschen unter Fettleibigkeit, Adipositas. Die
WHO spricht von einer Epidemie, wohl wissend, dass es
sich hierbei nicht um etwas Ansteckendes handelt. Sie
sagt, dass sich unser Lebensstil so verändert hat, dass
sich Übergewicht und Fettleibigkeit wie eine Epidemie
auf der Welt ausbreiten. Wir alle wissen natürlich, dass
das nur der eine Teil des Problems ist. Der andere Teil
lautet, dass weltweit circa 840 Millionen Menschen an
Unterernährung leiden.
Schauen wir uns die USA an, die uns an dieser Stelle
einen leichten Wink geben, wohin die Entwicklung noch
gehen kann. In den USA betragen die Behandlungskosten für übergewichtige und fettleibige Menschen jährlich
rund 117 Milliarden US-Dollar. Es wird davon ausgegangen, dass Fettleibigkeit und Bewegungsmangel
schon 2005 das Rauchen als Todesursache Nummer eins
in den Statistiken der USA überholen wird.
In Westeuropa sterben jährlich schätzungsweise
200 000 Menschen an den Folgen von Fettleibigkeit. Die
Zahlen für Deutschland sind ebenso alarmierend. Die
neuesten Erhebungen des Robert-Koch-Instituts besagen, dass zwei Drittel der männlichen Bevölkerung und
gut die Hälfte der weiblichen Bevölkerung leicht bis
stark übergewichtig sind. Mindestens ein Drittel der gesamten Gesundheitskosten werden durch Krankheiten
verursacht, die durch Fehlernährung, Bewegungsmangel
und erhebliches Übergewicht beeinflusst werden. Das
muss man sich vor Augen halten: mindestens ein Drittel
der gesamten Gesundheitskosten.
Wenn wir das nicht ändern, werden wir die Kosten
des Gesundheitssystems nicht im Rahmen halten können. Bei ungebremstem Trend rechnen Experten damit,
dass in 40 Jahren jeder zweite Erwachsene adipös, also
fettleibig, ist. Das ist nicht zu finanzieren, ganz zu
schweigen von vielen anderen Fragen. Untersuchungen
aus den USA zeigen: Die Kosten für Arbeitsausfälle aufgrund ernährungsmitbedingter Krankheiten werden für
Unternehmen zu einem ernst zu nehmenden negativen
Wirtschaftsfaktor.
Mit diesem Problem muss sich dieses Haus beschäftigen, auch wenn nicht alle zuhören.
({0})
- Jetzt habe ich gemerkt, dass doch jemand zuhört. Ich
wollte nur wissen, ob dieses Problem auch in der CDU
erkannt wurde und jemanden interessiert.
({1})
- Nein, Herr Kauder, das würde ich nie wagen.
({2})
Es geht hier auch um schweres individuelles Leid.
Nach Aussagen von Kinder- und Jugendärzten hat sich
- das wurde bei Schuleingangsuntersuchungen festgeBundesministerin Renate Künast
stellt - die Zahl der Übergewichtigen in den letzten zehn
Jahren verdreifacht.
({3})
- Wir wissen schon aus der Debatte über den demographischen Wandel, dass manche manches, was klar auf
dem Tisch liegt, lange Zeit langweilig fanden. Das hindert die Bundesregierung aber nicht daran,
({4})
auf dieses Problem hinzuweisen und an einer Lösung zu
arbeiten.
({5})
Stellen Sie sich das vor: Bei den Schuleingangsuntersuchungen hat sich herausgestellt, dass sich die Zahl der
übergewichtigen Kinder verdreifacht hat. Jedes fünfte
Kind und jeder dritte Jugendliche ist übergewichtig.
Man muss mittlerweile feststellen, dass zwischen 7 und
8 Prozent der Kinder und Jugendlichen so übergewichtig
sind, dass es das Stadium der Krankheit erreicht hat und
von Kinderärzten als krankhaft bezeichnet wird. Mit diesem Punkt müssen wir uns befassen.
Verbunden sind damit schon bei Kindern und Jugendlichen Bluthochdruck, koronare Herzerkrankungen, orthopädische Erkrankungen und eine rasante Zunahme
von Diabetes Typ II. Wir alle wissen, was das für diese
Kinder heißt. Es bedeutet, dass das, was wir umgangssprachlich Altersdiabetes nennen, inzwischen immer
mehr junge Menschen betrifft. Das Leben gerät im
wahrsten Sinne des Wortes aus der Balance, so wie es
umgekehrt bei Ess-Brech-Sucht und Magersucht aus der
Balance gerät. Die Ursachen können biologischer, sozialer, psychologischer und kultureller Herkunft sein. Sie
alle - aber insbesondere der Lebensstil - spielen eine
Rolle. Es geht um die Situation im privaten und - wie in
der Schule - im öffentlichen Raum.
Immer mehr Kinder, die in die Schule kommen, haben auch aufgrund von Übergewicht motorische Defizite
und Koordinationsstörungen. Das ist ein Hinweis auf reduzierte Entwicklungschancen. Darüber hinaus laufen
diese Kinder Gefahr, ausgegrenzt zu werden.
Wir sagen: Gesunde Ernährung und Gesundheit sind
im Leben ein wichtiges Startkapital, unabhängig vom
Geldbeutel der Eltern. Sie sind auch eine wichtige Voraussetzung dafür, dass jedes Kind seine Möglichkeiten
und Chancen für Ausbildung und seinen weiteren Lebensweg nutzen kann.
Wir müssen auf einen Zusammenhang hinweisen, der
definitiv inakzeptabel ist, weshalb das Thema auch nicht
lustig ist oder an den Rand gedrängt werden darf: Es gibt
einen evidenten Zusammenhang zwischen Armut, Herkunft, Bildung und Übergewicht. Auf diese Fakten müssen wir unser Augenmerk richten, weil es nicht sein darf,
dass in Zukunft die Herkunft das Gewicht und damit die
Chancen dieser Kinder bestimmt.
({6})
Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Zahl
der übergewichtigen Kinder bei Migrantenfamilien
teilweise doppelt so hoch ist. Das heißt, wir haben es im
Augenblick mit einem besonderen Integrationsproblem
zu tun.
Wir wissen, dass Startchancen für alle eine Frage der
Gerechtigkeit sind. So vielfältig die Ursachen für Übergewicht sind, so vielfältig müssen auch die Gegenstrategien gestaltet werden. Hier sind alle gefragt: die Eltern,
die Schule, die öffentliche Hand, Unternehmer und die
Betroffenen. Wir müssen uns fragen: Was hat die Kinder
aus dem Gleichgewicht gebracht? Wie können wir Gerechtigkeit herstellen?
Es gibt vielfältige Ebenen. Eine Ebene sind die entsprechenden Daten. Wir haben in diesem Jahr eine neue
nationale Verzehrserhebung begonnen. Sie soll Grundlage für eine regelmäßige Ernährungsberichterstattung
sein. Das Robert-Koch-Institut führt zurzeit einen Kinder- und Jugend-Survey durch, der auch Auskunft über
das Ernährungs- und Bewegungsverhalten geben soll,
damit wir die notwendigen Daten erhalten. Diese Daten
werden wir später verwenden können, um zu diskutieren: Wie sehen die Lebensmittel von morgen aus? Wie
sollen verarbeitete Lebensmittel entwickelt werden, damit sie unserem Lebensstil angepasst werden? Dieser
sieht so aus, dass immer weniger Energie verbraucht
wird, während die Lebensmittel immer mehr Energie liefern.
Wir wissen: Wir müssen bei der Werbung ansetzen.
Gerade so genannte Kinderlebensmittel - in Wahrheit
sind es Süßigkeiten - enthalten zu viel Fett und zu viel
Zucker. Hier ist die Verantwortung der Wirtschaft gefragt, mit modernen Lebensmitteln den veränderten Lebensstilen gerecht zu werden. Wir brauchen strengere
Regeln für die Lebensmittelwerbung und die Lebensmittelkennzeichnung, das heißt Regeln für die nährwertund gesundheitsbezogenen Angaben über Lebensmittel.
Das werden wir in Brüssel weiter unterstützen.
({7})
In Bezug auf die Gerechtigkeit ist eines selbstverständlich: Wir müssen eine Strategie entwickeln, die auf
sämtliche Lebensbereiche der Kinder zielt und ihnen
Startchancen gibt. Wir brauchen selbstverständlich einen
internationalen Rahmen. Im Mai dieses Jahres haben die
Mitgliedstaaten der WHO den Aktionsplan „Globale
Strategie zur Ernährung, körperlichen Aktivität und Gesundheit“ verabschiedet. Unsere Maßnahmen entsprechen längst dieser globalen Strategie und werden es auch
in Zukunft tun.
Wir wissen: Prävention ist immer die beste Alternative und das Gebot der Stunde. Wir wissen: Der Lebensstil und unsere Kultur haben sich verändert. Fernsehen
und Computer dominieren die Freizeit unserer Kinder.
Wir wissen: Wenn heute Kinder im öffentlichen Raum
spielen, spielen sie nicht einfach draußen, sondern sie
befinden sich im Kindergarten, im Hort oder in der
Schule. Deshalb müssen Ernährung und Bewegung ein
Bestandteil dessen sein, was dort angeboten wird. Wir
wissen: Fundiertes Wissen über Nahrung, Gesundheit
und Ernährung muss zukünftig zum bildungspolitischen
Standard gehören. Dieses Wissen muss gesellschaftliche
Kernkompetenz sein, die entwickelt und gepflegt werden muss. Die Kinder sollen nicht nur Rechnen, Schreiben und Lesen lernen,
({8})
sondern auch wissen, wie sie ihr eigenes körperliches
Wohlbefinden organisieren.
({9})
Deshalb - Fachleute nennen das Setting-Ansätze - muss
bei der Ernährungsbildung tatsächlich alles einbezogen
werden: die sonstige Lebenswelt der Kinder, die Eltern
und die gesamten Einrichtungen.
({10})
Wir wissen: Der Umgang mit Lebensmitteln, die Zubereitung und gemeinsames Essen sind eine elementare
Kulturtechnik und ein gesellschaftlicher Wert. Dazu gehört, dass den Kindern die Beziehung zu den Lebensmitteln vermittelt wird, dass sie erfahren, wie Pflanzen
wachsen, welche Bedeutung Lebensmittel für das körperliche Wohlbefinden haben und wie man das Wohlbefinden erreicht.
Ich begrüße sehr, um es positiv zu formulieren, dass
die Kultus- und Jugendministerkonferenzen jetzt angefangen haben, sich mit dem Thema Bewegung und Ernährung zu beschäftigen.
({11})
Ich muss aber feststellen, dass das für sie noch ein langer
Weg ist.
({12})
- Sie sagen: „Aber, aber!“
({13})
- Schauen Sie sich die aktuellen Papiere dazu an!
({14})
Sie sagen, wir könnten uns diesem Thema nicht verweigern; aber Sie tippen es immer in einem Halbsatz an.
({15})
Sie machen sich viele Gedanken über die Frage, wie
man denn Schulen finanziert und wie das Essen in diesem Zusammenhang zu integrieren ist. Dass es aber eine
Frage der Gerechtigkeit ist, wenn in manchen Altersjahrgängen ein Viertel der Kinder übergewichtig ist - was
viele Folgeprobleme verursacht - und im Sportunterricht die Reihe derer, die auf der Bank sitzen und nicht
mitmachen, immer größer wird - das ist kein individuelles Problem -, das müssen Sie noch stärker berücksichtigen.
({16})
- Ich weiß, woher das kommt. Familien mit Migrationshintergrund haben es an dieser Stelle besonders schwer.
({17})
Das hat auch etwas mit der Integration im Zusammenhang mit der Zuwanderung zu tun. Diese Menschen erleben einen doppelten Kulturwandel, der darin besteht,
dass sie sich gleichzeitig in der deutschen Kultur und in
der insgesamt veränderten Lebenswelt zurechtfinden
müssen. Das heißt auch, dass nicht nur die Schulen, sondern auch Sportverbände und andere Einrichtungen
Konzepte entwickeln müssen, wie man diese Menschen
hier integriert und wie man dieses Problem angeht.
Wir wissen alle, dass das auch etwas mit Landwirtschaft zu tun hat. Wir müssen wieder vermitteln, dass
die gesündesten und besten Lebensmittel mit der besten
Energiebilanz, die ideal zu unserem Leben passen, unverarbeitet sind und direkt vom Lande kommen.
({18})
- Nein, jetzt meine ich, wie man auf Neudeutsch sagt:
„An apple per day keeps the doctor away.“ - Die Besonderheiten der Landwirtschaft und unserer Landschaften
können und müssen von Kindern konkret erfahren werden.
Wir haben als Bundesregierung in den letzten Jahren
viele Maßnahmen ergriffen, bei denen klar ist, dass wir
sie weiter verfestigen, fortführen und ausbauen werden.
Wir haben die Kampagne „Kinderleicht! - Besser Essen!
Mehr bewegen!“ zur Ernährungsaufklärung und für
mehr Bewegung initiiert. Im Rahmen dieser Kampagne
haben wir - weil die Länder gesagt haben, sie hätten
kein Geld und seien noch nicht so weit - 200 Fortbildungsveranstaltungen für Erzieherinnen und Erzieher ermöglicht, um diesen für ihre Erziehungsaufgaben das
Basiswissen zu vermitteln, das in der Erziehung sonst
nicht mehr weitergegeben wird.
({19})
- Es ist so. Alle diese Kurse waren ausgebucht.
Wir haben den Beratungsservice „Fit Kid“ für bessere
Ernährungsangebote in Kitas und den Deutschen Präventionspreis für vorbildhafte Projekte der Prävention
und Gesundheitsförderung eingeführt, an denen sich
auch wichtige Stiftungen beteiligen. In diesem Jahr werden unter dem Stichwort Prävention Maßnahmen zum
Thema Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung
prämiert, die sich speziell an Kinder und Jugendliche
richten.
Wir haben darüber hinaus mit dem Thema Gemeinschaftsverpflegung noch einen weiteren Ansatz verfolgt. Denn die Gemeinschaftsverpflegung nimmt zu
und sie löst bei manchen Kindern und Erwachsenen das
Problem erst aus. Deshalb beziehen wir in das 4-Milliarden-Euro-Programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“,
mit dem das Angebot an Ganztagsschulen in der Bundesrepublik erhöht werden soll, auch die Gemeinschaftsverpflegung mit ein, zum Beispiel wenn es darum geht,
die entsprechenden Küchen zu bauen.
Das ist aber noch nicht alles. Wir haben einen Anfang
gemacht und verfolgen es wegen der riesigen Nachfrage
auch weiter - wir haben es bereits im Haushalt
verankert -, indem wir allen Schulen, die bereits einen
Ganztagsbetrieb anbieten oder eine Ganztagsschule werden wollen, einen kostenlosen Beratungsservice über die
Deutsche Gesellschaft für Ernährung anbieten, damit sie
selbst das Thema Ernährung aufbereiten, sich entsprechend ausrüsten und lernen können, wie das Angebot gestaltet werden kann. Unser Angebot wird auch angenommen, weil das Problem an Schulen allgemein bekannt ist.
Das „Deutsche Forum Prävention und Gesundheitsförderung“ erarbeitet zurzeit sogar Empfehlungen
für gesundheitsförderliche Ganztagsschulen. Dieser Ansatz umfasst weit mehr als das Thema Ernährung. Wir
arbeiten an den notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen. Die Bundesregierung finanziert mit dem Modellvorhaben „Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen“ die Erarbeitung solcher Konzepte. Wir
finanzieren im Rahmen sozialökologischer Forschung
die Entwicklung von Strategien, die die subjektiven Faktoren einbeziehen, und wir haben einen weiteren Fokus,
und zwar die außerschulische Jugendbildung, in der wir
zahlreiche Projekte - zum Beispiel von sportorientierten
Jugendverbänden - unterstützen. Wie Sie alle wissen,
haben die wirklich dicken Kinder das Problem, dass es
für sie bisher kaum ein Angebot gibt. Wir brauchen in
der Bundesrepublik ein flächendeckendes Angebot, das
Sport, Soziales und Freizeit für diese Kinder miteinander
verbindet, um sie in entsprechenden Gruppen in der Bewältigung ihres Problems zu unterstützen.
Ich möchte beim Thema Ernährung eine Zielgruppe
ansprechen, die eine besondere Rolle spielt und sozusagen am anderen Ende des Lebens steht. Dabei handelt es
sich um die Seniorinnen und Senioren. Gesundheit ist
auch für sie ein zentrales Gut, um diese Phase ihres Lebens wohlverdient genießen zu können. Viele ältere
Menschen ernähren sich bekanntlich zu einseitig; sie
trinken zu wenig und sie bewegen sich zu wenig. Das ist
ein Problem, das - wenn sie sich nicht mehr selbst ernähren können - bei der Gemeinschaftsverpflegung in
Heimen und Krankenhäusern auftritt.
Wir wissen, dass zur Erhaltung der körperlichen und
geistigen Fitness im Alter eine angepasste Ernährungsweise unabdingbar ist, weil sich die Bedürfnisse des
Körpers massiv wandeln. Wie gravierend diese Folgen
sein können, wurde während der letzten Hitzeperiode
deutlich, als viele ältere Menschen mit folgenschweren
Kreislaufbeschwerden in Krankenhäuser eingeliefert
wurden. Deshalb haben wir die Kampagne „Fit im
Alter - Gesund essen, besser leben“ begonnen, bei der
sich die Bundesregierung gezielt an die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger wendet und bei der wir die entsprechenden Verbände mit einbeziehen, die ihrerseits
Handlungsbedarf festgestellt haben.
Wir haben mit der finanziellen Unterstützung von
Qualitätsstandards zur Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen auch den nötigen wissenschaftlichen Hintergrund entwickelt, um allen ambulanten und stationären Institutionen zu Hilfe zu kommen.
Ich habe jetzt viel darüber geredet, was wir begonnen
haben. Aber klar ist, dass Prävention gerade in diesem
Bereich definitiv nicht allein vom Staat getragen werden
kann. Sie muss vielmehr von der Gesellschaft gewollt
und gelebt werden. Die Gesellschaft muss verstehen
- ich erinnere daran -, dass sich seit den 80er-Jahren der
Lebensstil und das Lebensmittelangebot so verändert haben, dass uns im Jahr - mit steigender Tendenz 70 Milliarden Euro an Gesundheitskosten aufgebürdet
werden. Wenn wir wollen, dass es eine Veränderung der
Lebensgewohnheiten gibt, dann müssen wir bedenken,
dass das nicht von heute auf morgen zu erreichen ist.
Das ist vielmehr ein Prozess, der von vielen Schultern
getragen werden muss. Dazu brauchen wir ein breites
gesellschaftliches Bündnis mit dem ganzen Sachverstand, den wir in diesem Land haben.
Wir haben alle gesellschaftlichen Akteure zusammengeholt und bauen eine Plattform „Ernährung und Bewegung“. Ich hoffe, dass wir Ende dieses Monats mit
den entsprechenden Akteuren diese Gründung tatsächlich vorstellen werden. Wir haben die Verbände der Lebensmittelwirtschaft sowie die Vertretung der Eltern, des
Sports, der Kinderheilkunde bis hin zu den Gewerkschaften einbezogen. Auch Krankenkassen haben ihr Interesse bekundet. Wir wollen mit mehreren Ressorts und
selbstverständlich unter Einbeziehung der Länder hier
ein breites Bündnis hinbekommen, um dafür Sorge zu
tragen, dass das, was getan werden muss, nicht hier und
da, also in einzelnen Sektoren passiert, sondern dass es
flächendeckende Angebote gibt. In guten Kindergärten
und Schulen sollte es zum Standard gehören, Vorgaben
für gute Ernährung und Bildung zu entwickeln. Hier soll
aber niemand etwas doppelt oder dreifach machen. Wir
wollen das Wissen zusammenpacken und wollen, dass
dieses Thema für die Kinder - bis hin zur Freizeitgestaltung - adäquat aufbereitet wird, damit sich ein anderer
Ernährungsstil entwickeln kann.
({20})
- Wenn Sie möchten, dürfen auch Sie.
({21})
Wir wissen - ich hoffe, dass ich das hinreichend dargestellt habe -: Gute Ernährung entscheidet über die
Chancen eines Kindes und eines Jugendlichen im weiteren Leben. Wir sehen heute, dass gerade Kinder aus
sozial schwächeren Familien und Migrantenkinder hier
größte Probleme haben. Deshalb ist klar: Gute Ernährung ist eine der zentralen Fragen der Gerechtigkeit. Wir
dürfen nicht zulassen, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen Armut, Herkunft, Bildung und Übergewicht gibt; denn sonst haben viele jungen Menschen
schlechtere Chancen.
Deshalb kann ich nur alle auffordern - einige haben ja
schon danach gefragt -, an dieser Ernährungsbewegung
für Deutschland mitzuarbeiten. Ich glaube, wenn alle
mitmachen, dann können wir sagen: Hiermit legen wir
gemeinsam das Fundament für die Zukunft der nächsten
Generation.
({22})
Ich erteile das Wort Kollegin Ursula Heinen, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, es ist unzweifelhaft:
Ausgewogene Ernährung und Bewegung sind wichtige
Themen. Die Zahlen sind bereits genannt worden: Jeder
dritte Jugendliche und jedes fünfte Kind sind übergewichtig. Parallel dazu - das ist bei Ihnen leider etwas zu
kurz gekommen - nimmt auch die Zahl der mangel- und
der unterernährten Kinder oft aufgrund falscher Schönheitsideale zu. Deshalb muss das Thema „Ernährung
und gesunde Lebensführung“ in der Tat aufgegriffen
werden. Insofern haben Sie uns voll an Ihrer Seite und
wir unterstützen Sie.
Welches ist aber der richtige Weg?
({0})
Wo ist der richtige Ort für eine solche Debatte? Wann ist
der richtige Zeitpunkt für eine solche Debatte? - Sie haben uns heute keinen Gesetzentwurf präsentiert. Wir diskutieren auch nicht über ein herausragendes politisches
Ereignis, und das, obwohl Regierungserklärungen eigentlich eine bedeutende verfassungspolitische Verbindlichkeit zukommen sollte.
({1})
Wir befürworten zwar Ihre Initiative. Aber wir möchten, dass sie in einem vernünftigen Verhältnis zu anderen
Themen steht, dass auch über andere bedeutende Themen in angemessener Länge diskutiert werden kann.
({2})
Wir möchten vor allem, dass Sie die Rolle, die der Staat
beim Thema Ernährung einnehmen kann, ehrlich beschreiben. Wer Übergewicht hat, trägt auch selbst Verantwortung. Wenn ich zu dick bin, ist das meine Schuld
und nicht Ihre. Wenn ein Autofahrer zu schnell fährt,
trägt er selbst die Verantwortung. Wer raucht, trägt selbst
die Verantwortung. Wir können Schilder aufstellen und
vor den Folgen überhöhter Geschwindigkeit warnen.
Wir können Hinweise auf Zigarettenpackungen drucken.
Wir können Angaben über Fette, Salze und Kohlenhydrate auf Lebensmittelverpackungen drucken. Aber
der Staat oder das Parlament können dem Einzelnen
ebenso wenig das Rauchen abgewöhnen wie ihn zur Diät
zwingen. Wir können lediglich Hilfestellung geben. In
diesem Sinne begrüßen und unterstützen wir Ihre Initiative. Aber wir dürfen den Menschen nicht vorgaukeln,
wir nähmen ihnen den Entzug beim Rauchen oder die
Hungergefühle beim Diäten ab.
({3})
Dass Sie die gesamte Lebensmittelwirtschaft in einer
Plattform zusammengebunden haben, ist eine gute Leistung und wir begrüßen insbesondere das Engagement
der Unternehmen. Schade ist nur, dass Sie zunächst mit
einer Zwangsabgabe gedroht und diese in Ihre Überlegungen einbezogen hatten. Davon sollten Sie auch bei
zukünftigen Gesprächen und Verhandlungen Abstand
nehmen.
({4})
Gerade weil das Thema einer gesunden, ausgewogenen Ernährung und Lebensführung wichtig ist, gibt es einige Fragen, die wir hier besprechen müssen.
({5})
Erstens. Die Zahlen und Fakten zum Problem der
Über- und Fehlernährung sind seit einem Jahr der
Öffentlichkeit bekannt. Die Warnungen der WHO sind
ebenfalls seit einiger Zeit bekannt. Im letzten Sommer
haben Sie einen entsprechenden Kongress veranstaltet,
aber erst heute kommen Sie mit dieser Initiative ins Parlament. Ich hoffe nur, dass Sie das nicht tun, weil das ein
angenehmes, nettes, Sympathie schaffendes Thema ist,
das von den unangenehmen Themen Ihrer Koalition ablenkt.
({6})
Zweitens. Wir alle wissen, dass sich gesunde Ernährung nicht gesetzlich und schon gar nicht über den Bund
regeln lässt. Aber das Wenige, was der Bund tun kann,
muss er auch tun. Dazu gehört beispielsweise, die
Zuständigkeiten zu bündeln und zu koordinieren. Auch
hier stellt sich die Frage: Warum haben Sie das Initiativrecht, das Sie seit dieser Legislaturperiode besitzen,
nicht schon längst eingesetzt?
Aus unserer Kleinen Anfrage zum Übergewicht bei
Kindern und Jugendlichen, die meine Kollegin Julia
Klöckner initiiert hat, geht eindeutig hervor: Das Verbraucherschutz- sowie das Gesundheitsministerium, das
Bundesministerium für Bildung und Forschung und
selbst das Bundesumweltministerium legen Programme
zur Ernährungsaufklärung und Forschungsprogramme
zu diesem Thema auf.
({7})
Sowohl das Gesundheits- als auch das Verbraucherschutzministerium haben jeweils Millionenbeträge für
Aufklärungsmaßnahmen zur Ernährung vorgesehen. Das
ist doch ein klarer Hinweis auf Doppelstrukturen. Also
beantworten Sie uns die Frage: Wer macht denn nun eigentlich was?
({8})
Deshalb erwarten wir: Benennen Sie in der Bundesregierung trotz des Querschnittscharakters des Themas ein
eindeutig federführendes Ministerium! Nehmen Sie eine
klare Aufgabenteilung zwischen den Ministerien vor und
gewährleisten Sie, dass diese Aufgabenteilung auch tatsächlich durchgehalten wird! Doppelarbeiten kosten nur
Geld,
({9})
und zwar Geld des Steuerzahlers, ohne irgendeinem Betroffenen tatsächlich zu nutzen.
({10})
Was in der Debatte bislang völlig zu kurz gekommen
ist und was auch Sie falsch dargestellt haben, sind die
Leistungen der Bundesländer. Nicht erst gestern sind
die Kultusminister bzw. die Länder - vielleicht die Kultusministerkonferenz - darauf gekommen, etwas zu tun.
Die Länder sind schon sehr, sehr lange an solchen Programmen beteiligt. Beispielsweise gibt es in BadenWürttemberg schon seit 1980 entsprechende Ernährungsprogramme in den Kindergärten, seit 1985 bereits
entsprechende Programme in den Schulen.
({11})
Thüringen führt seit 1994 ein spezielles Programm für
Kindertagesstätten durch. Lehrpläne sehen dort Unterrichtseinheiten zur Ernährung vor.
({12})
Alle zuständigen Länderministerien - ich rate Ihnen,
zuzuhören - stellen Jahr für Jahr sechsstellige Beträge
bereit, Sachsen beispielsweise 430 000 Euro jährlich, um
Projekte und Programme durchzuführen. Unterstützt
werden diese Bemühungen durch Initiativen der Landwirtschaftskammern und der Verbraucherzentralen, aber
eben auch durch die regionalen Landfrauen- und Landjugendverbände.
({13})
Das Rad, Frau Künast, müssen wir also wirklich nicht
neu erfinden. Ganz im Gegenteil, Sie mischen sich eventuell massiv in die Kompetenzen der Länder ein und gefährden damit unter Umständen - das sagt Ihnen auch
der Rechnungshof - das vorhandene Engagement der
Bundesländer.
({14})
Was ist also zu tun? Wir brauchen eine einheitliche
Strategie zur Bekämpfung der Über- und Fehlernährung. Dazu zählt, wie Sie bereits gesagt haben, die
Durchführung einer nationalen Verzehrstudie, die Aufschluss über Ernährungsgewohnheiten gibt. Aber achten
Sie auch darauf, dass diese Studie, die immerhin
2,3 Millionen Euro kostet, wissenschaftlich transparent
ist und wissenschaftlich begleitet wird.
Wir müssen darüber hinaus die Prävention in den Vordergrund der Strategie stellen. Dazu gehören in der Tat
die Bereitstellung von Material zur Ernährungsaufklärung für Schulen und Ärzte, die Förderung von Ernährungsberatung durch Kinderärzte usw. Aber auch hier ist
auf die wissenschaftliche Begleitung zu achten. Bei der
Kampagne „Kinder leicht“, die Sie vorhin erwähnt haben - dafür geben Sie immerhin ungefähr 1,85 Millionen
Euro aus -, sind alle Beteiligten über die Wirksamkeit
sehr im Zweifel, weil es eben an wissenschaftlicher Begleitung dieser Kampagne fehlt.
({15})
Das heißt, Sie wissen noch nicht einmal, ob die Broschüren und Materialien, die Sie Erziehern in Kindergärten
an die Hand geben, überhaupt wirken.
Wir wollen Bewegung und Sport bei Kindern und Jugendlichen in der Tat fördern. Mit den Ländern sollten
Möglichkeiten der Ausdehnung des Schulsports entwickelt werden. Zudem kann der Bau von Spiel- und
Sportstätten durch Änderung der Vorgaben beim Bauund Planungsrecht erleichtert werden.
({16})
Es gibt also eine ganze Reihe von Möglichkeiten,
etwas zu tun. Aber ich meine, dass Sie mit allen Beteiligten zusammenarbeiten sollten. Eine Plattform ist sicherlich ein richtiger Weg dorthin. Aber Sie dürfen dieses Thema nicht um der Show willen hier in den
Bundestag bringen, sondern nur dann, wenn Sie es mit
der Ernährung und mit der Bewegung unserer Kinder
und Jugendlichen tatsächlich ernst meinen.
Recht herzlichen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele
Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Krasser
können die Gegensätze nicht sein. Im Westsudan sterben
Kinder unter den Augen ihrer Mütter und Väter einen
schrecklichen Hungertod. In Schweden wird Eltern das
Sorgerecht entzogen, weil ihr fünfjähriges Kind mit
43 Kilogramm zu verfetten droht. Bilder von Krankheit
und Tod durch zu wenig Nahrung begleiten uns seit langem in den Medien. Doch jetzt werden auch die gegenteiligen Folgen von Fehlernährung immer sichtbarer.
Übergewicht ist zu einem gravierenden weltweiten Gesundheitsproblem geworden.
Wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Jeder Zweite
in unserem Land ist inzwischen zu dick. Da die Grundlagen für Fehlernährung und Übergewicht bereits in der
Kindheit gelegt werden, sind unsere Jüngsten besonders
hart betroffen; denn aus dicken Kindern werden in der
Regel dicke Erwachsene mit allen gesundheitlichen Risiken. Diese Risiken sind erheblich. Wenn wir nicht
schnellstens gegensteuern, werden uns unsere Kinder
immer seltener überleben. Dies ist ein ganz wichtiges
Thema und es muss uns auch hier, im Plenum, interessieren.
Ursachen des Dilemmas sind neben genetischer Veranlagung Fehlernährung und mangelnde Bewegung.
Nicht nur wir Erwachsene, auch unsere Kinder werden
immer träger. Sie toben weniger, schauen zu viel fern
und sitzen zu lange vor ihren Computern. Dieses Verhalten beginnt immer häufiger schon bei den ganz Kleinen.
Das bedrückende Fazit eines englischen Wissenschaftlers lautet: Unter Dreijährige sind inzwischen genauso
inaktiv wie Büroangestellte.
Welche Bevölkerungsschichten sind besonders betroffen? Übergewicht wird mehr und mehr zu einem Problem der armen Bevölkerungsschichten. Wer wenig
Geld hat, spart auch am Essen. Betroffene Familien ernähren sich in der Regel nicht ausgewogen. Sie essen zu
einseitig und zu fett. Die gesundheitlichen Auswirkungen dieses Verhaltens sind den Betroffenen in der Regel
nicht ausreichend bekannt. Übergewichtsprobleme nehmen in diesen gesellschaftlichen Schichten besonders
zu. Betroffen sind vor allem Kinder. Das lässt sich an
Schuleingangsuntersuchungen sehr deutlich aufzeigen.
Die Lebensperspektiven der Kinder aus ärmeren Haushalten sind durch die zunehmende Übergewichtsproblematik deutlich eingeschränkt. Krankheiten mit negativen
Auswirkungen auf das Berufsleben und sinkende Lebenserwartung sind vorprogrammiert.
Hier müssen wir dringend etwas tun. Das ist nicht nur
eine Frage der Gesundheit, sondern auch eine Frage von
sozialer Gerechtigkeit, der wir uns nicht entziehen dürfen.
({0})
Was können wir tun? Die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, hat Ende Mai einen Aktionsplan zur Zurückdrängung des Problems der Fehlernährung verabschiedet. Darin werden die Mitgliedstaaten aufgefordert,
umfassende Aktionen gegen das Problem des Übergewichts zu schmieden. Ich freue mich darüber, dass die
Bundesregierung dieser Initiative so prompt gefolgt ist
und Deutschland jetzt zu den ersten Staaten gehört, die
Ernst machen und eine neue Ernährungsbewegung in
Gang setzen.
({1})
Die Statistik zur Fettleibigkeit in Deutschland zeigt:
Wir brauchen in unserer Gesellschaft dringend konzertierte Aktionen für mehr Bewegung und eine gesündere Ernährung.
({2})
Die Fraktion der SPD begrüßt deshalb ausdrücklich die
Initiative der Bundesregierung, die wir mit dem von uns
vorliegenden Entschließungsantrag unterstützen.
Ich greife drei Punkte aus unserem Entschließungsantrag heraus:
Erste Forderung: Alle Verantwortlichen an einen
Tisch! Eltern, Ärzte, Kindergärten, Schulen, Krankenkassen, aber auch die Lebensmittelindustrie und die
Werbewirtschaft müssen gemeinsam ihren Beitrag zur
Lösung des Problems leisten. Niemand darf sich verweigern.
({3})
Zweite Forderung: Ressortübergreifende Vernetzung
in der Bundesregierung stärken!
({4})
Wir brauchen ressortübergreifende Strategien zur Prävention ernährungsbedingter Krankheiten.
Dritte Forderung: Kitas und Ganztagsschulen mit ausgewogenen Ernährungsangeboten ausstatten! Die von
uns angeschobene Ganztagsschulbewegung wird in unserer Gesellschaft zu mehr Chancengleichheit beitragen
und soziale Gerechtigkeit fördern. Ein ausgewogenes
Ernährungsangebot in Schulen und Kindertagesstätten
wird dazu beitragen, der Fehlernährung unserer Kinder
mit all ihren schlimmen Folgen entgegenzuwirken.
({5})
Auch die Oppositionsfraktionen haben Anträge vorgelegt.
({6})
In einigen Punkten sind wir nicht weit auseinander. Natürlich brauchen wir eine bessere Ernährungserziehung
in den Schulen und Kindertagesstätten. Natürlich wollen
auch wir die Forschung zur Ernährungsvorsorge intensivieren. Ganz klar: Das Verantwortungsbewusstsein von
Vätern und Müttern muss gestärkt werden.
({7})
- Ja, sicher doch! - Mehr Sportangebote sind notwendig.
Da hören die Übereinstimmungen aber auch schon auf.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, fordern die Bundesregierung auf, verstärkt auf
Eigeninitiative der Verbraucherinnen und Verbraucher,
Wettbewerb und Marktöffnung zu setzen
({8})
und - ich zitiere aus dem Entschließungsantrag der
FDP - „den eingeschlagenen Kurs der einseitigen politischen Steuerung des Konsums zu beenden“.
({9})
Sie lehnen Eingriffe in das Marktgeschehen und Werbeeinschränkungen kategorisch ab. Der Markt wird es
schon richten, meinen Sie. Tut er aber nicht, meine Damen und Herren!
({10})
In Bezug auf die Übergewichtsproblematik gibt es zurzeit nämlich überhaupt keine Markteinschränkungen.
({11})
Wir haben aber das Problem der Fehlernährung.
An dieser Stelle, meine Damen und Herren von der
FDP und der CDU/CSU, kommen Sie uns stets mit dem
mündigen Bürger, der selbst entscheiden könne, was für
ihn gut sei.
({12})
Doch die Kaufentscheidungen der Verbraucherinnen und
Verbraucher sind natürlich auch eng mit der Angebotsseite und mit der Vermarktung der Produkte verknüpft.
Ich greife als Beispiel nur einmal das Thema Kinderlebensmittel heraus. Wir fordern in Bezug auf die
Bewerbung von Kinderlebensmitteln Klarheit und Wahrheit. Sie lehnen Werbeeinschränkungen bei Kinderlebensmitteln ab.
({13})
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Kennen Sie die neuesten Ergebnisse der Stiftung
Warentest zu Kinderlebensmitteln nicht? Kein einziges
der getesteten Produkte hält, was es verspricht.
({14})
Was die Werbung hier gerade in Bezug auf unsere Kinder macht, hat mit einer seriösen, verantwortungsvollen
Produktinformation nicht im Geringsten etwas zu tun.
({15})
Um die richtigen Kaufentscheidungen fällen zu können, müssen die notwendigen Informationen bereitgestellt werden. Das ist doch klar. Wir hatten deshalb ein
Verbraucherinformationsgesetz vorgelegt.
({16})
Sie torpedieren es, weil es Unternehmen finanziell zu
sehr belasten könnte.
({17})
So, meine Damen und Herren von der Opposition, sieht
Ihr Engagement für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Wahrheit aus. Wenn es zum Schwur kommt,
kneifen Sie.
({18})
Frau Ministerin Künast setzt in der neuen Ernährungsbewegung auf freiwillige Selbstverpflichtung seitens der Wirtschaft.
({19})
Wir unterstützen dies ganz ausdrücklich. Ich hoffe sehr,
meine Damen und Herren, dass dieses Konzept aufgehen
wird.
({20})
Ich bin aber ein wenig skeptisch, denn verantwortliches
Handeln seitens der Lebensmittelindustrie und der Werbewirtschaft hörte bisher sehr oft dann auf, wenn es um
den Profit ging. Ich nenne ein Beispiel: Die Hemmschwelle zum Alkoholkonsum bei Kindern und Jugendlichen wird durch kind- und jugendgerecht aufgemachte
alkoholhaltige Süßgetränke, so genannte Alcopops,
deutlich gesenkt. Die Verantwortlichen stört es ganz offensichtlich nicht, dass Deutschlands Kinder beim Alkoholmissbrauch schon heute den traurigen vierten Platz in
Europa einnehmen.
Natürlich haben Menschen in unserem Land die freie
Wahl, das zu kaufen, was sie wollen, doch wir dürfen dabei den Einfluss der Werbung nicht außer Acht lassen.
Jeder weiß doch, was von der Werbung zu halten ist, argumentieren Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Opposition.
({21})
Doch der starke Einfluss der Werbung wird inzwischen
noch nicht einmal mehr von der wirtschaftsnahen Zeitung „Die Welt“ in Zweifel gezogen. Nach Bekanntwerden der jüngsten WHO-Schätzungen zum Übergewicht
schreibt sie von einer Werbemaschinerie, die Kinderhirne impft und Kinder unentwegt zum Verzehr eigentlich ungesunder Lebensmittel verleitet.
Wir brauchen eine neue Ernährungsbewegung in
Deutschland. Wir brauchen aber auch eine neue Werteorientierung, die den Menschen und nicht vorrangig die
Interessen der Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt. Kommen wir unserer Verantwortung nach.
Danke schön.
({22})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vielleicht einmal ein Wort vorweg: Es wäre
mir viel sympathischer, wenn wir von Ernährungsplattform e.V. reden würden und nicht von Ernährungsbewegung. Man müsste einmal darüber nachdenken, ob ein
solcher Begriff in diesem Zusammenhang nicht vermieden werden könnte.
({0})
Geschätzte Frau Ministerin, ich fand es prima, dass
Sie eine Regierungserklärung abgegeben haben. Ich bin
da etwas anderer Meinung als die Kollegin von der
CDU/CSU. Der Sachverhalt betrifft nämlich 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, Junge
und Alte. Er betrifft einen riesigen Bereich unserer Wirtschaft, nämlich den Ernährungssektor insgesamt, einen
der größten Arbeitgeber. Er betrifft sehr viele Arbeitsplätze. Deswegen ist es natürlich sehr richtig, sich mit
den Problemen und den Herausforderungen zu beschäftigen, die sich in diesem Bereich ergeben.
({1})
Aber, liebe Frau Ministerin - das möchte ich einmal
ganz schlicht sagen -, ich bin zutiefst enttäuscht von Ihrer Regierungserklärung. Sie sind den Ansprüchen, die
man an eine Regierungserklärung stellt - „erklären“
heißt ja: Zusammenhänge darstellen und Wechselwirkungen aufzeigen sowie Tiefgang in eine Rede hineinbringen -, schlicht und ergreifend nicht gerecht geworden. Ihre Ausführungen, die Sie uns hier dargeboten
haben, kann man nicht anders als sehr flach bezeichnen.
Wenn Sie sich Ihren Redetext - Sie haben ihn uns ja
im Vorfeld zur Verfügung gestellt - noch einmal ansehen, dann werden Sie selbst feststellen, dass Sie erst auf
Seite 13 Ihrer 14-seitigen Ausführungen einen gewissen
Lösungsansatz entwickeln. Das ist erschreckend.
Nein, das, was Sie uns hier vorgestellt haben, wird
dem, was Sie fordern, nämlich Kernkompetenzen, überhaupt nicht gerecht.
({2})
Wir sind gerne bereit, Ihnen zu helfen. Auch wir möchten das bestehende Problem tiefgründig betrachten. Deswegen wollen wir auch in der Plattform gerne mitwirken. Aber den Weg, den Sie aufzeigen, lehnen wir
entschieden ab. Der Weg der Bevormundung, den Sie
immer wieder gehen, ist mit den liberalen Gedanken der
Eigenverantwortung und des Selbst-Könnens nicht in
Einklang zu bringen. Sie haben in Ihren Ausführungen
wieder deutlich gemacht, dass Sie sich in dieser Frage
auf einem Irrweg befinden.
({3})
Zwangsabgabe, Werbeverbote, Diskriminierung - ich
hatte heute Morgen das unendliche Vergnügen, im Fernsehen neben Frau Höfken zu stehen, als sie wieder die
deutsche Lebensmittelwirtschaft attackiert hat. Ich finde
es unerträglich, wenn hier behauptet wird, junge Menschen würden an dem Genuss bestimmter Produkte krepieren. Ich finde es unerträglich, wenn Sie Ihre Argumente darauf aufbauen, dass ein bedauernswertes
dreijähriges Kind an Übergewicht stirbt. Das wird der
Sache nicht gerecht. Hier geht es nicht darum, im Haudrauf-Stil auf bestimmte Dinge hinzuweisen, sondern
darum, zu bündeln, zusammenzuführen und Lösungswege zu entwickeln, die es - das will ich ganz deutlich
sagen, Frau Künast - in vielfältiger Form schon gibt,
aber die von unten kommen müssen. Wir werden diesem
Problem im Verordnungsweg, im Gesetzgebungsweg
nicht gerecht werden. Da haben Sie einen falschen Ansatz;
({4})
da missbrauchen Sie ein Problem, das es bei Kindern,
Erwachsenen und auch bei Senioren gibt, in unverantwortlicher politischer Weise.
Ich habe mit Erschrecken Ausführungen Ihrerseits
noch einmal nachgelesen. Auch heute haben Sie wieder
eine Studie zitiert, in der es heißt, dass die junge Generation die erste sei, die vor ihren Eltern sterbe.
({5})
Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dümpe-Krüger?
Ich gestatte gerne eine Zwischenfrage.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich frage Sie, ob Ihnen bekannt ist und
wie Sie bewerten, dass speziell das von der Ministerin
angesprochene Problem der Altersdiabetes bei Kindern
- ich rede nicht von der kindlichen Diabetes - ein Phänomen ist, das es noch nie zuvor gegeben hat und das
wirklich ganz erschreckende Ausmaße angenommen
hat, und ob Sie nicht auch der Ansicht sind, dass zu einer
Veränderung und Rückführung in diesem Bereich ein
ganzheitlicher Ansatz notwendig ist, wie ihn die Ministerin hier beschrieben hat.
({0})
Geschätzte Kollegin, ich bin sehr entschieden der
Auffassung, dass Ihre Ministerin keinen ganzheitlichen
Ansatz aufgezeigt hat, sondern einen staatsbezogenen
Ansatz. Wenn Sie an den Diskussionen, die wir gerade in
letzter Zeit zu dem Thema hatten, an den Veranstaltungen von der Lebensmittelwirtschaft, von Ärzten, von
Kindertagesstätten und von Schulen teilgenommen hätten, wenn Sie im Rahmen der Grünen Woche bei den
Landfrauen Ihre Unterschrift geleistet hätten - alles Aktionen, die auf mehr Aufklärung in diesem Bereich abzielen und darauf, das Wissen und das Können zu erhöhen -, dann würden Sie mir eine solche Frage nicht
stellen. Selbstverständlich müssen wir uns um diese
Dinge bemühen. Es gibt auch Studien darüber, die Ihnen
bekannt sein müssten.
({0})
Aber diese Studien haben etwas mehr Substanz als zum
Beispiel die Studie, die die Frau Ministerin hier ins Gespräch gebracht hat. Sie zeigt im Grunde genommen
einen simplen Mechanismus auf: Die junge Generation
sei die erste, die vor ihren Eltern sterbe. Man darf es
zwar hier nicht sagen, aber: Das ist doch Schwachsinn!
Das wird doch dem Problem überhaupt nicht gerecht!
({1})
Das Problem ist doch nicht, dass die junge Generation
vor der älteren stirbt, sondern das Problem ist, dass es in
dieser Gesellschaft eine Anzahl von jungen Menschen
- eine zu große Anzahl - gibt, die sich aufgrund genetischer Veranlagung, sozialer Kompetenzen - wir haben
vorhin die Migrationsfrage angesprochen - und schlicht
und ergreifend aufgrund von Bewegungsmangel selbst
in die Situation versetzen, dass ihnen keine freiheitliche
Teilnahme an unserer Gesellschaft mehr möglich ist.
Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben. Dieses Problem lässt sich, wie ich schon gesagt habe, nicht
von oben nach unten lösen, sondern einzig und allein
von unten nach oben. Das weiß eigentlich jeder, der sich
damit beschäftigt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte es schon
angesprochen: Der Problemkreis ist komplex. Es geht
um mehr als um Übergewicht; es geht um Lebensstil und
Gesundheit. Ernährung allein und insbesondere, liebe
Kollegin Höfken, einzelne Lebensmittel sind nicht für
die Entstehung von Übergewicht verantwortlich. Das ist
keine Erkenntnis von mir. Das ist auch nicht neu. Das
hat Professor Müller schon vor vielen Jahren in einer
sehr interessanten Adipositaspräventionsstudie dargestellt, die in Fachkreisen jeder kennt. Das Ergebnis ist
simpel: Gewichtsunterschiede von Kindern sind im Wesentlichen auf Unterschiede der körperlichen Aktivität
bzw. Inaktivität, auf soziale Aspekte und mögliche genetische Risiken zurückzuführen.
Frau Künast, Sie wollen einen neuen Lebensstil und
neue Essgewohnheiten. Sie haben immer wieder „Wir
wollen, wir wollen“ gesagt; aber nicht Sie müssen wollen, sondern die Bürger.
({3})
Sie wollen den Bürgern den Appetit verderben. Sie unterscheiden Lebensmittel in schlecht und gut, in böse
und gut.
Sie sollten sich einmal mit den Erkenntnissen der
Amerikaner in diesem Bereich beschäftigen. Dort gibt es
ein hohes Maß an Sorge, dass sich Kinder überhaupt
nicht mehr ernähren, weil sie Angst davor haben, sich
mit den falschen Lebensmitteln zu ernähren. Ich glaube,
es geht darum, das rechte Maß zu finden. Jeder, der mit
Kindern zu tun hat - hiervon gibt es unter uns ja
einige -, weiß, dass Verbote - zum Beispiel: Iss keine
Schokolade! - überhaupt nicht helfen. Es geht vielmehr
darum, aufzuzeigen, was passiert, wenn das Kind zu viel
Schokolade isst. Verteufeln hilft in diesem Bereich überhaupt nicht.
({4})
Ich hatte es schon angesprochen: In den USA zeichnen sich die Ergebnisse der Indoktrination in Bezug auf
das Kalorienzählen - das, was Sie machen, ist Indoktrination - längst ab.
({5})
Amerikanische Kinder fürchten sich davor zu essen. Das
können Sie doch nicht wollen.
({6})
- Das, was Sie ausgeführt haben, war hochgradig lächerlich, geschätzte Kollegin.
({7})
Sie erklären, dicke Kinder hätten schlechte Startchancen.
Diese Aussage ist in Ordnung; damit sind wir einverstanden. Aber sorgen Sie dafür, dass sich die Startchancen der Menschen verbessern! Stigmatisieren Sie diese
Menschen nicht, sondern nehmen Sie sie in die Gesellschaft hinein,
({8})
indem Sie diese Plattform dafür nutzen, den Weg von
unten nach oben auszugestalten!
({9})
Sie sagen, dass sich Kinder falsch ernähren. Wir wollen den Kindern sowie den Erzieherinnen und Erziehern
vermitteln, wie man sich gesund ernährt. Wir Liberale
wollen also einen ganz anderen politischen Weg beschreiten.
({10})
Das hat auch nichts damit zu tun, dass wir uns aus der
staatlichen Verantwortung zurückziehen wollen, Frau
Künast. Wenn Sie jetzt sagen, das sei Quatsch, zeigt dies
wieder, dass Sie sich mit diesem Thema nicht beschäftigt
haben,
({11})
sondern dieses Thema populistisch nutzen. Sie hüpfen
im Bereich Ernährung, Verbraucherschutz und Landwirtschaft von einem Thema zum anderen.
({12})
Sie hinterlassen an vielen Stellen Schaden. Sie haben bei
der Diskussion um BSE einen riesigen Schaden hinterlassen. Sie haben die Gesamtproblematik dieses Themas
nie erkannt. Sie haben die Folgewirkungen dieses Themas überhaupt nicht richtig zur Kenntnis genommen. Sie
wollen seit Beginn Ihrer politischen Arbeit in diesem
Hause beim Thema Verbraucherschutz den Verbrauchern
etwas vorgeben, was der Verbraucher überhaupt nicht
nachvollzieht.
Sie behaupten, wir wollten kein Verbraucherinformationsgesetz.
({13})
Das ist völliger Quatsch. Das stimmt schlicht und ergreifend nicht. Wir wollen eine Regelung, die den Verbraucher in die Lage versetzt, selbst Erkenntnis zu gewinnen. Wir wollen keinen Angriff auf unternehmerisches
Tun, der die Marktposition der Unternehmen gefährdet
und wieder nationale Alleingänge im Hinblick auf europäische Regelungen bedeutet. Genau das wollen wir
nicht.
({14})
Wir wollen das Informationsbedürfnis befriedigen.
Von einseitigen Schuldzuweisungen sind wir Gott sei
Dank meilenweit entfernt. Wir wollen „Ernährungskönnen“, Ernährungsbewusstsein. Wir sprechen uns klipp
und klar zum Beispiel gegen die Schuldzuweisung aus,
dass die Lebensmittelwirtschaft verantwortlich dafür
ist - da machen Sie es sich viel zu leicht -, dass es alkoholkranke Menschen gibt. Sie können doch nicht ernsthaft sagen, dass Alkoholismus etwas damit zu tun hat,
dass jemand Wein herstellt.
({15})
Sie können doch nicht ernsthaft sagen, dass Produkte
wie Chips und Schokolade schon deshalb schlimm sind,
weil der eine oder andere diese Produkte aus Unkenntnis
nicht sachgerecht und ernährungsbewusst verwendet.
Frau Künast, wir bieten Ihnen sehr nachdrücklich an:
Lassen Sie uns gemeinsam Wege gehen, die darauf abzielen, den Verbraucher zu informieren und zu konditionieren, den jungen Menschen das Können an die Hand
zu geben, sich bewusst zu ernähren und sich mehr zu bewegen, und die sozialen Defizite abzubauen! Seien Sie
bitte ein Stück vernünftig und rücken Sie davon ab, von
oben bestimmen zu wollen, was unten passiert! Dieser
Weg ist zum Scheitern verurteilt.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Höfken, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann den
Grünen bestimmt nicht mangelnde politische Hartnäckigkeit vorwerfen und unserer Ministerin ganz gewiss
nicht.
({0})
Das, was Sie betreiben, ist aber eine hartnäckige Realitätsverweigerung.
({1})
Die Stiftung Warentest - bestimmt nicht irgendwelcher
politischer Ideologien verdächtig - sagt zum Beispiel,
Übergewicht und Fehlernährung seien eine Epidemie.
({2})
Ich denke, auch Ihnen wird das Lachen noch vergehen,
wenn es um das Thema „dicke Kinder“ geht.
Die alten Landwirtschaftsministerien unter Ihrer Regierung haben, obwohl das Ministerium auch damals
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten hieß, die Frage der Ernährung auf die Landfrauen abgeschoben - die hat man dann nicht ernst genug genommen - oder haben Ernährung zu einer Privatangelegenheit gemacht.
({3})
Wir aber werden Ernährung weiter auf die politische Tagesordnung setzen, und zwar als politisches Thema.
({4})
Ich sage dies dann noch einmal: Wir werden nicht billigend in Kauf nehmen, wie die Menschheit in den
Klauen von Cola und von Hamburgern krepiert.
({5})
Das ist leider nicht übertrieben. Die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, hat sehr klargestellt: Die Hauptursache von nicht übertragbaren Krankheiten ist eine
falsche Ernährung. Diese Ursache bedingt 60 Prozent
der Todesfälle. Mehr Menschen - das ist tragisch - leiden inzwischen an Übergewichtigkeit als an Hunger. Wir
sehen Handlungsbedarf bei beiden Feldern.
({6})
Das ist übrigens nicht nur weltweit ein Problem. Die
Situation in Deutschland und in Europa ist genauso alarmierend. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir werden
FDP, CDU und CSU dabei weiter in die Pflicht nehmen.
Wir werden nämlich nicht zulassen, dass die Verbraucher und die verzweifelten Eltern mit diesen Problemen
allein gelassen werden. Eigenverantwortung ist ein
großes Thema der Grünen und auch der Bundesregierung, genauso wie Aufklärung, genauso wie Information. Wir brauchen aber dort, wo diese Probleme nicht
mehr durch Selbstverantwortung gelöst werden können,
Schutz und politische Steuerung. Übrigens ist die Initiative der Bundesministerin - auch das muss man ganz
klar sagen - eine Initiative, die vor allem auf Eigenverantwortung zielt.
Wir werden aber nicht zulassen, dass sich Bacardi
und Co mit den Alcopops weiter auf die Zielgruppe der
Kinder und Jugendlichen orientieren. Wir werden auch
nicht zulassen, dass weiter Werbefeldzüge für unsinnige
Diäten die Jugendlichen in die Magersucht treiben. Wir
werden auch nicht dulden, dass Fehlernährung weiter
durch Fehlinformationen unterstützt wird.
({7})
Ich habe - das mache ich jetzt zum zweiten Mal - dieses Produkt „Qoo“ der Firma Coca-Cola mitgebracht.
Ich habe diese Firma nicht besonders auf dem Kieker,
das ist nur ein gutes schlechtes Beispiel. Es kostet übrigens etwa 10 Euro pro Liter. Auf der Packung steht:
„Der gesunde Trinkspaß“. Das ist eine ganz klare Fehlinformation. Die Stiftung Warentest sagt: Es ist für Kinder
nicht geeignet. Darum sehen wir an solchen Punkten
Handlungsbedarf.
({8})
Dass die Milch übrigens 23 Cent pro Liter kostet und
molkehaltige Functional-food-Produkte 4 Euro pro Liter
kosten, auch das werden wir weiter versuchen zu verändern.
Wir sagen Ihnen: Schieben Sie die politische Verantwortung nicht weiter von sich. Wir wollen hier weiter
gemeinsam vorangehen. Wir lassen insbesondere der
FDP nicht weiter durchgehen, dass sie kein Verbraucherinformationsgesetz, das diesen Titel wirklich tragen
kann, keine Unterstützung für die Haushaltsmittel für
Verbraucheraufklärung, keine EU-weiten Verbote für
solch irreführenden Werbungen und keine Beschränkung
für Alcopops will. Sie wollen am liebsten nichts tun.
Kollegin Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Goldmann?
Bitte.
Durchaus geschätzte Kollegin Höfken, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Firma, die Sie
jetzt schon einige Male als Krepierverursacher und als
denjenigen genannt haben, der irgendetwas in die
Klauen nimmt, in besonderem Maße Sponsor von Jugendveranstaltungen, von Jugendsport und auch von Erwachsenensport ist und zum Beispiel im Rahmen der
Fußballeuropameisterschaft in Portugal besonderen Verpflichtungen nachkommt?
({0})
- Haben Sie das verstanden? Soll ich das noch einmal
wiederholen?
({1})
Ich werde noch ein anderes Beispiel nennen. Wenn
ich aus dem Wedding zur Arbeit fahre, komme ich an einem großen Sportgelände vorbei, wo sich ganz besonders Coca-Cola gerade für junge Menschen engagiert,
die sonst wenig Chancen in unserer Gesellschaft haben.
Halten Sie es vor diesem Hintergrund nicht schlicht und
ergreifend für unfair, dass Sie dieses Unternehmen, ohne
dass es eine Chance hat, sich zu wehren, hier wegen seiner Produkte an den Pranger stellen,
({2})
die im Grunde genommen keineswegs so negativ einzustufen sind, wie Sie das hier getan haben? Ist das nicht
unfair?
Ich frage auch den Herrn Präsidenten: Ist es zulässig,
dass man hier einen der größten Arbeitgeber in Deutschland in dieser Form in den Dreck zieht?
Sie haben jetzt Ihre Interessensverteidigung deutlich
genug gemacht.
({0})
Ich denke, Freikaufen nein, Mitverantwortung und
Selbstverpflichtung ja. Das ist der Weg, den wir beschreiten wollen.
({1})
Damit habe ich Ihre Frage beantwortet.
Sie selbst haben in Ihrem Antrag die Instrumente der
WHO-Strategie herausgestellt. Dann lassen Sie uns
doch einmal sehen, was diese WHO-Strategie eigentlich
bedeutet. Denn diese Instrumente, die Sie fordern, lehnen Sie gleichzeitig alle ab: zum Beispiel in Schweden
ein Werbeverbot, das sich auf Kinder unter zwölf Jahren
richtet, zum Beispiel eine Fettsteuer in Großbritannien,
zum Beispiel in Finnland Besteuerungs- und Subventionsabbauinstrumente im Hinblick auf die Lösung der
Probleme bei Fehlernährungen.
({2})
Die WHO-Strategie, die Sie selbst erwähnen, greift die
Steuerungsinstrumente der Politik massiv auf.
Wir sagen: Eigenverantwortung ja, Selbstverpflichtung ja, aber nicht, ohne dass ordnungspolitische Instrumente, da wo es nötig ist, einbezogen werden. Wir fordern Sie auf, die Bundesregierung und Frau Ministerin
Künast in ihrer Initiative zu unterstützen. Wir fordern
Sie auf, bei den Ländern, gerade in Baden-Württemberg,
Einfluss zu nehmen, dass sie die Verbraucherzentralen
bei ihren Bemühungen in der Ernährungsaufklärung, die
Sie hier so herausstellen, unterstützen und nicht weiter
abbauen.
({3})
Wir fordern Sie auf, die Themen Gesundheit, Ernährung
und Bewegung in Bildung und Ausbildung mit uns auf
allen Ebenen zu verankern. Wir fordern Sie auf, in die
Puschen zu kommen. Es ist Zeit dazu. Bewegen Sie sich
mit uns!
Danke schön.
({4})
Kollege Goldmann, weil Sie auch mich gefragt haben, antworte ich Ihnen: Ich denke, wir sind uns einig,
das Recht auf die freie Meinungsäußerung, das besonders in diesem Hause gilt, schließt die Kritik an Firmen,
seien sie noch so groß, ein. Da sind wir uns einig.
({0})
- Firmen, so groß sie auch sein mögen, können in diesem Hause kritisiert werden. Das ist das Recht auf freie
Meinungsäußerung.
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Julia Klöckner,
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist schon ziemlich bizarr, dass wir uns
heute über das Thema Ernährung bzw. Übergewicht und
Fettleibigkeit unterhalten müssen. Man stelle sich eine
solche Debatte einmal vor 40 Jahren oder aus dem Blickwinkel von Menschen ärmerer Kontinente vor. Just an
diesem Ort wird zu anderer Zeit über Entwicklungszusammenarbeit und Welthungerhilfe debattiert. Wir müssen uns mit einem Luxusproblem in Deutschland auseinander setzen, und nicht nur in Amerika, wohin jüngst
Staatssekretär Berninger reiste, um fettleibige Kinder zu
besichtigen.
({0})
Ich weiß nicht, was es gebracht hat. Wenn für so etwas
Steuergelder ausgegeben werden, mag es ja in Ordnung
sein.
({1})
- Gekostet hat es einiges. Die dort gewonnenen Erkenntnisse waren so groß, dass sie in die heutige Regierungserklärung eingeflossen sind. Man kann es bei dieser Erklärung aber nur Steuergelderverschwendung nennen.
({2})
Wir müssen eins sehen - das ist das Fatale -: Niemals
zuvor hatten wir so viele gesunde Lebensmittel, wie
wir sie heute haben.
({3})
Das müssen wir einmal hervorheben, bevor hier ein
Schlag gegen diejenigen entsteht, die Nahrungsmittel
herstellen.
({4})
Man bekommt fast den Eindruck, dass dies die Haupttäter und Kriminelle sind, weil sie Nahrungsmittel anbieten. Dass wir jetzt eine Auswahl an Nahrungsmitteln und
etwas in den Regalen haben, dafür können wir erst einmal dankbar sein. Wie wir uns dann ernähren, ist dann
unsere Sache. Ich möchte nicht, dass mir irgendwann ein
Ministerium mein tägliches Carepaket vorschreibt. Ich
habe das Recht, mich anders zu ernähren, als es mir die
Regierung vorschreiben will.
({5})
Frau Ministerin, es ist richtig - ich lobe Sie also -,
dass Sie dieses Thema aufgreifen. Von Ihrer Rede war
ich aber schon enttäuscht. Sie haben lediglich eine beschreibende Situationsanalyse gegeben. Das haben wir
hinlänglich lesen können, aber nicht nur von Ihnen. Dieses Thema ist nicht von Ihnen erfunden worden, sondern
ist seit langem bekannt. Ich hätte mir von Ihnen das gewünscht, was unsere Kollegin, Frau Heinen, aufgegriffen hat, nämlich zu sagen, was zu tun ist. Das hat mir in
Ihrer Regierungserklärung gefehlt. Wenn Sie schon eine
solche Erklärungsform wählen, wäre das sehr angebracht gewesen.
({6})
Sie haben dieses Thema aus meiner Sicht viel zu spät
aufgegriffen und sich zu sehr an Werbe- und Imagewirksamkeit ausgerichtet. In Ihrer Antwort auf unsere Kleine
Anfrage ist nachzulesen, dass sich die einzelnen Ministerien des Themas viel zu unkoordiniert annehmen. Sie
aber schreiben vorab ein 270-seitiges Buch mit dem Titel „Die Dickmacher - Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen“.
({7})
- Das soll im September erscheinen und 17 Euro kosten.
Es ist also nicht für die Schichten, die eigentlich betroffen sind.
({8})
Nur Ihr Konterfei, Frau Ministerin, ziert das Buch
„Die Dickmacher“. Ich halte es für sehr unpassend, dass
nur Ihr Konterfei auf dem Buchumschlag zu sehen ist.
Die Frage ist: Worum geht es Ihnen eigentlich, wenn Sie
Ihr Bild auf einem solchen Buch abdrucken lassen? Geht
es Ihnen um das Thema oder um Ihre Selbstdarstellung?
({9})
Ich möchte noch eine Frage stellen: Was passiert
eigentlich mit der angekündigten Ernährungsplattform? Gott sei Dank haben Sie Ihre Idee eines Zwangsund Straffonds für Nahrungsmittelhersteller verworfen,
weil Sie damit nicht durchkamen.
({10})
- Wenn Sie die nie hatten, müssen Sie Ihre Pressemitteilungen besser kontrollieren; denn nachzulesen ist dies.
Wie ernst meinen Sie es überhaupt mit dieser Plattform? Sie sagen, Sie wollen sich mit Ärzten, Ernährungsberatern, Sportlern, Vertretern der Ernährungsindustrie - nicht mit den Landfrauen; Frau Höfken hat die
Landfrauen hervorgehoben; es wäre schön, wenn man
sie auch einladen würde - an einen runden Tisch setzen
und mit ihnen Lösungsansätze erarbeiten. Jetzt frage ich
mich: Tagt diese Plattform seit einem Jahr im Geheimen
oder wie können Sie in Ihrem Buch sonst deren Lösungskonzept vorlegen? Ich kann mir darauf keinen
Reim machen. Schon der Untertitel Ihres Buches „Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen“ deutet auf das Vorliegen einer Lösung hin. Entweder haben Sie mit dem Verlag vereinbart,
dass das bis September noch kommt, oder diejenigen,
die an Ihrer Plattform mitarbeiten, bekommen gesagt,
was sie zu denken und zu sagen haben.
({11})
Für uns ist es wichtig, dass Sie uns bitte mit einer Ernährungsdiktatur verschonen.
({12})
Das beste Beispiel hierfür ist das von Ihnen angestrebte
Verbot der Health Claims. Wir sind auch gegen irreführende Werbung. Dafür gibt es aber schon Gesetze.
({13})
- Es gibt diese Gesetze und es wäre schön, wenn Sie sich
diese einmal zur Hand nehmen und überprüfen würden.
Ein Verstoß dagegen wird mit Strafen sanktioniert.
({14})
- Vielleicht könnten wir einmal klären, wer hier reden
darf.
({15})
Frau Kollegin, Sie sind sehr gut zu verstehen. Auch
bei Ihren Vorrednern gab es von der Fraktion der CDU/
CSU Zwischenrufe und der Redner war trotzdem zu hören.
({0})
Da gab es aber keine trilingualen Gespräche, um persönliche Ansichten auszutauschen.
({0})
- Sie warten die ganze Zeit. Wir warten noch, bis die Regierungserklärung neu aufgelegt wird und wir wissen,
was Sie tun wollen.
Beängstigend ist für uns, dass in Ihrem Buch auf
32 Seiten Bilder von Kalorienbomben gezeigt werden.
({1})
Sie kennen das Buch wahrscheinlich noch nicht. Verständlich, Ihre Überraschung! Man kann Nahrungsmittel
nicht in gut oder schlecht, in Bio oder konventionell unterteilen. Entscheidend sind der Lebensstil, der Bewegungsstil und die Ernährungweise.
Besonders hervorzuheben ist die Verantwortung der
Eltern. Ich weiß, dass Sie ein Problem mit Familienbildern haben.
({2})
Sie können doch nicht sagen, dass der Staat eingreifen
muss, weil die Eltern es nicht schaffen, ihren Kindern
das Richtige zu essen zu geben, zu kochen und sich mit
dieser Thematik auseinander zu setzen. Man kann nicht
nur Symptome behandeln. Sie müssen auch an die
Wurzel gehen. Es bringt nichts, wenn Sie die Kinder in
teuere Kuren schicken. Nach drei Monaten kommen sie
nach Hause und das Elend geht von vorne los.
Es ist nicht richtig, dass Sie ein Feuerwerk von Plattformen, Kampagnen und Bewegungen initiieren, sie
aber nicht koordinieren. Die eine Aktion kommt aus dem
Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, die andere aus Ihrem Ministerium, Frau Künast.
Das letztgenannte Ministerium lässt zu den Themen Broschüren drucken, zu denen das erstgenannte Ministerium
schon längst Broschüren bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Auftrag gegeben hat und inzwischen verteilen lässt.
Ich verstehe nicht, warum Sie, Frau Künast, sich jetzt
als die Entdeckerin der Übergewichtsprävention feiern
lassen und glauben, Sie hätten dieses Thema erfunden
und in Kindergärten, Schulen und Familien eingebracht.
Die Schulen arbeiten schon längst mit entsprechenden
Unterrichtsmaterialien. Ich finde, Sie sollten sich diese
Unterlagen, die mit Steuergeldern finanziert wurden, zunächst einmal anschauen und dann überlegen, was man
noch ergänzen kann.
Ich freue mich, dass das Innenministerium heute vertreten ist, denn der Sport spielt auch eine Rolle. Dazu
haben wir bisher leider noch nichts gehört.
({3})
Bewegung ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges
Thema. Fördern Sie doch bitte die Sportvereine und diejenigen, die ehrenamtlich tätig sind und damit eine soziale Aufgabe erfüllen.
({4})
Es herrscht, gelinde gesagt, ein Chaos bei der Abstimmung zwischen den Ministerien. Imagekampagnen - auch
das müssen wir bedenken -, die diejenigen ansprechen,
die es gar nicht angeht, helfen wenig. Ich weiß, dass damit auch Wähler angesprochen werden sollen. Das ist
fein und in der Demokratie erlaubt. Es hilft aber denkbar
wenig, wenn die betroffenen sozialen Schichten, in denen sich fehlernährte Kinder befinden, die die meiste
Zeit vor dem Fernseher und nicht auf dem Spielplatz
verbringen und zu zuckerreich und zu fett essen, nicht
angesprochen werden.
Wir brauchen Vorbilder. Es ist kontraproduktiv - auch
das muss man berücksichtigen -, wenn Fußballspieler für
Fast-Food-Ketten Werbung machen.
({5})
Fatal ist aber noch etwas anderes - das haben sowohl
Kollegin Heinen als auch Kollege Goldmann angesprochen -: Versuchen Sie bitte nicht, aus einer Aktion oder
einer Initiative ein kleines Feuerwerk zu veranstalten;
das verpufft nämlich sehr schnell. Wir müssen ganzheitlich denken. Der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen, er
hat verschiedene Dimensionen. Eine Dimension davon
ist die Frage, wo unsere Nahrungsmittel herkommen.
Der Bezug zu den Nahrungsmitteln ist von Bedeutung.
Wenn die Nahrungsmittel importiert werden, ich nicht
mehr weiß, wo sie herkommen, ich nicht weiß, dass die
Kuh nicht lila ist, muss ich daraus die Schlussfolgerung
ziehen, dass ich den Berufsstand fördern muss. Sie aber
lassen die Bauern und Landwirte dahinvegetieren.
({6})
Die Förderung der Bauern und Landwirte stellt eine gesamtgesellschaftliche Bereicherung dar. Sie kappen die
Wurzel und beklagen anschließend, dass keine Blüte entsteht. Sie müssen sich schon für ein Ziel entscheiden und
nicht hin- und herspringen.
Wir kommen noch einmal auf das Thema Bewegung
zu sprechen. Frau Künast, Sie haben in einigen Reden,
unter anderem bei der Ernährungsindustrie, gesagt, dass
die Folgen von Fehlernährung durch das geringe Ausmaß an Bewegung verschärft würden. Wir hingegen sagen, es ist keine Frage von Haupt- oder Nebenursache,
sondern diese Themen sind gleichrangig. Diese Gleichrangigkeit gilt auch für das Thema Mangel- und Unterernährung. Bitte verschonen Sie uns davor, jetzt das eine
Thema bevorzugt zu behandeln und im nächsten Jahr die
Mangel- und Unterernährung auf die Plattform zu ziehen.
Sie zitieren sehr gerne aus Studien. Sie müssten auch
die der Charité gelesen haben, nach der 20 bis 30 Prozent der Patienten unterernährt sind und mit einem Gewichtsverlust von 10 Prozent eine Verdoppelung der Gesundheitskosten einhergeht.
Bitte lassen Sie uns dieses Thema gesamtgesellschaftlich betrachten. Sprechen Sie, Frau Künast, auch einmal
mit der Gesundheitsministerin. Es wäre schön, wenn sie
heute auch anwesend gewesen wäre. Schließlich betrifft
es sie auch, weil sie Gelder für Materialien bereitstellt.
({7})
Wir bieten Ihnen unsere Hilfestellung an, sagen Ihnen
gerne, wer mit diesem Thema befasst ist. Wir helfen Ihnen auch beim Koordinieren der Ministerien, wenn es
sein muss. Wir sind für eine verantwortungsvolle, weitblickende und nachhaltige Politik, die im Denken und
Handeln ideologie- und radikalitätsfrei ist und gesamtgesellschaftlich angelegt ist. Wir sind für eine Politik, die
von einem mündigen Bürger und einer mündigen Bürgerin ausgeht, die von einem mündigen Verbraucher und
Kunden ausgeht. Bei der Umsetzung einer solchen Politik helfen wir Ihnen sehr gerne.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Elvira Drobinski-Weiß,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit Dicken macht man gerne Späße
Dicke haben Atemnot
Für Dicke gibt’s nichts anzuzieh’n
Dicke sind zu dick zum Flieh’n
So hieß es Ende der 70er-Jahre in einem Lied über Dicke
von Marius Müller-Westernhagen. Der Text war damals
umstritten, Übergewichtige fühlten sich diskriminiert.
Nun, was für Erwachsene gilt, gilt in verstärktem
Maße für Kinder und Jugendliche. Wir haben es heute
schon mehrfach gehört: Jedes fünfte Kind und jeder
dritte Jugendliche in Deutschland ist zu dick und muss
sich deshalb solche Späße über Dicke anhören. „FettElvira Drobinski-Weiß
wanst“, „Fettsack“, „Schwabbelkuh“ - der Hohn der Altersgenossen kennt kaum Grenzen. Die Opfer solcher
Beschimpfungen befinden sich in einem Teufelskreis,
denn Spott und soziale Ausgrenzung führen zu Minderwertigkeitskomplexen und diese wiederum zu weiteren
Fressattacken.
Chips, Pommes, Hamburger, Schokoriegel und andere Süßigkeiten - alles zu süß und zu fett. Von allem zu
viel wird wahllos heruntergeschlungen. Viele dieser Kinder haben kein Verhältnis zum Essen, zur Nahrung und
damit auch zu ihrem Körper: Sie essen nicht, weil sie
Hunger haben, sondern sie stopfen in sich hinein, den
ganzen Tag lang, einfach so nebenher. Nur noch in wenigen Familien wird gemeinsam gegessen. Viele dieser
übergewichtigen Kinder ernähren sich unbeaufsichtigt in
Burger- und Imbissketten. Wann sie wirklich hungrig
sind und was ihr Körper braucht, um sich wohl zu fühlen, dafür haben diese Kinder jedes Gefühl verloren. Ein
so gestörtes Körpergefühl spiegelt sich auch in der Freizeitgestaltung der Kinder und Jugendlichen wider:
Fernsehen und mit dem Computer spielen - das ist bequem, da ist ein zu schwerer, unbeweglicher Körper
auch nicht im Weg. Bewegung dagegen, Sport, das ist
anstrengend und da sehen dann auch alle, wie dick und
unbeweglich man ist.
Dicke Kinder sind arme Kinder, dies stimmt im doppelten Sinn: Sie sind arm, weil sie gehänselt und ausgegrenzt werden, und sie sind arm, weil sie eher sozial
schwachen Strukturen entstammen. Die ohnehin knappen Mittel fließen dann meist nicht in gesunde - weil
letztendlich doch teurere - Lebensmittel. Die Kinder
werden sich selbst überlassen, nicht beaufsichtigt, nicht
zu gesundem Essverhalten oder einer aktiven Freizeitgestaltung angeleitet. Diese armen Kinder sind aber zugleich „reich“: Sie bekommen viel Taschengeld, das sie
dann für Pommes und Süßigkeiten ausgeben.
Falsche Ernährung verursacht Krankheiten - wir haben es vorhin vielfach gehört -: Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Gefäßverkalkung, Gelenkerkrankungen, erhöhte Cholesterinwerte, bis hin zum Herzinfarkt reichen
die gesundheitlichen Folgen. Neue Studien zeigen zudem auch ein erheblich erhöhtes Krebsrisiko, insbesondere des Krebses der Speiseröhre und des Dickdarms,
gerade bei übergewichtigen Kindern und Jugendlichen.
Solche Krankheiten können bei ihnen keine Alterssymptome sein, worauf Frau Ministerin Künast vorhin schon
in sehr dramatischer Weise hingewiesen hat.
Übergewicht ist nicht allein ein deutsches Problem.
Über 1 Milliarde übergewichtige Erwachsene und
17 Millionen übergewichtige Kinder weltweit meldet die
Weltgesundheitsorganisation, WHO, in ihrem jüngsten
Bericht über globale Strategien der Ernährung. Sie
spricht von einer Epidemie, und zwar einer Besorgnis erregenden Epidemie.
„Dicke Kinder kosten die Kassen 30 Milliarden Euro“ - so titelte die „Welt am Sonntag“ Ende Februar. Durch falsche Ernährung verursachte Krankheiten
sind eben auch ein Kostenfaktor für das deutsche Gesundheitssystem. Für die Behandlung dieser Krankheiten geben die gesetzlichen Krankenkassen jährlich also
rund 30 Milliarden Euro aus. Es besteht also ein dringender Handlungsbedarf. Durch ein bewussteres Ernährungsverhalten ließen sich ernährungsbedingte Krankheiten eindämmen und damit auch Mittel einsparen, die
an anderer Stelle sinnvoll verwendet werden könnten.
({0})
Wir müssen unsere Kinder und vor allem deren Eltern
- das ist mir in den Beiträgen heute immer viel zu kurz
gekommen - für das Thema „gesunde Ernährung“ sensibilisieren. Wir müssen sie über die fatalen Folgen eines
falschen Essverhaltens aufklären. Dies ist natürlich, wie
schon vielfach gefordert, auch eine wichtige Aufgabe
der Kindergärten und Schulen. Dies ist aber auch eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
In unseren Antrag, den wir heute hier einbringen, sind
all diese Überlegungen mit eingeflossen. Zumindest ein
Ziel ist auch dank der Bemühungen von Ministerin
Künast um das Thema „gesunde Ernährung“ bereits erreicht worden: Die Medien sind aufmerksam geworden.
Am 2. Juni 2004 erschien ein „Stern“-Artikel mit dem
Titel: „Generation XXL“. Im April gab es im ZDF drei
Sendungen unter dem Titel „Dicke Kinder - gefährliche
Zukunft?“. „Geo“ hat ebenso wie „Die Zeit“ darüber berichtet. Das heißt, die Berichterstattungen über ungesunde Ernährungsgewohnheiten und ihre Folgen nehmen
zu.
Unser Ziel muss es sein, den Trend zum Übergewicht
durch Ernährungsaufklärung abzuschwächen und
möglichst umzukehren. Bei diesem Ziel sind wir uns sicher alle einig. Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, unsere Initiativen zum Erreichen dieses
Ziels über alle Fraktionsgrenzen hinaus zu unterstützen.
Pommes und Hamburger ersetzen kein Mittagessen.
Genauso wenig sind Süßwaren und Knabberartikel Lebensmittel im eigentlichen Sinne des Wortes, nämlich
Mittel zum Leben. Wäre es nicht eine Überlegung wert,
ob ein ungesundes Essverhalten nicht auch finanziell unattraktiver gestaltet werden sollte? Ist es gerechtfertigt,
dass Süßwaren und Knabberartikel mit dem ermäßigten
Umsatzsteuersatz von 7 Prozent besteuert werden?
({1})
Schließlich hat der Gesetzgeber bei der Einführung der
Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem zum
1. Januar 1968 entschieden, dass fast alle Nahrungsmittel - ausgenommen die meisten Getränke - aus „sozialpolitischen Erwägungen“ mit dem ermäßigten Satz besteuert werden. Was damals Sinn machte, ist vielleicht
nicht mehr aktuell. Solche „sozialpolitischen Erwägungen“ könnten gute Gründe dafür sein, ungesunde Nahrungsmittel finanziell unattraktiver und gesunde dafür
attraktiver zu machen.
Auch in anderen Ländern wird über solche Maßnahmen nachgedacht. In Australien - vorhin wurden auch
schon andere Länder genannt - ist eine Fettsteuer im Gespräch, eine Sonderabgabe auf Pommes, Hamburger, Süßigkeiten und Süßgetränke.
({2})
Dort sind bereits 60 Prozent der Bevölkerung übergewichtig. Die Zahl der Kinder mit Diabetes ist enorm angestiegen.
Ich möchte mit dem nochmaligen Appell an alle hier
im Haus schließen, unsere Initiativen für eine gesündere
Ernährung, für mehr Bewegung sowie gegen Übergewicht und die dramatischen gesundheitlichen Folgen zu
unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Kollegin Drobinski-Weiß, dies war Ihre erste Rede
hier, nachdem Sie erst vier Wochen Mitglied des Deutschen Bundestages sind. Unsere herzliche Gratulation.
({0})
Ich erteile nun Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen sind
noch immer geprägt vom Hunger, den sie erlitten haben;
Frau Klöckner wies vorhin darauf hin. Es wird gegessen,
was auf den Tisch kommt; der Teller wird aufgegessen;
Essen wirft man nicht weg - diese Worte haben sich tief
in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Am Ende der
Nachkriegszeit kam die Fresswelle. Essen hatte nach
dem Zweiten Weltkrieg für die Menschen große Bedeutung.
Bedingt durch die deutsche Teilung sind jedoch auch
in den Lebensgewohnheiten unterschiedliche Entwicklungen in den zwei deutschen Staaten zu erkennen. Im
Westen begann der Siegeszug der Fertiggerichte. Gute
Butter und Schokolade waren Zeichen des Wohlstands.
Das eigene Auto wurde zum Statussymbol. Schwere
körperliche Arbeit wurde durch Technik ersetzt. - Im
Osten war die Auswahl an Fertiggerichten durchaus
überschaubar. Es wurde mehr selbst gekocht. Statt Butter
gab es Margarine. Schlagsahne war lange Zeit Bückware. Wir stellten sie zu festlichen Anlässen her, indem
wir Butter und Milch mit dem Mixer wieder zusammenfügten. Dafür aber gab es Schulmilch und Schulessen,
und zwar flächendeckend. Ich bin wohl nicht verdächtig,
DDR-nostalgisch zu sein, sondern schildere das ganz
wertfrei.
Mit dem Mauerfall veränderte sich die Situation in
Ostdeutschland plötzlich gravierend. Es hielten Fertigprodukte mit einem hohen Gehalt an Fett, Zucker, Zusatzstoffen und Geschmacksverstärkern Einzug. Eine
Folge: Der Geschmack der Konsumenten wandelte sich.
Beispielsweise trinken heute jüngere Leute auch in Ostdeutschland viel süßere Produkte als meine Generation.
Eine weitere Folge: Kinder kennen Obst- und Gemüsesorten kaum noch im Rohzustand. Sie wissen nicht, wie
man mit ihnen umgeht und wie ihr unverfälschter Geschmack ist.
Was besonders schlimm ist: Kinder sitzen im Zimmer, während draußen die Autos „spielen“. Kinder
dürfen nicht mehr allein zur Schule radeln oder laufen,
sondern werden gefahren. Dazu kommt, dass Schulschließungen aufgrund zurückgehender Schülerzahlen
die Schulwege verlängern und Schulbusse erforderlich
machen. Sport ist das Schulfach, welches am häufigsten
ausfällt. Schulsportgemeinschaften, die diesen Mangel
ausgleichen, fehlen.
Das Ergebnis dieser veränderten Lebensgewohnheiten ist bei Kindern besonders gut messbar. Eine Analyse
der Einschulungs- und Schulabgangsuntersuchungen des
Gesundheitsdienstes im Land Brandenburg stellt fest,
dass die 1999 im Land Brandenburg untersuchten sechsund 16-jährigen Kinder und Jugendlichen durchschnittlich schwerer und größer sind sowie höhere Body-MassIndizes als zehn Jahre zuvor haben. Dementsprechend
hat der Anteil übergewichtiger und stark übergewichtiger Kinder und Jugendlicher zugenommen. Das ist in
hohem Maße besorgniserregend; denn bekanntermaßen
werden aus dicken Kindern auch meist dicke Erwachsene mit all den gesundheitlichen Problemen.
Die Bundesregierung hat bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Dreiecksbeziehung zwischen Bewegung, Ernährung und Gesundheit ins rechte Lot zu
bringen. Doch die Maßnahmen des Bundes allein reichen nicht aus.
({0})
Deshalb hat Bundesministerin Künast zu einer neuen
Ernährungsbewegung für Deutschland aufgerufen.
Hier haben auch die Länder und Kommunen ihren Anteil
zu leisten. Frei nach dem Motto „Was Hänschen nicht
lernt, lernt Hans nimmermehr“ muss die Trendumkehr
bei den Kindern ansetzen. Kinder müssen wieder raus an
die frische Luft, müssen lernen, dass Essen Kultur ist
und Bewegung Spaß machen kann. Hier haben die Länder ihre Aufgabe.
Wir brauchen in Kitas und Schulen den Lerninhalt Ernährung. Kinder sollen neben dem Schulessen auch
Schulmilch bekommen. Das darf nicht an der Bequemlichkeit der Hausmeister scheitern, wie es mir erst jüngst
aus Brandenburg geschildert wurde. Kinder müssen regelmäßig Sportunterricht erteilt bekommen. Vereinssport darf nicht kaputt gespart werden.
Schulen, vor allen Dingen Grundschulen, müssen
fußläufig erreichbar sein. Länder und Kommunen müssen für sichere Schulwege sorgen, damit Kinder wieder
mehr laufen und radeln können. Es gibt viel zu tun.
Bei den Haushaltsberatungen können Landes- und
Kommunalpolitiker beweisen, wie ernst sie es mit den
Investitionen in die Zukunft meinen. Ich bin auf eine
neue Ernährungsbewegung in Deutschland gespannt.
({1})
Danke.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
Um die Sache gleich auf den Punkt zu bringen: Die
Agenda 2010 macht krank und dick. Das werde ich
gleich begründen. Doch vorher einige Worte zur Initiative für eine neue Ernährungsbewegung in Deutschland.
Wir, die PDS, unterstützen die Initiative von Frau
Künast in vielen Punkten. Zum Beispiel ist die Aufforderung an die Lebensmittelindustrie, kalorien- und fettärmere Lebensmittel herzustellen, sehr vernünftig. Die
Frage, an der sich das messen lassen muss, ist nur, ob die
Lebensmittelindustrie dieser Aufforderung folgen wird.
Da bin ich eher skeptisch.
Frau Künast, bei mir entsteht oft der Eindruck, dass
Sie die Menschen einfach nur besser erziehen wollen.
Das halte ich nur zum Teil für richtig und möglich. Es ist
hier schon erörtert worden, dass es viele Gründe gibt,
warum sich Menschen ungesund ernähren. Einen Grund
möchte ich an dieser Stelle besonders betonen, da er in
dieser Debatte zwar schon angesprochen wurde, aber etwas zu kurz gekommen ist.
Armut befördert eine ungesunde Ernährung. Der Sozialhilfesatz in Deutschland reicht bei einer Familie nur
20 Tage lang für eine gesunde Ernährung. Zu diesem Ergebnis gelangten Forscher der Universität Gießen in
einer Studie. Aus finanziellen Gründen verpflegten sich
Sozialhilfeempfänger vorwiegend mit Brot, Kartoffeln
und Teigwaren ({1})
so die Ernährungswissenschaftlerin Lehmkühler, die
diese Studie erarbeitet hat. Für ausreichend Obst und
Gemüse reicht das Geld nicht. Die Wissenschaftlerin berichtet von den gravierenden Folgen, die diese Fehlernährung besonders bei Kindern hat. Mit dem Begriff
„Streckphase“ beschreiben Betroffene, dass sie Geld und
Essensreste oft bis zur nächsten Geldüberweisung strecken müssen, damit ihr Haushalt über die Runden
kommt bzw. überhaupt etwas zum Essen und Trinken
auf den Tisch kommt.
Unabhängig von dieser Studie aus Gießen möchte ich
noch eine andere von der Universität Kiel anführen, die
zu ähnlichen Ergebnissen über das Ernährungsverhalten
von Kindern kommt. Dort wurde festgestellt - das ist
wirklich alarmierend -, dass Jungen und Mädchen aus
ärmeren Familien oft übergewichtig seien und gleichzeitig aufgrund der Mangelernährung an Minderwuchs litten. Wir reden hier nicht über Uganda oder den Sudan,
wir reden über eines der reichsten Länder der Welt, über
Deutschland.
Es gibt eine soziale Gruppe, die wegen der Agenda
2010 immer größer werden wird, die sich nicht gesund
ernähren kann, selbst wenn sie es wollte, weil diese
Menschen einfach nicht genug Geld in der Tasche haben. Eine Voraussetzung für eine neue Ernährungsbewegung ist also auch die Bekämpfung von Armut in
Deutschland.
({2})
Was Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit
der Agenda 2010 beschlossen haben, ist ein Armutsprogramm für weite Teile der Bevölkerung und damit, Frau
Künast, ein Armutszeugnis für die Bundesregierung.
({3})
- Das ist überhaupt kein Unsinn. - Zu Beginn des nächsten Jahres wird das Arbeitslosengeld II eingeführt werden. Was bedeutet Arbeitslosengeld II? Das bedeutet die
Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe
auf dem Niveau der Sozialhilfe. Das bedeutet, dass ein
Mensch im Osten Deutschlands, der Arbeitslosenhilfeempfänger war und Arbeitslosengeld-II-Bezieher wird,
nur noch 331 Euro, ein Arbeitslosengeld-II-Bezieher in
Berlin und im Westen 345 Euro im Monat zur Verfügung
haben wird. Ich frage Sie, meine Damen und Herren,
und Sie, Frau Künast: Wie soll man sich im Osten von
331 Euro bzw. im Westen und in Berlin von 345 Euro
gesund ernähren? Wie wollen Sie auf der Basis des Arbeitslosengeldes II eine gesunde Ernährungsbewegung
für Deutschland durchsetzen? Das ist die entscheidende
Frage.
Die Frage des Übergewichts ist vor allen Dingen eine
soziale Frage. Wenn diese soziale Frage nicht gelöst,
sondern verschärft wird, wird sie diese Ernährungsbewegung behindern bzw. verhindern.
({4})
Sehr geehrte Frau Künast, bei mir entsteht der Eindruck, dass die von Ihnen vorgestellte Initiative zwar
sehr gut gemeint ist, dass Sie viele gute Ideen haben und
auch viele Menschen auf eine vernünftige Weise zusammengebracht haben, dass aber die zentrale Frage der sozialen Absicherung nicht beantwortet wird. Sie wird
vielmehr durch die Agenda 2010 verschärft. Wenn die
rot-grüne Bundesregierung dieses Armutsprogramm
nicht korrigiert, wird in Deutschland keine Grundlage
für eine gesunde Ernährung entstehen. Sie muss die
Agenda 2010 korrigieren, damit das Ziel von Frau
Künast umgesetzt werden kann. Dabei werden wir Sie
gerne unterstützen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Marlene Mortler, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir reden heute zur besten Sende10340
und Redezeit im Plenum über Ernährung und Bewegung. Ich habe durchaus Verständnis für die Menschen
in unserem Land, die sich fragen: Habt ihr in Berlin
keine anderen Sorgen?
Die sozialen Sicherungssysteme kollabieren.
({0})
Die Schuldenberge wachsen und lassen unseren Nachwuchs schon in jungen Jahren alt aussehen.
({1})
Ministerin Künast kämpft gegen Kalorien und Kilogramm. Gleichzeitig kämpfen Millionen Menschen auf
der Welt um das nackte Überleben. Das ist verrückt. Es
muss uns auch zu denken geben, dass unter diesen Hungernden Millionen Bauern sind. Es sind Bauern, die Lebensmittel - also Mittel zum Leben - erzeugen. Das ist
die eine Seite.
Wir beschäftigen uns heute mit der anderen Seite,
nämlich damit, dass ernährungsbedingte Krankheiten,
die schon im Kindesalter auftreten, massiv auf dem Vormarsch sind. Ein neuer Umgang mit Essen und Trinken,
mit Lebensmitteln und dem eigenen Körper ist in der Tat
eine wichtige Zukunftsaufgabe.
Die Zahlen der WHO sind genannt worden. Auch die
in Großbritannien angedachte Fettsteuer ist bereits angesprochen worden. Ich selber konnte im Rahmen einer
Delegationsreise in die USA feststellen, wie viele dicke
Menschen bzw. Kinder dort leben. Ehrlich gesagt war
auch ich schockiert.
Der „Focus“ schreibt in seiner neuesten Ausgabe über
die Wenig-Fett- bzw. Wenig-Kohlenhydrate-Manie in
den USA. Superfett und superdürr sind Extreme; es sind
keine Lösungen. Darüber sind wir uns sicherlich einig.
Essstörungen sind im Gegensatz zu Übergewicht psychosomatische Störungen, die vor allem in der Pubertät
auftreten. Sie wachsen sich nicht aus. Vielen wird die
Magersucht zum Lebensinhalt.
Eine exzessive Beschäftigung mit Körper und Gewicht sowie Diäten sind unter Jugendlichen weit verbreitet. Untersuchungen zeigen, dass sich bereits Sieben- bis
Zehnjährige zu dick finden und Diät halten.
Ich zitiere in diesem Zusammenhang Sie, sehr verehrte Frau Künast:
Ernährungsbedingte Krankheiten verursachen erhebliche Kosten. Sie werden auf etwa ein Drittel
der Gesamtkosten unseres Gesundheitswesens geschätzt. Die Zahlen müssten uns eigentlich wachrütteln.
So äußerte sich Frau Künast im Mai 2001 vor dem Bundesverband der Verbraucherzentralen in Berlin. Ich
hoffe, dass Sie nun nach drei Jahren endlich aufgewacht
sind und dieses ernste Thema auch ernsthaft angehen,
und zwar nicht als Event, sondern bitte nachhaltig!
({2})
Ich als Bäuerin, Landfrau, Erzeugerin und Hauswirtschafterin habe meine persönliche Regel und Lebenserfahrung. Die beste Medizin ist für mich, Produkte der
Saison und solche aus der Region zu genießen, und zwar
bedarfsgerecht und - das ist das Sahnehäubchen obendrauf - abwechslungsreich.
({3})
Ich gebe zu, dass das zwar verdammt einfach klingt, aber
- vor allem in Berlin - oft sehr schwer umzusetzen ist.
({4})
Ich erkenne Ihre Bemühungen durchaus an, die Menschen in Deutschland wieder zu einem verantwortungsvollen Ernährungs- und Einkaufsverhalten sowie zu ausreichender Bewegung zu motivieren. Darin sind wir uns
einig.
Meine Anerkennung gilt aber auch allen Bäuerinnen
und Bauern in Deutschland. Sie erzeugen entweder auf
konventionelle oder auf ökologische Weise hochwertige
Nahrungsmittel. Auf den Teller darf nur, was unserer
strengen deutschen Gesetzgebung entspricht. Frau Ministerin, es spricht für sich, dass Sie immer wieder stillschweigend akzeptieren, dass viele ausländische Produkte importiert werden, die unseren Standards nicht
entsprechen. Über diese Importe verlieren Sie kein Wort.
({5})
Was aber nutzt die Erzeugung hochwertigster Nahrungsmittel, wenn andererseits Wissen um den sachgerechten Umgang und die Verarbeitung immer mehr verloren geht? Meine Tochter hat es einmal auf den Punkt
gebracht, als sie gesagt hat: Mama, viele verstehen, aus
den besten Zutaten das schlimmste Essen zu kochen.
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass
der schleichende Abschied von unseren Schulküchen zur
Beschleunigung des negativen Trends beim Ernährungsverhalten beigetragen hat.
({6})
Dabei sind unsere Kinder doch begeistert und interessiert, wenn sie Lebensmittelerzeugung, Lebensmittelverarbeitung und gesundes Essen richtig vermittelt bekommen.
Nicht erst seit Frau Künast gibt es Aktionen und Projekte. Ich denke an dieser Stelle an die Landfrauen. Sie
tagen zur Stunde parallel in Berlin und beschäftigen sich
mit dem Thema „Hauswirtschaft und Ernährung“ wirklich ernsthaft. Ich denke unter anderem an die bayerischen Landfrauen, die sich zu Ernährungsfachfrauen
fortgebildet haben und die sich im Rahmen des Ernährungsprojekts „Landfrauen machen Schule“ mit unseren
Produkten auseinander setzen. Ich denke insbesondere an
die Fachfrauen für Kinderernährung in Baden-Württemberg. Dieses Bundesland stellt alleine 500 000 Euro pro
Jahr für Aufklärung zur Verfügung. Ich denke weiter an
die Gesundheitsinitiative „Bayern aktiv“, durch die Kinder spielerisch erleben, welche Wirkungen ihr Ess- und
Bewegungsverhalten auf ihren Körper hat. Ich denke
ebenfalls an Schülerunternehmen zur gesunden Pausenverpflegung - sie werden fachlich und finanziell in Bayern unterstützt - oder an das Projekt „anschub.de“. Hier
haben das Kultusministerium, die Barmer Ersatzkasse
und die Bertelsmann-Stiftung von 2004 bis 2007 die Initiative ergriffen. Alles, was in der Schule zu einer gesunden Lebensführung beitragen kann, wird in der Modellregion Bad Kissingen mit Lehrern, Schülern und Eltern
erprobt. Bestehende Aktivitäten wie Suchtprävention,
gesunde Ernährung und die „Bewegte Schule“ werden in
einem Gesamtkonzept gebündelt und wissenschaftlich
begleitet.
Mehr Gesundheit bedeutet mehr Lebensqualität und
mehr Leistung in der Schule und später im Berufsleben,
aber auch weniger Folgekosten für den Staat. Und mehr
Bewegung ist auch mehr Lebensqualität. Deshalb habe
ich in der letzten Woche auch eine Initiative des Deutschen Kinderhilfswerkes unterstützt, bei der es um die
Forderung nach dem Recht von Kindern auf Spielen
geht. Das ist ein Grundrecht.
({7})
Wir alle kennen ja die Schilder „Spielen verboten“. Das
müsste eigentlich umgekehrt sein.
Mit der Macht der Medien und der Werbung sind
weitere Einflussfaktoren hinzugekommen. Kinder bestimmen - das wissen wir - immer öfter, was auf den
Tisch kommt. Sie haben die Hosen an und sind viel beachtete Konsumenten.
Es ist schon richtig, wenn wir im Zusammenhang mit
Kinderlebensmitteln von mehr Fett und Zucker sprechen. Ich möchte an dieser Stelle trotzdem eine Lanze
für die Ernährungsindustrie brechen. Erstens reagiert
sie nur auf Verbraucherwünsche und zweitens gibt es
weder gesunde noch ungesunde Nahrungsmittel. Vielmehr kommt es auf die Dosierung an. Ehrlich gesagt,
auch ich esse lieber ein Stück fetten als mageren Käse,
weil ich diesen wirklich genießen kann. Aber ich esse
vom fetten Käse etwas weniger.
({8})
Auch wenn Werbung vieles beeinflusst: Eltern können mit ihren Kindern noch immer direkt reden. Deshalb
brauchen wir mehr Eigenverantwortung. Sie ist sozusagen Pflicht. Aber wir wissen, dass die Familien nicht
alles leisten können. Frau Ministerin, Sie haben sich ja
eine hohe Hürde gesetzt. Wenn wir Ernährungserziehung
wirklich ernst nehmen, dann müssen wir dafür sorgen,
dass sie durchgängig und flächendeckend in allen Altersstufen erfolgt.
Nur dann macht sie Sinn. Leider sind wir bisher über
den Projektcharakter nicht hinausgekommen. Das ist der
nächste weitere wichtige Schlüssel.
Ferner gilt es, die verschiedenen Zielgruppen unterschiedlich anzusprechen. Wir wissen, dass die altersmäßige Entwicklung heute so schnell geht, dass Kinder, die
zwei Jahrgänge auseinander sind, kaum mehr unter
einen Hut zu bringen sind. Was für den Neunjährigen
vor zehn Jahren noch wahnsinnig cool war, ist für den
Neunjährigen heute bereits uncool. Den Sechsjährigen
trennen Welten vom Vierjährigen; für den Achtjährigen
ist der Sechsjährige ein Baby. Das heißt, die Kinderzeit
verkürzt sich, Kinder lassen sich immer früher immer
weniger sagen, abgesehen davon, dass Jungen und Mädchen eh in verschiedenen Universen leben. Meine Herren, nehmen Sie es mir nicht krumm: Mädchen sind
schneller reif, Jungen tun nur so.
({9})
Ist ein Produkt für Jungen gut, kaufen es Mädchen trotzdem; ist ein Produkt für Mädchen gut, mögen es Jungen
noch lange nicht. Gesunde Ernährung geht den Jungen
an der Backe vorbei. Aber alle Kinder wollen, dass es
toll und vielfältig schmeckt, dass Essen sich im Mund
gut anfühlt und dass man im Mund damit spielen kann.
Meine Damen und Herren, alle wissen inzwischen, dass
Milch gesund ist. Aber wenn wir sagen, „Milch macht
schön“, dann ist das ein größerer Anreiz, Milch zu trinken. Das heißt, wir müssen die Kinder dort abholen, wo
sie stehen.
Sie, Frau Ministerin, stehen mit Ihrer Plattform noch
in den Kinderschuhen und wir befürchten, dass nach der
medienwirksamen Sensibilisierung für dieses Thema die
Aufmerksamkeit ohne eine grundsätzliche Verbesserung
der Situation verpufft.
({10})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich bin beim vorletzten Satz. - Ich ziehe hier eine Parallele zur Agrarwende. In Wirklichkeit hat diese viel beschworene Agrarwende das Höfesterben beschleunigt.
Meine Damen und Herren, die Vermittlung von Basiskompetenz bei Kindern und Jugendlichen wird nicht nur
zu einer bewussten Ernährung führen, sondern auch zum
mündigen Verbraucher. Daran, sehr geehrte Frau Ministerin, werden wir Sie messen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Jella Teuchner, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
letzten Jahr hat die Fast-Food-Kette, die heute schon
namentlich erwähnt worden ist, ihren Markenauftritt
komplett umgestaltet. Sie sponsert Sportwettbewerbe.
Spaß, Bewegung und gesunde Ernährung sind die Themen, mit denen das Unternehmen in die Öffentlichkeit
tritt, in erster Linie natürlich aus wirtschaftlichem Eigeninteresse.
({0})
In vielen Diskussionen gilt dieses Unternehmen als
Synonym für schlechte Ernährung. Dass das Unternehmen sein Image ändern will - weg vom Burger hin zum
knackigen Salat mit Michael Ballack als Markenbotschafter -, zeigt, dass die Diskussion um gute Ernährung
mittlerweile in unserer Gesellschaft angekommen ist.
Wir brauchen diese Diskussion. Ich denke, darüber sind
wir uns alle einig. Wir sind uns auch darüber einig, dass
gerade der steigende Anteil übergewichtiger Jugendlicher besorgniserregend ist. Wir dürfen aber nicht nur
über Kinder und Jugendliche sprechen, denn deren Ernährung wird ja zum großen Teil durch die Eltern geprägt.
Das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hat die Leserinnen und Leser der Zeitschrift „Eltern“ zu ihren Essgewohnheiten
befragt. Das Ergebnis bei einer Zielgruppe mit überdurchschnittlichem Bildungsniveau: 22 Prozent der Familien essen seltener als einmal am Tag gemeinsam.
61 Prozent der Kinder verlassen den Tisch, bevor alle
aufgegessen haben.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung beschreibt in
seinen Basisanalysen zum TA-Projekt „Entwicklungstendenzen von Nahrungsmittelangebot und -nachfrage
und ihre Folgen“ eine Zunahme der Verwendung von so
genannten Convenienceprodukten; Zeit, Interesse und
Fähigkeit zum aufwendigen Kochen in den privaten
Haushalten nehmen deutlich ab.
Nun sind Fertiggerichte und Tiefkühlkost nicht per se
schlecht oder ungesund. Aber eines zeigt diese Entwicklung deutlich: Wir nehmen uns nicht mehr die Zeit, die
Ruhe oder die Muße, zu kochen und zu essen. Oft haben
wir sie leider aber auch nicht. Wir haben es mit einer
Entwicklung zu tun, durch die sich das Ernährungsverhalten verändert; gleichzeitig bewegen wir uns weniger,
allein schon deshalb, weil wir im Normalfall im Sitzen
arbeiten. Das Wissen um die Ernährung und um die Lebensmittel an sich geht verloren. Auch das halte ich für
einen wichtigen Punkt.
Es wird immer wieder von Kindern berichtet, die nur
lila Kühe zeichnen, weil sie noch nie eine lebende Kuh
gesehen haben. Glauben Sie denn wirklich, dass noch
alle Erwachsenen wissen, wann man zum Beispiel mehlige oder fest kochende Kartoffeln verwendet? Die verschiedenen Jahreszeiten merkt man am Obstregal ja auch
nur noch an dem Preis für Erdbeeren.
Veränderte Lebensstile, ein verändertes Bewegungsverhalten und vor allem fehlendes Wissen um gesunde
Ernährung, das sind die Gründe dafür, dass wir heute
diese Debatte führen müssen. Wir alle kennen die Folgen
der Fehlernährung für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Wir müssen feststellen, dass die Lösung dieses
Problems dringlicher wird. Wenn Kinder und Jugendliche Krankheiten bekommen, die eigentlich nur bei Erwachsenen bekannt sind, dann ist es höchste Zeit, zu
handeln.
Wir müssen dazu alle ins Boot holen: Die Eltern, die
Kindergärten, die Schulen, die Ärzte, die Krankenkassen, die Verbraucherverbände, die Lebensmittelindustrie
und die Werbewirtschaft. Sie alle müssen mithelfen, das
Wissen um die Ernährung aufzubauen und vor allem Bewegung zu fördern.
Wir brauchen aber auch eine Verbraucherinformation,
die das Wissen um eine gesunde Ernährung vermittelt.
Außerdem brauchen wir ein Produktangebot, das den
Anforderungen an eine gesunde Ernährung entspricht.
Es wird zu fett und zu süß gegessen; trotzdem gibt es
kaum einen ungesüßten Fruchtsaft. Stiftung Warentest
hat festgestellt, dass Produkte für Kinder zu viel Zucker,
zu viel Fett und zu viele Kalorien enthalten. Hier haben
auch die Lebensmittelhersteller eine Verantwortung, die
sie wahrnehmen müssen.
Wir können die Zeit aber nicht zurückdrehen. Unser
Lebensstil hat sich geändert. Unsere Aufgabe ist jetzt,
die Menschen darin zu unterstützen, ein Ernährungsverhalten zu lernen, das diesem Lebensstil entspricht. Das
ist keine Aufgabe, die man den Märkten einfach so überlassen kann. Im Entschließungsantrag der FDP werden
die Handlungsaufforderungen der WHO zitiert: weniger
Fett, Salz und Zucker in bereits bestehenden Produkten,
die Förderung von gesunder Ernährung und Bewegung
durch alle gesellschaftlichen Gruppen und eine Unterstützung zur Durchsetzung dieser Ziele. Aber können
Sie mir eigentlich erklären, warum Sie im Forderungsteil
Ihres Antrages genau diese Handlungsaufforderungen so
vehement ablehnen?
Frau Heinen, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass Sie
eine Bündelung und eine Federführung wollen; andererseits haben Sie beanstandet, das Ganze sei eine Einmischung in Länderkompetenzen. Diese Aussage war also
nicht ganz eindeutig.
Ich komme auf die Ausführungen von Frau Klöckner
zu sprechen. Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass Sie
heute früh ganz schlecht gefrühstückt haben. Der Bereich Sport ist in der Rede der Ministerin nämlich sehr
wohl behandelt worden. Ich möchte schon daran erinnern, wer die Übungsleiterpauschale in diesem Bereich
erhöht hat. Das waren doch wir, während Sie all die
Jahre vorher geschlafen haben.
({1})
Wir konzentrieren uns in der heutigen Debatte auf
Übergewichtige und Fehlernährung. Defizite zeigen sich
aber auch bei alten Menschen in Form von Unterernährung und Austrocknung. Es ist daher richtig, dass es neben dem Programm „Kinder leicht“ das Programm „Fit
im Alter“ gibt. Wir werden beide Programme fortsetzen
und weiterentwickeln. Sie allein reichen aber nicht aus.
Wir brauchen eine neue Ernährungsbewegung in
Deutschland, an der sich möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligen.
Heute Vormittag sprechen wir uns alle in dieser Debatte für eine gesunde Ernährung aus. Es ist jetzt gerade
11 Uhr. Heute Mittag werden die meisten von uns leider
wieder keine Zeit dazu haben, in Ruhe etwas zu essen.
Ich bin mir sicher, dass wir das Plenum auch heute nicht
für eine Mittagspause unterbrechen werden. Trotzdem
gilt auch heute: Wenn mittags nicht alle Abgeordneten
im Plenum sind, dann sind die, die fehlen, ein Vorbild:
Sie nehmen sich die Zeit fürs Essen.
({2})
Ich wünsche dazu Ruhe und Muße. Ich wünsche eine gesegnete Mahlzeit.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Ostendorff für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! 49 Prozent der Bevölkerung sind übergewichtig, 13 Prozent stark übergewichtig. Übergewicht
hat zwei Hauptursachen: mangelnde Bewegung, falsche
Ernährung. Wir essen nicht mehr, sondern wir essen
falsch.
({0})
Landwirtschaft und Ernährung sind untrennbar miteinander verbunden. Sitzen aber womöglich auch Bauern und übergewichtige Kinder in einem Boot? Sowohl
Kinder als auch Bäuerinnen und Bauern bekommen
schmerzhaft zu spüren, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft die Wertschätzung für ihre Nahrung verliert.
Fehlernährung ist auch Folge von Missachtung und
Unkenntnis der Herkunft und Qualität unserer Nahrungsmittel.
({1})
Für uns Bauern bedeutet diese Haltung einen oft gnadenlosen Preiskampf, weil die Bereitschaft fehlt, für gute
Produkte gute Preise zu zahlen.
Der Bereich Ernährung ist elementarer Bestandteil einer sinnvollen Agrarpolitik. Das hat man bei der CDUWahlwerbung mit dem Apfel erkannt. Die einseitige
Lobbypolitik vergangener CDU/CSU-Zeiten hat aber zu
einer Entfremdung zwischen Landwirtschaft und Verbrauchern sowie vor allem von unserer Nahrung geführt.
Leider arbeitet die Opposition auch heute noch daran,
diesen Prozess zu verstärken.
Ministerin Künast und wir sind mit einer Agrarwende angetreten, die die Landwirtschaft und vor allem
ihre Produkte wieder in die Mitte der Gesellschaft rückt.
({2})
Deshalb sind wir froh darüber, Frau Klöckner, dass sich
unser Staatssekretär auch über die Ernährungspolitik anderer Länder informiert.
({3})
Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, wollen wir
eine transparente Landwirtschaft, die sich nicht verstecken muss. So entsteht eine Situation, von der Bauern
und Konsumenten gleichermaßen profitieren. Die Menschen merken wieder, dass Nahrungsmittel auch Lebensmittel sein können, aber auch, was Qualität, Regionalität
und Jahreszeit bedeuten.
({4})
Wir müssen das Bewusstsein unserer Kinder schärfen,
sie zum Beispiel auch wieder auf die Höfe bringen,
({5})
damit sie erleben können, woher ihr Essen kommt.
({6})
Kindergeburtstage auf dem Bauernhof anstatt, wie heute,
im Fast-Food-Restaurant sind für Kinder sicherlich auch
sehr spannend.
({7})
Wir müssen mit unseren Produkten aber auch in die
Schulen gehen. Das Programm für 10 000 Ganztagsschulen, das wir aufgelegt haben, bietet die Chance auf
5 Millionen gesunde, frische Mahlzeiten pro Tag.
Meine Damen und Herren, ist es wirklich ein Fortschritt, dass die Küche der unwichtigste Raum in der
Wohnung geworden ist? Ich habe immer bedauert, dass
die Hauswirtschaftslehre aus den meisten Lehrplänen
gestrichen wurde. Dies wurde sogar als Erfolg moderner
Schulpolitik gefeiert. Moderne Ernährungslehre muss
wieder Schulfach werden.
({8})
Das Wissen darüber, wie ein Haushalt zu organisieren ist
und Lebensmittel bearbeitet werden, ist vielleicht ebenso
wichtig wie das Wissen über Informatik.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Nein, im Moment nicht; das können wir zum Schluss
machen.
Wir wollen Fast Food nicht abschaffen, aber unsere
Kinder müssen lernen, was sie wann wie oft essen dürfen. Slow Food und Good Food statt Fast Food, das ist
die Zukunft. Viele unserer Mitmenschen haben das Kochen verlernt. Die Nahrungsmittelindustrie bringt mit
viel Werbung immer neue Convenience-Food-Angebote
auf den Markt, die oft nur sehr entfernt ahnen lassen, aus
welchem Urprodukt sie entstanden sind. Schlimmer: Sie
verführen unsere Kinder zum schnellen Essen nebenbei
und schwören sie frühzeitig auf einen industriellen
Durchschnittsgeschmack ein.
Gezielte Kinderwerbung, meine Damen und Herren,
müssen wir ächten. Warum sollen Kinder fragen, woher
Lebensmittel kommen, wenn man ihnen Fertiggerichte
- diese sind zu süß oder zu salzig, enthalten zu viele Kalorien, sind zu ballastarm, zu fett, zu vitaminarm und
auch zu teuer - vorsetzt?
({0})
1 Kilogramm konventionell angebaute Kartoffeln
kostet 30 Cent, 1 Kilogramm Biokartoffeln 50 Cent, eine
Tüte Chips, 200 Gramm, 99 Cent; heute Morgen noch
im Edeka-Markt gesehen. Das heißt, die konventionell
angebauten Kartoffeln, legt man den Preis der Tüte
Chips zugrunde, kosten pro Kilogramm 4,95 Euro.
Unsere guten, frischen Produkte müssen wieder zurück auf die Speisekarte, auch deshalb, weil sie viel
preiswerter sind. Richtige Ernährung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Hier geht Aufklärung vor Gewinnmaximierung; denn die Folgekosten müssen wir
alle tragen.
Meine Damen und Herren, rot-grüne Agrar-, Ernährungs- und Verbraucherpolitik will nicht nur regionale
und verbrauchernahe Lebensmittelproduktion, sondern
auch den Umgang mit guten Lebensmitteln fördern.
Deshalb brauchen wir die Ernährungsplattform. Neben
der auch sehr wichtigen Frage des Bewegungsmangels
- hier gilt für uns alle: Jeder Gang macht schlank - sind
frische Lebensmittel sicherlich ein entscheidender Hebel, einer falschen Ernährung durch Fertigprodukte zu
begegnen.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an den
Kollegen Jörg Tauss.
Lieber Herr Kollege, ich freue mich sehr, dass auch
unser Ganztagsschulprogramm gewürdigt worden ist.
Die Würdigung des Ganztagsschulprogramms unter dem
Gesichtspunkt der Einrichtung von Schulküchen, die
dazu führen, dass die Schülerinnen und Schüler gesund
ernährt werden, wäre doch möglicherweise der geeignete Anlass für die Opposition, endlich ihre diskriminierende Definition des Ganztagsschulprogramms als Suppenküchenprogramm aufzugeben.
({0})
Ich glaube, es wäre höchste Zeit, hier wieder die Kirche
ins Dorf zu stellen, sich für diese Polemik zu entschuldigen und deutlich zu machen, dass die Ganztagsschule
selbstverständlich auch dazu da ist, die vernünftige Ernährung von Kindern sicherzustellen. Wenn wir davon in
Zukunft ausgehen könnten, hätten wir in diesem Punkt
schon einmal Einigkeit erzielt.
({1})
Herr Kollege Ostendorff, Sie können antworten.
({0})
Danke, Herr Tauss, für diesen Hinweis. Ich denke,
dass wir hier einen sehr wichtigen Baustein dafür setzen,
um unsere Kinder wieder an die Ernährung mit frischen
und gesunden Produkten zu gewöhnen. Wir erleben,
dass gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
Ganztagsschulen - hier spreche ich aus eigener Erfahrung; denn unser Betrieb beliefert seit vielen Jahren Kindertagesstätten und Schulen mit Produkten von unserem
Hof - für die Vermittlung der Bedeutung von gesunden
und frischen Nahrungsmitteln sehr wichtig sind; denn
die Küchenleiterinnen und -leiter sind in der Regel sehr
engagiert. Sie sind wichtige Multiplikatoren und sorgen
dafür, dass auch die Kinder, die von zu Hause nicht genügend an diesem Punkt mitbekommen, angehalten werden, sich mit der Frage, wie sie sich richtig ernähren
können, auseinander zu setzen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen
15/3323 und 15/3324 sollen zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an den
Sportausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit und
Soziale Sicherung und an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3310 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Uwe
Schummer, Werner Lensing, Katherina Reiche,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der dualen Berufsausbildung in Deutschland durch Novellierung
des Berufsbildungsrechts
- Drucksache 15/2821 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({1}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Berufsausbildungsrechts
- Drucksache 15/3325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In Deutschland gibt es erhebliche Probleme
und Hindernisse in Bezug auf die Ausbildung und Beschäftigung junger Menschen. Wir alle kennen die
Gründe dafür sehr genau. Die Probleme sind auch nicht
mit der gestrigen Vereinbarung vom Tisch. Wir sind
nämlich konfrontiert mit einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage, mit zu hohen Lohnkosten und mit einer oft
unzureichenden schulischen Vorbildung der Auszubildenden und einem veralteten Berufsbildungsrecht. In
den letzten sechs Jahren hat die Koalition keines dieser
Probleme gelöst. Im Gegenteil: Es ist schlimmer geworden, anstatt dass es besser geworden wäre.
({0})
Jetzt muss dringend umgesteuert werden. Wir brauchen eine bessere Wirtschaftspolitik. Wer mehr Ausbildungsplätze will, muss der Wirtschaft die richtigen
Chancen geben. Wir brauchen eine Verbesserung im Bereich des Berufsbildungsrechts. Alle Stellschrauben sind
zu justieren, um jungen Menschen eine Chance zu geben. Ich spreche hier bewusst von Stellschrauben und
nicht von Daumenschrauben;
({1})
denn die Ausbildungsplatzabgabe, die Sie hier im
Deutschen Bundestag verabschiedet haben, war ein großer Fehler. Dieses Gesetzt war getragen von einem tiefen
Misstrauen gegenüber Unternehmern, Handwerkern und
Selbstständigen in Deutschland. Eine Zwangsabgabe
einführen zu wollen war der größte Fehler, den Sie je gemacht haben.
({2})
Zu einer vertrauensvollen Kooperation sind Sie noch
immer nicht in der Lage. Das zeigt sich allein daran,
dass Sie konstant die Anstrengungen ignoriert haben, die
die deutsche Wirtschaft im letzten Herbst mit ihrem Programm „Chancengarantie 2003“ unternommen hat, um
zusätzliche Ausbildungsplätze einzuwerben. Noch wichtiger ist, dass es gelungen ist, viele Jugendliche in echten
Ausbildungsverhältnissen unterzubringen.
Unter den jetzigen schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, von denen wir alle wissen, was sie für jedes einzelne Unternehmen bedeuten, verpflichtet sich
die Wirtschaft, 30 000 neue Ausbildungsplätze und
25 000 Praktikumsplätze bereitzustellen. Das ist unter
den gegebenen Bedingungen mehr als beachtlich. Wir
begrüßen das und sagen herzlichen Dank für diese Initiative der Wirtschaft.
({3})
Dass die Selbstverpflichtung der Bundesregierung,
Herr Tauss, auf tönernen Füßen steht, das wissen wir;
denn Ihre Politik ist durch das Leitmotiv „Versprochen gebrochen“ gekennzeichnet. In dieser Situation wird
sich die Wirtschaft und werden sich die Jugendlichen
wiederfinden.
({4})
Ich will Sie an dieser Stelle ganz deutlich vor Selbstlob und Legendenbildung warnen. Ich zitiere die „Süddeutsche Zeitung“ von heute, die mit Blick auf den Ausbildungspakt auf Ihr Selbstlob eingeht:
Dieses Argument … lässt außer Acht, welche fatalen Auswirkungen die Debatte der vergangenen
Monate bereits hatte. In der Realität, in den Betrieben also, hat das Projekt Ausbildungsabgabe zum
Gegenteil des Gewünschten geführt: Die Zahl der
angebotenen Ausbildungsplätze liegt heute um
23 000 niedriger als vor einem Jahr.
Dies sei, so die „Süddeutsche Zeitung“, vor allem als
Folge des Vertrauensverlustes der Unternehmen in die
Politik der rot-grünen Bundesregierung zu interpretieren. - So ist es und nicht anders.
({5})
Wäre es nach Ihnen gegangen, Frau Bulmahn und
auch die rot-grüne Regierungskoalition, dann wäre heute
die kontraproduktive Ausbildungsplatzgabe Gesetz und
Realität.
({6})
Nur weil die Union - das sage ich mit Fug und Recht den Vermittlungsausschuss angerufen hat,
({7})
haben wir den Weg freigemacht und dafür gesorgt, dass
die Wirtschaft bereit war, einen solchen Ausbildungspakt zu schließen.
({8})
- Sie können darüber lachen, liebe Frau Kressl; das
zeigt, dass Sie noch nicht einmal das Verfahren kennen,
nach dem im Bundesrat gearbeitet wird. Wenn wir nicht
Nein gesagt hätten, gäbe es heute die Ausbildungsplatzabgabe mit einer monströsen Bürokratie.
({9})
Ich sage Ihnen auch ganz klar: Wir werden den
Wunsch von Herrn Müntefering, der erklärt, dass die
Ausbildungsplatzabgabe ruhen solle, auf keinen Fall erfüllen. Wir bleiben bei unserer Linie: Das Gesetz ruht
nicht, es gibt keine Hängepartie; das Gesetz muss weg.
So werden wir im Vermittlungsausschuss verfahren und
Sie werden dort Farbe bekennen müssen.
({10})
Liebe Frau Kressl, im „Spiegel“ konnte ich nachlesen, wie überrascht Sie waren, dass Herr Müntefering
jetzt eine Kehrtwendung vollzogen hat, um sich, wie
der „Spiegel“ schreibt, „ohne großen Gesichtsverlust aus
der Affäre zu ziehen“. Liebe Frau Kressl, wir waren
nicht überrascht; denn wir wissen, dass die SPD und die
Grünen jeden Tag gut sind für ein Überraschungsei, das
sie dem Land und den Bürgerinnen und Bürgern ins Nest
legen. Seit fünfeinhalb Jahren widerlegen Sie mit aller
Kraft die Lebensweisheit von Wilhelm Busch, die da
lautet: „Stets findet Überraschung statt, da, wo man’s
nicht erwartet hat.“ Von Ihnen könnten wir dagegen stets
eine neue Kehrtwende erwarten.
({11})
Wir brauchen ein modernisiertes Berufsbildungsrecht.
Deshalb haben wir eine Gesetzesnovelle vorgelegt. Das
duale Ausbildungssystem muss gestärkt werden. Es ist
die tragende Säule unserer beruflichen Ausbildung. Es
ist und war die Grundlage für eine gute wirtschaftliche
Entwicklung - wir sind oft darum beneidet worden -,
aber es muss den neuen Anforderungen angepasst werden.
Wir kritisieren, dass die Bundesregierung bis heute
keine Kabinettsvorlage - sie hat lediglich Eckpunkte
vorgelegt - zustande gebracht hat. Frau Bulmahn, jetzt
gibt es einen Referentenentwurf, mit dem Sie einen gefährlichen Weg beschreiten. Sie beschreiten den Weg einer langsamen, aber stetigen Aushöhlung der dualen
Ausbildung; denn wenn Sie Vollzeitschulen mit der dualen Ausbildung in Schule und Betrieb gleichsetzen, dann
ist das kontraproduktiv und unverantwortlich. Sie wissen
genau: Die Vermittlungschancen junger Menschen mit
vollzeitschulischer Ausbildung sind geringer als die derjenigen, die im dualen System ausgebildet wurden. Deshalb muss das duale System gestärkt werden, statt Irrwege zu beschreiten.
({12})
Die FDP hat nachgezogen. Ich sage herzlichen Dank
dafür, dass wir in vielen Fällen eine große Übereinstimmung haben.
({13})
Wir werden alles daransetzen, die Novellierung des Berufsbildungsrechtes so schnell wie möglich zu realisieren.
Ich will vier Punkte nennen, auf die es uns ankommt
- die Kollegen Schummer, Lensing und Dobrindt werden diese Punkte dann noch im Detail darlegen -: Wir
wollen modernisieren, indem wir eine beschleunigte
Überarbeitung und Neufassung von rund 350 Ausbildungsordnungen angegangen sind. Wir haben damit
schon in unserer Regierungsverantwortung begonnen.
Ich darf daran erinnern, dass wir allein 1997 mit Blick
auf die neuen IT-Komponenten Ausbildungsordnungen
für 49 Berufe neu geschaffen und vorgelegt haben. Aber
wir brauchen schnellere Verfahren. Eine Dauer von derzeit acht Monaten ist zu lang. Deshalb schlagen wir eine
Verfahrensstraffung vor.
({14})
Wir sprechen uns auch für gestreckte Prüfungen
aus; denn es macht keinen Sinn, in Zwischenprüfungen
nur den aktuellen Stand abzufragen, aber das Ergebnis
nicht in die Abschlussprüfung eingehen zu lassen.
Wir setzen auf Flexibilisierung durch eine Ausbildung in Stufen und wir wollen der Internationalisierung Rechnung tragen, indem wir sagen: Auch im Ausland erworbene Ausbildungen müssen angerechnet
werden. Dazu brauchen wir einen europatauglichen Ausbildungspass.
({15})
- Lieber Herr Tauss, „Guten Morgen“ gilt für Sie;
({16})
denn Sie haben bis heute noch nicht einmal einen Gesetzentwurf vorgelegt, über den wir im Parlament verhandeln könnten. Das ist ein Offenbarungseid.
({17})
Ich will zwei Punkte ansprechen, von denen ich
denke, dass sie weit über die Frage hinausreichen, wie
wir das Berufsbildungsrecht - dies muss dringlich erfolgen - reformieren. Wir müssen in einer Wissensgesellschaft darauf achten, dass die berufliche Ausbildung mit
schulischer Bildung und anschließender Weiterbildung
vernetzt ist. Auch hier treffen wir bei der Koalition auf
einen Leerraum. Bis heute haben Sie kein schlüssiges
Konzept für lebenslanges Lernen vorgelegt. Wir werden auch in dieser Sache eine Vorlage in das Parlament
einbringen.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es muss
uns alle umtreiben, dass die Bugwelle der Hoffnungslosen immer größer wird.
({18})
Sie haben in Ihrer Koalitionsvereinbarung 2002 geschrieben:
Unser Ziel ist: Kein junger Mensch darf nach der
Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen werden.
Wir haben derzeit 500 000 junge Menschen unter
25 Jahren, die arbeitslos sind. Denen ist mit all dem, was
Sie bisher getan haben, nicht gedient und nicht geholfen
worden. Sie müssen umsteuern. Wir wollen eine bessere
schulische Vorbereitung, eine Modularisierung,
Frau Kollegin!
- die auch in die Schule hineinreicht. Wir wollen eine
stärkere Vernetzung zwischen Schule, beruflicher Ausbildung und Weiterbildung; nur so können die jungen
Menschen in einem veränderten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt bestehen.
Wir haben Ihnen heute eine Novelle für das Berufsbildungsgesetz auf den Tisch gelegt.
({0})
Greifen Sie zu, wie Ihr Kollege Clement gesagt hat! Sie
haben die Aufgabe, sofort tätig zu werden. Frau
Bulmahn, zögern Sie dieses Gesetzgebungsvorhaben
nicht unnötig hinaus! Handeln Sie jetzt! Das sind wir
den jungen Menschen in unserem Land schuldig.
({1})
Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Edelgard Bulmahn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Wenn es eine gesellschaftspolitische
Aufgabe gibt, die wir vor allen anderen zu lösen haben,
dann ist es die, sicherzustellen, dass jungen Menschen
eine qualifizierte Ausbildung ermöglicht wird.
({0})
Ich bin froh, dass wir uns gestern mit einem nationalen Ausbildungspakt zwischen Bundesregierung und
der Wirtschaft in aller Deutlichkeit dazu verpflichtet haben, zusätzliche Ausbildungsplätze für die jungen Menschen in Deutschland bereitzustellen und ihnen damit
vor allen Dingen die Chance - die Lebenschance, die
Ausbildungschance - zu geben, die sie brauchen. Der
Ausbildungspakt ist deshalb vor allem ein Erfolg für die
jungen Menschen.
Der nationale Ausbildungspakt ist ein Riesenschritt.
Wir müssen in diesem Jahr aber noch spürbare Effekte
auf dem Ausbildungsmarkt erzielen; denn auf dem Prüfstand steht auch das duale System der beruflichen Bildung. Ohne zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze
können wir weder sicherstellen, dass alle Jugendlichen
ein Ausbildungsplatzangebot erhalten, noch, dass die
Wirtschaft die qualifizierten Arbeitskräfte bekommt, die
sie braucht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nur mit einer
qualifizierten Ausbildung können wir junge Menschen
für unsere Gesellschaft gewinnen. Nur so sichern wir
den Jugendlichen die Teilhabe und die Möglichkeit, insbesondere ihre Berufschancen wahrzunehmen. Nur so
können wir sicherstellen, dass wir in zehn und auch in
20 Jahren qualifizierte Menschen haben, die bereit sind,
für dieses Land, für unsere Gesellschaft zu arbeiten, die
bereit sind, den Wohlstand zu sichern und unserem Land
eine Zukunftsperspektive zu geben.
Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist aber
auch deshalb eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Aufgaben, weil sich Unternehmen eben nur mit
gut ausgebildeten Menschen im internationalen Wettbewerb behaupten können. Ich weise zu Recht immer
darauf hin, dass wir schon nach den Daten, die uns jetzt
vorliegen, aufgrund der demographischen Entwicklung
davon ausgehen müssen, dass, wenn wir auf der jetzigen
Entwicklungsstufe stehen blieben, in zwölf oder 13 Jahren rund 3,5 Millionen qualifizierte Fachkräfte fehlen
würden. Deshalb muss es uns gelingen, das, was wir im
Pakt vereinbart haben, umzusetzen.
({1})
Es geht nicht nur um ein einfaches Plus, also um
bloße Quantität. Es geht vor allem auch um die Weiterentwicklung der Qualität der beruflichen Bildung, und
zwar auf allen Ebenen.
({2})
Mehr Qualität in der beruflichen Bildung, dieses Ziel
verfolgt die Bundesregierung mit dem Gesetz zur Reform des Berufsbildungsgesetzes. Ich habe im Februar
2004 die Eckwerte zur Reform der beruflichen Bildung
vorgelegt. Wir haben vor anderthalb Jahren - einige in
diesem Haus haben das offensichtlich vergessen - bereits eine kleine Novelle des Berufsbildungsgesetzes
durchgeführt, die zum Beispiel die Schaffung von Qualifikationsbausteinen beinhaltete. Ich bedaure, dass offensichtlich auch diejenigen, die eigentlich Verantwortung
für diesen Politikbereich tragen, das gar nicht zur Kenntnis genommen haben. Das wundert mich, ganz offen gesagt, ein wenig. Ich denke, man liest zumindest die Gesetze, für die man Verantwortung trägt und die man hier
beschließt.
({3})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
({0})
Aber selbstverständlich.
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Ich teile Ihre Einschätzung, was die Anforderungen an die künftige Berufsausbildung und die Qualität der Berufsausbildung
- auch im internationalen Vergleich - angeht, vollständig. Würden Sie mir unter diesem Gesichtspunkt vielleicht sagen, welchen Sinn es dann hat, wenn im Gesetzentwurf der CDU/CSU steht:
Zum anderen gibt es bei Lehrlingen
- sie meinen wohl die Auszubildenden und in den Betrieben nach wie vor ein Bedürfnis
nach weniger komplexen Tätigkeiten.
Sind Sie wie die Union der Auffassung, dass wir in Zukunft mit weniger komplexen Tätigkeiten, mit weniger
Qualifikation in den Betrieben zu rechnen haben, oder
glauben Sie, dass das Ziel „mehr Qualität“ den Zukunftsanforderungen gerecht wird?
({0})
Ich teile die Auffassung, die in dem Antrag zum Ausdruck gebracht wird, nicht. Ich halte sie, offen gesagt,
auch für etwas schlicht. Ich bin der Auffassung, dass in
der beruflichen Ausbildung immer mehr Qualifikationen
gefordert werden. Es gibt eine klare Entwicklung in unserer Wirtschaft: Die Anforderungen an die Qualifikationen steigen.
Ich halte es zweitens für wichtig, den Jugendlichen
unterschiedliche Einstiegs- und Qualifikationswege anzubieten. Das System der beruflichen Bildung muss es
den Jugendlichen ermöglichen, sich ausgehend von ihrer
beruflichen Bildung weiterbilden zu können. Das ist ein
wichtiger Eckpunkt des Gesetzentwurfs. Ich halte es für
das Entscheidende, dass wir den Jugendlichen entsprechend ihrer Voraussetzung unterschiedliche Angebote
und Wege eröffnen. Es reicht nicht aus, simpel zu sagen,
man brauche einfach weniger komplexe Anforderungen.
Wir brauchen unterschiedliche Wege.
Ich mache es der CDU/CSU zum Vorwurf, dass sie
ein Modell entwickelt hat, das zu schlicht ist. Es wird
weder den Anforderungen der Jugendlichen noch denen
der Wirtschaft gerecht.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zusatzfrage des
Kollegen Kauder?
Auch diese gestatte ich, selbstverständlich.
({0})
Frau Ministerin, ich stelle meine Frage im Nachgang
zu dem, was Herr Tauss gesagt hat. Ich habe hier einen
Artikel aus der „Stuttgarter Zeitung“, in dem der frühere
Vorsitzende der SPD in Baden-Württemberg, Ulrich
Maurer, sagt:
Leider ist das Ausmaß offenkundiger Inkompetenz
so groß, dass wir nicht nur ein Problem mit dem falschen Kurs haben, sondern auch mit fehlendem
Vertrauen...
Was sagen Sie zu diesem Vorwurf aus den eigenen
Reihen?
({0})
Herr Kauder, ich besitze eine eigene Urteilsfähigkeit;
ich hoffe, Sie auch. Oder müssen Sie sich schon auf
Presseartikel beziehen, um sich ein Urteil bilden zu können? Ich stimme der darin genannten Beurteilung nicht
zu. Da ich über eine eigene Urteilsfähigkeit verfüge, will
ich noch einmal auf den Kern zurückkommen.
Ich bedauere es, dass sich die CDU/CSU an der
Anhörung zum Referentenentwurf, die heute stattfindet, nicht beteiligt. Stattdessen tut Frau Böhmer so, als
ob es diesen Referentenentwurf gar nicht gäbe.
({0})
Ich möchte Sie ermuntern, sich konstruktiv an der Arbeit
und an der Debatte über diesen Gesetzentwurf zu beteiligen.
({1})
Ich denke, die Arbeit daran liegt im Interesse unserer gesamten Gesellschaft.
({2})
- Natürlich sind Sie dazu eingeladen, Frau Flach. Die
Oppositionsparteien sollten sich konstruktiv daran beteiligen.
({3})
Deshalb sage ich auch noch einmal ausdrücklich,
Frau Böhmer: Sie geben den Jugendlichen kein gutes
Beispiel, wenn Sie Behauptungen in den Raum stellen,
die der Sache überhaupt nicht entsprechen.
({4})
Die Eckpunkte liegen seit 2004 vor. Sie hatten und haben ausreichend Zeit, sich damit auseinander zu setzen.
Die Anhörung zum Referentenentwurf findet heute statt.
Ich lade Sie noch einmal ausdrücklich ein, konstruktiv
an dieser Reform mitzuarbeiten. Wir packen hier die umfassendste Reform des Berufsbildungsgesetzes seit den
60er-Jahren an. Das ist - das sage ich ausdrücklich - unsere Zielsetzung.
({5})
Wir wollen mit dieser Novelle erreichen, dass das
duale Ausbildungssystem, die duale Berufsausbildung,
auch weiterhin das Markenzeichen des deutschen Bildungssystems und der deutschen Wirtschaft bleibt. Eine
qualitative Weiterentwicklung der beruflichen Bildung
umfasst deshalb für uns Qualität, Modernität, Flexibilität
und Internationalität.
Wir wollen keine Königswege gesetzgeberisch vorgeben, sondern Flexibilität ausbauen und verstärken. Diesem Leitgedanken folgt auch der von uns vorgelegte
Entwurf zur Reform der beruflichen Bildung. Dabei stehen folgende Ziele im Mittelpunkt: Wir wollen Innovation durch rasche Modernisierung. Mit modernen und
passgenauen Ausbildungsberufen erschließen wir zusätzliche Ausbildungsmöglichkeiten und verschaffen wir
der Wirtschaft mehr qualifizierte Fachkräfte.
({6})
Diese Bundesregierung hat seit 1999 bereits über
160 Ausbildungsberufe modernisiert bzw. neu geschaffen. Das zeigt, dass wir diese Aufgabe seit 1998 offensiv
angegangen sind. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen
wird im Übrigen inzwischen in diesen modernisierten
bzw. neu geschaffenen Berufen ausgebildet.
Wir wollen Ausbildungschancen für alle. Mit neuen
Förderstrukturen und einer schrittweisen Qualifizierung
in anschlussfähigen Ausbildungsangeboten verbessern
wir die Chancen für benachteiligte Jugendliche. Auch
Stufenausbildungen gehören dazu. Im Übrigen gibt es
seit diesem Jahr vier neue Berufe, die genau diesem Modell entsprechen.
Wir werden mögliche Zeitverzögerungen bei der Modernisierung von Ausbildungsberufen noch weiter abbauen. Bei der Entwicklung von zweijährigen Berufen
beispielsweise wird entschieden, wenn sich die Sozialpartner nicht auf einen Konsens einigen können.
Es geht außerdem um die Berücksichtigung von Verbundausbildung und das Ermöglichen betrieblicher Abweichungen von Ausbildungsordnungen. Durch mehr
Kooperation von Betrieben und beruflichen Schulen
schaffen wir mehr Ausbildungsplätze und erhöhen die
Ausbildungsqualität.
Ein weiteres wichtiges Ziel: Mit der besseren Kooperation, mit der Verknüpfung von nationaler und internationaler Ausbildung, von Allgemein- und Berufsausbildung sowie von Ausbildung und Weiterbildung schaffen
wir attraktive und anspruchsvolle Ausbildungsberufe.
Innovation durch Kooperation erreichen wir dadurch,
dass die Verantwortlichen in der Region, in den Ländern,
aber auch in den Gremien des Bundes mehr Entscheidungs- und Handlungsspielräume erhalten. Das verstärkt
im Übrigen auch den Wettbewerb um die erfolgreichsten
Wege. In Zukunft, meine sehr geehrten Herren und
Damen, können die Akteure vor Ort eine stärkere Kooperation der betrieblichen und schulischen Systeme
vereinbaren. Das ist im Übrigen der Wunsch aller Landesregierungen, und zwar unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Mit vielfältigen inhaltlichen und zeitlichen
Kombinationen wird es möglich, die Ausbildungsqualität zu steigern, alle Ausbildungskapazitäten optimal zu
nutzen und strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft dadurch auch besser gerecht zu werden.
Ein Paradigmenwechsel von der betrieblichen hin zur
schulischen Ausbildung, wie Sie, Frau Böhmer, es hier
dargestellt haben, findet nicht statt und ist auch nicht beabsichtigt.
({7})
- Lesen Sie den Text vorher!
({8})
Sie sollten den Jugendlichen kein schlechtes Beispiel geben, indem Sie hier etwas anderes darstellen, als in dem
Text steht.
({9})
Wir waren alle zu Recht darüber erschrocken, wie wenig
Textverständnis einige Jugendliche haben. Wir sollten
hier kein entsprechendes Beispiel geben.
({10})
In dem Referentenentwurf steht etwas völlig anderes als
das, was Sie erzählt haben, Frau Böhmer.
({11})
Ich werde gleich noch einmal darauf eingehen.
Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass sich inzwischen über eine halbe Million Jugendlicher in schulischen Berufsbildungsmaßnahmen befindet, davon circa
200 000 Jugendliche in vollzeitschulischen Berufsbildungsgängen, die zu einem beruflichen Abschluss führen sollen.
Mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes eröffnen
wir den Ländern die Möglichkeit, durch Vereinbarungen
der Landesregierungen mit den Kammern zu erreichen,
dass die Jugendlichen in Zukunft eine Kammerprüfung
ablegen können. Das ist eine wichtige Voraussetzung für
den Berufseinstieg.
({12})
Mit der Verknüpfung von Aus- und Weiterbildung
schaffen wir im Übrigen konkrete Perspektiven für das
berufliche Fortkommen. Klar konturierte, durchlässige
Wege für berufliche Entwicklung und aufeinander aufbauende Möglichkeiten zur beruflichen Höherqualifizierung sind dafür notwendig. Mit dem neuen Gesetz werden wir gesondert zu prüfende Zusatzqualifikationen
einführen, die über das in Ausbildungsordnungen Festgelegte hinausgehen. Dies eröffnet leistungsstarken Jugendlichen zugleich die Option, Teile einer Aufstiegsfortbildung bereits während der Erstausbildung zu
absolvieren.
Außerdem werden wir Kompetenzstandards in der
beruflichen Bildung einführen. Sie sind ein wirksames
Instrument zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung und sie erhöhen die Chancen unserer Fachkräfte auf
dem internationalen Arbeitsmarkt. Durch Kompetenzstandards können wir mehr Transparenz über Bildungsziele und fachspezifische Kompetenzen erzielen. So
schaffen wir die Voraussetzung für mehr Vergleichbarkeit und eine adäquate Anerkennung.
Als Antwort auf die Globalisierung muss die Berufsausbildung internationaler und vor allem europäischer
werden. Internationalität muss auch heißen, mehr Mobilität zu ermöglichen. Mit dem neuen Berufsausbildungsgesetz werden Ausbildungsabschnitte im Ausland
erstmals ein gleichwertiger Teil einer anerkannten Berufsausbildung im dualen System.
({13})
Deutschland beteiligt sich darüber hinaus an den europäischen Qualifikationen in der Europäischen Union.
Dazu werden wir - das jedenfalls ist unsere Vorstellung - ein System zur Sicherstellung der Anerkennung
entwickeln.
Der vorgelegte Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur Modernisierung der beruflichen Bildung enthält
nur zwei neue Punkte. Alles andere übernehmen Sie aus
unserem Entwurf.
({14})
Daraus kann ich schließen - das finde ich durchaus erfreulich -, dass es eine große Übereinstimmung gibt.
({15})
- Herr Lensing, ich habe unseren Entwurf vorgetragen.
An zwei Punkten gehen Sie darüber hinaus. Das lässt
den Schluss zu, dass es eine große Übereinstimmung
gibt.
Ihre zwei zusätzlichen Vorschläge gehen zulasten der
Auszubildenden und tragen nicht zur Verbesserung der
beruflichen Ausbildung bei.
({16})
Zum einen handelt es sich um den Vorschlag, die Ausbildungsvergütung abzusenken. Im Gegensatz zu Ihnen
nehmen wir die Tarifautonomie ernst.
({17})
Die Tarifautonomie hat auch Auswirkungen auf die nicht
vertraglich gebundenen Auszubildenden, die von der
Absenkung allein betroffen wären.
Der zweite Vorschlag beinhaltet die Erhöhung der
Dauer der Probezeit von drei auf sechs Monate bei
gleichzeitiger Senkung der Ausbildungsdauer auf möglichst nur zwei Jahre. Auch das halte ich für nicht zielführend. Für viel wichtiger und entscheidender halte ich
das, was wir bereits vor eineinhalb Jahren mit der letzten
Novelle geschaffen haben, dass Jugendlichen nämlich
verschiedene Einstiegsmöglichkeiten eröffnet werden,
beispielsweise über sechsmonatige Qualifikationsbausteine - die Industrie hat die inhaltliche Ausgestaltung
dieser Qualifikationsbausteine inzwischen klar festgelegt - oder Praktika. Dieser von uns beschrittene Weg
bedeutet sowohl für die Wirtschaft als auch für die Jugendlichen einen wirklichen Fortschritt.
Meine sehr geehrten Herren und Damen von der
CDU/CSU, ich muss Ihnen sagen, dass Ihr Gesetzentwurf viel zu bürokratisch ist. Wir brauchen nicht mehr
Bürokratie, sondern mehr Flexibilität in der beruflichen
Bildung.
({18})
Deshalb sage ich ausdrücklich: Denken Sie um! Dann
können wir die Reform der beruflichen Bildung gemeinsam voranbringen, und zwar im Interesse aller Beteiligten, vor allem natürlich im Interesse der jungen Menschen, die eine berufliche Ausbildung benötigen, aber
auch im Interesse unserer Wirtschaft.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Christoph Hartmann, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Mai haben wir in diesem Haus über die Ausbildungsplatzabgabe diskutiert. Alle Redner der Regierungsfraktionen, angefangen bei der Bundesbildungsministerin, haben der Opposition vorgeworfen, sie habe
keine Konzepte.
({0})
Jetzt legt ausgerechnet die Opposition Gesetzentwürfe
vor, während sich Ihr Gesetzentwurf erst im Stadium des
Referentenentwurfs befindet.
({1})
Zur diesbezüglichen Anhörung ist die Opposition selbstverständlich nicht eingeladen. Wer im Glashaus sitzt,
sollte nicht mit Steinen werfen.
({2})
Der von Ihnen geschlossene Ausbildungspakt wird
von uns begrüßt. Die Ausbildungsplatzabgabe ist zuChristoph Hartmann ({3})
nächst einmal auf Eis gelegt. In diesem Haus haben wir
aber monatelang über die Ausbildungsplatzabgabe gestritten.
({4})
Fraktionen und Ministerien sind damit beschäftigt gewesen. Wenn Sie diese Ressourcen in ein modernes Berufsausbildungsgesetz gesteckt hätten, wären wir heute sehr
viel weiter und es läge nicht erst ein Referentenentwurf
vor. Das wäre das richtige Signal gewesen.
({5})
Wir alle sind der Meinung, dass die berufliche Bildung eine der tragenden Säulen des deutschen Bildungssystems ist. Wir müssen sie weiterentwickeln, wir müssen die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen
Herausforderungen annehmen. 90 000 Schüler verlassen jedes Jahr unsere Schulen ohne Abschluss. Immer
mehr Betriebe klagen darüber, dass sie keine geeigneten
Bewerber finden. 15 Prozent der Auszubildenden schaffen die Ausbildung nicht.
Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze geht
zurück. Woran liegt das? Es liegt nicht an der mangelnden Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen,
({6})
es liegt an den politischen Rahmenbedingungen,
({7})
an der schwachen Konjunktur, an den Insolvenzen, daran, dass unsere Schulen besser werden müssen - wir
müssen auch schwächeren Jugendlichen die Möglichkeit
geben, eine Berufsausbildung zu schaffen -, dass die
Kosten der Ausbildung zu hoch sind, dass der Verwaltungsaufwand für die Ausbildung immens ist. Nur wenn
wir die schulischen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern, nur wenn wir die Ausbildungshindernisse aus dem Weg räumen, nur dann wird das im
gestern unterzeichneten Ausbildungspakt festgelegte
Ziel wirklich zu erreichen sein.
Wir brauchen die Modernisierung des Berufsausbildungsrechtes.
({8})
Dazu zählt die Modularisierung der Berufsausbildung. Wir wollen einzelne Stufen haben, die aufeinander aufbauen, die mit der Berufsfähigkeit abschließen
oder an die sich eine Fortsetzung der Berufsausbildung
anschließen kann. Gerade das ist wichtig für Schulmüde,
für theoretisch weniger Begabte, die sonst zu Ausbildungsabbrechern werden. Die Stufenausbildung ist viel
besser als die Ersatzmaßnahmen JUMP Plus oder die
Praktikumsvariante. Das ist ein Weg, den wir gehen sollten.
({9})
Wir brauchen mehr Flexibilität, gerade auch im Hinblick auf schwächere Jugendliche. Es gibt Theorieschwache, die es einfach nicht schaffen, in der vorgegebenen Zeit das bisher notwendige Pensum zu lernen.
Für sie brauchen wir dreieinhalbjährige Berufsausbildungen. Wir brauchen aber auch theoriegeminderte
zweijährige Berufsausbildungen; diese Notwendigkeit
wird ja mittlerweile im ganzen Haus eingesehen.
Allerdings will ich auf eines hinweisen, Frau Ministerin, weil Sie immer sagen, das gibt es ja schon.
({10})
Ja, das gibt es schon, aber das ist, lieber Herr Tauss, erst
bei 10 Prozent der Berufsausbildungen der Fall. Das ist
viel zu wenig. Da besteht Handlungsbedarf, das muss
sehr viel stärker ausgebaut werden.
({11})
In vielen Punkten sind wir ähnlicher Meinung wie die
CDU/CSU: bezüglich der zweijährigen Berufsausbildungen, der Ausbildungsplatzabgabe und der Vernetzung der Berufsvorbereitung. Das sind Punkte, die wir
schon in der letzten Legislaturperiode gefordert haben
und für die wir in der letzten Legislaturperiode teilweise
von Ihrer Seite gescholten worden sind. Aber wir sagen
auch ganz klar, dass uns der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, in einigen Punkten nicht weit genug geht.
Wir brauchen mehr Flexibilität. So wollen wir den Kammern die Möglichkeit einräumen, die Berufsbildungsausschüsse erheblich zu verkleinern; so werden Aufwand, Zeit und Geld gespart.
({12})
Wir wollen - auch darauf will ich eingehen, weil Sie,
Frau Ministerin, das ebenfalls angesprochen haben - die
Ausbildungsvergütung flexibel gestalten, und zwar für
die, die außertariflich beschäftigt sind; deswegen hat das
nichts mit einem Eingriff in die Tarifautonomie zu tun.
Es ist besser, wenn ein Jugendlicher für 350 Euro im
Monat ausgebildet wird, als wenn er nicht ausgebildet
wird, weil man ihm 750 Euro im Monat zahlen müsste.
({13})
Wir brauchen Entbürokratisierung von Vorschriften,
zum Beispiel über Sozialräume, Pausen oder Beschäftigungszeiten. Ich kenne ein Beispiel einer jungen Frau,
die eine Ausbildung als Tischlerin machen wollte. Der
Ausbildungsvertrag war unterschrieben, aber er musste
annulliert werden, weil in dem entsprechenden Ausbildungsbetrieb keine Damentoilette vorhanden ist.
({14})
- Herr Tauss, es tut mir Leid, dass Sie heute nicht reden
dürfen.
({15})
Christoph Hartmann ({16})
Aber eines ist dazu zu sagen: Diese Geschichte ist keine
Geschichte, die 30 Jahre alt ist, sondern das ist eine Geschichte, die aktuell ist.
({17})
Sie haben zwar einige bürokratische Hindernisse beseitigt, aber der Weg ist konsequent weiterzugehen. Sie
dagegen sind auf der halben Strecke stehen geblieben.
Hinzu kommt die Abschaffung der Verpflichtung, die
in der Jugendauszubildendenvertretung Tätigen zu
übernehmen, und zwar unabhängig von ihrer Qualifikation. Eine Jugendauszubildendenvertretung ist ab einer
Zahl von fünf Auszubildenden einzurichten. Da überlegt
sich doch jeder, ob er einen fünften Auszubildenden einstellt. Hier herrscht Handlungsbedarf. Wir brauchen ein
modernes, zukunftsfähiges und wettbewerbsorientiertes
Berufsbildungsrecht, das den Ansprüchen der Auszubildenden und der Arbeitgeber entspricht.
Ein solches Konzept hat Ihnen die FDP heute vorgelegt. Legen Sie die Ausbildungsplatzabgabe nicht nur
auf Eis, stoppen Sie sie endgültig! Jugendliche und Arbeitgeber brauchen Sicherheit. Arbeiten Sie mit an der
Verbesserung der Berufsausbildung in Deutschland!
Helfen Sie mit, das in die Jahre gekommene System zu
reformieren, damit es modern, flexibel und zukunftsweisend wird!
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Seit unserer letzten Diskussion hier im Haus zum
Thema Ausbildung hat sich in Deutschland doch wirklich noch einmal richtig etwas bewegt. Das sollte auch
die Opposition anerkennen. Diese Größe besitzen Sie
hier und heute aber leider nicht.
({0})
Frau Böhmer, diese Dynamik gerade aufseiten der
Wirtschaft hätten wir uns schon in den vergangenen Jahren gewünscht; denn dann wäre es gar nicht erst zu der
von Ihnen angesprochenen riesigen Bugwelle an jungen
Leuten in Deutschland gekommen, die heute ohne Berufsausbildung auf der Straße stehen und damit ohne
Chance auf eine gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland sind. Gerade deshalb begrüßen wir ganz ausdrücklich, dass mit dem vorgelegten Pakt auf halbfreiwilliger
Basis - so möchte ich es einmal nennen - nun ein großer
Schritt für die jungen Menschen in unserem Land gemacht werden konnte. 30 000 neue Ausbildungsplätze
pro Jahr und zusätzliche Praktikumsplätze stellen eine
wichtige Zielmarke dar; mehr allerdings derzeit auch
noch nicht.
Freiwillige Zusagen und Vereinbarungen sind für uns
Grüne grundsätzlich immer wichtige politische Elemente. Dem steht aber eine lange Liste von Beispielen
gegenüber, bei denen zwar auf verpflichtende Gesetze
zugunsten freiwilliger Lösungen verzichtet wurde, es
aber nicht funktioniert hat. Beispielhaft möchte ich den
Klimaschutz oder die Vereinbarung zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Betrieben nennen Versprechen, die leider zu häufig nicht eingehalten wurden. Im Interesse der jungen Menschen, gerade aber
auch im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes
darf das Thema Ausbildungspakt nicht in diese Liste von
Themen eingereiht werden.
Eine gewisse Skepsis und eine konstruktive Begleitung des weiteren Prozesses sind aus meiner Sicht notwendig. Hier sind wir alle auch als Abgeordnete vor Ort
weiterhin gefordert. In Gesprächen mit Unternehmen
nehme ich, wenn ich das mit dem Beginn der Diskussion
über die Umlage vergleiche, ein echtes Umdenken wahr.
Viele suchen nach konstruktiven Lösungen. Der gestrige
einstimmige Beschluss der Vertreter der regionalen
IHKn zum Ausbildungspakt zeigt das ganz deutlich.
({1})
Parallel dazu existiert mittlerweile auch ein hoher gesellschaftlicher Erwartungsdruck bezüglich der weiteren
Entwicklung des gesamten Themas Ausbildung in
Deutschland.
Eines möchte ich aber noch einmal ganz deutlich sagen: Meine Hauptsorge gilt nach wie vor ganz besonders
den jungen Menschen in unserem Land, die keine solche
starke Lobby wie die Wirtschaft haben. Am Ende dieses
Prozesses dürfen sie nicht mithilfe von Gummibegriffen
wie Ausbildungswilligkeit oder Ausbildungsfähigkeit
den schwarzen Peter zugeschoben bekommen;
({2})
denn schließlich konnten sie sich das Schulsystem in
Deutschland, mit dem sie groß geworden sind, nicht aussuchen. Die Defizite sind allseits bekannt. Die Länder
sind hier nach wie vor in der Pflicht, etwas zu tun. Dies
ist auch im Ausbildungspakt festgehalten.
Alle Jugendlichen, die schon lange oder für diesen
Herbst auf einen Ausbildungsplatz warten und nach
einem solchen suchen, sollten sich jetzt motiviert fühlen,
weil nun doch Hoffnung auf einen Ausbildungsplatz besteht. Diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen. Natürlich weiß auch ich, dass Berufsbilder komplexer werden und dass die Ansprüche an die Auszubildenden
steigen. Können wir aber wirklich guten Gewissens die
Zugangsvoraussetzungen für viele auch sehr praktisch
orientierte Berufe einfach ändern und zum Beispiel die
Hochschulreife als Eingangsvoraussetzung für den Beruf
des Friseurs einführen?
({3})
Wie sollen bei jungen Leuten mit einem ordentlichen
Real- oder Hauptschulabschluss Hoffnung und Bewerbungsmotivation entstehen? Ich bitte auch die Wirtschaft, das nicht aus den Augen zu verlieren.
Nun aber zum zweiten zentralen Thema der heutigen
Diskussion - dieses Thema war richtigerweise immer
mit der Diskussion über die Ausbildungsumlage verknüpft -: der Reform der beruflichen Bildung, ganz konkret der Reform des Berufsbildungsgesetzes. Neben
der reinen Anzahl an Ausbildungsplätzen ist die Struktur
des dualen Systems entscheidend. Das duale System war
und ist nach wie vor ein deutsches Aushängeschild und
ein Standortvorteil. Aber auch dieser Teil des deutschen
Bildungssystems muss den gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden. Dazu haben meine Vorrednerinnen und Vorredner schon einiges gesagt. Eine solche
Modernisierung der Struktur kann aus meiner Sicht zu
einem Mehr an Ausbildungsplätzen führen. Lassen Sie
mich kurz unsere grünen Vorstellungen zu der Modernisierung der beruflichen Bildung skizzieren.
Erstens. Wir müssen die Ausbildung für Menschen
mit Lernschwierigkeiten verbessern. Eine Modularisierung in einzelne Qualifikationsteile wird für diese
Gruppe extrem hilfreich sein. Für uns aber ist gleichzeitig wichtig, dass die Modularisierung nicht dazu führt,
dass viele nur noch zu Hilfskräften ausgebildet werden.
Wir wollen weiterhin den Anspruch auf volle Berufsbilder bei Erreichen bestimmter Leistungsstufen sicherstellen. Es muss verpflichtend geregelt sein, dass man über
Teilqualifikationen letztendlich zu vollen Berufsbildern
kommt.
Zweitens. Für uns ist eine enge Kooperation der Lernorte notwendig. Dafür müssen auch die beruflichen
Schulen autonom werden. Nur so können sie flexibel auf
die Ausbildungssituation vor Ort reagieren.
Drittens - das ist der letzte zentrale Punkt -: Sowohl
für die berufliche Bildung als auch für alle anderen Bildungsbereiche brauchen wir eine effektive Qualitätssicherung. Gleiches gilt für die schon angesprochene Internationalisierung. Die Anrechnung von Ausbildung in
verschiedenen Ländern muss zeitgemäß gelöst werden.
Die Diskussionen zur BBiG-Reform laufen nun schon
seit einigen Monaten mal mehr, mal weniger intensiv.
Wir Grüne haben hier klare Vorstellungen und werden
uns - wie hoffentlich auch die Opposition - weiter konstruktiv am Novellierungsprozess beteiligen. Ich hoffe,
dass sich Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam als
modernisierungsfähig erweisen. Der Entwurf der Union
weicht inhaltlich natürlich in einigen Punkten von unseren Vorstellungen ab. Aber im Ausschuss werden wir
noch Gelegenheit haben, darüber weiter intensiv zu diskutieren. Ich persönlich sehe nach wie vor die Chance,
zügig und unideologisch zu einer durchgreifenden Reform des BBiG zu kommen.
Abschließend noch ein kleiner Hinweis auf eine positive Aktion zum Thema Ausbildung und parteiübergreifende Zusammenarbeit. Am Dienstag war ich zusammen
mit drei Kollegen der anderen Fraktionen - auch der
Kollege Hartmann war dabei - auf einer Veranstaltung
der Wirtschaftsjunioren. Diese haben es sich zum Ziel
gesetzt, Vorreiter in diesem Prozess des gesellschaftlichen Umdenkens zu sein. Sie wollen in den eigenen Reihen 1 000 zusätzliche Lehrstellen schaffen, und zwar
ohne Vorbedingungen. Die Wirtschaftsjunioren sehen
klar, dass wir alle gut ausgebildete Menschen brauchen jetzt und in Zukunft.
Es ist ein besonders hoffnungsvolles Signal, wenn die
junge Generation anfängt, sich um die Zukunft anderer
junger Menschen zu kümmern. Ich freue mich, dass
diese Initiative von allen Parteien, insbesondere von den
jungen Kollegen im Bundestag unterstützt wird.
Unterm Strich bin ich mit den verschiedensten Entwicklungen bei dem sehr wichtigen Thema Ausbildung
im Interesse der zukünftigen Generationen ziemlich zufrieden. Wir alle dürfen uns aber noch nicht ausruhen
und zurücklehnen. Noch ist der Dackel nicht gesattelt.
Im Herbst wird eine erste Bilanz gezogen. Darauf warten
wir gespannt.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine Damen! Meine Herren! Ich gratuliere Ihnen
zunächst zur Einsicht, dass die Ausbildungsplatzabgabe
gestrichen werden muss und Sie sich nur noch auf das
Beerdigungsritual verständigen müssen. Wir begrüßen
den Ausbildungspakt. Er wäre sicher schon früher möglich gewesen,
({0})
wenn dieses Thema bereits im letzten Jahr zur Chefsache
erklärt worden wäre und Gerhard Schröder es nicht immer und zu lange zu einer nachgeordneten Angelegenheit nachgeordneter Ministerien gemacht hätte. Wir werden sehr sorgsam darauf achten, dass kein
Verschiebebahnhof entsteht. So hatten wir im letzten
Jahr 162 692 Eintritte in berufsvorbereitende Maßnahmen. In diesem Jahr sind bei den Arbeitsämtern gerade
71 716 berufsvorbereitende Maßnahmen ausgeschrieben. Das heißt, die Wirtschaft schafft es, neue Praktika
und Einstiegskorridore zu organisieren, aber der Bund
kürzt mehr als die Hälfte. Das werden wir nicht zulassen.
Der Bund darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
({1})
Natürlich ist der Ausbildungsmarkt im Zusammenhang mit der generellen Beschäftigung zu sehen. Wir
haben im Jahresvergleich einen Abbau von 592 841 Beschäftigungsverhältnissen. Wir haben ein Arbeitsmarktproblem und dieses Arbeitsmarktproblem wirkt sich
auch auf die Ausbildungszahlen aus. Lassen Sie uns
trotzdem gemeinsam, sehr pragmatisch und zielführend,
wie Frau Bettin es vorhin ausgeführt hat, eine Beratung
über die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes starten. Dem dient unser heutiger Entwurf.
Bundeskanzler Schröder hat bereits in seiner ersten
Regierungserklärung im November 1998 Folgendes gesagt: „Ausbildung, Ausbildungsordnungen und Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten.“ In der
Koalitionsvereinbarung von 1998 heißt es: „Wir wollen … die Modernisierung und Verbesserung der Attraktivität der beruflichen Bildung vorantreiben.“ Nach
sechs Jahren ist es in der Tat Zeit, endlich damit anzufangen. Wir wollen die Berufsausbildung flexibilisieren.
Dazu gehört die engere Kooperation der Ausbildungsorte, also zwischen der Berufsschule, der Kammer und
dem Ausbildungsbetrieb. Es muss auch möglich sein,
Ausbildungsinhalte stärker an den Menschen und an den
betrieblichen Wirklichkeiten flexibel auszurichten, wenn
hierdurch das Ausbildungsziel nicht gefährdet wird.
({2})
Wir haben 1,3 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre,
die überhaupt keine Berufsausbildung haben.
({3})
Das heißt, jedes Jahr produziert unser Bildungssystem
100 000 junge Menschen ohne eine berufliche Perspektive.
Ich möchte einmal darstellen, wie sich die Berufsbilder entwickelt haben. In der Pflege wurden nach der
letzten Neuordnung über 500 zusätzliche Theoriestunden angesetzt und es wurde die Tür für Hauptschüler
zugeschlagen, obwohl gleichzeitig in Deutschland
20 000 Alten- und Krankenpfleger fehlen. Wir sind das
einzige Land, das das dreijährige Berufsbild des Tankwarts kennt. Demnächst kommt noch der Diplomtankwart.
({4})
Die Union will daher Einstiegskorridore für praktisch Begabte. Das Saarland hat ein gutes Beispiel entwickelt. Die erste Stufe ist der Krankenpflegehelfer, was
automatisch zertifiziert wird. Dann kommt die zweite
Stufe und dann entwickelt man das Berufsbild des klassischen Kranken- oder Altenpflegers. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung vom Kfz-Facharbeiter zum
Mechatroniker, vom Änderungsschneider zum Konfektionsschneider. Die Stufenausbildung, die heute die Ausnahme ist, soll zur Regel werden: auf halber Strecke eine
Zwischenzertifizierung, die motiviert, weiterzumachen.
Wer dies nicht will oder kann, der soll die Möglichkeit
erhalten, über Ausbildungsmodule die zweite Stufe
nachzuholen. „Alles oder nichts“ darf es nicht mehr geben.
({5})
Wir haben auch in der allgemeinen Bildung die Regel: Wer das Abitur nicht schafft, der erhält die mittlere
Reife, wer diese nicht erreicht, hat den Hauptschulabschluss. Zertifizierungen sind Zwischenstationen und
nicht das Ende einer Bildungskarriere. Hierbei bauen wir
auch auf einen europatauglichen Ausbildungspass. Ausbildung und permanente Weiterbildung müssen stärker
miteinander verzahnt werden. Dazu gehören auch Ausbildungsverbünde bis hin zu Ausbildungspartnerschaften
mit Betrieben aus anderen EU-Ländern, die stärker
rechtlich abzusichern sind.
Wir brauchen eine Dynamisierung. Die Entwicklung
eines Berufsbildes dauert im Konsensverfahren derzeit
zu lange, weil sich Arbeitgeber und Gewerkschaften
nicht immer einigen können. Im Schnitt dauert die Entwicklung eines neuen Berufsbildes zwei bis drei Jahre,
im Metall- und Elektrobereich bis zu sieben Jahren. Deshalb haben wir ein Schlichtersystem entwickelt. Danach
wird der Schlichter von beiden Seiten ernannt. Er soll
nach sechs Monaten entscheiden. Wenn er nicht entscheiden will, dann entscheidet der Wirtschafts- und
Arbeitsminister.
Zwei Drittel aller Betriebe, die nicht ausbilden, verweisen auf die Kosten. Auch das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wenn wir keine Billigausbildung, sondern
Qualität haben wollen, dann müssen Betriebe gerade im
ersten Ausbildungsjahr investieren. Hier ist die Hürde
zur Einstellung am höchsten.
2003 betrug die Ausbildungsvergütung in den westdeutschen Ländern durchschnittlich 612 Euro. Die
Spannweite reichte von 250 bis 950 Euro. Deshalb bitte
ich darum, zu differenzieren: Auch die Kosten für die
Ausbildungsvergütung sind ein Grund dafür, dass nicht
genügend Ausbildungsplätze entstehen.
Die Betriebs- und Tarifpartner sollen einen größeren
Raum erhalten, Bündnisse für mehr Ausbildungsplätze
zu schmieden. Dies könnte bedeuten, dass Einstiegsvergütungen um ein Drittel abgesenkt werden, wenn im Gegenzug zusätzliche Ausbildungsplätze entstehen.
Der Ausbildungspakt alleine wird die Erosion der betrieblichen dualen Ausbildung nicht verhindern können.
Er bedarf der Ergänzung in Form einer Modernisierung
des Berufsbildungsgesetzes, das im Kern seit 1977 kaum
verändert wurde. Im Interesse der Schulabgänger des
Jahres 2004 bitte ich Sie: Folgen Sie unserer Gesetzesinitiative, aber folgen Sie uns zeitnah!
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Werner Bertl,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag
traf sich gestern zu einer Sondervollversammlung in
Berlin. Gestern Nachmittag wurden von vier Präsidenten
der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sowie von
Ministerin Bulmahn und Minister Clement im Bundeskanzleramt die Unterschriften für den Ausbildungspakt
geleistet.
Seit über 20 Jahren erlebe ich Diskussionen zum
Thema Jugendarbeitslosigkeit - jahreszeitlich bedingt
nur kurzfristig in der Öffentlichkeit - und stelle fest,
dass Politik für die Kompensation eines Mangels zuständig ist, die eigentlich von denen geleistet werden müsste,
die zuständig sind und dies nicht wollen oder vielleicht
manchmal nicht können.
Seit einigen Wochen steht das Thema wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Ich will Ihnen offen sagen: Ich
bin so optimistisch, den Vertretern der deutschen Wirtschaft, die gestern ihre Unterschrift geleistet haben, zu
trauen und zuzutrauen, dass sie es diesmal ernst meinen.
Ich habe am 7. Mai in der Debatte über das Ausbildungsplatzsicherungsgesetz die im „Spiegel“ aufgeführte Liste
des Versagens hinsichtlich der Selbstverpflichtungen der
deutschen Wirtschaft zitiert und auf die Entschuldigung
von Hans-Olaf Henkel hingewiesen, der diese Bilanz des
Versagens als Notwehr gegenüber der Politik abgetan
hat.
Heute bin ich zuversichtlicher und will der deutschen
Wirtschaft einen großen Vertrauensvorschuss geben. Ich
glaube, dass sie ihr Versprechen diesmal halten will und
dies auch schaffen wird. Meinen sie es ernst, ist das Erfüllen der Zusagen - angesichts der Tatsache, dass nur
23 Prozent der ausbildungsberechtigten Unternehmen
auch tatsächlich ausbilden - sicherlich eine der leichtesten Übungen; es ist kein großer Kraftakt.
Wir werden erleben, dass sich die Repräsentanten der
Wirtschaft mit der Solidarität ihrer Mitglieder auseinander zu setzen haben - eine Erfahrung, die letztendlich
ihre Legitimation dokumentieren wird.
({0})
Wir in der Politik kennen solche Erfahrungen, aber wann
hat es je in unserem Land eine Sondervollversammlung
des Deutschen Industrie- und Handelskammertages gegeben, um den jungen Menschen, die in wenigen Tagen
ihre Schulen verlassen, ernsthaft zu helfen? Ich glaube,
indem sie beim Bundeskanzler, im Fokus der Öffentlichkeit, ihre Unterschrift geleistet haben, sind sie eine große
Verpflichtung eingegangen, auf deren Einhaltung jetzt
geachtet werden muss.
({1})
Wir können zwar über den einen oder anderen Satz
der Vereinbarung streiten, rätseln oder ihn so interpretieren, wie auch immer er in unsere Vorbehalte zu passen
scheint. Was aber in diesem Jahr letztlich zählt, sind die
realen Angebote, sind die zusätzlich gewonnenen
Lebenschancen für junge Menschen und ist die Botschaft: „Wir brauchen euch! Wir lassen es nicht zu, dass
ihr ins Abseits gestellt werdet.“ Die Bilanz wird von uns
im Parlament zu bewerten sein. Im Lichte dieser Bilanz
hat das Parlament die Souveränität, zu entscheiden, ob
das auf Eis gelegte Gesetz aufgetaut wird oder weiter liegen bleibt. Das verstehe ich - ich will das deutlich zum
Ausdruck bringen - nach wie vor nicht als Drohung.
Auch das habe ich bereits in der Debatte am 7. Mai ausgeführt. Unser Motiv ist Notwehr
({2})
zugunsten derjenigen, die eine Ausbildung brauchen,
wie auch für diejenigen, die in wenigen Jahren die Ausgebildeten brauchen.
({3})
- Ja, Notwehr.
In der Diskussion über unser duales System und in
der Auseinandersetzung über den vorliegenden Gesetzentwurf hat es mich gewundert, wie filibusterhaft sich
Teile der Medien, aber auch die Opposition seitenweise
damit beschäftigt haben, Sinn oder Unsinn, Probleme
der Anwendung und die Konsequenzen des Gesetzes für
die Wirtschaft ausgiebig zu diskutieren.
Ich habe aber kaum einmal den Appell lesen können,
nun endlich in diesem Land die Ärmel aufzukrempeln,
sich zusammenzusetzen und ein Problem zu lösen,
({4})
welches auch unter den gegenwärtigen, sicherlich nicht
einfachen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in unserem Land lösbar ist.
Ich sage Ihnen von der Opposition: Sie sollten darüber nachdenken, ob es Sinn macht, eine Regierung und
die sie tragenden Koalitionsfraktionen dafür zu kritisieren, dass sie im Angesicht stetig steigender Jugendarbeitslosigkeit aus berechtigter Sorge zu einem Instrument greifen, welches eine Lösung sein kann und
welches von uns so offen strukturiert worden ist, dass es
die Verantwortung derjenigen in den Vordergrund stellt,
die für Ausbildung zuständig sind. Ein solches Gesetz zu
machen ist sicherlich ungewöhnlich und neu. Aber vielleicht wollte man es nicht verstehen.
({5})
Was ist daran falsch, wenn durch aktives, freiwilliges
Handeln ein Gesetz überflüssig sein wird? Ist das nicht
der eigentlich erwünschte Zustand einer Zivilgesellschaft, nämlich sich dort verantwortlich zu erklären, wo
man Verantwortung auch wahrnehmen kann, oder geht
es hier nur noch um Kritik und um das Skandalisieren
ohne Rücksicht darauf, dass es hier letztendlich um Jugendliche geht?
({6})
Wenn Letzteres der Fall ist, dann muss ich Ihnen sagen,
dass das für mich billige und auch ein Stück weit erbärmliche Opposition ist; denn ein konstruktiver Vorschlag zur Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit, der
echte Alternativen geboten hätte, ist von Ihnen nicht in
die Diskussion eingebracht worden.
({7})
Die Zusage der Wirtschaft, bis 2007 jährlich
30 000 neue Ausbildungsplätze und 25 000 Praktikumsplätze für den Erwerb von betrieblichen
Einstiegsqualifikationen anzubieten, ist ein positives
Signal an junge Menschen
({8})
- doch! - und auch für den Fortbestand des dualen Systems. Wir alle wissen, dass dieses hochgelobte System
dringender Reformen bedarf. Ich bin davon überzeugt,
dass es keine Selbstverpflichtung der Wirtschaft gegeben hätte, wenn wir nicht initiativ geworden wären. Man
sollte also bei der Beurteilung derjenigen sehr vorsichtig
sein, die diesen schwierigen Weg mit der Wirtschaft entwickelt haben, und sie nicht vorschnell diskreditieren.
Vielleicht haben wir beispielsweise im Rahmen der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes die Möglichkeit,
die Verantwortung dieses Parlaments für die Zukunft
junger Menschen etwas deutlicher zu machen, indem wir
die Anträge, über die heute diskutiert wird, ein Stück zusammenführen.
Ich glaube, dass die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes - das ist eben deutlich gemacht worden - von
uns vorbereitet ist. Ich sage Ihnen von der CDU/CSU
und FDP ganz offen: Obwohl einige Sachverhalte richtig
dargestellt sind, greifen Ihre beiden Gesetzentwürfe
letztendlich zu kurz. Es kann nicht nur um Reduzierung
von Ausbildungsbestandteilen auf betriebliche Belange
und um Vereinfachung der Ausbildung gehen. Wir müssen vielmehr sehr sorgfältig darüber nachdenken, welche
strukturellen Anpassungen und Veränderungen das duale
System benötigt. Wir wollen mehr jungen Menschen
eine berufliche Erstausbildung ermöglichen. Wir wollen
außerdem die regionale Verantwortung stärken. Das System der Prüfungen gehört ebenfalls auf den Prüfstand.
Sprechen Sie mit Ausbildern! Sie werden feststellen, wie
verzweifelt manche von diesen sind, weil sie sechs Wochen vor der Abschlussprüfung Systeme vermitteln müssen, die zwar von den Prüfern beherrscht werden, die
aber in der Wirklichkeit unserer Arbeitswelt überhaupt
keine Rolle mehr spielen. Das ist ein ganz wichtiger
Aspekt.
({9})
Einen Aspekt finde ich besonders wichtig. Wir müssen die Berufsbildungsforschung zu einem Bestandteil
und zu einem Aufgabenbereich des Berufsbildungsgesetzes machen. Nur dann sind wir in der Lage, die Zukunftsfähigkeit des dualen Berufsausbildungssystems zu
sichern und den jungen Menschen damit Möglichkeiten
zur Selbstgestaltung ihres Lebens zu geben sowie berufliche Mobilität zukunftsfest zu machen.
Ich glaube, gestern war ein guter Tag für die jungen
Menschen in Deutschland - sofern sich diejenigen, die
gestern unterschrieben haben, bewusst sind, dass sie jetzt
auf die Solidarität ihrer Mitglieder in den Verbänden angewiesen sind und dass das Ganze im Fokus der Öffentlichkeit stattfindet, was lange nicht mehr der Fall war.
Das Thema Berufsausbildung, das heißt Lebenschancen
für junge Menschen, steht vielleicht von nun an permanent im Fokus der Öffentlichkeit. Es darf nicht länger
hingenommen werden, dass wir Hunderttausende junge
Menschen in Zukunftslosigkeit, in Arbeitslosigkeit, in
Chancenlosigkeit entlassen. Ich glaube, es hat sich gelohnt, diesen Weg zu gehen, gestern die Unterschriften
noch einzuholen und gemeinsam zu leisten.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Kollege Bertl, wenn Sie schon der Opposition die
Berechtigung absprechen, in dieser Frage die Regierung
zu kritisieren, empfehle ich Ihnen: Schauen Sie sich
heute einfach einmal die Presselandschaft an. Dann werden Sie feststellen, dass offensichtlich eine Erleichterung
durch dieses Land geht, weil Ihre vollkommen verfehlte
Ausbildungsplatzabgabe gescheitert ist.
({0})
In seiner Einschätzung, dass dies ein guter Tag für die
jungen Menschen in Deutschland gewesen sein kann,
stimme ich dem Bundeskanzler ausdrücklich zu. Aber
eine Glanzleistung dieser Bundesregierung ist das beim
besten Willen nicht gewesen. Im Gegenteil, auf den
Punkt kommend muss man sagen: Das Schlimmste ist
verhindert worden,
({1})
aber das Vertrauen der Menschen in die Verantwortung
der Bundesregierung, das Wichtige und das Richtige zu
tun, wurde sicherlich nicht gestärkt.
({2})
Wir bitten Sie einfach: Lassen Sie uns jetzt gemeinsam den nächsten Schritt machen. Sonst erhöhen Sie das
Risiko, dass Ihr Ausbildungspakt scheitert und für die
jungen Menschen in Deutschland wieder nichts dabei
herauskommt.
({3})
Wir haben bereits vor Monaten angemahnt, das Berufsbildungsgesetz zu reformieren. Wir haben heute in
unserem Gesetzentwurf klare Forderungen dargelegt,
die ich gern noch einmal wiederhole: Erstens. Wir brauchen in einem hohen Maß mehr Flexibilisierung und
Kostensenkung in der Ausbildung. Zweitens. Es muss zu
einer Beschleunigung bei der Entwicklung neuer Berufsfelder kommen. Drittens. Die Anzahl der ausbildungsfähigen Betriebe muss gesteigert werden.
({4})
Das sind die zentralen Vorschläge, deren Realisierung
dringend notwendig ist, damit der Ausbildungspakt
wirklich erfolgreich sein kann. Machen Sie das Richtige
mit uns, denn die Begeisterung der Menschen ob dieses
Schauspiels Ausbildungsplatzabgabe hält sich bisher
äußerst in Grenzen. Wenn Sie - den Eindruck habe ich
bei Ihren Reden bekommen - dieses Schauspiel jetzt
gern als Teil der Strategie darstellen, die Wirtschaft zu
einer akzeptablen Vereinbarung zu zwingen,
({5})
kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit eindrucksvoll
unter Beweis gestellt haben, wie man mit dem größtmöglichen Aufwand den größtmöglichen Schaden erreichen kann.
({6})
- Schaden deshalb, weil Unternehmer und Investoren
heute irritiert sind, weil sie sich über die zukünftigen
Rahmenbedingungen des Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht mehr im Klaren sind und weil Sie die Jugendlichen, die eine Lehrstelle suchen, verunsichert haben,
indem Sie ihnen vorgegaukelt haben, das Lehrstellenproblem sei per Gesetz von oben regelbar. Beides verursacht einen erheblichen Schaden am Wirtschaftsstandort
Deutschland.
Dabei ist die Aufgabenstellung klar: Wir brauchen
mehr Ausbildungsplätze für junge Menschen. Natürlich
geht dies nur, wenn die freiwillige Bereitschaft der
Wirtschaft dazu vorhanden ist. Es ist die Aufgabe der
Politik, hierbei unterstützend zu wirken und die möglichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, anstatt zusätzliche Hürden einzubauen.
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren
ist eine Vielzahl von Betrieben ihrer Aufgabe nachgekommen und hat im Rahmen der Nachvermittlung zusätzliche Ausbildungsplätze bereitgestellt, mit großen
Anstrengungen, zum Teil bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit. Bei 40 000 Unternehmenspleiten in
Deutschland ist das nachvollziehbar. Natürlich bildet ein
Unternehmen nur dann aus, wenn es eine Zukunftsperspektive hat, und investiert ein Unternehmen nur dann
30 000 Euro in die Ausbildung eines Lehrlings, wenn es
eine Chance sieht, diesen Lehrling auch weiter beschäftigen zu können. Das ist die eigentliche Misere und diese
Misere können Sie mit Ihrem Ausbildungspakt allein
nicht lösen.
({7})
Wir müssen an den Rahmenbedingungen etwas ändern. Dazu gehört zwangsläufig, dass das Berufsbildungsgesetz noch mehr an die Anforderungen der Unternehmen angepasst wird. Ausbildung muss flexibler und
kostengünstiger werden und natürlich müssen die Unternehmen auch bei den Ausbildungsvergütungen Einschränkungen vornehmen können.
({8})
Selbstverständlich spielt dieser Kostenfaktor heute eine
Rolle. Mir ist es allemal lieber, wenn ein Ausbildungsplatz mit einer Vergütung von 500 Euro geschaffen wird,
als dass einer mit 750 Euro nicht geschaffen wird.
({9})
Leider sagt Ihr Ausbildungspakt darüber überhaupt
nichts, Herr Tauss.
({10})
Es reicht nicht aus, zu argumentieren, dass die fehlenden
Ausbildungsplätze von heute die nicht vorhandenen
Fachkräfte von morgen sind. Wir brauchen einen Ausbildungspakt, der jetzt die Ausbildung für die Betriebe wieder attraktiver macht, damit wir den ausbildungswilligen
Jugendlichen einen akzeptablen Start ins Berufsleben ermöglichen können.
Wir müssen hier - darin stimme ich mit dem Bundeskanzler ausdrücklich überein - ein gesamtgesellschaftliches Problem lösen. Wir dürfen es eben nicht isoliert
betrachten. Deswegen brauchen wir einen Maßnahmenmix, der die Chancen auf zusätzliche Ausbildungsplätze
in Deutschland steigen lässt. Ein erheblicher Beitrag, um
diese Steigerung vorzunehmen, ist die Flexibilisierung
des Berufsbildungsrechts, so wie es unser Gesetzentwurf
vorsieht. Ich bitte Sie, diesem zu folgen.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum dritten Mal binnen zweier Monate befassen wir uns
heute mit der Berufsausbildung. Dieses Mal haben CDU
und CSU die Vorlage mit dem Entwurf eines Gesetzes
zur Modernisierung der dualen Berufsausbildung gegeben. Ich möchte eine Binsenweisheit voranstellen: Man
kann nur modernisieren, was es auch gibt. Das duale
System der Berufsausbildung hat in der Bundesrepublik
schwere Schwindsucht, weil immer weniger Unternehmen Ausbildung anbieten. Drei von vier Unternehmen in
Deutschland bilden nicht aus und circa 200 000 Jugendliche erhalten keine betriebliche oder gar keine Ausbildung. Das ist übrigens der Hintergrund, warum die PDS
der Ausbildungsumlage zugestimmt hat.
SPD und Grüne haben die Umlage versprochen. Wir
haben sie hier vor wenigen Wochen debattiert und auch
gemeinsam beschlossen. Nun aber wird Rot-Grün wortbrüchig. Die Umlage sei hinfällig, höre ich. Stattdessen
gibt es nun einen Ausbildungspakt mit der Industrie.
({0})
Selbst wenn diese Lehrstellen geschaffen werden, haben
wir den 200 000, die auf der Strecke bleiben, damit noch
keine Alternative geboten.
({1})
Mich erinnert das, was Sie im Moment hier aufführen, an ein bekanntes Sprichwort: „Lieber den Spatz in
der Hand als die Taube auf dem Dach!“ Ihr Tausch, Pakt
gegen Umlage, geht allerdings genau andersherum: Sie
geben die Taube aus der Hand für einen immer noch flügellahmen Spatz.
30 000 Ausbildungsplätze sind in Aussicht gestellt.
Wir alle wissen aber - der DGB hat es vorgerechnet -:
Das reicht hinten und vorne nicht, um das vorhandene
Lehrstellendefizit wirklich zu beheben. Hinzu kommt:
Der Pakt ist ohne Gewähr. Wenn er überprüft wird, dann
haben wir den nächsten Jahrgang enttäuschter Jugendlicher ohne Lehrstelle vor der Tür stehen. Deshalb wiederhole ich: Das duale System lässt sich nur modernisieren,
wenn es von der Schwindsucht geheilt wird.
({2})
Genau dazu bedarf es einer Ausbildungsumlage. Da hilft
auch kein Paktieren mit Sündern.
Gestern wurde ich hier in der Fragestunde des Bundestages auf meine Frage, was mit dem Umlagegesetz
werde, von der Bundesregierung belehrt, das sei Sache
des Parlaments. Daher möchte ich die Kolleginnen und
Kollegen der Koalition fragen: Was tun Sie heute Nacht
im Vermittlungsausschuss? Nehmen Sie das beschlossene Gesetz tatsächlich zurück, wie es im Pakt vereinbart ist? Legen Sie es auf Eis? Oder wollen Sie dieses
Gesetz beschließen und es nicht anwenden, wenn der
Pakt erfüllt wird, so wie es im Gesetz beschrieben ist?
So viel Ehrlichkeit muss in der Politik schon herrschen.
({3})
Nun zum Gegenstand der heutigen Debatte. CDU und
CSU unterbreiten konkrete Vorschläge für eine bessere
und moderne Berufsausbildung. Das ist gut. Auch wir
fordern seit langem eine gründliche Reform der Ausbildung. Die PDS hat ihr Diskussionsangebot dazu aktuell
in einer „Magdeburger Erklärung“ vorgelegt. Wir können uns durchaus mit einigen Vorstellungen der CDU/
CSU anfreunden, etwa damit, dass Ausbildungsgänge
als Module angeboten werden, dass Berufsabschlüsse international vergleichbar sein und anerkannt werden sollen oder dass erworbene Qualitäten in einem Ausbildungspass verbrieft werden sollen.
Wir können auch gern über eine andere Prüfungsordnung reden. Über eine bessere Koordinierung zwischen
betrieblicher und schulischer Ausbildung müssen wir
dringend reden. Überhaupt sollte doch unser gemeinsames Ziel sein, eine solide Ausbildung und damit faire
Lebenschancen für Jugendliche zu schaffen.
({4})
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, bin ich dann allerdings auch bei den Differenzen
zwischen uns als PDS und Ihrem Entwurf. Die Opposition zur Rechten möchte - das kommt auch in dem heute
vorliegenden FDP-Entwurf zum Ausdruck - flinke Ausbildungsgänge zweiter und dritter Klasse zum halben
Preis. Sie wollen die Ausbildungszeit verkürzen. Sie
wollen Theorie aus den Programmen streichen. Sie wollen den Auszubildenden obendrein auch noch ans Geld.
Einem solchen Bildungs- und Sozialabbau zulasten Jugendlicher, wie ihn die CDU/CSU hier vorschlägt, wird
die PDS natürlich nicht zustimmen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Willi Brase, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle stimmen
wohl in der Einschätzung überein: Für die jungen Leute
und für die Eltern ist es gut, dass wir seit mehreren Monaten eine intensive Diskussion über die Zukunft der Jugendlichen in unserem Land führen.
({0})
Wir wissen, dass wir die zahlenmäßigen Probleme lösen
müssen. Aber wir sollten die inhaltlichen und strukturellen Entwicklungen nicht vergessen: Wo stehen wir? Welche wichtigen Fragen sind im Bereich der beruflichen
Bildung zu debattieren, zu lösen und wo sind Entscheidungen auf den Weg zu bringen?
Ich möchte in Erinnerung rufen, wie eigentlich die
Ausgangslage der dualen Ausbildung in unserem Land
ist und welche Entwicklungstendenzen wir in den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen mussten. Die Ausbildungsquote ist seit 1980 von deutlich über 7 Prozent
auf 5 Prozent gesunken, in manchen Facharbeitsmärkten, auch in innovativen Bereichen, auf unter 3 Prozent.
Wenn wir nicht handeln würden, bestünde die Gefahr,
dass sich die betriebliche Berufsausbildung zu einer
Restgröße für lernschwache Jugendliche, möglicherweise, wenn man manchen Entwürfen glauben darf,
auch für einen Niedriglohnsektor, entwickelt. Ich glaube,
dass wir das nicht zulassen können.
({1})
Wir haben eine schleichende Verstaatlichung der Berufsausbildung zu verzeichnen. Zwischen 1993 und
2001 stieg die Zahl der Schüler an Vollzeitschulen um
50 Prozent auf über 542 000. Wir sollten dabei nicht vergessen: Das Alter beim Einstieg in die Berufsausbildung
liegt mittlerweile bei über 19 Jahren. Das sind Veränderungen in den letzten 20, 30 Jahren, die wir zur Kenntnis
nehmen müssen.
Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass mit dem Referentenentwurf zum Berufsbildungsgesetz jetzt der Weg
zu einer weiteren Debatte und dann auch zu einer Entscheidungsfindung im Deutschen Bundestag gegangen
wird. Wir werden dabei die Entwürfe der Opposition sicherlich gründlich prüfen;
({2})
wir wissen, dass wir es gemeinsam machen müssen.
Ich möchte auf wenige Punkte eingehen.
In den vorliegenden Entwürfen von Union und FDP
- teilweise auch in denen, die aus der Gesellschaft heraus entwickelt wurden - werden Stufenausbildung, verkürzte Ausbildung, Module als wichtige Reformziele
dargestellt. Wir müssen aufpassen, glaube ich, dass wir
hier nicht einen falschen Weg gehen. Durch solche Verkürzungen könnten das Berufsprinzip und die Beschäftigungsfähigkeit der jungen Leute aufs Spiel gesetzt werden.
({3})
Wir wissen, dass der große Vorteil der dualen Ausbildung der weiche und effektive Übergang von der Schule
in die Arbeitswelt sowie - damit nach wie vor verbunden - eine niedrige erste und zweite Schwelle ist. Wenn
wir es europäisch betrachten, kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen in
Deutschland aufgrund dieses Berufsbildungssystems
und der Beschäftigungsfähigkeit nach wie vor wesentlich geringer ist als in anderen Ländern.
({4})
Ich warne davor, dieses Positive, diese Fähigkeit des Berufsbildungssystems durch eine schnelle, möglicherweise vorschnelle und zu brutale Einführung von Stufenausbildung und Verkürzung von Ausbildungsgängen
aufs Spiel zu setzen.
({5})
Wir wollen - das muss eine Reform erreichen - die
berufliche Identität als Voraussetzung für Leistungsbereitschaft, Qualitätsbewusstsein, Verantwortung und Integration in die Gesellschaft. Es muss doch eigentlich
das Ziel sein, die Facharbeitsmärkte zu revitalisieren;
Stichwort: Kernberuflichkeit. Das heißt, wir müssen umfassend deutlich machen: Für uns ist neben dem Hochschulbereich vor allem der berufliche Bereich derjenige,
der das Land, die Facharbeiter und die Qualität nach
vorne bringt.
Wir brauchen sie, damit auch unsere Gesellschaft
weiterhin innovativ ist.
({6})
Deshalb sind wir auch dagegen, die einzelnen Ausbildungsordnungen auf der horizontalen Ebene noch stärker zu zerpflücken. Denken Sie nur einmal daran,
welche Ausbildungsordnungen es mittlerweile im kaufmännischen Bereich gibt: Das geht vom Fitness- bis zum
Sportkaufmann. Ich glaube, wir wären gut beraten, wenn
wir bei der Debatte in den nächsten Monaten überlegten,
wie wir die Kernberufe wieder stärken könnten.
({7})
Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe wird es
auch sein, zu überlegen, wie wir einen Teil der jungen
Leute mitnehmen können. Lassen Sie mich in diesem
Zusammenhang noch etwas zu zweijährigen Ausbildungsgängen bzw. zur Ausbildung in so genannten
theoriegeminderten Berufen sagen. Wir wissen, dass das
Arbeitsplatzangebot in den nächsten acht bis zehn Jahren
für An- und Ungelernte weiterhin sinken wird. Gleichzeitig aber junge Leute massiv in zwei- oder sogar einjährige, wie manchmal gewünscht wird, Ausbildungsgänge zu schicken würde doch letztendlich bedeuten,
dass wir ihnen von vornherein eine Hypothek mit auf
den Weg geben, denn sie werden kaum eine vernünftige
Perspektive haben. Diesen Widerspruch müssen wir in
den Beratungen auflösen.
({8})
Es ist nun einmal so, dass es die entsprechenden Arbeitsplatzangebote nicht mehr gibt.
Ausbilder sagen aus der Praxis heraus zu diesem Problem: Geben Sie mir etwas mehr Zeit für die Ausbildung
dieser jungen Leute, dann schaffe ich es, auch die
Schwächeren, die so genannten benachteiligten Jugendlichen, so weit zu bringen, dass sie die gleiche Qualifikation erreichen, wie sie in einem klassischen drei- oder
dreieinhalbjährigen Ausbildungsgang erwerben können.
Wir sollten den Menschen diesen Weg nicht verbauen,
sondern ihnen diese Chance geben.
({9})
Meine Damen und Herren, es wird immer wieder darüber diskutiert - das wurde auch heute in der Debatte
deutlich -, dass die Kosten für die Ausbildung zu hoch
sind, weil die Ausbildungsvergütungen zu hoch sind.
Mitarbeiter des Bundesinstituts für berufliche Bildung
haben sich in der Ausgabe 3/2004 der Zeitschrift „Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis“ der Frage angenommen, welche Bedeutung die Ausbildungsvergütung
in der dualen Ausbildung hat. Ihr Urteil ist sehr eindeutig: Eine pauschale Diskussion um die Höhe der Ausbildungsvergütungen ist nicht angemessen und wird der tatsächlichen Situation nicht gerecht. Lassen Sie mich
einige wenige Aussagen hier kurz darstellen:
Erstens. Ein wichtiger Maßstab für die Bewertung der
Ausbildungsvergütungen ist das Niveau der Löhne und
Gehälter der Fachkräfte. Sie haben also festgestellt,
dass die Höhe der Ausbildungsvergütungen sich auch in
nicht tariflich gebundenen Bereichen am Niveau der allgemein gezahlten Löhne und Gehälter orientiert. Gegenüber den Fachkräften in der Wirtschaft verdienen Auszubildende ungefähr ein Viertel, gegenüber Beschäftigten
im öffentlichen Dienst 28 Prozent und gegenüber denen
im Handwerk 22 Prozent. Allein diese Feststellung
macht schon deutlich, dass man mit der Forderung, die
Ausbildungsvergütungen pauschal um 20 oder 30 zu
kürzen, nicht weiterkommt. Im Gegenteil: Damit werden
wieder einmal nur die Jugendlichen belastet. Diese Form
der Politik sollten wir nicht mitmachen.
({10})
Ein zweiter Punkt: In Diskussionen wird immer wieder gesagt, die hohen Ausbildungsvergütungen verhinderten, dass Unternehmen Jugendliche einstellen. In diesem Artikel wird genau das Gegenteil zum Ausdruck
gebracht. Gerade im Bereich der Facharbeiter wird
durch die Höhe der Ausbildungsvergütung der Anreiz
dafür geschaffen, dass sich überhaupt qualifizierte junge
Leute für diesen Weg entscheiden.
Es wurde schließlich untersucht, ob nicht Auszubildende durch ihre Leistung dazu beitragen, letztendlich
die Ausbildungsvergütung zu refinanzieren.
Diese Aussagen bestätigen eindeutig unsere Politik.
Wenn wir also das Angebot an Facharbeitern aufrechterhalten und diesen Bereich weiter stärken wollen, dann
wäre es absolut kontraproduktiv, bei den Ausbildungsvergütungen zu sparen. Es wäre nicht zielführend, einen
solchen Weg einzuschlagen. Das würde genau in die falsche Richtung gehen.
({11})
Meine Damen und Herren, ich würde gern noch etwas
zu der Forderung sagen - sie taucht immer wieder auf -,
bei schulischen Berufsausbildungen im Rahmen einer
Reform von BBiG und Handwerksordnung Kammerprüfungen zuzulassen. Ich glaube, dass wir mehr als gut beraten sind, darüber in den nächsten Monaten in Ruhe in
den Ausschüssen zu diskutieren. Welche Konsequenzen
hat das, wenn wir die Möglichkeiten, nach einem schulischen Ausbildungsgang an externen Kammerprüfungen
teilzunehmen, ausweiten? Lösen wir damit möglicherweise die Berufsfähigkeit, die Beschäftigungsfähigkeit,
die Orientierung auf die Facharbeitsmärkte auf? Ich
stelle das hier bewusst als Frage in der Hoffnung, dass
wir im weiteren Verfahren zu einer sachgerechten Lösung kommen.
Wir wollen nicht
Herr Kollege, Ihre Redezeit!
- danach höre ich auf, Frau Präsidentin -, dass das
Berufsprinzip und die berufliche Bildung in der Bundesrepublik Deutschland durch eine massive weitere Verschulung sozusagen begraben werden. Im Gegenteil, wir
müssen die betrieblichen Ausbildungsplätze stärken. In
diesem Sinne sollten wir in den nächsten Monaten diskutieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Unser heutiger Gesetzentwurf ist gerade nach dem gestrigen Abschluss eines Ausbildungspaktes besonders
wichtig, weil er - im Gegensatz zu Ihrer wenig substanziellen Kritik, Frau Bundesministerin Bulmahn - eine
effektive Lösung zur Beseitigung des Lehrstellenmangels und die geeignete Antwort auf den bildungspolitischen Stillstand der Bundesregierung bietet.
({0})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, anknüpfend an das, was Herr Schummer aus meiner
Fraktion gesagt hat, möchte ich das erklären: Als Vertreter der Opposition hat man bekanntlich nur selten Gelegenheit, die Regierung zu loben;
({1})
aber im Interesse unserer Jugendlichen möchte ich ihr
doch zum gestern abgeschlossenen Ausbildungspakt
gratulieren - jawohl: gratulieren. Ich gratuliere schließlich aus Überzeugung, weil die Regierung mit dem Abschluss des Ausbildungspaktes genau das umgesetzt hat
- wenn auch mit Abstrichen -, was die Union seit Wochen und Monaten mit allerbesten Argumenten gefordert
hat.
({2})
Das heißt in gutem CDU/CSU-Deutsch: Freiwilligkeit
statt Zwang, überzeugende Einsicht statt diktierter Vernunft, Einzelverträge statt Megabürokratie.
Gleichwohl ist die von Ihnen im Vorfeld praktizierte
„Politik mit der Brechstange“ gescheitert, weil die Regierenden, wie die Verhandlungen zeigten, ganz offensichtlich im Stehen anders denken als im Sitzen.
({3})
Deutlich wurde: Was Schröder nicht gelernt hat, lernt der
so genannte Münte nimmermehr.
({4})
Deshalb ist Herr Müntefering nicht von ungefähr umgefallen und mit ihm Teile seiner SPD-Fraktion. Es ist ein
Sieg über die Kollektivität des Unsinns.
({5})
Sie haben das Gesetz zur Ausbildungsplatzabgabe
im Vorfeld wider besseres Wissen durch den Bundestag
gepresst und es anschließend im Bundesrat einfach verschimmeln lassen - in der Hoffnung, dass kein vernunftbegabter Mensch einen solchen Unsinn weiter zu verfolgen gedenkt.
({6})
Herr Kollege Bertl, weil Sie eben mit fast brüchiger
Stimme und leuchtenden Augen die Vorteile des Ausbildungspaktes gepriesen haben, lassen Sie mich folgende
Bemerkungen machen:
({7})
Erstens kann der Staat die Erfüllung dieses Paktes genauso wenig einfordern, wie die Verbände die Unternehmen zur Ausbildung zwingen können.
Zweitens hat Rot-Grün mit dem Pakt nichts Neues erreicht; denn die in dem Ausbildungspakt vereinbarten
Angebote bestanden - das haben wir wiederholt gesagt
und das stimmt so, auch wenn Sie anderer Auffassung
sind - seitens der Wirtschaft bereits lange vor Ihren Bemühungen zur Zwangsabgabe.
({8})
Es gibt nach wie vor keine Garantien und voraussichtlich
auch keine Ausbildungsplätze für alle Jugendlichen,
weil die Betriebe nicht gesamt-, sondern betriebswirtschaftlich entscheiden.
Drittens ist es höchst zweifelhaft, dass in diesem Jahr
bei anhaltend schlechter Konjunktur und hoher Insolvenzquote netto mehr Ausbildungsplätze angeboten
werden als im Vorjahr.
({9})
- Da lassen Sie besser Ihre Lippen davon.
Viertens. Verlierer auf der ganzen Linie sind die Gewerkschaften.
({10})
Sie haben zu hoch gepokert und verweigern sich nun
dem Pakt. Sie fordern nur von anderen. Herr Bertl, ich
frage mich zusätzlich, warum sich jetzt, wenn man allgemein so begeistert ist, wiederum ganze Teile Ihrer Fraktion an dieser Stelle verweigern.
({11})
Ich habe den Eindruck: Die SPD steht weiter im Abseits.
({12})
Gerade in dieser Situation kommt unser Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Berufsbildungsrechts wie gerufen. Er wird die Ausbildung nunmehr
moderner, schneller und kompakter gestalten. Ich will
das anhand einiger Aspekte begründen:
Erstens. Mit der Schaffung gesetzlicher Grundlagen
für die Verbundausbildung räumen wir weitere Hürden
zur Schaffung neuer Ausbildungsplätze aus dem Wege.
Zweitens. Wir bieten den Unternehmen durch die forcierte Erstellung neuer Berufsbilder gezielt Anreize,
nach den konkreten wirtschaftlichen Gegebenheiten auszubilden. Das von uns hierfür erarbeitete Schlichtermodell ist wegweisend.
Drittens. Mit einem europatauglichen Ausbildungspass - Frau Kollegin Böhmer hat schon darauf hingewiesen - werden alle erworbenen Qualifikationen einheitlich erfasst.
Und schließlich viertens: Wir wollen vor allem die
Stufenausbildung für dreijährige Ausbildungsgänge.
Gerade für Berufsstarter sind schnelle Erfolgserlebnisse
von unschätzbarem Wert.
Ich fasse zusammen: Unsere Novelle ist, wenn man
sie objektiv betrachtet - und dazu in der Lage ist -, in
sich geschlossen und übersichtlich.
({13})
So bleibt sie auch für kleine Unternehmen, die ausbilden, überschaubar und eigenständig handhabbar.
Wir wollen, dass die Motivation aller Beteiligten,
auch derjenigen im Schulbereich, also aller Lehrerinnen
und Lehrer sowie aller Schülerinnen und Schüler, gefördert wird. Aber das setzt ein deutliches Bekenntnis zum
hohen Gut der Leistung voraus. Wer jedoch Leistung
gesellschaftlich niederredet, macht diese nicht erstrebenswert.
({14})
Leistung darf kein Schimpfwort sein oder gar als Synonym für Inhumanität verteufelt werden, wie dies traurigerweise viele Jahre in manchen Bundesländern durch
sozialdemokratische Regierungen vorexerziert wurde.
({15})
Deshalb stelle ich fest - auch das wollen wir mit unserem Antrag -: Wer Leistung angemessen fordert und fördert, handelt zutiefst human.
Mein Fazit - ich weiß, dass Sie alle es hören wollen -: Eine solide Ausbildung ist der Schlüssel zu beruflichem Erfolg. Unsere duale Ausbildung ist ein zielgerichteter Weg dorthin und weltweit anerkannt. Diese
wirksam zu fördern und zu modernisieren, das ist der Inhalt unseres Entwurfs. Und schließlich: Dies alles geschieht auf dem Weg der Freiwilligkeit und der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verantwortung. Für
Zwang und Verstaatlichung ist hier kein Platz.
Wir sind natürlich gesprächsbereit gegenüber allen
anderen Fraktionen, solange sie sich unseren guten Vorstellungen anschließen.
Vielen Dank.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 15/2821 und 15/3325 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 g sowie
die Zusatzpunkte 7 a bis 7 e auf:
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Zusatzprotokolls vom 18. Dezember
1997 zum Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen
- Drucksache 15/3179 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Angleichung der Pfändungsfreigrenzen in der Sozialversicherung
- Drucksache 15/2796 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Niebel, Daniel Bahr ({2}), Rainer Brüderle,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Lockerung des Verbots wiederholter Befristungen
- Drucksache 15/2804 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/3280 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über
die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe in
Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten
({5})
- Drucksache 15/3281 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Horst Friedrich ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bessere organisatorische Kooperation zwischen Auswärtigem Amt und Wissenschaftsorganisationen
- Drucksache 15/2759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({8}), Daniel Bahr ({9}),
Rainer Brüderle und weiterer Abgeordneter der
Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten
Holger Haibach, Kristina Köhler ({10}),
Dr. Klaus W. Lippold ({11}) und weiterer
Abgeordneter der Fraktion der CDU/CSU
Engpass zwischen Wiesbadener Kreuz und
Krifteler Dreieck ({12}) beseitigen
- Drucksache 15/3104 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 7 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes
zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
({13})
- Drucksache 15/3169 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Rechtsausschuss
({14})
Innenausschus
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Melderechtsrahmengesetzes
- Drucksache 15/3305 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau
von Statistiken ({15})
- Drucksache 15/3306 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Statistiken
- Drucksache 15/2416 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Wright, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Winfried Hermann, Albert Schmidt ({18}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mehr Sicherheit für Radfahrer - insbesondere
Schutz vor Unfällen mit LKW im Stadtverkehr
- Drucksache 15/3330 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu den Tagesordnungspunkten 32 a bis 32 g sowie zu den Zusatzpunkten 7 b bis 7 e,
also noch nicht zum Zusatzpunkt 7 a. Interfraktionell
wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nunmehr zu Zusatzpunkt 7 a. Es wird
interfraktionell vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf
Drucksache 15/3169 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen Federführung beim
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung. Die
Fraktion der CDU/CSU wünscht Federführung beim
Rechtsausschuss.
Ich lasse zunächst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der CDU/CSU: Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit Mehrheit der Stimmen des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen: Federführung beim Ausschuss für Gesundheit und Soziale
Sicherung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen. Damit liegt die
Federführung beim Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 33 a
bis 33 m und 28 sowie zu den Zusatzpunkten 8 a und 8 b.
Es handelt sich um die Beschlussfassung, zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
14. Mai 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Polen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 15/3171 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({21})
- Drucksache 15/3264 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Peter Rzepka
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3264,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 8. Juli 2003 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der mazedonischen Regierung über
Soziale Sicherheit
- Drucksache 15/3172 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({23})
- Drucksache 15/3335 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Wodarg
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt auf Drucksache 15/3335, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der
Fraktion der CDU/CSU angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Votum wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
vom 14. Oktober 2003 über die Beteiligung
der Tschechischen Republik, der Republik
Estland, der Republik Zypern, der Republik
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Lettland, der Republik Litauen, der Republik
Ungarn, der Republik Malta, der Republik
Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik am Europäischen Wirtschaftsraum
- Drucksache 15/3173 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({25})
- Drucksache 15/3343 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Gloser
Peter Hintze
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt auf Drucksache 15/3343, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur effektiveren Nutzung von Dateien im Bereich
der Staatsanwaltschaften
- Drucksache 15/1492 ({26})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({27})
- Drucksache 15/3331 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Daniela Raab
Jerzy Montag
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3331,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 15/3044 ({28})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({29})
- Drucksache 15/3260 Berichterstattung:
Abgeordnete Marga Elser
Stephan Mayer ({30})
Volker Beck ({31})
Gisela Piltz
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3260,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Fakultativprotokoll
vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte
des Kindes betreffend die Benachteiligung
({32})
von Kindern an bewaffneten Konflikten, Drucksache 15/3176.
({33})
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3340,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - ({34})
- Entschuldigung, ich wiederhole die Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll
vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten
- Drucksache 15/3176 ({35})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({36})
- Drucksache 15/3340 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Bätzing
Ute Granold
Irmingard Schewe-Gerigk
Jörg van Essen
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({37})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({38})
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({39}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Peter Götz, Dirk Fischer
({40}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Vorlage eines städtebaulichen Berichts
- Drucksachen 15/2158, 15/2896 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Weis
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/2158 zur Vorlage eines städtebaulichen Berichts für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2896 empfiehlt der Ausschuss die Annahme
einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({41}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über Arsen, Kadmium, Quecksilber, Nickel und polyzyklische
aromatische Kohlenwasserstoffe in der Luft
KOM ({42}) 423 endg.; Ratsdok. 11645/03
- Drucksachen 15/1613 Nr. 1.13, 15/2958 Berichterstattung:
Abgeordnete Astrid Klug
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der CDU/CSU und bei Enthaltung der FDP
angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({43}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zum Schutz des
Grundwassers vor Verschmutzung
KOM ({44}) 550 endg.; Ratsdok. 12985/03
- Drucksachen 15/1948 Nr. 1.8, 15/3138 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 33 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45})
Sammelübersicht 124 zu Petitionen
- Drucksache 15/3225 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 124 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46})
Sammelübersicht 125 zu Petitionen
- Drucksache 15/3226 10366
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 125 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({47})
Sammelübersicht 126 zu Petitionen
- Drucksache 15/3227 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 126 ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48})
Sammelübersicht 127 zu Petitionen
- Drucksache 15/3228 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 127 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2826 empfiehlt der Ausschuss die Annahme
einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
({49})
- Gut, dann rufe ich Tagesordnungspunkt 28 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes
- Drucksache 15/3170 ({50})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({51})
- Drucksache 15/3342 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Friedrich Ostendorff
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3342, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit demselben Votum wie bei der zweiten
Beratung angenommen.
Zusatzpunkt 8 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({52})
Übersicht 7
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/3334 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 8 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({53})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 412/04
- Drucksache 15/3341 Berichterstattung:
Andreas Schmidt ({54})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessvertreter für den Deutschen Bundestag zu bestellen. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung
der CDU/CSU angenommen.
({55})
Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 33 g, weil
wir über eine Empfehlung noch nicht abgestimmt haben.
Dabei geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/2896.
({56})
- Entschuldigung, darüber wurde bereits abgestimmt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
({57})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2003
- Drucksache 15/3150 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Karlheinz Guttmacher, FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Mai dieses Jahres habe ich
gemeinsam mit Vertretern aller Fraktionen unseres Hauses den Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses des
Jahres 2003 dem Herrn Bundestagspräsidenten übergeben und ihn anschließend der Öffentlichkeit vorgestellt.
Die Presseresonanz war außerordentlich gut. Es
wurde deutlich, dass die Ausübung des Petitionsrechts
- jedenfalls auch - ein Seismograph für die Stimmung
unserer Bevölkerung ist. Es ist erstaunlich und erfreulich, wie stark sich Bürger über Petitionen in die Politik
einbringen, und was hier an bürgerschaftlichem
Engagement deutlich wird, zeugt von allem anderen als
von Politikverdrossenheit.
({0})
Die Gesundheitsstrukturreform, die Reformen auf
dem Arbeitsmarkt, aber auch die Überarbeitung des
Bundesverkehrswegeplans waren wesentliche Themen
dieser Petitionen. Auch die in den neuen und den alten
Bundesländern nach wie vor vorhandenen Unterschiede
in den rentenrechtlichen Regelungen bewegten im Berichtszeitraum zahlreiche Bürgerinnen und Bürger.
Insofern hat sich der Petitionsausschuss seinem Auftrag entsprechend der Herausforderung gestellt und ein
enormes Arbeitspensum absolviert: 15 534 Petitionsverfahren, 12 Prozent mehr als im Jahr 2002, wurden
eingeleitet. Der Ausschuss hat in 19 Sitzungen über
14 451 Petitionen beraten und sie dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorgelegt. Meine lieben
Freunde, dieses Arbeitspensum wäre ohne die gute Zusammenarbeit im Ausschuss und die Unterstützung seitens des Ausschussdienstes nicht zu bewältigen gewesen. Ihnen allen gilt mein ganz besonderer Dank.
({1})
Über ein Drittel der Petitionen entfällt auf den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Beachtliche Steigerungen gab es auch im Bundesministerium für Wirtschaft
und Arbeit und auch im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Wichtig war und ist es, dass der Petitionsausschuss in
seinem Handeln von seinen Möglichkeiten mutig Gebrauch gemacht und die Vielzahl der ihm zur Verfügung
stehenden Instrumente entschlossen eingesetzt hat. Es
gilt, sich im Gespräch mit Betroffenen und vor Ort ein
Bild zu machen, bei strittigen Petitionen Akteneinsicht
zu nehmen und Regierungsmitglieder vor den Ausschuss
einzuladen bzw. im kleinen Kreis anzuhören. Diese Instrumente einzusetzen halte ich für das A und O der Petitionsbearbeitung.
({2})
Immerhin zwei Drittel der Neueingaben im Jahr 2003
sind Beschwerden über die Arbeit von Behörden, Beschwerden über zu viel Bürokratie. In den Fällen, in denen konkrete Verbesserungsvorschläge vorgebracht und
die Änderung gesetzlicher Regelung gefordert werden,
zum Beispiel zum Rentenrecht der neuen Bundesländer,
sollten wir stärker am Ball bleiben, damit aus Petitionen
dauerhafte Verbesserungen, zum Beispiel bei gesetzlichen Regelungen, hervorgehen.
Sehen wir ein Anliegen als berechtigt an und glauben,
dass es für ein Gesetzgebungsverfahren von Belang ist,
geben wir es den Fraktionen zur Kenntnis. Wir wünschen uns mehr Mut im Plenum und in den Fraktionen,
die Vorschläge der Bürger konstruktiv aufzunehmen. Ein
schönes und positives Beispiel aus jüngster Zeit ist die
Forderung an die Post, aktualisierte Postleitzahlbücher
zu veröffentlichen. Die Idee eines Bürgers, vom Petitionsausschuss aufgenommen, den Fraktionen zur
Kenntnis gegeben, führte dazu, dass wir hoffen können,
dass die Post endlich Konsequenzen zieht und ein Postleitzahlbuch in aktueller Form auf den Markt bringt.
Ich habe vorhin von der Eingabenseite gesprochen,
die zeigt, wo den Bürger der Schuh drückt. Erwähnen
möchte ich aber auch einige Aspekte von dem, was wir
erreichen konnten. Ich finde es erfreulich, dass alles in
allem bei nahezu jeder zweiten Petition für den Petenten
etwas getan werden konnte, sei es auch nur, dass ihm die
Sach- und Rechtslage in verständlicher Form vermittelt
worden ist und er einsah, dass und warum seine Beschwerde keinen Erfolg haben konnte. Ich möchte kurz
aus dem Brief eines Bürgers zitieren:
Das Ergebnis der Prüfung ist für mich negativ ausgefallen, für die umfassende und einleuchtende Erläuterung jedoch meinen aufrichtigen Dank.
Auch so kann man Vertrauen in die Politik schaffen.
({3})
Dem Petitionsausschuss ist es im Jahr 2003 erneut gelungen, in einer Vielzahl von Petitionen wesentlich mehr
zu erreichen. So war es möglich, im Rentenrecht Lösungen zu finden, die in Einzelfällen für mehr Gerechtigkeit
sorgten und den Betroffenen die Gewissheit gaben, sich
an die richtige Stelle gewandt zu haben. Ich nenne hier
- nur beispielhaft - die Verbesserung der Alterssicherung für Landwirte.
Ich möchte schließlich noch ein weiteres Beispiel besonders erwähnen, wo sich der Petitionsausschuss
bemühte, zur Beseitigung einer Ungleichbehandlung
beizutragen. Es handelt sich um Petitionen zum Gesundheitssektor, in denen die Gleichberechtigung von alternativen Heilmethoden und solchen der Schulmedizin
gefordert wurde. Der Ausschuss vertrat hier nach eingehender Beratung die Auffassung, dass die gesetzliche
Krankenversicherung den Petenten mehr Wahlmöglichkeiten bezüglich der Therapien bieten sollte. Die Petitionen wurden folglich der Bundesregierung überwiesen,
damit sie in die Überlegungen zur Reform des Gesundheitswesens mit einfließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ganz wesentlicher Aspekt der Arbeit des Petitionsausschusses ist für
mich - dies auch ganz im Sinne und in Würdigung meiner verstorbenen Ausschussvorsitzenden Marita Sehn -,
die Nähe zu den Menschen zu suchen. Wir haben am
Ende des Berichtsjahres beschlossen, auf Verbrauchermessen Bürgersprechstunden durchzuführen. Die ersten
Termine, die wir in Berlin bzw. im Mai in Mannheim
wahrgenommen haben, lassen erkennen, wie sehr diese
Sprechstunden von den Menschen unseres Landes angenommen werden. So haben wir vereinbart, dass wir solche Sprechstunden auch im Herbst in Plauen und Nürnberg abhalten werden. Wir unterstreichen damit, wie
ernst wir es mit der Beteiligung der Bürger an der Politik
meinen.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ebenso wie
ich vorhin dem Ausschussdienst gedankt habe, möchte
ich mich auch bei allen Ausschussmitgliedern des Petitionsausschusses für ihre engagierte, konstruktive, aber
auch kollegiale Arbeit bedanken.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.
Tu erst das Notwendige, dann das Mögliche und
plötzlich schaffst du das Unmögliche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Diesen Spruch habe ich vor
wenigen Tagen in einem Zug der Deutschen Bahn gelesen. Ich war so frei, zu glauben, dass er sich nicht nur als
Losung für die Deutsche Bahn eignet, sondern ein Motto
ist, das wir auch gut für unsere Petitionsarbeit verwenden können.
Ich freue mich sehr, dass ich hier heute im Namen der
SPD-Bundestagsfraktion, insbesondere der Arbeitsgruppe „Petitionen“ und damit auch aller Abgeordnetenbüros dem Ausschussdienst Dank sagen darf für die
vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit im Jahre
2003. Ehrlicherweise muss man sagen: Es gab sie schon
vor 2003 und sie hat natürlich nicht am 31. Dezember
2003 aufgehört, sondern setzt sich bis heute fort. Ein guter Grund, davon ausgehen zu dürfen, dass das weiterhin
anhält. Wenn es auch kleine Ausnahmen gab - so ist das
im Leben -, bestätigt das, dass es ein gutes Miteinander
gibt. Des Rätsels Lösung liegt allerdings, wie ich glaube,
auch darin, dass sich alle, die an Petitionen arbeiten, der
Beantwortung der Fragestellungen und der Erfüllung der
Wünsche der Petenten und Petentinnen widmen und damit auf gutem Kurs sind.
Mit Petitionen sind wir mitten im Leben: Wir sind bei
Menschen aller Lebensalter und aller Lebenslagen, wir
sind bei Männern und Frauen - zugegebenermaßen haben uns Männer 2003 öfter geschrieben als Frauen -, wir
sind bei Deutschen und Nichtdeutschen, wir sind in allen
Regionen dieser Republik - gelegentlich sogar im Ausland -, eben bei all denjenigen, denen Art. 17 unseres
Grundgesetzes das Petitionsrecht einräumt. Allerdings
sind wir auch mitten im Leben in einer Zeit großer Veränderungen; ob es eine große Zeit werden wird, kann
man ja immer erst im Nachhinein feststellen. Wir alle
sind, was die Politik anbelangt, von tief greifenden Reformen betroffen. Das zieht natürlich auch viele Petitionen von Menschen, die von diesem Wandel betroffen
sind, nach sich. - Wenn der Vorsitzende nickt, kann ich
nur sagen: Ja, das sehen wir wohl alle so. - Das spiegeln
die täglichen Eingänge wider.
Deshalb braucht man auch keine prophetische Gabe,
um vorauszusagen, dass wir 2004 und auch in den
nächsten Jahren nicht an Arbeitsmangel leiden werden.
Wir wissen das, weil es während der Arbeit des Petitionsausschusses schon einmal eine große Welle gab, die
ungleich größer war als die jetzige: Damit haben uns
viele Bürger und Bürgerinnen gerade aus den neuen
Bundesländern nach der Wiedervereinigung ein großes
Vertrauen entgegengebracht und sie haben viel Hoffnung
in die Arbeit dieses Ausschusses gesetzt.
Was tun wir eigentlich? Ich finde, wenn man einen
Jahresbericht diskutiert und so viele Zuhörer und Zuhörerinnen hat, dann lohnt es sich, einmal kurz zu erwähnen, was wir eigentlich machen. Als Erstes tun wir
getreu meinem Motto natürlich das Notwendige: Im Wesentlichen ist es am Ausschussdienst, sauber zu recherchieren, was an dem, was Petenten und Petentinnen vortragen, dran ist. Ich erwähnte es schon: Er tut das
exzellent.
Dann kommt das Mögliche. Hier sind die Parlamentarier unter uns gefragt. Wir loten aus, wo wir wie helfen
können. Unsere klassischen Instrumente sind Materialüberweisung, Erwägung und Berücksichtigung, was
unser stärkstes Schwert ist. Wir erwarten dann schon,
dass dem Votum unseres Ausschusses gefolgt wird. Ich
bin mir sicher: Im Verlauf der Debatte, die wir jetzt führen, hören wir dazu sehr viele Beispiele.
Was zeichnet unsere Arbeit aus? Wir sehen uns jeden
einzelnen Fall mit großer Aufmerksamkeit an. Das heißt,
wir sind anders als sonst in der parlamentarischen Arbeit, wo es - ich sage es einmal in Anführungsstrichen um größere Würfe geht, bei jedem einzelnen Menschen,
der uns schreibt. Teilweise sind sie mit den großen Würfen nicht zufrieden, weil sie ein bisschen anders davon
betroffen sind, als sich das die Gesetzgeber gedacht haben, oder aber sie machen weitere Vorschläge, wie wir
das, was wir tun, verbessern können.
Wir suchen in diesem Ausschuss nach Lösungen. Ich
sage es frank und frei und bin stolz darauf: Das tun wir
oft über Fraktionsgrenzen hinweg. Das ist, wenn ich an
das derzeitige politische Klima in diesem Hause denke,
gar nicht alltäglich. Ich sage allen Dank, die dazu beitragen. Das geht wirklich quer durch alle Fraktionen des
Hauses.
({0})
Uns eint auch noch etwas anderes: Wir sind ziemliche
Sturköpfe und legen bei der Durchsetzung unserer Voten
Hartnäckigkeit und Ausdauer an den Tag. Das zeichnet uns aus. Ich denke, das wissen die Petenten und Petentinnen, die sich an uns wenden, auch zu schätzen,
weil sie sich sicher sein können, dass wir ihr Anliegen
nicht nur lesen, sondern auch prüfen und dass wir nach
Lösungen suchen. Dies tun wir - das hat der Herr Vorsitzende auch schon erwähnt - oftmals in Bereichen, in
denen man meint, dass immer noch ganze Gruppen von
wiehernden Amtsschimmeln durch unsere Amtsstuben
preschen. Dort können wir helfen und sagen, dass wir
das nicht so lassen und dass wir bessere Lösungen finden
wollen. Oftmals finden wir diese auch.
Natürlich laden wir hin und wieder auch Regierungsvertreter ein, weil wir - das sage ich auch als eine die
Mehrheit vertretende Rednerin - nicht immer damit zufrieden sind, wie unsere Bundesregierung mit unseren
Erwägungsbeschlüssen umgeht. Wenn Regierungsvertreter sagen, dass sie unserer Einladung außerordentlich
gerne folgen, dann kann ich nur sagen: Dem dürfen Sie
nicht zu 100 Prozent Glauben schenken. Ansonsten dürfen Sie das immer; aber an dieser Stelle legen wir schon
Wert darauf, dass wir das Regierungshandeln kritisch
hinterfragen wollen. Das tun wir auch. Oftmals haben
wir eine große Dialogbereitschaft der Regierungsmitglieder erlebt, sodass wir am Ende eine Lösung finden
konnten, die wirklich zum Wohle des Petenten war. Deshalb kann ich nur sagen - denken Sie an mein Bahnmotto -: Hin und wieder schaffen wir auch Unmögliches, allerdings nicht immer.
Herr Guttmacher, Sie als Vorsitzender haben zu Recht
darauf hingewiesen, dass uns in der Petitionsarbeit häufig Anliegen von Petenten vorliegen, die sich an uns
wenden, weil sie tiefe Ungerechtigkeiten aus der DDRVergangenheit empfinden. Das bezieht sich manchmal
auf Immobilien und häufig auf Rentenfragen. Das sind
immer wieder Themen. Es ist ganz schwierig, hier gute
Lösungen zu finden.
Sie appellieren, Mut zu haben. Ich glaube, den hat der
gesamte Ausschuss. Allerdings spüren wir dort auch immer wieder unsere Grenzen. Wir führen eine große Debatte um die Renten. Wir müssen sehen, dass wir das
Gesamtgeschehen im Lot halten. Auch da suchen wir
nach guten Lösungen. Aber ich will auch ehrlich sein:
Wir finden sie nicht immer zum Wohle der Petenten.
Ich will die Debatte um den Jahresbericht 2003 nutzen, um einige zukünftige Vorhaben zu schildern; denn
Rot-Grün will an einer Stelle versuchen, bisher Unmögliches möglich zu machen. Wir haben an zwei Stellen
eine Änderung der Verfahrensgrundsätze - wir werden
nach der Sommerpause eine entsprechende Vorlage in
den Ausschuss einbringen - in Angriff genommen. Wir
möchten nämlich gerne, dass unser gutes altes Petitionsrecht - das darf man wohl so sagen - eine Veränderung
in zwei Punkten erfährt: Wir möchten zum einen gerne,
dass Petitionen per E-Mail eingereicht werden können.
({1})
Jetzt mögen manche fragen: Wie kann es sein, dass es
das immer noch nicht gibt? Recht haben sie. Inzwischen
haben wir E-Government und Online-Kommunikation.
Wir wissen, mittlerweile sind 40 Millionen Bundesbürger online. Wenn ich dann höre „Viel Vergnügen!“, dann
kann ich nur sagen: So viel Mut braucht man dazu gar
nicht.
({2})
Bei den Petitionen, die uns per E-Mail erreichen, erwarten wir, dass der gesamte Name mit kompletter Adresse
angegeben ist. Das ist nicht anders als bei denen, die uns
schon heute Postkarten schreiben, Briefe an uns senden
oder uns Faxe schicken. Deshalb wollen wir auch die
Zuteilung von Petitionen auf dem modernen und zeitgemäßen Weg der E-Mails möglich machen.
({3})
Wir gehen einmal davon aus, dass es uns gelingen
wird, diese Regelung am 1. Januar 2005 in Kraft treten
zu lassen. Wir denken dabei insbesondere an junge
Leute, die immer weniger schriftlichen Verkehr mit Behörden pflegen und gerne E-Mails nutzen. Es ist auch
richtig, diese Kommunikationsform in das Recht einzubinden. Eine Änderung der Verfahrensgrundsätze wird
dafür, wie gesagt, nötig sein.
Wir wollen noch einen zweiten Ansatz verwirklichen.
Wir singen landauf, landab von Schleswig-Holstein bis
insbesondere nach Bayern das Hohelied auf direkte Demokratie und die Beteiligung der Bürger. Die Bürger sollen den Staat aktiv gestalten und unterstützen. Wenn man
das aber auf dem Weg der Massen- und Sammelpetition
tut, dann gibt das geltende Recht eine besondere Würdigung dieses umfassenden Ereignisses noch nicht her.
Das sollten wir ändern und das wollen wir auch tun.
Wir möchten für Sammel- und Massenpetitionen mit
einem Quorum von 50 000 erreichen, dass es zumindest
für diese Petenten oder ihre Vertreter eine öffentliche
Anhörung im Ausschuss gibt. Wenn es darum geht, Unterschriften zu sammeln, darf sich das nicht beliebig
lange hinziehen. Man muss nach Einreichen innerhalb
von drei Wochen auf dieses Quorum kommen. Wir
glauben, dass wir damit einen Schritt auf dem Weg zu
noch mehr Bürgernähe machen. Wir nehmen diejenigen
ernst, die mitgestalten wollen. Das ist ein vielleicht kleiner, aber, wie ich finde, ein guter und richtiger Schritt in
die richtige Richtung.
({4})
Ich will nicht verhehlen, dass wir dabei viel Unterstützung haben. Das, was ich gerade beschrieben habe,
gibt es auch für das Petitionsrecht in der Bundesrepublik. Ich meine die Vereinigung zur Förderung des
Petitionsrechts in der Demokratie e. V., die seit Jahren
sehr aktiv ist und von uns geschätzt wird. Diese Vereinigung hat eine Fülle von Vorschlägen erarbeitet, was wir
im Sinne einer bürgernahen Petitionsrechtsgestaltung
ändern können. Wir haben uns erlaubt, zwei Vorschläge
als Anregung aufzunehmen. Ich denke, das ist der richtige Weg. An dieser Stelle ein Dankeschön an diese Vereinigung. Wir als Parlament können froh sein, dass es
solche Zusammenschlüsse gibt, die uns daran erinnern:
Ihr seid schon ganz gut; an bestimmten Stellen könnt ihr
allerdings noch besser werden. - Dem wollen wir gerne
nachkommen.
({5})
Mir bleibt nicht mehr allzu viel Redezeit, aber sie
muss ausreichen, um ein Lob für die Zusammenarbeit
der Petitionsausschüsse auf Bundes-, Länder- und europäischer Ebene auszusprechen. Ich denke, wir sind einen
großen Schritt vorangekommen. Mein Dank gilt auch
dem Vorsitzenden, der unsere Arbeit mit großem Nachdruck vorantreibt. Wir sind sehr stolz auf ihn und ich bedanke mich bei ihm herzlich.
({6})
Wir alle machen gut mit. Ich halte unseren Ausschuss
wirklich für ein gutes Team. Wir sind sehr einsatzfreudig
und sehr fleißig. Hin und wieder leisten wir uns einen
parteipolitischen Schlagabtausch. Wenn ich mir die Rednerliste anschaue, vermute ich, dass auch diese Debatte
davon nicht frei sein wird. Aber auch darauf freuen wir
uns, weil die lebendige Debatte gut für die Petitionsarbeit ist.
({7})
- Herr Scheuer, ich gehe jede Wette ein, dass das so ist.
Weil gute Reden kluge Zitate zieren sollen, möchte
ich mit einem solchen Zitat enden. Jean-Jacques
Rousseau hat einmal gesagt: „Sobald einer über die
Staatsangelegenheiten sagt ‚Was geht’s mich an?, muss
man damit rechnen, dass der Staat verloren ist.“ Wir als
Mitglieder des Petitionsausschusses wissen uns mit allen
Petenten und Petentinnen auf der richtigen Seite: der lebendigen Demokratie. Das finde ich gut so.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Günter Baumann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wichtigste Botschaft, die wir heute den Menschen in
Deutschland überbringen sollten, ist, dass wir bei mehr
als 50 Prozent aller Petitionen etwas für die Menschen
tun konnten. Es gab oft spürbare Verbesserungen. Wir
haben nicht immer das maximale Ziel, aber meistens einen Kompromiss erreicht. Wir haben mehr als 50 Prozent der Menschen in irgendeiner Form geholfen.
Art. 17 unseres Grundgesetzes - wir kennen ihn alle lautet:
Jedermann hat das Recht, sich … mit Beschwerden …
an die Volksvertretung zu wenden.
Dies haben letztes Jahr über 15 000 Bürger, Bürgerbewegungen und Vereinigungen getan. Es waren - das ist
erstaunlich - über 8 000 aus den neuen Bundesländern.
56 Prozent kamen somit aus den fünf neuen Ländern.
Es ist aus meiner Sicht nicht verwunderlich, dass die
Zahl der Petitionen im Jahre 2003 angestiegen ist. Ursachen sehe ich in der hohen Regelungsdichte und Bürokratie in Deutschland, in der hohen Arbeitslosigkeit, in
der Rentenkürzung, in einer Vielzahl von ungelösten sozialen Problemen, in Schwierigkeiten bei der Umsetzung
der Gesundheitsreform, die viele persönlich betroffen
hat, und in der gesamten wirtschaftlichen Lage, die wir
zurzeit haben. Der Petitionsausschuss ist eine Art Seismograph, der die Sorgen und Nöte der Menschen in unserem Land widerspiegelt.
Aus unserer Sicht bedeutsame Petitionen werden besonders behandelt. Sie werden von uns zur Berücksichtigung überwiesen. Dies haben wir im letzten Jahr mit
81 Petitionen getan.
Ein Fall ist besonders erwähnenswert: Wir haben den
Bürgern des oberbayerischen Ortes Valley geholfen, dass
eine amerikanische Sendeanlage, die Belastungen für
die Bürger erzeugte, abgeschaltet wurde.
Besondere Befugnisse des Petitionsausschusses sind
für unsere Arbeit besonders wichtig. Dazu gehört zum
Beispiel der Ortstermin, bei dem wir unmittelbar vor Ort
mit den Betroffenen und Verantwortlichen über die Probleme diskutieren können. Dies treibt manchmal ganz
besondere Blüten. Ich möchte von einem Beispiel berichten. So wurden unmittelbar vor einer Besichtigung
von erheblichen Bergbauschäden im saarländischen
Völklingen-Fürstenhausen im Auftrag des Bergbauunternehmens, bevor wir kamen, noch rasch Risse gekittet
und die Häuser angestrichen. Uns sollten potemkinsche
Dörfer vorgeführt werden. Das kann man sich natürlich
nicht gefallen lassen. Das ist eine Missachtung des Parlaments, der Abgeordneten.
({0})
Auch das Recht, Akten einzusehen oder einen Vertreter der Bundesregierung anzuhören, erweist sich gelegentlich als hilfreich. Dabei ist manchmal erstaunlich,
mit welcher Hartnäckigkeit manche Institutionen ein Gespräch mit dem Ausschuss verweigern, wobei wir doch
gerade in diesen Gesprächen eine Reihe von Fragen klären, die jeweiligen Standpunkte austauschen und oft
auch Kompromisse finden können.
Meine Vorredner wiesen bereits darauf hin, dass im
Petitionsausschuss vieles im Konsens geschieht. Aber
hin und wieder lassen sich die Standpunkte der Fraktionen nicht miteinander vereinbaren. Dann bleibt für die
Oppositionsfraktionen die Möglichkeit, eine Einzelausweisung zu verlangen oder einen Änderungsantrag zu
stellen. Dies haben wir im letzten Jahr zweimal getan.
Einmal ging es um den Erhalt des Bundeswehrstandortes
in Bayreuth. Zum anderen wollten wir der sudetendeutschen Ackermann-Gemeinde, einer hoch angesehenen
katholischen Gemeinschaft, zu einem Kulturreferenten
verhelfen, um etwas zur deutsch-tschechischen Versöhnung beizutragen. Wir haben aber leider keine Mehrheit
im Ausschuss gefunden.
Die große Zahl von Eingaben macht auch deutlich,
dass die Menschen in Deutschland große Hoffnungen in
uns setzen. Oft ist eine Petition ihre letzte Möglichkeit,
Hilfe zu bekommen, weil sie schon an vielen Behörden
und anderen Stellen gescheitert sind.
Als Abgeordneter aus Sachsen möchte ich einige Beispiele aus der Arbeit des Ausschusses aus den neuen
Bundesländern vortragen. Ein entscheidendes Thema ist
dabei die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur.
Dazu zählen insbesondere offene Vermögensfragen.
Viele Petenten klagen über willkürliche Entscheidungen
der Landesvermögensämter. Ein Fall, in dem wir 2003
endlich Fortschritte erzielen konnten, ist wegen seiner
menschlichen und historischen Dimension besonders
dramatisch, weil sich hier die kommunistische und die
nationalsozialistische Unrechtsepoche bei einer Person
überschneiden.
Ein Bürger aus Brasilien, der 1997 80 Jahre alt war
und von Sozialhilfe lebt, hat sich an den Petitionsausschuss gewandt, weil ihm das brandenburgische Landesvermögensamt die Rückgabe seines ehemaligen Familienbesitzes verweigert hatte. Die Familie des Petenten
war 1945 - das ist zu beachten - gleich zweimal enteignet worden, und zwar erst von der Gestapo und dann von
der sowjetischen Militäradministration. Der Vater wurde
von der Gestapo erschossen und die Mutter hat sich aus
Verzweiflung selbst das Leben genommen. Zu DDRZeiten wurden die an einem See in Brandenburg gelegenen herrlichen Wassergrundstücke des ehemaligen Landwirtschaftsbetriebs als so genannte Wochenendgrundstücke an Funktionäre des DDR-Regimes vergeben.
Als der Petent in Brasilien von der Wende erfuhr,
hatte er die Hoffnung, endlich Gerechtigkeit zu erfahren.
Er wurde aber über Jahre hinweg bitter enttäuscht. Nach
sieben Jahren teilte ihm das Landesvermögensamt erstmals mit, dass eine Rückgabe abgelehnt werde und kein
Entschädigungsanspruch bestehe. An dieser Haltung hat
sich in den Folgejahren nichts geändert. Das Landesvermögensamt beruft sich auf den Restitutionsausschluss
bei Enteignungen in den Jahren 1945 bis 1949. Dass die
erste Enteignung durch die Gestapo erfolgte, wird nicht
anerkannt.
Kurz nach der Wende waren die lukrativen Grundstücke zu Niedrigstpreisen an ehemalige Funktionäre der
DDR verkauft worden. Der Petent hat einen sehr bösen
Verdacht: Wollte etwa die Landesbehörde diese Verkäufe in irgendeiner Form schützen?
Der Petitionsausschuss des Bundestags hat sich all die
Jahre mit mehreren Erwägungsbeschlüssen parteiübergreifend für den Petenten eingesetzt. Das Problem war
aber, dass aufgrund der bundesstaatlichen Ordnung die
Landtage für die Landesbehörden zuständig sind. Der
brandenburgische Landtag ist der Meinung des brandenburgischen Landesvermögensamts gefolgt, sodass zunächst keine Hilfe möglich war. Dennoch könnte die Petition jetzt noch ein gutes Ende finden. Der Bund hat den
Vermögensanspruch des Petenten bereits anerkannt. Das
ist der erste Erfolg.
Der zweite Erfolg könnte sich daraus ergeben, dass
wir zum 1. Januar 2004 im Bundestag eine Gesetzesänderung beschlossen haben, derzufolge das Bundesvermögensamt für Enteignungen aus der NS-Zeit zuständig
ist. Damit kann nun dem Petenten nach fast 60 Jahren
Gerechtigkeit widerfahren.
({1})
Der Petitionsausschuss erfährt auch immer wieder
von DDR-Recht, das im Einigungsvertrag übersehen
worden ist, zum Beispiel die so genannten stecken
gebliebenen Entschädigungen. Dabei handelt es sich
um Entschädigungen, die nach den Enteignungsgesetzen
zwar der DDR zugesprochen, aber in der Praxis nicht geleistet worden sind. Wer nun glaubte, nach der Wende einen Anspruch auf eine solche Entschädigung geltend
machen zu können, wurde von den Vermögensämtern
schwer enttäuscht. Für eine Auszahlung fehlte im Vermögensgesetz die rechtliche Grundlage.
Der Petitionsausschuss hat dieses Thema jahrelang
immer wieder aufgegriffen und entsprechende Beschlüsse gefasst. Wir konnten im Dezember vergangenen Jahres im Bundestag das Entschädigungserfüllungsgesetz verabschieden, sodass den Bürgern im Prinzip
geholfen werden konnte. Aber bedauerlicherweise ist
der Anspruch auf sechs Monate befristet. Diese Frist ist
leider gestern abgelaufen, sodass sicherlich einige diese
Frist versäumt haben. Vielen ist aber bestimmt geholfen
worden. Ich denke, wenn weitere Fälle bekannt werden,
dann werden wir sicherlich wie bisher parteiübergreifend Möglichkeiten finden, um diesen Menschen zu helfen.
Kompliziert im Einzelfall und den Betroffenen sehr
schwer zu vermitteln ist das Rentenrecht. Das gilt insbesondere für die neuen Länder, wo eine Reihe von Problemen offen ist, bei denen wir den Bürgern nicht immer
helfen, aber zumindest durch eine Erläuterung oder Erklärung den Sachverhalt vermitteln können.
Mir persönlich ist aber eine Gruppe von Betroffenen
ganz besonders wichtig. Es sind diejenigen, die überhaupt keine oder nur geringste Ansprüche an das Rentensystem stellen können, weil ihnen eine normale Erwerbsbiografie in der DDR verweigert wurde. Die
Opfer des SED-Regimes haben bis heute nicht die rentenrechtliche Kompensation erfahren, die ihnen aufgrund ihres mutigen Einsatzes für Freiheit und Demokratie zweifellos zustünde. Dass wir uns - damit meine
ich alle in diesem Lande, die seit der Wende politische
Verantwortung tragen - hier sehr schwer tun, ist und
bleibt beschämend. Es ist für unsere Demokratie, glaube
ich, und auch für unser nationales Gedächtnis wichtig,
dass wir hier etwas tun. Gerade heute, am 17. Juni, dem
51. Jahrestag des Volksaufstands in der ehemaligen
DDR, sollten wir parteiübergreifend über eine Verbesserung der Situation der Opfer des SED-Regimes erneut
nachdenken.
({2})
Ich bitte die Kollegen der Regierungsfraktionen - darauf
hoffe ich -, mit uns gemeinsam das Thema noch einmal
anzugehen. Staatsnahe Funktionäre der ehemaligen
DDR und Stasi-Mitarbeiter konnten in den vergangenen
Jahren die Begrenzung ihrer Zusatzrenten vor Gericht
zweimal aufheben lassen. Es darf nicht sein, dass die Täter mehrmals belohnt worden sind, während die Opfer
immer wieder durch das Raster fallen.
({3})
Der Bundestag wird demnächst erneut über eine Gesetzesinitiative zur Einführung einer Opferrente beraten.
Ein entsprechender Antrag wurde von den Bundesländern Sachsen und Thüringen in den Bundesrat eingebracht.
Die Debatte über den Jahresbericht 2003 des Petitionsausschusses gibt mir Gelegenheit, im Namen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion allen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihre fleißige,
kompetente und immer sehr kollegiale Arbeit ganz herzlich zu danken. Ohne ihre Tätigkeit wäre es uns nicht
möglich, die Berge von Akten zu bewältigen. Einen ganz
herzlichen Dank!
({4})
Wir als Abgeordnete haben mit großem Engagement,
fleißiger Arbeit und meistens in sachlichem Meinungsstreit dazu beigetragen, dass vielen Bürgern im Land geholfen werden konnte. Das stärkt das Vertrauen in unsere
lebendige Demokratie und ermutigt uns, gemeinsam diesen Dienst für unsere Bürger fortzuführen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Winkler von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Mit Mühen und Beschwerden wird man allein fertig, aber die Freude muss man teilen.
So sagt der norwegische Dichter Henrik Ibsen. Daher
teile ich mit Ihnen meine Freude über die hervorragende
Bilanz des Jahresberichts 2003 des Petitionsausschusses,
den wir heute vorlegen. Ich hoffe, dass möglichst viele
Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande nicht nur die
Arbeit des Petitionsausschusses zur Kenntnis nehmen,
sondern auch die Möglichkeiten, die sich durch das Petitionsrecht bieten, noch mehr nutzen, als sie das bisher
tun.
Ich möchte gleich zu Beginn auf die Ausführungen
von Frau Lösekrug-Möller eingehen; denn ich habe gemerkt, dass in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion leichte
Unruhe herrschte. Herr Ramsauer hat uns insbesondere
bei den E-Mail-Petitionen viel Spaß gewünscht. Diesen
werden wir mit Sicherheit haben. Herr Baumann, wir
waren in Schottland und haben gesehen, dass beim Petitionsausschuss des schottischen Parlaments ein ähnliches Verfahren über E-Mail sehr gut funktioniert und
schon seit Jahren erprobt wird. Ich empfehle die Lektüre
des Reiseberichtes. Dann wird vielleicht verständlich,
wieso wir entsprechende Überlegungen angestellt haben.
({0})
Der Jahresbericht 2003 zeigt: Ob es um die Bewilligung eines Rollstuhls, die Gewährung einer Altersrente
ohne Abschläge oder den Lärmschutz in Wohngebieten
geht - das betrifft also alle Ressorts der Bundesregierung -, wenn niemand mehr helfen kann, dann hilft eine
Petition. Die Anzahl wurde schon erwähnt. Bei nahezu
jeder zweiten Petition von den vielen Tausend konnte etwas für die Petenten erreicht werden. Ich denke, das ist
eine sehr gute Erfolgsbilanz. Man muss dabei bedenken,
dass oft einzelne Petitionen von vielen Tausend Bürgern
unterstützt werden, sodass sich das multipliziert.
Jede Petition ist in meinen Augen auch Ausdruck des
Vertrauens der Bürger in das Parlament, dass es ihre Anliegen ernst nimmt. Man kann sagen: Die Bürgerinnen
und Bürger haben viel mehr Lust, sich in die demokratischen Abläufe einzumischen, als man glaubt. Zumindest
ist es bei weitem nicht so dramatisch, wie die Wahlbeteiligung bei mancher Wahl glauben macht. Zumindest auf
Bundesebene sehe ich das nicht so dramatisch.
Inhalt der Eingaben, die uns auf den Tisch flattern,
sind auch nicht nur Gejammer und Gestöhne. Es sind
viele Ideen, Verbesserungsvorschläge, manchmal auch
Visionen, sehr selten Unsinn, meistens sehr positive
Dinge. Deshalb sage ich auch: Petitionen sind Ausdruck
von Initiative, Kreativität und Verantwortung der Bürger.
Ich will ein besonders interessantes Beispiel vortragen. Es geht um die Petition des Vaters einer schwerbehinderten Tochter. Der Vater hat dem Petitionsausschuss
mitgeteilt, dass ihm bei der Beantragung von Pflegegeld,
weil er die Tochter zu Hause pflegt, der Pflegepauschalbetrag nur dann gewährt wird, wenn er die Kosten mit
Einzelbelegen nachweist. Weil er ein Kind und nicht
einen älteren Angehörigen pflegt, bekommt er nicht den
Pauschalbetrag, sondern muss alles Spitze auf Knopf
nachweisen.
Ich denke, es war richtig, dass wir vom Petitionsausschuss im Jahr 2002 parteiübergreifend die Bundesregierung und auch die Fraktionen aufgefordert haben, da Abhilfe zu schaffen. 2003 haben wir, wie ich durchaus mit
Stolz verkünden kann, den Arbeitsauftrag als erfüllt ansehen können. Das Gesetz wurde geändert. Durch eine
Änderung des Einkommensteuergesetzes mit dem Steuerrechtsänderungsgesetz 2003 konnte dem Beschluss des
Ausschusses in vollem Umfang entsprochen werden.
Ich habe diesen Petenten besonders herausgehoben,
weil er nicht nur für seinen Einzelfall eine Petition geschrieben hat - seine Situation war ja schon schlimm
genug -, sondern weil er darum gebeten hat, das Problem generell auch für andere Familien, denen es ähnlich geht, zu lösen. Das haben wir jetzt geschafft und
deshalb muss ich diesem Petenten stellvertretend für
viele andere herzlich danken und ihm Respekt zollen.
({1})
Man kann also sagen: Das Petitionsrecht ist eine Art
Sauerstoffkur für die Demokratie. Für diese Kur gebührt
auch Dank. Ich schließe mich namens der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen dem Dank der anderen Fraktionen ausdrücklich an und bedanke mich insbesondere bei
dem Ausschussdienst der Fraktionen, aber natürlich
auch bei dem des Deutschen Bundestages. Stellvertretend möchte ich namentlich Herrn Dr. Rakenius, den
Leiter der Unterabteilung Petitionen und Eingaben, und
Herrn Finger, den Leiter des Sekretariats, nennen, die
beide hier Platz genommen haben. Herzlichen Dank!
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, solange in
einer Demokratie Gesetze gemacht werden, werden auch
Fehler gemacht, und solange Fehler gemacht werden,
braucht eine Demokratie Bürgerinnen und Bürger, die
den Gesetzgeber auf die Fehler aufmerksam machen.
Herr Kollege Scheuer, die Opposition schafft das
manchmal nicht ganz allein. „Das ist das Schöne an der
Demokratie: Man muss sich nicht alles gefallen lassen“,
schreibt die „Mitteldeutsche Zeitung“ in diesem Zusammenhang. Insofern kann man, einen anderen Anwurf aus
der Opposition aufgreifend, auch sagen: Die Petenten,
die sich an den Bundestag richten, sind die preiswertesten Politikberater, die man sich wünschen kann, und ersparen uns so manchen Euro.
({3})
Darauf sage ich, Herr Baumann: Wir nehmen die Lehren
durchaus an. Ich denke, die Zahl der gelösten Petitionen
zeigt das auch.
Die zunehmende Zahl von Massenpetitionen deutet
darauf hin, dass immer mehr Menschen, die eigentlich
die direkte Demokratie wollen, den Umweg über das Petitionsrecht nehmen, weil es derzeit in Deutschland
keine Möglichkeit gibt, Volksentscheide durchzuführen,
da die Union und die Mehrheit der FDP das entsprechende Gesetz abgelehnt haben. Auch hier wird sich das
Rad der Geschichte noch weiter drehen und wir werden
in dieser Wahlperiode einen erneuten Anlauf starten.
Wir sehen auch Hinweise darauf, in welche Richtung
wir die Gesetzgebung weiterentwickeln müssen. Man
muss ganz klar sagen, dass wir gerade im Bereich der
Kranken- und Rentenversicherung große Veränderungen vornehmen müssen, um das System, das wir richtig
finden, zu erhalten. In diesem Bereich gehen die Eingaben sprunghaft in die Höhe. Aus unserer Sicht zeigt die
Vielzahl der Petitionen, dass eigentlich ein neues System
gefunden werden muss, eine Bürgerversicherung, damit
die Krankenversicherung und die Rentenversicherung
auf stabile Grundlagen gestellt werden können.
({4})
Ich will noch anfügen, dass insbesondere im Bereich
Zuwanderungs- und Asylrecht eine große Anzahl von
Petitionen eingeht. Heute ist es offensichtlich zu einer
endgültigen Einigung über ein Zuwanderungsgesetz gekommen. Ich kenne die Inhalte leider noch nicht ganz.
Eines ist aber sicherlich nicht enthalten, nämlich eine
Bleiberechtsregelung für Hunderttausende von Menschen, die sich seit langem hier aufhalten. Es ist sehr bedauerlich, dass das nicht erreicht werden konnte. So werden wir auch aus diesem Bereich noch lange viele
Petitionen bekommen. Ich finde, es ist schade, dass das
in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht mit gelöst
wurde.
Zum Schluss:
Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt. Der andere packt sie kräftig an und handelt.
So sagte Dante. Insofern, liebe Bürgerinnen und Bürger:
Handeln Sie! Schicken Sie uns Petitionen, womöglich
auch per E-Mail! Dann handeln wir und versuchen, alles
zu tun, um Ihren berechtigten Anliegen zum Erfolg zu
verhelfen, und das, wenn es irgend geht, liebe Kolleginnen und Kollegen im ganzen Haus, einheitlich und parteiübergreifend.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
zahlreichen Petitionen sind ein deutliches Zeichen: Die
Bürgerinnen und Bürger vertrauen dem Petitionsausschuss. Sie verdeutlichen, wie wichtig dieser Ausschuss
ist. Er ist für viele die letzte Anlaufstelle, eine echte Alternative zur Resignation. Es wäre für das Ansehen der
Politik fatal, dieses Vertrauen zu enttäuschen.
Wir dürfen mit dem Erreichten deshalb nicht zufrieden sein, sondern wir müssen uns bemühen, das Gute
weiterzuentwickeln. Wir müssen uns ständig fragen, was
wir tun können, damit der Petitionsausschuss die Interessen der Bürgerinnen und Bürger noch besser und noch
effizienter vertreten kann. Das Petitionsrecht muss auf
den Prüfstand. Dort, wo es nötig ist, müssen wir es reformieren. Qualitätskontrolle ist einer der wichtigsten
Schritte zur Qualitätssicherung.
({0})
Unser Petitionsrecht ist seit 1975 unverändert. Die
Gesellschaft hat sich inzwischen - in vielen Bereichen
sogar dramatisch - verändert. Wir müssen uns deshalb
fragen: Wie können wir das Petitionsrecht so gestalten,
dass es den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen
gerecht wird? Die Voraussetzungen für eine solche Reform sind gut; denn auch die Regierungsparteien, SPD
und Grüne, sehen die Notwendigkeit zur Umgestaltung
des Petitionsrechts. So steht zum Beispiel im Koalitionsvertrag:
Wir wollen das Petitionsrecht, über die Lösung individueller Anliegen hinaus, zu einem politischen
Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und Bürger ausgestalten.
({1})
Sie haben sich viel vorgenommen, Herr Winkler.
Aber sind Sie diesem Anspruch denn gerecht geworden?
Was ist denn inzwischen passiert? Haben Sie das Petitionsrecht zu einem politischen Mitwirkungsrecht der
Bürgerinnen und Bürger weiterentwickelt?
({2})
Wo sind die angekündigten Reformen? Ihrem wohlformulierten Anspruch stehen bisher leider keine Taten gegenüber. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen:
Was für einen Stellenwert hat das Petitionsrecht für Sie?
Die Grünen haben vor der Bundestagswahl - Herr
Winkler, jetzt können Sie meinen Zitaten weiter folgen einen umfangreichen Forderungskatalog an die Vereinigung zur Förderung des Petitionsrechts in der Demokratie geschickt. Damals haben Sie - ich weiß nicht, ob Sie
das schon vergessen haben - die Aussetzung des
Vollzugs von Verwaltungsmaßnahmen bis zur Entscheidung über eine Petition gefordert. Sie wollten - um nur
einige Ihrer Forderungen zu nennen - erweiterte Akteneinsichts- und Aktenbeiziehungsrechte, die Schaffung
eines Selbstaufgriffsrechts, das Recht der Ausschussminderheit, von den Informationsrechten Gebrauch zu
machen, und die Darlegung der Auffassung von Ausschussmehrheit und -minderheit in der Beschlussbegründung.
({3})
Man hätte fast annehmen können, Sie seien auf dem
Weg zu einer Partei der Bürgerrechte. Aber was ist von
Ihren Ankündigungen geblieben? Nicht eine einzige Ihrer Forderungen wurde umgesetzt. Die weiter steigende
Zahl an Petitionen zeigt, wie wichtig dieser Ausschuss
ist. Ich bin sicher, diese Zahl wäre noch höher, wenn wir
das Petitionsrecht weiter ausbauten.
Stattdessen beobachten wir eine Entwicklung in eine
ganz andere Richtung. Die Regierung neigt immer mehr
dazu, ohne Not selbst Bürgerbeauftragte einzurichten.
Wozu brauchen wir denn eigentlich eine Patientenbeauftragte, wenn wir einen Petitionsausschuss haben? Was
kann Frau Kühn-Mengel, was der Petitionsausschuss
nicht kann?
({4})
Durch solche Bürgerbeauftragte werden Bürgeranliegen
letztlich am Parlament vorbei behandelt, vom Parlament
fern gehalten und direkt auf Regierungsebene erledigt.
Dadurch wird das Näheverhältnis zwischen Parlament
und Petenten gestört. Für die Bürgerinnen und Bürger
entsteht der nicht gerade positive Eindruck, dass sich die
Abgeordneten nicht mehr unmittelbar um ihre Anliegen
kümmern. Es geht ein hohes Maß an Transparenz und
parlamentarischer Kontrolle verloren. Am Ende steht
eine Schwächung dieses Parlaments.
Ich sage es Ihnen ganz offen: Die FDP hat große Bedenken gegen die inflationäre Einführung von Regierungsbeauftragten auf den verschiedensten Politikfeldern. Der Petitionsausschuss ist das zentrale Gremium
für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. Dabei,
liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte es auch bleiben.
({5})
Wir sollten gemeinsam darauf hinwirken, dass die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger nicht auf eine Vielzahl
von Stellen verteilt werden, sondern zusammengeführt
werden, und zwar hier beim Parlament. Nur so können
wir den Anliegen wirklich die erforderliche politische
Wirkung verleihen.
Die FDP will einen starken und selbstbewussten Petitionsausschuss, einen Petitionsausschuss, der mit den
notwendigen Rechten ausgestattet ist, um den Bürgerinnen und Bürgern über den Wahltag hinaus politische
Mitwirkungsmöglichkeiten zu sichern.
Wir haben die Initiative ergriffen und eine Große Anfrage in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir
möchten, dass Sie von der Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern Klarheit darüber verschaffen, wie
Ernst es Ihnen mit der Ausgestaltung des Petitionsrechts
ist.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, den Bürgerinnen und Bürgern ein Petitionsrecht an die Hand zu geben, welches sie in die Lage versetzt, unsere Gesellschaft auf direkte Weise aktiv mitzugestalten! Die
Umsetzung eines solchen Vorhabens würde allen politischen Parteien in diesem Hohen Hause zur Ehre gereichen und führte zu einer Stärkung unserer Demokratie.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Josef Winkler das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Lieber Herr Kollege
Dr. Wissing, ich schreibe es einmal Ihrer Unerfahrenheit
als gerade erst ins Parlament gekommener Kollege zu,
({0})
dass Sie die Wahlprüfsteine als Gesetzgebungsvorschläge verstehen wollen. Natürlich haben die Grünen
seit vielen Jahren sehr weit gehende Überlegungen dazu,
({1})
wie man das Petitionsrecht weiterentwickeln kann. Frau
Kollegin Lösekrug-Möller hat eben einige Dinge vorgestellt, die wir jetzt angehen wollen. Sie hätten Ihre Rede
dementsprechend noch korrigieren können. Das klappt
im nächsten Jahr vielleicht besser.
Die Vorschläge, die wir haben, gehen durchaus weiter. Das ist ein Katalog von bis zu 50 unterschiedlichen
Dingen. So soll zum Beispiel die Opposition gestärkt
werden.
({2})
- Mir ist klar, dass Ihnen im Moment besonders am Herzen liegt, dass ich diese Forderung durchsetze.
Aber ich sage einmal so: Es muss nicht alles auf einmal kommen. Man sollte ein so wohldurchdachtes Instrument wie das Petitionsrecht nicht von heute auf morgen überfrachten, aber nach und nach, denke ich, sollte
man neue Elemente ins Petitionsrecht einführen. So wie
ich das einschätze, wird diese Position, dass nicht alles
immer so bleiben muss, wie es ist, auch vom Koalitionspartner geteilt.
Insofern, Herr Kollege, würde ich sagen: Bleiben Sie
bitte sachlich und gehen Sie nicht nach den Wahlprüfsteinen, sondern nach dem Koalitionsvertrag, den Sie ja
zitiert haben!
({3})
Danach handeln wir in diesem Punkt. Wir entwickeln
dieses Instrument weiter. Insofern verstehe ich Ihre Anwürfe wirklich nicht.
({4})
Zur Erwiderung Herr Kollege Dr. Wissing.
Zu meinen Erfahrungen. Ich habe inzwischen die Erfahrung gemacht, dass in vielen Bereichen Ihren Ankündigungen keine Taten folgen.
({0})
Deswegen wollte ich Sie eben an Ihre großen Ziele erinnern, von denen nicht nur wenig, sondern gar nichts umgesetzt worden ist. Sie sagen nun, es müsse nicht immer
gleich alles gemacht werden. Ein bisschen wäre ja auch
schon etwas. In diesem Bereich - das muss ich Ihnen leider vorhalten - hat sich aber überhaupt nichts getan. Ihre
großen Versprechungen, im Bereich des Petitionsrechts
die Bürgerrechte zu stärken, sind - die Erfahrung habe
ich gemacht - eine reine Nullnummer geblieben.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuss tritt einmal im Jahr aus dem Dunkel der
parlamentarischen Arbeit ins Licht des Plenarsaals. Ich
denke, das ist etwas, was man fast mit dem Ausspruch
von Brecht „Die im Dunklen sieht man nicht“ vergleichen könnte.
({0})
- Das hätten Sie, Herr Scheuer, manchmal nötig. Aber
lassen wir das heute einmal.
({1})
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen, darunter
ganz vielen Neuen, ganz herzlich danken sowie auch unserem neuen Vorsitzenden, der Nachfolger unserer durch
einen tragischen Unfall ums Leben gekommenen Vorsitzenden wurde, für seine ruhige und gelassene Art, die
Marlene Rupprecht ({2})
Ausschusssitzungen sehr sachlich und konstruktiv zu
führen. Vielen Dank, Herr Guttmacher.
({3})
Ich denke, es tut gut, im parlamentarischen Ablauf so etwas zu erleben. Wir zwei gehören ja mit zu den alten Hasen in diesem Ausschuss und haben dabei erkannt: Für
die Petentinnen und Petenten ist die Sachorientierung
das Beste.
Ich möchte klarstellen, was der Petitionsausschuss
ist - gerade auch bei meinen Vorrednern kam das nicht
immer ganz deutlich zum Ausdruck -: Wir sind kein
Gnadenausschuss. Wir können uns nicht über bestehendes Recht hinwegsetzen. Das heißt, wir haben uns an
Recht, das gesetzt ist, zu halten.
Außerdem können wir die Gewaltenteilung, die die
bundesrepublikanische Verfassung vorgibt, nicht aufheben. Ein Urteil eines Gerichtes, über das ein Petent klagt,
können wir nicht hinwegfegen. Wir können dem Petenten nur empfehlen, den Rechtsweg zu beschreiten.
Schließlich haben wir auch nicht die Aufgabe, Regierung zu sein. Ihnen, Herr Dr. Wissing, muss ich einfach
noch einmal sagen: Gewaltenteilung beinhaltet, dass
eine Patientenbeauftragte eine Beauftragte der Regierung ist, der Petitionsausschuss aber eine Einrichtung
des Parlaments, nämlich der Legislative. Diese beiden
Dinge muss man sauber auseinander halten. Das ist ganz
wichtig. Ansonsten würde das Parlament untergemischt.
Auch als Mitglied einer Fraktion, die die Regierung
stellt, lege ich darauf großen Wert. Ich habe eigentlich
gedacht, Ihnen als Jurist wäre das klar.
({4})
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass unsere Arbeit
nicht gerne gemacht wird, wenn man sie nicht kennt.
Deshalb sind manche Fraktionen dazu übergangen, zu
rollieren. Das heißt, einige Kollegen werden ausgetauscht und andere rücken nach. Es fällt nämlich massiv
Arbeit an; diese kostet viel Zeit, aber ist in keinster
Weise öffentlichkeitswirksam. Als Politiker, egal welcher Couleur, leben wir ja nach dem Grundsatz: Tue Gutes und rede darüber! Wir können aber nicht über Einzelfälle öffentlich reden. Wir müssen entscheiden, und
zwar, wie ich denke, oft im Sinne der Petentinnen und
Petenten. Wir können allerdings die Daten des Einzelnen, dem wir geholfen haben, nicht veröffentlichen.
Deshalb ist diese Arbeit nicht sehr beliebt. Trotzdem gibt
es Abgeordnete, die schon zwei oder drei Wahlperioden
in diesem Ausschuss sind. Hierfür gibt es Gründe: Das
liegt an der Bürgernähe, an der Sacharbeit, die dort geleistet wird, und an unserem präzisen Vorgehen. Die Basis für Entscheidungen wird uns durch die Vorbereitungen hervorragender Fachleute des Ausschussdienstes
gelegt.
Ich will an ein paar Beispielen zeigen, wie weit die
Sachverhalte reichen, die bei uns im Petitionsausschuss
eingereicht werden. Ich nehme das Beispiel Irakkrieg.
14 000 Bürgerinnen und Bürger haben Eingaben zum
Irakkrieg gemacht, fast alle mit dem Tenor: Bitte keine
Kriegsbeteiligung, keine Hilfen dazu! Ich glaube, mit
der Entscheidung der Regierung, sich nicht an Kriegseinsätzen zu beteiligen, ist man dem Anliegen dieser
14 000 Petenten wirklich gerecht geworden. Mit der
Beendigung des Krieges eröffnet sich hoffentlich auch
eine Chance auf Befriedung im Nahen Osten. Die ganz
große Außenpolitik reicht also bis in unseren Ausschuss
hinein.
Es gibt ebenfalls Anliegen, die ganz alltägliche Dinge
betreffen. Zum Beispiel herrscht Unverständnis, warum
eine Behörde bestimmt, dass der Briefkasten vor einem
Altersheim abgebaut wird, sodass die Menschen bis zu
1 000 Meter weit zum nächsten Briefkasten - das ist der
Radius, in dem ein Briefkasten stehen muss - gehen
müssen, was Menschen, die in einem Altersheim leben,
oft nicht möglich ist. Eine entsprechende Petition ging
ein, weitere waren sozusagen in Arbeit und sollten eingereicht werden. Die Verhandlungen mit der Behörde
haben dazu geführt, dass die Briefkästen vor Altersheimen vom Abbau ausgenommen und dort belassen werden. Dadurch wird Bürgernähe vermittelt.
Wir haben sehr viele Beschwerden, Anliegen und Bitten zum Thema Gesundheit erhalten, auch auf dem Gebiet der Kinderheilbehandlung. Da genügt es manchmal,
das Bundesversicherungsamt oder die Behörden, die zu
entscheiden haben, darauf aufmerksam zu machen, dass
sie die Kinder nicht wie Erwachsene behandeln dürfen,
sondern sie im Sinne von Kindern behandeln müssen.
Die Kinder haben eine kleinere Lobby; das sage ich auch
als Kinderbeauftragte meiner Fraktion.
Ich glaube, an diesen Einzelfällen wird deutlich, dass
der Petitionsausschuss Bürgernähe hat und sie nicht erst
suchen muss.
Viele Anliegen, die den Petitionsausschuss zurzeit erreichen, betreffen die gesetzliche Krankenversicherung.
Aufgrund der unterschiedlichen Erwerbsbiographien,
aber auch der persönlichen Biographien, die teilweise
durch Scheidung, Trennung oder anderes gekennzeichnet sind, kann es dazu kommen, dass Menschen auf einmal keine Krankenversicherung mehr haben. Das kann
man sich eigentlich kaum vorstellen und es sind sicher
Einzelfälle. Aber wenn sich die Fraktionen des Bundestages schon um eine Reform bemühen, sollten in den
Überlegungen auch diese Fälle berücksichtigt werden.
Deshalb fordern wir das Gesundheitsministerium zunehmend auf, bei einer Reform darauf zu achten, dass die
Gruppe derer, die nicht erfasst werden und durch das betreffende Netz fallen, von vornherein sehr klein gehalten
wird.
Wenn man die Erfolge dieser Arbeit sieht, macht man
die Arbeit gern. Wenn man sie länger macht, stellt man
fest, dass sie auch für einen persönlich ein Gewinn ist.
Man lernt unheimlich viel. Ich denke, Abgeordnete, die
sich in der Parlamentsarbeit auskennen - nicht ganz neue
Abgeordnete, die sich im parlamentarischen Ablauf erst
zurechtfinden müssen -, sollten einmal für längere Zeit
in den Petitionsausschuss gehen, um zu sehen, welche
Gesetze gut gemacht sind und bei welchen vielleicht
Marlene Rupprecht ({5})
handwerkliche Fehler gemacht worden sind - das betrifft
alle Regierungen -, wo Schwachstellen sind, was man
im Vorfeld besser machen kann und wie man im Nachhinein korrigieren kann.
Diese Arbeit ist es, die den Petitionsausschuss auszeichnet. Ich vergleiche ihn mit der Beschwerdeabteilung in einem guten Unternehmen wie zum Beispiel
BMW oder Mercedes. Wenn dort eine Beschwerde
kommt, dass jemand Schwierigkeiten mit seinem Neuwagen hat, dann kann das ein Einzelfall sein. Wenn aber
mehrere Beschwerden kommen, kann man feststellen,
dass vielleicht doch etwas an der Hinterachse geändert,
der Einstieg vergrößert oder was auch immer korrigiert
werden muss. Ein gutes Management in einer Firma beachtet die Wünsche der Kunden. Der Petitionsausschuss
sorgt dafür, dass unsere Bürgerinnen und Bürger wie
Kunden behandelt werden. Diese Bürgerinnen und Bürger haben uns ja gewählt.
In diesem Sinne glaube ich, dass der Petitionsausschuss zwar eine Reform braucht, aber in seiner Grundtendenz nicht angetastet werden darf. Ich denke, dass wir
uns mit ganz viel Stolz präsentieren können. Wir arbeiten in einem Ausschuss, der öffentlich wenig beachtet
wird. Er bekommt nur einmal im Jahr Redezeit im Parlament, in diesem Jahr heute. Ansonsten sind wir jeden
Mittwoch die Ersten, die im Ausschuss sitzen, von halb
acht bis neun Uhr, und die Anliegen der Menschen behandeln, meistens über die Grenzen der Fraktionen hinweg. Ich finde das gut. Es hat sich jetzt auch etwas Ruhe
über unsere Arbeit gelegt. Nach den anfänglichen Verirrungen in politische Hinterzimmer und Diskussionszirkel sind wir jetzt größtenteils zur Sacharbeit zurückgekehrt. Ein paar brauchen noch ein bisschen Zeit, die wir
ihnen auch geben, damit sie mit uns zusammenfinden
und wir gemeinsam eine an der Sache orientierte Lösung
finden.
Ich wünsche uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit
und die Einbindung aller. Dann schaffen wir es auch, im
Sinne der Bürger zu handeln.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch Sie kennen das
sicherlich: Sie sind Mitglied im Petitionsausschuss, haben Hunderte von Petitionen gelesen und bearbeitet und
plötzlich stellen Sie sich die Frage: Petition, was heißt
das eigentlich? Woher kommt dieses Wort? Was steckt
dahinter? Welche Bedeutung hat es? Ich habe einmal
nachgeschaut: „Petition“ kommt aus dem Lateinischen,
stammt von dem Wort „petitio“ und heißt: der Angriff,
das Ersuchen. Bei dem Wort „Angriff“ habe ich etwas
gestutzt und einen Augenblick nachgedacht: Wer greift
hier eigentlich wen an? Der Petent den Staat oder umgekehrt? Der Petent den Gesetzgeber oder umgekehrt? Der
Petent den Ausschuss, seine Mitarbeiter, die Politik?
Wird überhaupt angegriffen? Fühle ich mich angegriffen? Nein, selbstverständlich nicht.
Vor allen Dingen Politiker und Politikerinnen sollten
nicht lügen. Deshalb will auch ich hier der Wahrheit die
Ehre geben. Manchmal sind Petitionen, die in den Berichterstatterkreislauf hineinkommen, in Wortwahl und
Ausdruck derart aggressiv, böse und polemisch, dass sie
sehr wohl als Angriff gewertet werden könnten. Auch
Drohanrufe und Drohschreiben haben der eine oder andere von uns schon erhalten. Aber sind nicht Aggressivität und Boshaftigkeit auch ein Ausdruck von Ohnmacht,
Hilf- und Ausweglosigkeit und Frustration über den
Staat, die Gesetze und deren Durchführung?
Selbstverständlich bearbeite ich Petitionen, die in
sachlicher und emotionsloser Form vorgebracht werden,
lieber und auch viel einfacher. Hierbei komme ich dann
zu der anderen Bedeutung dieses lateinischen Wortes.
„Petitio“ heißt Ersuchen und bezeichnet die Bitte, eine
„schriftlich formulierte Eingabe, Beschwerde oder ein
Gesuch an eine staatliche Stelle … bzw. an eine Volksvertretung“, die in der Regel hierfür einen Ausschuss
eingerichtet hat; so das „Politiklexikon“. Da dies so ist,
werden von uns alle Petitionen bearbeitet, egal in welcher Form, Ausdrucksweise oder Wortwahl sie eingereicht werden. Das ist gut so. Denn die Zulässigkeit von
Petitionen ist ein Bestandteil demokratischer Grundrechte.
Oft genug gibt es positive Ergebnisse zu vermelden.
So kann eine 85-jährige Frau mit ihrem nunmehr von der
Krankenkasse bewilligten Rollstuhl wieder am gesellschaftlichen Leben inner- und außerhalb des Altersheimes teilnehmen. Einige andere Beispiele aus dem
Gesundheitsbereich haben Sie schon gehört, auch das
Beispiel jener Schülerin, deren Vater wir, lieber Josef
Winkler, darüber informiert haben, dass jetzt alles den
richtigen Weg geht.
Aber manchmal kann man als Berichterstatter auch in
Gewissenskonflikte kommen. Damit meine ich jetzt
nicht Konflikte, bei denen es darum geht, ob ein Petent
als Fußballer in die Nationalmannschaft aufgenommen
werden soll oder nicht, wobei ich nicht weiß, ob das an
dem Ergebnis von vorgestern etwas geändert hätte.
({0})
Ich spreche von ernsthaften, tiefer gehenden Gewissenskonflikten, denen sich jeder von Ihnen schon einmal ausgesetzt gefühlt hat.
Aus meiner aktuellen Berichterstattung kann ich von
einem Petenten berichten, der sich darüber beklagt, dass
seine Krankenkasse die Kosten für eine Organtransplantation, die im Ausland auf eigene Veranlassung
durchgeführt wurde, nicht übernimmt. Zweifellos ist hier
Geld gespart worden. Dem Petenten konnte im Ausland
- im Übrigen schnell - geholfen werden. Auch unter
Kostengesichtspunkten hätte man dem Ersuchen durchaus stattgeben können.
Aber es gibt neben den Vorschriften, die für uns alle
gelten, weitere Aspekte, die beachtet werden sollten. In
Deutschland gibt es ein Transplantationsgesetz und
europaweit eine Vermittlungsstelle für Organtransplantate. Wenn ein Dialysepatient eine neue Niere transplantiert bekommen soll, muss er sich auf einer Warteliste
eintragen lassen und abwarten, bis für ihn eine entsprechende Niere gefunden wurde. Er kann nicht einfach in
ein Land gehen, in dem es diese Vorschriften nicht gibt,
und sich dort eine Niere kaufen. Denn wir alle wissen,
dass es in vielen Ländern illegalen Organhandel gibt, der
auf mafiösen Strukturen aufgebaut ist. Menschen lassen
sich gegen Bezahlung freiwillig ihre Organe entnehmen,
um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Es gibt
Hinweise darauf, dass Menschen umgebracht werden,
um ihre Körper regelrecht ausschlachten zu können.
Diese Organe landen dann auf dem Weltmarkt und werden transplantiert.
Ich will auf den Anfang meiner Rede zurückkommen.
Ich glaube, dass dem illegalen Organhandel durch Kostenübernahme von staatlicher Seite nicht Vorschub geleistet werden darf. Deshalb ist in diesem Zusammenhang der Begriff „Eingabe“ falsch. Der Begriff
„Petition“ stammt aus dem Lateinischen. Petitionen gibt
es seit über 2 000 Jahren. Seit jeher setzten Kaiser, Fürsten und Volksvertretungen solche Instrumente ein, um zu
erfahren, was das Volk von ihnen hält.
Ganz zum Schluss möchte ich noch eines sagen: Herr
Kollege Wissing hat nach dem Stellenwert gefragt.
Wenn ich mir die Besetzung der Regierungsbank anschaue, dann macht mich das ein bisschen traurig. Aber
da bis jetzt der Staatssekretär beim Bundesminister der
Verteidigung anwesend war,
({1})
könnte es sein - ich weiß es nicht genau -, dass dieses
Thema vielleicht doch etwas mit Angriff zu tun hat.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gero Storjohann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Bundesrepublik Deutschland ist das Petitionsrecht in Art. 17 des Grundgesetzes festgelegt. In der
Urdemokratie, nämlich im Vereinigten Königreich, gibt
es kein Petitionsrecht. Herr Kollege Winkler hat vorhin
Schottland als Beispiel aufgeführt. Dort handelt es sich
aber um ein Regionalparlament, das es erst seit 1999
gibt. Man kann also nicht davon sprechen, dass man dort
jahrelange Erfahrung hat.
Ich möchte mich aber nicht dagegen aussprechen,
dass zukünftig Petitionen per E-Mail eingereicht
werden können. Bis jetzt bedarf es einer besonderen
Form, nämlich der Briefform. Wenn wir also Eingaben
per E-Mail zulassen, muss das formblattgebunden geschehen, damit die Angelegenheit ernst genommen wird
und damit wir sie gut bearbeiten können. Zusätzlich
brauchen wir ein System, das diese Form der Eingabe
beherrscht. Dass Systemeinführungen auch schief gehen
können, haben Sie uns mit der Maut demonstriert.
({0})
Deswegen: Vorsicht! Das System muss gut sein, damit
es im Sinne der Petenten vorangeht.
({1})
Aus meinem Arbeitsbereich Verkehr und Wohnungswesen möchte ich gerne einige Beispiele aus dem Jahr
2003 vorstellen. Aus Berlin gibt es zu berichten, dass
sich ein Petent über die werbliche Nutzung der Fenster
an Linienbussen des öffentlichen Personennahverkehrs
beschwert hat. Es ging um das vollflächige Verkleben
der Busfenster mit Werbung. Durch Werbung, die nur
noch ein Loch übrig lässt, kann man schlecht schauen;
man fühlt sich etwas irritiert. Als Berichterstatter habe
ich diese Auffassung des Petenten durchaus nachvollziehen können und sein Begehren unterstützt. In Berlin gibt
es bei vielen Doppeldeckerbussen gute Beispiele, die
zeigen, dass man interessante Werbung von außen anbringen kann, ohne dass die Sicht aus dem Fenster beeinträchtigt wird.
Allein durch die Debatte im Ausschuss und durch
Veröffentlichungen in der Presse ist das Anliegen des
Petenten deutlich artikuliert worden, wenngleich es im
Ausschuss keine Mehrheit fand. Ich bin dankbar, dass es
dieses Instrument des Petitionsausschusses gibt; denn
der Petent findet sein Anliegen wieder.
Bei einem weiteren Fall ging es um die Veräußerung
bundeseigener Wohngebäude auf der Insel Sylt nach
Abzug der Bundeswehr. 78 Petenten hatten beanstandet,
dass der Bund beabsichtige, auf Sylt 539 Wohneinheiten
zu veräußern. Da Sylt ein hochpreisiger Tourismusstandort in einmaliger Insellage ist, gelten hier natürlich andere Marktgegebenheiten. Die Petenten befürchteten
deshalb zu Recht drastische Mieterhöhungen bei Veräußerung an Investoren. In der logischen Konsequenz hätte
dies den Fortzug von der Insel auf das Festland für viele
Mietparteien bedeutet. Gerade vor dem Hintergrund,
dass viele Mieter diese Wohnungen jahrelang als Dienstwohnungen genutzt haben, hätte es eine erhebliche Härte
bedeutet, diese gewachsene Nachbarschaft aufzugeben,
zumal der Bund eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber seinen Mietern haben sollte.
({2})
Mittlerweile hat es hier, auch mit großer Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, einen ersten
Teilerfolg gegeben. So übernimmt die Insel Sylt zunächst ein Paket von insgesamt 68 Wohnungen. Für
diese wurde ein akzeptabler Preis für beide Seiten vereinbart und auch die Mieter, somit die Petenten, sind mit
dieser Lösung einverstanden. Ich hoffe, dass bei der restlichen Abwicklung und Übernahme der Wohnungen
ebenfalls eine einvernehmliche Lösung zustande kommen kann.
Mit einer Petition aus Gremersdorf im Kreis Ostholstein im schönen Schleswig-Holstein begehren die Einwohner, die Verlängerung der Autobahn A 1 innerhalb
der Ortslage Gremersdorf auf einer Länge von
70 Metern zu überdeckeln. Dadurch wären die Folgen
der Zerschneidung ihres Ortes durch den Ausbau der
Bundesstraße B 207 zur Autobahn gemindert.
Im Vertrauen auf eine mündliche Zusage des Bundes
hatte die Gemeinde seinerzeit auf eine Klage gegen das
Ausbauvorhaben dieses Bauabschnitts verzichtet. Am
24. April 2003 hatte sich der Petitionsausschuss auf Antrag meiner Fraktion beim Ortstermin ein Bild von der
Lage in Gremersdorf gemacht. Es ist bedauerlich, dass
SPD und Grüne im Petitionsausschuss einer Kompromisslösung von 50 Meter Überdeckelung nicht zugänglich waren und die Petition abgelehnt haben.
({3})
Festzustellen ist: Wenn wir hier über eine 70 Meter
lange Wildwechselquerungshilfe über die Autobahn zu
entscheiden hätten, wäre eine rot-grüne Zustimmung
- da bin ich mir ziemlich sicher - eher zu erreichen gewesen.
({4})
Dies macht deutlich, dass manche Probleme im Petitionsausschuss zurzeit nicht gelöst werden können, sondern erst mit neuen Mehrheiten nach der Bundestagswahl 2006.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Lösekrug-Möller das Wort.
Ich möchte meine Kurzintervention auf das beziehen,
was der Kollege Storjohann bezüglich der Petition aus
Gremersdorf ausführte, und dazu ergänzend vortragen,
dass in dieser Gemeinde bereits ein großer Kompromiss
erzielt worden war, bevor man zu der Auffassung gelangte, 100 Prozent seines Wunsches auf dem Petitionsweg erreichen zu wollen.
Wir sind gerade in der aktuellen Diskussion des Bundesverkehrswegeplans gut beraten, genau darauf zu achten, eine gerechte Verteilung der ohnehin schwer zu verteilenden Mittel nach sachlichen Geboten zu betreiben.
Daran sollte sich auch ein Petitionsausschuss halten.
Jetzt geht es um die Gemeinde Gremersdorf. Hier
wurde eine Lösung weit über das übliche Maß hinaus getroffen. Das, was im Rahmen einer Petition verfolgt
wurde, weist in keiner Weise Parallelen zu dem auf, was
hier vom Kollegen Storjohann als Wildwechselquerungshilfe angeführt wurde. Ich glaube nicht, dass eine
breite Überdeckelung zu einer Verbesserung des dörflichen Klimas führen würde, weil man sich auf dieser
Brücke von beiden Ortsteilen, sozusagen Auge in Auge
und Hand in Hand, begegnen könnte. Der jetzt erzielte
Kompromiss - man muss auch berücksichtigen, was jenseits der Beschlusslage des Petitionsausschusses erreicht
wurde - muss wirklich als angemessen betrachtet werden. Insofern war der Beschluss auf Abschluss dieser
Petition sachgerecht und richtig.
({0})
Zur Erwiderung, Herr Storjohann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Lösekrug-Möller, wir hatten das Votum des schleswigholsteinischen Petitionsausschusses im Rücken, als wir
uns mit dieser Thematik beschäftigten. Es gab in Schleswig-Holstein und in der Gemeinde Gremersdorf den parteiübergreifenden Wunsch, eine Überdeckelung von
70 Metern zu bauen. Im Ergebnis sind 30 Meter herausgekommen.
Um einer räumlichen Trennung dieser Gemeinde für
die nächsten Jahrhunderte entgegenzuwirken, hielten wir
dieses Anliegen für angebracht und hätten uns die Unterstützung auch von Ihrer Fraktion gewünscht.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Kollegin Rupprecht hat
vorhin das Licht des Plenarsaals angesprochen. Ich
denke, wir genießen die ansprechende Architektur des
modernisierten Reichstagsgebäudes, weil viel Glas und
Helligkeit eine angenehme Atmosphäre schaffen. Diese
Gestaltung ist aber auch ein Symbol: Jeder Bürger und
jede Bürgerin kann auf der Kuppel oder von der Straße
ans Fenster herantreten und uns, ihren Volksvertretern,
auf die Finger schauen. Das ist ein schönes Symbol für
Transparenz und Offenheit.
Eine institutionelle Entsprechung beim Bundestag
über das Symbolische hinaus ist der Petitionsausschuss.
Mit ihm öffnet das Parlament den Menschen die Türen.
Sie können eintreten, ohne abschreckende Formalia beachten zu müssen, ihre Position, ihre Kritik und ihre Vorschläge direkt beim Deutschen Bundestag platzieren und
sie damit auf die politische Tagesordnung setzen. Eine
tolle Sache!
Als ich aber zu Beginn der Wahlperiode erzählte, ich
sei unter anderem in den Petitionsausschuss gekommen,
erntete ich meist mitleidige Blicke und Kommentare
Swen Schulz ({0})
wie: Viel Arbeit, wenig Renommee; na ja, als Jüngster
meiner Landessgruppe hätte ich wohl in den Ausschuss
müssen, und Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Umso
größer war meine Freude darüber, dass ich es nicht nur
mit versprengten, in den Petitionsausschuss gezwungenen Neulingen zu tun hatte, sondern dass engagierte,
zum Teil gestandene Abgeordnete anspruchsvolle Arbeit
gestalten.
Nach anderthalb Jahren kann ich bestätigen: Die Tätigkeit ist tatsächlich lehrreich. Sie ist voller Abwechslungen und von Bedeutung. Ich musste aber auch feststellen, dass der Petitionsausschuss häufig immer noch
unterschätzt wird. Wir müssen darum in unserem Bemühen fortfahren, die Bedeutung des Ausschusses zu erklären und sein Ansehen zu heben: bei den Bürgern, den
Medien und den Kolleginnen und Kollegen. Es wäre
darüber hinaus auch schön, wenn uns die Bundesregierung noch mehr wertschätzen würde als sowieso schon.
Allerdings ist das auch nicht so wichtig, solange sie tut,
was wir wollen.
({1})
Wir müssen verdeutlichen, welche Funktion, welchen
besonderen Charakter der Petitionsausschuss hat. In ihm
werden Anliegen aus allen Politikbereichen erörtert und
häufiger, als angenommen wird, können wir den Menschen helfen. Vielfach führen Petitionen zu politischen
Debatten, Initiativen und Änderungen der Rechtslage.
Mit der großartigen Unterstützung seines Dienstes greift
der Petitionsausschuss Anregungen der Bürger auf und
speist sie mit Anmerkungen versehen in Bundesregierung und Bundestag ein.
Wir machen das, so denke ich, ohne Scheu vor Selbstkorrektur; denn wir wissen, dass Politik und Verwaltung
Fehler machen, aber auch nicht alle aus einem Gesetz resultierenden praktischen Probleme vorhersehen können.
Manchmal ergeben sich erst nach Jahren so vertrackte
individuelle Konstellationen, in denen eine lang erprobte
Rechtslage nun zu inakzeptablen Ergebnissen führt.
Manchmal werden Probleme ganz neu von Bürgern
angepackt und uns erreichen Vorschläge, die wir aufgreifen. Natürlich gibt es auch Petitionen, in denen aktuelle
öffentliche Debatten kommentiert, bekannte Forderungen unterstützt werden. Es gibt also viele verschiedene
Motive für Menschen, uns zu schreiben.
Auffallend ist über die Jahre die Häufigkeit von Petitionen aus den neuen Bundesländern. Die Bürger dort
wenden sich an den Ausschuss in den gewissermaßen
üblichen Bereichen und zusätzlich in den Fragen, die
sich aus der Einheit und ihren Folgen ergeben. Auch daran sehen wir, dass das Zusammenwachsen Zeit benötigt
und manchmal immer noch Handlungsbedarf besteht.
Nun werden im Petitionsausschuss selbstverständlich
auch parteipolitische Unterschiede deutlich. Wenn ein
Petent eine kontroverse Forderung formuliert, entsteht
darüber natürlich eine Debatte. Das gehört sich auch so.
Es gibt aber auch - vielleicht mehr als in anderen Ausschüssen des Bundestages - Gespräche jenseits der Parteilinien, weil es häufig eben nicht um ideologische Fragen geht, sondern um die tatsächlichen Erfahrungen der
Menschen. Die Tätigkeit im Petitionsausschuss trägt
deswegen auch ganz sicher zur Erdung der politischen
Arbeit bei.
({2})
In diesem Sinne sind wir „Bundestag at its best“. Wir
diskutieren miteinander: einmal streitig, einmal auf der
Suche nach gemeinsamen Lösungen, aber immer entlang
der Eingaben der Bürgerinnen und Bürger. Da fallen die
Situationen, in denen ich mich über die Union ärgere,
weil sie wieder einmal parteipolitisches Kapital aus einer
Petition schlagen will, gar nicht so sehr ins Gewicht.
({3})
- Na ja, es mag ja sein, dass es zu früheren Zeiten in anderen Konstellationen auch einmal so war, auch wenn
ich mir das gar nicht vorstellen kann.
Der Jahresbericht 2003 des Petitionsausschusses hat
im Gegensatz zu dem des Jahres 2002 in den Medien
starke Beachtung gefunden. Das liegt wohl daran, dass
es 2002 einen Rückgang der Petitionen gab und 2003
wieder einen Zuwachs. Während der Rückgang im
Jahre 2002 nicht weiter erklärt wurde, wurde der Zuwachs im Jahre 2003 als Zeichen für die Unzufriedenheit der Bürger gewertet und auf die Politik der Regierungskoalition zurückgeführt.
({4})
Herr Baumann hat das hier eben so vorgetragen. Man
muss berücksichtigen, dass viele Petitionen nichts mit
aktuellen Entscheidungen der Regierungskoalition zu
tun haben, in anderen wird die Regierung kritisiert, in
manchen wird sie aber auch unterstützt.
Mit 15 534 Petitionen haben wir den zweitniedrigsten
Wert seit der Wiedervereinigung. Was sagt uns das, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, über die
Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit den jeweiligen Regierungen? Wir sollten solche Rechenspiele
unterlassen; denn sie lassen das Petitionswesen im falschen Licht erscheinen.
({5})
Wir sollten das Petitionswesen stärken, indem wir in
der Öffentlichkeit dafür werben und den Menschen deutlich machen, dass es sinnvoll ist, sich an uns zu wenden.
Einige Initiativen der Öffentlichkeitsarbeit sind schon
erfolgreich ergriffen worden, etwa Bürgersprechstunden
bei Messen. Wir können uns darüber hinaus einiges vorstellen, was den direkten Kontakt mit Bürgerinnen und
Bürgern verbessert, beispielsweise die Einrichtung von
Telefonhotlines. Das würde unsere Unterstützung finden. Wir dürfen nicht nur in Berlin sitzen und darauf
warten, dass die Leute von sich aus auf die Idee kommen, uns zu schreiben. Wir müssen zu den Leuten gehen
und sie ansprechen.
Swen Schulz ({6})
Diese Initiativen sollten von einer Modernisierung
des Petitionsrechts begleitet werden. Kollegin LösekrugMöller hat dazu Ausführungen gemacht. Das Petitionsrecht kann direkt demokratische Entscheidungsverfahren
nicht ersetzen oder umgekehrt. Der Charakter von Petitionen und Volksentscheiden ist unterschiedlich. Solange sich die CDU/CSU aber gegen mehr Rechte für die
Bürger sträubt und damit nur kokettiert, wenn es parteipolitisch in den Kram passt,
({7})
etwa im Zusammenhang mit der Europäischen Union, ist
ein modernisiertes Petitionsrecht die bedeutendste Möglichkeit für die Bürger, zwischen den Wahlen auf die Politik einzuwirken. Ich denke, dass ist einer von vielen guten Gründen, den Ausschuss zu stärken, und für mich,
daran mitzuwirken.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Andreas Scheuer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schulz, im Großen und Ganzen war Ihre
Rede okay, sodass wir mitgehen konnten. Gegen den bösen Unterton und die Unterstellungen verwehren wir uns
allerdings aufs Schärfste. Die Unionsfraktion leistet einen großen Beitrag. Betrachten Sie die Ausschussrealität: Wie oft wollen wir den Bürgern noch einen Schritt
weiter entgegenkommen, während Sie, weil Sie in der
Regierung sind und auf Ihre Genossen hören müssen, im
Ausschuss auf die Bremse drücken? Die Mehrheitsverhältnisse im Ausschuss sind nun einmal eindeutig.
({0})
Lassen wir die Ausschussrealität für sich sprechen und
veranstalten wir hier keine Schaufensterreden.
({1})
Die Tätigkeit im Petitionsausschuss will ich mit drei
Begriffen beschreiben: arbeitsintensiv, lehrreich und
hoch spannend. Als Abgeordneter im Deutschen Bundestag beschäftigt man sich neben den Bürgeranliegen
aus der Heimat sachpolitisch zumeist mit sehr vielen abstrakten Politikfeldern, Gesetzen und Regelungen, leider
auch mit sehr viel Papier. Wir diskutieren in den Fachausschüssen grundsätzliche Positionen und fällen Entscheidungen. Durch die Einzelanliegen und Schicksale
im Petitionsausschuss bekommen diese abstrakten
Grundentscheidungen einen Namen, sie werden greifbar; denn sie stammen mitten aus dem Leben und die
Schicksalsbeschreibungen sind sehr persönlich. Meine
Kollegen Pfeiffer und Baumann haben schon darauf hingewiesen. Herr Baumann hat das Schicksal eines Bürgers aus den neuen Bundesländern angeführt. Frau
Kollegin Pfeiffer hat ebenfalls ein Einzelschicksal exemplarisch angeführt.
Ich denke, ich spreche für alle Kolleginnen und Kollegen, wenn ich sage, dass die Hoffnungen, aber auch
gerade die Sorgen nicht nur inhaltlich, sondern, je nach
Einzelfall, auch emotional sehr bewegend sind. Man erhält eine Petitionsmappe, meist stoßweise, ins Büro geliefert und muss als Berichterstatter ein Votum abgeben.
Man liest die Petition und gibt seine Stellungnahme ab.
Oft muss man vorher aufgrund der Dramatik eines Falles
schlucken, man muss die Petition erst einmal weglegen,
darüber nachdenken, die Petition und das Einzelschicksal erst einmal verdauen. Man muss überlegen, wie man
helfen kann. Man bespricht sich mit den Mitarbeitern,
den Fachexperten und kommt dann nach genaueren Abwägungen zum Ergebnis. Ich beschreibe das so ausführlich, um zum Ausdruck zu bringen, dass wir uns das alle
- über Fraktionsgrenzen hinweg - nicht leicht machen
und dass wir uns mit den Einzelfällen beschäftigen. Das
soll an dieser Stelle auch einmal gesagt werden.
({2})
Das Leben ist eben der beste Lehrmeister für die Politik, indem es die Auswirkungen unser aller Politik, Herr
Kollege Schulz, im positiven, aber auch im negativen
Sinne aufzeigt. Aus der Besprechung eines Einzelfalles
wird im Ausschuss häufig eine hitzige Grundsatzdiskussion, bei der jede Fraktion ihre Grundposition klar
macht. Viele von uns nehmen diese Beispiele in die
Fachausschüsse mit, um dort auf die Problemlagen und
Fehlentwicklungen hinzuweisen. Die oberste Maxime
für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dabei: Wie
können wir helfen? Ich möchte die Tätigkeit noch mit einem Leitbild verbinden: Politik als Dienstleister für die
Menschen. Vorhin ist der Begriff „Kunde“ gefallen; das
gefällt mir weniger. Ich sage: Wir müssen Dienstleister
für die Menschen sein.
Sehr geehrte Damen und Herren, bei der Durchsicht
des Jahresberichtes 2003 sind mir eine Reihe von Petitionen aufgefallen, die Anlass gegeben hätten, hier rückblickend erwähnt zu werden; die Vorredner haben es
zum Teil schon gemacht. Ich möchte mich auf meinen
Fachbereich - dem Bereich des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend - konzentrieren: Ich habe
mein Augenmerk im Petitionsausschuss auf die Kinder
und Jugendlichen gelegt, auf die Familien. Die Stabilität
wie auch die Zukunft unserer Gesellschaft sind durch ihr
Wohl gesichert. Gründe, die Familien dazu zu bewegen,
eine Petition einzureichen, gibt es viele. Ich möchte hier,
Frau Kollegin Rupprecht, nicht auf die verfehlten gesellschaftspolitischen und familienpolitischen Schwerpunkte der rot-grünen Bundesregierung eingehen; das
machen wir bei der anderen Veranstaltung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Im Jahr 2003 haben verschiedene Petitionen das Wohl
unserer Kinder in den Mittelpunkt gerückt: die Petition
zur Behandlungspflege während des Schulbesuchs, die
Einstufung pflegebedürftiger Kinder in der Pflegeversicherung oder auch die Bewilligung der Kinderheilbehandlung. Vielfach liegt der Grund für eine Petition in
einem für den Bürger oft nicht mehr zu durchdringenden
oder gar beherrschbaren Regelwerk. Eine Bürokratie, die
mit den besten Absichten geschaffen wurde, hat Ausartungen entwickelt. Der Souverän, der Bürger, versteht
diese Ausartungen nicht mehr. Oft werden dann Verzweiflung und - das sei hier auch einmal gesagt - Wut
zum Anlass, eine Petition zu schreiben.
Neben Bitten erreicht uns auch eine Vielzahl von
wertvollen Vorschlägen. So enthielt eine Petition zu den
Heimkosten ganz konkrete Forderungen und Vorschläge.
Ich möchte mich zum Schluss bei allen Bürgerinnen
und Bürgern für ihre offene Art und für ihre klare Sprache bedanken. Das soll auch für uns für die nächste Zeit
Auftrag sein: eine Sprache zu finden - gerade auch,
wenn sich der Petitionsausschuss nach außen wendet -,
die die Menschen verstehen, und die komplizierten Einzelschicksale klar und deutlich darzustellen. Lassen Sie
uns so weiterarbeiten!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Vera Dominke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
lange Rednerliste, die jetzt mit mir zu Ende geht, dokumentiert die unendliche Vielfalt der Themen, mit denen
sich der Petitionsausschuss befasst: Es gibt wohl kein
Arbeitsgebiet in diesem Hohen Haus, auf dem eine Abgeordnete es mit so vielen unterschiedlichen Lebensfeldern zu tun bekommt, auf denen einzelne Menschen unseres Landes individuellen oder auch allgemeinen
Handlungsbedarf formulieren.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit ganz kurz auf die
Statistik lenken: Von den natürlichen Personen, die im
Jahre 2003 eine Petition einreichten, sind nur knapp ein
Drittel Frauen, mehr als zwei Drittel sind Männer. Das
liegt nun sicherlich nicht daran, dass es für die Frauen in
unserem Lande so viel weniger Probleme gibt als für die
Männer - wahrscheinlich sind die Frauen nur zu mehr
Duldsamkeit erzogen; „sozialisiert“ nennt man das ja
heute.
Relativ wenige Petitionen betrafen den Bildungs- und
Ausbildungsbereich. Häufig ging es dabei um Probleme
im Bereich der Bundesausbildungsförderung. Wenn
hier der Petitionsausschuss nur in relativ wenigen Fällen
Abhilfe schaffen konnte, so lag das häufig daran, dass
das Anliegen der Petentinnen und Petenten mit der Intention des Bundesausbildungsförderungsgesetzes nicht
unbedingt übereinstimmte, das auf die Herstellung und
Sicherung sozialer Chancengleichheit und nicht auf die
Beseitigung genereller Ungerechtigkeiten gerichtet ist.
Da mir nur wenig Zeit verbleibt, möchte ich jetzt an
einem konkreten Beispiel verdeutlichen, welche Möglichkeiten dieser Ausschuss hat, politisch Änderungen
anzuschieben, wenn er diese Möglichkeiten denn auch
nutzt.
Die erste Petition, die ich als frisch gebackenes Mitglied des Petitionsausschusses auf den Tisch bekam,
richtete sich auf das Anliegen, Fachhochschulingenieuren den gleichberechtigten Zugang zum Referendariat
für den höheren öffentlichen Dienst zu ermöglichen wie
Universitätsingenieuren. Diese Petition wurde von allen
deutschen Fachhochschulen ebenso unterstützt wie etwa
von der Hochschulrektorenkonferenz, in der auch Universitätsleitungen sitzen.
Aus eigener interner Kenntnis weiß ich um die Qualität und das hohe auch wissenschaftliche Niveau einer Ingenieurausbildung an den Fachhochschulen. Deshalb
schien mir dieses Anliegen gerechtfertigt und seine Umsetzung längst überfällig zu sein. Ich glaubte also, es sei
ein Selbstgänger, nachdem ich die Mitglieder meiner Arbeitsgruppe im Petitionsausschuss von meinem Votum,
nämlich Überweisung zur Berücksichtigung - das
höchste Votum -, überzeugt hatte. Dabei hatte ich das
Zitat von Hans-Jochen Vogel im Auge, man müsse von
Politikern erwarten können, dass Wort und Tat übereinstimmen; denn schließlich lesen sich die Stellungnahmen von Politikern der Mehrheitsfraktionen zu diesem
Thema in den einschlägigen Fachmedien so: Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion sieht in seiner Faktion „Anzeichen dafür, dass Veränderungen zugunsten der Fachhochschulen möglich sind.“ Ein
anderes Zitat: „Bündnis 90/Die Grünen sind die einzige
Partei, in der Konsens besteht: Die Gleichwertigkeit der
Fachhochschulen mit den Universitäten muss endlich in
den Gesetzen realisiert werden.“
Hier hätte es in der Hand des Petitionsausschusses gelegen, den bestehenden Anachronismus zu beseitigen
und einen fraktionsübergreifenden Anstoß zum Abschneiden alter Zöpfe zu geben. Die Mitglieder der
Koalitionsfraktionen verweigerten sich aber der Weiterleitung der Petition und beerdigten diese sang- und klaglos.
({0})
So enttäuschend dieses Abstimmerlebnis auch war,
stelle ich zum Abschluss, weil ich jetzt die letzte Rednerin bin, aber doch versöhnlich fest, dass so etwas nicht
der Regelfall im Petitionsausschuss ist. Als Regelfall erlebe ich vielmehr die sachorientierte und am Wohl des
Einzelfalls ausgerichtete Debatte und Entscheidungsfindung. Möge das so bleiben.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 sowie
Zusatzpunkt 9 auf:
6 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dietrich Austermann, Steffen Kampeter,
Bernhard Kaster, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung
- Drucksachen 15/1960, 15/2912 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Steffen Kampeter, Bernhard Kaster,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ausweitung der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung in Zeiten knapper Kassen
- Drucksache 15/3311 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe gestern vernommen, dass Herr Regierungssprecher Dr. Steg sich darüber beschwert hat, dass die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung von uns immer und immer wieder kritisiert würde.
({0})
Ich kann hier einen Vorschlag machen: Das lässt sich
sehr schnell abstellen: Führen Sie die Öffentlichkeitsarbeit wieder auf das normale Maß zurück. Reagieren Sie
nicht nur auf die Kritik der Opposition, sondern auch auf
die des Bundesrechnungshofes! Halten Sie sich an Vergabe- und Haushaltsrecht! Dann wird unsere Kritik verstummen.
({1})
Es ist so, dass Öffentlichkeitsarbeit von jeder Bundesregierung betrieben wird. Öffentlichkeitsarbeit ergibt
sich schon aus dem Grundgesetz, abgeleitet aus Art. 5
bzw. 20: Eine jede Bundesregierung ist dazu verpflichtet, die Bürger zu informieren und vor allen Dingen
aufzuklären. Unsere Verfassung und auch das Bundesverfassungsgericht gehen aber davon aus, dass Öffentlichkeitsarbeit die politische Regierungsarbeit begleiten
soll und nicht umgekehrt.
Was brachte unsere Große Anfrage ans Licht, deren
Beratung heute auf der Tagesordnung steht? Was wollen
wir mit unserem Antrag? Hat es nicht zu allen Zeiten
Kritik an der Darstellung der Regierung gegeben, und
zwar bei jeder Bundesregierung? Sind wir vielleicht
kleinlich? Regen wir uns über missratene Plakate auf,
also Peanuts? Nein, in einer Zeit der Rekordverschuldung verprassen Sie Steuergelder für die teuerste PR-Offensive in der Geschichte der Bundesrepublik.
({2})
Das ist so. Auf die Zahlen werde ich noch zu sprechen
kommen.
Das heutige Ausmaß der Öffentlichkeitsarbeit ist laut
Bundesrechnungshof mit dem der Vorgängerregierungen
überhaupt nicht mehr vergleichbar. Die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb von Regierung und Opposition soll durch den gigantischen Einsatz von Steuergeldern verhindert werden. Vor allem aber - ich komme
zum Kern - haben Sie gerade in den letzten zwölf Monaten die mediale Inszenierung zum Mittelpunkt der
eigentlichen Politik gemacht.
({3})
Vor lauter Panik, Konzept- und Hilflosigkeit jagt eine
millionenteure Kampagne die andere.
({4})
Sie tragen meistens Namen, die die unerfüllten Sehnsüchte der Koalition auf den Punkt bringen: „Erfolg
braucht alle“,
({5})
„Teamarbeit für Deutschland“, „Zeit für mehr“,
„Deutschland bewegt sich“. Die Zeit ist zu schade, um
all das aufzuzählen, was sich teure Werbestrategen für
diese Bundesregierung an Ankündigungen ausdenken.
Insgesamt gab es mehr als ein Dutzend Werbekampagnen allein in den letzten zwölf Monaten. Fragen Sie
einmal Unternehmer in der Privatwirtschaft. Sie alle haben schon Probleme, Plakatwände zu mieten. Überall hat
die Bundesregierung breitflächig plakatiert. Ich frage:
Was ist das für ein Politikverständnis? Ich will ein Beispiel von vielen nennen. Auf unsere Anfrage hin musste
die Bundesregierung einräumen, dass die Regierungspropaganda alleine für die so genannte Agenda 2010
fast 17 Millionen Euro durch Anzeigen oder so genannte
Mega-Light-Plakate verpulvert hat.
({6})
17 Millionen Euro in noch nicht einmal zehn Monaten
verpulvert, und zwar lange bevor überhaupt ein einziges
Gesetz dieser Agenda 2010 beschlossen war. Sie haben
17 Millionen Euro für eine Regierungserklärung ausgegeben, mit der dem Bürger erklärt wurde, dass er sparen
soll.
Es geht uns nicht darum, darüber zu streiten, ob die
Kosten für Öffentlichkeitsarbeit um 5, 10 oder 15 Prozent gestiegen sind, obwohl dies angesichts der aktuellen
Haushaltssituation vollkommen überzogen wäre. Nein,
der Skandal besteht darin, dass Sie mit Täuschen, Tricksen und Tarnen den Aufwand für Imagewerbung entgegen allen offiziellen Ankündigungen fast verdreifacht
haben. Das ist das wahre Ausmaß Ihrer Öffentlichkeitsarbeit und deswegen mit früheren Zeiten nicht mehr vergleichbar.
({7})
Unsere Große Anfrage, zahlreiche Kleine Anfragen,
vor allem aber mehrere Rechnungshofberichte haben es
ans Licht gebracht: Sie haben sich längst nicht mehr darauf beschränkt, die offiziell im Haushalt ausgewiesenen
Mittel für Öffentlichkeitsarbeit in Anspruch zu nehmen.
Nein, Sie missbrauchen in großem Stil Haushaltsmittel,
die beispielsweise für Fachpublikationen veranschlagt
sind, für ganz platte Imagewerbung. Eigentlich hatte der
Bundestag diese Gelder für fachliche Broschüren zur
Verfügung gestellt. An der Spitze solcher missbräuchlichen Inanspruchnahme steht das Haus von Umweltminister Trittin.
({8})
Ich zeige Ihnen einmal eine Fachpublikation des Hauses.
Sie sieht folgendermaßen aus: Was macht Jürgen Trittin
heute? Abschalten.
({9})
Das ist eine fachliche Information aus dem Umweltministerium.
({10})
Wir sprechen hier nicht von Peanuts. Im Haushalt stehen
für diese Fachinformationen fast 80 Millionen Euro zur
Verfügung, und zwar zusätzlich zu den offiziellen Mitteln für Öffentlichkeitsarbeit in Höhe von weit über
80 Millionen Euro. Jürgen Trittin hat es mit dieser Täuschung geschafft, sich im Umweltministerium quasi ein
kleines Nebenbundespresseamt zu schaffen. Obwohl er
offiziell nur 293 000 Euro und damit einen der kleinsten
Werbe- und PR-Etats überhaupt hat, gibt sein Haus in
Wahrheit mehrere Millionen Euro für Imagepflege aus.
Bezahlt werden alle diese Plakate und Anzeigen aus allen möglichen Haushaltstiteln, nur nicht aus dem Haushaltstitel für Öffentlichkeitsarbeit. Das muss hier einmal
gesagt werden.
({11})
Gerade die Zuschussprogramme sind die neuen Lieblingskühe für die rot-grüne PR-Arbeit. Fördermittel für
erneuerbare Energien, Wohnungsmodernisierung oder
Zuschüsse für den Ökolandbau werden dreist für Imagepflege abgezweigt. Alles wird entgegen dem Haushaltsrecht, entgegen den Vorgaben des Bundesrechnungshofs
im Kleingedruckten des Haushaltes verschleiert.
({12})
Das kann nicht sein. Die Spezialisten dafür sind Herr
Minister Stolpe und Herr Minister Trittin oder auch Frau
Ministerin Bulmahn.
Wenn man zu den offiziellen PR-Mitteln, den Mitteln
für Fachinformationen und den Werbeetats der Zuschussprogramme auch noch die PR-Millionen der nachgelagerten Bereiche wie etwa der Bundesagentur für Arbeit
addiert, dann kommt man auf eine Summe von fast einer
Viertelmilliarde Euro, die die Bundesregierung für Öffentlichkeitsarbeit ausgibt. Fast 250 Millionen Euro! Da
brechen in Sachen Öffentlichkeitsarbeit wirklich alle
Dämme.
Dabei kommen diese Gelder, zumindest in großen
Teilen, einem Netzwerk parteinaher, sogar parteieigener
Dienste und Agenturen zugute. Wer sich im Wahlkampf
von Rot-Grün engagiert, wird in Regierungszeiten mit
millionenschweren Werbeaufträgen aus Steuergeldern
überhäuft.
({13})
Das ist nachweisbar.
({14})
Die SPD-Fraktion ist sich nicht zu schade, ihre Regierungsbeteiligung finanziell zu nutzen. Zeitgleich zur
Kampagne der Bundesregierung hat die SPD beispielsweise eine Anzeigenkampagne zum Thema Ganztagsschule entwickelt, eine ganz kleine Kampagne allerdings, die vielleicht 100 000 Euro gekostet hat. Aber die
große Kampagne ist aus Steuermitteln finanziert worden.
Das sind Einspareffekte, die genutzt werden.
({15})
Das Ganze gipfelt darin, dass Regierungssprecher Béla
Anda
({16})
- Wo ist er heute? Vielleicht kann ich einen Hinweis geben - von Teilen seiner Auftragnehmer Preise und Auszeichnungen erhält und sie natürlich stolz entgegenBernhard Kaster
nimmt. So weit sind wir gekommen. Dank abstatten
beim Regierungssprecher können inzwischen viele. Es
winken noch viele Preise. Vielleicht steht gerade wieder
eine Preisverleihung an.
Kernaufgaben der Öffentlichkeitsarbeit - so der Bundesrechnungshof - werden neuerdings von Werbeagenturen wahrgenommen. Zahlreiche üppige Rahmenverträge werden abgeschlossen, zum Teil sogar über die
Dauer der Legislaturperiode hinaus. Welche Heuchelei,
wenn dann auf der Homepage des Bundespresseamtes
auf die umfassende sachliche Informationsvermittlung
auf der Grundlage der Verfassung verwiesen wird.
({17})
Wie die Wirklichkeit aussieht, habe ich beschrieben.
Wir appellieren an die Bundesregierung und die Koalition: Hören Sie endlich auf, solche Unsummen für
platte Werbung zu verprassen! Fangen Sie hier mit dem
Sparen an!
({18})
Das Geld ist hinausgeworfen. Der Bürger hat sehr wohl
ein Gespür für Information und dafür, was platte Imagepflege ist. Die Ergebnisse der Wahlen in der letzten Zeit
zeigen, dass dieses Gespür vorhanden ist.
({19})
Fangen Sie hier mit dem Sparen an! Kündigen Sie die
teuren Rahmenverträge mit Werbeagenturen! Kehren Sie
zur sachlichen Information zurück! Halten Sie endlich
die rechtlichen Rahmenbedingungen ein! Beenden Sie
das Tarnen und Täuschen! Es muss auch im Haushalt
wieder gelten: Wo Werbung drin ist, muss auch „Werbung“ draufstehen.
({20})
Der Inhalt muss wieder wichtiger werden als die Verpackung. Rudi Völler hätte es auch nichts genützt, wenn
er bei dem Spiel gegen Holland nur - vielleicht einem
Rat von Ihnen folgend - rund ums Stadion Plakate mit
der Aufschrift „Tor“ aufgestellt hätte.
({21})
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Gerhard Rübenkönig von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte über die Große Anfrage der Union zur
Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung
({0})
gibt mir die Gelegenheit, hier in aller Deutlichkeit die
Unterstellungen und Halbwahrheiten,
({1})
die von einigen Damen und Herren der Opposition und
insbesondere von Ihnen, Herr Kaster, heute vorgetragen
wurden, entschieden zurückzuweisen.
({2})
Wer wollte bestreiten, dass es zu den vornehmsten
Rechten des Parlaments gehört, die Bundesregierung zu
kontrollieren? Dazu gehört auch die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, über die wir heute diskutieren.
Dennoch gelingt es Ihnen, werter Kollege Kaster, durch
unermüdliche Fragen und Pressemitteilungen dieser Informationsarbeit zusätzlich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das ist in Zeiten knapper Gelder - auch für die
Öffentlichkeitsarbeit - eine dauerhafte Unterstützung.
Herzlichen Dank dafür!
({3})
Leider setzen Sie sich aber nicht ernsthaft und sachgerecht mit den Maßnahmen und Vorhaben des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung auseinander, wie es Aufgabe und Pflicht der parlamentarischen
Kontrolle wäre. Vielmehr kreisen die zahlreichen mündlichen und schriftlichen Fragen, Kleinen und Großen
Anfragen immer wieder um dieselben verschwörungstheoretischen Ansätze.
Der Antrag, den Sie diesbezüglich diese Woche vorgelegt haben, reiht sich nahtlos in Ihre unhaltbaren Spekulationen ein. Darin wird entweder der Verdacht der
Vetternwirtschaft in die Welt gesetzt oder es wird der
Vorwurf der unzulässigen Wahlwerbung auf Kosten des
Steuerzahlers erhoben. Den jeweils für die Bundesregierung arbeitenden Agenturen, die als Schaltagenturen die
Gestaltung und Produktion von Anzeigenschaltungen
oder Kinospots realisieren, wird dabei unterstellt, dass
sich deren Kassen mit zig Millionen Euro füllen.
In diesem Zusammenhang sei auf die Reihe der Kleinen Anfragen der CDU/CSU-Fraktion aus dem
Sommer 2002 verwiesen. Noch bevor die fünf Kleinen
Anfragen in Serie die Bundesregierung erreichten, kursierten die über 150 Einzelfragen bereits in den Medien.
Ein solches Verfahren ist meiner Meinung nach nicht in
Ordnung.
({4})
Herr Kollege Rübenkönig, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke.
Keine Zwischenfrage.
Im Juni 2003 wurde gar von Ihnen, Herr Kollege
Kaster, eine Strafanzeige gegen das Bundespresseamt
wegen Veruntreuung von Haushaltsmitteln erstattet. Die
Anzeige erlangte eine breite Aufmerksamkeit in den
Boulevardblättern. Die anschließend erfolgte Ohrfeige
der Staatsanwaltschaft in Richtung des Kollegen Kaster
- nämlich die Einstellungsverfügung ({0})
wurde hingegen von den Kollegen der Opposition publizistisch vernachlässigt. Das ist besonders deshalb zu bedauern, weil in der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft deutlich wurde, dass Tatsachen für eine
strafrechtliche Verfolgung in keiner Weise vorlagen.
Im Gegenteil: Die Staatsanwaltschaft hatte bei der
Prüfung des Sachverhalts festgestellt, dass es in der Regierung Kohl Hinweise auf eindeutig überhöhte Zahlungen gegeben habe. Die Vorgänge aus der Spätphase der
CDU/CSU-Regierung könnten leider nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden; denn sie seien im Zweifel verjährt.
({1})
Auf dieser Grundlage wundert es mich nicht, dass das
Interesse der Kollegen von CDU und CSU angesichts
dieses Ergebnisses jäh erlahmte.
({2})
Insoweit könnte wohl unser Kollege Koppelin - er ist
leider nicht anwesend - Recht gehabt haben, als er bereits im Dezember 2002 - man höre! - gegenüber der
„taz“ zum Bericht des Bundesrechnungshofes sagte, die
Affäre sei künstlich hochgezogen. Er fügte hinzu - ich
zitiere weiter aus der „taz“ vom 28. Dezember 2002 -:
Da haben andere Regierungen, auch solche, an denen wir selbst beteiligt waren, schon Schlimmeres
angestellt.
({3})
Lieber Herr Kollege Kaster, lassen Sie mich in Anbetracht der Fußballeuropameisterschaft - Sie haben bereits darauf hingewiesen - Folgendes formulieren: Sie
haben mit Ihrer Strafanzeige ein ordentliches Eigentor
geschossen. Das hat die Mannschaft von Völler - Gott
sei Dank - nicht getan. Nicht die rot-grün geführte Bundesregierung ist hier zu kritisieren, sondern die Verantwortlichen aus den Regierungsjahren der CDU/CSU.
({4})
Nehmen Sie dies doch endlich einmal zur Kenntnis!
Die Große Anfrage der CDU/CSU gibt auch Gelegenheit, deutlich zu machen, dass die eingesetzten
Haushaltsmittel für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung im Vergleich zu den Ausgaben der Vorgängerregierung bis 2003 deutlich rückläufig waren. Wir haben darüber mehrfach auch im Haushaltsausschuss
diskutiert. Mit Ihnen bin ich ebenfalls der Meinung, dass
wir alles dafür tun sollten, dass das Geld des Steuerzahlers ziel- und zweckgerichtet eingesetzt wird, dass also
Ziele und Maßnahmen der Regierung so gut, wie es eben
geht, kommuniziert werden. Es entspricht dabei nicht
den Tatsachen, von einer „drastischen Erhöhung der
Mittel für Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung“ zu
sprechen, so wie es in den Vorbemerkungen der Fragesteller unterstellt wird. Hören Sie doch endlich mit solchen Spekulationen auf! Sie sind schlichtweg falsch und
werden auch dadurch nicht wahrer, dass sie von Ihnen
ständig wiederholt werden.
({5})
1998, also im letzten Jahr der Vorgängerregierung, beliefen sich die Ausgaben der Bundesregierung für Öffentlichkeitsarbeit insgesamt auf 80 Millionen Euro bei einem Gesamtetat des Bundes von 233,6 Milliarden Euro.
Seither lagen die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit Jahr
für Jahr darunter, und zwar auch in den Bundestagswahljahren, was im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit völlig
anders ist.
Die wenigen Mittel sind kommunikativ so zu bündeln, dass eine größtmögliche Aufmerksamkeit erzielt
wird. Jeder, der sich professionell mit Kommunikation
beschäftigt, weiß, dass es deshalb hilfreich ist, mit Leitagenturen zusammenzuarbeiten. Das macht diese Bundesregierung nicht anders als die Vorgängerregierung.
Der entscheidende Unterschied ist aber, dass das BPA
die Leistungen ausgeschrieben und die Leitagenturen im
Wettbewerb ermittelt hat. Dass sowohl bei der jetzigen
als auch bei der alten Bundesregierung dabei Agenturen
zum Zuge kommen bzw. kamen, die Erfahrung in politischer Kommunikation gesammelt haben, wird niemanden erstaunen.
({6})
Die federführend vom BPA betreute Kommunikation
zur Agenda 2010 ist für mich der Beweis dafür, dass
auch mit geringen Mitteln eine große Öffentlichkeitswirksamkeit erzielt werden kann. Diese Auffassung
scheint auch die Fachwelt zu teilen, was - Sie haben es
vorhin angesprochen - durch die Auszeichnung sowohl
des Bundespresseamtes mit dem Politik-Award im letzten Jahr als auch des Pressesprechers der Bundesregierung mit dem Gold Award in diesem Jahr deutlich wird.
Die Verleihung des Gold Award an den Staatssekretär
Béla Anda war dem Kollegen Austermann sogar eine
Frage im Bundestag wert. Auch wenn es Herrn
Austermann - leider ist er nicht anwesend - nicht gefällt:
Die Marke „Agenda 2010“ - Herr Kaster, hören Sie gut
zu! - ist stark und mittlerweile 89 Prozent der Menschen
bekannt.
An diesem nur ganz kurz dargestellten Beispiel wird
Folgendes deutlich:
Erstens. Das Bundespresseamt setzt die knappen
Haushaltsmittel zielgerichtet und wirkungsvoll ein.
Zweitens. Die Öffentlichkeitsarbeit ist für die Erfüllung des Auftrags notwendig, politische Vorhaben, gerade auch unpopuläre, zu erläutern, zu erklären und für
Verständnis zu werben. Das ist bei der Regierungskommunikation zur Agenda 2010 gelungen.
({7})
Drittens. Deshalb ist Regierungskommunikation ein
notwendiger Beitrag, um das Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger in das Funktionieren der vom Grundgesetz
geschaffenen Staatsordnung zu leisten, genauso wie es
das Bundesverfassungsgericht postuliert hat.
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hören
Sie doch endlich auf mit Ihren Unterstellungen und Verdächtigungen. Hören Sie auf, die Öffentlichkeitsarbeit
der Bundesregierung in eine Ecke drängen zu wollen, in
die sie nicht hineingehört. Lernen Sie endlich, konstruktive Oppositionsarbeit zu machen; denn trotz der Ergebnisse vom vergangenen Sonntag, die uns sehr enttäuscht
haben - das sage ich ganz offen -, bin ich der festen
Überzeugung, dass Sie diese Kenntnisse noch weiter
über das Jahr 2006 hinaus brauchen werden.
Ich danke Ihnen.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Bernhard Kaster.
Werter Herr Kollege, ich stelle zunächst einmal fest,
dass Sie auf die Vermehrung der Öffentlichkeitsmittel
neben den offiziellen Mitteln für Öffentlichkeitsarbeit,
die zu einer wahren Verdreifachung der Ausgaben geführt hat, mit keinem Wort eingegangen sind.
({0})
Soweit Sie sich auf Zahlen berufen, die auch in der Beantwortung der Großen Anfrage genannt sind, sind auch
diese falsch. Im Vergleich zu 1998 beziehen Sie sich auf
eine Zahl von 80 Millionen. Bei den Kosten allein für
die Bundesregierung sind wir inzwischen bei 86 oder
87 Millionen. Man muss aber darauf hinweisen, dass bereits unmittelbar nach dem Regierungswechsel ein
Betrag von 4,1 Millionen Euro aus der Zuordnung zur
Öffentlichkeitsarbeit - es war der Titel 685 11, heute
685 07 - herausgenommen und an anderer Stelle neu
verbucht worden ist. Schon allein deshalb stimmt die
ganze Vergleichsrechnung nicht.
Ich muss aber auch auf Ihre Vergleiche eingehen. Ich
gebe das wieder, was vom Bundesregierungshof und
auch in vielen Publikationen schon gesagt worden ist:
Die untersuchten Zeiträume von 1994 bis 1998 und von
1998 bis 2002 sind nur bedingt vergleichbar - ich
zitiere -:
Eine vergleichbare Leitagentur für einen so wesentlichen und finanziell bedeutsamen Teil der Öffentlichkeitsarbeit gab es im ersten Betrachtungszeitraum nicht.
({1})
Ein weiterer wichtiger Punkt: Wenn Sie jetzt hier sagen, die Staatsanwaltschaft konnte kein Strafverfahren
einleiten, muss ich aus dem entsprechenden Schreiben es ging um die Kritik des Bundesrechnungshofes, um
Verstöße gegen das Vergaberecht etc. - zitieren. Es heißt
in dem Schreiben:
Das von Ihnen geschilderte Verhalten mag unter
mancherlei Aspekten diskussionswürdig sein.
Jetzt komme ich zum dem eigentlichen Problem in
dieser Angelegenheit. Die Antwort lautet:
Hierbei gibt es keine Anhaltspunkte für die Schätzung eines Schadens, weil ein möglicherweise erzielbarer niedriger Preis spekulativ und jedenfalls
mangels tatsächlicher Anhaltspunkte nicht konkretisierbar ist.
Das heißt nichts anderes, als dass Sie, wenn eine Vergabe nicht nach Ausschreibung erfolgt, natürlich nicht
die Möglichkeit haben, einen Schaden anhand einer Vergleichsberechnung festzustellen. Das wollte ich der Vollständigkeit halber hier noch gesagt haben.
({2})
Zur Erwiderung der Kollege Gerhard Rübenkönig.
Herr Kollege Kaster, auf das Thema Strafverfahren
möchte ich nicht weiter eingehen, weil wir darüber bereits ausführlich diskutiert haben. Sie wollten die Aussagen, die dort in Bezug auf die Regierung Kohl gemacht
worden sind, ganz gern nicht veröffentlicht haben. Dieser Regierung ist jedenfalls nichts nachzuweisen, auch
wenn Sie es eben noch einmal versucht haben.
Ich will aber auch zu den Zahlen einiges sagen. Sie
sagen zu Recht, die Zahlen 1998/99 seien höher gewesen. Sie müssen aber auch einmal richtig in den Haushalt
schauen. Sie haben die Sollzahlen angeführt, Sie müssen
aber die Istzahlen heranziehen. Die Istzahlen liegen wesentlich unter den von Ihnen genannten Zahlen. Sie sind
damit erheblich niedriger als unter der CDU/CSU-geführten Bundesregierung.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein Unternehmen seine Öffentlichkeitsarbeit
intensiviert, dann gibt es dafür zwei Gründe: Entweder
hat man ein gutes Produkt und will es besser bekannt
machen oder man hat ein schlechtes Produkt und versucht, es auf Teufel komm raus zu verkaufen.
({0})
Jetzt wende ich das einmal auf das an, was Sie machen, meine Damen und Herren von der Koalition: Entweder haben Sie ein gutes Produkt. Aber Sie selbst wollen doch wohl nicht behaupten, dass Ihre Produkte
unbekannt sind. Dass das, was Sie produzieren, bekannt
wird, dafür sorgt schon die deutsche Presse. Oder aber
- ich glaube, das ist eher der Fall - Sie haben ein
schlechtes Produkt und wollen durch das, was Sie an Öffentlichkeitsarbeit machen, verdecken, wie schlecht dieses Produkt tatsächlich ist.
({1})
Was dabei herauskommt, konnten Sie am vergangenen Sonntag sehen. Sie erkennen daran, dass Ihr Produkt
schlecht ist. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hoffe, dass
Ihr Produkt verbessert wird und dass es zu besseren Ergebnissen für unseren Gesamtstaat kommt. Aber wenn
ich in Ihre Reihen schaue und höre, was Sie so sagen,
dann habe ich die Befürchtung, dass die Einzigen, die
von Ihrer Produktwerbung profitieren, dort in der Mitte
bei den Grünen sitzen, um sich auf Ihre Kosten zu bereichern.
({2})
Die FDP sagt deutlich: Öffentlichkeitsarbeit soll der
Information dienen - Herr Rübenkönig, Sie haben das
ausgeführt - und eben nicht der Suggestion. Das bedeutet auch: Öffentlichkeitsarbeit soll nicht der Autosuggestion dienen. Was Sie betreiben, ist Autosuggestion. Sie
glauben, dass es Ihnen über Öffentlichkeitsarbeit im
Sinne von Werbung gelingt, die Bürger mitzunehmen.
Das werden Sie nicht schaffen. Das geht einfach nicht.
({3})
Bei der wunderschönen Broschüre zur Agenda 2010
hat der Bürger doch eher das Gefühl, dass ihm die rote
Karte gezeigt wird, als dass er informiert wird. Wir Politiker haben die Aufgabe, komplexe Sachverhalte ordentlich darzustellen und uns nicht einfach nur über
Plattitüden zu unterhalten. Die Vermittlung komplexer
Sachverhalte braucht seine Zeit. Dafür braucht man
keine Werbung und keine großen Bilder. Diese Sachverhalte müssen vom Bürger verstanden werden.
Ich möchte Ihnen dazu folgendes Beispiel nennen: Es
gibt von der Bundesregierung ein wunderschönes Plakat
mit einem Arbeiter in seinem Blaumann; er hat einen
Helm auf und hinter ihm ist ein großer roter Haken. Ich
bin in meiner Heimatstadt gefragt worden, ob das bedeute, die SPD wolle, dass man seine Arbeit an den roten Nagel hänge. Wenn man mit Bildern Öffentlichkeitsarbeit macht, dann kann das doch irgendwie nicht das
Ergebnis sein.
({4})
- Warum habe ich es nicht erklärt? Wenn es so weit ist,
dass schon die Opposition erklären muss, was die Regierung will, dann ist es, glaube ich, Zeit, dass die Opposition die Regierung übernimmt.
({5})
Da mir nur drei Minuten Redezeit bleiben, will ich
noch auf Folgendes hinweisen: Der informative Gehalt
muss in den Vordergrund gestellt werden. Informativer
Gehalt heißt: Man benutzt andere Medien als die normale Werbebranche. Genau das machen Sie nicht. Sie
gehen über das Werbemedium Zeitung. Was Sie aber
machen müssen, ist, Informationswege zu nutzen, die
nah an den Bürger herankommen, durch die mit den
Bürgern detailliert geredet wird, um sie mitzunehmen.
Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf das Thema
verdeckte Finanzierung. Die Koalition hat gestern im
Haushaltsausschuss einen Beschluss zur Ganztagsschule gefasst. Es stehen 5 Millionen Euro zur Verfügung, um Öffentlichkeitsarbeit für die Ganztagsschule
zu machen. Das kann ich nicht verstehen. Sie sagen immer, das sei so ein tolles Projekt und das finde so großen
Anklang. Trotzdem geben Sie dafür 5 Millionen Euro
aus.
Machen Sie Ihre Öffentlichkeitsarbeit doch bitte so,
dass Sie die dicken Bretter bohren und nicht nur die dünnen. Wenn Sie die dünnen bohren, dann brechen sie und
dann kommt dabei nichts heraus.
Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Wort zum Kollegen Fricke: Ich glaube, Politik
ist komplexer, als dass man sie einfach als Produkt verkaufen könnte.
({0})
Du hast versucht, das in der Rede zumindest anzudeuten.
Ich fände es gut, wenn wir alle ernst nähmen, dass es so
einfach nicht ist.
Dann aber schon zu denen, die die Große Anfrage gestellt und den Antrag eingebracht haben. Ich habe bereits
bei der Vorbereitung auf den heutigen Diskussionstermin
gedacht: Das darf doch nicht wahr sein! Kollege
Seehofer bescheinigt Ihrer Partei, dass Sie im Endeffekt
Wahlversprechen machen, die ungefähr 100 Millionen Euro kosten.
({1})
- Milliarden. Entschuldigung, ich war bei der falschen
Größenordnung. - Da geht es um Steuergeschenke, Familiengeld, Kopfpauschalen usw. Im letzten Herbst oder
im Dezember waren Sie im Vermittlungsausschuss zu
feige, die Eigenheimzulage zu streichen. Sie sind bei der
Entfernungspauschale eingeknickt.
({2})
Ich kann auch die Wohnungsbauprämie, den Agrardiesel
und, und, und nennen. Bei allen großen Sparsummen
knicken Sie ein und sind zu feige, die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft zu suchen, weil Sie sich das
wahltaktisch nicht trauen.
Jetzt gehen Sie ganz mutig an ein Thema heran, bei
dem es im Endeffekt um 6 Millionen Euro Differenz zu
den Ausgaben geht, die Sie unter der Kohl-Regierung
getätigt haben.
({3})
Bei aller Liebe, Kollege Kaster: Es waren unter Ihrer Regierung 80,2 Millionen Euro - jetzt bin ich wieder im
Bereich von Millionen; vorhin war es eindeutig der Bereich von Milliarden - und unter unserer Regierung liegt
die Summe bei 86,7 Millionen Euro. Insofern sind das
6,5 Millionen Euro mehr. Wir haben die Ausgaben für
den Bereich zwischendurch deutlich gesenkt. Sie behaupten, das sei transferiert worden. Das entspricht nicht
den Tatsachen. Wir haben das dann auf das genannte Volumen angehoben. Alles andere ist von Ihnen schlicht
zusammengesucht.
({4})
Sie haben sich insbesondere über die Fachpublikationen unseres Ministers Trittin beschwert.
({5})
Ich habe es geschafft, mir in der Kürze der Zeit ein paar
dieser Publikationen zu besorgen, und zeige sie Ihnen.
„Aus Verantwortung für die Zukunft - Umweltpolitik als
globale Herausforderung“ - ist das aus Ihrer Sicht eine
Fachpublikation oder steht darin nur dummes Geschwätz?
({6})
Andere Beispiele: „Umweltbericht 2002“, „Umweltpolitik - Erneuerbare Energien in Zahlen“, „Beschäftigungspotenziale einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung“. Das sind Beispiele von Fachpublikationen,
die sehr ernst zu nehmen und für die Kommunikation
mit der Gesellschaft sehr wichtig sind.
({7})
Ich will zu dem Thema kommen, um das es eigentlich
geht. Insgesamt sind wir in einer Situation, in der es aufgrund der Kompliziertheit der Themen - es sind eben
nicht Produkte, sondern politische Themen - sehr wichtig ist, dass sich die Politik mediale Instrumente in
neuer Weise aneignet, mit denen sie mit der Gesellschaft
kommunizieren kann. Außerdem stecken wir in einem
politischen Transformationsprozess, der so intensiv und
ernst ist, dass es besonders wichtig ist, mit der Gesellschaft zu kommunizieren, die Gesellschaft zu informieren und die Gesellschaft aufzuklären - das nicht nur mit
Fachpublikationen, sondern auch mit Instrumenten zum
Erreichen medialer Aufmerksamkeit, die die Menschen
überhaupt erst an die Themen heranführen,
({8})
sodass sie gegebenenfalls bereit sind, solche Fachpublikationen ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen und sich
auch selbst dem Transformationsprozess zu stellen. Sie
wissen sehr genau, dass wir ohne solche Instrumente
dem Politikverdruss eher weiteren Vorschub leisten.
Wir haben intensive Diskussionen: Rentenreform,
Gesundheitsreform, Umwelt- und Naturschutz, Energiewende, Steuerreform, gesunde Ernährung usw. Wir
haben ein sehr großes Spektrum an Themen. Wenn Sie
meinen, dass wir angesichts dessen Werbepolitik wie in
den 50er-Jahren machen können, dann haben Sie die
Zeichen der Zeit nicht erkannt. Selbstverständlich steht
die politische Kommunikation in Konkurrenz zu den
modernen Werbekommunikationsbotschaften, die privatwirtschaftliche Akteure in die Gesellschaft hineintragen. Dem müssen wir uns stellen. Dem müssen auch Sie
sich stellen. Um es ganz praktisch zu sagen: Dazu gibt es
auch ein Instrument. Oppositionsfraktionen haben einen
erhöhten Etat, damit sie auch ihrerseits intensiver mit der
Gesellschaft kommunizieren können.
({9})
Letzte Bemerkung, Kollege Fricke: Die Kommunikation ausschließlich der Presseberichterstattung und
dem Fernsehen zu überlassen würde ich für äußerst gefährlich halten. Es wäre die Bankrotterklärung der Politik, wenn sie sich völlig dem Windchen ausliefern
müsste, das die Medien machen, die natürlich ihre eigenen Interessen verfolgen, wenn es darum geht, was sie
der Gesellschaft mitteilen wollen.
Jede Regierung hat diese Verantwortung. Diese Regierung nimmt sie völlig korrekt und richtig wahr. In
dem Sinne fände ich es gut, wenn wir uns an dem Thema
nicht weiter verkämpften. In dem Maß, wie das betrieben wird - es wird sparsam und vernünftig betrieben -,
sollten wir das gegenseitig anerkennen, wer auch immer
wann an der Regierung ist.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der
PDS.
Im Frühsommer 2003 habe ich im Haushaltsausschuss des Bundestages nach einem merkwürdigen Beratervertrag gefragt. Der damalige Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, hatte Millionen springen
lassen, um sein Image aufzubessern. Wenige Wochen
später war das Image nicht besser und der Beratervertrag
gelöst. Wenige Monate später war Herr Gerster sogar
seinen Job los.
Die CDU/CSU hat nun meine Anfrage aufgegriffen
und daraus eine richtig große Kampagne gestartet. Ich
finde es einerseits gut, wenn meine Ideen aufgegriffen
werden, doch, meine Damen und Herren der CDU/CSU,
mit Ihrer Anfrage haben Sie wirklich überzogen. Sie gehen auch am Problem vorbei. Die Bundesregierung hat
nämlich ein ganz anderes Problem. Sie glaubt immer
noch - auch nach der für die SPD verlorenen Europawahl -, dass sie ausschließlich ein Vermittlungsproblem
hat und die Wählerinnen und Wähler die Politik der Regierung noch nicht richtig verstanden haben. Doch diese
Annahme, meine Damen und Herren von der SPD, ist
ein gefährlicher Trugschluss.
({0})
Die Wähler haben die Agenda 2010 sehr wohl verstanden und am Sonntag mit ihrer Stimmabgabe dazu ihre
Meinung gesagt.
Es mache nun wirklich keinen Sinn, wenn die Bundesregierung mit immer mehr Geld für Werbeagenturen
versuchen würde, ihr Image aufzubessern. Jede Werbeagentur der Welt wäre im Augenblick mit einer Kampagne für die Politik der SPD restlos überfordert.
({1})
Sie müssen nicht Ihre Werbestrategie ändern, meine Damen und Herren, Sie müssen Ihre Politik ändern.
({2})
Ihren Wählern haben Sie 1998 und 2002 eine sozialere
Politik als unter Helmut Kohl versprochen, doch selbst
unter der Regierung Kohl wurde nicht so dramatisch
Reichtum von unten nach oben verteilt wie unter dieser
rot-grünen Regierung.
({3})
- Wir sind nicht in der Regierung, Herr Kollege, und
auch 2002 nicht für die Regierung angetreten.
Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen: die Praxisgebühr. Frau Ulla Schmidt kann jeden Tag erklären, dass
die Gesundheitsreform jetzt endlich greift und die
Kassen viel Geld sparen. Ja, die Gesundheitsreform
greift, sie greift schamlos in die Taschen der Kranken
und der sozial Schwachen. Das hat sicher jeder der
Gäste, die hier oben auf der Tribüne sitzen, in diesem
Jahr schon bei Arztbesuchen erfahren. Nach dieser Gesundheitsreform kann man nur jedem wünschen: Lieber
reich und gesund als arm und krank.
({4})
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie könnten
Millionen bei der Öffentlichkeitsarbeit sparen, wenn Sie
endlich die Politik machen, für die Sie einmal von Ihren
Wählerinnen und Wählern gewählt wurden, indem Sie
nämlich die Gerechtigkeitslücke in unserer Gesellschaft schließen.
({5})
Es wäre eine falsche Entscheidung, wenn eine sozialdemokratische Partei wie die SPD ihre soziale Kompetenz
ganz aufgeben wollte. Die Menschen haben ja am
Sonntag mit ihrer Stimmabgabe ein, wie ich glaube,
deutliches Zeichen gesetzt: Sie erwarten von der SPD
eine soziale Politik, ansonsten werden sie keine Stimme
mehr für die SPD abgeben.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3311 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes
- Drucksachen 15/3168, 15/3214 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Jäger,
Ulrike Mehl, Michael Müller ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Volker
Beck ({3}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Den Flüssen mehr Raum geben - Ökologische
Hochwasservorsorge durch integriertes Flussgebietsmanagement
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnenland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael
Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Hochwasserschutz - Solidarität erhalten, Eigenverantwortung stärken
- Drucksachen 15/1319, 15/1561, 15/1334, 15/2118 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Jäger
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Renate Jäger, SPD-Fraktion, der ich bei dieser
Gelegenheit auch herzlich zum Geburtstag gratuliere.
({5})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Knapp zwei Jahre ist die Hochwasserkatastrophe an Elbe und Donau vorbei. Die schlimmen
Bilder sind im öffentlichen Bewusstsein, so scheint es,
mehr und mehr verblasst. Auch die Bildbände über die
Katastrophe sind wieder weitgehend von den Auslagetischen der Buchhandlungen verschwunden. Unser politischer Wille aber, weitere Rechtsgrundlagen für den vorbeugenden Hochwasserschutz zu schaffen, darf einfach
nicht zerbröseln und darf nicht in kleinen Diskussionsrunden zerredet werden.
({0})
Rund 9 Milliarden Euro Gesamtschäden, über 20 Tote,
Tausende Existenzen, die mühsam wieder aufgebaut
werden mussten, das alles ist doch wohl Mahnung genug, präventiv zu handeln.
Die allgemeinen Ziele des vorliegenden Gesetzentwurfes sind meines Erachtens allgemein akzeptiert; zum
Teil finden sie sich auch in den Anträgen der Opposition
wieder. Dabei geht es hauptsächlich darum, Überschwemmungsgebiete und überschwemmungsgefährdete Gebiete festzulegen und sie mit geeigneten Schutzregelungen zu versehen. Es geht darum, die natürlichen
Überflutungsflächen den Flüssen weitestmöglich zurückzugeben, zumindest aber die verbliebenen Flächen
zu erhalten. Es geht auch darum, die Siedlungsentwicklung den Erfordernissen des Hochwasserschutzes anzupassen sowie den Ausbau und den Unterhalt von Flüssen
dem Hochwasserschutz unterzuordnen.
Uns allen ist bewusst, dass die Hauptverantwortung
für den Hochwasserschutz per Grundgesetz bei den Ländern liegt; doch die Ereignisse der Vergangenheit zeigen,
dass es notwendig ist, die Länder mit einer geeigneten
Rahmengesetzgebung hierbei zu unterstützen.
({1})
Von Bundesseite können verbesserte Rahmenbedingungen aber nur durch Änderungen der hochwasserrelevanten Vorschriften in Bundesgesetzen erfolgen,
daher auch die Struktur eines Artikelgesetzes. Im Wasserhaushaltsgesetz sollen einheitliche Leitlinien für die
staatliche Gewässerbewirtschaftung, für eine allgemeine Schadensminderungspflicht aller Betroffenen,
auch des einzelnen Bürgers, und für schnellere Information und Frühwarnung vorgegeben werden. Konkret
werden die Länder verpflichtet, auf der Basis des hundertjährlichen Hochwassers Überschwemmungsgebiete
förmlich festzusetzen und dort künftig keine neuen Baugebiete mehr in die Bauleitpläne aufzunehmen. Die Nutzung des Bodens in diesen Gebieten soll generell am
Hochwasserschutz ausgerichtet werden. Dies kommt
auch der allgemein anerkannten Grundforderung entgegen, den Flüssen mehr Raum zu geben.
Aus den negativen Erfahrungen der letzten Hochwasser resultieren auch weitere Regelungsaufträge für die
Länder. So soll zum Beispiel die Neuinstallation von
Ölheizungsanlagen in Überschwemmungsgebieten verboten werden, wenn geeignete Alternativen bestehen.
Letzteres möchte ich hervorheben, um Missverständnissen vorzubeugen: wenn geeignete Alternativen bestehen.
Auch sollte der Ackerbau in Überschwemmungsgebieten nur zugelassen werden, wenn Bodenerosion und
Schadstoffeintrag in die Gewässer nicht zu erwarten
sind. Auf die Problematik des Ackerbaus in Abflussbereichen von Überschwemmungsgebieten wird mein Kollege Gustav Herzog noch etwas differenzierter eingehen.
Auch für die überschwemmungsgefährdeten Gebiete,
die entweder über das hundertjährliche Hochwasser hinausreichen oder bei bestimmten Hochwasserständen
überflutet werden, zum Beispiel wenn Deiche brechen,
sollen Schutzmaßnahmen vorgesehen werden. Diese
überschwemmungsgefährdeten Gebiete sind - das ist ein
neues Instrument - ebenfalls in Kartenform zu publizieren, damit auch Ein- und Anwohner sowie Gewerbetreibende darüber klar informiert sind.
Die Erstellung abgestimmter bundeseinheitlicher
Hochwasserschutzpläne ist eine der wichtigsten Neuerungen dieses Gesetzes. Sie sollen dem Zweck dienen,
schadlosen Wasserabfluss zu gewährleisten, technische
Schutzmaßnahmen festzulegen und Rückhalteflächen
wieder herzustellen bzw. neu zu schaffen. Dazu gehört
auch die Wiederherstellung von Auen einschließlich der
dazugehörigen Auenwälder. Rückhalteflächen sind damit in den Raumordnungsplänen klar auszuweisen.
Wir sind uns bewusst, dass diese umfangreichen
Maßnahmen in einer Frist von vier Jahren die Länder in
starkem Maße fordern. Trotzdem sollte die enge Fristsetzung meines Erachtens beibehalten werden, damit wir
jederzeit auf ein mögliches Hochwasser vorbereitet sind.
Bei der Bekämpfung von Hochwassergefahren ist es
dringend geboten, das gesamte Flusseinzugsgebiet als
Ganzheit zu behandeln. Deshalb muss in den Flussgebietseinheiten eine enge Zusammenarbeit aller Institutionen gewährleistet werden. Schutzmaßnahmen müssen an der Stelle eines Flusses erfolgen, an der sie am
wirksamsten und am wirtschaftlichsten sind. Dabei kommen die Betroffenen natürlich nicht umhin, sich auch
über einen angemessenen Interessenausgleich zu verständigen. Die Bundesregierung kann - so haben wir es
im Gesetz festgelegt - als Vermittler angerufen werden,
wenn es denn keine Einigung gibt.
Da große Flüsse auch als Wasserstraßen genutzt
werden, soll im Bundeswasserstraßengesetz klargestellt
werden, dass Maßnahmen zur Unterhaltung und zum
Aus- oder Neubau hochwasserneutral durchzuführen
sind.
Mit diesem Grobabriss wollte ich Ihnen den Gesetzentwurf einmal vorstellen. Ich wünsche mir, dass dieser
Gesetzesvorschlag konstruktiv beraten wird. Den unterschiedlichen Aspekten und Interessen trägt dieser Gesetzentwurf bereits grundsätzlich Rechnung. Über Detailfragen sollten wir ideologiefrei diskutieren, damit wir
am Ende ein wirklich wirkungsvolles Gesetz verabschieden können.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Petzold, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wenn ich das vorliegende Gesetz zum vorbeugenden Hochwasserschutz
mit dem Begriff „Aktionismus“ überschreibe, werden
mir wohl viele derer zustimmen, die die quälend lange
Geschichte dieses Gesetzes mitverfolgt haben. Bezugspunkt dieses Gesetzes, wie auch in der Begründung benannt, ist das Hochwasserereignis an der Elbe, eine Katastrophe, die nicht in diesem Jahr, nicht im vorigen Jahr,
nein, im Jahr 2002 stattgefunden hat. Das Schlimme dabei war, dass wir jedes Mal, wenn es politisch opportun
erschien, wenn politisches Kapital daraus geschlagen
werden konnte, von Aktionen des Bundesumweltministers zum Hochwasserschutz überrascht - oder sollte man
lieber sagen: beglückt - wurden.
({0})
Das erste Mal war im Herbst 2002, kurz vor der Bundestagswahl, das Fünfpunkteprogramm. Doch dann hörten
wir ein Jahr lang nichts mehr. Das zweite Mal war am
ersten Jahrestag des Elbehochwassers im August 2003:
Es wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt. Toll, dachten wir.
Doch dann hörten wir wieder ein Jahr nichts mehr.
({1})
Jetzt, zu Ehren des zweiten Jahrestages des Elbehochwassers, werden wir mit einem Gesetzentwurf beglückt,
der endlich auch die Hürden des Kabinettstisches überwunden hat. Dieser Gesetzentwurf wird nun aber mit einem Zeitdruck versehen, der nach zwei Jahren Bummelei nicht zu verstehen ist.
({2})
Sehr geehrter Herr Minister, eine sachliche und zielstrebige Aufarbeitung eines solchen dramatischen Ereignisses, wie ich es persönlich an der Elbe an vorderster
Stelle mit Sandsäcken in der Hand mitgemacht habe,
({3})
stelle ich mir anders vor - und die Menschen vor Ort
auch.
({4})
Uns wird heute ein Gesetzentwurf mit einer Zeitschiene
vorgelegt, die man nur unter dem Motto „Friss, Vogel,
oder stirb!“ verstehen kann. Innerhalb von nur wenig
mehr als einem Monat, also innerhalb von zwei Sitzungswochen, soll die in fast zwei Jahren versäumte Zeit
aufgeholt werden. Zwischen der Schlussberatung im
Ausschuss und einer zweiten und dritten Lesung im Plenum liegt nach Ihrem Plan ein Tag.
({5})
Es gibt also keine Zeit mehr für Veränderungen. Warum
fragt man uns eigentlich noch? Wozu sollen wir als Parlamentarier überhaupt noch die Hand heben?
({6})
Wie toll die Qualität dieses Gesetzentwurfes trotz
der zweijährigen Werkelei ist, wird durch die Ausschüsse des Bundesrates dokumentiert. 59 Änderungsanträge gab es dort, von denen 51 eine teilweise deutliche
Mehrheit auch von den von Ihnen regierten Ländern erfahren haben. Ist es Absicht der Bundesregierung, einen
handwerklich so bedenklichen Gesetzentwurf durch den
Bundestag zu jagen, um ihn in den Vermittlungsausschuss zu schicken und anschließend die ganze Schuld
für diesen übermäßigen Zeitverzug dem Vermittlungsausschuss anlasten zu können?
({7})
Über die Erforderlichkeit von Hochwasserschutzmaßnahmen wie Wasserrückhaltung, Renaturierung,
Regenwasserversickerung, Bau von Poldern, Deichrückverlegungen und Deichertüchtigungen sind wir uns sicher schnell einig. Auch in den Bereichen des Bauplanungsrechtes, des Raumordnungsrechtes oder bei der
Benennung überschwemmungsgefährdeter Gebiete enthält der Gesetzentwurf durchaus richtige Ansätze. Es ist
richtig, die Menschen in Bebauungsgebieten auf die
Hochwassergefährdung hinzuweisen und ihnen schadensmindernde Bauweisen abzuverlangen. Aber weswegen müssen auch für Waldgebiete Überschwemmungsgefährdungen ausgewiesen werden? Die Kassen der
Länder und Kommunen sind leer. Wir sollten sie nicht
mit Ausgaben für unnötige Verwaltungsakte belasten.
({8})
Das Ackerbauverbot in Überschwemmungs- und
Abflussgebieten hört sich sehr schön an. Doch unsere
Vorfahren haben die fruchtbaren Flussauen an Saale,
Weser und Rhein seit Jahrhunderten oftmals für hochwertige Landwirtschaft genutzt, ohne dass ihnen der Boden weggeschwemmt wurde. Plötzlich soll diese lange
landwirtschaftliche Erfahrung nichts mehr wert sein?
Nachdem selbst Frau Ministerin Höhn festgestellt hat,
dass diese Regelung in Ihrem Gesetz über das Ziel
hinausschießt, sind Sie, liebe Kollegen von der SPD,
endlich ins Grübeln gekommen und haben sich grünen
Profilierungsversuchen widersetzt.
Unverantwortlich ist es allerdings auch, in welcher
Art und Weise die Länder in der derzeitigen Haushaltslage mit Kosten belastet werden sollen. Die Kosten für
Ausgleichsleistungen für die Landwirtschaft sind bei
der derzeitigen Regelung im Gesetz ein Kostenblock,
der von den Ländern nicht zu schultern ist und der nach
Ihren eigenen Ausführungen in der Begründung, Herr
Minister, nicht einmal einschätzbar ist.
({9})
Wenn Minister Trittin die Klage der Länder über die
Kostenbelastung damit abtut, dass er sie auf die Schadenshöhe durch die Hochwasserereignisse verweist,
sollte er sich doch einmal fragen: Wo sind die Schäden
entstanden und wodurch sind sie entstanden? Die immense Schadenshöhe wurde in erster Linie durch Schäden an Gebäuden und nur zu einem geringeren Teil
durch Schäden an landwirtschaftlichen Kulturen bestimmt. Der Landwirtschaft jetzt einen Großteil der Kosten für den Hochwasserschutz aufzudrücken entspricht
nicht den Schadensereignissen.
({10})
Zum Zweiten. Die Schäden sind in erster Linie durch
Deichbrüche, also durch das Versagen von Hochwasserschutzeinrichtungen, entstanden. Woher Bundesminister
Trittin allerdings die Zahl von 100 Deichbrüchen an der
Elbe nimmt, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Im am
stärksten betroffenen Gebiet an der Mittelelbe, in meinem Wahlkreis, waren es vier Deichbrüche. Diese Zahl
war allerdings schon hoch genug.
Ein weiteres Märchen ist die Vergiftung des Elbwassers.
Wir haben sowohl das Elbwasser als auch anschießend
die Böden einer intensiven Prüfung unterzogen und in
keinem Fall eine unzulässig hohe Vergiftung festgestellt.
Was dann stank, war das in der sommerlichen Hitze stehende Brackwasser, das durch Gräben, die vorher aus
ökologischen Gründen nicht ausgemäht werden durften,
nicht abfloss.
Auch wenn wir die Nebelkerzen endlich beiseite räumen, bleiben noch wichtige Fragen offen: Wonach sollen
wir die Schutzmaßnahmen wirklich ausrichten? Bis zu
welchen Hochwassermarken soll die Eigenverantwortung gehen?
Ich bin all den Menschen dankbar, die mit tätiger
Hilfe oder Geld dazu beigetragen haben, die Schäden
während der Hochwasserkatastrophe zu verhindern oder
zu beseitigen. Ich bin stolz auf die Menschen, die die Ärmel hochgekrempelt und nicht erst auf Hilfe gewartet
haben. Als die Hilfe kam, haben sie diese sinnvoll eingesetzt.
({11})
Ich finde es toll, dass unsere Menschen während der
Jahrhundertkatastrophe und beim Wiederaufbau zusammengestanden haben.
Man kann sich nicht gegen alles und jedes und schon
gar nicht gegen Jahrhundertkatastrophen versichern, wie
es in Anträgen zum heutigen Thema suggeriert wird.
Hier ist Solidarität gefragt. Deswegen sind wir ein Volk
und nicht nur ein Bund von anonymen Steuerzahlern.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Jäger, Sie haben darauf hingewiesen: Die Flutkatastrophe im Jahre 2002 hat 21 Menschen in Deutschland das
Leben gekostet und unmittelbare Sachschäden in Höhe
von 9 Milliarden Euro verursacht.
Wir müssen damit rechnen, dass aufgrund der globalen Erwärmung solche Wetterphänomene, also auch
Starkregenereignisse, künftig wieder eintreten. Wenn wir
also von einer Jahrhundertflut sprechen, sollten wir uns
besser nicht darauf verlassen, dass sie nur einmal in
100 Jahren auftritt.
({0})
Wenn es aber so ist, dass wir uns auf solche Katastrophen einstellen müssen, dann gilt doch der Grundsatz,
dass es klüger ist, Schäden vorher zu verhindern, anstatt
sie nachträglich zu beseitigen.
({1})
Es ist klüger vorzubeugen, als Schadensersatz zu leisten.
Diese Erkenntnisse sind der Hintergrund für dieses Gesetz zur Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes. Das bedarf bundeseinheitlicher Vorgaben. Wir
setzen hier nur einen Rahmen. Es kann doch nicht wahr
sein, dass es bis heute in Deutschland unterschiedliche
Definitionen des Begriffs Hochwasser gibt, obwohl
manche Flüsse durch ganz Deutschland, andere sogar
durch ganz Europa fließen. Weil Vorbeugung die erste
Voraussetzung ist, müssen wir Überschwemmungsgebiete nach einem einheitlichen Standard auf der Grundlage des so genannten hundertjährlichen Hochwassers
festlegen. Das ist die Basis, auf der Kooperationen zwischen den Ländern stattfinden können.
Wir führen auch eine neue Kategorie ein. Damit ziehen wir die Konsequenz aus den Erfahrungen mit den
Deichbrüchen. Lieber Kollege Petzold, es waren erheblich mehr als vier. Dass Deiche, Schotte und Ähnliches
keine hundertprozentige Sicherheit bieten, haben wir bitter erfahren. Deswegen dürfen in überschwemmungsgefährdeten Gebieten, die künftig auszuweisen sind,
keine Ölheizungen und - das füge ich hinzu - keine Rechenzentren und Ähnliches in den Kellern vorhanden
sein. Solches würde zur Schadensmaximierung statt zur
Schadensminimierung führen.
Wir geben - hier liegt der Kern des Konflikts mit den
Ländern - den Ländern bestimmte Hausaufgaben auf. In
der Regel sind das aber keine neuen Hausaufgaben; denn
im Wasserhaushaltsgesetz und in anderen rechtlichen
Vorschriften gibt es bereits entsprechende Vorgaben. Wir
tragen alle in diversen Ländern Mitverantwortung und
wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir es
mit Vollzugsdefiziten zu tun haben.
({2})
Aus diesem Grund setzen wir eine Frist, bis zu der die
Hausaufgaben erledigt sein müssen.
Darüber hinaus machen wir diese Gebiete für die Bürgerinnen und Bürger transparent. Künftig soll in der
Bauleitplanung und in den Raumordnungsplänen gekennzeichnet sein, was ein Überschwemmungsgebiet
oder ein überschwemmungsgefährdetes Gebiet ist, damit
jeder, der etwas plant, sich darauf einstellen kann.
Wir brauchen Hochwasseraktionspläne für die
Flusseinzugsgebiete, damit wir zu abgestimmten Handlungen zwischen Ober- und Unterliegern kommen. Es
kann nicht sein, dass die Ausweitung eines Baugebiets
eine Staustufe flussaufwärts dazu führt, dass der Flussunterlieger von Hochwasser betroffen ist. Ein Kölner
Oberbürgermeister hat einmal spöttisch gesagt: Ein Teil
der Fluten, mit denen wir hier kämpfen, ist in BadenWürttemberg verantwortet. Zu solchen Folgen, und zwar
nicht nur für die Kölner, sondern für alle Unterlieger,
darf es nicht mehr kommen.
Solche Aktionspläne müssen auch das beinhalten, was
wir entlang der Elbe - Herr Petzold, Sie wissen das - teilweise schon freiwillig gemacht haben. Wir müssen zum
Beispiel die Deiche rückbauen, um den Flüssen mehr
Raum zu geben. Wir müssen den Flüssen ihren Raum
lassen, damit sie sich ausdehnen können, ohne Schäden
anzurichten.
2002 gab es in den Havelpoldern, wo Mais angebaut
wurde, ein großes Fischsterben. Darüber hinaus haben
wir massive Schadstoffabflüsse und Erosionen in diesen
Bereichen feststellen müssen. Wir sind uns wahrscheinlich in einer ruhigen Diskussion darin einig, dass das
keine gute fachliche Praxis war. Deswegen darf in den
Abflussbereichen, in denen Erosionen unmittelbar drohen, keine Grünlandnutzung mehr stattfinden. Übrigens verbietet schon heute die gute fachliche Praxis,
Grünland in Erosionsgebieten umzubrechen. So steht es
auch im geltenden Bundesnaturschutzgesetz. Unsere
Perspektive bis 2013 ist daher, diesen Zustand überall
dort wieder herzustellen, wo er zurzeit nicht vorhanden
ist.
Wir müssen schließlich auch Sorge tragen, dass nicht
weiter die Ausnahme die Regel ist. Schon heute dürfen
nach dem Wasserhaushaltsgesetz neue Baugebiete in
Überschwemmungsgebieten nur in Ausnahmefällen
ausgewiesen werden. Diese Ausnahme ist aber vielfach
zur Regel gemacht worden. Unser Ziel ist es, diese Ausnahmen zu unterbinden; denn wir wollen den Flüssen ihren Raum geben. Solche Baugebiete, solche Gewerbegebiete sind die Flutopfer von morgen. Das gilt es heute
durch eine solche Regelung zu verhindern.
Ich füge hinzu: Ich glaube, wir tun alle gut daran - bei
allen Schwierigkeiten, die solche Regelungen natürlich
für jeden von uns mit sich bringen -, aus dem Jahrhunderthochwasser zu lernen. Lernen heißt ganz konkret:
Vorbeugen statt Schadenersatz.
({3})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenige
Ereignisse haben in Deutschland eine solche Welle der
Solidarität erzeugt wie das verheerende Hochwasser in
Ostdeutschland. Wir waren uns damals einig: Solchen
Ereignissen müssen wir besser vorbeugen.
21 Monate später legt Umweltminister Trittin endlich
einen Gesetzentwurf vor. Wir mussten lange darauf warten, aus meiner Sicht viel zu lange. Während die FDPFraktion bereits vor einem Jahr einen umfassenden Antrag zum Hochwasserschutz in den Bundestag eingebracht hat, war der Bundesregierung das Thema offenbar
nicht mehr wichtig genug. Der Wahlkampf auf gebrochenen Deichen war schließlich vorbei.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält sowohl Licht als auch Schatten. Wesentliche Regelungen
zum Hochwasserschutz stammen aus den Zeiten der Regierung aus FDP und CDU/CSU und werden nun weiter
ausgebaut. Es ist vernünftig, bundesweit einheitliche
Grundsätze des Hochwasserschutzes festzuschreiben.
Eine Fortentwicklung der bestehenden Regelungen über
Überschwemmungsgebiete hat in unserem Antrag ausdrücklich Raum gefunden. Auch die Vorschrift über die
Kooperation in den Flussgebietseinheiten enthält einen
wichtigen Grundgedanken. Aber das allein darf es nicht
sein.
Wir müssen die Grundlage für einen abgestimmten
europäischen Hochwasserschutz legen. Zeigen Sie
hier, Herr Minister, endlich mehr Engagement. Die FDP
fordert die Bundesregierung auf, internationale Hochwasserkonferenzen zu initiieren und in Abstimmung mit
unseren europäischen Nachbarn durchzuführen.
({0})
Dafür bieten sich durch die europäische Wasserrahmenrichtlinie vorgezeichnete flussgebietsbezogene Strukturen an. Unser Antrag weist den Weg dazu.
Trotz der langen Vorbereitungszeit des Gesetzentwurfes ist sich die Koalition noch immer nicht einig. Wie
man der Presse entnehmen kann, streiten Sie speziell
über das von Bundesumweltminister Trittin geplante
Ackerbauverbot. Das wird zweifelsohne einer der
Knackpunkte der Beratungen werden. Ich bin gespannt,
was die Anhörung am Montag im Ausschuss dazu ergeben wird. Sollten im Rahmen des Hochwasserschutzes
Maßnahmen erforderlich sein, die die landwirtschaftliche Nutzung betreffen, so müssen aus Sicht der FDP die
Landwirte dafür auf jeden Fall eine angemessene Entschädigung erhalten.
({1})
Ein generelles Ackerbauverbot in Überschwemmungsgebieten lehnt die FDP ab. Der niedersächsische
Umweltminister Sander hat zu Recht angemerkt, dass
dieses in Überschwemmungsgebieten, in denen ein
Hochwasser einmal im Jahrhundert zu erwarten ist,
rechtlich gegen das Übermaßverbot verstoßen würde
und auch fachlich zweifelhaft wäre.
({2})
Der vorgelegte Gesetzentwurf bedarf aus Sicht der
FDP daher noch weiterer Änderungen. Gerne wird sich
die FDP an den Beratungen konstruktiv beteiligen.
Vielen Dank.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne
haben Mitglieder der Arbeitsgruppe des Deutschen
Bundestages und der Assemblée nationale zum
Deutsch-Französischen Jugendwerk unter Führung
des Vizepräsidenten der Assemblée nationale Yves Bur
Platz genommen. Sie wollen allerdings erst den nächsten
Tagesordnungspunkt verfolgen. Ich begrüße Sie aber
jetzt schon sehr herzlich im Namen der Mitglieder des
gesamten Hauses. Herzlich willkommen!
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Gustav Herzog, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will mit einer Vorbemerkung beginnen, die etwas mit
den Ursachen des Hochwassers zu tun hat. Als ich vor
25 Jahren in meiner Heimatgemeinde Zellertal in die
Kommunalpolitik eingestiegen bin, gab es im Land
Rheinland-Pfalz eine Philosophie - damals gab es eine
CDU/FDP-Regierung -: Jeder Tropfen Regenwasser in
den Kanal und dann in die Vorflut. Es gab einen Anschluss- und Benutzungszwang. Wir alle haben uns
krampfhaft bemüht, das Wasser so schnell wie möglich
aus den Bebauungsbereichen abzuleiten.
Heute überprüfen wir in Neubaugebieten die Möglichkeit, das Oberflächenwasser auf dem Grundstück
versickern zu lassen. Wir schreiben den Menschen vor,
Zisternen zur Brauchwassernutzung oder zur Gartenbewässerung zu bauen. Es hat zwar lange gedauert, aber
das Umdenken findet statt. Bei den heutigen Reden der
Oppositionspolitiker musste ich jedoch feststellen, dass
das Umdenken unterschiedlich schnell geht.
({0})
Herr Kauch, ich habe den Eindruck, dass es bei uns
eine Reihe von Gemeinsamkeiten gibt.
Ich will die Frage, die von fast allen Rednern gestellt
wurde, wiederholen: Wie schnell ist alles in Vergessenheit geraten? Eine Äußerung aus dem September 2002,
die ich zitieren möchte, empfinde ich als eindrucksvoll:
„Das Wasser kam am 12. August und blieb nur einen
Tag. Ein Tag, der zwölf Jahre Aufbauarbeit und 2,8 Millionen Euro Investitionen zunichte machte. Noch bevor
seine Leute anfingen, den Schlamm wegzuschippen, informierte“ Herr K. die Banken. Es handelt sich um einen
landwirtschaftlichen Betrieb, einen Obstbaubetrieb, der
in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Haben wir alle die Bilder der zerstörten Häuser, der
abgerissenen Brücken und Straßen, der überschwemmten Äcker und der Kühe, die auf den Feldern in Panik im
Kreis gelaufen sind - es bestand kaum Aussicht, sie zu
retten - schon vergessen? Ist es wirklich so, dass unsere
Gesellschaft eher bereit ist, viele Milliarden für die Folgen solcher Katastrophen auszugeben als weniger Geld
für die Vorbeugung?
Hochwasser hat es schon immer gegeben; aber die
Schäden waren früher offenbar geringer. In allen heute
zu beratenden Anträgen und in der Beschlussempfehlung sind Lösungsansätze enthalten: Festsetzung von
Retentionsräumen, schadensminimierende Landnutzung.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist auch im
Hinblick auf diese Ansätze folgerichtig und sehr konsequent. Aber - das ist mehrfach erwähnt worden - auf die
Länder kommt sehr viel Arbeit zu. Deswegen wird die
SPD-Fraktion den Zielkonflikt in zwei Punkten besonders abwägen.
Erstens. Die zwingende, flächendeckende Ausweisung der Überschwemmungsgebiete nach HQ 100 ist
mit sehr viel Aufwand verbunden. Somit könnte die Wirkung verpuffen.
Zweitens. Wir sind der Auffassung, die Nutzungsbeschränkungen, zum Beispiel ein Ackerbauverbot oder
ein Grünlandgebot, sollten auf die tatsächlich relevanten
Flächen konzentriert werden. In der Anhörung wird sich
sicherlich ergeben, ob es sich um Erosionsflächen oder
Abflussbereiche handelt.
Unstrittig ist, dass die Kontamination von Boden und
Wasser ein riesiges Problem ist, das wir in diesem Zusammenhang zu lösen haben.
An der Erforderlichkeit von Hochwasserschutzmaßnahmen besteht kein Zweifel. Noch weniger Zweifel besteht hier im Hause an der Schwierigkeit der Umsetzung.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, Herr Kollege
Petzold, dass die Länder konträre Positionen beziehen.
Unter den Vorschlägen des Bundesrates befinden sich
aber auch zustimmungsfähige, gute Ansätze. Es ist richtig, dass das BMU das Land Rheinland-Pfalz hervorhebt
und lobt. Dort wurde sehr viel und vielfältiges geleistet.
Viele wichtige Maßnahmen zum Hochwasserschutz, insbesondere am Rhein, stehen kurz vor der Vollendung.
Deswegen sollten wir die deutlichen Hinweise des Landes Rheinland-Pfalz zu diesem Gesetzentwurf auch sehr
ernst nehmen.
Mir ist es wichtig, zu erwähnen, dass der Erforderlichkeitsgrundsatz, wie er im rheinland-pfälzischen Gesetz steht, sicherlich eine gute Möglichkeit bietet, die
Kräfte zu konzentrieren. Ich schlage vor, diese Regelung
in unser Gesetz zu übernehmen. Das wird sicherlich eine
der wichtigen Fragen bei der Anhörung sein.
Mit einem Gesetz werden wir kein Hochwasser verhindern können, aber wir können die Anzahl und das
Ausmaß der Hochwasser verhindern und den Schaden
mindern. Ich glaube, das ist das, was die Menschen von
uns erwarten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Well
nich will dieken, mutt wieken. Für die nicht Plattdeutschkundigen unter Ihnen: Wer nicht deichen will,
muss weichen. Nach dieser Weisheit hat man bei uns im
Friesischen seit vielen hundert Jahren gelebt. Seit Urzeiten gibt es Fluten, gibt es Hochwasser. Wasser birgt Gefahren. Im Regelfall wissen die Menschen aber damit
umzugehen, zum Beispiel durch Deiche. Sie haben gelernt, sich zu wehren, das Wasser zu bändigen und sogar
zu nutzen. So wurden schon in der Antike Überschwemmungsgebiete für den Ackerbau genutzt. In Flussebenen
finden wir nach wie vor die wertvollsten Böden; dort
wird seit Jahrhunderten Landwirtschaft betrieben. Wasserbau und Landwirtschaft gingen stets Hand in Hand.
({0})
Aber, meine Damen und Herren, was sind schon fünftausend Jahre Wasserbaukultur gegen das Wissen unseres mit allen Wassern gewaschenen Umweltministers?
({1})
Sie, Herr Minister, präsentierten der verdutzten Öffentlichkeit eigene, völlig neue Erkenntnisse: Für den Hochwasserschutz müsse ein Ackerbauverbot her, und zwar
bis Ende 2012; über Entschädigungen verlieren Sie kein
Wort.
({2})
Man wolle den Bauern nichts Böses, erklärten Sie bei
der Vorlage des Gesetzentwurfs,
({3})
aber zukünftig habe Grünlandnutzung im Überschwemmungsgebiet erste Priorität. Sie wollen den Bauern also
nichts Böses - so, so. Ihr Gesetzentwurf spricht aber eine
andere Sprache: ideologisch, unwissenschaftlich, unhaltbar.
Hochwasserschutz muss sein. Darüber sind wir alle
uns einig. Das wissen wir aber nicht erst seit den verheerenden Flutkatastrophen des Jahres 2002. Herr Kollege
Herzog, diese hätten - zumindest in diesem Ausmaß vermieden werden können, wenn die vorhandenen Regelungen - wie für die Ausweisung von Bauflächen - beachtet worden wären. Deshalb hat zum Beispiel der
Deutsche Städte- und Gemeindebund festgestellt, dass es
keiner neuen Vorschriften bedarf.
({4})
- Jedenfalls brauchen wir keine Vorschriften, wie sie die
Bundesregierung jetzt plant. Denn ein wirksamer Hochwasserschutz wird damit nicht erreicht, aber die Existenz
unserer landwirtschaftlichen Betriebe wird damit gefährdet, und dies ohne jede Grundlage.
({5})
Bereits rechtlich ist dieser Entwurf unhaltbar. Das Urteil des Bundesrates lautet deswegen: nicht verfassungskonform. Das repressive Ackerbauverbot stellt einen
verfassungswidrigen Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum dar. Viele Mitglieder der Koalition, auch viele
von Ihnen, die heute anwesend sind, teilen diese Ansicht.
({6})
Nicht umsonst titelte die „Welt“ am 10. Juni 2004: „Koalitionskrach um Trittins Gesetz zum HochwasserGitta Connemann
schutz“. Es muss ein kräftiger Krach gewesen sein, denn
diese Vorlage wurde von der Tagesordnung genommen.
Leider wurde sie heute vollkommen unverändert wieder
draufgesetzt. Dabei hat der Bund nicht einmal die Kompetenz für dieses Machwerk, denn beim Hochwasserschutz handelt es sich um Gefahrenabwehr. Aber wen in
dieser Bundesregierung interessiert schon Kompetenz?
Wer will von Zuständigkeiten sprechen, wenn es um die
Sache geht?
Die Frage ist nur: Wessen Sache? Auf jeden Fall nicht
die Sache des Hochwasserschutzes, denn das geplante
Ackerbauverbot hat mit Hochwasserschutz nichts zu tun.
Mit dieser Meinung stehe ich nicht alleine. Ich zitiere
den rheinland-pfälzischen Staatsminister Gernot Mittler:
Ich habe noch niemanden getroffen, der erklären
kann, wie uns ein Ackerbauverbot ein Mehr an
Raum für den Rückhalt von Hochwasser schafft.
Ich auch nicht. Es wird auch niemand erklären können,
({7})
denn das Ackerbauverbot spricht gegen jede wissenschaftliche Vernunft. Auf Äckern kann wegen niedrigerer Abflusswerte mehr Regen versickern als auf magerem oder extensivem Grün- oder Ödland. Damit drängt
sich der Eindruck auf, dass wieder einmal mit pseudowissenschaftlichen Argumenten den Landwirten ihre
Produktionsgrundlage entzogen werden soll - mit negativen Folgen für die Natur.
({8})
Betroffen wären mit rund 900 000 Hektar etwa
7,5 Prozent des gesamten Ackerlandes in Deutschland;
dies käme einer Ertrags- und Vermögensvernichtung von
rund 4 Milliarden Euro gleich. Durch freiwillige Agrarumweltprogramme - gemeinsam mit der Landwirtschaft - kann für Boden- und Erosionsschutz in Überschwemmungsgebieten mehr getan werden. Aber an dieser Zusammenarbeit ist jedenfalls Ihnen, Herr Minister,
offensichtlich nicht gelegen. Das sieht übrigens auch der
Bundesrat so - ich zitiere -:
Mit der vorgesehenen Regelung wird ohne Not die
Kooperation mit der Landwirtschaft aufgegeben,
die aber … unabdingbar ist.
({9})
Selbst Frau Umweltministerin Höhn konstatiert: „Die
derzeit angedachte Regelung belastet die Landwirtschaft
über das wasserwirtschaftlich erforderliche Maß.“ Wo
die Ministerin Recht hat, hat sie Recht.
Es ließe sich an vielen anderen Beispielen zeigen,
dass es bei diesem Gesetzentwurf nicht um den Hochwasserschutz geht. Vielmehr sollen hier auf Kosten der
deutschen Landwirtschaft Wunschvorstellungen des Naturschutzes umgesetzt werden. Das ist für mich ein weiterer Frontalangriff auf den ländlichen Raum. Ich zitiere
hier auch die Mainzer Umweltministerin Margit Conrad:
Das Ackerbauverbot darf daher - in welcher Form auch
immer - nicht Gesetz werden.
({10})
Wir setzen auf zielorientierte, sinnvolle Maßnahmen
in Zusammenarbeit mit den landwirtschaftlichen Betrieben; denn wir wissen, dass es einen Natur- und damit
auch Hochwasserschutz nur mit und nicht gegen die
Landwirtschaft geben kann. Ich hoffe, dass Sie, die Mitglieder von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dies auch
vor der nächsten Lesung erkennen werden. Dieser Gesetzentwurf mit seinen Einschränkungen für die Landwirtschaft ist ein Irrweg. Wenn Sie den Bauern wirklich
nichts Böses wollen, dann
({11})
müssen Sie ihn ablehnen. Lassen Sie sich von Ihrem
Bundesminister nicht an die Leine nehmen!
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/3168 und 15/3214 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 15/2118.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1319 mit dem Titel „Den Flüssen mehr Raum
geben - Ökologische Hochwasservorsorge durch integriertes Flussgebietsmanagement“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/1561 mit dem Titel
„Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnenland“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1334 mit dem
Titel „Hochwasserschutz - Solidarität erhalten, Eigenverantwortung stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP und
Enthaltung von CDU/CSU angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Evaluierung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes
- Drucksache 15/3326 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Herren! Meine sehr verehrten Damen! Letztes Jahr haben wir in Versailles gemeinsam den 40. Jahrestag des
Élysée-Vertrages gefeiert. Ich habe das in vielen Gesprächen hinterher erfahren: Es war für uns alle ein bewegendes Erlebnis, als wir - deutsche und französische Abgeordnete - zusammen dort saßen und gemeinsam
unseren Chefs Jacques Chirac und Gerhard Schröder zuhörten.
Parallel dazu haben die beiden Parlamentspräsidenten
Wolfgang Thierse und Jean-Louis Debré vereinbart, die
Arbeit zwischen den Parlamenten zu verstärken. Als ersten Auftrag haben sie ganz konkret formuliert, eine
deutsch-französische Parlamentarierarbeitsgruppe
einzusetzen, die die Arbeit des Deutsch-Französischen
Jugendwerks der letzten 40 Jahre analysiert und Vorschläge für die zukünftige Arbeit unterbreitet.
Wir diskutieren heute über einen interfraktionellen
Antrag, in dem die Schlussfolgerungen dieser Parlamentarierarbeitsgruppe aufgegriffen werden, die sich seit
Oktober 2003 in monatlichem Rhythmus getroffen, Akteure und Verantwortliche des Deutsch-Französischen
Jugendwerks befragt und einen rund 40-seitigen Bericht
sowie elf Vorschläge vorgelegt hat.
Wir haben eben schon - die Frau Präsidentin hat es
gemacht - den Vizepräsidenten der Nationalversammlung Yves Bur, der gleichzeitig der französische Kopf
der deutsch-französischen Parlamentarierarbeitsgruppe
war, sowie unsere französischen Kollegen begrüßt. Wir
freuen uns, dass wir nächste Woche den Bericht, der von
der Arbeitsgruppe einvernehmlich und über Partei- und
Ländergrenzen hinweg erstellt wurde, beiden Präsidenten - also unserem Präsidenten Thierse und Präsident
Debré - in Paris übergeben dürfen.
Ich bedanke mich für die SPD-Fraktion an dieser
Stelle bei beiden Präsidenten ganz herzlich für diesen
Auftrag. Ich möchte mich auch bei meinen Kolleginnen
und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und der Assemblée nationale für die ungemein angenehme und
konstruktive Zusammenarbeit, die wir im letzten Dreivierteljahr miteinander haben durften, bedanken. Ich
wiederhole: über alle Partei- und Ländergrenzen hinweg.
({0})
Ich glaube, wir sind ein tolles Team geworden. Wir sind
sehr schnell zu gleichen Analysen und Vorschlägen gekommen. Wir waren so motiviert bei der Arbeit, dass wir
schon auf den nächsten Auftrag der beiden Präsidenten
hoffen.
Ich möchte an dieser Stelle dem Deutsch-Französischen Jugendwerk - die hier anwesenden beiden Generalsekretäre heiße ich herzlich willkommen - und den
langjährigen Mitarbeitern des Deutsch-Französischen
Jugendwerkes danken, von denen ich noch viele aus
meiner aktiven Zeit im Deutsch-Französischen Jugendwerk persönlich kenne. Ich danke auch den Partnerorganisationen, Verbänden und Institutionen, die es in den
letzten 41 Jahren geschafft haben, 7 Millionen Jugendliche zu motivieren, die deutsche bzw. französische Sprache zu lernen und die jeweils andere Kultur kennen zu
lernen.
Sich auf andere Kulturen einzulassen, sich mit anderen Kulturen auseinander zu setzen und vielleicht auch
die Geduld aufzubringen, sich mit Unterschieden intensiv zu beschäftigen und Verständnis dafür zu bekommen,
ist eine Grundlage für das, was wir kurz als Dialog der
Kulturen definieren. Das ist meiner Ansicht nach im
Deutsch-Französischen Jugendwerk vorzüglich geleistet
worden. Ich persönlich kann sagen: Ich habe in meinem
beruflichen Leben - sei es bei Greenpeace, sei es bei der
Arbeit im Auswärtigen Ausschuss - von dieser Erfahrung sehr profitiert. Ich denke, das werden auch andere
gemacht haben.
Der Élysée-Vertrag und das Deutsch-Französische Jugendwerk sind heute eine Erfolgsgeschichte; denn alle
Beteiligten haben es geschafft, die Versöhnung zwischen
Deutschland und Frankreich herzustellen. Für viele Jugendliche, auch Deutsche und Franzosen, ist es heute
vollkommen normal, miteinander in Europa zu leben.
Sie erinnern sich nicht mehr an die jahrhundertelangen
Kriege, die Deutsche und Franzosen gegeneinander geführt haben. Franzosen sind für Deutsche keine anderen
Europäer als Engländer, Dänen oder Italiener. Aber das
Wissen über die neuen EU-Staaten und ihre Menschen
ist bei uns „alten Europäern“ noch nicht so stark ausgeprägt.
Deshalb haben Deutsche und Franzosen gemeinsam
in Europa und der globalisierten Welt heute neue Aufgaben. Daraus folgt unsere Forderung nach einem Neuauftrag, nach einer Neubegründung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, das seinen bisherigen Auftrag
erfolgreich erfüllt hat, nämlich Versöhnung und Freundschaft zu schaffen. Es muss aber in einem neuen, komplexeren Umfeld im gesamteuropäischen Kontext und in
einer globalisierten Welt seine Aufgaben zuspitzen, präzisieren und vielleicht in einigen Teilen neu definieren.
Wir glauben, dass einerseits eine Erweiterung der
Programme mit Drittstaaten gerade in den neuen Beitrittsländern der EU erfolgen muss, damit wir genau diesen Mangel an Kenntnissen ausgleichen können. Wir
glauben aber auch, dass anderseits die Kontakte möglichst nachhaltig sein müssen und sowohl Aspekte des
interkulturellen Lernens, des Kennenlernens der Lebensweisen als auch die Motivation, die jeweils andere SpraMonika Griefahn
che zu lernen, beinhalten sollten. Sprache ist die Grundlage von Verständigung und Verstehen der anderen
Kultur. Es reicht eben nicht - das erleben wir heute sehr
oft -, dass Jugendliche aus diversen europäischen Ländern, eben auch Franzosen und Deutsche, miteinander
englisch sprechen. Wir stellen immer wieder fest, dass
die Unkenntnis der Sprache des anderen zu einem Mangel an Verständnis führt, und zwar nicht nur des sprachlichen Verständnisses, sondern auch des gegenseitigen
Verstehens.
Besonders deutlich ist mir das geworden, als ich eine
Gruppe eingeladen hatte, die, unterstützt durch die
Handwerkskammer Lüneburg, in die Partnerregion in
Rodez im Departement Aveyron gereist ist, um dort in
Betrieben - einem Karosseriehersteller, einer Bäckerei
und einem Restaurant - mitzuarbeiten, in der Familie zu
leben und das jeweils andere Land kennen zu lernen.
Diese Jugendlichen haben selbst erlebt, wie wichtig die
Sprache als Grundlage gerade für junge Berufstätige ist.
Alle kamen zurück und haben mir gesagt: Wir müssen
dringend Französisch lernen.
Dieses wird neben dem interkulturellen Leben ein
wichtiger Faktor für die immer stärkere Freizügigkeit
der Arbeitnehmer in Europa sein. Gerade für junge Berufstätige ist es wichtig, neben Englisch noch eine
zweite Sprache zu lernen. Sprachvermittlung ist daher
gleichzeitig mit dem interkulturellen Lernen eine große
Zukunftsaufgabe.
Wir haben unseren Bericht den beiden Regierungen
übermittelt. Wir haben mit dem Kuratorium des
Deutsch-Französischen Jugendwerkes über unsere
Schlussfolgerungen diskutiert und wir hoffen auf eine
konstruktive Umsetzung der Schlussfolgerungen durch
die beiden Regierungen, deren Aufgabe es ist, die Konkretisierung und die Neuausrichtung gemeinsam mit den
Kuratoriumsmitgliedern vorzunehmen und dem
Deutsch-Französischen Jugendwerk eine positive Zukunft zu bescheren. Ich glaube daran, dass es auch weiterhin eine wichtige Aufgabe für das Deutsch-Französische Jugendwerk gibt.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags kamen die Assemblée nationale und der Deutsche
Bundestag im Januar 2003 zu einer beeindruckenden
Begegnung in Versailles zusammen. Im Anschluss an
diese erste gemeinsame Plenarsitzung beriefen die Präsidenten Jean-Louis Debré und Wolfgang Thierse die erste
gemeinsame Arbeitsgruppe unserer beiden Parlamente,
die sich seit September letzten Jahres mit der Arbeit des
Deutsch-Französischen Jugendwerkes beschäftigt hat.
Für unseren Arbeitsauftrag gab es gute Gründe: zum
einen die einzigartige Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen in den letzten 40 Jahren, zu denen
das Deutsch-Französische Jugendwerk ganz wesentlich
und großartig beigetragen hat. Vielleicht ist es aber auch
gerade deshalb in der Erfolgsfalle. Die Hauptziele, die
dem Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963 gesetzt
wurden, erscheinen uns heute längst erreicht. Die Jugend
unserer beiden Länder hat sich gegenseitig kennen gelernt und entdeckt. Die Versöhnung und Verständigung
zwischen unseren Völkern sind durch Jugendaustausch
und vielfältige Begegnungen auf einer breiten gesellschaftlichen Basis erfolgt. Das mag einer der Gründe
sein, warum es Jahr für Jahr in unseren beiden Parlamenten schwieriger wird, den Haushaltsansatz für das
Deutsch-Französische Jugendwerk und die paritätische
Finanzierung durch beide Staaten durchzusetzen und zu
rechtfertigen.
Ein anderer Grund ist sicher - wir müssen das ganz
offen ansprechen -, dass der Anteil der Mittel, der für
die internen Strukturen des Deutsch-Französischen Jugendwerks aufgewendet wird, immer größer wird und
der Anteil, der für die Projektarbeit mit den Partnerorganisationen zur Verfügung steht, entsprechend kleiner
wird.
Die Strukturen des Deutsch-Französischen Jugendwerkes stammen aus dem Jahr 1963. Sie wurden 1973
leicht überarbeitet und bestehen seither unverändert fort.
Es ist an der Zeit, dem Deutsch-Französischen Jugendwerk neue Impulse und eine neue Arbeitsgrundlage zu
geben, die den Anforderungen eines erweiterten Europa,
aber auch des Binnenmarktes und der immer stärkeren
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtung
zwischen unseren beiden Ländern gerecht werden.
Obwohl die Jugendlichen die enge deutsch-französische Freundschaft heute als selbstverständlich empfinden, geht die Kenntnis der Sprache und Kultur des Nachbarn in beiden Ländern zurück. Deswegen müssen alle
Programme und Aktivitäten des Deutsch-Französischen
Jugendwerkes vorrangig Sprachvermittlung fördern
und zum Spracherwerb und interkulturellen Lernen motivieren.
In der Berufswelt des 21. Jahrhunderts wird Sprachkompetenz in mindestens zwei Fremdsprachen, also
einer Fremdsprache neben dem Englischen, zu einer
Schlüsselqualifikation. Natürlich kann das DeutschFranzösische Jugendwerk nicht die Aufgaben von
Schule und Hochschule übernehmen, aber es muss jungen Franzosen Lust auf Deutsch und jungen Deutschen
Lust auf Französisch machen, und zwar so früh wie
möglich.
Ich will etwas in Klammern anmerken, was mit dem
Thema nicht direkt zu tun hat. Vielleicht müssen wir bildungspolitisch in dieser Hinsicht viel ambitionierter
werden. Eigentlich müssen wir doch das Ziel haben, dass
Abiturienten heute mehrere Monate ihrer Schulzeit obligatorisch in einem europäischen Partnerland verbracht
haben. Dazu muss uns mehr einfallen als der Hinweis
auf die Länderkompetenzen und auf organisatorische
und finanzielle Schwierigkeiten.
({0})
Nicht nur jungen Akademikern eröffnen Sprachen Lebenschancen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk
muss stärker als bisher mit der Wirtschaft und ihren Verbänden Jugendliche auf handwerkliche und gewerbliche
Berufe in deutsch-französischen Unternehmen vorbereiten.
Die ökonomische Verflechtung unserer Länder wird
immer enger. Nicht nur große, sondern auch zahlreiche
kleine und mittlere Unternehmen suchen Mitarbeiter, die
sich sowohl in der deutschen als auch der französischen
Unternehmenskultur und Sprache zurechtfinden. Derzeit können 20 000 offene Stellen und Ausbildungsplätze nicht besetzt werden, weil es keine Bewerber mit
einer entsprechenden deutsch-französischen Qualifikation gibt.
Angesichts der derzeitigen Diskussion über die Vermittlung von Ausbildungsplätzen und Startchancen für
junge Berufsanfänger in unseren beiden Ländern, auf die
ich an dieser Stelle nicht näher eingehen will, liegt es auf
der Hand, Angebote zu realisieren, die jungen Menschen
den Berufseinstieg erleichtern. Zu anderen Schwerpunkten einer inhaltlichen Neuausrichtung werden nachher
noch andere Kollegen Stellung nehmen.
Wir müssen durch eine Neufassung des Abkommens
auch die Struktur des Deutsch-Französischen Jugendwerks verbessern und modernisieren. Das gilt für das
Verfahren zur Ernennung der Generalsekretäre und Stellvertreter, für die Zusammensetzung des Kuratoriums
und insbesondere für das Personalstatut. Der Status einer
internationalen Organisation mit einem eigenen Tarifmodell und einem eigenen, ziemlich undurchsichtigen
arbeitsrechtlichen Instrumentarium wurde seit 1963
nicht mehr angepasst und ist nicht mehr zeitgemäß.
Wenn Mitarbeiter der EADS auf der Basis des jeweiligen nationalen Tarif- und Arbeitsrechts von München
oder Friedrichshafen nach Toulouse oder Mitarbeiter
von Sanofi-Aventis von Frankfurt nach Paris und umgekehrt wechseln, dann muss das auch für die Mitglieder
des Deutsch-Französischen Jugendwerks zwischen Paris
und Berlin möglich sein.
({1})
Wie die Kollegin Griefahn eben ausgeführt hat, haben
wir in der Arbeitsgruppe zum Deutsch-Französischen
Jugendwerk über die Fraktionsgrenzen hinweg und ungeachtet der unterschiedlichen Arbeitssystematik in unseren beiden Parlamenten völlig unkompliziert und in
der Zielsetzung einig zusammengearbeitet. Wir unterbreiten unseren Regierungen einstimmig Vorschläge zur
Überarbeitung des Abkommens zum Deutsch-Französischen Jugendwerk. Dafür möchte ich mich auch bei unseren französischen Kollegen auf der Besuchertribüne
ganz herzlich bedanken.
({2})
Die erste gemeinsame Arbeitsgruppe unserer Parlamente ist ein gelungenes Experiment. Wir sollten diese
Form der Zusammenarbeit fortsetzen. Darüber, ob diese
Zusammenarbeit in einem ständigen Ausschuss erfolgen
soll, kann man streiten. Es gibt aber viele Zukunftsfragen, auf die wir in Deutschland wie in Frankreich eine
Antwort finden müssen. Zudem gibt es viele Fragen von
spezifisch deutsch-französischem Interesse, die wir in
gemeinsamen Enquete-Kommissionen oder Arbeitsgruppen mit einem befristeten Arbeitsauftrag besprechen
könnten.
Ein lohnendes Thema ist beispielsweise die deutschfranzösische Zusammenarbeit in der Medienpolitik. Wir
haben uns in dieser Woche gefragt, warum das Interesse
an der Europawahl so gering war. Viele haben in diesem
Zusammenhang das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit festgestellt. Es gibt trotz immer engerer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verflechtungen
Deutschlands und Frankreichs noch keine deutsch-französische Öffentlichkeit. Es gibt zwar den Kulturkanal
Arte; dieser wendet sich aber eher an ein elitäres Publikum.
Die Frage, wie wir solche Aspekte - vielleicht auch
zwischen unseren Parlamenten - mithilfe der öffentlichrechtlichen Medien verstärkt in der Öffentlichkeit
behandeln könnten, wäre ein lohnendes Thema. Wir
empfehlen den Präsidien unserer Parlamente, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und weitere Arbeitsgruppen ins Leben zu rufen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mes chers amis! Ich hätte nie erwartet, dass sich die
Französischkenntnisse, die ich nach dem Fall der Mauer
erworben habe - ich dachte: jetzt, da der ganze Westen
Europas auf mich zukommt, sollte ich vielleicht noch
eine westeuropäische Fremdsprache lernen -, nicht nur
für mich persönlich lohnen würden, sondern auch im
Deutschen Bundestag Früchte tragen, von dem ich damals auch nicht wusste, dass ich ihm eines Tages als
Mitglied angehören würde. Das heißt, Fremdsprachen zu
lernen kann eine große Bereicherung sein. Es geht nicht
nur darum, sich eine „nützliche“ Sprache auszusuchen,
sondern auch darum, etwas auszuwählen, das einem
fremd ist, damit es einen bereichern kann.
Wir haben in der Arbeitsgruppe Folgendes gemerkt:
Wir sind uns in zivilisatorischer Hinsicht sehr ähnlich;
das ist ganz klar. Man lebt schließlich ziemlich dicht beieinander auf demselben Kontinent und hat ungefähr das
gleiche Entwicklungsniveau. Aber wir sind uns doch ein
bisschen fremd. Die Mentalität und die Gewohnheiten
sind anders. Auch das Verhältnis zur Hierarchie ist ein
bisschen unterschiedlich. Am Ende stellt sich aber
heraus: Die Kleinigkeiten, die einen sonst veranlassen,
zu sagen „Na ja, die Deutschen!“ oder „Na ja, die Franzosen!“, sind eigentlich ganz unwichtig.
Jetzt spricht die Ostdeutsche: Wir haben das Gleiche
in Deutschland durchgemacht. Es gab lange Probleme
mit der Antwort auf die Frage, wie sich Ost- und Westdeutsche zusammenfinden sollten, nachdem sie eine
Weile getrennt gewesen sind. Die Mauer, die wir hatten,
war noch viel schlimmer als die sozusagen ganz normale
Grenze zwischen Frankreich und Westdeutschland. Wir
haben es geschafft, weil wir uns persönlich kennen gelernt haben und weil wir gemeinsam gearbeitet haben.
Wir hatten ein gemeinsames Projekt.
Genauso, finde ich, hat diese Arbeitsgruppe deutlich
gemacht, dass auch wir, die Franzosen und die Deutschen, in Europa ein gemeinsames Projekt haben. Wir
wollen nämlich zum Beispiel erreichen, dass Arbeitnehmer aus Deutschland und Frankreich ohne große Probleme in das jeweils andere Land wechseln können, um
in gemeinsamen Industriezweigen, die wir gemeinsam
weiterentwickeln wollen und in denen wir zu Global
Players werden wollen, mühelos Arbeit zu finden. Es
geht aber auch eine Nummer kleiner. Man kann sich zum
Beispiel vorstellen, dass deutsche Bauarbeiter eine Weile
in Frankreich arbeiten, wo die Baubranche im Moment
boomt. Das wäre kein Problem, wenn es nicht die
Sprachbarriere oder vielleicht die Scheu vor dem anderen gäbe. Was mich an dieser Arbeitsgruppe fasziniert
hat, sind die neuen Möglichkeiten, die wir uns - auch im
wirtschaftlichen Sinne - eröffnen können. Ich glaube,
dass das für junge Menschen hochgradig attraktiv ist.
Der Staat muss dafür sorgen, dass entsprechende Möglichkeiten geschaffen werden.
Zum Klima in der Arbeitsgruppe selbst: Sie sehen ja,
dass einige Kollegen zu dieser Debatte gekommen sind,
die ein besonderes Interesse an der deutsch-französischen Freundschaft hegen. Aber viele sind heute auch
nicht gekommen. Das mag einen guten und profanen
Grund haben: Unter dem Antrag, den wir jetzt beraten,
stehen die Namen aller vier Fraktionsvorsitzenden. Das
bedeutet, dass es keinen Streit gibt und dass alles geregelt ist. Um das, was geregelt ist, muss man sich ja nicht
mehr kümmern. So viel zur deutschen Mentalität.
Die Arbeitsgruppe hat sehr offen zusammengearbeitet. Das Ergebnis, das wir vorlegen, ist durchaus streitbar. Man soll sich nicht täuschen und denken, dass der
Bericht der Arbeitsgruppe nur deutsch-französisches Larifari oder wohlmeinendes, hochtrabendes Gerede über
die deutsch-französische Freundschaft enthält, weil die
Namen aller vier Fraktionsvorsitzenden darunter stehen.
Dieser Bericht mit seinen Empfehlungen, den wir dem
Parlamentspräsidenten übergeben, ist durchaus eine sehr
kritische Würdigung, die in keiner Weise die bisherige
Arbeit des Deutsch-Französischen Jugendwerkes herabwürdigen will - diese wird entsprechend honoriert -,
sondern die darauf aufmerksam macht, dass es Ernst mit
Europa wird. Wer es ernst meint, der muss offen und
ehrlich im Umgang sein, der muss zusammenarbeiten
und es sogar schaffen, sich neue Projekte zu suchen. Das
haben wir geleistet.
Das Klima in dieser Arbeitsgruppe war außerordentlich produktiv, weil wir es uns erlaubt haben, sehr offen
und ehrlich mit den Problemen, vor denen wir standen,
umzugehen. Ich kann eigentlich nur jedem Kollegen sowohl in der Assemblée nationale als auch im Bundestag
empfehlen, einmal an einer solchen Arbeitsgruppe teilzunehmen; denn es verbessert das eigene Befinden deutlich, wenn man merkt, dass man so produktiv über
Partei-, Länder- und Mentalitätsgrenzen hinweg zusammenarbeiten kann.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen!
Vertrauen schenken ist ein Zeichen des Mutes, treu
sein ein Zeichen von Stärke.
Dieses Wort von Marie von Ebner-Eschenbach kennzeichnet die Aktivitäten des 1963 gegründeten DeutschFranzösischen Jugendwerks, das für die Aussöhnung
von Frankreich und Deutschland Entscheidendes geleistet hat. Vor 40 Jahren ging es tatsächlich um ein Zeichen
des Mutes, uns gegenseitig Vertrauen zu schenken. Auch
heute ist es mehr denn je wichtig, den Mut zur konkreten
Verwirklichung der europäischen und insbesondere der
deutsch-französischen Freundschaft nach dem Vorbild
der Gründerväter Europas aufzubringen.
Für die junge Generation ist diese Freundschaft heute
eine selbstverständliche Tatsache geworden. Das Vermächtnis von Adenauer und de Gaulle müssen wir weiter tragen ganz im Sinne jenes französischen Sprichwortes, das lautet:
Tradition heißt nicht, die Asche aufzubewahren,
sondern die Flamme am Brennen zu halten.
Wie kann die Flamme am Brennen gehalten werden,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn die Nachwuchsgeneration die jeweilige Sprache des Nachbarlandes immer seltener spricht? Die Sprache ist aber der
Schlüssel zum Verständnis, sie ermöglicht die Entdeckung der anderen Kultur, sie baut Brücken auf.
Die deutsch-französische Freundschaft besitzt Modellcharakter in der erweiterten Europäischen Union.
Das kann man nicht hoch genug schätzen. Andere Länder in der EU verweisen bei der Verarbeitung ihrer gemeinsamen schwierigen Geschichte immer wieder auf
die Versöhnung und Zusammenarbeit unserer beiden
Länder Deutschland und Frankreich.
Während einer von unserer Arbeitsgruppe durchgeführten Anhörung konnten wir erfahren, dass zurzeit
circa 20 000 Arbeitsplätze mit deutsch-französischem
Bezug unbesetzt bleiben. In unserer aktuellen Arbeitsplatzlage ist diese Zahl unakzeptabel. Warum sind diese
20 000 Arbeitsplätze frei? Die Antwort ist banal: Weil
die Arbeitgeber keine Bewerber finden, die beide Sprachen so gut beherrschen, dass sie in einem deutsch-französischen Umfeld arbeiten können. Das ist umso besorgniserregender, als Frankreich nach wie vor unser erster
Wirtschaftspartner ist.
Um diesen Herausforderungen zu entsprechen, brauchen unsere beiden Länder ein reformiertes, auf den
wechselweisen Spracherwerb und gegenseitiges Begegnen orientiertes Deutsch-Französisches Jugendwerk.
Seit 40 Jahren leistet das DFJW - das will ich an dieser
Stelle in aller Deutlichkeit betonen - eine hervorragende
Arbeit. Das DFJW ist 40 geworden, aber auch seine Umgebung hat sich gewandelt. Das Jugendwerk von 1963
entspricht den heutigen schon erwähnten Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr.
Der heute zu verabschiedende interfraktionelle Antrag konstituiert einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Damit ist es jedoch nicht getan. Es müssen weitere
entscheidende Schritte folgen. Dazu gehören insbesondere ein nachhaltiges Engagement unserer Jugendlichen,
gemeinsame konkrete deutsch-französische Projekte und
langfristige Austauschprogramme.
All das, was wir heute im Parlament beschließen,
muss auf eine tiefer gehende beidseitige Sensibilisierung
abzielen. Unser Appell richtet sich an unsere jungen
Deutschen und Franzosen, die für dieses Unterfangen
auch Risikobereitschaft zeigen müssen und sich nicht
auf den Lorbeeren ihrer Väter ausruhen dürfen. Gleiches
gilt auch für uns Politiker.
An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen deutschen und französischen Kollegen für die freundschaftliche Zusammenarbeit in dieser ersten interparlamentarischen Arbeitsgruppe sehr herzlich bedanken. Es war für
mich und sicher für uns alle eine ganz besondere europäische Erfahrung.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Hagedorn,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Als die Präsidien und Parlamente Deutschlands und Frankreichs die Überprüfung der Aufgaben,
der Arbeitsweise und der Effizienz des Deutsch-Französischen Jugendwerks beschlossen, hatten meine Kollegin Antje Hermenau und ich als zuständige Haushälterinnen trotz schwierigster Haushaltsberatungen unter
dem Eindruck des 40. Jahrestages der deutsch-französischen Freundschaft gerade die Aufstockung der Mittel
des Jugendwerkes um 3 Millionen Euro im Haushalt
2003 verankert.
({0})
Dieses Geld wurde mangels der notwendigen Kofinanzierung durch Frankreich nie ausgegeben, aber unsere
Mitwirkung in der parlamentarischen Arbeitsgruppe war
damit vorgezeichnet.
Es ist klar, dass unser beider Aufgabe schwerpunktmäßig der Blick auf die Finanzausstattung und die Mittelverwendung war; denn schließlich verfügt das
Deutsch-Französische Jugendwerk seit über drei Jahrzehnten über einen relativ konstanten Haushalt von circa
23 Millionen Euro im Jahr, der zu gleichen Teilen aus
beiden Ländern finanziert wird - eine Menge Geld, das
die Vielzahl von Jugendbegegnungen und Austauschprogrammen seit 1963 erst ermöglicht hat.
Dieser Etat ist jedoch im Laufe der Jahre faktisch geschrumpft, da er nicht an die Kostenentwicklung angepasst wurde, obwohl die Aufgaben des Jugendwerkes
beständig wuchsen. Der Haushalt wurde - so will es das
Konstrukt des Deutsch-Französischen Jugendwerkes als
internationaler Organisation - ohne parlamentarische
Kontrolle durch das Kuratorium beschlossen. Problematisch ist darum, dass dieses Kuratorium aus bestimmten
Gründen zwei Jahre lang gar nicht tagte.
Im Laufe der Zeit, so stellten wir Parlamentarier aus
Deutschland und Frankreich in unserem Bericht übereinstimmend fest, hat sich im Etat des Deutsch-Französischen Jugendwerkes ein durchaus unausgewogenes Verhältnis zwischen den Ausgaben für Personal und
Verwaltung einerseits und der inhaltlichen Arbeit für die
Jugendprojekte andererseits entwickelt. Das - da sind
wir alle einer Meinung - muss sich ändern.
In dem vorliegenden Bericht, der durchaus ein ehrgeiziges Reformprojekt skizziert, gibt es elf Kernforderungen, zu denen wir gemeinsam gekommen sind. All
denjenigen, die diesen Bericht lesen, mag jene Passage
auffallen, in der es um die strikte Einhaltung der allgemeinen Haushaltsgrundsätze und um die wirtschaftliche
und sparsame Verwendung öffentlicher Gelder geht.
„Eine Selbstverständlichkeit“ werden Sie, meine Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, wahrscheinlich
sagen. Aber leider ist das nicht so, wie die detaillierte
Beschäftigung mit Haushalts- und Stellenplänen, mit
Jahresrechnungen und Prüfbemerkungen der letzten
Jahre durch uns ergab. Ausschreibungs- und Vergaberecht müssen künftig ernst genommen und die Einführung der Kosten-Leistungs-Rechnung sollte umgesetzt
werden. Moderne Steuerungsinstrumente sollen im Finanzmanagement helfen, Transparenz herzustellen und
die Ausgaben auf die tatsächlichen Haushaltsansätze zu
beschränken.
Entscheidend wird aber sein, dass es durch eine Überarbeitung des deutsch-französischen Abkommens gelingt, das internationale Statut des Deutsch-Französischen Jugendwerkes durch eine zwischenstaatliche
Organisationsform abzulösen, und dass das Personalstatut modernisiert und um die vielen Ausnahmebestimmungen entschlackt wird.
Vor allem aber ist es unumgänglich, dass ein sehr
kleiner und effektiver Verwaltungsrat mit Beteiligung
der Geldgeber, also der Parlamente, die Reform des
Deutsch-Französischen Jugendwerkes künftig eng begleitet und insbesondere im Haushaltsrecht EntscheidunBettina Hagedorn
gen trifft. Die vielen Vertreter von Vereinen, Verbänden
und Organisationen hingegen sollen im Kuratorium auch
künftig mit ihrem fachlichen Know-how inhaltlich wirken und kreative Ideen zur Umsetzung bringen.
Die organisatorischen und strukturellen Veränderungen im Deutsch-Französischen Jugendwerk sind aber
kein Selbstzweck. Ziel ist es, dass ein größerer Teil des
zur Verfügung stehenden Geldes der Arbeit mit den und
für die jungen Menschen zugute kommt. Dann und nur
dann - da sind wir einig - befürworten wir in der Zukunft eine einvernehmliche Erhöhung des Haushaltsansatzes für das Deutsch-Französische Jugendwerk, damit
die Herausforderungen seiner erweiterten Aufgabe in
einem zusammenwachsenden Europa bewältigt werden
können. Eine europäische Identität erreichen wir vor
allem über die gezielte Kooperation der Jugend. Dabei
gebührt der Stärkung des bürgerschaftlichen, des friedenssichernden, des sozialen und ökologischen Engagements ein besonderer Stellenwert.
({1})
Das Deutsch-Französische Jugendwerk soll die Jugend Deutschlands, Frankreichs und Europas künftig offensiv ansprechen. Es reicht nicht, festzustellen, dass die
Freude am Spracherwerb und das Interesse an der anderen Kultur nachlassen. Die Motivation für eine gemeinsame europäische Zukunft in kultureller Vielfalt muss
geweckt werden. Mit anderen Worten: Dafür muss aktiv
geworben werden.
Medien und Internet ersetzen keine persönliche Begegnung. Sie können aber Hilfsmittel sein, mit denen
man die Jugend vor allem dann erreicht, wenn man sie
selbst kreativ machen lässt, anstatt die Gestaltung vermeintlichen Profis teuer zu überlassen. Eine stärkere
echte Beteiligung der Jugend an Projekten für die Jugend, auch das ist eine notwendige Kernforderung unserer Arbeitsgruppe.
({2})
Ich muss zum Ende kommen. Dem Deutsch-Französischen Jugendwerk wünsche ich eine gute Zukunft in einem zusammenwachsenden Europa. Allen, die an dem
spannenden Reformprozess Anteil haben werden, rufe
ich den Satz unseres ehemaligen Bundespräsidenten
Gustav Heinemann in Erinnerung:
Leben ist Veränderung. Wer sich nicht verändert,
wird auch verlieren, was er bewahren möchte.
Vielen Dank.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Suche
nach einem Ereignis, das mir in der nun fast sechsjährigen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag besonders
im Gedächtnis geblieben ist, gehen meine Gedanken zurück in den Januar 2003, als wir zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen der Assemblée nationale in Versailles tagten.
Das war nicht nur ein optisch beeindruckendes Ereignis, es war auch eine gute Grundlage und ein guter Ansatz, ein Stück Selbstverständlichkeit in den bilateralen
Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Frankreich, ein Stück Selbstverständlichkeit deutscher und französischer Außenpolitik wieder ins Bewusstsein sowohl der Kolleginnen und Kollegen der
beiden Parlamente als auch der deutschen und französischen Öffentlichkeit zurückzurufen.
Wir sind uns vermutlich darüber einig, meine Damen
und Herren, dass nichts so gut ist, als dass es nicht noch
verbessert werden könnte. Wenn etwas selbstverständlich geworden ist, so schön das auch ist, dann birgt das
natürlich die Gefahr, dass etwas zur Routine erstarrt. Insofern war es richtig, dass die Präsidien der beiden Parlamente die Initiative ergriffen und eine binationale
Arbeitsgruppe eingerichtet haben, die sich mit dem
Thema befasst hat: Was ist nach 40 Jahren im DeutschFranzösischen Jugendwerk möglicherweise zu verbessern?
Schön ist, festzustellen, dass in den über 40 Jahren
des Bestehens dieses Jugendwerks gut 7 Millionen Begegnungen zwischen Deutschland und Frankreich ermöglicht worden sind. So hat das Deutsch-Französische
Jugendwerk auch einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und
Frankreich keine akademische Veranstaltung geblieben
sind, sondern dass sich tatsächlich Menschen oder Vereine begegnet sind, dass man sich auch auf der ganz normalen kommunalen Ebene begegnet und Freundschaft
pflegt.
Wenn wir einen Blick in die Emnid-Studie von 2002
werfen, die das Deutsch-Französische Jugendwerk selbst
in Auftrag gegeben hat, dann stellen wir allerdings fest,
dass die Neigung, die Sprache des Nachbarstaates zu erlernen, eher zurückgegangen ist, und zwar auf beiden
Seiten, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich.
Diejenigen, die von sich sagen, sie hätten ein bewusstes
Interesse an der Sprache des Nachbarlandes, machen gerade noch 25 Prozent derjenigen aus, die befragt worden
sind. 16 Prozent - im Zweifelsfall müsste ich mich ehrlicherweise dazu zählen - sagen, dass die Kenntnisse der
Sprache des Nachbarlands nach eigener Einschätzung
als mittelmäßig zu qualifizieren wären.
Deswegen ist es folgerichtig, wenn man beim Spracherwerb, bei den Sprachkenntnissen ansetzt, weil das
letztlich die Basis ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sie alle kennen das aus Ihren Wahlkreisen. Wenn Sie
sich mit denjenigen unterhalten, die beispielsweise Städtepartnerschaften ins Leben gerufen haben, dann erfahren Sie, dass sich trotz der Tatsache, dass man die Sprache des anderen auch nach 40 Jahren noch nicht spricht,
an der besonderen Herzlichkeit der Begegnung nichts
geändert hat. Wir sind uns aber vermutlich darüber einig,
dass es mit Kenntnis der Sprache des Nachbarlandes
doch etwas einfacher wäre.
Wir können uns beispielsweise dem Ziel zuwenden,
gemeinsame Foren für gesellschaftliches Engagement
zu bilden und dort nach Verbesserungsmöglichkeiten zu
suchen. Wir können etwa der Frage nachgehen - ich
wähle ein Beispiel aus unserem Fachressort -, worin die
Schwierigkeiten beim Europäischen Freiwilligendienst
begründet sind, weil das nicht am fehlenden guten Willen, sondern an den unterschiedlichen Sozialversicherungssystemen scheitert. Man könnte die funktionierenden Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich
zur Grundlage nehmen und ausprobieren, ob man im bilateralen Verhältnis mit Frankreich eine Lösung erarbeiten kann, die anschließend auch eine tragfähige Basis für
die Partnerschaft mit anderen europäischen Staaten bilden kann. Wenn wir so etwas schaffen, haben wir, glaube
ich, einen wesentlichen Beitrag geleistet.
Die deutsch-französischen Beziehungen sind zu
Recht immer wieder als modellhaft für den Bau des gemeinsamen Hauses Europa gewürdigt worden. Sie sind
es zweifelsohne auch. Wenn uns in einiger Zeit die ersten Ergebnisse der Neustrukturierung des Deutsch-Französischen Jugendwerks vorliegen, sollten wir das zum
Anlass nehmen, einen Schritt weiter zu gehen, andere
Jugendwerke und vergleichbare Einrichtungen nach denselben Grundsätzen zu überprüfen, aber auch einen Gedanken daran zu verschwenden, ob die Erfahrungen, die
wir in 40 Jahren hier gemacht haben und die gut waren,
auch Grundlage für ähnliche Einrichtungen beispielsweise mit den Staaten Mittel- und Osteuropas sein können.
({0})
Wir als Deutscher Bundestag geben heute unserer Regierung einen Auftrag und das französische Parlament
wird Entsprechendes am 23. Juni in der Assemblée nationale tun. Bei aller verständlichen Begeisterung für
Deutschland und Frankreich sind unser aller Augen in
diesen Tagen aber vermutlich auf ein anderes europäisches Land besonders gerichtet, nämlich auf Portugal.
Lassen Sie mich deshalb mit einem Satz schließen, der
sich insbesondere an unsere französischen Gäste wendet.
Mit Blick auf den heutigen Abend rufe ich Ihnen zu:
Bonne chance! Allez les Bleus!
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/3326 mit
dem Titel „Evaluierung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Büttner ({1}), Arnold Vaatz, Wolfgang
Bosbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Jährliche Debatte zum Stand der Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SEDDiktatur
- Drucksache 15/2818 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor
51 Jahren verhängte die sowjetische Militäradministration über 167 Land- und Stadtkreise der DDR den
Ausnahmezustand. In weit über 1 000 Betrieben und Genossenschaften kam es zum Streik. Über 1 Million Menschen beteiligten sich an diesem Volksaufstand. Sie erstürmten über 250 öffentliche Gebäude, darunter fünf
MfS-Kreisdienststellen und zwei SED-Bezirksleitungen.
Die Menschen versammelten sich auch vor Gefängnissen, denn sie hatten das Ziel, die politischen Häftlinge
zu befreien. Aus zwölf Haftanstalten sind knapp
1 400 Häftlinge befreit worden, von denen allerdings einen Monat später schon wieder 1 200 eingesperrt waren.
Die anderen konnten in den Westen flüchten.
Die Hauptforderungen im gesamten Land lauteten:
Nieder mit der SED! Freie Wahlen! Freilassung aller
politischen Häftlinge! - Vorsichtig wurde auch der Gedanke der Wiedervereinigung geäußert. Daneben waren
in allen Orten sozialpolitische Fragestellungen virulent,
die den Arbeits- und Lebensalltag betrafen.
Die Vorkommnisse nutzte die politische Führung,
um für eine harte Bestrafung der Angeklagten zu plädieren. Ein Beispiel: Der selbstständige Fotograf Lothar
Markwirth wurde von den Staatsorganen zum Haupträdelsführer bei den Ereignissen in der Dienststelle des
MfS in Niesky, einer kleinen Stadt in der Nähe der
deutsch-polnischen Grenze, abgestempelt. Per Gnadenentscheid vom 28. August 1956 wurde seine lebenslange
Haftstrafe in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt. 1964 erfolgte seine Entlassung als Letzter von den Verurteilten
des 17. Juni 1953. Er saß also elf Jahre in Haft.
Obwohl die Ereignisse um den 17. Juni von der SEDFührung als faschistischer Putschversuch abgetan wurden und an den Schulen und in der Öffentlichkeit keine
ernsthafte Auseinandersetzung erfolgte, lebte dieses ErMaria Michalk
eignis in den Köpfen vieler Menschen als Zeichen der
Hoffnung weiter. Erst nach dem Untergang des SED-Regimes und der Öffnung der Archive wurde das ganze
Ausmaß der damaligen Proteste deutlich. Der Gedenktag
soll den Mut und den Freiheitswillen der damaligen
Menschen im Bewusstsein der heutigen Menschen wach
halten. Wir als Parlament wollen zugleich immer wieder
nachfragen, wie wir den Opfern der SED-Diktatur insgesamt rechtliche Rehabilitierung und materielle Entschädigung zukommen lassen können.
Dass die Aufarbeitung des SED-Unrechts für die
Menschen selbst noch nicht abgeschlossen ist, sehen wir
an dem ungebrochenen Wunsch, in ihre Akten Einsicht
zu nehmen. Deshalb ist es wirklich positiv zu bewerten,
dass fraktionsübergreifend die Antragsfrist weiter verlängert wurde. Auch dass die Ausgleichsleistungen im
Beruflichen Rehabilitierungsgesetz zum 1. Januar dieses
Jahres erhöht wurden, ist ein richtiges Signal. Aber machen wir uns nichts vor: Viele Menschen, die besondere
Schicksale erlittenen haben, leben bescheiden von der
Grundsicherung und verstehen die Welt nicht mehr,
wenn sie lesen müssen, dass ihren damaligen Peinigern
monatliche Renten gezahlt werden - ja, gezahlt werden
müssen -, von denen sie nur träumen können.
Wir wissen, dass nicht alles erlittene Unrecht ungeschehen gemacht werden kann; ein hundertprozentiger
Ausgleich ist in diesem Leben wohl nicht möglich. Wir
haben aber die Aufgabe, nicht nachzulassen in dem Bemühen, den tatsächlichen Ausgleich zu hinterfragen und
zu verbessern.
({0})
Dazu gehören ideelle Gesten und materielle Leistungen.
Im ersten Punkt sind wir uns mit der Regierungskoalition wohl einig, im zweiten bisher leider nicht. Wir müssen mehr für die Opfer der SED-Diktatur tun. Der heutige Gedenktag erinnert uns auch an die Verpflichtung,
zur historischen Aufarbeitung beizutragen und die Verantwortung für die Gegenwart zu übernehmen.
Ich will es so tun: Freie Wahlen, sagte ich, lautete
damals eine Forderung. Sie sind seit 14 Jahren im vereinten Deutschland für alle Menschen erreicht. Bei der
heutigen Bekanntgabe des amtlichen Ergebnisses der
Kommunalwahlen vom letzten Sonntag müssen wir feststellen, dass rund die Hälfte der Wahlberechtigten von
ihrem Wahlrecht aktuell leider keinen Gebrauch gemacht hat. Das Recht auf freie Wahlen schließt wohl
auch das Recht, nicht wählen zu gehen, ein. Aber was ist
das für ein Signal? Die Geschichte lehrt uns, solche Signale sehr ernst zu nehmen. Auch das ist ein Vermächtnis der Frauen und Männer des 17. Juni an uns alle.
Wir bekunden allen Opfern gegenüber unseren ehrlichen Respekt und unsere Dankbarkeit für ihren Mut und
setzen uns unvoreingenommen und unbürokratisch immer wieder für eine bessere Entschädigung ein, bis sie
uns wirklich gelungen ist.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim
Hacker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Bevor ich auf den Antrag der Unionsfraktion eingehe, möchte auch ich gern an das historische
Datum 17. Juni 1953 erinnern. Am heutigen Tag jährt
sich zum 51. Mal der Volksaufstand in der DDR. Am
17. Juni 1953 erhoben sich Menschen in der DDR und
demonstrierten für Freiheit, Demokratie und die Herstellung der deutschen Einheit. Ausgangspunkt für den
Volksaufstand - auch das sollte noch einmal in Erinnerung gerufen werden -, der von der Arbeiterschaft der
DDR - der im SED-Duktus sozial gesehen führenden
Kraft der Gesellschaft - ausging, war die von der SED
am 14. Mai 1953 beschlossene Erhöhung der Arbeitsnormen. Dieser Kurs wurde zwar korrigiert und durch
einen so genannten neuen Kurs ersetzt; die von der SED
vorgenommenen Korrekturen an den Beschlüssen konnten jedoch den Protest nicht aufhalten.
Bereits im Vorfeld des 17. Juni 1953 gab es Demonstrationen mit Tausenden Beteiligten. Der Höhepunkt
war jedoch der Demonstrationszug, der von den Bauarbeitern der Stalinallee in Ostberlin ausging und von Sowjetpanzern niedergewalzt wurde. Für die für Freiheit
und Demokratie streikenden Bauarbeiter der Stalinallee, die Stahlarbeiter von Hennigsdorf und die anderen
Demonstranten verband sich mit ihrer Auflehnung gegen
das politische System in der DDR der Ruf nach der
deutschen Einheit.
Viele haben für ihren mutigen Einsatz für Freiheit und
Demokratie schwer bezahlen müssen. Sie wurden eingesperrt, lange beruflich benachteiligt oder durch den Waffeneinsatz getötet. Ihnen allen gilt unser Respekt und unsere Achtung.
Der Volksaufstand am 17. Juni in Ostberlin und in vielen anderen Städten der DDR endete tragisch. Dennoch:
Das Vermächtnis der mutigen Frauen und Männer ist erfüllt. Die friedliche Revolution 1989 in der DDR und
die Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober
1990 stehen in einem geschichtlichen Kontext mit dem
17. Juni 1953. Für uns alle bleibt es Verpflichtung, die
Ereignisse des 17. Juni im Geschichtsbewusstsein unseres gesamten Volkes lebendig zu halten. Daraus erwächst für uns auch die Verantwortung, Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Diese Lehre aus unserer
jüngsten deutschen Geschichte müssen wir an die folgenden Generationen weitergeben.
Gegenüber den Opfern der SED-Diktatur trägt die Politik in Deutschland Verantwortung. Dazu gehört, sie, soweit es geht, von den Folgen der politischen Verfolgung
zu befreien. Der Gesetzgeber hat diese Aufgabe nach der
Wiedervereinigung angepackt. Bereits die demokratisch
gewählte letzte Volkskammer hat sich mit diesem Thema
beschäftigt. Wir haben Rehabilitierungsgesetze verabschiedet, nach denen die strafrechtlichen Unrechtsmaßnahmen aufgehoben und Verfolgte entschädigt werden
können. Eine Rehabilitierung war und ist ebenso für im
verwaltungsrechtlichen und beruflichen Bereich erlittene
politische Verfolgung möglich.
Bis hierhin - ich spreche jetzt insbesondere Sie,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union,
an - stimmen wir sicherlich überein. Auch das sage ich
an dieser Stelle: Hierfür haben wir in den letzten 14 Jahren nach der deutschen Einheit in Bonn und Berlin gestritten und hier haben wir uns gemeinsam engagiert.
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Union, Sie wissen, dass die unter Ihrer politischen Verantwortung gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner
FDP vorgelegten Gesetze in diesem Bereich offensichtlich Regelungsdefizite hatten. Das ist doch unbestritten.
({0})
Auf die damaligen Änderungsanträge der SPD-Bundestagsfraktion sind Sie nicht eingegangen. Ich sage es hier
einmal auf den Punkt gebracht, Frau Michalk: Es wäre
richtig gewesen, wenn die damalige Bundesregierung in
den 90-er-Jahren Berichte über den Stand der Rehabilitierung und die Situation der Opfer vorgelegt hätte.
Es ist ebenso richtig, dass wir im letzten Jahr die Antragsfristen für die drei Rehabilitierungsgesetze nochmals - es war nicht das erste Mal - bis zum 31. Dezember 2007 verlängert haben. Ebenso sind die Beträge
- dies wurde richtigerweise ausgeführt -, die Antragsberechtigte erhalten können, wenn eine berufliche Rehabilitierung erfolgt ist, in einem bescheidenen Maße angehoben worden. Richtig ist doch aber auch, dass die
meisten betroffenen Menschen zum Glück Anträge gestellt haben und der größte Teil der Rehabilitierungsanträge abgearbeitet worden ist. Das war immer der Sinn
der Gesetzgebung und das Interesse aller Fraktionen im
Deutschen Bundestag.
Wir haben heute also den Sachverhalt zu verzeichnen,
dass die meisten Anträge abgearbeitet sind und wir mit
dem Zweiten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der DDR aus dem Jahre 1999 die offensichtlichen Defizite Ihrer Gesetzgebung - da schaue ich einmal
ganz bewusst in Richtung FDP; die FDP hatte damals ja
die Verantwortung im Justizministerium - beseitigt haben. Ich erinnere an die einheitliche Erhöhung der Haftentschädigung auf 600 DM, an die Einführung sozialer
Ausgleichsleistungen für nächste Angehörige von Hingerichteten, an der Mauer Umgekommenen oder an den
Folgen der politischen Haft Verstorbenen und an die
deutliche Aufstockung der finanziellen Mittel für die
Stiftung für ehemalige politische Häftlinge.
({1})
- Herr Büttner, 300 000 DM unter Ihrer Regie stehen
1,5 Millionen DM pro Jahr unter unserer Verantwortung
gegenüber.
({2})
Darüber hinaus haben wir mehrfach Millionenbeträge
zur Verfügung gestellt, um dem Schicksal der Betroffenen, die über diese Stiftung Leistungen erhalten, gerecht
zu werden.
Auch heute - ich wende mich jetzt ganz direkt an die
Betroffenen, an die Opfer der SED-Diktatur und an die
Verbände, die deren Interessen auch gegenüber der Politik wahrnehmen - gilt der Appell der SPD-Bundestagsfraktion an die SED-Opfer, die noch keinen Antrag gestellt haben: Nehmen Sie Ihr Recht in Anspruch! Wir
alle aus dem Deutschen Bundestag wollen, dass Sie zu
Ihrem Recht kommen, dass Sie rehabilitiert werden und
dass Sie die gesetzlichen Leistungen erhalten, die der
Bundesgesetzgeber festgelegt hat.
({3})
Ich frage mich, was die Union mit ihrem Antrag eigentlich beabsichtigt, in dem sie die Bundesregierung
auffordert, jährlich einen Bericht zum Stand der Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur
vorzulegen. Es ist keine Vermutung, sondern durch Ihr
Agieren in den letzten Jahren bewiesen, dass Sie bewusst eine bestimmte Gelegenheit schaffen wollen, um
immer wieder eine Diskussion über die angeblichen Ungerechtigkeiten gegenüber den Opfern der SED-Diktatur
zu führen. Wenn es denn solche gegeben hat - ich unterstreiche, dass es die gegeben hat -, dann haben Sie selbst
während Ihrer Regierungsverantwortung diese Ungerechtigkeiten geschaffen. Ich habe auf die entsprechenden Punkte hingewiesen; ich will das an dieser Stelle
nicht wiederholen.
Hinter Ihren Überlegungen steht in Wirklichkeit das
Ziel, auf dem Rücken der Opfer der SED-Diktatur eine
Auseinandersetzung mit der Bundesregierung und mit
den Koalitionsfraktionen zu führen. Das ist der eigentliche Hintergrund Ihres Agierens.
({4})
Ich sage dazu ganz pointiert: Das ist doppelzüngig, weil
Sie nach dem eigenen Versagen in der Rehabilitierungsgesetzgebung jetzt die rot-grüne Bundesregierung und
die Koalitionsfraktionen gegen die Opfer und ihre Verbände ausspielen wollen. Aber wir waren es - ich wiederhole das -, die Ihre Fehler in der Rehabilitierungsgesetzgebung bereinigt haben.
Zum Schluss möchte ich versuchen, einen Konsens zu
finden. Ein positives Signal zu Ihrem Antrag kann es aus
der heutigen Debatte und den weiteren Erörterungen in
den Ausschüssen nur dann geben, wenn die gesamte Gesellschaft - insbesondere die Verantwortlichen in den
Schulen und anderen Bildungseinrichtungen - die
Geschichte des Widerstandes gegen die SED-Diktatur
wach hält. Das Schicksal der Opfer darf nicht vergessen
werden. Wir müssen aus dieser geschichtlichen Erfahrung ableiten, dass Freiheit und Demokratie in Deutschland am besten dadurch verteidigt werden, dass sich
möglichst viele Menschen in unserem Gemeinwesen
engagieren, sich auch an Wahlen beteiligen und gegen
jegliche Erscheinungsformen von Intoleranz und Demokratiefeindlichkeit zusammenstehen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der 17. Juni 1953 präsentierte der gesamten Weltöffentlichkeit die brutale Gewalttätigkeit der zweiten deutschen Diktatur. Der 17. Juni ist ein Tag, an dem wir alle
uns daran erinnern, dass die DDR nicht so war, wie es
heute in vernebelnder und verklärender Ostalgie in Fernsehsendungen, in Filmen und auf Veranstaltungen oft
scheint.
„Zur Zukunft gehört die Erinnerung“ war deshalb
Motto eines gestern abgeschlossenen Pilotprojektes in
meiner Heimatstadt Hoyerswerda, das ich in Zusammenarbeit mit den Schulen und anderen Verbündeten
initiiert hatte. Es ermöglichte gerade jungen Menschen,
eine Zeit kennen zu lernen, die sie selbst nicht kennen
gelernt haben. Ein halbes Jahr lang konnten die Schülerinnen und Schüler durch Gespräche mit Zeitzeugen, einen Projekttag im Bautzener Staatssicherheitsgefängnis,
ein Theaterstück und eine Diskussionsveranstaltung mit
Marianne Birthler authentische Einblicke in die jüngste
Vergangenheit gewinnen. Gestern fand dieses Projekt
seinen Abschluss in Gesprächen mit zwölf Opfern der
DDR-Staatssicherheit. Alle Beteiligten waren sich einig,
dass dieses bis jetzt einmalige Modellprojekt in ganz
Deutschland Nachahmung finden sollte. Denn: Die
junge Generation ist zwar nicht verantwortlich für die
Vergangenheit, aber verantwortlich für das, was in der
Zukunft kommt.
Aufklären statt verklären ist notwendiger denn je.
So ist der 17. Juni auch ein Tag, um den Blick nach
vorne zu richten. Hierzu gehört es - darauf hat Bundespräsident Rau zu Recht hingewiesen -, den Opfern des
SED-Unrechts rechtliche Rehabilitierung und materielle Entschädigung zukommen zu lassen.
Das vereinte Deutschland hat sich dieser Aufgabe gestellt, sie aber noch nicht zu Ende geführt. Durch verschiedene Gesetze haben wir seit 1992 versucht, den Opfern des DDR-Unrechtsregimes zu helfen. Doch noch
immer warten Opfer politischer Verfolgung auf eine angemessene finanzielle Wiedergutmachung für erlittenes
Leid.
({0})
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
28. April 1999 hat sich die Gerechtigkeitslücke zwischen Verfolgten und Verfolgern weiter vergrößert.
({1})
Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion ein drittes
SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vorgelegt, das eine
monatliche Rente in Höhe von 500 Euro für die Opfer
politischer Verfolgung vorsieht. Leider haben sich die
Koalitionsfraktionen nicht zu dieser unbürokratischen
Hilfe für die Opfer durchringen können.
Die FDP lässt sich jedoch nicht entmutigen. Wer Widerstand gegen das SED-Unrechtsregime geleistet und
für Demokratie und Freiheit erhebliche persönliche und
soziale Nachteile in Kauf genommen hat, muss heute in
vielen Fällen mit einer spärlichen Mindestrente auskommen. Das empfinden wir als ungerecht.
({2})
Herr Kollege Haupt, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hacker?
Ja, bitte.
Herr Haupt, mir liegen das Schicksal und die soziale
Situation der Opfer der SED wie Ihnen am Herzen. Ich
möchte Sie trotzdem etwas fragen. Es ist bekannt, dass
die Opfer der NS-Diktatur nicht schon für die Zeit der
Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern Rentenansprüche erworben haben, sondern nur dann, wenn sie
in ihrer Gesundheit geschädigt wurden oder einen ganz
konkreten Nachweis führen konnten. Ich möchte wissen:
Wie können Sie es vertreten, hier für eine Opfergruppe
eine pauschale Rente zu fordern, während Sie einer anderen Opfergruppe diese nicht zugestehen?
Kollege Hacker, gestatten Sie mir eine erste Bemerkung. Ich finde alle Versuche, die einen Opfer gegen die
anderen auszuspielen, schäbig. Sie versuchen das in Ihren Argumentationen jedoch immer wieder.
({0})
Meine zweite Bemerkung. Unser Antrag sah eine unbürokratische Vorgehensweise vor,
({1})
weil dieser Nachweis in der Praxis - das wissen Sie ganz
genau - nicht so einfach zu führen und juristisch höchst
problematisch ist. Deshalb versuchen wir mit unserem
Antrag, den direkt Betroffenen - sie sind im Rentenalter - mit einer unbürokratischen 500-Euro-Entschädigung zu helfen. So einfach ist das.
({2})
- Damit müssen Sie leben, nicht ich.
Die FDP unterstützt daher den vorliegenden Antrag
der Union. Er hält die Erinnerung an den 17. Juni
1953 wach und das Thema der Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur auf der Tagesordnung. Wir alle müssen uns dieser Aufgabe jährlich
aufs Neue stellen. Das sind wir den Opfern, aber auch
unserem demokratischen Rechtsstaat schuldig; denn zur
Zukunft gehört die Erinnerung.
Danke.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
von Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich noch daran, dass wir am 17. Juni des letzten
Jahres anlässlich des 50. Jahrestages hier eine sehr bewegende Gedenkveranstaltung durchgeführt haben.
Wenn ich mir heute die Reihen und den Rahmen dieser
Debatte anschaue und die heutige Berichterstattung der
Medien werte, komme ich zu dem Schluss, dass wir zur
Kenntnis nehmen müssen, dass der 51. Jahrestag des
17. Juni 1953 nicht die gleiche Würdigung erfährt und
ihm nicht die gleiche Wichtigkeit eingeräumt wird.
Ich bedanke mich deswegen noch einmal ausdrücklich bei meinem FDP-Kollegen, weil er hier die vielen
kleinen Veranstaltungen, die im Lande stattfinden, ins
Gedächtnis gerufen und bekannt gemacht hat. Ich habe
im letzten Jahr in meiner Rede darauf aufmerksam
gemacht, dass der 17. Juni ein gesamtdeutscher
Gedenktag ist. Es ist wichtig, der jüngeren Generation
bewusst zu machen, dass der 17. Juni ein wichtiges
gesamtdeutsches Datum ist, weil mutige Menschen gegen Unterdrückung und Diktatur aufgestanden sind. Ich
halte den Antrag der Union daher eher für eine Entwürdigung als für eine Würdigung des 17. Juni.
({0})
Diesen Gedenktag in diesem Haus zu einem Berichtstag
der Bundesregierung zu degradieren, das halte ich für zu
wenig.
({1})
Herr Hacker hat sehr gut darauf hingewiesen - ich
neige dazu, das etwas zuzuspitzen -, dass hier Gerichtsurteile, die natürlich von manchen als Ungerechtigkeit
empfunden werden, weil die Renten der ehemaligen
SED-Mitglieder erhöht werden und es den Opfern
schlecht geht, von Ihnen bedauert werden. Dann müssen
Sie aber auch sagen, dass man für die Grundlage dieser
Gerichtsurteile nicht die Gerichte schelten kann; denn
die Grundlage haben Sie in Ihrer Verantwortung im Einigungsvertrag gelegt.
({2})
- Der Einigungsvertrag ist die Grundlage dieser Gerichtsurteile
({3})
und dafür tragen Sie die Verantwortung.
({4})
Während Ihrer Regierungszeit und danach haben Sie
nichts, nicht einmal das Mögliche für die Opfer getan.
Ich will Ihnen sagen, was Rot-Grün getan hat. Wir haben
als Erstes die Haftentschädigung, die Sie jahrelang auf
unterstem Niveau gehalten haben, verdoppelt. Die anderen Punkte hat Herr Hacker gut benannt.
Wir sollten es einmal auf den Punkt bringen: Sie machen mit dem Thema den Versuch eines Kulturkampfes, den Sie aber nicht offen auszutragen wagen, im Gegenteil. Lesen Sie doch einmal nach, was Herr
Marschewski so offen in den Postillen der Vertriebenenverbände sagt. Ihm geht es darum, eine Besserstellung
der SED-Opfer gegenüber den Nazi-Opfern durchzusetzen.
({5})
Das ist mit Rot-Grün nicht zu machen.
({6})
Ich finde es gut, dass Sie sich nicht trauen, hier im Deutschen Bundestag diesen Kulturkampf offen auszutragen.
Sie wissen, Sie würden ihn gesellschaftlich verlieren.
Danke schön.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich betrachte es als unangemessen, auf das Gerede der Kollegin Stokar von einem angeblichen Kulturkampf einzugehen.
({0})
Denn das wäre in der Tat eine Demütigung der Menschen, die in ihrem Leben viel riskiert und viel verloren
haben und sich heute nicht genügend rehabilitiert sehen.
Es ist nicht allein der Eindruck der Kollegin Michalk,
nicht allein der Eindruck des Kollegen Haupt und nicht
allein mein Eindruck, dass auf die Frage, ob das Thema
der angemessenen Entschädigung und angemessenen
Würdigung der Opfer des DDR-Regimes zu den Akten
gelegt werden kann oder nicht, eindeutig mit Nein geantwortet werden muss.
Ich darf ein Zitat des Herrn Bundespräsidenten hinzufügen. Er hat vor einigen Tagen - nicht vor einem Jahr gesagt:
Den Opfern des DDR-Regimes muss materielle und
immaterielle Anerkennung zuteil werden. Auch ein
Jahr später bleibe ich dabei, dass da manches hinter
dem zurückgeblieben ist, was wir uns unter Gerechtigkeit vorstellen.
({1})
Das ist der Anlass unserer heutigen Debatte. Wir sind
dem Herrn Bundespräsidenten dafür dankbar, dass er
sich überhaupt dazu geäußert hat. Wir hätten es gern gesehen, wenn es nicht die einzige vernehmbare Stimme
aus dem rot-grünen Lager gewesen wäre, die diese
Worte sagt und diese Ansicht teilt.
({2})
Es ist unserem Antrag zu verdanken, dass wir heute,
am 51. Jahrestag des 17. Juni, in diesem Haus überhaupt über dieses Thema - über die Gedenkrede des
Herrn Bundestagspräsidenten hinaus - politisch debattieren.
({3})
Dies allein ist schon eine Aufgabe, die wir als Bundestag
haben. Denn wir haben gegenüber der jungen Generation die Verpflichtung, das Erinnern an diesen Tag wach
zu halten und den Menschen zu zeigen, dass ihr Einsatz
uns noch heute wichtig ist. Schon allein dafür ist eine
solche Debatte notwendig,
({4})
ganz abgesehen davon, dass wir, wie der Herr Bundespräsident richtig erkannt hat, auch noch eine ganze
Reihe von Gerechtigkeitsdefiziten zu besprechen haben.
Herr Stolpe - lassen wir einmal die Frage beiseite, ob
er heute wirklich der geeignetste Vertreter der Bundesregierung bei der Opferehrung in Berlin-Wedding war; immerhin hat er den Takt besessen, nicht alle seine Orden
anzulegen, die er im Laufe seines Lebens errungen hat hat die berechtigte Frage gestellt, wie wir denn in Zukunft den 17. Juni in der Erinnerung der deutschen Öffentlichkeit wach halten wollen. Diese Frage haben auch
wir uns gestellt. Wir finden, wie ehrlich die Würdigung
der Aufständischen des 17. Juni voriges Jahr wirklich
gewesen ist, hat etwas mit den Lebensumständen zu tun,
die unser Staat ihnen heute einräumt.
Deshalb fordern wir von der Bundesregierung, jährlich zum 17. Juni einen Bericht zur Aufarbeitung des
DDR-Unrechts und zur Lage der Opfer vorzulegen.
Herr Hacker, wenn Sie sagen, ein solcher Berichtsantrag
wäre im Jahr 1991 gut gewesen, sei heute aber verspätet,
dann kann ich Ihnen nur sagen: Der Herr Bundespräsident stellt fest, dass die Frage nicht verspätet ist. Sie ist
aktuell. Heute ist es noch nötiger als damals, zu fragen,
ob die Maßnahmen, die der Deutsche Bundestag im
Laufe der Zeit getroffen hat, nun, 15 Jahre nach der Wiedervereinigung, hinreichend gewesen sind oder nicht.
Damals trat es offen zutage.
({5})
Frau Stokar von Neuforn, wenn Sie meinen, dass ein
Berichtsgegenstand - ein Sachgegenstand oder eine
Gruppe von Personen - dadurch entwürdigt wird, dass
im Bundestag über ihn berichtet wird, dann frage ich Sie
nach Ihrer Auffassung zu diesem Haus.
({6})
- Niemand bestreitet, dass er mehr ist. Wir erheben keinen Absolutheitsanspruch. Das sollten wir uns gegenseitig auch nicht unterstellen.
({7})
Der Staat kann nicht in Gestalt seines Bundespräsidenten Mängel bei den rechtlichen Rehabilitierungen
feststellen und in Gestalt seines Parlaments die Beseitigung dieser Mängel ablehnen. Das wird von den Betroffenen als Heuchelei empfunden und untergräbt die Identifikation mit unserer Demokratie.
Lieber Herr Hacker, Sie betonen, wir seien für diese
Defizite verantwortlich, weil wir es während unserer Regierungszeit verbockt hätten. Dazu sage ich Ihnen erstens, dass wir von diesem Pult aus schon mehrfach eingeräumt haben, dass wir keine endgültige Lösung dieser
Angelegenheit gefunden haben. Zweitens. Es dürfte
selbstverständlich sein, dass es der Anspruch einer nachfolgenden Regierung sein muss, die von der Vorgängerregierung hinterlassenen ungelösten Fragen zu klären.
({8})
Wenn Sie tatsächlich der Meinung sind, dass es eine
Fehlleistung unsererseits gewesen sei, dieses Problem
nicht gänzlich zu lösen, dann frage ich Sie, weshalb Sie
es nicht tun.
({9})
Jetzt kommen wir zu der Frage, wie Sie es getan haben. Sehr geehrter Herr Hacker, ich erinnere mich noch
sehr gut an Ihre Ausführungen, in denen Sie darauf hinwiesen, dass die Stiftungen dazu ausersehen seien, die
entstandenen Härten zu beseitigen. Das war ein Lippenbekenntnis. Kurz darauf hat das Bundesinnenministerium bei der Stiftung nämlich eine Deckungslücke von
knapp 4 Millionen Euro festgestellt und die Auflösung
dieser Stiftung bis zum Jahr 2005 angeregt. Das ist die
Realität Ihrer Alternativen. Das sollte man der Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit sagen.
({10})
Das ist aber noch nicht alles. Herr Stolpe hat heute gesagt, die Demonstranten des 17. Juni und die Träger der
Revolution von 1989 seien eine Einheit gewesen. Angesichts der Tatsache, dass die Mittel der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gekürzt werden sollen und
auch die Projekte zum 15. Jahrestag der Revolution von
1989 infrage stehen, frage ich Sie, ob die Einheit vielleicht darin besteht, dass Sie das Gedenken an beide
Ereignisse nach Möglichkeit unterbinden wollen, indem
Sie die finanziellen Mittel zur Aufrechterhaltung der
Erinnerung an diese Ereignisse kürzen.
({11})
Herr Kollege Vaatz, Ihre Redezeit ist zu Ende.
({0})
Ganz herzlichen Dank. - Ich kann Sie nur auffordern,
die Angelegenheit richtig zu stellen. Nehmen Sie unseren Berichtsantrag an und erklären Sie öffentlich, wie
Sie sich Erinnerungskultur und ihre Unterstützung
durch die Regierung in der Bundesrepublik Deutschland
vorstellen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2818 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Rechtsausschuss liegen soll. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtsstaatlichkeit der Telefonüberwachung
sichern
- Drucksache 15/1583 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
eine Binsenweisheit, dass die Zahl der Telefonüberwachungen jährlich kontinuierlich steigt.
({0})
- Herr Ströbele, Sie haben Recht. - Schon seit einigen
Jahren fragt mein Kollege Jörg van Essen regelmäßig die
aktuellen Zahlen bei der Bundesregierung nach. Die
Ergebnisse sind erschreckend: Im Jahre 2001 gab es eine
Zunahme um 15,4 Prozent, im Jahre 2002 eine weitere
Zunahme um 7 Prozent. Ich will deutlich machen, dass
die Telefonüberwachung ein wichtiges Instrument zur
effizienten Bekämpfung der Kriminalität ist. Gerade
bei schweren Verbrechen hat es sich ausgezahlt, dass die
staatlichen Strafverfolgungsbehörden die Kommunikation Verdächtiger überwachen können. Die Telefonüberwachung hat sich insbesondere bei der Bekämpfung der
organisierten Kriminalität und der Drogenkriminalität
durchaus bewährt, da in diesem Bereich aufgrund seiner
Strukturen auf konventionelle Weise schwer zu ermitteln
ist.
({1})
Wir haben jedoch sicherzustellen, dass die Anordnung der Telefonüberwachungsmaßnahmen rechtsstaatlich einwandfrei erfolgt.
({2})
Davon kann wenigstens zurzeit in keiner Weise die Rede
sein; auch da müssen Sie, Herr Ströbele, sagen: Das
stimmt.
({3})
Seit vielen Jahren fordert daher die Bundestagsfraktion
der FDP die Bundesregierung auf, die notwendigen Reformen bezüglich der Telefonüberwachung vorzunehmen. Auch Herr Bachmaier war immer derselben Meinung.
({4})
Die Bundesregierung hat daraufhin regelmäßig vorgetragen, dass zunächst die Ergebnisse eines Gutachtens
des Max-Planck-Instituts abgewartet werden sollen.
({5})
- Das stimmt, Herr Ströbele: Dem haben auch wir uns
angeschlossen.
({6})
Nun liegt das Gutachten seit über einem Jahr vor und
auch ein weiteres Gutachten der Universität Bielefeld
liegt vor. Doch geschehen ist bis heute nichts.
({7})
- Auch das stimmt!
({8})
Jetzt bin ich natürlich sehr gespannt. Vielleicht sagen ja
Sie, Herr Kollege Bachmaier, in Ihrer nachfolgenden
Rede: „Wir werden in den nächsten Wochen einen Gesetzentwurf einbringen.“ - Dann würden wir uns freuen.
({9})
Dann muss die richterliche Anordnung der Telefonüberwachung aber unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Gesichtspunkte erfolgen und es muss eine richterliche Überprüfung der Anordnung möglich sein. Nach
dem Gutachten des Max-Planck-Instituts wird ja schlicht
das Formular genommen und angekreuzt, aber keine
vernünftige Begründung für die Anordnung gegeben
({10})
und der Bürger von der Abhörung auch im Nachhinein
nicht informiert. Nur bei einem Drittel der Akten gibt es
überhaupt Hinweise darauf, dass darüber nachgedacht
worden ist, eine Benachrichtigung vorzunehmen.
All das zeigt, wie wichtig es wäre, hier eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die Sie, bislang wenigstens,
nicht geschaffen haben,
({11})
obwohl Sie - wie wir in Hamburg sagen würden - seit
Jahren dazu in der Lage gewesen wären.
({12})
Die Bilanz von Rot-Grün der vergangenen Jahre im
Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Bürgerrechte
zeigt, dass die Bundesregierung keine großen Hemmungen hat, in die Freiheitsrechte der Bürger einzugreifen.
Das hat sich in vielen Gesetzen gezeigt.
({13})
- Herr Stünker, ich will es Ihnen doch gerade begründen,
deswegen unterbrechen Sie mich doch bitte nicht. Ich
nenne Ihnen Beispiele: bei der Änderung des G-10-Gesetzes, beim Terrorismusbekämpfungsgesetz und gerade
in jüngster Zeit bei der Änderung des Telekommunikationsgesetzes. Herr Stünker, Sie sind bei den Beratungen
zum großen Teil nicht dabei gewesen, zum Beispiel bezüglich des Telekommunikationsgesetzes. Sie hätten mit
Ihrer Fraktion dieses Telekommunikationsgesetz verhindern können und müssen.
({14})
Die liberale Rechtsstaatspartei FDP fordert die Bundesregierung daher auf,
({15})
die gesetzlichen Voraussetzungen für Anordnung und
Dauer der Telefonüberwachung in der Strafprozessordnung zu konkretisieren und endlich einen entsprechenden Entwurf vorzulegen. Insoweit ist die Diskussion, die
wir heute über unseren Antrag führen, eine - wie ich
glaube - nützliche Diskussion, weil sie Sie nicht nur anregen, sondern vielleicht auch dazu treiben wird, endlich
den geforderten Gesetzentwurf vorzulegen.
({16})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Danke schön. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Funke, es freut uns, wenn die FDP ihre zeitweise kräftig
verschütteten rechtstaatlichen Traditionen wiederentdeckt.
({0})
- Herr Funke, ich habe doch nicht von Ihnen gesprochen. Hören Sie genauer hin!
Es ist unbestritten, dass wir die strafprozessualen
Rahmenbedingungen für die Telefonüberwachung
grundlegend neu regeln müssen; damit das gleich von
vornherein klar ist.
({1})
Mehrere Untersuchungen - Sie sprachen davon -, vor allem des Max-Planck-Instituts für Strafrecht und der Universität Bielefeld, belegen, dass die rechtsstaatliche
Kontrolle der Telefonüberwachung dringend verbessert
werden muss; das ist unbestritten. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Wohnraumüberwachung vom März dieses Jahres, das wir noch abgewartet haben, nochmals mit aller Klarheit deutlich
gemacht, dass dem Schutz der Privatsphäre vor akustischen Überwachungsmaßnahmen im Rechtsstaat Bundesrepublik eine große Bedeutung zukommt. Das sind
die Grundlagen.
Die Untersuchungen haben ergeben, dass vor dem
Hintergrund einer starken Zunahme der Telefonüberwachungsmaßnahmen auch immer mehr unbeteiligte Dritte
in Mitleidenschaft gezogen werden und dass vor allem
die ermittlungsrichterliche Kontrolle nur äußerst unzureichend wahrgenommen werden kann. Die richterlichen Anordnungen ergehen in aller Regel formalistisch und sie gehen selten hinreichend auf den Einzelfall
ein. Die Richter haben auch keine Erfolgskontrolle bzw.
Misserfolgskontrolle in dem notwendigen Maße.
Der Straftatenkatalog des jetzigen § 100 a StPO ist
hoch problematisch. Dieser Katalog wurde immer wieder punktuell und anlassbezogen ergänzt. Inzwischen ist
er in sich nicht mehr stimmig und gewährleistet nicht in
hinreichendem Maße, dass die Überwachung tatsächlich
nur bei schweren Delikten zum Einsatz kommt. Es bestehen auch Zweifel daran, dass die Telefonüberwachung nur dann angeordnet wird, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht auf eine der genannten Straftaten
nahe legen und - das ist das Entscheidende - andere Ermittlungsmaßnahmen keinen Erfolg versprechen. Sie ist
also subsidiär einzusetzen. Die Pflicht zur nachträglichen Benachrichtigung von Abgehörten wird bisweilen sträflich vernachlässigt. Dies hat vielerlei Gründe,
die hier noch nicht erörtert werden können, im Gesetzgebungsverfahren aber erörtert werden müssen.
All diese rechtsstaatlichen Mängel sind umso bedenklicher, als die Telefonüberwachung in den letzten Jahren
stark zugenommen hat. Herr Funke hat darauf hingewiesen. Dies ist sicherlich zum Teil darauf zurückzuführen,
dass sich die Zahl der neuen Telefonanschlüsse, insbesondere im Bereich der Mobiltelefone, in wenigen Jahren vervielfacht hat. Das Telefon hat bei der Planung und
Organisation von Straftaten schon immer eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Die Ermittler meinen nicht zu
Unrecht, dass sich diese Tendenz in den zurückliegenden
Jahren eher noch verstärkt hat. In einer wirksamen Telefonüberwachung sehen sie deshalb den Schlüssel für
eine wirksamere Aufklärung von Straftaten.
Die festgestellten rechtsstaatlichen Mängel werden
der Bedeutung des verfassungsrechtlich geschützten
Fernmeldegeheimnisses nicht mehr hinreichend gerecht. Das Abhören von Telefongesprächen ist ein
Grundrechtseingriff und deshalb keine Nullachtfünfzehn-Ermittlungsmaßnahme.
({2})
Telefone dürfen nur bei Delikten von erheblichem
Gewicht, nur bei konkretisiertem Verdacht und nur dann,
wenn andere Ermittlungsmaßnahmen keinen Erfolg versprechen, überwacht werden. In diesen Fällen - dazu bekennen wir uns - brauchen wir allerdings die Telefonüberwachung zur effektiven Strafverfolgung.
({3})
Wenn diese Voraussetzungen aber nicht vorliegen, dann
müssen wir uns darauf verlassen können, dass wir am
Telefon ungestört, unüberwacht und frei miteinander reden können.
({4})
Wenn wir als Unbeteiligte dennoch abgehört werden,
müssen wir uns darauf verlassen können, dass wir zumindest nachträglich darüber benachrichtigt werden.
({5})
- Langsam, ich sage es Ihnen doch gleich. - Meine
Damen und Herren, die Regierungskoalition wird die bestehenden und festgestellten Mängel der Telefonüberwachung aufgreifen und abstellen. Das Bundesjustizministerium und die Koalitionsfraktionen erarbeiten derzeit
einen Gesetzentwurf zur Reform der strafprozessualen
Rahmenbedingungen für die Telefonüberwachung. Das
Ziel dieses Entwurfes ist es, die in den Gutachten dokumentierte mangelnde rechtsstaatliche Kontrolle wieder
herzustellen. Sie sehen also, sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, dass auch die von Ihnen mit
dem heute in erster Lesung zu beratenden Antrag angesprochenen Probleme bei der ins Auge gefassten Reform
von zentraler Bedeutung sind.
({6})
- Herr Funke, ich bin glaube, dass Schnellschüsse in diesem sensiblen Bereich niemandem dienen. Das Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes ist erst vor wenigen
Monaten ergangen. Schneller, als wir dies machen, kann
dies niemand verantwortlich tun.
({7})
Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, Kriterien für die Straftaten zu erarbeiten, bei denen im Rahmen der Ermittlung die Telefonüberwachung möglich
sein soll. Eine in sich stimmige generelle Regelung wäre
vernünftiger als der bestehende Straftatenkatalog mit
seinen Unstimmigkeiten.
({8})
Ich meine auch, dass wir auch dafür Sorge tragen sollten, dass die richterliche Kontrolle grundsätzlich von
Richterinnen und Richtern wahrgenommen wird, die
einschlägige Erfahrungen im Umgang mit einem derart
sensiblen Ermittlungsinstrument haben. Auch müssen
die Belange der Zeugnisverweigerungsberechtigten und
Berufsgeheimnisträger berücksichtigt werden und gesichert sein. Mit den konkreten Fragen werden wir uns in
Kürze im Rahmen der Beratungen des Regierungsentwurfes beschäftigen.
Ich jedenfalls freue mich, dass wir mit Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von der FDP-Fraktion, bei der
grundsätzlichen Beurteilung der zu klärenden Fragen ein
hohes Maß an Übereinstimmung feststellen können. Ich
bin gespannt, ob dies bei der Realisierung unseres Gesetzgebungsvorhabens im selben Maße gewährleistet ist.
Deshalb herzlichen Dank für Ihre Initiative, derer es aber
nicht bedurft hätte. Wir haben ohnehin bereits gehandelt.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zeitlmann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren über ein Papier der FDP, das
mich aufgrund der Überschrift an Kubicki erinnert, was
aber zeitlich nicht hinkommt.
({0})
Offensichtlich sucht die FDP neue Felder, um rechtsstaatliches politisches Handeln einzufordern.
({1})
Dazu sage ich: Die Problematik ist - das kann man
gar nicht bestreiten - aufgrund dieses Gutachtens neu zu
diskutieren. Es ist eindeutig, dass die Regierung am
Zuge ist, und wenn sie, wie die Bundesministerin in einem Interview angedeutet hat, Handlungsbedarf sieht,
dann möge sie etwas vorlegen.
({2})
- Ich unterstelle Ihnen nur insoweit Profilierungssucht,
als ich dem Antrag wenig Bedeutsames entnehmen
kann.
({3})
Entweder Sie sind der Auffassung, dass etwas im Argen
liegt. Dann müssen Sie konkrete Vorschläge machen.
Oder Sie sind der Auffassung, dass die Situation nicht so
schlimm ist. Dann braucht man darüber nicht unter einer
Überschrift zu debattieren, die den Eindruck erweckt, als
ob die Rechtsstaatlichkeit nicht gesichert sei.
Ich habe nicht das Gefühl, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts primär diesen Punkt betrifft.
Man kann darüber streiten, ob neben dem großen
Lauschangriff auch die Telefonüberwachung gemeint ist.
Aber expressis verbis habe zumindest ich dazu im Urteil
nichts gefunden. Aber bitte, wenn die Bundesregierung
eine andere Meinung hat und hier Handlungsbedarf
sieht, dann bin ich auf das gespannt, was kommt.
Ich meine, dass sich die Telefonüberwachung, die im
Übrigen, wenn ich es richtig gesehen habe, 1968 ins Gesetzblatt aufgenommen wurde, durchaus bewährt hat
und mit ihr viele Erfolge zu verzeichnen waren. Praktiker halten sie für notwendig. Ich glaube, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Sie hat sich eindeutig bewährt.
Bei dem Zahlenvergleich aber, Herr Kollege Funke,
sollte man sich schon die Mühe machen, einmal gegenzurechnen, wie stark der Telefonverkehr angewachsen
ist. In dem Gutachten des Max-Planck-Instituts werden
die Zweifel weniger an der Zahl der Überwachungen als
an Details wie der Dokumentation und der Entscheidungsgründe festgemacht. Ich glaube auch nicht, dass
man in Zeiten steigender Kriminalität sagen kann, dass
die Anzahl der Mittel, die die Polizei und die Sicherheitsorgane zur Verfügung haben, automatisch auch steigen muss. Ich schätze, dass sich die Zahl der Telefonnummern aufgrund der verstärkten Handynutzung allein
in diesem Lande - ich weiß es nicht - verzehnfacht oder
verzwanzigfacht hat. So gesehen könnte man eher von
einer verringerten Kontrolldichte bei der Telefonüberwachung sprechen.
({4})
- Ich habe die Gutachten schon gelesen, wenn auch vielleicht nicht mit der Intensität wie Sie.
({5})
Eines habe ich mir geschworen: nie mehr einen Bericht zu fordern. Wir haben uns einmal im Innenausschuss eine Übersicht geben lassen, wie viele Berichte
pro Jahr das Parlament nur im Bereich der Innenpolitik
einfordert. Ich kam zu dem Ergebnis, dass keiner von
uns diese Berichte auch nur im Ansatz gelesen haben
kann.
({6})
- Ich gebe gern zu, Ströbele, dass Sie ein genialer Berichtsleser sind. Alle meine selbstkritischen Äußerungen
würde ich nie auf Sie ausdehnen.
({7})
Ich weiß, dass Sie ein fanatischer Aktenleser sind. Ich
mache aber ein großes Fragezeichen hinter die Frage, ob
es sinnvoll ist, so viele Berichte anzufordern. Das gilt
insbesondere im Hinblick auf die von uns immer wieder
geforderte Verschlankung des Staates. Es wäre einmal
interessant, die Bundesregierung zu fragen, wie viel
Manpower in der Regierung nur mit der Erstellung von
Berichten beschäftigt ist. Ich würde dann aber auch darum bitten, dass wir ehrlich bekennen, wie viele von uns
diese Berichte gelesen haben.
Ein Punkt ist mir allerdings aufgefallen: Das ist die
weitergehende Begründungspflicht. Die FDP fordert,
dass die Dokumentation der Entscheidungsgründe über
die Zulässigkeit der Telefonüberwachung verstärkt werden muss. Dazu muss ich klar sagen, sie möge doch die
Länderparlamente bemühen; denn die Dokumentationspflicht unterliegt der Rechtsaufsicht der Länder und ist
durch Bundesgesetz nicht zu ändern.
({8})
Ich meine auch, dass man zumindest - Herr
Bachmaier hat das schon angekündigt - den Straftatenkatalog des § 100 a StPO daraufhin überprüfen muss, ob
vielleicht etwas darin fehlt.
({9})
Die Argumentation, dass es Straftaten gibt, die in der
Vergangenheit statistisch kaum einen Anlass für eine Telefonüberwachung gaben, überzeugt mich noch nicht.
Wir haben viele Straftatbestände, die nicht sehr häufig
vorkommen und trotzdem nicht aus dem Strafgesetzbuch
herausgenommen werden. Das Gleiche würde ich für die
Telefonüberwachung in Anspruch nehmen.
Erklären Sie mir einmal, wieso zum Beispiel Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen
nach dem Völkerstrafgesetzbuch nicht in dem Katalog
enthalten sind.
({10})
Die besonders schweren Fälle des Betrugs, des Computerbetrugs, des Subventionsbetrugs und des Bankrotts
sind ebenfalls nicht enthalten, weiterhin Korruptionsdelikte, Vorteilsannahme, Bestechlichkeit und Vorteilsgewährung. Dasselbe gilt für alle Formen des sexuellen
Missbrauchs von Kindern, für alle Formen des schweren
Menschenhandels sowie des Umgangs mit kinderpornographischen Schriften nach § 184 b Abs. 1 Strafgesetzbuch. Da gibt es Lücken.
({11})
Ich diskutiere sofort mit Ihnen darüber, wo man etwas
streichen könnte.
({12})
Damit habe ich kein Problem.
Bei der Benachrichtigungspflicht aber sollte man
die Kirche im Dorf lassen. Die Gefahr, dass wir uns um
fremde Sachen kümmern, ist doch sehr groß. Im Gutachten des Max-Planck-Instituts wird aufgeführt, dass in
15 Prozent der Fälle zu dürftig begründet wird. Ich halte
diese Zahl vor allem unter Berücksichtigung der richterlichen Unabhängigkeit nicht für ein so gravierendes Problem, das - dies wurde hier so dargestellt - eine gesetzliche Änderung erfordert.
Ich schlage zusammenfassend vor: Lassen Sie uns
bitte alles überprüfen, aber lassen Sie uns gerade in einer
Zeit, in der die Kriminalität zunimmt und in der die Terrorismusbekämpfung im Vordergrund steht, das Mittel
der Telefonüberwachung schärfen, statt es zu schwächen. Ich fürchte, dass in diesem Hause - ich denke dabei insbesondere an Herrn Ströbele - eher angestrebt
wird, das Mittel stumpf zu machen.
({13})
- Ich bin von Ihnen vieles gewöhnt, Herr Ströbele.
Ich glaube, dass wir unsere Mittel zur Bekämpfung
der Kriminalität eher schärfen müssen, als sie zu schwächen. Ich habe die Hoffnung, dass diese Debatte dazu
führt, dass intensiver über die Möglichkeiten nachgedacht wird, wie wir unserer Polizei im Kampf gegen die
Kriminalität behilflich sein können. Dann wäre sie ein
Erfolg.
Das Stumpfmachen unserer Mittel zugunsten eines
weiteren Aufweichens und einer weiteren Liberalisierung der bestehenden Regelungen findet nicht unsere
Zustimmung, Herr Funke. Wir glauben vielmehr, dass es
um eine Stärkung der Sicherheitsorgane geht statt um
ihre Schwächung.
({14})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian
Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Funke, wir freuen uns natürlich über
Ihren Antrag. Wenn wir in der Opposition wären, dann
hätten wir zumindest, was den ersten Teil des Antrags
angeht - die Forderungen im zweiten Teil nehme ich davon aus -, im Deutschen Bundestag möglicherweise einen ähnlichen Antrag eingebracht.
Aber - darin unterscheiden wir uns von Ihnen - wir
stellen die Regierung; wir gehören einer Regierungskoalition an. Deshalb bringen wir keine Anträge ein, in denen die Bundesregierung aufgefordert wird, zu handeln,
sondern wir handeln selber.
({0})
Wir sind schon lange in dem Bereich tätig, um den es
hier geht. Insofern habe ich mich über Ihre Rede geärgert. Sie haben ausgeführt, dass die Bundesregierung
nichts macht. Ich habe mich bei dieser Bemerkung gefragt, ob Ihnen wirklich entgangen ist, wie viele Stunden
des vergangenen Jahres wir nach meiner Erinnerung gerade den § 100 a StPO beraten haben. Denn auch wir
haben schon erkannt - übrigens schon, bevor das Gutachten des Max-Planck-Instituts vorlag -, dass Defizite
vorhanden sind und Handlungsbedarf besteht. Wir haben
aber den Standpunkt vertreten, dass wir - wenn schon
ein solches Gutachten in Auftrag gegeben worden ist das Ergebnis abwarten sollten, weil wir damit die nötige
Sachkenntnis erlangen, um das Richtige zu tun.
({1})
Meine erste schriftliche Ausarbeitung der Vorschläge
der Grünen dazu datiert nicht vom 24. September vergangenen Jahres wie Ihr Antrag, sondern vom 24. Januar
vergangenen Jahres.
({2})
Damals haben wir uns erstmals Gedanken zu dem
Thema gemacht, die wir schriftlich festgehalten und zu
diskutieren begonnen haben. Aber das Problem ist nicht
so leicht zu lösen, Herr Funke. Das ist auch Ihrem Antrag zu entnehmen.
Die heutige Diskussion hat gezeigt - insofern bin ich
dem Kollegen Zeitlmann sehr dankbar -, dass schon
über den ersten Punkt Ihres Forderungskatalogs lange
und intensiv diskutiert werden kann. Auf der einen Seite
hat der Kollege Zeitlmann festgestellt - etwas anderes
haben wir von ihm auch nicht erwartet -, dass in
§ 100 a StPO eine ganze Reihe von Straftatbeständen
nicht aufgeführt sind. Es gibt Straftatbestände, über die
man in der Tat reden kann, wie die Aufstachelung zum
Angriffskrieg und Ähnliches.
Auf der anderen Seite meinen Sie, Herr Funke, dass
eine ganze Reihe von Straftatbeständen in § 100 a
StPO gestrichen werden kann. Sie sagen aber nicht - das
nehme ich Ihnen ein bisschen übel -, welche Straftatbestände Sie im Einzelnen streichen wollen. Machen Sie
doch einmal, so wie es Herr Zeitlmann getan hat, den einen oder anderen Vorschlag! Sagen Sie doch auch, welche Straftatbestände Sie in § 100 a StPO aufnehmen
wollen! Denn an diesem Punkt müssen Sie Farbe bekennen. Sie können nicht nur Forderungen in die Welt setzen, sondern Sie müssen auch angeben, an welcher
Stelle die Regelungen ausgeweitet oder eingeschränkt
werden sollen.
({3})
Allein über diese Frage kann sehr lange und intensiv diskutiert werden.
Nachdem wir gemerkt haben, dass dieses Problem
sehr schwer zu lösen ist, haben wir versucht, eine grundsätzliche Regelung zu finden, damit wir nicht alle Jahre
wieder von Herrn Zeitlmann oder wem auch immer gemahnt werden, einen Straftatbestand mit aufzunehmen,
während von den Grünen oder von wem auch immer gefordert wird, den einen oder anderen Straftatbestand herauszunehmen. Darüber debattieren wir noch. Aber ich
glaube, dass wir bereits eine Lösung gefunden haben,
über die Sie mit uns sehr bald diskutieren können.
Herr Kollege Funke, genauso verhält es sich mit dem
anderen Punkt, den Sie anmahnen. Sie haben völlig
Recht: Es geht nicht an, dass Richter - obwohl es im Gesetz anders steht - ihre Entscheidungen nicht begründen
oder dass sie das Ganze mit einem Formelsatz, der zur
Sache selber nichts enthält, abhandeln, der meistens
noch nicht einmal von ihnen, sondern von der Staatsanwaltschaft stammt und den sie einfach nur unterschreiben. So geht es nicht weiter.
Wir wollen auch - das steht schon heute im Gesetz -,
dass die Betroffenen einer Überwachung anschließend
benachrichtigt werden, damit sie von ihren rechtsstaatlichen Befugnissen Gebrauch machen können, nachträglich überprüfen zu lassen, ob die Abhörmaßnahme in
Ordnung war oder ob es sich um einen Willkürakt handelte. Aber die Benachrichtigungen sind in einer großen Anzahl von Fällen nicht vorgenommen worden.
Nach der Bielefelder Untersuchung ist nicht einmal in
einem Drittel der Fälle eine Benachrichtigung erfolgt.
Aber, Herr Kollege Funke, Sie sagen nicht, wie Sie hier
für Abhilfe sorgen wollen. Wollen Sie alle Richter in der
Bundesrepublik Deutschland oder nur diejenigen auswechseln, die bisher nicht begründet haben? Wie wollen
Sie das machen? Wir, der Gesetzgeber, müssen darüber
nachdenken, wie wir garantieren können, dass tatsächlich das gemacht wird, was gesetzlich festgelegt ist, das
heißt, wie wir eine richterliche Zuständigkeit schaffen
können, die das garantiert, und welche Konsequenzen es
möglicherweise haben wird, wenn der Benachrichtigungs- und der Begründungspflicht nicht nachgekommen wird. Das ist ein ganz schwieriges Kapitel, über das
wir auch lange diskutiert haben.
Nun komme ich zum letzten Punkt. Sie sagen ebenfalls völlig zu Recht - hier stimmen wir überein; ich
sehe das völlig anders als der Kollege Zeitlmann, weil
ich diese Berichte auch lese -: Wir wollen mindestens
jedes Jahr einen Bericht der Bundesregierung dazu haben. Aber, Herr Kollege Funke - hier hat Herr Zeitlmann
wieder Recht -, solche Berichte kann die Bundesregierung nicht von sich aus erstellen. Hier ist sie vielmehr
dringend darauf angewiesen, dass die Bundesländer die
entsprechenden Daten liefern; denn die Daten stammen
fast ausschließlich von den Justizverwaltungen der Bundesländer. Die Erstellung des angesprochenen Gutachtens durch das Max-Planck-Institut hat unter anderem
deshalb so lange gedauert, weil die entsprechenden Daten zurückgehalten worden sind.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Frau Präsidentin, mein letzter Satz. - Herr Kollege
Funke, deshalb hoffe ich auf Unterstützung Ihrer Fraktion und insbesondere derjenigen Bundesländer, in denen die Freien Demokraten mitregieren, im Bundesrat,
wenn wir jetzt einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen, in dem wir ganz genau die Berichtspflicht der Justizverwaltungen der Bundesländer, wann sie welche Daten zu liefern haben, festlegen. Wenn Sie uns hier
unterstützen würden, wäre das ein hervorragender
Schritt. Dann hätte sich die heutige Debatte gelohnt.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zahl der Telefonüberwachungen hat in den zurückliegenden Jahren drastisch zugenommen. Binnen fünf
Jahren hat sich ihre Zahl verfünffacht, oder anders gesagt: Auch unter Rot-Grün wird zunehmend in Bürgerrechte eingegriffen. Das ist die Bilanz nach fünf Jahren
gemeinsamer Regierung von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen.
Nun hat die FDP dieses Thema auf die Tagesordnung
gesetzt. Ich finde es wichtig.
({0})
Ebenso habe ich für die PDS im Bundestag ausdrücklich
das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gewürdigt.
Es hat die ausufernde Praxis des großen Lauschangriffes gerügt. Allerdings vermisse ich bisher entsprechende
Konsequenzen bei der Bundesregierung und in den
meisten Bundesländern. Früher war das übrigens ein
originäres Thema der Grünen. Heute ist ihr Bürgerrechtsinstinkt - so meine Beobachtung - aufgebraucht.
Ich bedauere das ganz ausdrücklich.
({1})
Herr Kollege Ströbele, nun zu Ihnen: Das, was Sie
eben abgeliefert haben, war eine schlichte Luftnummer.
Sie sind inzwischen offensichtlich zum bürgerrechtsankündigungspolitischen Sprecher ernannt worden.
({2})
Das habe ich zumindest Ihrem Vortrag entnommen und
das gilt besonders, wenn Sie tatsächlich schon im Januar
vergangenen Jahres angekündigt haben, Konsequenzen
zu ziehen.
Nun wieder zum eigentlichen Gegenstand: Die Telefonüberwachung ist aus rechtsstaatlicher Sicht eine Ausnahme, die zwingend begründet werden muss. Die Praxis spricht aber eine andere Sprache.
({3})
- Zu Ihrem Zuruf, Herr Kollege: Es stimmt, es gibt auch
im Deutschen Bundestag Menschen, die Angehörige der
PDS sind und die aus der bitteren Geschichte gelernt haben. Daher nehme ich mir das Recht, heute auch Eingriffe in Bürgerrechte hier zu kritisieren.
({4})
Schon vor Jahresfrist hat der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte moniert, die Telefonüberwachung sei
von einer Ausnahme zum Standard mutiert. Jüngste Untersuchungen - sie wurden hier schon zitiert - belegen,
dass sie obendrein lax genehmigt oder aber überhaupt
nicht mehr begründet wird. Die Polizei hat ein Begehr
und immer mehr Richter stimmen ganz unbedarft zu.
Das ist ein Armutszeugnis. Ich denke, wir müssen dafür
sorgen, dass hier wieder Recht und Gesetz einziehen und
im schlimmsten Fall auch die entsprechenden Kenntnisse vermittelt werden.
({5})
- Wenn Herr Ströbele pausenlos „Wie?“ fragt, frage ich
mich ernsthaft, ob Sie, der Sie an der Regierung sind,
vielleicht auch einmal das Handwerkszeug in die Hand
nehmen.
Von Bundesinnenminister Schily erwarte ich übrigens
in dieser Frage keine Besserung mehr. Er hat sich mit
den unsäglichen Otto-Paketen und manchem, was er
jetzt auch noch in das Zuwanderungsgesetz eingebracht
hat, endgültig disqualifiziert. Aber vielleicht - das ist zumindest meine Bitte - fühlt sich ja die Bundesjustizministerin angesprochen und nimmt sich dieser Sache endlich an.
Hinzu kommen in der Praxis weitere Unterlassungen.
Wer überwacht wird, hat ein Recht darauf, nachträglich
darüber informiert zu werden. Das ist geregelt, aber auch
in dieser Frage wird in der Praxis sträflich gegen Recht
und Gesetz verstoßen. Stattdessen wird unentwegt versucht, die ausufernde Überwachungspraxis auch noch
rechtlich auszuweiten.
Deshalb tut aus meiner Sicht dreierlei Not: Die polizeiliche Praxis muss auf das Recht zurückgeführt werden; das Recht muss sich am Grundgesetz orientieren
und die Politik muss die verbrieften Bürgerrechte stärken, gerade auch Rot-Grün.
({6})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
Verehrtes Präsidium! Verehrte Frau Vorsitzende, unter
Ihrem Vorsitz rede ich besonders gern. - Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Herr Funke, ich bin begeistert, dass der Geist von Hirsch und Baum wieder in Ihren
Reihen weilt; nur fürchte ich, dass die Attraktivität der
FDP als Koalitionspartner der CDU damit erheblich abnimmt.
({0})
Ich mache mir um Sie Sorgen, weil ich nämlich den
Anfang Ihres Antrages ganz gut finde. In Ihrem Antrag
steht: Der Rechtsstaat ist verpflichtet, die Menschen vor
Kriminalität, besonders vor schwerer Kriminalität, wirksam zu schützen. Dabei ist die Telekommunikationsüberwachung ein unentbehrliches Instrument. - Das ist
wohl wahr. Wo wir es nämlich mit kriminellen Vernetzungen zu tun haben, ist die Telekommunikationsüberwachung ein erfolgreiches - übrigens häufig auch das
einzige - Mittel, um kriminelle Organisationsstrukturen
nachzuweisen und neue Ermittlungsansätze zu finden.
Der Rechtsstaat hatte es in den letzten Jahren nicht
nur mit neuen Kriminalitätsformen zu tun, sondern
gleichzeitig mit einer rasanten technischen Entwicklung im Bereich der Telekommunikation. Während der
Gesetzgeber 1968 bei der Einführung des § 100 a StPO
im Wesentlichen nur die Überwachung der Festnetzanschlüsse regeln musste, ist mittlerweile die Anzahl von
Mobiltelefonanschlüssen enorm angestiegen, von 1997
bis 2002 von 8 auf 60 Millionen.
Auf diese neue Situation muss der Rechtsstaat reagieren. Die Strafverfolgung muss mit den neuen Techniken,
die natürlich auch von Straftätern genutzt werden,
Schritt halten, ohne dass der Staat dabei mit neuen technischen Mitteln die Grundrechte seiner Bürgerinnen und
Bürger aushöhlt. Dem Satz, der nicht nur an Stammtischen zu hören ist, „Wer nichts zu verbergen hat,
braucht auch nichts zu fürchten“, und der damit oft verbundenen Vorstellung, Verbrechensbekämpfung habe
Vorrang vor Individualschutz, ist entschieden entgegenzutreten.
Es sind vielfältige neue Anwendungsmöglichkeiten
zu prüfen, wie zum Beispiel die Standortpeilung von
entwendeten Mobiltelefonen oder die Erstellung von Bewegungsbildern durch so genannte stille SMS. Damit
sind schwierige rechtliche und rechtspolitische Fragen
verbunden.
Wir wollen deshalb Regelungen schaffen, die für die
Rechtsanwendung unter besonderer Beachtung des verfassungsrechtlich geschützten Telekommunikationsgeheimnisses praktikabel und vor allem für die betroffenen
Bürger transparent sind.
({1})
Derzeit überarbeiten wir nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 3. März die Regelungen
zur akustischen Wohnraumüberwachung. Das Bundesministerium der Justiz wird hierzu voraussichtlich in
Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen.
({2})
- „In Kürze“ heißt, ich glaube, schon in der übernächsten Woche.
Außerdem steht die Reform der Telekommunikationsüberwachung auf der Agenda. Herr Funke, ich wundere
mich immer wieder über Ihre Sprüche. Einmal sagen
Sie, wir peitschten Gesetze durch. Wenn wir es, wie
jetzt, sehr sorgfältig beraten, sind wir Ihnen dann wieder
zu langsam. Ich kann Ihnen nur sagen: Der Rechtsstaat
ist manchmal eine Schnecke; aber in diesem Fall ist es
gut, dass die rechtsstaatlichen Überprüfungen in der
Weise vor sich gehen.
Ich möchte Ihnen in der mir noch verbleibenden Zeit
einige unserer Überlegungen skizzieren. Die starre und
unübersichtliche Auflistung von Anlasstaten, wie sie
bisher im § 100 a StPO steht, gehört auf den Prüfstand.
Wir können uns vorstellen, diese Auflistung durch einen
Katalog materieller Wertkriterien zu ersetzen. Solche
Kriterien könnten zum Beispiel sein: die Schwere der
Straftat und die besondere Erforderlichkeit und Geeignetheit der Telekommunikationsüberwachung zur Aufklärung einer Straftat.
Damit könnten wir, erstens, den leidigen Diskussionen über Ausweitung und, was sehr selten ist, Einschränkung des Straftatenkatalogs entgegentreten. Zweitens
würde die bei einem Kriterienkatalog immer erforderliche Abwägung der Grundrechtsrelevanz von Überwachungsmaßnahmen besser Rechnung tragen als ein nach
und nach ausfransender und im Grunde willkürlicher
Anlasstatenkatalog. Mir greift, verehrter Herr Kollege
Funke, Ihr Antrag in diesem Punkt zu kurz, weil auch
Sie wieder lediglich am Katalog herumdoktern wollen
und nicht die Fantasie aufbringen, die nun einmal notwendig ist, um hier grundsätzlich Neues zu schaffen.
Wir wollen auch den Rechtsschutz im Verfahren noch
besser absichern. Wir wissen aus dem Bericht des
Max-Planck-Instituts, dass Richter Maßnahmen oft nur
formelhaft begründen. Dem Mangel an Transparenz und
rechtlichem Gehör wollen wir durch eine qualifizierte
Begründungspflicht begegnen. Die Untersuchung hat
uns auch vor Augen geführt, dass die Benachrichtigungspflicht leider immer noch zu selten richtig wahrgenommen wird. Wir können hier nur, wie es im Gesetz
steht, an die Vertreter der Praxis appellieren und sie ermahnen, diese Aufgabe künftig ernst zu nehmen und den
Menschen, die abgehört worden sind, mitzuteilen, dass
sie abgehört worden sind. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass man als Betroffener von dritter
Seite erfährt, dass man abgehört worden ist, und dass
man sich dagegen dann gar nicht wehren kann.
Wir haben schon sehr weit gehende Beratungen geführt.
Herr Staatssekretär, achten Sie ein bisschen auf die
Zeit!
Ich habe noch ungefähr einen halben Satz zu sagen.
Wir werden diese Beratungen zu einem guten Abschluss bringen.
Ich hoffe, ich habe Sie ein bisschen neugierig gemacht. Mir standen leider nur fünf Minuten zu, wie Ihnen, Herr Funke, obwohl ich inhaltlich mindestens viermal so viel wie Sie hätte sagen können. Hoffentlich
kommen wir zu einer guten inhaltlichen Diskussion. Ich
freue mich, dass Sie wieder mit im Boot sind.
Danke schön.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1583 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Deutsche-Welle-Gesetzes
- Drucksache 15/3278 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Staatsministerin Christina Weiss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Debatten der Vergangenheit über die Sinnhaftigkeit, die Ausrichtung und die Chancen des deutschen Auslandssenders sind Geschichte. Über alle Parteigrenzen hinweg sind wir uns längst einig: Wir
brauchen die staatsunabhängige, modern und professionell arbeitende Deutsche Welle, die unser Land im Ausland als eine europäisch gewachsene Kulturnation
ebenso wie als demokratischen Verfassungsstaat präsentiert, und dies in deutscher Sprache, aber auch in den
Sprachen der Welt.
Die Deutsche Welle ist nicht nur eine Botschafterin
unseres Gemeinwesens; sie ist auch eine Mittlerin zwischen den Kulturen. In dieser Rolle wird sie ebenfalls
immer wichtiger und wird immer stärker wahrgenommen. Wir erleben immer wieder, dass der deutsche Auslandsrundfunk in vielen Krisenregionen der Welt als eine
unabhängige, unbestechliche, zuverlässige Informationsquelle anerkannt und als Entwicklungshelfer in Sachen
Demokratie verstanden wird. Das gilt vor allem für die
Regionen der Welt, die unserer politischen Solidarität
besonders bedürfen wie im Augenblick Afghanistan,
Irak oder auch Afrika.
Nach der Neufassung des Gesetzes soll die Deutsche
Welle diesem hohen Anspruch stärker gerecht werden
können. Die Bundesregierung setzt mit dieser Gesetzesnovelle auf die Organisation der Selbstverpflichtung des
Senders und auf den Dialog mit allen, die sich aufgrund
ihres Sachverstandes und ihres Amtes konstruktiv für die
Deutsche Welle einbringen wollen. Das erste und das
letzte Wort hinsichtlich des Programms hat jedoch der
Sender. Die Programmautonomie bleibt unangetastet.
51 Jahre nach ihrer Gründung braucht die Deutsche
Welle in einer sich wandelnden globalen Welt Verlässlichkeit in den politischen und in den finanziellen Rahmenbedingungen. Nur so kann sie als moderne Medienanstalt im Konzert mit anderen in- und ausländischen
Sendern bestehen und nur so kann sie die internationalen
Kooperationen, zu denen das Gesetz verpflichtet, begründen und ausbauen.
Der Befragung der Bundesregierung am 24. März
entnahm ich Signale des Inhalts, dass für Sie, meine
Damen und Herren, die Selbstbewirtschaftung von
Bundesmitteln ein wichtiges Prinzip ist.
({0})
Es ist ein Prinzip, das, wie wir alle wissen, seit 1999
praktiziert wird. Auch ich habe Interesse daran, dass die
Deutsche Welle mit den jährlich zur Verfügung gestellten Bundesmitteln sparsam und effizient umgeht.
({1})
Diesem Ziel entspricht es, dass die Mittel weiterhin
überjährig und damit über einen längeren Zeitraum bewirtschaftet werden können.
({2})
Die Deutsche Welle kann mit diesem innovativen und
für manche Landesrundfunkanstalt schon geradezu als
modellhaft geltenden Gesetz die nächsten Jahrzehnte das
sein, was wir alle von ihr erwarten, nämlich eine freie
Stimme in der freien Welt, eine Stimme, die bestens dazu
geeignet ist, den Dialog zwischen den Kulturen und Völkern nicht nur zu beschreiben, sondern auch praktisch zu
führen.
In diesem Sinne danke ich Ihnen, meine Damen und
Herren.
({3})
Das war aber eine vorbildlich kurze Rede der
Staatsministerin. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Bernd Neumann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorlage des Gesetzentwurfs zur Deutschen Welle ist ein
längst überfälliger Schritt. Nach zwei misslungenen Reformkonzepten unter den Staatsministern Naumann und
Nida-Rümelin in der letzten Legislaturperiode nimmt,
wie es scheint, die Neugestaltung des deutschen Auslandsrundfunks, die bereits in der Koalitionsvereinbarung von Rot-Grün von 1998 versprochen wurde, nach
fünfeinhalb Jahren endlich konkrete Formen an.
Insgesamt betrachtet, von einigen Punkten abgesehen,
ist die Richtung okay. Wir unterstützen besonders, dass
der Programmauftrag lediglich in einer Generalklausel
im Gesetz festgelegt und damit die uneingeschränkte
Verantwortung der Deutschen Welle für ihr Programm
gesichert werden soll. Damit wird die gebotene Staatsferne gewährleistet. Das war nicht immer so in den
Überlegungen des Amtes.
({0})
Bernd Neumann ({1})
- Herr Kollege Otto, Sie weisen zu Recht auf das so genannte Hanten-Papier von September 2000 hin. Darin
wurde durch einige Zielsetzungen die gebotene Staatsferne massiv verletzt. Gott sei Dank ist das nun nicht
mehr der Fall. Deswegen ist das positiv.
Ich empfinde es ebenfalls als positiv, dass wir es der
Deutschen Welle durch ein so genanntes Selbstevaluierungs- und Selbstregulierungsverfahren überlassen, die
Programmgrundsätze und Zielsetzungen selbst zu kontrollieren. Dennoch sind diejenigen wie wir, die das Geld
zur Verfügung stellen, nicht völlig außen vor, weil wir
als Bundestag wie auch Sie, die Bundesregierung, im
Rahmen des Beteiligungsverfahrens die Möglichkeit zur
Stellungnahme erhalten. Das ist richtig, denn wir wollen
uns über das austauschen, was mit den Haushaltsmitteln
in beträchtlicher Höhe gemacht wird.
Ich begrüße auch, dass die Bundesregierung dem Verlangen der Gewerkschaft Verdi, die personelle Mitbestimmung bei Programm gestaltenden Mitarbeitern in
der Deutschen Welle zu erweitern - hier ist das PVG gemeint -, nicht nachgekommen ist. Ich halte das deshalb
für richtig, weil sich die Mitbestimmungsmodalitäten
der Deutschen Welle bewährt haben; dort, wo man es ändern wollte, gibt es in der Tat keine konkreten Probleme.
Wir haben übrigens bei den Länderanstalten Regelungen
in gleicher Weise, so beim Mitteldeutschen Rundfunk,
beim NDR und beim Rundfunk Berlin-Brandenburg.
Wir haben kürzlich in Bremen, weil sich die Bestimmungen des Deutsche-Welle-Gesetzes zur Mitbestimmung
bewährt haben, diese Mitbestimmungsregelung übernommen.
Soweit zu den Dingen, die positiv sind. Ich möchte
jetzt vier Punkte nennen, bei denen wir Veränderungen
wollen, was wir demnächst auch in Änderungsanträgen
deutlich machen werden.
Der erste Punkt betrifft die Ziele, § 4. Dort geht es darum, ob wir - insbesondere die Kollegen aus dem Kulturausschuss des Deutschen Bundestages - bereit sind,
zum Ausdruck zu bringen, dass die Deutsche Welle
Deutschland auch als europäische Kulturnation darstellen soll, so wie das im Referentenentwurf, den Sie vorgelegt haben, stand. In dem von der Regierung beschlossenen Entwurf fehlt dieser Begriff. Darin ist nur davon
die Rede, dass man Deutschland in seiner ganzen Vielfalt darstellen solle. Nun könnte man sagen, das sei
Wortklauberei. Aber das ist es wohl nicht, denn sonst
hätten Sie es ja nicht in dieser Form hineingeschrieben.
Dann wurde behauptet, im Außenministerium habe man
Bedenken gehabt. Außenminister Fischer war in unserem Ausschuss. Wir haben ihn danach gefragt und er hat
gesagt, damit habe er kein Problem, das sei nicht sein
Punkt. Deshalb werden wir vorschlagen, dass die Deutsche Welle durchaus Deutschland als europäische Kulturnation zum Ausdruck bringen soll.
({2})
Der zweite Punkt betrifft die Planungssicherheit. In
dieser Hinsicht gibt es schlimme Erfahrungen. Ich erinnere Sie daran, dass in den Jahren von 1998 bis heute
ohne eine Veränderung der Aufgaben eine Reduzierung
des Haushaltes um 150 Millionen Euro erfolgte. 2005
beläuft sich das Budget für die Deutsche Welle auf
270 Millionen Euro. Normalerweise hätten wir ohne Erhöhung, wenn wir nur die Preissteigerung einrechneten,
heute auf der alten Grundlage von 1998 ein Niveau von
357 Millionen Euro haben müssen. Wenn wir dann über
die Diskussion über die Gebühren der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und darüber nachdenken, was
sie alles wollen und wie sie klagen,
({3})
muss ich sagen: Diese Kürzung hat die Deutsche Welle
nicht verdient. Umso wichtiger ist es, dass wir mehr Planungssicherheit schaffen.
({4})
Planungssicherheit heißt: finanzielle Sicherheit über
mehrere Jahre. Eine solche Rundfunkanstalt kann man
nicht wie die Verlängerung einer Behörde behandeln.
Auch da wäre Planungssicherheit gar nicht schlecht. Besonders für eine Rundfunkanstalt ist es aber nötig, dass
sie in einem längeren Prozess planen, kalkulieren und
Programm machen kann. Deswegen ist auch in § 4 a
unter „Aufgabenplanung“ die Zielsetzung aufgenommen
worden, dass die Deutsche Welle eine Aufgabenplanung
für einen Zeitraum von vier Jahren vornehmen soll. Weiter heißt es:
Planungsgrundlage sind die finanziellen Rahmendaten der Bundesregierung, soweit die Deutsche
Welle betroffen ist.
Dann - Kollege Otto hat in der Fragestunde bereits darauf hingewiesen - heißt es aber konkret dazu in § 4 b,
„Beteiligungsverfahren“:
Die Bundesregierung teilt der Deutschen Welle die
im laufenden Haushaltsverfahren beschlossenen finanziellen Rahmendaten mit …
Also sind das Daten nicht für vier Jahre, sondern nur für
ein Jahr. Ein Einwand könnte sein - Sie bringen ihn gar
nicht mehr -, das sei nicht so zu verstehen. Dazu sage
ich: Doch, das ist so zu verstehen. Denn in Ihrem Referentenentwurf hatten Sie eine andere Formulierung, die
nämlich Planungssicherheit bedeutet hätte. Dort hieß es:
Die Bundesregierung teilt der Deutschen Welle die
im laufenden Haushaltsverfahren beschlossene mittelfristige Finanzplanung mit …
Also merke: Entsprechend dem neuen Entwurf werden
die Daten nur für ein Jahr mitgeteilt. Richtig wäre es, für
vier Jahre finanzielle Planungssicherheit zu schaffen. Es
ist enttäuschend, dass Sie dies nicht vorsehen.
({5})
Dritter Punkt. Zur mittelfristigen Planungssicherheit
gehören auch eine flexible Wirtschaftsführung und überjährige Verfügbarkeit der Mittel. Sie haben angesprochen, dass Sie das richtig finden, und begrüßen, dass wir
das unterstützen. Sie haben das auch expressis verbis in
den Referentenentwurf hineingeschrieben - was richtig
war. Wie man sieht, hat der Bundesfinanzminister - wer
Bernd Neumann ({6})
sonst sollte es gewesen sein? - diesen Passus im konkreten Entwurf wieder gestrichen. Dahinter steht ja etwas.
Meine Damen und Herren von der SPD, wenn wir mit
der Ministerin der Auffassung sind, dass das wieder im
Entwurf stehen soll, dann stimmen Sie unserem Antrag
zu, den wir diesbezüglich einbringen werden.
Vierter und letzter Punkt. Die berechtigte Forderung
der Deutschen Welle, dass ebenso wie bei den Landesrundfunkanstalten die Finanzierungshöhe durch eine unabhängige Kommission ermittelt werden soll, die dann
einen Vorschlag macht - es ist am Ende immer das Parlament, das bewilligt -, ist im Entwurf leider nicht aufgenommen worden. Damit wird die Chance, die Finanzierung der Deutschen Welle in verfassungskonformer
Weise auszuprägen und so die Grundsätze des Achten
Rundfunkurteils des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der politischen Unabhängigkeit und Staatsferne
des Senders zu berücksichtigen, versäumt.
Zu diesen vier Punkten werden wir dann im Ausschuss Änderungsanträge einbringen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch kurz zwei
Punkte nennen, die auch mit Geld und mit der Deutschen
Welle sowieso zu tun haben. Das eine ist der Punkt
„German Channel“. Die Anlauffinanzierung läuft im
nächsten Jahr aus und die Abonnentenzahlen kommen
nicht einmal annähernd in den Bereich, in dem sich das
Programm selbst tragen würde - wir haben ja beschlossen, dass es sich selbst tragen soll. Gefordert
sind 70 000 Abonnenten, tatsächlich sind es nach dreieinhalb Jahren nur 7 700. Ein Teil des Beschlusses von
damals war - das wurde deutlich von allen Fraktionen
getragen -, dass es keine weiteren Finanzspritzen für das
Programm geben wird.
({7})
Außerdem hat die CDU/CSU damals deutlich gemacht,
dass das originäre dreisprachige Fernsehprogramm der
Deutschen Welle - dreisprachig: Deutsch, Englisch und
Spanisch - dadurch nicht gefährdet werden darf.
({8})
Wie man jetzt sieht - ich komme in meinem letzten
Punkt darauf -, ist das spanischsprachige Programm gefährdet, weil der Deutschen Welle die Mittel für die originären Programme, wie es scheint, fehlen. Fazit:
Channel D ist eine wirklich gute Idee; nur, solange die
Deutsche Welle stark unterfinanziert ist und, wie wir
jetzt sehen, die originären Aufgaben nicht erfüllen kann,
ist es nicht zu verantworten, dem Programm weitere
Mittel zur Verfügung zu stellen.
({9})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Vor
wenigen Wochen haben die Direktoren und der Intendant auf einer Klausurtagung der Deutschen Welle die
Streichung des spanischsprachigen Fernsehprogramms aus Kostengründen beschlossen. Es ist vorgesehen, das nur noch mit Untertiteln zu machen. Ich sage
jetzt schon: Das kommt für uns auf keinen Fall infrage.
({10})
Warum? - Die Einstellung ist gleichzusetzen - so finden
wir - mit einem Abbruch der über viele Jahre aufgebauten lateinamerikanischen Arbeit der Deutschen Welle.
Gerade mit ihrem spanischsprachigen Programm zählt
die Deutsche Welle dort zu den deutschen Symbolen und
Sympathieträgern. Das Programm wird insbesondere in
Lateinamerika besonders stark frequentiert. Das
deutschsprachige wie auch das englischsprachige Angebot der Deutschen Welle sind kein Ersatz in Lateinamerika, wo Fremdsprachenkenntnisse selbst in gebildeten
Kreisen häufig nicht dazu ausreichen, ein fremdsprachiges Fernsehprogramm zu verstehen. Die geplante Untertitelung eines Nachrichtenprogramms ist in Lateinamerika nicht üblich, sodass das nur auf eine sehr geringe
Akzeptanz stößt.
Die Bundesregierung stellte in der Antwort auf eine
Kleine Antrage der CDU/CSU zum Beispiel fest,
Deutschland komme auf Rang drei, nach den USA und
Spanien, im Hinblick auf die wirtschaftliche Bedeutung
als Investor. Wenn die Bundesregierung dann in dieser
Antwort auf die Kleine Anfrage schreibt, sie würde es
bedauern, wenn das spanischsprachige Programm eingestellt würde, und wenn darüber hinaus Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder kürzlich erklärt hat, die Einstellung
des spanischsprachigen Programms dürfe nicht infrage
kommen, dann sollte es eine Selbstverständlichkeit sein,
dass wir der Deutschen Welle signalisieren: Das finden
wir nicht gut.
({11})
Verehrte Damen und Herren aus der Koalition, Sie haben an meiner grundsätzlichen Einschätzung wie auch
an meinen Bemerkungen im Hinblick auf mögliche Veränderungen gemerkt, dass es - wenn wir ein Stück aufeinander zugehen - möglich sein müsste, das DeutscheWelle-Gesetz erneut einstimmig zu verabschieden. Ich
finde, das tut einer Rundfunkanstalt, die ja über viele
Jahre Programm machen muss, gut. Es wäre auch ein
Stück Sicherheit, denn man kann - da werden Sie mir
Recht geben - nicht in jedem Fall davon ausgehen, dass
die, die besondere Verantwortung tragen, das ewig tun
werden. Aus diesem Grunde wäre es gut, wenn wir der
Deutschen Welle mit einem einstimmigen Beschluss
wiederum Planungssicherheit für die nächsten Jahre geben würden.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Griefahn.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Bernd Neumann, vor meinen eigentlichen
Ausführungen zum Gesetz möchte ich zweierlei zu den
beiden letzten von Ihnen genannten Punkten sagen. Zunächst: Channel D ist schon pleite; wir haben nur noch
German TV.
({0})
Wir sind uns doch einig und haben es besprochen: Wenn
die Auswertung vorliegt und sich herausstellt, dass das
nicht erfolgreich ist, dann müssen wir genau überlegen,
was wir machen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand
bereit ist, weiter Geld auszugeben, wenn etwas nicht erfolgreich ist. Aber wir müssen die Auswertung abwarten. Wir haben sie uns für das Frühjahr vorgenommen;
im Herbst wird es die Auswertungspapiere geben, und
dann werden wir gemeinsam beschließen. Ich glaube,
dass es, wenn die Fakten vorliegen, keine so unterschiedlichen Einstellungen geben wird.
Meine zweite Vorbemerkung betrifft das spanischsprachige Fernsehen. Ich muss mich ein wenig wundern: Viele von uns - auch in der SPD-Fraktion - haben
gegen die Einstellung des spanischsprachigen Fernsehens protestiert. Aber man muss doch auch ganz klar sehen, dass wir uns immer dafür eingesetzt haben, dass die
Deutsche Welle ein staatsferner Rundfunk ist. Wenn also
Intendanz und Redaktion vor dem Hintergrund des zur
Verfügung stehenden Geldes
({1})
beschließen, nicht eine Stunde spanischsprachiges Fernsehen, sondern - für die Hälfte des Geldes - fünf Stunden Untertitelung zu bringen, dann können wir das gut
finden oder nicht, aber es ist die Entscheidung des Senders selbst.
({2})
- Das wird sicherlich immer wieder die Frage sein. Aber
es geht um die Staatsferne.
Der Sender bringt neben 22 Stunden englischem und
deutschem Programm eine Stunde lang ein spanisches
Programm, das dann wiederholt wird. Über die Überlegung des Senders, stattdessen fünf Stunden Untertitelung zu machen, kann man sicherlich diskutieren; man
sollte sie aber respektieren. Ich möchte gar keine abschließende Wertung abgeben. Wir werden abwarten,
was die Haushaltsdebatten im Herbst bringen werden
und wie viel Geld wir gemeinsam für die Deutsche
Welle aufbringen können.
Mit der Vorlage des Gesetzentwurfs ist meiner Ansicht nach ein großer Wurf gelungen. Wir haben es mit
einer Gesetzesnovelle zu tun, die - Frau Staatsministerin
hat das schon gesagt - in den Medien ihresgleichen
sucht. Wir haben bereits seit 1998 darüber debattiert, in
welcher Form das Gesetz der Deutschen Welle reformiert werden soll oder muss. Dabei war es bei allen im
Haus immer unstreitig, dass es Neuregelungen geben
muss. Es gab und gibt viele Debatten über Sinn und Unsinn der Welle insgesamt. Ich glaube, wir im Hause sind
uns einig, dass die Welle notwendig ist. Worüber wir diskutieren, ist, wie ihr Programm aussehen soll und wie
ihre spezifischen Zielgruppen zu erreichen sind. Diese
Debatten waren notwendig; ohne sie kann die Welle
nicht das leisten, was sie leisten soll. Sie hat sich durch
die Debatten, die wir in den letzten Jahren gehabt haben,
unabhängig von der Gesetzesnovellierung schon zu
einem modernen Sender entwickelt, der in der medialen
Außenrepräsentanz der Bundesrepublik eine entscheidende und, wie ich denke, zentrale Rolle spielt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aus einer aktuellen Studie, die von Forsa erstellt worden ist, zitieren.
Hörer und Zuschauer der Deutschen Welle wurden in
den USA und in Russland, in zwei für uns sehr wichtigen Ländern, befragt. Die Berichterstattung über
Deutschland ist in diesen Ländern eher gering. Sie ist in
Russland etwas umfangreicher als in den USA, aber in
beiden Fällen eher undifferenziert. Allerdings ist unter
den Nutzern der Deutsche-Welle-Angebote in beiden
Ländern ein deutlich differenzierteres Bild festzustellen.
Klischees und Vorurteile über Deutschland sind unter
den Deutsche-Welle-Nutzern in beiden Ländern weniger
vorhanden als bei anderen Befragten. Die Nutzer der
Welle haben auch ein weniger rückwärtsgewandtes
Deutschlandbild als andere.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Deutsche
Welle ihrem Programmauftrag gerecht wird, indem sie
erstens Lücken der Berichterstattung in anderen Ländern
füllt und zweitens dazu beiträgt, ein mindestens aktuelles Bild von Deutschland zu vermitteln. Das ist ein wichtiger Punkt, der in dem Programmauftrag neu aufgenommen wird. Ich stimme Bernd Neumann zu - ich denke,
dass wir dazu einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen hinbekommen können -, dass wir Deutschland als
europäische Kulturnation präsentieren sollten. Dieser
Punkt kann im Rahmen eines gemeinsam eingebrachten
Änderungsantrags berücksichtigt werden.
Die Welle ist nicht mehr nur ein reiner Nachrichtensender - eigentlich war sie das nie -, sondern sie trägt
dazu bei, im Austausch mit Hörern, Zuschauern und Onlinenutzern ein Forum des Dialoges in, über und mit
Deutschland zu sein. Ich betone dies besonders, weil die
Onlinenutzung immer wichtiger wird. Ich stelle mir einen modernen Auslandsrundfunk so vor, dass es einen
wirklichen Austausch gibt und dass er nicht ein reines
Transportmittel für, wie es in § 4 des alten DeutscheWelle-Gesetzes heißt, „deutsche Auffassungen zu wichtigen Fragen“ ist.
Ein weiterer wichtiger Punkt in dem Gesetzentwurf
ist die Verankerung der Telemedien. Dieser zentrale
Punkt wird gerade bei den deutschen Rundfunkanstalten
nicht immer angemessen beachtet. Es ist ganz wichtig,
dass wir diesen Punkt im Deutsche-Welle-Gesetz verankern konnten.
Für mich ist außerdem wichtig, dass es im Rahmen der
zukünftigen Arbeit der Welle eine enge Kooperation und
Koordination mit Bundestag, Bundesregierung und
Öffentlichkeit geben wird. Das heißt, wir werden einen
transparenten Prozess, ein Beteiligungsverfahren, haben,
das es der Welle ermöglicht, in Konsultationen eben mit
Bundestag, Bundesregierung und Öffentlichkeit über
Zielgruppen, Aufgabenplanung, Sendegebiete und Vertriebswege selbst zu bestimmen und diese Punkte in einem offenen Beratungsprozess zu justieren. Bislang war
der Bundestag nur dann beteiligt, wenn wir uns gemeldet
haben. Die Mitarbeit wird durch das Gesetz formalisiert.
Das ist wichtig und eine prima Sache.
({3})
Das Parlament bekommt so die Möglichkeit, sich intensiver als bisher mit der Arbeit der Welle auseinander zu
setzen. Das ist im Sinne des von mir angesprochenen Dialogprozesses.
Die Deutsche Welle wird sich darüber hinaus weiter
für die Verbreitung von Deutschkursen engagieren, wie
sie das bisher schon in Eigenregie und in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut tut. Der Auftrag, die deutsche Sprache weltweit zu vermitteln, damit nicht Englisch die einzige Sprache im Angebot ist, ist ein ganz
wichtiger Punkt.
({4})
Die Bereitstellung der notwendigen Mittel - wir haben schon darüber diskutiert - bringt immer Schwierigkeiten mit sich. Die gewachsenen Aufgaben in der Krisenprävention, die im Kosovo, in Afghanistan und jetzt
auch in der arabisch-islamischen Welt erfüllt werden, bedeuten neue Aspekte in der auswärtigen Medienarbeit.
Wir haben Schwierigkeiten, eine entsprechende Finanzierung sicherzustellen. Aber wir werden gemeinsam daran arbeiten, dass die Erfüllung der Aufgaben mit dem
neuen Gesetz und der Selbstbewirtschaftung möglich ist
- die Frau Ministerin hat es schon angesprochen - und
dass die Welle den notwendigen Handlungsspielraum
bekommt. Wir werden gemeinsam dafür streiten.
In diesem Sinne wünsche ich, dass wir nach den Beratungen im Ausschuss das Deutsche-Welle-Gesetz gemeinsam verabschieden.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will es gleich vorweg sagen: Dieser Gesetzentwurf
ist sicherlich eine gute Grundlage. Ich werde seitens der
FDP-Fraktion alles dafür tun, dass eine einstimmige Verabschiedung dieses Gesetzes gelingt.
Bevor ich zu Einzelheiten komme, möchte ich in den
nur drei Minuten, die ich habe, auf Punkte eingehen, die
eben Frau Griefahn und Herr Neumann erwähnt haben,
weil sie für die konkrete Ausgestaltung wichtig sind.
German TV und das spanischsprachige Programm
wurden erwähnt. Es ist schon wahr, liebe Frau Griefahn,
dass wir uns als Parlament mit Sicherheit nicht in die
Frage einmischen, ob die Intendanz und die Gremien der
Deutschen Welle das spanischsprachige Programm aufgeben oder nicht. Aber wenn Sie sagen, es sei sozusagen
eine reine Idee des Intendanten der Deutschen Welle gewesen, das spanischsprachige Programm aufzugeben, ist
das nicht korrekt. Er unterliegt Haushaltszwängen und
Haushaltsnöten.
Die Deutsche Welle würde das spanischsprachige
Programm sehr gern weiterführen. Herr Kollege
Neumann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das
Programm der Deutschen Welle in Lateinamerika eine
überdurchschnittlich hohe Akzeptanz hat. Wir sollten alles daransetzen, dass das spanischsprachige Programm
beibehalten wird. Die Sicherung des spanischsprachigen
Programms kostet nur rund 1 Million Euro pro Jahr,
während das verunglückte German TV 5,1 Millionen
Euro kostet. Da, meine Damen und Herren, liegt der
Hund begraben. Wir haben es aufgrund politischer Implikationen zugelassen, dass German TV zulasten des
Etats der Deutschen Welle aufgenommen wurde, und
jetzt müssen wir alles daransetzen, dass die entstandene
Schieflage beseitigt wird.
({0})
- Wir haben ganz klar gesagt, Herr Tauss: Wir brauchen
die „Brandmauer“, dass das Experiment German TV
nicht zulasten des Etats der Deutschen Welle geht. Aber
genau das droht jetzt.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
können mir eine Frage stellen; aber in der kurzen mir zur
Verfügung stehenden Zeit kann ich darauf leider nicht
eingehen.
Aus den genannten Gründen legen wir großen Wert
darauf, dass der Grundsatz der Selbstbewirtschaftung
und der Grundsatz der überjährigen Verfügbarkeit der
Haushaltsmittel in dem im Prinzip guten Entwurf verankert werden, damit die freie Stimme für die freie Welt
trotz der Haushaltszahlen, die wir in den letzten Jahren
feststellen mussten, erhalten werden kann. Hand aufs
Herz: Es hat kaum eine andere Institution gegeben, die
in den letzten fünf Jahren so starke Kürzungen hat hinnehmen müssen wie die Deutsche Welle, weil es einen
ideologischen oder persönlichen Rachefeldzug gab.
({2})
- Lieber Herr Tauss, 325 Millionen Euro waren der Etat
im Jahre 1994; im Jahr 2004 sind es gerade noch
265 Millionen Euro.
({3})
Während der Haushalt bei ARD und ZDF hochgefahren
wurde, wurde er bei der Deutschen Welle heruntergefahren.
Hans-Joachim Otto ({4})
Deswegen, meine Damen und Herren - das ist mein
abschließendes Wort -, ist es wichtig, dass wir uns als
Freunde der Deutschen Welle, als Freunde des deutschen
Auslandssenders über die Fraktionsgrenzen hinweg darauf verständigen, zu einem einstimmigen Beschluss zu
kommen. Da erwarte ich, dass von allen Seiten Kompromisse eingegangen werden, damit wir die Situation des
Senders sowie die Unabhängigkeit und die planerische
Sicherheit des Senders stärken.
Meine Damen und Herren, wir werden im Ausschuss
konstruktiv mitarbeiten. An die Fraktionen von SPD und
Grünen habe ich die Bitte, ihren Teil dazu beizutragen,
({5})
dass wir den Auslandssender Deutsche Welle mit einem
einstimmig verabschiedeten Gesetz stärken.
Vielen Dank.
({6})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin, vielen Dank für die Sitzungsvertretung.
Meine Damen und Herren, nicht gerade zum 50., aber
doch zum 51. Geburtstag der Deutschen Welle hat die
Bundesregierung ein modernes Gesetz für sie vorgelegt.
Modern ist das Gesetz, weil es tatsächlich den neuen
Verhältnissen eines deutschen Auslandssenders auch unter Globalisierungsbedingungen Rechnung trägt.
({0})
Schon längst ist die Deutsche Welle nicht einfach nur
noch ein Instrument zur schlichten Information über
Land, Leute und Landschaft in Deutschland, sondern sie
soll die Bundesrepublik in ihrer kulturellen Vielfalt und
nach meiner Vorstellung auch als europäische Kulturnation präsentieren. Da bin ich ganz mit den Kollegen einverstanden, die das gesagt haben.
({1})
Nicht zuletzt soll sie auch unter Globalisierungsgesichtspunkten um das Interesse von Eliten an unserem Land
werben. Sie soll den interkulturellen Dialog fördern und
einen Beitrag zur Krisenprävention leisten. All das ist
wichtig als Standortbestimmung und Festlegung, welche
Aufgaben ein solcher deutscher Auslandssender heutzutage hat. Dabei wird ihm deutlich aufgegeben, Zielgruppen und Schwerpunktregionen genau und für bestimmte
Zeiträume festzulegen, was außerordentlich wichtig ist,
weil man nicht einfach mit der Gießkanne die Welt beregnen will, sondern weil man sehr zielgenau auf Interesse antworten will, das auf uns gerichtet ist, und selber
in bestimmten Krisenregionen wirken will.
Wichtig ist die neu eingeführte konkrete Nennung des
Internetauftritts als dritte Säule neben Fernseh- und
Radioangeboten.
({2})
Das ist insofern von besonders großer Bedeutung, weil
es die Möglichkeit eines echten Dialogs und die gleichzeitige Verwendung von beliebig vielen Sprachen zulässt, was auch angesichts des Problems wichtig ist, das
wir alle angesprochen haben, nämlich des spanischsprachigen Rundfunk- und Fernsehprogramms.
Bei der Aufgabenplanung ist ein Prozess eingeführt
worden, der das Parlament und die Bundesregierung
durch einen Rückkopplungsmechanismus einbezieht und
den ich außerordentlich wichtig finde. Wenn wir schon
die Verantwortung haben und übernehmen, dann möchten wir auch in diesen Dialog einbezogen sein. Ich bin
sehr gespannt, wie dieser Konsultationsprozess, der
gleichzeitig ein Reflexionsprozess über unseren Standort
und unsere Art der Kommunikation mit der Welt und ihren Eliten darstellt, ausläuft. Ich finde, das ist eine sehr
wichtige Neuerung.
({3})
Die Deutsche Welle hat in den letzten Jahren - das bestreitet niemand - eine enorme Sparleistung vollbringen
müssen. Vielleicht - so hart das auch für sie war - ist sie
damit besser für die neue Zeit gerüstet als die öffentlichrechtlichen Anstalten,
({4})
bei denen auch ich das eine oder andere an notwendigen
Reformen sehe.
({5})
Ich glaube, die sollten sich einmal sehr genau ansehen,
was die Deutsche Welle gemacht hat.
({6})
Was das spanischsprachige Programm betrifft, kann
ich mich nur unserem hoch geschätzten Bundeskanzler
anschließen. Ich freue mich, dass auch die Opposition
das tut. Ich sehe hier ein Problem. Dieses Programm
wird in den Diskussionen eine wichtige Rolle spielen.
Man muss wirklich überlegen, ob es tatsächlich so ist,
dass in diesen Ländern Untertitelungen üblich sind und
den Seh- und Hörgewohnheiten der Hörer oder der Fernsehzuschauer entsprechen. Das ist ein erster Schritt zum
gewünschten Dialog und zur Rückkopplung mit dem
Parlament. Wir werden darüber noch diskutieren, insbesondere angesichts des leidigen Projektes von German
TV.
({7})
- Hier kann ich darauf hinweisen, dass wir von meiner
Fraktion mit die allerersten waren - lange vor Ihnen,
Herr Otto und Herr Neumann -, die gesagt haben: Das
ist ein sehr problematisches Projekt. Es stammt übrigens
- jedenfalls die Vorplanung dazu -, soweit ich das weiß,
aus der Amtszeit des früheren Intendanten, der Ihnen
sehr nahe stand.
({8})
Dass es statt der erwarteten 100 000 Abonnenten nur
7 700 gibt, ist doch ein Anlass, sich sehr ernsthaft zu
überlegen, ob dieses Projekt Zukunft hat. Ehrlich gesagt
glaube ich, dass es keine hat.
({9})
Ich sehe hier innerhalb der Kollegen des Hauses mehr
Einigkeit, als Sie behaupten. Wir werden darüber nachdenken müssen und in diesem Zusammenhang werden
wir auch noch einmal über die Frage der spanischsprachigen Sendungen diskutieren können.
Die Deutsche Welle insgesamt musste immer auf kleinerem Fuß leben als ihre mächtigen Kollegen BBC
World und Voice of America. Aber das ist ihr alles in allem ganz gut bekommen. Heute erreicht sie 30 Millionen
Hörer und ist damit der drittgrößte Auslandssender. Für
sie immer außerordentlich wichtig waren journalistische Freiheit und journalistische Qualität. Dieses Gesetz wird gute Voraussetzungen schaffen, sie weiterhin
zu behalten.
Ich wünsche unseren Beratungen viel Erfolg und
glaube, dass sich eine Einigkeit abzeichnen wird, die wir
auch ausdrücken sollten.
Danke schön.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/3278 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans
Büttner ({0}), Detlef Dzembritzki,
Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({1}),
Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zum Gedenken an die Opfer des Kolonialkrieges im damaligen Deutsch-Südwestafrika
- Drucksache 15/3329 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache ein halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans Büttner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Am 12. Januar 1904 begann in der damaligen
Kolonie Deutsch-Südwestafrika der Aufstand der Herero
und Nama gegen das Kolonialregime des deutschen Kaiserreichs, in dessen Folge über 100 000 Afrikaner, Männer, Frauen und Kinder, getötet und ermordet wurden.
Das Vorgehen der kaiserlichen Kolonialtruppen war
ebenso wie das anderer Kolonialmächte durch eine, wie
Historiker es beschreiben, rassistische Geisteshaltung
geprägt, die in Afrikanern minderwertige Menschen sah,
denen jegliche Würde abgesprochen und jegliche
menschliche Behandlung aberkannt wurde. Diese Geisteshaltung wurde in unserem Lande damals lediglich von
der Sozialdemokratie, angeführt von ihrem Vorsitzenden
August Bebel, bekämpft, was die damals in diesem
Hause, im Reichstag in Berlin, geführten Debatten belegen.
({0})
Diese Geisteshaltung führte in Deutschland schließlich
zum terroristischen Naziregime und dem staatlich organisierten Genozid gegen Juden, Sinti und Roma sowie
geistig Behinderte. Von dieser mörderischen Geisteshaltung wurde Deutschland durch den gemeinsamen Kampf
der Alliierten 1945 befreit.
Die afrikanischen Völker in Südwestafrika mussten
unter dieser Geisteshaltung bis 1990 leiden; denn sie feierte fröhliche Urstände in der Politik der Apartheid des
damaligen Südafrikas, das die Verwaltung der Kolonie
nach dem Ersten Weltkrieg vom Völkerbund über ihre
damalige Kolonialmacht übertragen bekommen hat und
nach seiner Loslösung aus dem Empire bis 1990 widerrechtlich weiterführte.
Die Bundesrepublik hat ihre Lektion aus diesen dunklen Zeiten deutscher Geschichte gelernt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit
in der Welt.
So beschreibt es Art. 1 unseres Grundgesetzes, der unabänderbar, festgemauert unser tägliches Handeln in Gesellschaft und Politik bestimmen muss.
({1})
Hans Büttner ({2})
Von diesem Geist wurde und wird seither auch die
deutsche Außenpolitik gegenüber Afrika weitgehend geprägt, gerade seit der Phase der Dekolonialisierung nach
1960. Respektierung der Menschenwürde unabhängig
von Hautfarbe und Herkunft heißt aber auch Anerkennung von Selbstbestimmung auf dieser Basis organisierter Staaten und Wahrnehmung der besonderen Verantwortung aus der Geschichte durch besondere
Beziehungen zu den Ländern, gegenüber denen
Deutschland in der Vergangenheit koloniale Altschulden
hatte. Das galt zunächst gegenüber Tansania und Kamerun, seit 1989 ebenso gegenüber dem 1990 unabhängig
gewordenen Namibia, dem ehemaligen Südwestafrika.
In einer gemeinsamen Entschließung hat dies der
Deutsche Bundestag am 16. März 1989 wie folgt festgeschrieben:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, wegen ihrer besonderen Verantwortung
gegenüber Namibia in Absprache mit den wichtigsten politischen Kräften Namibias die Aufnahme einer umfassenden Zusammenarbeit umgehend vorzubereiten, damit die Voraussetzungen dafür
geschaffen werden, dass nach Konstituierung einer
frei gewählten Regierung in Namibia die wirtschaftliche, entwicklungspolitische und kulturpolitische Zusammenarbeit aufgenommen werden
kann.
({3})
Namibia
- so heißt es weiter in dieser Entschließung, die von nahezu allen Parteien getragen wurde sollte - unter Nutzung bisheriger Erfahrungen - ein
besonderer Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit werden.
Namibia ist seither Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Das selbstbestimmte Namibia ist
dabei ein beispielhafter Partner. Namibia hat eine in
Afrika beispiellose Pressefreiheit, einen exakten Rechtsstaat, es hat eine politische Diskussionskultur innerhalb
der Parteien. Namibia ist somit ein Stabilitätsfaktor in
Afrika, wie es nicht zuletzt auch die Entscheidungen
über den Nachfolgekandidaten innerhalb der Mehrheitspartei SWAPO vor wenigen Wochen gezeigt haben.
({4})
Selbstbestimmung und Selbstverantwortung auf
rechtsstaatlicher Grundlage heißen aber auch, dass es die
alleinige Entscheidung der namibischen Bevölkerung
ist, wie sie jetzt mit den Geschehnissen der Vergangenheit auf ihrem Staatsgebiet umgeht. Die Bundesregierung, egal welcher Couleur, war deshalb immer gut beraten, nicht auf Forderungen einzelner Gruppen
einzugehen und sich dadurch instrumentalisieren zu lassen, sondern sich darauf zu konzentrieren, der Gesellschaft Namibias bei der Lösung dieser Probleme global
durch besondere Partnerschaft zu helfen.
Mit dem vorliegenden Antrag bekräftigt der Deutsche
Bundestag seine Verantwortung aus der Geschichte gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat Namibia.
({5})
Die besondere Partnerschaft zu Namibia erfordert
aber auch eine weitere Intensivierung des politischen
Dialogs mit Namibia auf den Spitzenebenen der Politik,
von Parlament und Regierung. Ich begrüße es deshalb
außerordentlich, dass nach dem Bundesaußenminister
noch in diesem Sommer auch unsere Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und demnächst weitere Minister zu Gesprächen nach Namibia
reisen werden.
({6})
Ich begrüße es auch, dass wir möglichst bald und möglichst frühzeitig mit den aktiven und kommenden Politikern Namibias durch Gegeneinladungen den Dialog führen können, und zwar nicht nur auf der Ebene der
Regierung, sondern ich möchte uns alle dazu einladen,
({7})
den Dialog auch auf der Ebene des Parlaments zu intensivieren und weiterzuführen.
({8})
Politik auf gleicher Augenhöhe, die Achtung der Würde
des Menschen erfordert auch Respekt vor den handelnden Personen und darf sich nicht auf materielle Leistungen beschränken. Dies können wir und sollten wir im
Rahmen unserer Afrikapolitik auch am Beispiel Namibias, aber nicht nur dort, wieder stärker beachten.
Mit dem vorliegenden Antrag bekräftigt der Deutsche
Bundestag diese Werteorientierung der deutschen Außenpolitik und im Speziellen sein besonderes Verhältnis
zu Namibia. Ich bin sicher, dass er von allen Parteien
dieses Hauses mitgetragen werden kann. Ich möchte an
Sie alle appellieren, dabei mitzuwirken und mitzuhelfen
und das auch durch einen einstimmigen Beschluss zu unterstreichen.
Ich danke Ihnen und schenke Ihnen drei Minuten
Redezeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Eymer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Namibia - das ehemalige DeutschSüdwestafrika - steht vor großen Herausforderungen. Bei
der Bewältigung dieser anstehenden Probleme ist die
Hilfe der Völkergemeinschaft unverzichtbar. Wir reden
hier auf der Grundlage einer gemeinsamen Entschließung
Anke Eymer ({0})
des Deutschen Bundestages von 1989 zur damals bevorstehenden Unabhängigkeit Namibias. Schon zu diesem
Zeitpunkt hat Deutschland die Bereitschaft zu einem besonderen Engagement deutlich gemacht; das entsprach
unserer historischen Verbindung. Diese Bereitschaft
muss auch weiterhin gelten und uns als einen verlässlichen Partner in Namibia und Afrika ausweisen.
({1})
Die Reise des deutschen Bundeskanzlers in diesem
Januar ging zwar nicht nach Namibia, trotzdem ist ein
wichtiges Thema - der Aufstand der Herero und seine
Niederschlagung - bei seinem Besuch vor der AU, der
Afrikanischen Union, zur Sprache gekommen. In der
Antwort, die der Präsident der Afrikanischen Union gegeben hat, wurde eine grundsätzliche Überzeugung der
afrikanischen Partner deutlich: Für einen gleichberechtigten Dialog und ein erstarkendes afrikanisches Selbstbewusstsein ist das offene Eingeständnis von Fehlern
und grausamen Verbrechen, die in der gemeinsamen Geschichte auf europäischer Seite begangen wurden, weit
mehr von Bedeutung als manch eine materielle Überlegung.
Der Blick auf die koloniale Vergangenheit Afrikas
zeigt eine Ausbeutungsgeschichte, an der über Jahrhunderte mehr als nur europäische Staaten teilgenommen
haben. Wir Deutsche können dieses traurige Datum des
11. August 1904 nutzen, um auch in einem zusammenwachsenden Europa unsere Verantwortung und Trauer
nicht nur zu benennen, sondern sie beispielhaft auch in
Politik umzusetzen.
({2})
Der vorliegende Antrag von SPD und Grünen geht
daher grundsätzlich nicht in die falsche Richtung.
({3})
Unter dem Titel des „Opfergedenkens“ wird auch auf ein
aktuelles Thema, die Landreform, eingegangen. Ob
diese stillschweigende Verknüpfung hier sinnvoll ist, sei
dahingestellt. Sicher hilft es aber nicht, in einem partnerschaftlichen Dialog, den wir mit Namibia pflegen, konstruktive Kritik auszublenden. Diesen Eindruck erwecken Sie mit dem vorliegenden Antrag aber. Erstens
muss klar sein, dass die Reihe der Problemfelder in Namibia über dasjenige einer Landreform hinausgeht.
Zweitens gebietet es die Wichtigkeit dieser Angelegenheit, sie nicht en passant unter einem anderem Thema
schnell zu verkaufen.
Themen der Landreform sind wichtig und brisant.
Wie groß die Gefahren aus fehlschlagenden Reformen
dieser Art werden können, sehen wir ja in anderen Ländern des südlichen Afrikas. Es ist bedauerlich, wie unkritisch, ja fast schon beschönigend über den noch nicht
erfolgreichen Prozess der Landreform in Ihrem Papier
gesprochen wird. Ich möchte auf dieses Thema hier
nicht weiter eingehen, auch deshalb nicht, weil Ihr Antrag seinem Titel entsprechend für diese Debatte etwas
anderes ausweist. Ich weise nur darauf hin, dass hieran
deutlich wird, wie unbedarft und vielleicht auch ungeschickt politische Themen Afrikas zusammengeworfen
und in einem schnellen Aufguss erledigt werden sollen.
In den Jahren seit der Unabhängigkeit Namibias im
Jahre 1990 ist Deutschland der größte Partner Namibias
auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik. Das ist auch
der Tatsache geschuldet, dass es eine 30-jährige koloniale Vergangenheit aus der Zeit des deutschen Kaiserreiches gibt, die 1915 ihr Ende fand. Zum 11. August
dieses Jahres jährt sich zum 100. Mal die Niederlage der
Volksgruppe der Herero in der Schlacht am Waterberg.
Den Opfern unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus der oft blutigen und menschenverachtenden afrikanischen Kolonialzeit, die die deutsche Geschichte mit
zu verantworten hat, gilt unser stilles Gedenken und unsere Trauer.
Dieses bewusste Erinnern an die Geschichte ist aber
nur dann verantwortet, wenn es sinnvoll in eine Politik
von heute einbezogen wird. Das heißt: Erstens. Afrika
muss deutlicher in die europäische Politik eingebunden
werden. Zweitens. Das Afrika des 21. Jahrhunderts muss
zu einem Produkt der Afrikaner werden. Dies muss abseits von unkritischer und ideologisierter Schönfärberei
oder politischen Schnellschüssen geschehen. Nur so
wird ein kritisch-konstruktiver Dialog mit unseren afrikanischen Partnern möglich sein.
Ich hoffe sehr, dass wir den afrikanischen Themen
hier im Deutschen Bundestag in Zukunft mehr Aufmerksamkeit widmen und Chancen für eine sinnvolle Zusammenarbeit finden werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Christian
Ströbele.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Eymer, Ihren letzten Satz unterstütze ich
voll und ich habe auch geklatscht. Ich darf darauf hinweisen, dass die Überschrift des vorliegenden Antrags
lautet: „Zum Gedenken an die Opfer des Kolonialkrieges
im damaligen Deutsch-Südwestafrika“. Es geht also
nicht um die generelle Politik gegenüber Namibia. Dazu
gibt es viel und sicher auch Kritisches zu sagen. Hier
aber geht es um das konkrete Gedenken.
Ich war im Januar dieses Jahres zum 100. Jahrestag
des Beginns des Aufstandes der Hereros gegen die deutschen Kolonialherren in Namibia. Ich habe ein wunderschönes Land vorgefunden, das rein äußerlich, wenn
man durchfährt, sehr stark durch Europa und durch
Deutschland geprägt erscheint. Das betrifft nicht nur die
Straßen, sondern auch die Häuser und Ortschaften. Das
freut einen zunächst.
Ich habe dann gesehen, dass diese Straßen über Hunderte von Kilometern rechts und links von Zäunen eingegrenzt sind. Hinter diesen Zäunen liegen die großen Farmen. Ich habe mich gefragt: Wo leben hier eigentlich die
schwarzen Menschen? Wo sind die Dörfer und die kleinen Städte? Wo sind die Bewohner und deren Siedlungen? Ich habe gehört, dass es sie kaum mehr gibt. Die
wenigen Familien leben als Landarbeiter auf den Farmen. Dieses Bild von Namibia ist ein Ergebnis deutscher
Kolonialpolitik.
Die deutschen Kolonialherren haben Ende des
19. Jahrhunderts der dortigen Bevölkerung das Land genommen und an die deutschen Siedler verteilt. Viel Land
ist noch heute in den Händen von Siedlern aus Europa
bzw. aus Deutschland. Die großen Farmen sind nur zu
einem ganz geringen Anteil in den Händen von Schwarzen. Als sich die Hereros, die dort zu Hause waren und
denen das Land genommen wurde, vor 100 Jahren auflehnten, haben die Deutschen gegen dieses Volk und gegen das Volk der Nama, die sich anschließend erhoben
haben, einen Vernichtungskrieg geführt.
Ich möchte nur ein Zitat über den Hintergrund und
den Auftrag der damaligen Kriegsführung verlesen.
Der damalige oberkommandierende deutsche Generalleutnant von Trotha hat am 4. November 1904 dazu erklärt - ich zitiere -:
Ich kenne genügend Stämme in Afrika. Sie gleichen
sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der
Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war
und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut.
Das war der Auftrag, der damals an die deutschen Truppen ergangen ist.
Die Deutschen haben nicht nur einen Vernichtungskrieg geführt. Sie haben die ersten Konzentrationslager
der deutschen Geschichte - es waren fünf - eingerichtet.
45 Prozent der Insassen haben die Konzentrationslager
nicht überlebt. Von den 80 000 Hereros, die vor Beginn
des Krieges gezählt worden waren, haben circa 15 000
den Vernichtungskrieg überlebt. Von den circa
20 000 Nama waren es circa 9 000.
An diese deutschen Taten erinnern wir uns heute. Wir
verabschieden heute diesen Antrag. Ich bitte um Ihre Zustimmung, weil wir unser Gedenken an dieses deutsche
Handeln vor 100 Jahren deutschen Delegationen, die
zum Jahrestag der Schlacht am Waterberg nach Namibia
fahren, mitgeben wollen. Wir wollen unsere Trauer und
unser Bedauern gegenüber dem Volk der Hereros und
der Nama und den anderen Völkern in Namibia zum
Ausdruck bringen, und zwar ohne Wenn und Aber. Unsere politische und moralische Verantwortung für das,
was in deutschem Namen dort geschehen ist, für diesen
Vernichtungskrieg wollen wir übernehmen und durch
den Deutschen Bundestag anerkennen. Um nicht weniger und nicht mehr geht es in diesem Antrag. Ich hätte
mir den Antrag anders gewünscht. Er ist sehr stark verändert worden. Aber diese Botschaft kommt klar zum
Ausdruck. Ich meine, der Deutsche Bundestag sollte sich
dazu bereit finden, diese Botschaft geschlossen und einheitlich nach Namibia zum 100. Jahrestag des Gedenkens an dieses deutsche Tun zu verabschieden.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir gedenken heute eines traurigen Ereignisses in
der deutsch-namibischen Geschichte, nämlich des Aufstandes der Hereros und Nama gegen die Kolonialmacht
Deutschland und dessen Niederschlagung vor 100 Jahren. Besonders schlimm war die billigende Hinnahme,
dass ganze Bevölkerungsgruppen vernichtet worden
sind. Deshalb dürfen wir die blutige Niederschlagung
der Aufstände nicht vergessen.
Wir gedenken heute hier im Bundestag der Opfer unter den Hereros und Nama. Als ich bei meiner letzten
Afrikareise in Ruanda war und in Kigali die Gedenkstätte besucht habe, die zum 10. Jahrestag des Genozids
errichtet worden ist, war ich erschüttert, weil ich durch
sehr eindeutige Bilder genau an diese Taten und die damalige Situation erinnert worden bin. Das hat mich tief
beeindruckt.
Namibia ist der jüngste Staat Afrikas, gegründet
1990. Deutschland spielte damals eine entscheidende
Rolle bei der Unabhängigkeit Namibias, deren Prozess
fast elf Jahre gedauert hat. Die Resolution 435, die auch
durch die intensive Unterstützung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher zustande kam und
nach quälenden Verhandlungen von den Vereinten Nationen verabschiedet worden ist, hat die Grundlage dafür
gelegt. Wir bekräftigen heute die besondere Verantwortung für die Geschichte, aber auch die besondere Verpflichtung in der Gegenwart und in der Zukunft.
Dieses wird durch die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit und ganz besonders in der Entwicklungszusammenarbeit deutlich. Um nur eine Zahl zu nennen:
In den Jahren seit 1990 ist Hilfe in Höhe von etwa
500 Millionen Euro in dieses Land geflossen. Das ist
eine beachtliche Summe und unterstreicht die Richtigkeit unserer damaligen Entscheidung. Wir wollen und
müssen in der heutigen Situation die Hilfe fortsetzen.
Ich möchte noch kurz - meine Redezeit von drei Minuten ist fast beendet - ein kritisches Wort zu dem heutigen Staat Namibia sagen. Mich erfüllt die Landreform
mit Sorge, und wir müssen darüber, wie die Landreform
durchgesetzt werden soll, kritische Betrachtungen anstellen. Das Prinzip des willigen Käufers und des willigen Verkäufers auf der Grundlage der Verfassung wird
offensichtlich in einer Art und Weise interpretiert, die
Fragen aufwirft.
Vor einiger Zeit wurden Farmer aufgefordert, ihre
Ländereien dem Staat anzubieten. Wer innerhalb von
14 Tagen nicht antwortet, läuft Gefahr, dass nach einer
richterlichen Entscheidung sein Land enteignet wird. Er
erhält zwar eine Entschädigung, aber in den Farmerfamilien ist trotzdem eine enorme Unruhe entstanden. Denn
wie jeder weiß, kommen die Investitionsbereitschaft und
die weitere Planung in den Betrieben zum Erliegen,
wenn ein solcher Akt voraussehbar ist. Es gibt deutliche
Signale vonseiten der Opposition, die diese Politik heftig
kritisiert. Sie wissen, wie wichtig eine funktionierende
Landwirtschaft ist. Sie wissen auch, dass sie in Namibia
zurzeit noch ein bedeutender Wirtschaftsbereich ist und
welche Gefahr besteht, wenn es zu Irritationen und Unsicherheiten kommt.
Herr Kollege!
Deshalb möchte ich heute festhalten: Trotz allem sind
unsere Gedanken bei den Opfern und trotz allem war
und ist es richtig, dass wir ihrer heute gedenken.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartwig Fischer.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir gedenken der Opfer der damaligen grauenhaften Taten. Meine Vorredner
haben den Beginn des Hereroaufstandes gegen die deutschen Kolonialherren ist Südwestafrika bereits erwähnt.
Nachdem im Januar 1904 die ersten Schüsse gefallen
waren, kam es im August am Waterberg zur Entscheidungsschlacht, die wenige Wochen später mit der Flucht
eines großen Teils des Hererovolkes in die damals wasserlose Omahekewüste endete. Hierbei verhungerten
oder verdursteten die meisten der Vertriebenen. Es war
ein furchtbarer Feldzug der kaiserlichen Schutztruppe.
Auch an der Tatsache einer humanitären Katastrophe
kann und darf nicht gezweifelt werden. Neben der hohen
Zahl der Opfer war das Grauenhafte die billigende Hinnahme der Vernichtung von Teilen einer ganzen Volksgruppe.
Selbstverständlich wollen und müssen wir Deutschen
uns der kolonialen Vergangenheit mit aller Klarheit und
Deutlichkeit stellen. Deshalb halte ich es für richtig, dass
wir der Opfer des Herero- und Namavolkes auch im
Bundestag gedenken. Wir wollen damit dazu beitragen,
den Opfern ihre Würde und Ehre wiederzugeben. Das
wäre gerade auch aus der Sicht der heute lebenden Nachfahren ein besonders wichtiger Akt, um endlich wenigstens eine Art von Frieden mit ihnen zu schließen.
Die Geschehnisse sind 100 Jahre her und die Schuldigen sind nicht mehr am Leben. Ich plädiere deshalb dafür, dass wir das Gedenken an damals zum Anlass nehmen, unsere engen Beziehungen zu Namibia weiter zu
intensivieren und unsere namibischen Freunde und Partner besonders zu unterstützen. Ich halte dies vor dem
Hintergrund der besonderen kulturellen, wirtschaftlichen
und politischen Beziehungen zwischen Namibia und
Deutschland, wie sie unter anderem in der einstimmig
beschlossenen Bundestagsresolution vom 16. März 1989
gemeinsam manifestiert wurden, für richtig und absolut
notwendig.
({0})
Ich habe in Vorbereitung auf diese Debatte die Redebeiträge der Kollegen Toetemeyer, Hornhues und Frau
Hamm-Brücher zu der damaligen Debatte nachgelesen,
weil ich seinerzeit dem Parlament noch nicht angehört
habe. Die Diskussion damals zeigte, für wie zerbrechlich
die Situation gehalten wurde.
Namibias friedlicher Weg in die Unabhängigkeit war
beispielhaft. Auch das unabhängige Namibia müssen wir
auf seinem weiteren Weg in die Zukunft als Freund und
Partner begleiten. Namibia ist und bleibt ein wichtiger
Partner Deutschlands in Afrika. Umgekehrt ist Deutschland auch für Namibia ein besonders wichtiger Partner,
wie zum Beispiel der namibische Botschafter, Hanno
Rumpf, gerade am Nationalfeiertag wieder deutlich betont hat.
Ich begrüße daher außerordentlich die intensive Kooperation zwischen Deutschland und Namibia im Bereich
der Entwicklungszusammenarbeit. Kein anderes Land
der Welt erhält pro Kopf so viel Unterstützung von deutscher Seite wie Namibia. Weiterhin ist Deutschland der
größte Einzelgeber von Entwicklungshilfe für das Land.
Dies ist Ausdruck unserer tiefen Verbundenheit und
Freundschaft mit der namibischen Bevölkerung.
({1})
Es sei mir jedoch in diesem Zusammenhang erlaubt,
an das Gespräch der Bundesministerin Wieczorek-Zeul
mit dem namibischen Präsidenten Sam Nujoma im Juni
2002 in Berlin zu erinnern. Für den Kooperationssektor
„Ländliche Entwicklung“ sowie für die Konzeption einer ökologisch und ökonomisch nachhaltigen, verfassungs- und gesetzeskonformen Landreform wurde damals von der rot-grünen Regierung schnelle und vor
allem unbürokratische Hilfe zugesagt. Aus namibischer
Sicht erscheint die Umsetzung jedoch als ausgesprochen
schleppend und bürokratisch. Teilweise wird im Ausbleiben ernsthafter internationaler Hilfe sogar ein Motiv
für die sich radikalisierende Debatte über die Landreform in Namibia gesehen.
Frau Eid, ich möchte daher die Bundesregierung eindringlich auffordern, die Umsetzung ihrer Zusagen zu
überprüfen und gegebenenfalls korrigierend und beschleunigend einzugreifen. Deutschlands Stimme und
sein Verhalten haben Gewicht und Einfluss in Namibia.
Unser Kollege Ruck hat am 17. Mai dieses Jahres deshalb einen Brief an Ihre Ministerin gerichtet mit der
Hartwig Fischer ({2})
Bitte, uns zu beantworten, warum dies alles so schleppend erfolgt. Eine Antwort ist bis heute nicht gegeben
worden.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt brauchen diejenigen
Kräfte Namibias, die an einer stabilen, friedlichen und
nachhaltigen Entwicklung des Landes festhalten, unsere
tatkräftige, energische Unterstützung. Sollte in Namibia
der Eindruck entstehen, dass Deutschland das Interesse
an der Zukunft des Landes verliert oder allenfalls bürokratisch-schwunglos handelt, dann besteht die ernste Gefahr, dass politische Hardliner und Befürworter einer
konzeptions- und perspektivlosen Enteignungspolitik die
Oberhand gewinnen. Namibia muss neben Südafrika ein
sicherheitspolitischer Stabilitätsanker im südlichen
Afrika bleiben.
Herr Ströbele, Sie haben eben an uns appelliert, dass
es zu einer gemeinsamen Entschließung kommen muss.
Die Kollegin Eymer ist auf Einzelheiten Ihres Antrages
bereits eingegangen. Ich bedauere, dass wir uns heute
hier enthalten müssen. Ich will dies aber begründen. Sie
haben Ihren Antrag überfallartig eingebracht. Wir haben
ihn zuerst in einer anderen Fassung erhalten, nachdem
die Gremien des Deutschen Bundestages, deren Zeitabläufe uns allen bekannt sind, getagt hatten. Wir haben
danach Ihren Antrag in der endgültigen Fassung bekommen. Obwohl ich persönlich im Gespräch darum gebeten
hatte, war es nicht möglich, heute das erste Mal über Ihren Antrag zu debattieren und in 14 Tagen einen interfraktionellen Antrag vorzulegen. Ich glaube, dass dies
gerade vor dem Hintergrund des Antrages, auf den man
sich 1989 geeinigt hatte, möglich gewesen wäre.
Wir werden uns heute der Stimme enthalten. Ich finde
es schade, dass es keine andere Möglichkeit gab.
({3})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Zum Gedenken an die Opfer des Kolonialkrieges im damaligen Deutsch-Südwestafrika“, Drucksache 15/3329. Wer stimmt für den Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der Abgeordneten Pau bei Enthaltung von CDU/
CSU und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Julia Klöckner, Thomas Rachel, Andreas Storm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Förderung der Organspende
- Drucksache 15/2707 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
der Abgeordnete Thomas Rachel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Menschen denken nicht gerne über ihre Endlichkeit
nach. Sie denken auch nicht gerne über den Tod und
über die Fragen nach, die damit verbunden sind. Ob wir
nach unserem Tod unsere Organe zur Verfügung stellen
sollen, ist eine solche Frage. Ohne Anstoß setzen wir uns
damit nicht gerne auseinander. Wenn man Sie fragen
würde, ob Sie mit Ihren Angehörigen darüber gesprochen haben oder ob Sie einen Organspendeausweis besitzen, würden die wenigsten von Ihnen dies bejahen.
70 Prozent der Deutschen wären zwar grundsätzlich bereit, ein Organ zu spenden. Aber nur 12 Prozent haben
einen Organspendeausweis. Dies zeigt die nicht ausreichende Information und Mobilisierung der Bevölkerung.
Das Transplantationsgesetz von 1997 mit der „erweiterten Zustimmungslösung“ bezeichnet Organtransplantation als Gemeinschaftsaufgabe. Wir haben alles zu
tun, um die notwendige Menge an Organen zu erreichen.
Sieben Jahre nach Verabschiedung des Transplantationsgesetzes müssen wir feststellen, dass dieses Ziel nicht erreicht worden ist.
Die heute vorliegende Große Anfrage der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion bietet eine sehr gute Gelegenheit, die weiterhin bestehenden Probleme im Bereich der
Organtransplantation in den Fokus der Öffentlichkeit zu
rücken. Obwohl sich binnen 25 Jahren die Zahl der
Organtransplantationen um den Faktor 100 erhöht hat
- 1968 noch 32 Transplantationen, im Jahr 2001 3 863 -,
gibt es zu wenig Organe, um allen hilfsbedürftigen Menschen zu helfen und ihr Leben zu retten. Hätten wir eine
Zustimmungsrate von 50 Prozent und eine optimale
Koordinierung zwischen den Zentren und den Krankenhäusern, könnte die Versorgung gesichert werden.
Warum also, meine Damen und Herren, stehen über
12 000 Menschen in Deutschland auf einer Warteliste
und hoffen auf ein lebensrettendes Organ? Muss es so
bleiben, dass ein Drittel dieser Patienten stirbt, weil nicht
rechtzeitig ein Organ zur Verfügung steht? Es darf nicht
so bleiben, meine Damen und Herren, denn Organspenden betrachten wir Christdemokraten als einen Akt
barmherziger Solidarität.
Auch die Kirchen haben wichtige ethische Beiträge
zum Thema Organtransplantation geleistet. Ich erinnere
an die Schrift der beiden Kirchen „Gott ist ein Freund
des Lebens“ und an die Schrift „Organtransplantation“.
In der Erklärung von 1989 haben die Kirchen gesagt:
Die Kirchen wollen auch weiterhin die Bereitschaft
zur Organspende wecken und stärken. Die Organspende kann eine Tat der Nächstenliebe über den
Tod hinaus sein.
Die Bundesregierung sieht leider beim Thema Organspende - ich zitiere - „keinen direkten Handlungsbedarf“. Nein, sie kürzt sogar die Geldmittel für ihre Kampagne. Im Jahr 2002 stand nur noch die Hälfte der
Geldmittel für die Kampagne zur Organspendebereitschaft zur Verfügung. Da fragt man sich: Wie will diese
Bundesregierung eigentlich ihrer Aufgabe nachkommen,
die Organspendebereitschaft zu erhöhen?
Auch auf weitere drängende Fragen kommen keine
Antworten.
({0})
Zum Beispiel stellt sich das Problem, dass sich nur
40 Prozent aller Krankenhäuser mit Intensivstation an
der Organspende beteiligen. Nach dem Transplantationsgesetz besteht aber eine Pflicht, Patienten zu melden, die
als Spender infrage kämen. Aber was tut die Regierung,
zusammen mit den Bundesländern, dafür, dass die Krankenhäuser diese Meldepflicht auch erfüllen? Es muss
dringend sichergestellt werden, dass Patienten mit Hirntod den Transplantationszentren gemeldet werden; andernfalls gehen Organe verloren und sterben Patienten.
Auch angesichts der Diskussion um die Ausweitung
der Lebendspende bleibt die Bundesregierung weitgehend untätig. Die Zahl der Lebendspenden hat zugenommen. Eine enge Begrenzung auf besondere Näheverhältnisse wurde durch die Rechtsprechung infrage gestellt.
So soll die Cross-over-Spende nicht mehr schlechthin
ausgeschlossen sein.
Lebendspenden bergen aber Probleme. Sie betreffen
einmal die Freiwilligkeit der Spende; zum anderen gibt
es für die Spender selber keinen therapeutischen Nutzen.
Vielmehr ist die Entnahme eines Organs mit gesundheitlichen Risiken und psychischer Belastung verbunden.
Im Hinblick auf den Mangel an postmortalen Spendeorganen wird zunehmend die Subsidiarität der Lebendorganspende infrage gestellt. Wir fordern, daran festzuhalten, dass eine Lebendspende nur dann zulässig ist,
wenn kein postmortales Spendeorgan zur Verfügung
steht.
({1})
Die Ausweitung der Lebendspende darf nicht zur Vernachlässigung der Bemühungen um postmortale Spenden führen.
Wir müssen dringend die Forschung im Bereich der
Transplantationsmedizin, zum Beispiel auf den Gebieten
der Xenotransplantation und der Entwicklung künstlicher Organe, intensivieren.
Meine Damen und Herren, wir sehen im Bereich der
Organtransplantation dringenden Handlungsbedarf. Die
Bundesregierung tut diesbezüglich leider zu wenig.
({2})
Auf jeden Fall wird die Enquete-Kommission „Ethik
und Recht der modernen Medizin“ dieses Parlaments
- ich freue mich, viele Kollegen hier unter uns zu
sehen - konkrete Vorschläge für das Parlament erarbeiten. Die Missstände, die wir zurzeit haben, zu ignorieren
heißt nämlich, die zahlreichen Menschen, die dringend
ein Organ brauchen, das lebensrettend ist, allein zu lassen - mit tödlichen Folgen. Dies wollen wir nicht.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Wodarg.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU hat eine Große Anfrage an die
Bundesregierung gerichtet. Die Antworten liegen noch
nicht vor. Die Bundesregierung hat zu dem Thema Organspende natürlich regelmäßig Bericht erstattet; das
Robert-Koch-Institut schildert die Situation. Ihre Vorlage bezieht sich in einigen Punkten darauf.
Es ist wichtig, dass das Ganze noch ein wenig anschaulicher wird. Pro Tag spenden in Deutschland etwa
drei so genannte hirntote Menschen ihre Organe. Nur
5 Prozent dieser Menschen teilen über einen Organspendeausweis mit: Ja, ich will, dass das so geschieht. - Man
muss also schon mehrere Tage auf einen solchen Fall
warten. Bei weiteren 8 Prozent ist es so, dass die Angehörigen sagen: Ja, ich glaube, er hat einmal gesagt, dass
er das wohl will. - Der Wille dieses Hirntoten wird also
kolportiert, ohne dass er schriftlich vorliegt. Bei
87 Prozent derjenigen, die als hirntote Organspender infrage kommen und denen Organe entnommen werden,
ist es so, dass die Angehörigen praktisch stellvertretend
entscheiden. Eigentlich wissen sie es nicht genau, aber
sie vermuten, dass dies sein Wille ist: Es wird wohl so
sein; er war ja ein guter Mensch. - Es gibt also Konstellationen, die sehr bedrückend sind.
Der Druck, der auf Angehörigen, die das entscheiden
müssen, im Krankenhaus lastet, ist sehr groß. Wir kennen Angehörige, die es hinterher bereut haben, Ja gesagt
zu haben. Wir kennen auch Angehörige, bei denen es anders ist. Sie denken: Es ist gut so, dass das Herz jetzt jemand anders zugute kommt, also in einem anderen Menschen weiterschlagen kann. Oder sie denken: Es ist gut,
dass jemand nicht mehr zur Dialyse fahren muss, sondern mit einer gespendeten Niere wieder arbeiten
kann. - Die Gefühle sind also sehr gemischt.
Wir wundern uns, dass von den Krankenhäusern so
wenig Fälle gemeldet werden. Wir müssen zur Kenntnis
nehmen, dass das Personal, das in den Krankenhäusern
arbeitet, auch nicht viel anders fühlt und denkt als die
Menschen, die als Spender infrage kommen. Auch beim
Personal ist es so, dass etwa zwei Drittel derjenigen, die
man fragt, sagen: Ja, ich finde es gut, dass gespendet
wird. - Dennoch sind es sehr wenige, die das schriftlich
bekunden, zum Beispiel durch einen Organspendeausweis, den man mit sich trägt.
Im Krankenhaus ist es meines Erachtens so - ich kann
das auch aus eigener Erfahrung sagen, aus Gesprächen
mit dem Personal in den Krankenhäusern, die ich immer
wieder geführt habe -, dass Ärzte und Pflegepersonal
nicht in den Ruch kommen möchten, dem Patienten im
Interesse Dritter gegenüberzutreten. Das heißt, sie haben
den Angehörigen und den Patienten gegenüber nicht nur
das Wohl ihres Patienten, sondern auch das Wohl Dritter,
die auf Organe warten, im Hinterkopf. Das beißt sich.
Dort gibt es Konflikte, auch beim Personal. Das muss
man zur Kenntnis nehmen.
Der Deutsche Bundestag hat deshalb 1997 die Meldepflicht für die Krankenhäuser gesetzlich verankert. Die
Krankenhäuser halten sich nicht oder kaum daran. Daher
müssen wir uns wirklich fragen, ob man durch eine solche Pflicht Vertrauen schafft und ob man durch solche
Zwangsmaßnahmen das notwendige Bewusstsein schaffen kann.
Zusätzlich zu dieser Debatte wird eine Diskussion
über Organhandel geführt. Mit Organtransplantationen
wird sehr viel Geld verdient. Es wird nicht nur die Arbeit
der Ärzte und des Pflegepersonals bezahlt; das Organ
selbst ist zur Ware im weltweiten Handel geworden. Es
ist möglich, in andere Länder, nach China, nach Israel,
zu fahren und dort Organe zu kaufen. Was das bedeutet,
können wir uns nur schwer vorstellen. Da bedarf es
schon einiger Vorstellungskraft. Wir versuchen in der
Enquete-Kommission, durch Befragungen und durch
Anhörungen weiterzukommen.
Ingrid Schneider, die für uns eine Stellungnahme geschrieben hat, sagt, angesichts der Möglichkeit, jetzt im
Ausland Organe zu kaufen, und zwar als Lebendspende,
komme von Familien typischerweise die Frage: Warum
soll ich jemandem aus meiner Familie oder meinem
Freundeskreis das Risiko einer Organspende zumuten,
wenn ich doch eine Niere kaufen kann? Daran zeigt sich
ein bisschen, was es mit sich bringt, wenn es denn gegen
Geld Organe gibt. Dann entsteht ein Organtransfer, der
zurzeit natürlich von Süden nach Norden, von Osten
nach Westen, von Frauen zu Männern, von Schwarzen
zu Weißen, von Armen zu Reichen geht. Genau das kann
man beobachten. Genau darüber hat der Europarat erst
vor kurzem berichtet. Wir haben im Europarat eine Entschließung formuliert, in der der zunehmende Organhandel angeprangert wird, in der von den 45 Mitgliedstaaten
des Europarates ganz deutlich gesagt wird, der Verkauf
von Organen, von Menschenteilen und von ganzen Menschen - dort wurde auch über Menschenhandel gesprochen - sei gleichermaßen zu verurteilen; da komme man
ganz stark in Konflikt mit den Menschenrechten.
({0})
Deswegen lehnen wir auch die Tendenz ab, die wir in
Deutschland beobachten. Die Forderung, die jetzt erhoben wird, nämlich dass es einen Markt für Organe
auch in Deutschland geben soll, dass es Menschen erlaubt sein soll, ihre Organe zu verkaufen, wie das
Oberender und Rudolf aus Bayreuth im Oktober vorigen
Jahres veröffentlicht haben, die auch von der Deutschen
Stiftung Organtransplantation immer wieder in die Diskussion eingebracht wird und die aus den Fragen der
CDU/CSU-Fraktion herausklingt - man will hier einen
Bewusstseinswandel schaffen und die Menschen über finanzielle Anreize dazu bringen, ihre Organe zu verkaufen -, lehnen wir ab. Das wollen wir nicht. Das darf in
Deutschland nicht stattfinden. Das wird auch die Bundesregierung nicht anders sehen.
({1})
In Israel wird eine Niere für etwa 100 000 Dollar verkauft. Der Gewinn aus dem Handel mit einer Niere liegt
laut Oberender und Rudolf bei 50 000 bis 70 000 USDollar.
Herr Kollege Wodarg, da Sie offenkundig übersehen
haben, dass Ihre Redezeit längst abgelaufen ist,
({0})
darf ich Sie - nehmen Sie es mir nicht übel - daran erinnern.
Schade. Ich hätte den Anwesenden gern noch viele interessante Informationen gegeben. Wir werden von der
Staatssekretärin aber noch viele Informationen bekommen. Wir werden das Thema erneut diskutieren, wenn
die Große Anfrage beantwortet ist. Aber man soll ja die
Gelegenheit nutzen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Detlef Parr für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde
mir etwas mehr Selbstdisziplin abverlangen.
Die Transplantation von Organen in einen anderen
Menschen bleibt für mich immer noch ein Wunder des
medizinischen Fortschritts. Sie wird seit nunmehr fast
40 Jahren in Deutschland durchgeführt. Leben wird dadurch gerettet, Lebensqualität erheblich verbessert.
Doch der Fortschritt hat leider seine Grenzen. Die
Zahl der Organspenden konnte mit den medizinischen
Möglichkeiten und dem gestiegenen Bedarf nicht mehr
Schritt halten. Derzeit warten 11 500 Patientinnen und
Patienten auf ein Spenderorgan. Die durchschnittliche
Wartezeit bis zur Transplantation einer Niere beispielsweise beträgt etwa fünf Jahre. Das Warten auf ein Herz
oder eine Leber bedeutet meist einen Wettlauf mit der
Zeit, den viele Patienten nicht gewinnen.
({0})
Bezogen auf die Einwohnerzahl werden in Deutschland weit weniger Organe transplantiert als in den meisten unserer Nachbarstaaten. Aus gutem Grund fragt die
CDU/CSU bei der Bundesregierung nach; denn die Zahlen aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes
sind höchst beunruhigend.
({1})
2001 lag der Beteiligungsgrad der Krankenhäuser mit
Intensivstationen bei 44 Prozent. Gerade bei den Krankenhäusern der Grundversorgung ist die Beteiligung gering. Nur 5,2 Prozent aller postmortalen Organentnahmen
erfolgten aufgrund eines Organspendeausweises - mit
der Folge, dass nur bei 54 Prozent der potenziellen Organspender Organe entnommen werden konnten, da es
in den anderen Fällen zu einer Ablehnung durch die Angehörigen gekommen war. Wenn aber 67 Prozent der
Bevölkerung bei einer Umfrage ihre ausdrückliche Akzeptanz erklärten, als Organspender zur Verfügung zu
stehen, dann kann und muss durch massive Aufklärung
der Bevölkerung, durch Thematisierung in der Gesellschaft die Zahl derer erhöht werden, die ihre Akzeptanz
schriftlich oder zumindest mündlich klar äußern.
({2})
Wichtig ist für die FDP: Die Zustimmungslösung
steht für uns nicht zur Disposition. Jeder Mensch muss
das Recht haben, selbst zu entscheiden. Eine Widerspruchslösung lehnen wir deswegen weiterhin ab.
({3})
Ein Thema, das immer stärker in die öffentliche Diskussion rückt, die Lebendspende, wurde auch in der
Anfrage thematisiert. Es ist gut, dass sich die EnqueteKommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ intensiv damit befasst; denn wir werden und müssen
über die Ausweitung der möglichen Spender für eine Lebendspende reden. Der Staat sollte meiner Meinung
nach keine Organspenden verhindern, wenn ein einwilligungsfähiger und aufgeklärter Bürger ein Organ ohne
finanzielle Interessen spenden will, um ein Menschenleben zu retten. Die Beschränkung auf Empfänger, zu
denen der Organspender ein Näheverhältnis hat, erscheint nicht mehr haltbar. Überkreuzspenden und altruistische Spenden in einen Organpool sollten ermöglicht
werden; auch über die Zulassung einer Organspende für
einen bestimmten Empfänger ohne besonderes Näheverhältnis sollte nachgedacht werden, vorausgesetzt, eine
eingehende ethische Prüfung ergibt, dass es sich nicht
um Organhandel handelt. Darin, Herr Kollege Wodarg,
sind wir einer Meinung: Organhandel als Geschäft ist in
Deutschland nicht zu akzeptieren.
Wir sind gespannt, wie die Antworten der Bundesregierung auf die Fragen der Union lauten, und freuen uns
auf die Debatte im Parlament, die die Union anstößt.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Selg, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der
CDU/CSU hat vor knapp drei Monaten eine Große Anfrage zur Förderung der Organspende an die Bundesregierung gerichtet. Die Anfrage umfasst immerhin
47 Fragen. Die CDU/CSU erwartet natürlich - das hoffe
ich zumindest -, dass diese Fragen fundiert und umfassend beantwortet werden. Anscheinend ist sie jedoch
nicht bereit, der Bundesregierung die Zeit zuzugestehen,
die für das Einholen der notwendigen Informationen nun
einmal notwendig ist.
({0})
Die Unionsfraktion weiß doch selbst am besten, dass
ihre Fragen nicht nur die Bereiche von Bund und Ländern betreffen, sondern zum Beispiel auch die Transplantationszentren, die Kostenträger und vor allem die
Deutsche Stiftung Organtransplantation als Koordinierungsstelle.
Sollte die CDU/CSU jedoch tatsächlich so misstrauisch gegenüber der Bundesregierung sein, was die Beantwortung ihrer Fragen angeht, so frage ich mich, warum sie sich nicht auf das ureigene Beratungsorgan des
Bundestages, die Enquete-Kommission, beruft,
({1})
hat doch der Bundestag nicht nur in der letzten, sondern
auch in dieser Wahlperiode die Enquete-Kommission
„Recht und Ethik in der modernen Medizin“ eingesetzt, die sich explizit unter anderem mit der Organspende auseinander setzt und von der ich weiß, dass in
ihr auch Mitglieder der CDU/CSU vertreten sind.
({2})
- Schreien Sie doch nicht immer! Hören Sie zu!
({3})
Die Enquete-Kommission wird voraussichtlich Ende des
Jahres einen Zwischenbericht zum Thema Lebendorganspende vorlegen. Deshalb frage ich mich: Sollte nicht
unabhängig von der Beantwortung der Anfrage durch
die Bundesregierung dieser Bericht abgewartet werden,
bevor man beispielsweise über eine Weiterentwicklung
des Transplantationsgesetzes in Richtung Lebendorganspende nachdenkt? Wenn Sie den Prozess bis Ende des
Jahres nicht abwarten können - Sie sitzen in dieser Enquete-Kommission -, dann tragen Sie dazu bei, dass er
beschleunigt wird.
({4})
Ich möchte nicht weiter über die Intention der CDU/
CSU spekulieren, diese Beratung heute Abend hier einzufordern. Dazu ist die Thematik der Organspende und
ihre gesetzliche Regelung einfach ein zu sensibles Feld.
({5})
Genau deshalb ist als Erstes grundsätzlich festzuhalten,
dass das Transplantationsgesetz insgesamt weitgehend
Rechtssicherheit geschaffen hat. Es ermöglicht eine tragfähige Regelung für die Praxis der Organtransplantation.
Zu diesem Ergebnis ist übrigens auch die Enquete-KomPetra Selg
mission in ihrem Abschlussbericht 2000 gekommen; ich
hoffe, Sie haben ihn gelesen.
Thematisierungsbedarf gibt es vor allem aus drei
Gründen: Der erste Grund ist die Tatsache, dass die Länder bei der Umsetzung des Transplantationsgesetzes
hinterherhinken. So gibt es erst wenige Landesgesetze,
die sich dieser Zuständigkeit annehmen, und dies, obwohl es nachweislich positive Effekte auf die Zunahme
der Transplantationen postmortal gespendeter Organe
gibt.
Auch auf Länderebene hat man in der Zwischenzeit
erkannt, dass es hier großen Nachholbedarf gibt. So befasst sich die heute und morgen tagende Gesundheitsministerkonferenz mit einem Antrag zur Verbesserung der
Organspendesituation. Hierbei werden wichtige Knackpunkte benannt: die Versorgungsaufträge der Krankenhäuser, die Unterstützung der Deutschen Stiftung Organtransplantation als Koordinierungsstelle und die
Notwendigkeit konkreter Vorgaben für die Zulassung als
Transplantationszentrum.
Der zweite Grund steht im Zusammenhang mit der
europäischen Geweberichtlinie, die Vorgaben für die
Transplantation von Gewebe und Zellen macht. Hierbei
gibt es bezüglich der Transplantation von Gewebe Überschneidungen mit dem Transplantationsgesetz. Wie sollen zum Beispiel die Verteilungskriterien für Augenhornhäute gestaltet werden? Wie ist mit dem Gewebe
nicht transplantabler Organe umzugehen, also etwa mit
Herzklappen oder Leberzellen? Dies fällt nicht unter das
derzeitige Transplantationsgesetz. Hier geht es bei der
Verteilung derzeit nach dem Motto zu: Wer zuerst
kommt, mahlt zuerst - oder er nimmt sich, was er
braucht.
Der dritte Grund ist die tendenzielle Ausweitung der
Lebendorganspende. Hier steht, wie gesagt, ein Bericht
der Enquete-Kommission aus, der meiner Meinung nach
abzuwarten ist. Noch einmal: Sollte er durch Ihre Mitarbeit schneller kommen, wäre nichts dagegen einzuwenden. Bei der Debatte um die Lebendorganspenden wird
dann hoffentlich berücksichtigt werden, dass es zu keiner Beeinträchtigung der Postmortalspende kommen
darf und dass ein Hauptaugenmerk auf den Versicherungsschutz für Lebendorganspender liegt.
Zusammenfassend ist festzustellen: Die Große Anfrage der CDU/CSU geht an dem eigentlichen Thematisierungsbedarf vorbei, nämlich der Umsetzung durch
landesrechtliche Regelungen und den Verteilungsregeln
für Gewebe. Sie können aber sicher sein, Herr Rachel,
dass Sie Ihre Antworten bekommen; denn an Sachthemen ist die Bundesregierung und ist auch die Koalition
immer interessiert. Sie können auch sicher sein, dass wir
das Thema gerne in den Focus der Debatte führen. Nur,
für Showeinlagen dieser Art ist das Thema nicht geeignet.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort der Kollegin Julia Klöckner,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, dieses Thema ist nicht dazu geeignet, Applaus zu
erheischen, dem einen oder anderen eins draufzugeben
oder ihn vorzuführen. Dieses Thema ist eines der wenigen Themen hier im Parlament, bei denen es in der Tat
um Leben und um Tod geht und bei denen wir zusammenarbeiten müssen.
({0})
Ich glaube nicht, dass man über ein Thema, zu dem
vor sieben Jahren ein Gesetz verabschiedet worden ist,
nicht mehr nachdenken muss, nur weil ein Abschlussbericht einer Enquete-Kommission - das war übrigens
kein Abschlussbericht; denn sonst stünde dieses Thema
in der Enquete-Kommission nicht mehr auf der Tagesordnung - bzw. ein Ergebnis vorliegt.
Ich finde es sehr traurig, dass Sie diesen Zungenschlag in die Debatte hineingebracht haben; denn es geht
hier um eine Große Anfrage.
({1})
Ich weiß jetzt nicht, ob Sie mit den parlamentarischen
Vorgehensweisen nicht vertraut sind.
({2})
Es gibt eine Große Anfrage - ich weiß nicht, ob diese einer Enquete-Kommission entgegensteht.
({3})
Wenn Sie sich einmal das Programm unserer EnqueteKommission, insbesondere der Themengruppe Transplantationsmedizin, anschauen würden, dann würden Sie
sehen, dass es durchaus um ganz andere Themen geht als
um das, was Sie uns in die Schuhe zu schieben versucht
haben. Es geht nicht um Profilierung, sondern es geht
wirklich darum: Wie können wir akut und sehr schnell
optimieren und Möglichkeiten nutzen, die bisher nicht
genutzt wurden, um dadurch Menschenleben zu retten?
({4})
Wie Sie wissen, kann man, wenn man eine Große Anfrage eingereicht hat, nach drei Wochen oder auch später
({5})
- nein, Sie sollten sich einmal informieren - beantragen,
dass man frühestens nach drei Monaten und vor allen
Dingen, wenn die Anfrage beantwortet ist, eine Debatte
dazu führt.
({6})
Ich weiß nicht, warum Sie sagen, wir seien skeptisch;
das wundert mich schon sehr. Weder Herr Rachel noch
Herr Parr haben etwas Entsprechendes gesagt. Wir
möchten dieses Thema auf die Tagesordnung bringen,
weil es ein wichtiges Thema ist
({7})
und weil wir auch den Menschen ein Zeichen geben wollen, die auf der Warteliste stehen, für viele ist es nämlich
eine Todesliste. Wenn wir heute Morgen zur Prime Time
um 9 Uhr zu einer Regierungserklärung über das Übergewicht in Deutschland reden, dann, so finde ich, kann
man auch um 19 Uhr über Menschen reden, die auf ein
lebensrettendes Organ warten.
({8})
Nach rund sieben Jahren ist es nämlich an der Zeit,
einmal zu schauen, ob das Ziel erreicht worden ist, das
mit dem Transplantationsgesetz 1997 beabsichtigt
wurde, nämlich die Förderung der Organspende als Gemeinschaftsaufgabe. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe.
Kollege Rachel und Kollege Parr, aber auch Kollege
Wodarg haben es erwähnt: Es ist in der Tat erschütternd,
dass rund 14 000 Menschen auf der Warteliste stehen.
Ich kann Ihnen sagen, was mich sehr betroffen gemacht hat und warum wir uns in dieser Frage so sehr engagieren. „Durst ist schlimmer als Heimweh“ hat einmal
eine Dialysepatientin gesagt. Sie darf nur ein Glas Wasser trinken; sie steht seit Jahren auf der Warteliste und
weiß, dass ihre Chancen, mit einer transplantierten Niere
zu überleben, umso schlechter sind, je länger sie auf der
Warteliste ist und an der Dialyse hängt. Das lässt einen
nachdenklich werden. Ich denke, das ist Grund genug,
einmal nachzufragen, ob sich das, was man vor sieben
Jahren beschlossen hat, bewährt hat. Gegebenenfalls
müssen wir uns fragen, was man tun kann, damit das effektiver wird.
Teilweise gibt es eine grundsätzliche Zustimmung zur
Organspende, teilweise wollen sich Menschen damit
einfach nicht beschäftigen. Wir haben das Thema auf die
Tagesordnung gesetzt, um diese Problematik wieder in
das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Wenn Sie
Menschen fragen, ob sie ein Organ nehmen würden,
dann wird die Antwort regelmäßig sein, dass sie
das - zum Beispiel, wenn sie einen Unfall hatten - natürlich machen würden. Wenn man dieselben Menschen
dann aber fragt, ob sie auch einen Organspendeausweis
haben, dann heißt es häufig: Darüber habe ich nicht
nachgedacht. Man wird ja auch nicht damit konfrontiert. - An dieser Stelle möchten wir einen Beitrag leisten.
Es ist kein wirkliches Argument, dass doch ein Bericht der Bundesregierung vorliege. Ein Bericht an sich
ist noch kein Qualitätsmerkmal. Wir müssen schauen,
was die Ergebnisse sind und was wir mit diesen Ergebnissen machen. Deshalb haben wir die Große Anfrage
gestellt, die in drei Bereiche eingeteilt ist. Zum einen
geht es um das Thema der postmortalen Spende, dem
sich die Enquete-Kommission erst im nächsten Jahr zuwendet. Zudem geht es um die Lebendspende. Dazu stellen wir Fragen, die uns bei der Arbeit in der EnqueteKommission helfen. Deshalb sind wir dankbar, wenn wir
auf zuverlässige Daten vom Ministerium zurückgreifen
können. Schließlich geht es um die Xenotransplantation,
also um Forschungsentwicklungen in der Zukunft. Es ist
doch schön, wenn wir das Ministerium in dieser komplexen Frage mitnehmen können.
Ausgehend von dieser geschilderten kritischen Entwicklung möchten wir wissen, wie ernst der Bundesregierung das Thema ist. Die Gelder für Informationsmittel sind in den vergangenen Jahren halbiert worden.
Wenn ich aber kein Informationsmaterial habe, wenn
ich mit dem Thema nicht in Berührung komme, dann
mache ich mir auch keine Gedanken darüber. Dieser
Punkt ist uns wichtig.
({9})
Ich glaube, Kollege Wodarg möchte eine Zwischenfrage stellen.
Genauso ist es. Offenkundig wollen Sie die Zwischenfrage auch zulassen. Bitte schön, Herr Wodarg.
Vielen Dank. - Frau Klöckner, als ich Ihre Fragen gelesen habe, habe ich mich gewundert, dass Sie zwar sehr
intensiv an die Menschen denken, die auf Organe warten
- natürlich ist das ein wichtiger Punkt -, dass Sie aber
- und das fehlt mir - kein Gespür für die andere Seite
zeigen. Es ist klar, dass viele von denen, die spenden,
nichts mehr sagen können. Aber man muss doch einmal
die Situation der Angehörigen hinterfragen: Wie geht
es denen hinterher? Was ist mit denen? Wie haben die
das verarbeitet? Das fehlt mir bei Ihnen völlig.
Was bei Ihnen außerdem fehlt - das ärgert mich sehr,
das ärgert mich sogar am allermeisten -, ist, dass Sie in
keinerlei Weise fragen, was man denn tun kann, damit
diese Warteliste nicht immer länger wird - außer natürlich, dass man versucht, Organe zu beschaffen. Es hat
doch Gründe, dass die Nieren versagen. Die Leute haben
einen schlecht eingestellten Blutzucker und Bluthochdruck.
Können Sie eine Frage stellen?
Die Leute nehmen Schmerzmedikamente ein, für die
in der Öffentlichkeit geworben wird.
({0})
All das sind die wichtigsten Gründe für Nierenversagen.
Herr Kollege, Sie müssten jetzt in der Tat eine Frage
stellen; denn zu einer Kurzintervention haben Sie das
Wort weder erbeten noch erhalten.
Meine Frage ist, weshalb diese Fragen in der Großen
Anfrage nicht auftauchen.
Ich habe eine Gegenfrage, Herr Wodarg: Warum haben Sie die Große Anfrage nicht gescheit durchgelesen?
Sehr wohl stehen diese Fragen darin.
({0})
- Stehen bleiben! Ich würde auch bei Ihnen gerne stehen
bleiben.
Herr Wodarg, wir können gerne nachher diese Fragen
durchgehen. Wir haben sehr wohl danach gefragt, was
getan wird, um die Betreuung der Angehörigen zu verbessern. Denn in der Tat geht es um die Angehörigen,
die ja zustimmen müssen, die aber eine gewisse Hemmschwelle haben, wenn ein von Ihnen geliebter Mensch
verstorben ist. Sie werden auch die Fragen finden: Wird
denn genügend bei der Personalausbildung in den Kliniken getan, damit diese besser mit den Betroffenen umgehen können? Gibt es Organisationen bzw. Initiativen, die
sich nachher mit den Angehörigen treffen? Welche weiteren Maßnahmen schlägt die Bundesregierung vor, um
hier weitergehend tätig werden zu können?
Vielleicht kennen Sie nicht alle Fragen in der Großen
Anfrage. Wir können sie gerne durchgehen.
({1})
- Und lesen. - Ich bin sicher, dass wir die von Ihnen angesprochenen Fragen darin finden werden.
Sie haben mir das Stichwort gegeben, um zu einem
anderen Aspekt überleiten zu können. Wir wollen mit
unseren Fragen herausfinden, wo es Missstände gibt.
Wir halten dies für sehr wichtig. Aus dem Ministerium
bekommt man aber zwischen den Zeilen gesagt, man
müsse sich erst einmal einen Überblick verschaffen, zurzeit gebe es anderes zu tun und man sei unterbesetzt.
Darauf antworte ich: Es wird Zeit, dass Sie sich einmal
einen Überblick verschaffen. Es ist bei dieser Thematik
fatal, dass Sie keinen haben.
({2})
Wir stellen auch konkrete Forderungen. Wir haben
Vorstellungen, was man tun könnte, ohne dass das Gesetz geändert werden muss. Wir könnten uns zum Beispiel vorstellen, dass es einen entsprechenden Vermerk
auf der Krankenversichertenkarte gibt. Die Krankenkassen wollen alles von ihren Mitgliedern wissen. Daher
können sie auch abfragen, ob jemand Organspender werden möchte. Das kann auf einer Versichertenkarte gut
vermerkt werden.
Wichtig ist für uns, dass die Aufklärung weiterhin
forciert wird, dass es entsprechende Materialien gibt und
dass die Auseinandersetzung über diese Thematik weitergeführt wird. Wir fordern, dass diese Thematik in die
Lehrpläne aufgenommen wird. Obwohl es Ländersache
ist, müssen wir das Thema ansprechen, ob es nicht sinnvoll ist, die Aufklärungsarbeit im Rahmen von Fächern
wie Biologie, Ethik und Religion zu integrieren. Wenn
man seine Führerscheinprüfung macht, muss man auch
über jedes Schild Bescheid wissen.
({3})
Ganz wichtig ist es, darauf zu achten, dass sich die
Kliniken mit dieser Thematik beschäftigen; denn sie
sind die Schnittstelle. Wir müssen hinterfragen, warum
es viele kleine Kliniken unterlassen, hier aktiv zu werden. Legen sie dabei drauf, wenn sie eine oder zwei
Nächte einen Nierentoten auf der Intensivstation versorgen müssen? Oder ist das Pflegepersonal nicht genügend
sensibilisiert, um mit den Angehörigen in angemessener
Weise umgehen zu können?
Uns geht es keinesfalls um Populismus. Die DSO, die
Sie so gerne zitieren, ist dankbar, dass die Union dieses
Thema aufgegriffen hat und Anstöße gibt. Hier geht es
nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Miteinander, um denjenigen zu helfen, die sich nicht selbst helfen
können.
({4})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die
Parlamentarische Staatssekretärin Caspers-Merk das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
erinnere mich noch gut daran, als 1967 die erste Herztransplantation durchgeführt wurde. Sie sorgte international für großes Aufsehen. Keiner hatte damals geglaubt, dass das möglich ist und dass Patienten mit
einem fremden Herzen überleben können. Heute gehört
diese Operation zum Standard in den deutschen Herzzentren, wo Tag für Tag Herztransplantationen mit großem Erfolg vorgenommen werden. Es ist also richtig,
dass wir uns mit der Frage beschäftigen, welche Ergebnisse mit dem Transplantationsgesetz erzielt werden
konnten.
Frau Kollegin Klöckner, das Transplantationsgesetz
wurde von uns mitgetragen. Sie waren damals an der Regierung;
({0})
wir waren in der Opposition. Wir haben 1997 dieses Gesetz gemeinsam verabschiedet, weil wir wollten, dass
eine sichere Rechtsgrundlage für die Spende, für die
Entnahme und für die Transplantation von Organen geschaffen wird.
Das Gesetz hat sich im Wesentlichen bewährt. Dies
war auch die Einschätzung auf der Gesundheitsministerkonferenz, von der ich gerade komme. Die Länderminister stellen fest, dass das Gesetz ein Erfolg ist. Im Jahr
2003 wurden 11 Prozent mehr Organe als im Jahr 2002
gespendet. Es gibt also eine deutlich positive Tendenz.
Wir haben auch eine Zunahme der Transplantationen
insgesamt. Es geht aufwärts. Das ist die gute Botschaft.
Aber auch die Kritik ist berechtigt, dass die Wartelisten immer noch zu lang sind und dass wir im europäischen Vergleich noch keinen Spitzenplatz belegen, sondern einen Platz, der uns veranlassen sollte, darüber
nachzudenken, was wir tun können.
Natürlich kann man die Anzahl der gespendeten Organe nicht planen und nicht verordnen. Da ist Überzeugungsarbeit notwendig und die vorhandenen „Stellschrauben“ müssen richtig eingestellt sein.
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen,
dass die Zahlen, die hier genannt wurden, nicht korrekt
sind. Seit 1997 wurden insgesamt über 7 Millionen Euro
in die Aufklärungskampagne „Organspende schenkt Leben“ der BZgA gesteckt. Es ist richtig, dass es im letzten
Jahr weniger war; dafür ist es in diesem Jahr doppelt so
viel wie im vergangenen Jahr. Das hat aber auch damit
zu tun, dass man zunächst die Nachfrage nach einer Broschüre abwartet.
Die Summe, die die BZgA ausgibt, hängt auch mit
der Bereitschaft der Länder zusammen, gemeinsame Aktionen zu starten. Es macht nämlich keinen Sinn, zum
Beispiel fünf Broschüren an dieselben Gruppen zu verteilen, wenn man stattdessen durch Gemeinschaftsaktionen mit Kooperationspartnern, insbesondere mit
Krankenhäusern und Ärzten, wesentlich bessere Ergebnisse erzielt. Deswegen ist es, denke ich, richtig, dass es
bei der BZgA diesen Schwerpunkt gibt und dass wir im
Jahre 2004 wieder mehr Geld für Kampagnen, aber auch
für Gemeinschaftsaktionen zur Verfügung stellen. Ich
glaube, damit schlägt die Bundesregierung eine richtige
Maßnahme vor.
Was ist die zweite „Stellschraube“? Die zweite „Stellschraube“ ist die Meldepflicht für die Krankenhäuser,
die noch nicht in ausreichendem Maße melden. Das
wurde heute von allen Rednerinnen und Rednern beklagt. An dieser Stelle ist die Frage berechtigt: Wer ist
denn dafür zuständig? Die Bundesregierung ist es nicht;
sondern hier gibt es eine klare Verantwortung der Länder. Diese Verantwortung der Länder muss eingefordert
werden. Es ist nicht in Ordnung, dass immer noch nicht
jedes der 100 Krankenhäuser der Maximalversorgung
meldet, obwohl eine Meldepflicht gesetzlich geregelt ist.
Was haben wir als Bund getan? Wir haben unsere
Hausaufgaben erledigt, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union. Wir haben seit 1. Januar darauf hingewirkt, dass zum Beispiel die Vergütung, die für den Aufwand der Meldung pauschal gewährt wird, erhöht wird.
Das ist ein wichtiger Anreiz, damit die Krankenhäuser
melden.
Ich sage es aber noch einmal: Es kann nicht sein, dass
einerseits die Krankenhausplanung Ländersache ist, andererseits aber dann, wenn der Meldepflicht nicht hinreichend nachgekommen wird, der Bund zuständig sein
soll. Da müssen die Länder an ihre Verantwortung erinnert werden. Ich erwarte, dass sich die Landesministerinnen und Landesminister ihrer politischen Aufgabe stellen und die Krankenhäuser darauf hinweisen, dass es zu
ihrem Versorgungsauftrag gehört, bei Organspenden ihrer Meldepflicht nachzukommen.
Die dritte Aufgabe ist es, weiterhin für eine stärkere
gesellschaftliche Akzeptanz zu sorgen. Das können wir
nicht nur über Broschüren tun, sondern das muss jede
und jeder in seinem Umfeld machen. Wir müssen die
vorhandenen Sorgen und Nöte ernst nehmen und die
Vorurteile abbauen. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand die ethischen Grundsätze außer Acht lässt und wir
müssen die ethischen Bedenken der Spender und ihrer
Angehörigen ernst nehmen.
({1})
Nur so kommen wir weiter.
Nun komme ich zu der Frage, welche Rolle die
Enquete-Kommission in diesem Zusammenhang spielt.
Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages
sind Beratungsgremien, die sich der Bundestag selbst
schafft. Eine Enquete-Kommission hat dieses Thema als
Schwerpunkt. Sie wird sich auch zu dem ethisch sehr
strittigen Thema der Lebendspende äußern. Die Bundesregierung sollte dem Votum der Enquete-Kommission
nicht vorgreifen, weil damit eine Beratung in der Enquete-Kommission überflüssig wäre. Die Bundesregierung ist sehr an den Äußerungen der Enquete-Kommission interessiert. Ich will an dieser Stelle betonen: Einen
Organhandel wird es mit dieser Bundesregierung nicht
geben; das ist ausdrücklich ausgeschlossen.
({2})
Wir werden dafür sorgen, dass nicht Anreize finanzieller Art geschaffen werden. Wir werden auch dafür
sorgen, dass die hohen ethischen Standards, die in
Deutschland bei der Organspende existieren, beibehalten
werden.
Mein Appell geht an Sie: Helfen Sie dort, wo Sie
Überzeugungsarbeit leisten können, dieses Thema zu
fördern. Ihre Fragen beantworten wir gern, allerdings
muss jeder wissen: Die Hauptverantwortung liegt bei
den Beteiligten und bei den Ländern. Deswegen sind
auch sie mit in die Pflicht zu nehmen. Wir haben dies
durch eine Abfrage bei den Ländern getan. Wir werden,
sowie die Ergebnisse aus den Ländern vorliegen, Ihre
Fragen umfassend und kompetent beantworten.
Schönen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 14:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Rehbock-Zureich, Sören Bartol, Uwe
Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt ({1}), Volker Beck ({2}),
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Die Bahnreform konsequent weiterführen
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Leitlinien für die Vollendung der Bahnreform
- Drucksachen 15/2658, 15/2156, 15/3268 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre Bahnreform - das war ein Datum, das
wir zum Anlass genommen haben, uns in den letzten
Wochen heftig zu streiten. Das zeigt uns vor allen Dingen: Die Bahnreform ist nicht abgeschlossen, die Bahnreform geht vielmehr in eine entscheidende Phase.
Sieht man sich die vorliegenden Anträge etwas genauer an, dann stellt man fest, dass es mehr Gemeinsamkeiten gibt, als auf den ersten Blick zu vermuten
wäre.
({0})
Zum Beispiel die Beibehaltung der Ziele der Bahnreform, die Beibehaltung der verfassungsrechtlichen Verantwortung des Bundes für die Schieneninfrastruktur,
die Sicherung des Wettbewerbs auf der Schiene, die Öffnung des europäischen Schienennetzes, die Erhöhung
der Wirtschaftlichkeit der Bahn und die Transparenz der
Unternehmensbereiche der Bahn und die sorgfältige Prüfung der Voraussetzungen für einen Börsengang der DB
AG sind Grundsätze, die die Bundesregierung nur unterstreichen kann.
Und wir handeln auch entsprechend, zum Beispiel mit
dem Entwurf des Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften, also der Umsetzung des
ersten Eisenbahnpakets und der Empfehlungen der
Taskforce „Zukunft Schiene“. Wir haben maßgeblichen
Anteil in Europa am zweiten Eisenbahnpaket. Mit der
Unterstützung des Parlamentes sind weitere Fortschritte
bei der Liberalisierung des Schienenverkehrs erreicht
worden. Regierung und Koalition haben dafür gesorgt,
dass im Durchschnitt rund 3,8 Milliarden Euro jährlich
in die Schienenwege investiert wurden. Das haben wir
trotz der notwendigen und schmerzhaften Haushaltskonsolidierung geschafft.
({1})
Schließlich gehört hierzu auch die Vorbereitung eines
möglichen Börsengangs der DB AG. Der Börsengang
könnte ein Gütesiegel des Kapitalmarkts für eine erfolgreiche Vollendung der Bahnreform werden. Ich denke,
da sind wir uns im Grundsatz einig.
({2})
Das war bei der Bahnreform - es gibt hier noch einige,
die sie damals mit beraten haben - auch so angedacht.
Der Börsengang würde jedenfalls das Unternehmen
in die Lage versetzen, flexibel auf Erfordernisse eines
dynamischen Marktes zu reagieren. Der europäische
Schienen- bzw. Bahnmarkt wird in den nächsten Jahren
ein sehr dynamischer Markt sein. Ein dynamischer
Markt stellt Anforderungen an Unternehmen, die dauerhaft konkurrenzfähig sein wollen. Das setzt vor allem
die Fähigkeit voraus, schnell auf Veränderungen reagieren zu können.
Ein Börsengang setzt die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens voraus. Um eine Entscheidungsgrundlage zu
bekommen, liegen noch einige Arbeiten vor uns. Diese
Arbeiten werden sorgfältig durchgeführt. Trotz der beschriebenen Gemeinsamkeiten wird es - ich glaube, das
ist eine Prognose, die man durchaus anstellen kann zum Wie und Wann eines Börsengangs mehr als zwei
Meinungen geben. Darüber werden wir dann in den Ausschüssen und im Plenum miteinander diskutieren.
Seit Mitte 2003 führt das BMVBW zusammen mit
den beteiligten Ressorts und der DB AG Gespräche und
prüft, welche Voraussetzungen im Unternehmen und bei
den rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Diese Gespräche werden wir weiterführen. Wir werden die verkehrs-, finanzund haushaltspolitischen Chancen und Risiken aller Alternativen und Vorschläge sorgfältig prüfen und uns
dazu selbstverständlich auch externen Sachverstands
bedienen. Auf der Grundlage des Gutachtens von
Morgan Stanley werden wir außerdem die weitere
Unternehmensentwicklung genau beobachten. Die nachhaltige, konsolidierte wirtschaftliche Situation des Unternehmens ist - das weiß jeder - Voraussetzung für einen erfolgreichen Börsengang.
Ich würde mich freuen, wenn wir im weiteren Verlauf
der Beratungen unter Berücksichtigung der verschiedenen Möglichkeiten über die Chancen und Risiken des
Unternehmens auf dem deutschen, europäischen und
auch auf dem internationalen Markt nüchtern und ohne
ideologische Scheuklappen diskutieren würden und darlegen würden, wo wir jeweils die Zukunft des Unternehmens sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine größere grundsätzliche Übereinstimmung gibt, als es
vielleicht nach der heutigen halbstündigen Diskussion
zum Ausdruck kommt.
Danke.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Fischer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Du kannst nicht anders mit der Bahn fahren, als die
Schienen gelegt sind; so Wilhelm Voigt, der Hauptmann
von Köpenick.
({0})
Zur Vollendung der Bahnreform bedarf es aus unserer
Sicht jetzt der richtigen Weichenstellung. Der gewünschte Börsengang der DB AG - dieses Ziel eint uns,
glaube ich, alle - darf nicht unter einen falschen Zeitdruck gesetzt werden.
({1})
Es muss sehr wohl überlegt werden, unter welchen
strukturellen, verkehrspolitischen und ökonomischen
Rahmenbedingungen er erfolgen soll. Wer das anders
machen will, läuft Gefahr, die Bahnreform gegen die
Wand und die DB AG in die Pleite zu fahren.
({2})
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass die Ziele
der Bahnreform beibehalten werden, nämlich mehr
Verkehr auf die Schiene zu bringen und eine geringere
Belastung des Steuerzahlers und des Haushalts zu erreichen. Deswegen ist vor einer Teilprivatisierung der
DB AG eine mehrjährige positive Gewinnentwicklung
des Gesamtkonzerns, und zwar aus gewöhnlicher
Geschäftstätigkeit, erforderlich.
({3})
Ein Börsengang gestützt auf Haushaltsfinanzierung,
Auflösung von Rückstellungen und die Verschiebung
dringend notwendiger Investitionen ist nicht tragfähig.
({4})
Das Parlament erwartet die Einbeziehung externen
Sachverstands bei der Wahl des Privatisierungsmodells.
Der Gutachtenauftrag, der jetzt ausgeschrieben wird,
muss ergebnisoffen sein und alle denkbaren Varianten
unter betriebswirtschaftlichen, verkehrspolitischen und
volkswirtschaftlichen Aspekten umfassen.
({5})
Wesentlich ist, inwieweit diese Varianten den Zielen der
Bahnreform, aber auch der Infrastrukturverantwortung des Bundes, wie sie sich aus Art. 87 e des Grundgesetzes ergibt, gerecht werden.
Erfreulich ist, dass diese Überzeugung von allen
Fraktionen geteilt wird und die Zustimmung zahlreicher
Verbände und der Öffentlichkeit genießt. Der im Verkehrsausschuss am 5. Mai 2004 gemeinsam verabschiedete Entschließungsantrag knüpft an den breiten parlamentarischen Konsens zur Bahnreform des Jahres 1993
an. Er wird heute dem Parlament zur Beschlussfassung
empfohlen.
({6})
Der viel zu eng gefasste Auftrag an Morgan Stanley
vom Oktober 2003, nur den Börsengang der DB AG mit
integriertem Netz zu begutachten, entspricht nicht den
Ansprüchen des Parlaments an eine sachgerechte Entscheidungsvorbereitung.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz interfraktioneller Beschlussempfehlung, die natürlich dem Hause
bekannt war - die Ausschreibung für ein Monitoringverfahren auf der Basis dieses unter einseitigen Vorgaben
entstandenen Morgan-Stanley-Gutachtens ist aus unserer
Sicht in diesem Zusammenhang völlig unverständlich.
Die Beratung, die gestern im Ausschuss mit Minister
Stolpe stattgefunden hat, lässt aber hoffen, dass jetzt eine
ergebnisoffene Prüfung und eine zwischen Bundesregierung und Parlament abgestimmte Entscheidung für ein
Privatisierungsgesetz vorbereitet werden. Immerhin:
Minister Dr. Stolpe hat uns gestern - dafür sind wir
dankbar - den Schulterschluss versprochen.
({8})
Sehr bemerkenswert aber und für das Parlament insgesamt bedenkenswert ist das Gutachterergebnis, dass
sich ein vollständig privatisierter Bahnkonzern nur dann
auf dem Kapitalmarkt behaupten könne, wenn die
DB AG nach ihrem Börsengang mit Netz über Jahre erhebliche Bundesmittel erhielte. Bundesregierung und
Bundestag müssen sich der Tragweite eines solchen Fazits des Gutachtens bewusst werden: Die Bahn wäre erfolgsunabhängig subventioniert und gegen Wettbewerb
abgeschirmt - das wäre eine Abkehr von den Zielen der
Bahnreform.
Frau Kollegin Mertens, Sie haben eben von der Sicherung des Wettbewerbs auf der Schiene gesprochen. Das
finde ich angesichts des Anteils eines Unternehmens
- der DB AG - am Schienenverkehrsmarkt eine hochinteressante Aussage, denn im Personenfernverkehr hat
sie einen Marktanteil von 99,5 Prozent, im Personennahverkehr einen Marktanteil von 96 Prozent - ohne Regionalisierungsmittel und das Prinzip des Bestellens durch
die Länder wären es wahrscheinlich auch 99,5 Prozent und im Güterverkehr einen Marktanteil von 95,5 Prozent. Die angeblich nahezu 200 oder 250 Bahnen, die
sich „auf dem Netz tummeln“, wie immer gesagt wird,
haben die restlichen Marktanteile; da muss man echt die
Lupe nehmen, um deren Marktanteile noch mit bloßem
Auge erkennen zu können.
({9})
Nein, es geht darum, Wettbewerb herzustellen, zu ermöglichen, durchzusetzen, damit wir in den Schienenverkehrsmarkt Dynamik bekommen, wie wir sie auch
auf der Straße haben, wo der LKW-Verkehr der DB AG
Dirk Fischer ({10})
bzw. dem Schienenverkehrssektor unverändert Marktanteile abnimmt. Wir brauchen die Freisetzung der Dynamik privaten Kapitals im Schienenverkehrsmarkt. Das
ist unser Wunsch, mit dem wir den Verkehrsträger voranbringen wollen.
({11})
Der Steuerzahler darf nicht die Gewinne von Aktionären
finanzieren. Das Schienennetz darf nicht zu einem bloßen Renditeobjekt des Kapitalmarkts verkommen. Angesichts der grundgesetzlich vorgegebenen Infrastrukturverantwortung dürfen doch nicht die in England
gemachten Fehler wiederholt werden: Für das Netz darf
der Shareholder Profit nicht zur Handlungsmaxime des
Bahnvorstandes werden. Hier geht es auch um einen
wichtigen Aspekt der Daseinsvorsorge im ganzen Land.
({12})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch
zehn Jahre nach Beginn der Bahnreform ist die DB AG
weiter im Sanierungsprozess; darüber kann keine Propaganda hinwegtäuschen. Wir haben im Jahre 2003 einen
Konzernbilanzverlust von 245 Millionen Euro gehabt.
Die Verbindlichkeiten haben sich gegenüber 2002 um
2,5 Milliarden Euro auf jetzt 27 Milliarden Euro erhöht.
Beim Start der Bahnreform, am 1. Januar 1994, waren es
0 Euro, denn der Bund hat alle Altschulden in seinen
Haushalt übernommen. Die Eigenkapitalquote ist gegenüber 2002 um weitere 1,7 Prozent auf nur noch
10,7 Prozent abgesunken. Als es losging, 1994, waren es
29,6 Prozent, also nahezu die 30 Prozent, die wir haben
wollen. Die Umsätze der Bahn ohne Stinnes stagnieren
bei 15,9 Milliarden Euro.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, im Schulterschluss mit dem Parlament und dessen Gesetzgebungsbefugnis sowie vor dem Hintergrund ihrer Verantwortung als Alleineigentümer die weiteren Schritte zu
unternehmen. Nur so kann am Ende des Prozesses - und
damit noch zum richtigen Zeitpunkt - die Bahnreform
erfolgreich vollendet werden.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
bemerkenswerter und, wie ich finde, beispielloser Einmütigkeit hat der Verkehrsausschuss des Deutschen
Bundestages am 5. Mai dieses Jahres einen gemeinsamen Entschließungsantrag beschlossen, der uns heute
noch einmal zur Abstimmung vorliegt, in dem wir alle
gemeinsam die Bedingungen nennen, die wir für die Erreichung der Kapitalmarktfähigkeit des Bundeskonzerns Deutsche Bahn AG bzw. für eine Teilprivatisierung desselben für unabdingbar halten. Diese
Entschließung verdient es, in den wesentlichen Punkten
noch einmal in Erinnerung gerufen zu werden; denn dort
heißt es:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, eine Grundsatzentscheidung über
eine mögliche Teilprivatisierung der Deutschen
Bahn AG … erst dann zu treffen, wenn der nachhaltige wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens
DB AG, insbesondere eine mehrjährige positive Gewinnentwicklung, feststeht.
({0})
Eine dauerhafte Rentabilität
- auch das scheint mir wichtig, noch einmal in Erinnerung zu rufen der DB AG darf nicht auf Leistungen des Bundes
- und damit der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen für den Ausbau der Schieneninfrastruktur beruhen …
({1})
Wie sehr wir Recht hatten, dies damals ganz präzise
aufzuschreiben, hat wenige Wochen später die Veröffentlichung der Kurzfassung des Gutachtens von
Morgan Stanley gezeigt; denn dort wird Punkt für Punkt
aufgelistet und zusammengefasst, welche Wirtschaftlichkeitsdaten im Einzelnen als Hürden genommen werden müssen, um eine sinnvolle Teilprivatisierung zu erreichen, die die Bezeichnung Börsengang oder
Kapitalmarktfähigkeit verdient und nicht in Wahrheit einen Notverkauf bedeutet.
Als Voraussetzungen und Bedingungen werden zum
Beispiel genannt: die Klärung des europäischen Vergaberechts - wegen der Nahverkehrsaufträge sieht
Morgan Stanley offenbar Bedarf -, eine zehn Jahre lange
nachhaltige Finanzierung des Netzes über die Bestandsnetzmittel, eine nachhaltige Garantie für die Regionalisierungsmittel, ein - dies wird vor allem genannt - Turnaround in den beiden Unternehmensbereichen Fernverkehr und Fahrweg - beide sind derzeit defizitär -, die Erreichung einer Dividendenrendite von 4 bis 5 Prozent
und einer Kapitalkostenrendite von 8,7 Prozent. All das
sind Benchmarks, Zielwerte, von deren Erreichung wir
im Moment meilenweit entfernt sind.
({2})
Das muss man ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen. Ich
glaube, deshalb war unsere Erinnerung an die grundsätzliche Bedeutung solcher Voraussetzungen sehr richtig
und zielführend.
({3})
Darüber hinaus haben wir in diesem gemeinsamen
Antrag, der uns heute noch einmal zur Beratung und Abstimmung vorliegt, auch verlangt, dass vor einer Grundsatzentscheidung - das betone ich - über eine mögliche
Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG die verkehrs-, finanz- und haushaltspolitischen Chancen und
Risiken der infrage kommenden Privatisierungs10440
Albert Schmidt ({4})
modelle - zumindest des so genannten Vertrags- und des
Eigentumsmodells - unter Einbeziehung externen Sachverstandes umfassend und ergebnisoffen zu prüfen sind.
Das heißt, wir wollen eben nicht, dass uns im Parlament
eine Vorfestlegung auf ein bestimmtes Modell - und sei
es das eines integrierten Börsenganges - nach der
Methode vorgelegt wird: Vogel friss oder stirb.
({5})
Wir wollen, dass hier ganz nüchtern und sachlich analysiert wird. Es soll insbesondere das Modell ergebnisoffen analysiert, geprüft und bewertet werden, das den
Behalt der Infrastruktur, also des Eigentums am Netz in
der öffentlichen Hand, zur Grundlage hat.
({6})
Warum ist uns das so wichtig? Das hat ja keine ideologischen Gründe und das hat auch nichts damit zu tun,
dass wir ein Generalmisstrauen gegen alles und jedes
hätten oder etwa gegen die Privatisierung per se wären.
Der Hauptgrund ist einfach, dass uns die Sorge eint;
denn wenn man die Infrastruktur und das Streckennetz
- und sei es nur zu Anteilen - in die Hand eines privaten
Shareholders gibt, dann liegt es in der Logik der Sache,
dass dadurch ein brutaler Renditedruck auf diesen Schienenstrecken lastet, was bei der Straße nicht der Fall ist.
Die Einführung quasi einer neuen Chancenungleichheit
auf dem Verkehrsmarkt würde bedeuten, dass der Druck
entstehen würde, in der Tendenz zu einem Schrumpfnetz zu kommen, nämlich zur Abstoßung und Stilllegung der Teile des Netzes, die nicht rentabel sind. Das ist
genau das, was wir nicht wollen.
({7})
Ich sage das sehr pointiert auch an die Adresse der
Gewerkschaften und ihrer Vertreter im Aufsichtsrat:
Eine Tendenz zum Schrumpfnetz heißt auch eine Tendenz zu weniger Arbeitsplätzen. Das muss klar sein.
Darüber hilft auch ein Beschäftigungspakt nicht hinweg;
denn auch der ist irgendwann zu Ende. Das Netz aber
würde weiter schrumpfen.
Die Botschaft unseres gemeinsamen Beschlusses lautet nicht, dass wir gegen Privatisierung sind. Wir sind
sehr wohl für die Beteiligung privaten Kapitals am
Schienenmarkt und auch an dem Konzern Deutsche
Bahn AG. Aber die Privatisierung muss richtig ablaufen.
Wir sind von dem Zeitplan, wie er uns jetzt von mancher
Seite nahe gebracht wird, ebenso wenig überzeugt wie
von dem Modell, das uns jetzt als die allein selig machende Wahrheit alternativlos dargestellt wird. So funktioniert es nicht.
Der Deutsche Bundestag ist selbstbewusst genug,
heute deutlich zu machen: Wir wollen nicht nur mitreden, sondern wir sind an dieser Stelle die Vertreter des
Eigentümers und wir haben es zu entscheiden.
({8})
Das werden wir nach den Maßgaben unserer Analysen,
Bewertungen und gemeinsamen Erkenntnisse tun.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Frau Staatssekretärin! Das letzte Wort
kann ich aufgreifen, lieber Kollege Schmidt: Wir müssen
deutlich machen, dass wir alle, die wir hier sitzen, für die
Privatisierung und für die Vollendung der von uns angelegten Bahnreform sind. Es wird immer so getan, als ob
jemand, der die Art und Weise, wie die Bahn an die
Börse gehen soll, gegen Privatisierung sei. Das ist nicht
der Fall. Wogegen wir uns wehren, ist eine Privatisierung im Schweinsgalopp.
({0})
Sehr verehrte Frau Staatssekretärin, gerade die Bundesregierung sollte nach den Erfahrungen mit dem Verfahren bei der Maut aufpassen, dass ihr bei diesem sehr
viel schwerwiegenderen Privatisierungsvorgang, bei
dem die Konsequenzen sehr viel teurer werden und in
weiten Bereichen nicht mehr zu reparieren sind, nicht
das Gleiche passiert. Ich habe - zusammen mit der ganzen FDP-Fraktion - Sorge, dass die Fortführung und
Verfeinerung des Morgan-Stanley-Gutachtens entgegen
den Beteuerungen im europäischen Ausschreibungsverfahren bereits veröffentlicht ist.
Was bedeutet das? Wenn ein privater Eigentümer einmal am Schienennetz der Bahn beteiligt ist, kann die
Trennung von Netz und Betrieb wahrscheinlich nicht
mehr beschlossen werden. Diese Festlegung gilt es zu
verhindern. Das müsste für Sie die Richtschnur sein. Ansonsten passiert das, was wir alle nicht wollen: Der Börsengang eines integrierten Unternehmens bedeutet eine
verkleinerte, hoch subventionierte und gegen Wettbewerb auf Dauer abgeschirmte Bahn und damit ganz bewusst - das möchte ich deutlich sagen - den Abschied
von den Zielen unserer gemeinsam eingeleiteten Bahnreform.
({1})
Darüber hinaus muss man eines feststellen: Sowohl in
der Kurz- wie auch in der Langfassung des Gutachtens
sind die Zahlen, die Morgan Stanley feststellt, eine
schallende Ohrfeige für das Management der Bahn.
({2})
Die Bahn ist eben in allen Punkten nicht börsenfähig.
({3})
Horst Friedrich ({4})
Das ist das Gegenteil von dem, was uns Herr Mehdorn
am laufenden Band vorzugaukeln versucht. Normalerweise müsste ein Gutachter nach dieser Grundlagenerhebung seriöserweise sagen: Ein Börsengang ist momentan
nicht möglich; macht erst einmal eure Hausaufgaben. Das steht auch im Gutachten. Warum allerdings ein paar
Seiten weiter als Ergebnis festgestellt wird, dass ein Börsengang möglich sei, auch wenn es ein sportlicher Wettbewerb sei - dabei ist das Wort „sportlich“ nicht definiert -, ist fraglich. Wenn jemand, der in seinem Leben
noch nie einen Marathonlauf bestritten hat, übermorgen
am Olympia-Marathonlauf teilnimmt und den Sieg davonträgt, dann ist das sportlich. Ich glaube, die Hürden
der Deutschen Bahn beim Börsengang sind vergleichbar.
Nein, es muss in einer seriösen Untersuchung ohne jeden Zeitzwang festgelegt werden, welche Alternativen
möglich sind und wo die Vor- und Nachteile liegen. Das
kann man eben nicht nur aus der Sicht des Kapitalmarktes definieren, sondern das muss auch aus ordnungspolitischer und verkehrspolitischer Sicht festgelegt werden.
Deswegen bin ich dankbar, dass zum einen der Verkehrsausschuss diese gemeinsame Entschließung verabschiedet hat und dass zum anderen heute im Plenum darüber
debattiert wird, damit vom ganzen Bundestag aus das
Signal an den Bahntower am Potsdamer Platz ergeht:
Gegen uns ist eine Privatisierung im Schweinsgalopp
nicht machbar.
Hier muss deutlicher, länger und gründlicher diskutiert werden.
({5})
Ich danke für die Aufmerksamkeit und freue mich auf
die weitere gemeinsame Zusammenarbeit in diesem
Punkt.
({6})
Nun hat das Wort die Kollegin Karin RehbockZureich, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute im Bereich der Schienenpolitik
vor wichtigen Entscheidungen. Es geht erstens um die
zukünftige Rolle des Verkehrsträgers Schiene im Transitland Deutschland und zweitens darum, welche Rolle
die Schiene im zukünftigen Europa spielt.
Wir haben in unserem Antrag den Wettbewerb, den
Netzzugang und die Chancengleichheit im Schienennetz
thematisiert. Wir werden die Ergebnisse der Arbeit der
Taskforce umsetzen. Die Verkehrspolitik wird auch in
Zukunft die Entwicklung dieses Verkehrssystems bestimmen. Verkehrspolitik gibt vor, welche Verkehrsträger welche Zuwächse erhalten können. Dies gilt auch für
die Schiene.
Wir werden im Zusammenhang mit der Diskussion
über die Chancengleichheit und über den Zugang zu diesem Netz die dritte Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes auf den Weg bringen und wir sind überzeugt, dass dies ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung
des Wettbewerbs und zur Eigenständigkeit der Netz AG
ist.
Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir heute diskutieren, ist die Überlegung zur Teilprivatisierung der
DB AG. 1993 wurde die Bahnreform mit breiter, parteiübergreifender Mehrheit beschlossen. Wir stehen heute
wieder vor der Situation, dass es ohne das Parlament
keine Entscheidung gibt und ein Börsengang bzw. eine
Teilprivatisierung ohne den Bundesrat, das heißt ohne
die Länder, nicht machbar ist.
Wir, die SPD-Fraktion, legen großen Wert darauf,
dass die Chancen und die Risiken ergebnisoffen und umfassend diskutiert werden. Vor der Entscheidung über
das Ob und das Wie dieser Teilprivatisierung muss eine
Prüfung aller Auswirkungen erfolgen. Für uns gilt:
Sorgfalt vor Eile.
({0})
Die Auswirkungen müssen sich in der verkehrspolitischen Realität in den nächsten Jahrzehnten bewähren.
Vor der Entscheidung des Parlaments müssen einige Voraussetzungen erfüllt werden:
Der nachhaltige wirtschaftliche Erfolg der DB AG
muss deutlich erkennbar sein. Es darf nicht sein - darauf
ist vorhin schon hingewiesen worden -, dass die Leistungen des Bundes für die Rendite eine Rolle spielen.
Das verkehrspolitische Ziel, mehr Verkehr auf die
Schiene zu bringen, muss im Vordergrund jeglicher Entscheidung stehen.
({1})
- Ich freue mich, dass sich so viele Kolleginnen und
Kollegen diese wichtige Debatte anhören.
({2})
Das heißt für uns, dass das Vertragsmodell und das Eigentumsmodell gleichermaßen überprüft werden, damit
wir eine Entscheidungsgrundlage haben, um Risiken und
Chancen abschätzen zu können. Denn in dem Gutachten
von Morgan Stanley erfolgt die Bewertung ausschließlich aus der Sicht eines möglichen Investors. Morgan
Stanley lässt viele Fragen offen und stellt kritische Fragen, die zunächst einmal abgearbeitet werden müssen.
Die Fragen sind kein Pappenstiel. Erstens muss die
dauerhafte Absicherung der Bundesmittel über mindestens zehn Jahre hinweg gesichert sein. Zweitens muss
die vollständige Umstellung von Darlehen auf Baukostenzuschüsse erfolgen. Des Weiteren - auch das ist für
uns ein Knackpunkt - wird der Regionalverkehr zum
Kernstück einer positiven Bewertung der Teilprivatisierung. Das bedeutet - Morgan Stanley macht dies zur
Voraussetzung -, dass die Erhöhung und langfristige
Festlegung der Regionalisierungsmittel auf dem gegenwärtigen Niveau gesichert sein müssen. Dies setzt voraus, dass die DB AG einen Marktanteil von 50 Prozent
gewinnt, um den wirtschaftlichen Erfolg abzusichern.
Bei den Ausschreibungen ist das derzeit nicht der Fall.
Insofern bleiben die Fragezeichen bestehen.
Wir meinen, dass zunächst alle Knackpunkte, Kritikpunkte und Risiken aufgelistet werden müssen. Uns
müssen auch vergleichbare Bewertungen anderer Unternehmen vorliegen, damit wir eine Entscheidung treffen
können.
Vielen Dank.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Eduard Lintner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute ist schon mehrfach betont worden, dass sich
- obwohl uns die Bahnreform schon seit über zehn Jahren beschäftigt - nach wie vor alle Seiten des Hauses darin einig sind, dass sie zum Erfolg geführt werden muss.
Auch an der damaligen Zielsetzung wird unverändert
festgehalten.
Ich merke das deshalb an, weil wir jetzt kurioserweise
den Sachverhalt haben, dass die Einigkeit zwischen den
Parlamentariern der Opposition und der Regierungskoalition größer ist als beispielsweise die Einigkeit mit dem
Ministerium oder erst recht mit dem Bahnvorstand. Der
gemeinsame Beifall, der in diesem Hause ein seltenes
Erlebnis ist, hat das sozusagen akustisch herausgestellt.
({0})
Dabei sind sich die Vertreter aller Fraktionen darin einig - das ist in der Ausschussberatung ausdrücklich festgestellt worden -, dass die Bahnreform in erster Linie
Sache der Parlamentarier und weniger der Bundesregierung ist.
({1})
Das hat erhebliche Konsequenzen für das Verfahren,
die zum Teil schon erwähnt worden sind. Eine Konsequenz ist zum Beispiel, dass unserem Begehren gefolgt
und ein zusätzliches Gutachten eingeholt werden muss,
das ergebnisoffen von unabhängigen Sachverständigen
erarbeitet wird und in dem die Frage geklärt werden soll,
ob es nicht besser wäre, ohne das Netz nur mit dem Betrieb an die Börse zu gehen.
({2})
Wir werden sehr darauf achten, dass dieses Gutachten im
Gegensatz zu dem schon vorliegenden Gutachten die
von uns gestellten Qualitätsanforderungen erfüllt.
Mit diesem Schritt, der eigentlichen Privatisierung
der Bahn, sind noch sehr schwierige rechtliche und
fiskalische Probleme verbunden. Deshalb glaube ich
nicht wie die meisten im Saal an den von der Bahn vorgegebenen und angestrebten Zeitplan bis 2006.
Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass vom Bundestag beispielsweise erwartet wird, dass
er sich verpflichtet, der Bahn in den nächsten zehn Jahren mindestens 2,5 Milliarden Euro jährlich für den
Erhalt des Bestandsnetzes zur Verfügung zu stellen, und
dass den Ländern die Regionalisierungsmittel in Höhe
von 10 Milliarden Euro jährlich über das Jahr 2008 hinaus gewährt werden. Hierbei geht es um Zuschüsse des
Bundes in Höhe von immerhin rund 95 Milliarden Euro
in den nächsten zehn Jahren. Allein die Dimension
dieser Finanzzusagen zeigt doch, dass eine schnelle
Lösung, wie sie immer wieder gefordert wird, nicht
möglich sein wird. Sie ist extrem unwahrscheinlich.
Im Übrigen muss ich auch darauf hinweisen, dass die
Bundesregierung den Fortgang der Bahnreform auf anderen Feldern durchaus tatkräftiger hätte unterstützen
können, als sie dies getan hat. Ich denke hier beispielsweise an die europäischen Rahmenbedingungen für den
Schienenverkehr. Das Europäische Parlament hat beispielsweise die Liberalisierung des Netzzugangs für
den Güterverkehr bis 2006 gefordert.
({3})
- Lieber Kollege Weis, auch Sie wissen das. - Die Bundesregierung hat sich dafür nicht stark gemacht. Jetzt
soll die Liberalisierung 2008 kommen. Ob die Franzosen
bis dahin tatsächlich tätig werden und konkurrierenden
Eisenbahnunternehmen den Zugang zu ihrem Schienennetz erlauben werden, steht für mich überhaupt noch
nicht fest. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen
Skepsis angebracht erscheinen.
Wir wissen doch, dass eine der zentralen Forderungen
- Erhöhung des Anteils des Schienengüterverkehrs am
Gesamtvolumen des Güterverkehrs - nur dann zu verwirklichen ist, wenn der Eisenbahn lange Transportwege
zur Verfügung stehen und sie die Strecken schnell, zuverlässig und pünktlich überbrücken kann. Das ist eine
ganz wesentliche Voraussetzung, die bis heute nicht erfüllt ist, auch weil die Bundesregierung - das muss ich
ihr schon vorhalten - Jahr für Jahr hat verstreichen lassen, ohne auf europäischer Ebene zum Beispiel die Liberalisierung der Netze von Frankreich oder Spanien zu
betreiben.
Im Übrigen hätte sich die Bundesregierung an einem
anderen Sachverhalt in Frankreich - das ist interessant
- ein Vorbild nehmen sollen. Frau Kollegin RehbockZureich, die französische Regierung hat beispielsweise
im Jahre 2003 ihrer Bahn allein für neue Strecken
2,2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Im Jahre
2004 werden es sogar 2,7 Milliarden Euro sein. Im Vergleich dazu wird die Bundesregierung entgegen allen
Beteuerungen, die wir aus der Vergangenheit kennen,
künftig die Mittel für Neu- und Ausbau auf etwa
700 Millionen Euro zurückfahren. Das heißt im Klartext,
dass der Deutschen Bahn bei ihrem schwierigen Weg in
die Wirtschaftlichkeit nicht geholfen wird.
Vor diesem Hintergrund bleibt mir nur die Feststellung, dass das, was hier immer wieder hinsichtlich der
Priorität des Eisenbahnwesens und des Schienenverkehrs versprochen worden ist, mittlerweile leider Makulatur ist. Herr Schmidt - das kann ich Ihnen nicht ersparen -, auch die Beteuerungen der Grünen, hier besonders
stark und durchsetzungsfähig zu sein, haben sich leider
als reine Luftblase erwiesen. Ich hoffe, dass Sie in diesem Punkt zu alter Effektivität zurückfinden werden.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/3268, über die ich gesondert abstimmen
lasse. Der Ausschuss empfiehlt unter I seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
15/2658 mit dem Titel „Die Bahnreform konsequent
weiterführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Unter II seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/2156 mit
dem Titel „Leitlinien für die Vollendung der Bahnreform“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen unter III seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3268 die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand
der Stimme? - Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
({0})
Den Kollegen, die uns jetzt wieder verlassen müssen,
danken wir für die zeitweilige Unterbrechung ihrer anderweitigen Aktivitäten und wünschen noch einen gemütlichen weiteren Abend.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 sowie den
Zusatzpunkt 11 auf:
15 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 15 Abs. 1 der Europäischen
Charta der Regional- oder Minderheitensprachen
- Drucksache 15/3200 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Förderung von Regional- und Minderheitensprachen in Deutschland
- Drucksache 15/3328 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Da für diese Debatte keine Simultandolmetscher zur
Verfügung stehen, bitte ich um besonders konzentrierte
Aufmerksamkeit.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Jochen Welt für die SPD-Fraktion.
Jochen Welt, Beauftragter der Bundesregierung für
Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten:
Moin Moin, Herr Präsident! Dobre dzien, god dag,
latscho diwes und guten Tag, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Als Beauftragter der Bundesregierung für
nationale Minderheiten hätte ich heute gerne in den
Sprachen der nationalen Minderheiten zu Ihnen gesprochen. Um den Stenografischen Dienst nicht an den Rand
der Verzweiflung zu bringen und um nicht eine Minderheit zu bevorzugen, halte ich mich an die uns alle verbindende Verkehrssprache Hochdeutsch. Zugegeben: Außer
„Recklinghäuser Platt“ beschränken sich meine Kenntnisse in den Minderheitensprachen auf einige wesentliche Wörter.
Der uns vorliegende Zweite Bericht der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 15 Abs. 1 der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen
zeigt: Wir haben engagierte und kreative Minderheitenorganisationen; wir leisten eine gute Minderheitenarbeit.
Wir haben in Deutschland erhebliche Fortschritte bei der
Förderung unserer Regional- und Minderheitensprachen
erzielt.
({3})
Was ist Sprache? Sprache ist Verständigungsmittel in
Wort und Schrift. Sprache ist Ausdruck von Kultur.
Sprache ist Ausdruck der Bedürfnisse, der Hoffnungen
und der alltäglichen Arbeit. Sprache ist lautmalerisch,
aber letztlich malt jeder seine eigenen Bilder. Hier ein
paar Beispiele: Bei uns regnet es Bindfäden, bei den
Engländern „cats and dogs“; während wir manchmal
„zwischen allen Stühlen“ sitzen, sitzen die Engländer
„auf dem Zaun“. Bei der Übersetzung von Texten stößt
man naturgemäß an Grenzen. Wegen der Unterschiede
im Vokabular und in der Grammatik ist eine Umsetzung
eins zu eins oft nicht möglich. In der Sprache der Inuit
Grönlands etwa gibt es zwölf Wörter für Schnee in seinen verschiedenen Zuständen. Diese Differenzierung
kennen wir nicht, weil wir sie nicht brauchen.
Die deutsche Gegenwartssprache ist vielfältigen Einflüssen der internationalen Kommunikation ausgesetzt. Die Globalisierung macht auch vor der Sprache
nicht Halt. Wir sind „fashionable“ und „trendy“. Der
Engländer von heute ist „zeitgeisty“. Die Engländer
„wedel“ von den Bergen, die Amerikaner - sie waren
schon immer ein wenig rasanter - „schuss down the
hills“, während wir auf Snowboards curven. Es gibt weitere international verwandte Germanismen: Gemütlichkeit, Kindergarten, Dirndl, Rucksack, Rollmops, Leitmotiv, Alzheimer, Realpolitik und Genscherism.
Sprache ist also immer im Fluss und entwickelt sich wie
die Technik und die Kultur weiter. „Handy“ ist ein neues
deutsches Wort für das Telefon, das man in der Hand
trägt; die Engländer sprechen von „cell phone“, angelehnt an die Empfangszonen.
Trotz oder gerade wegen dieser sprachlichen Vermengungen gilt es, die vorhandene sprachliche und damit
kulturelle Vielfalt zu schützen. Ich denke, das muss unser gemeinsames politisches Ziel sein.
({4})
Für die nationalen Minderheiten erfüllt der Gebrauch
ihrer Sprache gleich mehrere Funktionen: Zum einen ist
sie das geeigneteste Medium, spezifisch durch die
Volksgruppe geprägte Sachverhalte untereinander zu
kommunizieren. Zum anderen dient sie als Erkennungszeichen innerhalb der Volksgruppe und gegenüber der
Mehrheitsbevölkerung. Sie dient gegenüber der Öffentlichkeit als Signal dafür, dass eine Volksgruppe existiert.
Dies gilt vor allem hier in Mitteleuropa, wo sich die
Minderheiten nicht durch Religion, Aussehen oder Siedlungsstrukturen von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Gerade die Bedeutung der Sprache als hörund sichtbarer Hinweis auf die Existenz von Minderheiten macht verständlich, warum diese auf die Verwendung ihrer Sprache im öffentlichen Raum drängen, sei es
auf Ortstafeln oder auf Autobahnwegweisern. Manche
mögen bei dieser Angelegenheit schmunzeln. Verwaltungsbeamte in den Ministerien stehen bei derartigen
Wünschen vielfach die Haare zu Berge. Es geht aber um
mehr als nur um Wörter auf Schildern und auf Tafeln; es
geht um die vermittelbare und erlebbare Identität einer
sprachlichen Minderheit. Ein aktuelles Beispiel ist der
Entwurf eines Friesisch-Gesetzes für das Land Schleswig-Holstein, das zweisprachige Behördenbezeichungen
im nordfriesischen Sprachgebiet vorsieht.
({5})
Zum Dritten gibt eine bewahrte und aktiv genutzte
Minderheitensprache die Möglichkeit, den engen Kontakt zu Staaten und Volksgruppen zu pflegen, denen man
sich ganz besonders verbunden weiß. Dies gilt nicht nur
für die dänische Minderheit, für die die Literatur und die
Medien Dänemarks zum täglichen Brot gehören, sondern auch für die Friesen Deutschlands mit ihren Kontakten nach Westfriesland, für die Sinti und Roma - ihre
Sprache ist mit den Sprachen von Volksgruppen in fast
ganz Europa verwandt - und schließlich für die Sorben,
die die sprachliche Nähe zu anderen Völkern slawischer
Zunge intensiv nutzen.
Schließlich ist die Kenntnis der Minderheitensprache
bei den Mitgliedern der Volksgruppe äußerst hilfreich
für den Dialog zwischen den Generationen, insbesondere in den Familien. Wenn die Großeltern die Sprache
noch beherrschen, die Enkel aber nicht mehr, dann geht
ein wichtiger Teil der Gesprächsfähigkeit in den Familien verloren.
Deutschland hat im Jahr 1997 die traditionellen Minderheiten unter den besonderen Schutz des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler
Minderheiten gestellt. Damit haben wir nicht nur ihr
Recht auf politische Partizipation anerkannt, sondern wir
haben ihnen zugleich den Anspruch auf einen eigenen
kulturellen und damit sprachlichen Bereich zuerkannt.
Eingedenk der geschilderten Bedeutung der eigenen
Sprache für das Leben der nationalen Minderheiten hat
der Gesetzgeber konsequent gehandelt und nach dem
Rahmenübereinkommen auch die Europäische Sprachencharta ratifiziert. Die Sprachencharta stellt hohe
Anforderungen an Bund, Länder und Gemeinden. Die
vollständige Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen wird auch vom Europarat nicht als ein Vorgang begriffen, der mit der Ratifizierung abgeschlossen ist. Es
handelt sich vielmehr um einen dynamischen Prozess, in
dem der Europarat, die Regierungen des Bundes und der
Länder sowie nicht zuletzt die Organisationen der
Sprachgruppen in einem vertrauensvollen Dialog zusammenwirken.
Die Bundesregierung betrachtet die Möglichkeit zur
Nutzung der Regional- oder Minderheitensprachen im
Umgang mit der Verwaltung und mit den Justizbehörden
als wichtiges Element zum Erhalt und zur Förderung der
Sprachen. Bund und Länder sind sich weitgehend darüber einig, dass zur Schaffung eines entsprechenden
Bewusstseins bei allen beteiligten Kreisen eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit der staatlichen Stellen wünschenswert ist. Gerade im Hinblick auf die Minderheitensprachen werden konkrete Maßnahmen vorbereitet.
Mit der Sprachencharta ist auch Niederdeutsch - als
einzige Regionalsprache - zum Kreis derjenigen Sprachen, die über das Rahmenübereinkommen hinaus geschützt werden sollen, hinzugetreten. Für den Schutz des
Niederdeutschen gilt eine ganze Reihe der von mir in
Bezug auf die Minderheitensprachen genannten Gründe
in gleicher Weise.
Die nationalen Minderheiten verfügen seit Jahrzehnten über zivilgesellschaftliche Organisationen, durch die
Beauftragter der Bundesregierung Jochen Welt und nationale Minderheiten: Beauftragter der Bundesregierung Jochen Welt
ein sehr konstruktiver und hilfreicher Dialog mit den
staatlichen Stellen - auch zum Schutz ihrer Sprachen geführt werden kann. Auch die Sprecher des Niederdeutschen haben sich vor nicht allzu langer Zeit über die regionale Ebene hinaus zu einem Bundesrat zusammengeschlossen. Sein bisheriges Auftreten verspricht den
öffentlichen Stellen einen kompetenten, bundesweit handelnden Gesprächspartner. Auch der Bundesrat für
Niederdeutsch muss aus meiner Sicht als gleichberechtigter Dialogpartner anerkannt werden.
({6})
Daher werde ich mich dafür einsetzen, dass auch für den
Bundesrat für Niederdeutsch ein Beratender Ausschuss
beim Bundesministerium des Innern eingesetzt wird.
({7})
Schutz und Förderung der Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland stellen eine überparteiliche
Aufgabe und Verpflichtung dar. Ich wünsche mir deshalb heute eine breite Mehrheit für den Antrag „Förderung von Regional- und Minderheitensprachen in
Deutschland“ bzw. eine gute und intensive Beratung im
zuständigen Ausschuss.
Bund und Länder gestalten in einem dynamischen
Prozess die Umsetzung der Sprachencharta. Die Regional- und Minderheitensprachen werden auch in Zukunft
in Deutschland umfangreich geschützt und gefördert. Sie
sind und bleiben damit lebendig. - Bei den Sinti und
Roma wünscht man sich zum Abschied einen glücklichen Weg. In diesem Sinne: Latscho drom!
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Börnsen,
CDU/CSU-Fraktion.
So, leeve Kollegen, ik will nu bloots so snacken, as
mi dat Muul wussen is.
Verehrte Vörsitter! Leeve Fruunslüüd un Mannslüüd!
Nee, dat Woort Präsident gifft dat nich in uns plattdüütsche Spraak. „Vörsitter“, dat lööt sik een döörwussenen
Nedderdüütschen noch gefallen; aver dormit is doch to
Enn mit sien Respekt vör de Obrigkeit.
({0})
Deit mi leed, Kolleg Norbert Lammert! Een akurate
Plattdüütsche, dat is een Urdemokrat. De Kopp böögen,
nee, dat deit he nich! Wer kennt nich in uns Republik
dat, wat se an de Westküst, in Schleswig-Holstein, vertellen doon: Lever dood as Slav! So hebben wi dat.
({1})
Een Plattdüütschen kann mehr as Brot eeten. He
kümmt to sien Weltsicht dör twee Spraken: Hochdüütsch
un Plattdüütsch. In de Hansetied hett ganz Nordeuropa
platt snackt. Bummelich 8 Millionen Lüüd vertellen un
verstohn hüüttodaags noch Platt. Dat is een ganze Barg.
In twee Spraken to Huus to sien, dat is gewaltig un dat is
anerkennswert. Denn twee sünd mehr as een.
Un wat lehrt uns dat? De plattdüütsch snaken deit, dat
is noch lang keen Döösbaddel. Man, nich nur de Nedderdüütschen könen sik in twee Spraken utdrücken, an de
Bost kloppen un de Kopp stolt in de Nack nehmen. Nee,
in twee Spraken, dat gellt uk för de 50 000 Sorben bi uns
in’t Land, för de Dänen, för de Freesen, för de Sinti un
Roma, de bi uns to Huus sünd.
Doch dat is noch lang nich allns. Ingelsch un Franzöösch snackt de Mehrtall vun düsse Minschen uk noch
so as wi natürlich ok hier in’t Parlament. Man de Ünnerscheed is: De Minschen vun de Minnerheiten könen dree
Spraken: een Weltspraak mit dat Ingelsch oder Franzöösch, een Landesspraak mit dat Hochdüütsche un een
Nohberschaftspraak mit Platt, Dänisch, Sorbisch oder
Romanes. Düt Bispill: Een plus twee, in een groode
Spraak un twee anner Spraken to Huus to sien, dat schall
Modell in Europa warrn. Dat wülln de klooken Lüüd vun
Brüssel. Uns türkisch, polnisch oder italienisch Landslüüd, de bi uns to Huus sünd, för de gellt dat ok.
In’t Johr 2000 in Lissabon hett uns Europaobrigkeit
dat so in de Kopp kreegen un fastleggt, dat jedeneen in
all de 25 Länner in uns Europa in sien Moderspraak to
Huus sien schall un in twee anner Spraken „top“ sien
schall. Dree meent, dat du dien Weltsicht nich alleen ut
een Quell schöpfen schasst. Dree meent, dat du Achtung
un Respekt lehren deist för anner Spraken, för anner
Kulturen, för Minschen, de anners sünd as du.
({2})
Dree meent, dat ok de lütten Spraken een Tokunft hebben möten. Dree meent, dat Minschen nich utgrenzt
warrn. Denn dat Geföhl hebben nu wecken von uns Kollegen hüüt avend, de nich Plattdüütsch verstahn doon,
dat se butenvör sünd. Aver so geiht uns Noorddüütschen
dat ok, wenn wi in dat deepe schööne Bayern, in dat
deepe schööne Swaben oder na Sachsen gahn.
({3})
Bloots, de Ünnerscheed is, dat sünd nur Dialekte. Bi uns
is dat een eegne wussen Spraak.
({4})
Man, wat man will, is noch lang nich, wat man deit.
De lütten Spraken bi uns hebben dat nich licht in uns Republik. In’t Fernsehen, in de Kiekkist, sünd se butenvör,
in’t Radio sünd se man af un an to hören. In de lütten
Printmedien musst se lang sööken. Bi mi to Huus, in
Flensburg, gifft dat noch een Blatt, „Flensborg Avis“, dat
is in twee Spraken to Huus: In Dänisch un Hochdüütsch.
Un Dänisch un Plattdüütsch kannst goot lesen.
In de Hochschoolen sünd de lütten Spraken ganz weg.
In de Grund-, Sekundar- un Berufsschoolen, wo man
Fremdspraken lehrt, finnst du Regional- oder Minderheitenspraken ok nich mehr. Dat mutt sik ännern, finnt wi.
Beauftragter der Bundesregierung Jochen Welt und nationale Minderheiten: Beauftragter der Bundesregierung Jochen Welt
Wolfgang Börnsen ({5})
Neben de Welt- un de Landesspraak schull de Heimat-,
de Nohberschaftsspraak vun de Kinnergoorn bit hen to
de Schoolen, wenn de Öllern wülln, een Recht hebben
op Tokunft.
({6})
Man, wenn dat nich so komen deit, dann geiht dat so
sinnig bargdaar mit de lütten Spraken. Dor hölpt ok keen
Sprakenpakt vun Lissabon mehr. Dor is ok keen Hölp,
dat de fief Spraken, von de wi snacken doon, een Europachartatauglichkeit hebben. All dat hölpt nich, wenn
keen Will is in de Gesellschaft för een nee’e Lebendigkeit för lütte Spraken un för ehr Tokunft to sorgen.
Dat heet anners rüm: Bi de Bildung, in de Medien,
vör’t Gericht un bi de Behörden mutt dat mehr Kaffüüt
geven doon för tweete Spraken. Dat seggt ok dat Ministerkomitee in Straßborg. Dat hett uns Republik besöcht,
hett uns op de Finger keeken, ob wi dat ok inhoolen
doon mit de Sprakencharta.
De Sprakenbericht, de hüüt hier diskuteert ward, hett
500 Sieden. Dat is een gewaltige Dokument. Un de Regeerung hett ne Masse Anworten wusst. De Straßborger
seggen: Dat süht nich to ring ut in Düütschland mit de
lütten Spraaken. Man, de Idee vun de Europacharta is in
de Kööp vun de Spezialisten, aver noch lang nich bi de
Lüüd anlangt. Dor mutt mehr passeeren. 500 Sieden
Rechtfertigung, dat is veel Papeer. Dat reckt nich ut. Dor
höört Klümp bi de Supp!
({7})
De Bundesregeern - dat hett Kolleg Jochen Welt ja
seggt - will mehr doon för de Plattdüütschen. Aber ein
poor Moneten, Jochen Welt, gehörn ok dorto.
({8})
De europäische Sprakencharta - wenn man so will: de
Magna Charta för Tweetspraken - will düsse Trend noch
een anner Dreih geven. Se will, dat de 70 lütten Spraken
in Europa Bestand behoolen. Jede sövte Minsch in
Europa is in een Tweetspraak to Huus.
({9})
Dat is sotoseggen sien Heimat, de Sinnstiftung för sien
Leven. Nimmst du düsse Minschen ehr Heimatspraak,
verleeren se de Boden ünner de Fööt. Nee, dat dörf nich
ween!
({10})
Dor sünd wi uns hier in’t Parlament ok eenig ween.
Vör söss Johr hebben wi all tosamen seggt: Die Europacharta, dat is richtig. Dor mööt wi all ünnerschrieven.
Dat mookt wi mit. Düt Dokument is een Rode List för
Spraken, de op de Kipp stahn doon. Griepen wi de nich
ünner de Arms, gahn se doot! Jede Wuch starven twee
bet dree Spraken in uns Welt, hunnert över’t Johr un dusend in teinn Johr.
Herr Kollege, darf der Kollege Carstensen eine Zwischenfrage stellen?
Och, dat harr ik doch geern.
Das deutet schon auf Absprache hin, was ich nicht
ganz so gerne hätte.
({0})
Nee, kann ik mi gor nich denken.
An sik harrn wi dat gor nich nödig, dat wi dat afspreken dään. Aver, leeve Wolfgang Börnsen, villicht kann ik
en Twüschenfraag op Plattdüütsch maken, obwohl dat
mit Freesen to doon hett. Leider bün ik nich in de Laag,
op Freesch to snacken, obwohl ik ut en Kreis kaam, Herr
Präsident, wo fief Spraken snackt warrt.
Meine Güte!
Ja. Disse Spraken sünd: Hoochdüütsch, Plattdüütsch,
Freesch, Dänisch un Sonnerjysk - Sonnerjysk, dat is
Plattdänisch, wenn man so will. Un, leeve Wolfgang
Börnsen, ik much geern weten vun di: Kannst du villicht
ok en beten wat noch över de Situation vun de freesche
Spraak snacken? Un kannst du uns villicht seggen, ob
dat nich notwendig is, nich bloots de Beförderung vun
de Minnerheiten över de Spraken en Förderung to geben,
sondern ok de gesamte Kultur vun de Lüüd mit in de
Förderung rintosetten, dormit wi uns nich op een Deel
bloots konzentrieren, sondern weten, dat jüst bi de Freesen ja en beten mehr is as bloots de freesische Spraak, de
se tosamenhöllt, sondern de gesamte Kultur, de ja över
mehrere Johrhunnerte wussen is.
Dat is en ganz swore Fraag, leeve Peter Harry. Nee,
aver Peter Harry Carstensen hett ja nich Unrecht. De
Spraak is nich allns: 'n Stück vun Kultur is 'n Stück ok
vun de Inhoolt vun de Lüüd, de dat leven doon. Un wenn
man dat will, wenn man seggen will: „De Lüüd hebben
een Recht, in se ehrs Minnerheitenspraak to Huus to
sien“, denn höört nich nur de Sprakenförderung dorto,
denn mütt ok de gesamte Kultur fördert warrn. Dat heet:
In de Kinnergoorn, in de Scholen un wo dat machbar is,
mütt dat 'n Förderung geven. Denn dat hebben wi doch
överall sehn: Wenn man dat nich doon deit, denn verleren de Lüüd de Boden ünner de Fööt un dat könen wi
nich wüllen.
Wolfgang Börnsen ({0})
Un dor is ok noch 'n tweete Saak - un insofern hett
Peter Harry Carstensen Recht -: Dor entwickelt sik en
grote Ehrenamtlichkeit bi Lüüd, de mit Spraken to doon
hebben. De trecken sik ganz gewaltig tosamen, um ok
för se ehrs Rechte, för se ehrs Ideen un för se ehrs Spraken wat to doon. Un grade bi de Freesen, ob Nordfreesen
oder bi de Saterfreesen, hest du dat ja: dat wirkliche Persönlichkeiten dor achter stahn, weil se seggen: Dat is ok
'n Bekenntnis för se ehrs Heimat, in de se to Huus sünd.
({1})
Also, Herr Kollege Börnsen, da die Frage so schwierig war, ist sie erstaunlich präzise beantwortet worden.
Deswegen bin ich dankbar, dass sich der Kollege
Carstensen freiwillig wieder hingesetzt hat.
({0})
Ach, der Kolleg Carstensen deit een Masse för de
Freesen; so is dat ja nich.
({0})
- Goot. Aver dat köönt wi ok mitnehmen.
Ik will noch op twee Saken opmerksam maken, wat
wichtig is un wat mit Spraken to doon hett. Eenmal, dat
dat wirklich een Sprakendood gifft in de Welt, dat dat so
veel Spraken nich mehr geben deit. Un dat is för de
Buntheit un för de Lebendigkeit vun de Welt trurig,
wenn man immer mehr Spraken verleren deit. Wi hebben nur noch 7 000.
Wat ok wichtig ist: In uns Europaraat, as dat anfüng
mit de Sprakencharta, hebben 17 Länner seggt: Wi moken mit. Aver 20 Länder hebben seggt: Wi moken nich
mit. Wi sünd noch nich so wiet. Dor will ik mit Jochen
Welt een Opfödderung maken: Wi möten noch mehr drücken. Ok de annern, wo Minnerheiten to Huus sünd, möten sik dorto bekennen, dat Spraak ok een Stück vun de
Kultur is un to de Minschen dorto gehören deit.
Aver ik will noch wat Tweetes seggen: Dat gifft veel
Haun un Elend in de Welt, veel Mord un Doodslag.
Wenn du mal kieken deist, wo dat na de Tweete Weltkrieg överall Konflikte, Kriege geben het, dann is dat
immer dor wesen, wo Minnerheiten, ok Spraakminnerheiten, nich to se ehrs Recht kamen sünd. Kiek di de Kosovo an; kiek di de Schann in de Sudan an. Dat sünd immer de Lütten, wo de Groten op prügeln doon, un de
Lütten kamen nich to Woort. Dat bringt Konflikte; dat
bringt Arger un dat bringt Mord un Doodslag. Also, wer
sik för lütte Spraken un ok för Rechte von den Minschen
insetten deit, de sorgt ok dorför, dat dat een Stück Freden
geven deit.
({1})
Bi uns in Düütschland sünd wi teemlich wiethen kamen. Wi hebben een Modell schafft vör allen Dingen in
Noorddüütschland, dat man Respekt un Anerkennung
hett för de annern. Dat is ok wichtig dorför, dat man mitenanner torecht kamen deit.
Un wi hebben ok een Tweetes schafft: uns Sprakenallianz, de wi gründet hebben mit 44 Kollegen, mit Rode
un Swatte un Geele.
({2})
- Ja, de Gröne nich to vergeten. - Dorbi is dorbi. Wi
hebben seggt: De Minnerheiten möten ok in de nee’e
Vorfatung vun Europa Platz finden. Dat heet: Ok een Artikel mutt sien in de nee’e Verfatung vun Europa, dat
man Respekt un Anerkennung för de Förderung von
Minnerheiten gifft.
Nu hett uns Staatsminister Bury dat graad jüst to
düsse Tied mitdeelt. Dat gifft in Tokunft in uns nee’e
Verfatung vun Europa in Art. I, dat ok de Minnerheiten
een Platz un een Recht hebben op Tokunft. Dat is een
groote Erfolg un Anerkennung för all, de mitholpen hebben.
({3})
Wi sünd froh, dat jetzt, nachdem de Europacharta een
Stück worn is in uns Republik, de Entwicklung in de
Kinnergoorn un in de Schoolen langsam dorthin geiht,
sik mit een tweete Spraak utenanner to setten. Wi seggen
hartliche Dank för all, de mitholpen hebben dorbi un de
an de Schruuv dreiht hebben.
Aver de Freesen, Sinti, Roma, Sorben un de Plattdüütschen in uns Republik bruuk nich nur schöne Wöör
hüüt un sunst noch mal un Sünndagsreden. Wi möten se
ünner de Arms griepen,
({4})
damit se bald ok alleen loopen könen. Dat wüllen wi all
tosamen.
Man een weet nich, dat wi alleen in Amerika noch
50 000 Minschen hebben, die plattdüütsch snacken doot.
Un nich nur dor, ok in annern Länner gifft dat noch veel,
de hier immer leevt hebben, oder se ehr Familien, de
uttrocken sünd un woanners düsse Kultur fastholen
doon. Is doch schöön, wenn de Minschen in de bunte
Welt to Huus sünd, wo dat veele Spraken geven deit, wo
man ok Toleranz lehrt un wo man ok een Stück to Huus
is.
Hartliche Dank.
({5})
Nun hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
({0})
„S-teenblock“, ja. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Name legt in der Tat eine norddeutsche Affinität nahe. Ich will meine ostfriesische Vergangenheit gar nicht leugnen. Ich habe mir schon
gedacht, dass ich hier nach dem Kollegen Börnsen dran
bin. Aber ich sage ganz offen: Die Relikte meiner ostfriesischen Sprachkenntnisse sind so gering, dass ich lieber hochdeutsch spreche, obwohl ich eine große Verbundenheit zu meiner Heimat habe. Ich glaube, dass Sprache
als Heimat ganz wichtig ist.
Aber jeder muss bei seinen Fähigkeiten bleiben, lieber Kollege Wolfgang Börnsen. Darum habe ich mich
entschieden, am 5. September am 1. Minderheiten-Marathon in Flensburg teilzunehmen und dort für die Minderheiten mitzulaufen.
({0})
Auch das ist eine Form von kultureller Arbeit - im sportlichen Bereich -, die ganz wichtig ist, um die Verbindungen zwischen den einzelnen Gruppen in diesem Bereich
aufrechtzuerhalten und zu verstärken.
Sprache ist Heimat. Sie verbindet. Sie schafft Identität. Aber wir müssen auch sagen: Sprache trennt. Wir
sollten dieses Problem nicht unter den Tisch kehren.
Grenzen, Unverständnis und Konflikte durch verschiedene Sprachen in der Gesellschaft sind nicht zu vernachlässigen. Deshalb ist es ein zentrales Ziel von Politik, dafür zu sorgen, dass Sprache keine Barrieren mehr
schafft, dass Sprache nicht ausgrenzt.
Wir haben es in Deutschland - insbesondere in
Schleswig-Holstein, dem Bundesland, in dem ich jetzt
wohne - geschafft, dass unterschiedliche Sprachen zu einem verbindenden Element zwischen Minderheiten werden. Minderheiten reden miteinander über ihre Probleme. Minderheiten werden von der Mehrheit bei der
Wahrnehmung ihrer berechtigten Interessen unterstützt.
Es ist ein ganz sensibler Bereich und typisch für eine
Gesellschaft, wie sie mit Sprache umgeht. Es ist ein Ausdruck dessen, wie sie Konflikte löst. Das ist uns vielleicht schon etwas fremd geworden. Ich habe in der letzten Woche in Lettland und in Estland gesehen, zu
welchen politischen Problemen Sprachprobleme führen.
Wer die Sprachprobleme der russischen Minderheiten
und die sich daraus ergebenden politischen Machtfragen
in diesen Gesellschaften studiert hat, weiß, welche Prozesse im Umgang mit Minderheiten wir erfolgreich bewältigt haben.
Allerdings müssen wir gerade bei der Sprachgruppe
der Sinti und Roma noch viel Arbeit investieren, um die
gesellschaftliche Akzeptanz für ihre Sprache und ihre
Kultur zu erhöhen. Das gilt besonders vor dem Hintergrund unserer Erfahrung und der besonderen Verantwortung, die wir beim Umgang mit der Europäischen Sprachencharta haben.
Wir haben es geschafft, unsere Minderheiten - auch
sprachlich - zu integrieren und zu unterstützen. Aber ich
gebe Wolfgang Börnsen völlig Recht: Unterstützung
kann nicht nur aus moralischem Beistand und Sonntagsreden bestehen, sondern muss sich auch darin ausdrücken, dass wir materielle Ressourcen dieser Gesellschaft
für diese Arbeit zur Verfügung stellen. Das ist wichtig;
daran sollten wir arbeiten.
({1})
Lieber Kollege Carstensen, wir brauchen das ehrenamtliche Engagement. Ohne das ehrenamtliche Engagement können wir in diesem ganzen kulturellen Bereich überhaupt nichts erreichen. Wir sollten uns bei den
vielen Leuten bedanken, die sehr viel Lebenszeit in diese
Arbeit stecken.
({2})
Ohne diese engagierten Bürgerinnen und Bürger wären
diese Sprachen in einer ganz schlimmen, zum Teil hoffnungslosen Situation.
Wir als Gesellschaft müssen unsere Verantwortung
gegenüber diesen Menschen nicht nur durch verbale,
sondern auch durch finanzielle Anerkennung ausdrücken.
({3})
Daran müssen wir alle zusammen arbeiten. Wir haben
verabredet, in der Ausschussberatung gerade diese Frage
neu zu thematisieren und zu versuchen, Lösungen zu
konkretisieren.
Unsere Verantwortung gilt auch für den europäischen Integrationsprozess. Bei der Integration von Rumänien und Bulgarien in die Europäische Union werden
Kultur und Sprache der Sinti und Roma eine ganz besondere Rolle spielen. Wir alle sind gefordert, unser Scherflein dazu beizutragen, die Integration von Sprache und
Kultur der Sinti und Roma zu unterstützen.
Es geht auch darum, unsere Erfahrungen mit der Integration von autochthonen Minderheiten auf die Sprachminderheiten zu übertragen, die sich durch Migration ergeben.
({4})
Wir haben dieses Integrationsproblem im Zusammenhang mit dem Zuwanderungsgesetz sehr intensiv diskutiert. Ich glaube, dass die Erfahrungen, die wir - zum
Beispiel in Schleswig-Holstein mit dem Minderheitenzentrum - machen, uns gute Hinweise darauf geben, wie
wir Minderheiten integrieren und ihre Kulturen akzeptieren können. Das ist ein ganz wichtiger Bereich.
Sprachminderheiten sind auf Zugang zu den Medien
unserer Gesellschaft angewiesen, damit kulturelle Auseinandersetzung und Sprachförderung stattfinden können. Das zweite wichtige Element neben der Unterstützung von kulturellen Vereinigungen muss daher sein,
dass wir diesen Gruppen einen Zugang zu den modernen
Medien ermöglichen, also zum Fernsehen und - nicht
ganz so modern, aber auch wichtig - zum Hörfunk.
Staatliche Einrichtungen sollten die Präsenz von Minderheitensprachen im Internet fördern. Kommunen, Landesregierungen und Bundesregierung sollten auf sie hinweisen und entsprechende Links setzen. Die
Minderheiten müssen Gelegenheit haben, sich in unseren Medien darzustellen. Das ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass ihre Kulturen lebendig bleiben und sich
immer wieder erneuern können. Dafür sollen wir alle zusammen kämpfen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Koppelin, FDPFraktion.
Leeve Herr Vörsitter! Leeve Fruunslüüd! Leeve
Mannslüüd! Dat kümmt nich oft vör, dat en wie ik von
de Opposition wat von de Regierung laben deit,
({0})
aver de Unnerichtung von de Regierung över de Minnerheitenspraken is en gode Bericht, wat dor op en Dutt
sammelt worrn is. Dat mutt man respektieren; dor mutt
man seggen, dat is eenwandfrie.
({1})
Wat besonners goot is, dat wi ok mol erfohrn doot,
wat dat so all an Aktivitäten in de Länders un in Organisationen geven deit, un ok doröver wat erfohren doot, wo
uns nedderdüütsche Sprok noch snackt ward. Dat is
goot, dat wi den Bericht kriegt hebben. Denn wie hett
Klaus Groth al schreben: „Min Modersprok, wie klingst
Du schöön, wi bis Du mi vertrut.“ Un dat dat wedder
ward, dat uns plattdüütsche Modersprok nich nur von
Oma un Opa snackt ward, sönnern ok uns jung Lüüd
wedder vertrut ward, dor mööt wi uns drum kümmern.
({2})
Wi beklogt in disse Tied oft de aggressive Spraak von
uns junge Lüüd. Wenn de all platt snacken wörn, denn
glööv ik, denn geev dat keen Aggressivität mehr oder
veel weniger bi de jungen Lüüd.
De meisten, de platt snacken doon, kennt dat ja: Dor
kümmt mol en Striet un de een seggt to’n annern:
Mensch, klei mi an Mors! Denn seggt de anner: Du mi
ok! Aver dorför gifft dat kein an’t Muul. Dor verträgt de
sik ganz schnell wedder.
In acht Bunnesländer köönt Minschen Platt snacken.
Wenn dat so is, denn is dat goot un mutt pleegt warn.
Bi disse Gelegenheit mutt ik ok noch wat los warn:
De hütige Debatt in uns Parlament is keen Utspraak över
„Mundartsprachen“, wie uns Öllersrat meent,
({3})
sonnern hier geiht dat um de Pleeg un Förderung von
Minnerheitenspraken. Dat is en gewaltigen Unnerschied,
ob dat „Mundartsprachen“ oder Minnerheitenspraken
sind.
({4})
Ik will hüüt bi disse Utspraak nich kriteseren, sonnern
ik denk, wi schullen hier ok mal laben: to’n Bispeel al de
Vereene, wo bi uns im Norden noch platt snackt ward,
wo de Vörstand platt snackt un wo manch Versammlung
op Platt afholen ward.
Ik will ok mal doran erinnern, dat ik so manch Gemeendeversammlung kenn, wo ok platt snackt ward.
Den groten Bebuungsplan kannst du beter begriepen,
wenn du dat op Platt besnacken deist. Mi wär’s bloot
leev, wenn ok de Architekt von de Bebuungsplan platt
snaken kun. Denn künnt man ok beter begriepen, watt he
egentlich will. Also, wenn du bi uns in de Dörp en Geschäft moken wüllst, denn bist du goot beroten, wenn du
platt snacken deist. Wer da uut Süüddüütschland to uns
kommen deit, de soll vörher mal en beten Platt lernen. Ik
glööv, denn kann he ok beter Geschäfte moken.
({5})
Ik will bi disse Gelegenheit noch wat anners seggen,
wat ik utsproken goot find: Dat is, dat manchen Paster
wedder anfangt, sien Goddesdeenst op Platt aftohollen.
({6})
Lüüd, jüm glöövt gor nich, wenn jüm dat ni sülben
miterleevt hebbt. Denn is de Kark mal wedder richtig
vull. Un ik find ok goot, dat wi nu ok in de meisten Karken plattdüütsche Gesangböker hebbt un de WachholtzVerlag ut Niemünster in Dezember von dat letzte Johr ok
dat „Ne’e Testament“ in Plattdüütsch rutbrocht hett. Dat
is ok wat, wo ik glööv, dat wi dat mal laben schüllt.
Ik glööv, tosamen köönt wi noch bannig veel för uns
plattdüütsche Sprok moken. Rainder Steenblock hett ok
wat dorvon ansproken. So wünsch ik mi mehr Plattdüütsch in uns Klönkassen un in Televischen, denn de
Öffentlich-Rechtlichen hebbt mit dat Betohlen von de
Gebühren ok en Kulturopdrag.
Herr Kollege Koppelin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen zu?
Mit groten Vergnögen.
Afsnackt is dat nich.
Wolfgang Börnsen ({0})
Leeve Jörn, du hest grode seggt, dat dat heel wichtig
is, dat man sik mehr um de plattdüütsche Spraak kümmern deit. Weer dat nich en wirklich goote Idee, dat uns
Landesparlamente, ob in Hamborg oder Mecklenborg
oder Bremen oder ok in Sleswig-Holsteen, sik maal
mehr in de Landesspraak utenannersetten doon un nich
alleen nur in Hochdüütsch. Denn in de Länner ward ja
platt snackt. Is dat nich ok wichtig, dat se ok begriepen,
wi kriegt jedes Johr 170 ne’e Böker op Platt, wi hebbt
över 6 000 Theatergruppen, un dat se mal en Geföhl dorför kriegen, dat Platt mehr is as Folklore?
Das kann man ja noch schön in die Föderalismuskommission einführen.
({0})
Bitte schön, Herr Kollege.
Ik mark al, uns Vörsitter, de kann dat doch allens verstohn.
({0})
Ik bin di sehr dankbar dorför, dat du de Froog stellt
hest: zum een, weil ik als Liberaler bloot veereenhalf
Minuten to snacken hebb. So kunn ik noch en beten länger snacken.
({1})
Aver ik will dat gern beantworten: De Landdag vun Sleswig-Holsteen mokt dat ja ab un to. Ik will ok mal den
Präsidenten vun de Landdag, ok wenn he vun de Sozialdemokraten is, en beten laben. He sorgt ok mit dorför,
dat wi disse plattdüütschen Debatten in’n Landtag
mookt. Dat köönt wi noch mehr moken. Ik köönt mi vörstellen, Peter Harry, dat man in’t nächste Johr, so af
März, ok in’t Landeskabinett noch en beten platt snacken kann.
({2})
Ik will noch en Punkt ansnacken, de mi wichtig is,
hier to vertellen: Ik glööv, bevör dat nu bi ARD und ZDF
Gebührenerhöhung gifft - wat di ja gern wöllt -, mööt
wi uns mit de ok mal unnerhollen, wat se egentlich mit
uns Minnerheitensproken mookt. Dat hool ik för dringend nootwennig, denn de hebbt en Kulturopdrag und
mööt sik dorüm kümmern.
({3})
Dringend kümmern mööt wi uns um dat Friesisch; dat
is ja andüüdt worrn. Dor mööt wi noch veel mehr moken, ok wenn to’n Bispeel de Friesenrat seker veel
mookt. Ik will bi disse Gelegenheit bi den Friesenrat
Dank seggen för sien Aktivitäten.
Ik will aver klor un dütlich seggen: Mit Geld oder mit
Anwiesungen vun de Regierung is dat nich doon. Wi
mööt dorför sorgen, dat ok in’t Öllernhuus wedder plattdüütsch oder friesisch oder dänisch - oder wat jümmers
dor is - snackt ward. Wi, de wi disse Spraken snacken
köönt, hebbt de Opgaav, disse wunnerbaren Spraken an
uns Kinner wiedertogeven.
Un deshalb segg ik to’n Schluss von mien Bidrag en
Utspruch - dat is hier noch nich snackt worrn -: „En Lun
sönner Spreek es en Lun sönner Seel.“ Dat is Helgoländer Friesisch. Wer dat nich verstoon hett, den will ik dat
gern översetten: En Land ohne Spraak is en Land ohne
Seel. Nu hebbt dat wohl all verstoon.
Weest all bedankt för disse Debatt un för jüm Opmerksamkeit, dat Sie mi tohöört hebbt.
({4})
Ich stelle mit besonderem Respekt fest, dass das Einhalten der Redezeit in Platt offenkundig leichter gelingt
als in Hochdeutsch.
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Gesine Lötzsch das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsiden! Meine Damen und Herren! Es herrscht hier eine sehr angenehme Atmosphäre,
aber trotzdem erlaube ich mir die Bemerkung, dass auch
die Minderheitenpolitik dieser Bundesregierung allerlei
Widersprüche beinhaltet.
Als nationale Minderheiten werden in Deutschland
bekanntlich vier Ethnien anerkannt: die dänische Minderheit, die Friesen, die deutschen Sinti und Roma sowie
das sorbische Volk. Bemerkenswert und richtig finde ich
die Hervorhebung des besonderen Status der Sorben.
Das Bewusstsein, eben keine Deutschen zu sein, ist seit
über 1000 Jahren wichtige Komponente sorbischer Identität. Erinnert sei daran, was 1937 den Nazis als Vorwand
für die Einleitung massiver Repressalien gegen die sorbische Bevölkerung einschließlich Sprachverbot und
Verhaftungen diente.
({0})
Es war die einhellige Weigerung des Vorstandes der Domowina, des Dachverbandes sorbischer Vereine, sich
eine Satzung aufzwingen zu lassen, in der die Sorben zu
„Wendisch sprechenden Deutschen“ deklariert werden
sollten.
Nicht anders dürfte es um die Identität der Dänen in
Südschleswig bestellt sein. Meine Damen und Herren,
Sie erinnern sich vielleicht: Es ist noch gar nicht so
lange her, dass sie nicht bereit waren, sich an Veranstaltungen zu beteiligen, auf denen die Flagge SchleswigDr. Gesine Lötzsch
Holsteins gezeigt wurde. Ihre Fahne ist und bleibt der
Danebrog.
Auch die ihre Muttersprache noch beherrschenden
Friesen lassen sich bei weitem nicht alle durch das
Deutschtum vereinnahmen. Das Grundgesetz jedoch deklariert alle Inhaber deutscher Pässe zu Deutschen. Zugespitzt gesagt: Danach ist die Anerkennung nationaler
Minderheiten in Deutschland eigentlich verfassungswidrig.
({1})
- Hören Sie doch erst einmal zu!
Ich meine, es ist höchste Zeit, den antiquierten
Art. 116 des Grundgesetzes endlich ersatzlos zu streichen.
({2})
Der Hauptwiderspruch bundesdeutscher Minderheitenpolitik ist jedoch die unterschiedliche Behandlung der
vier autochthonen Minderheiten einerseits und der nach
dem Zweiten Weltkrieg eingewanderten Minderheiten
andererseits; Herr Kollege Steenblock ist bereits darauf
eingegangen. Die autochthonen Minderheiten sind anerkannt und haben zu Recht Anspruch auf Förderung ihrer
Sprache und Kultur. Von den allochthonen, also den später eingewanderten Minderheiten - einer Bevölkerung
von mehreren Millionen - verlangt zum Beispiel der
Bundesinnenminister explizit die Germanisierung.
({3})
O-Ton Schily:
Ich will nicht, dass sich eine homogene Minderheit
entwickelt, deren erste Sprache Türkisch ist … Die
Muttersprache muss Deutsch sein oder werden.
Wo bleibt da die Toleranz des vom Bundeskanzler
höchstpersönlich gewürdigten Toleranzpreisträgers
Schily?
({4})
Könnte es sein, dass der neuerdings in den Medien wieder beklagte Rückgang der Einbürgerungsanträge auch
damit zusammenhängt?
({5})
- Was heißt hier „Pfui!“? Was ist das für ein Zwischenruf? - Wie soll da die Integration der ausländischen Mitbürger, wie sie meist genannt werden, gelingen?
Wir werden in Deutschland nur gut und friedlich zusammenleben können, wenn wir Unterschiede nicht als
Hindernis, sondern als Bereicherung für unsere Gesellschaft empfinden. Auf die Zwischenrufe eingehend,
merke ich an: Augenscheinlich fällt Ihnen das schwer,
meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
({6})
Nun hat die Kollegin Karin Evers-Meyer, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Verehrter Herr Vörsitter! Leeve Fruunslüüd un
Mannslüüd! Fief Johr is dat her, dor is de Europäische
Charta för Regional- un Minderheitenspraken Gesetz
worrn. Von dorum snackt oder praat wi över den tweeten
Staatenbericht von de Spraken-Charta. Mit de Ünnerschrift ünner de Charta gifft dat ok för de plattdüütsche
Spraak - för de snack ik vandagen oder vanavend so’n
beten - en Regelwark, wor nipp un nau binnen steiht:
Plattdüütsch is en Stück Kultur un dit Stück Kultur is
wichtig för de Minschen in’n Noorden vun Düütschland;
un us Bundesregerung un de Bundeslänner staht dor dankenswerterwies för in.
({0})
Man so’n lüttjes beten hett dor för de Plattdüütschen een
Uul seten.
De Minschen hebbt wiss und wohrhaftig dacht, wenn
dat Gesetz eerst dor is un wenn dat ok noch vun Europa
kümmt, denn müss dat doch egentlich bannig vörangahn.
Denn warrt wat doon för us Spraak. Denn maakt wi Projekte mit Plattdüütsch in’n Kinnergoorn, in de School
- ganz wichtig -, an’n Arbeitsplatz. Un beter warrt dat
ok in de Kultur: bi de plattdüütschen Böker, bi de Musikgruppen, bi de Theaters.
Man wenn wi nipp un nau henkiekt, denn warrt wi
wies: so richtig röögt hett sik för de Plattdüütschen noch
gor nix. Snacken is een Ding; Doon is ’n anner.
({1})
Wo liggt dat nu an? De wichtigste Punkt is woll düsse: In
de Spraken-Charta steiht Platt blangen de Minderheitenspraken. De Minderheiten- oder Autochtonenspraken höört ethnische Gruppen to. Se hebbt to’n Bispill gemeensame Traditionen, ehre Trachten un so wieder. De
Plattdüütschen sünd avers blots över ehre Spraak verbunnen.
In de Charta gellt för Freesch, Sorbisch, Däänsch un
de Spraken vun de Sinti un Roma un ok för Platt desülvigen Regeln. Un ik meen, wenn dat een Gesetz geven
deit, denn schullen ja woll ok desülvigen Regeln gellen
för all de Sprakengruppen, üm de dat hier geiht. Se hört
doch all de Regional- oder Minderheitenspraken to.
({2})
Man dat is ok bloots wedder de halve Wohrheit. Denn
dat gifft opstunns nich een politisch Gremium, wo de
Plattdüütschen gliekberechtigt mit de Minderheiten in
een Boot sitt. De Charta will egentlich wat doon för de
ganze Grupp vun de lütten Spraken. Un dorüm geiht
mien Appell eerstmaal villicht ok an de Minderheiten,
dat se de Plattdüütschen nich länger minnachtig ankieken un utgrenzen doot.
Wi mööt uns fragen, wat us Bundesregierung noch
doon kann, dat wi vun düssen Missstand wegkaamt. De
lüttjen Kulturen in uns Land sünd eenfach to wichtig, as
dat dat dor ok noch en Ünnscheed opböört warrt twüschen de lüttjen Kulturen: de ut de eerste Klass un de ut
de tweete Klass.
({3})
Ok de Bund will hier nu sien Part övernehmen. De Plattdüütschen hebbt nu twors en Bundesraat, mit Lüüd, de
wählt sünd sogar. Man recht wat rieten köönt de nich.
Düt Gremium warrt nich anerkannt un he hett reinweg
nix in de Melk to krömen. Dorum is dat ganz wichtig,
dat de Bundesregerung den Bundesraat für Nedderdüütsch bi allens, wat an is - „was anliegt“ seggt wi in
hoochdüütsch -, estemeert. Un dat jüst so, as dat bi de
Maten vun de autochtonen Minnerheiten begäng is. Dormit he dat kann, bruukt de Bundesraat för Nedderdüütsch en institutionelle oder offitschelle Form.
({4})
In de nu vörliggenden tweeten Staatenbericht to de
Spraken-Charta, de nu op’n Disch liggt, geiht dat dorüm,
woans dat denn ümsett warrt, wat in de Charta allens
binnen steiht. Meist 500 Sieden un en Drüttel dorvun
geiht över Platt. Faktisch steiht Plattdüütsch hier blangen
de annern lüttjen Spraken in Düütschland. Un vun’n
Grundsatz her - hebbt wi faststellt - is dat genau richtig
so. Goot is, dat de Länder överhaupt Bericht geven mööt
över ehr Doon. Man so wunnerbor, as dat hier op’t Papier to lesen is, so wunnerbor steiht dat för dat Plattdüütsche - bit op een poor Utnahmen in Oostfreesland denn doch nich. In Oostfreesland kann man jeden Dag
op de Straat Platt hören: an’n Arbeitsplatz, in’n Kinnergaarn. Un dor maakt se ok ’n Barg för de Regionalspraak. Man, wo süht dat in de annern Regionen vun
Neddersassen ut? In de Lünborger Heid oder in’t Ossenbrügger Land?
Wenn för uns Plattdüütsch en Stück vun de noorddüütsche Kultur is, denn langt dat nich, wenn bloots dor
wat makt warrt, wo dat noch mehr oder weniger goot leven deit. Wenn wi nämlich noch teihn Johr mehr töövt,
denn bruukt wi villicht gor nix mehr to maken. Nee,
Sprakenschutz heet ja doch, dat de Spraak dor to ehr
Recht kümmt, wo se to Huus is. Un dat is se nu maal in
ganz Noorddüütschland: in nich weniger as acht Bundeslänner bit hin to Nordrhein-Westfalen. Wo man hört,
8 Millionen Minschen snackt noch Platt. Man dat warrt
Johr för Johr bedrohlich weniger. De Charta will nu helpen, dat düt Stück Spraakkultur nich egaalweg lütter un
minner warrt.
({5})
Wenn wi aver vun de plattdüütsche Kultur snackt,
denn meent wi ’n beten mehr as snacken. Denn meent wi
ok en Stück Geschichte vun us Land. Un wi meent Leder, Gedichten, Romane, Theater:
({6})
ok dat Plattdüütsche in’t Radio, in’t Fernsehn oder in de
Zeitung. Dat allens tohoop gifft de Minschen dat, wat
man hüüt Levensqualität nöömt. Wi all weet, dat düsse
Deel vun de Kultur in de Hand vun de Länder liggt. Un
in’n Staatenbericht hebbt se dat allens opschreven. Man
ok hier wedder mütt ik faststellen, de Würklichkeit süht
’n beten anners ut: In Neddersassen hett de Landesregerung jüst de institutionelle Förderung för den Nedderdüütschen Bühnenbund üm rund een Veertel tosamenstreken.
({7})
Desülvige Landesregerung seggt „Ja“ dorto, dat an de
Göttinger Universität de eenzige Lehrstuhl „Nedderdüütsche Philologie“ ganz streken warrt - un dat, wo
düsse Punkt extra in de Charta opföhrt is un dat Land dor
ok sien Krüüz maakt hett.
Klor, de Länner mööt sporen. Wenn bi de Kultur
spoort warrt, denn is dat Plattdüütsche jümmers mit
dorbi in de eerste Reeg. Dor gifft dat keen extra Schutz.
Man wi schüllt ok bedenken: De plattdüütsche Kultur
hett al jümmers veel weniger Geld kregen as de Kultur
vun de anner Minderheiten - un as dat Hoochdüütsche al
lang. Un wenn vun düt lütt Beten nu ok noch wat wegstreken warrt, denn deit dat hier besunners weh. Dat gellt
übrigens nich bloots för Neddersassen, nee, in Schleswig-Holsteen is dat jüst so, nich ganz so schlimm, aver
dor hebbt wi ok ’n paar Dinge to beklogen.
({8})
Wi weet all, dat de Bundesregerung un de Länner
nich in Geld swemmen doot. Dorüm mutt de Bundesregerung - se will dat ja ok - dorför sorgen, dat bi de EU
de Geller, de in’n Huusholt för de Regional- un Minnerheitenspraken vörsehn sünd, utbetahlt warrt. Un wenn se
dat dennoch schafft, to verklaarn, dat dat Johr 2008 to’n
Sprakenjohr warrt in Düütschland,
({9})
denn hett de Bundesregerung veel für uns nedderdüütsche Spraak doon. Un dorför segg ik in Naam von all de
Nedderdüütschen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Česćeny knjez prezident! Česćeni knježa, wažene
damy, waženi hosćo!
Für die Gäste sage ich, dass ich diese Rede in meiner
sorbischen Muttersprache spreche.
Mjez łužiskimi horami a Błótowskej krajinu, na
brjóhach Sprjewje tu su Serbja zhromadnje z němskej
ludnosću žiwi. To je naša domizna. Serbja nimaja
swójski maćerny kraj. Najebać wšitkich historiskich
napřećiwkow su sej Serbja dlěje hac 1 500 lět swoju
wosebitosć zdźerželi a wuwili, wosebje serbsku rěč.
Wokoło Chośebuza gronimy dolnoserbski a wokoło
Budyšina hornjoserbsce.
Delnjoserbšćina je bóle přichilena pólšćinje a
hornjoserbšćina bóle k čěskej rěči. Tutón fakt a
zhromadne historiske korjenje wolóža mjezsobne
dorozumjenje z našimi susodami. Naše stare serbske
přisłowo praji: „Ze serbskej hubu přindźeš přez Pólsku a
Čěsku do Ruskej“. W rozšěrjenej Europje hladamy hišće
dokładnišo na to, zo so europska mysl šěroko přesadźi.
({0})
To budźe so nam ćim lěpje zešlachćić, hdyž twarimy
emocionalne, kulturelne, sociopolitiske, hospodarske a
wosebje rěčne mosty. Maćerna rěč a identita słušatej
hromadźe. Bjez němsko-serbskeje dwurěčnosće by naša
Lužica była kaž „hłowa bjez wobliča“. Tohodla je nam
zdźerženje serbskeje rěče tak wažne.
({1})
Nawuknje so serbšćina w staršiskim domje, je to
najlěpje a tež najtuńšo. A to je tež najrjeńšo, dokelž so
tak nan a mać a dźěćo najsylnišo we wobłuku němskeho
wobswěta jako zhromadnosć skruća. Dźěći němskich
staršich maja wězo tež móžnosć, serbšćinu na přikład we
WITAJ-skupinach nawuknyć. Tutón projekt so přeco
lěpje přesadźi. Za to trjebamy pak tež w přichodźe statnu
podpěru.
Serbske šule maja, kaž wšitke druhe šule, z demografiskim wuwićom ćeže a dyrbja z konsekwencami
wobchadžeć. Tež my mamy bohužel přemało dorosta. Za
dalše wobstaće serbskeho šulstwa dyrbja za nas
wuwzaćne rjadowanja płaćić, štož je zdobom z přidatnej
financnej podpěru zwjazane. Wo to wojujemy kóžde
lěto.
({2})
Serbske šule trjebaja wězo tež serbske wučbnicy a
wuwučowanski material.
Angažowani sobudźěłaćerjo Rěčneho centruma
WITAJ a tež čestnohamtscy so wo to staraja. Wučbnicy
pak so jenož w snadnych ličbach ćišća, jenož tak wjele
kaž trjebamy. Zo by płaćizna wučbnicow za staršich
naposledk móžna była, je tež tu dalša přiražka trěbna.
Tute naličenja móža so dale wjesć. Sym chcyła na to
skedźbnić, zo dyrbja w konsekwency globalizacije w
našim swěće mjeńšiny wulki asimilaciski ćišć
wudźerźeć. Naša wosobinska wola za přetraće serbstwa
a dosahaca statna podpěra słušatej tež hromadźe.
Tohodla witam jara druhu rozprawu zwjazkoweho
knježerstwa k Europskej charće regionalnych a
mjeńšinowych rěčow. Mam z tym jako zapósłanča prěni
króć móžnosć, moje wuwjedźenja w mojej maćeršćinje
podać. To je za mnje historiski podawk.
Ja sonju w maćeršćinje a so tež w maćeršćinje modlu.
Wot naroda sem sym dwurěčnje wotrostła. Tutu
bohatosć přeju wšitkim dźěćom. Wjacerěčnosć je kluč
do přichoda. W tutym duktusu trjebamy runoprawnosć
regionalnych a mjeńšinowych rěčow a tohodla wosebite
spěchowanje.
Frau Kollegin Michalk, erlauben Sie eine
Zwischenfrage?
({0})
Knjez prezident, knjeni Michałkowa, kak Wy to
widźiće, trjebamy wosebity mjeńšinowy artikel w
Europskich wustawkach?
({0})
Ja so dźakuju za tute prašenje. - Ich antworte erst auf
sorbisch und übersetze Ihnen das anschließend.
({0})
We wobłuku diskusije Zakładneho zakonja smy na to
skedźbnili, zo trjebamy mjeńšinowy artikl. Tam je so
nam prajiło, zo bychmy dyrbjeli tuton problem rjadować
w Europskej wustawje. Ja trochu wobžaruju, zo so to
njeńdźe w tutym wokomiku slachćić. Runje dźensa so w
Brüsselu wo tym jedna. Dźakuju.
({1})
Für die Kollegen werde ich das fairerweise
übersetzen, sofern das nicht auf meine Redezeit
angerechnet wird.
Übersetzen Sie bitte!
Der Kollege Nitzsche hat mich gefragt, ob ich es für
notwendig erachte, dass in der Europäischen Verfassung
ein eigenständiger Minderheitenartikel aufgenommen
wird. Ich habe ihm geantwortet, dass wir bei der
Diskussion über die Änderung des Grundgesetzes im
Zuge der deutschen Einheit sehr für einen
Minderheitenschutzartikel gekämpft haben. Seinerzeit
wurden wir immer wieder auf die Chance der
Europäischen Verfassung hingewiesen. Da, wie Sie
wissen, gerade heute in den entsprechenden Gremien
darüber beraten wird, bin ich etwas traurig, dass eine
solche Formulierung wohl nicht expressis verbis
aufgenommen werden wird.
({0})
- Das steht ja dann im Protokoll. Eigens dafür wurde
eine sorbische Protokollantin eingeflogen.
Předpołožena rozprawa dopokaza, zo su w němskej
republice zasadne wěcy na polu mjeńšinoweho prawa
rjadowane. Porućenje ministerskeho komiteja pokaza
pak tež, w kotrych jednotliwych dypkach je dalše
jednanje trěbne. Wón je němskemu knježerstwu
doporučił, serbšćinu, wosebje tež delnjoserbšćinu,
skrućić, dokelž hrozy strach, zo so pominje.
Serbske šulstwo ma so stabilizować. To njeje jenož
nadawk krajow, tež zwjazk ma so na přiměrjene wašnje
wobdźělić, tež na dalekubłanjach wučerjow. Serbska rěč
ma so šěršo w zjawnym žiwjenju jewić a tež w medijach.
Tež naše serbske institucije su trěbne za serbsku rěč,
kaž Rěčny centrum WITAJ, Serbski institut, Ludowe
nakładnistwo Domowina, Němsko-Serbske ludowe
dźiwadło a Serbski ludowy ansambl, a tež projektne
dźěło mam za wažne. Wšitko to přewodźa Domowina
jako rěčnica Serbow z jeje towarstwami. Wo financny
zakład stara so Załožba za serbski lud. Mamy potajkim
přeco lěpje fungowace struktury. Bjez financnych
přiražkow zwjazka, Swobodneho kraja Sakskeje a
Braniborskeje njeby to wšitko móžno było. Za to sym
jara dźakowna.
({1})
Ale přez zwjazk připowědźene skrótšenje srědkow
Załožby za serbski lud na žadyn pad w duktusu tuteje
rozprawy njesteji. Hišće 15. měrca 2002 je zwjazk
pisomnje připowědźił, zo wostanje srjedźodobnje
přiražka zwjazka w dotalnej wysokosći. Na to smy so
spušćili. Ale hižo lětsa je skrótšenje fakt a za klětu
připowědźene. Z toho wuchadźaca njewěstosć nas
aktualnje jara zaběra a pohibuje. Kaž zwjazk němsku rěč
z prawom we wukraju spěchuje, tak ma wón
winowatosć, za dosahowace spěchowanje regionalnych
a mjeńšinowych rěčow w tukraju.
({2})
Naše štyri mjeńšinowe rěče a regionalna rěč
Nižozemskeje wupjelnja sobu tutón „pisany kwěćel“
europskich rěčow. Prócujemy so wo to, zo to tak
wostanje. Za to ma zwjazk wosebitu zamołwitosć.
({3})
Ja so jara wjeselu na dalše zhromadne dźěło na dobro
wšěch w tutym kraju. Ja so jara wutrobnje dźakuju.
({4})
Da ich Frau Kollegin Michalk nicht auf sorbisch auf
die Überschreitung ihrer Redezeit hinweisen konnte,
konnte sie in aller Ruhe zu Ende reden.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/3200
und 15/3328 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Zivildienstgesetzes und anderer
Vorschriften ({1})
- Drucksache 15/3279 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ina
Lenke, Klaus Haupt, Daniel Bahr ({3}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstgesetzes
({4})
- Drucksache 15/2482 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Verteidigungsausschuss
Aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Da aber
die meisten Reden zu Protokoll genommen werden sollen, werden wir diese Zeit gar nicht benötigen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die
FDP-Fraktion hat sich im Deutschen Bundestag wiederholt vehement und mit Nachdruck für die Aussetzung
der Wehrpflicht und damit auch für ein Ende des Zivildienstes eingesetzt.
({0})
Wir wissen, dass wir auch in der SPD Unterstützer haben. Wie ich sehe, hat auch die Staatssekretärin der SPD
ihren Redebeitrag zu diesem Thema zu Protokoll gegeben. Das zeigt mir, dass dieses Thema heute Abend
möglichst ohne Aufsehen im Parlament abgehandelt
werden soll.
Meine Damen und Herren von den Grünen, zu Nichtregierungszeiten hatten die Grünen ein größeres Interesse an der Aussetzung der Wehrpflicht, als dies heute
Abend der Fall ist.
({1})
Ich habe den Eindruck, dass für die Grünen die Wehrpflicht nur noch ein Randthema ist.
Liebe Kollegen, die FDP hat Anfang dieses Jahres, im
Februar 2004, die Initiative ergriffen und einen eigenen
Gesetzentwurf zur Verkürzung der Zivildienstzeit auf
neun Monate in den Bundestag eingebracht. Ich will für
die FDP - auch am späten Abend - ganz deutlich unterstreichen, dass dies für uns nur eine Übergangslösung
ist. Denn unser eigentliches Ziel ist die Aussetzung der
Wehrpflicht. Die Arbeit der Zivildienstleistenden und
die Arbeit der Wehrpflichtigen sind gleichwertig und
deshalb sollen beide Gruppen nur neun Monate dienen.
Ich hoffe, dass sich die SPD-Familienministerin Schmidt
im Kabinett weiterhin für das Aussetzen der Wehrpflicht
engagiert.
Wir alle und ganz besonders die Grünen sollten den
Vorstellungen des Innenministers Schily und den Vorstellungen der Justizministerin Zypries eine klare Absage erteilen. Denn Zypries und Schily wollen einen
Zwangsdienst von zwölf Monaten in der Bundesrepublik Deutschland einführen. Allein die Diskussion
hierüber ist für jeden Demokraten eine Zumutung. Weltweit existiert nämlich dieser Zwangsdienst, den Schily
und Zypries wollen, nur noch in der Militärdiktatur der
Union Myanmar, die besser unter dem Namen Birma bekannt ist.
Nun zum Regierungsentwurf. Ich halte ihn für nicht
ausgereift. Einig sind wir uns darin, was die Kürzung des
Zivildienstes anbelangt. Aber was die Änderungen bezüglich des Wehrdienstes betrifft, hat meine Fraktion
noch Beratungsbedarf. Dazu brauchen wir eine Anhörung. Wie Sie alle wissen, existieren mehrere Gerichtsurteile, die die Praxis der Einberufung zum Wehrund Zivildienst für mit der Verfassung nicht vereinbar
erklären. Ich denke an das Urteil von Köln. Die FDP hält
es nämlich für eine Willkür, dass der Gesetzgeber Gruppen von Wehrpflichtigen aus der Wehrpflicht entlässt,
die nach den Kriterien der Landesverteidigung eigentlich
tauglich wären.
Besonders vor dem Hintergrund der ergangenen Gerichtsurteile halten wir dieses Vorgehen der Bundesregierung für politisch-verfassungsrechtlich äußerst
bedenklich. Es kann doch nicht angehen, dass die Wehrpflicht zunehmend verfassungswidrig organisiert wird.
Ich schlage Ihnen vor, den Gesetzentwurf der FDP zügig
zu verabschieden und den weiter gehenden Änderungsbedarf, der in dem Regierungsentwurf beschrieben ist,
sachgerecht zu beraten.
Ich komme zum Schluss. Der Verkürzung der Zivildienstzeit, so wie sie die FDP in ihrem Gesetzentwurf
vorschlägt, kann auch ohne Anhörung zugestimmt werden.
({2})
Die übrigen Reden sollen zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Parlamentari-
schen Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel
sowie der Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, Bündnis 90/
Die Grünen, und der Kollegen Willi Zylajew, CDU/
CSU, Andreas Weigel, SPD und Andreas Scheuer, CDU/
CSU-Fraktion.1)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 15/3279 und 15/2482 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie
zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Bernd Neumann ({0}), Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland - Gesamtkonzept
für ein würdiges Gedenken aller Opfer der
beiden deutschen Diktaturen
- Drucksache 15/3048 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich das Wort dem Kollegen Günter Nooke.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Es
ist kein Zufall, dass wir heute, am 17. Juni, einen Antrag
- mit einem zugegebenermaßen etwas sperrigen Titel einbringen.
({0})
Unser Antragstext beginnt mit der Feststellung:
Zu den konstitutiven Elementen des wiederverein-
ten Deutschlands gehört das Gedenken an die Opfer
1) Anlage 3
der beiden totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts: Nationalsozialismus und Kommunismus.
Beide sind Bestandteile der deutschen Geschichte.
Wir haben bewusst das Wort „Diktaturgeschichte“ im
Titel unseres Antrags gewählt, um deutlich zu machen,
dass die deutsche Geschichte im vergangenen Jahrhundert von zwei Diktaturen geprägt war.
Ich möchte gleich zu Beginn unmissverständlich feststellen: Dabei geht es in keiner Weise darum, das Terrorsystem des Nationalsozialismus mit der SED-Diktatur
gleichzusetzen oder gar die Singularität des Holocaust
anzuzweifeln.
({1})
In unserem Antrag werden auch keine Opfergruppen
vermischt. Das sind unhaltbare Unterstellungen, die
durch keine einzige Textstelle in unserem Antrag belegt
werden.
({2})
Vielmehr beginnt gleich der zweite Absatz unseres
Antrags mit einem für mich selbstverständlichen Satz,
den ich allen jüdischen Opferorganisationen, aber auch
allen anderen Organisationen gegenüber als tiefe persönliche Überzeugung und dauerhaftes Handlungsprinzip
der CDU/CSU-Fraktion zitieren möchte:
Das Nationalsozialistische Regime hat mit dem
millionenfachen Mord an den europäischen Juden
ein singuläres Verbrechen begangen, das immer ein
spezielles Gedenken erfordern wird.
({3})
- Ich kann noch viele selbstverständliche Aussagen hinzufügen. Jeden, der versucht, sich vorzustellen, wie der
im Naziregime organisierte industrielle Massenmord an
den Juden abgelaufen ist, überkommt ein Schaudern,
Scham und das sichere Gefühl, dass wir uns niemals der
Verantwortung entziehen dürfen, daran zu erinnern, was
Deutsche den europäischen Juden angetan haben.
Es besteht kein Zweifel: Bautzen ist nicht Auschwitz.
Trotzdem muss auch Bautzen als Synonym für die Verbrechen der SED-Herrschaft Teil unseres nationalen Bewusstseins sein.
({4})
Dabei berufen wir uns ausdrücklich auf die Ergebnisse
der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages
zu den Folgen der SED-Diktatur. Im Schlussbericht wird
festgestellt - ich zitiere -:
Die Erinnerung an die beiden Diktaturen, die die
Feindschaft gegen Demokratie und Rechtsstaat verbunden hat, schärft das Bewusstsein für den Wert
von Freiheit, Recht und Demokratie. Dies, wie die
notwendige Aufklärung über die Geschichte der
beiden Diktaturen, ist der Kern des antitotalitären
Konsenses und der demokratischen Erinnerungskultur der Deutschen.
({5})
In diesem Zusammenhang hat die rot-grüne Bundesregierung in einer Unterrichtung in der vergangenen Legislaturperiode betont, dass die Gedenkstätten an den
authentischen Orten zur Erinnerung an beide Diktaturen
und zum Gedenken an die Opfer Stützpunkte von zentraler Bedeutung sind. Die Erinnerungskultur müsse als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen werden.
Das alles sollte zwischen uns unstrittig sein. Umso
bedauerlicher ist es, dass von der Regierung auch bezogen auf den letzten Teil nur Lippenbekenntnisse zu hören sind, während in der Sache wenig geschehen ist. Zumindest erwarte ich, dass Sie uns nicht vorwerfen, wir
würden diesen Konsens verlassen, weil Sie sich nicht
mehr daran erinnern lassen wollen.
({6})
Es wäre vielmehr zu wünschen, wir könnten auch in dieser Debatte und in den Beratungen unseres Antrags an
den Konsens, den ich eben dargestellt habe, anknüpfen.
({7})
Die nationale Bedeutung der NS-Gedenkstätten für
die Erinnerungskultur ist unstrittig. Wenn es um die angemessene und langfristig abgesicherte Finanzierung
geht, ist die aktuelle Lage auch für diese Gedenkstätten
schon nicht mehr ganz so klar. Die Arbeit dieser Einrichtungen ist nicht nur über Projektförderungen zu unterstützen, sondern sie sollte über eine institutionelle Förderung langfristig abgesichert werden.
Das im Bericht der Enquete-Kommission ebenfalls
angesprochene Gedenken an die SED-Diktatur ist dagegen im öffentlichen Bewusstsein ungenügend verankert
und in den Gedenkstätten unzureichend umgesetzt. Das
ist der Grund für unseren Antrag.
Wir verabschieden uns nicht vom Konsens aller Parteien mit Ausnahme der PDS in den Enquete-Kommissionen der 12. und 13. Legislaturperiode. Wir wollen
vielmehr, dass er auch in den SBZ- und DDR-Gedenkstätten umgesetzt wird.
({8})
Ein weiteres Beispiel für die ungenügende Bewusstseinslage zeigt auch die Debatte über die SED-Opferrenten am heutigen Nachmittag.
Der wesentliche Grund, warum wir diesen Antrag für
notwendig erachten und weswegen wir die öffentliche
Diskussion ausdrücklich begrüßen, lässt sich in einem
Satz zusammenfassen:
Hierzulande wird die stalinistische Vergangenheit
der DDR … meist als Regionalgeschichte abgetan,
statt als gesamtdeutsches Erbe angenommen zu
werden.
Das ist ein Zitat aus einer Berliner Tageszeitung, dem
„Tagesspiegel“ vom 6. Juni dieses Jahres, der sich nicht
mit unserem Antrag, sondern mit der Flick-Collection,
der Topographie des Terrors und der Gedenkkultur in
Deutschland ganz allgemein befasste. Mit dem Zusammenbruch der DDR „wuchs der deutschen Erinnerungskultur die Beschäftigung mit dem Stalinismus zu“, heißt
es in dem zuvor erwähnten Artikel von Bernhard Schulz.
Auch die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass dieser Aufgabe bislang nur unzureichend nachgekommen
wird. Die SED-Diktatur kann nicht als Angelegenheit
der neuen Bundesländer, als regionales Ereignis abgetan
werden. Die DDR war Teil Deutschlands. Die Debatte,
die wir heute nur spät am Abend und kurz führen können, wird offensichtlich nicht nur von meiner Fraktion
für dringend notwendig erachtet.
In unserem Antrag fordern wir ein Gesamtkonzept
für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen. Die damit verbundenen inhaltlichen,
administrativen und finanziellen Fragen sind zwischen
Bund und Ländern zu klären. Dass hier Handlungsbedarf
besteht, weiß jeder, der die Szene etwas kennt. Es kann
nicht sein, dass die zuständige Staatsministerin, Frau
Weiss, einfach verkündet, sie wolle die Topographie des
Terrors in Bundeskompetenz übernehmen. Nicht im Geringsten wird bedacht, dass es nicht Aufgabe des Bundes
sein kann, nur in Berlin und nur Einrichtungen, die sich
auf die NS-Zeit beziehen, zu 100 Prozent zu fördern.
Was Rot-Grün und insbesondere die Staatsministerin
machen, ist aus meiner Sicht konzeptlos. Es wirkt wie
Geschichtspolitik im Zugriffsverfahren nach Gutsherrenart,
({9})
mehr oder weniger gesteuert durch ideologische Vorbehalte bzw. Vorlieben, als Unterstützung eines Berliner
Senats, der völlig unfähig ist, auch nur einen einzigen
Bau allein und zu den vorgesehenen Kosten fertig zu
stellen.
({10})
Hinzu kam der fehlende Mut aller Beteiligten, über
die Frage nach der bautechnischen Realisierbarkeit des
Zumthor-Entwurfs acht Jahre früher zu diskutieren;
denn das hätte politisch nicht korrekt erscheinen können.
Das hat uns hier in Berlin schon fast 15 Millionen Euro
gekostet. Davon hätten zehn SBZ-/DDR-Gedenkstätten
zehn Jahre lang besser finanziert werden können, als sie
es heute sind.
({11})
Ich finde, niemand kann uns verbieten, hier darüber zu
streiten.
Frau Staatsministerin, an dieser Stelle eine Frage zu
Ihrer heutigen Presseeinlassung, wir strebten mit unserem Antrag eine „radikale Abkehr“ vom bisherigen
„Prinzip der inhaltlichen Neutralität des Bundes“ an.
Was meinen Sie damit vor allem angesichts der inhaltlichen Debatten, die Sie selbst aus dem Kuratorium des
Denkmals für die ermordeten Juden Europas kennen, in
dem wir ja beide Mitglieder sind? Geschieht die Übernahme der Topographie des Terrors ohne inhaltlichen
Sinn und Verstand? Wenn Sie damit meinen sollten, dass
die Bundesregierung keine Inhalte von Gedenkkultur
vorgibt, dann frage ich Sie allerdings, wo das in unserem
Antrag geschieht. Oder meinen Sie mit Neutralität, dass
der Bund nur für NS-Geschichte zuständig ist, das andere aber Sache der neuen Bundesländer sei? Dann träfe
ja unser Antrag ins Schwarze. Wir jedenfalls halten diese
inhaltliche Debatte für notwendig und interessant. Nehmen Sie vielleicht doch einmal die Unterlagen der Enquete-Kommissionen mit in den Urlaub!
({12})
Wir stellen mit unserem Antrag aber nicht nur Forderungen an andere. Wir selbst legen vielmehr Ziele und
Kriterien vor, nach denen Gedenkstätten von nationaler
und exemplarischer Bedeutung ausgewählt werden
könnten. Natürlich wissen wir, dass eine solche Liste
streitig bleibt. Eine solche Liste zu erweitern ist aber
sehr viel einfacher, als sich für eine stärkere, dauerhafte
Bundesfinanzierung wenigstens einiger weniger Gedenkstätten von besonderer Bedeutung zu entscheiden.
Was können wir in der Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland, in der Aufgabenverteilung zwischen
Bund und Ländern, bei der Mitwirkung von Wissenschaft und Universitäten sowie bei der Einbeziehung von
Opfergruppen und auch bei der finanziellen Verantwortung des Staates besser machen? Diese inhaltliche Diskussion ist doch überfällig, Frau Staatsministerin; denn
es ist durchaus sinnvoll, 15 Jahre nach der friedlichen
Revolution eine Zwischenbilanz zu ziehen und nach
den unterschiedlichen Erfahrungen bei der Umsetzung
der Ergebnisse der Enquete-Kommissionen zur SEDDiktatur zu fragen. Es ist dabei unvermeidbar, über
beide, die NS- und die SED-Diktatur im vergangenen
Jahrhundert, zu sprechen, und zwar nicht nur wegen Ihrer eigenen Konzeption, die es schon gibt und an die Sie
sich nicht halten, sondern auch wegen der gegenseitigen
Bezüge und deshalb, weil es Orte gibt, die an Gewaltverbrechen der beiden Diktaturen erinnern. Noch einmal:
Wer von beiden deutschen Diktaturen spricht, der meint
damit nicht, dass sie gleichgesetzt werden. Die Unterschiede herauszuarbeiten und zu begründen ist Teil des
Konzeptes. Das ist die inhaltliche Debatte, die Sie vielleicht verdrängen wollen. Aber das spricht für sich und
gegen Sie.
Nun ist allerdings die Debatte, die wir hier führen,
nicht ganz so unaufgeregt, wie ich das bisher vorgetragen habe. Deshalb will ich in der verbleibenden Zeit wenigstens auf einige Missverständnisse und Vorwürfe
noch kurz eingehen.
In einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaften
der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland wird der Antrag als ein „erinnerungspolitischer Paradigmenwechsel“ kritisiert.
({13})
Wer den vorliegenden Antrag liest und meine Ausführungen nicht bewusst missverstehen will, weiß, dass davon keine Rede sein kann. Vielmehr müssen sich
diejenigen, die solche Vorwürfe erheben, fragen lassen,
ob sie nicht von der unvollständigen Umsetzung der
Beschlüsse profitieren und deshalb gar kein Interesse am
alten gemeinsamen Paradigma haben.
Die Leiter der KZ-Gedenkstätten haben nicht nur ihre
durch eine pauschale Unterstellung gekennzeichnete
Pressemeldung vom Januar wiederholt. Ihre erweiterte
Kritik wird zwar dadurch besser, dass sie differenzierter
vorgetragen wird, aber sie bleibt auch differenziert
falsch.
({14})
Die Herren Historiker können für ihre Behauptungen
keinen einzigen Textbeleg aus dem Antrag anführen, obwohl doch Quellenstudium und Quellenkritik ihre eigentliche Profession wäre. Sie bekommen deshalb zu
Recht heute in der „FAZ“ unwissenschaftlichen und polemischen Stil attestiert.
({15})
Sie stellen Behauptungen auf, die niemand, weder im
Antrag noch anderswo, erhoben hat. Wer als Historiker
seine Reputation so aufs Spiel setzt, provoziert vielmehr
Fragen, die ganz anders lauten: Geht es den Herren und
Damen überhaupt um eine sachliche Debatte
({16})
oder besteht ihr Interesse nicht vielmehr darin, eine öffentliche Debatte zu verhindern? Und was wäre dafür
besser geeignet als die Unterstellung, hier würden NSVerbrechen verharmlost oder der Holocaust relativiert?
Das muss ich mit Abscheu zurückweisen.
({17})
In der Begründung des Antrages wird auch auf zurzeit
laufende Debatten zur Erinnerungskultur verwiesen.
Wir wollen uns nicht dem Vorwurf aussetzen, wir täten
so, als wüssten wir nichts davon. Das kann man im Antrag nachlesen. Es handelt sich dabei um die Opfer von
Krieg und Vertreibung, um zivile Opfer der alliierten
Luftangriffe und um die Diskussion um ein Freiheitsund Einheitsdenkmal auf der Berliner Schlossfreiheit.
({18})
Daraus abzuleiten, wir würden Opfergruppen unzulässig
vermischen, weil wir in der Begründung erwähnen, dass
es sich bei diesen Themen nicht um Opfer der beiden
Diktaturen handelt, ist absurd.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Einen Augenblick noch. - Machen wir uns nichts vor.
Wir befinden uns mitten in einer geschichtspolitischen
Debatte. Ich finde das gut und wir sollten diese Debatte
führen. Es ist noch vieles anzumerken, zum Beispiel
auch, ob es nicht doch um die Frage der Finanzierung
geht. Wenn Gedenkstättenleiter für ihre Einrichtung
kämpfen, habe ich als Politiker volles Verständnis dafür.
Herr Kollege, bitte.
Ein letzter Satz: Es wäre nur gut, man würde sich
dazu dann auch bekennen. Ich bedauere es, wenn die
Professoren sich zu schade sind, hier als Lobbyisten aufzutreten. Aber ich wünschte mir, sie würden dann wenigstens dem Ersteren - ihrer Aufgabe als Professoren gerecht.
Wir sollten die Debatte sachlich führen und uns Mühe
geben, diesen Tag würdevoll zu begehen, und uns hier
vielleicht auch an das erinnern, was wir heute früh auf
dem Weddinger Friedhof getan haben.
Herr Kollege Nooke, bitte. Sie strapazieren meine
Geduld etwas.
Als Letztes wünsche ich mir, dass wir auch diese Debatte jenseits aller Polemisierung und Polarisierung führen können. Ich habe mich über viele Stellungnahmen
aus Ihren Reihen geärgert. Ich habe sie nicht zitiert. Es
wäre gut, Sie würden sie nicht wiederholen.
Danke.
({0})
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung die Staatsministerin Christina Weiss.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Nooke, wenn man Ihnen zuhört, gewinnt man
den Eindruck, dass der Antrag vielleicht gar nicht so notwendig ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Lassen Sie
mich zuerst ein Missverständnis aufklären oder es zumindest nicht so im Raum stehen.
Die Topographie des Terrors ist eine Einrichtung des
Landes Berlin und der Bund beteiligt sich gemäß dem
Gedenkstättenkonzept mit 50 Prozent an der Finanzierung. Nach Einsicht in das Scheitern des Berliner Bauvorhabens haben wir die Bauherrenschaft verändert, um
einen Neubeginn zu ermöglichen.
({0})
Ich glaube, es ist Konsens in diesem Hause - davon
gehe ich aus und dabei bleibe ich auch nach Ihrer Rede,
Herr Nooke -, dass die Gedenkstättenförderung eine
Kernaufgabe der Kulturpolitik ist. Die Konzeption der
Gedenkstättenförderung ist aber zugleich auch eine sehr
erfolgreiche Arbeit.
Auch wenn Sie in Ihrem Antrag davon nichts wissen
wollen, legt diese Konzeption der Bundesregierung die
Rahmenbedingungen sehr präzise fest. Jährlich erreichen die zuständigen Stellen in den Bundesländern Hinweise, in welcher Zeitspanne welche Förderanträge vorgelegt werden sollten und welchen formalen und
welchen inhaltlichen Kriterien sie genügen müssen.
Wirklich niemand kann unbekümmert behaupten, er
wisse nicht, welche Fördermöglichkeiten bestünden. Genauso wenig sollte unterstellt werden, der Bund vergebe
seine Mittel auch noch nach Gutdünken.
Die Geschichte des vorliegenden Antrags verrät
schon sein Ziel. Wir alle wissen, dass dieser Antrag nicht
neu ist. Wir alle wissen, dass es eine Fassung gab, die
zurückgezogen wurde. Der zweifelhafte Text war in den
Sog der heftigen Debatte um die gesetzliche Grundlage
der Stiftung Sächsische Gedenkstätten geraten und hatte
einen Streit darüber entfacht, wie mit dem Gedenken an
die beiden deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert zu
verfahren sei.
Während man in Sachsen noch über die Konsequenzen aus dieser Diskussion nachsinnt, glauben die Verfasser des erneut vorgelegten Antrags, durch die Streichung
der inkriminierten Bezüge auf die Stiftung Sächsische
Gedenkstätten die alten Vorwürfe restlos tilgen zu können. Nach wie vor aber sind diese Hinweise von nicht zu
verdrängender Deutlichkeit: Die Verfasser wollen einen
Paradigmenwechsel in der Geschichtsbetrachtung und
konsequenterweise auch in der Geschichtspolitik.
({1})
Zum einen bedeutet dies eine - sei es auch nur eine zu
beargwöhnende - Gleichsetzung der Opfer des Nationalsozialismus, der Opfer des SED-Regimes und der deutschen Zivilopfer, die Bombenkrieg und Vertreibung zu
erleiden hatten.
({2})
- Ich beantworte Ihre zweite Frage nachher noch sehr
präzise. - Zum anderen soll die Bundesregierung bestimmen, was gefördert wird.
Ende der 80er-Jahre entspann sich der Historikerstreit
über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen. Gleichzeitig sah sich unser Land mit einer heftigen Auseinandersetzung um die Gründungen des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und
des Deutschen Historischen Museums konfrontiert. Vor
diesem Hintergrund kamen wir damals parteiübergreifend zu dem sehr sinnvollen Schluss: Es darf und es wird
kein regierungsamtliches Geschichtsbild geben.
Wenn ich diesen Antrag genau lese, dann reibe ich
mir die Augen etwas verwundert. Da steht:
Bei der inhaltlichen Arbeit wirken Bund und das jeweilige Land gleichberechtigt zusammen,
- aber die Wissenschaft wird dabei angemessen beteiligt.
Lesen Sie es genau! Was die Politik als historisch richtig
und wichtig einstuft, darf von der Wissenschaft bestätigt werden.
({3})
Wenn dann im weiteren Text großzügig die „Pluralität
der Konzeptionen“ sowie „dezentrale Lern- und Zugangsmöglichkeiten“ und „die Zusammenarbeit der Gedenkstätten mit Schulen und anderen Trägern politischer
Bildungsarbeit“ zugestanden wird, so wird diese Garantie, wie es dort heißt, „trotz der zentralen finanziellen
Verantwortung“ gewährt. „Zentrale finanzielle Verantwortung“ heißt nicht mehr, dass man miteinander klare
Absprachen trifft. „Zentrale finanzielle Verantwortung“
heißt: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Das darf nicht
sein; auf diesem Niveau können wir nicht arbeiten.
Die Gedenkstättenarbeit in Deutschland ist international geachtet und sie ist hervorragend beleumundet. Ich
will die drei Grundlagen in Erinnerung bringen, die
diese stabile Erinnerungskultur ermöglicht haben:
Erstens. Gedenkstättenarbeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Zweitens. Die heute bestehenden Einrichtungen sind
aus bürgerschaftlichem Engagement entstanden. Die gesamtgesellschaftliche Einbindung der Gedenkstättenarbeit muss auch in Zukunft gewährleistet bleiben.
({4})
Drittens. Gemäß der Kompetenzverteilung des
Grundgesetzes liegt die Zuständigkeit für den Erhalt und
die Pflege der Gedenkstätten zunächst bei den Ländern.
In Fällen herausragender nationaler und internationaler Bedeutung kann der Bund dennoch fördernd tätig
werden. Dies setzt wissenschaftlich fundierte Anträge
voraus, die von den jeweiligen Sitzländern der Einrichtungen mit der Zusage der hälftigen Finanzierung an den
Bund weitergeleitet werden. Bei der Vergabe seiner Mittel wird der Bund - das ist ganz wichtig - von einem unabhängigen Expertengremium beraten. Auf diesem Fundament basiert die Gedenkstättenförderung seit 1999.
({5})
Sie widmet sich den Gedenkstätten zur Erinnerung an
die Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes
ebenso wie den Orten, an denen der Opfer der SED-Diktatur gedacht wird. Ich bedauere es, dass die Gedenkstätten zur Erinnerung an das SED-Unrecht relativ wenige
Anträge einreichen.
Ich will noch einmal sagen: Auch die zu beargwöhnende Gleichsetzung verschiedener Opfergruppen ist
eine Relativierung
({6})
und alles, was nach Relativierung aussieht, nach Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen an den
europäischen Juden, kann dem Ansehen Deutschlands
im Ausland nur schaden.
({7})
Man kann über alle Veränderungen reden. Man kann
über die Aufnahme neuer Anträge reden. Man kann über
mehr Finanzierung reden. Aber bevor man verändert,
muss man sich der Folgen der Veränderung bewusst
sein. Für die Gedenkstättenförderung des Bundes, für
unser Konzept, vermag ich im Augenblick keinen Veränderungsbedarf zu erkennen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist
eine Debatte, die mich mit Betroffenheit erfüllt. Ich befürchte, dass die gesamte Auseinandersetzung über diesen Antrag die Gefahr birgt, Schaden für dieses Haus
und sogar für unser Land nach sich zu ziehen.
({0})
Ich unterstelle Ihnen, Herr Kollege Nooke, ganz bestimmt nicht, dass Sie hier in irgendeiner Weise NS- und
SED-Diktatur gleichstellen wollen. Dafür steht auch Ihre
Vergangenheit. Sie sind in diesem Punkt, wie ich finde,
absolut integer. Aber die Tatsache, dass Sie in Ihrem Antrag ein integrales Konzept - wörtlich: integrales Konzept - für diese beiden Sachverhalte fordern, die doch
historisch und auch in ihren Auswirkungen so unterschiedlich sind, provoziert leider Missverständnisse. Die
Tatsache, dass wir eine internationale Debatte zu diesem
Antrag haben und auch in Deutschland eine sehr unappetitliche, sehr schwer wiegende Debatte haben, sollte uns
zu äußerster Sensibilität veranlassen.
Ich habe großes Verständnis, Herr Kollege Nooke,
wenn Sie sagen - ich unterstütze es sogar -: Wir müssen
für die Erhaltung von Gedenkstätten zur SED-Vergangenheit mehr tun, gezielter etwas tun. Frau Staatsministerin Weiss, Sie haben gesagt, dass Ihnen dazu relativ
wenig Anträge vorliegen. Ich kann Sie nur auf Folgendes hinweisen: Eines der wichtigsten Objekte, bei denen
wir dringend etwas tun müssen, ist das Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen. Da müssen wir wirklich etwas tun.
({1})
Ich bin dezidiert der Meinung, dass es auch noch andere Gedenkstätten zur SED-Vergangenheit gibt, für die
wir etwas tun müssen, für die wir mehr tun müssen als
bisher. Deswegen ist mein Vorschlag: Lassen Sie uns
- aber bitte im Konsens - das Gedenkstättenkonzept aus
dem Jahr 1999 weiterentwickeln!
({2})
Es ist ein Problem, dass in den neuen Bundesländern und
auch im Land Berlin die Mittel für die Kofinanzierung
nicht vorhanden sind. Das bewirkt im Ergebnis, dass einige der Gedenkstätten zur SED-Vergangenheit nicht
ausreichend gefördert werden können.
Wir Liberalen sind bereit, Frau Staatsministerin, mit
Ihnen - Sie haben die Überlegung auch schon angesprochen - das Gedenkstättenkonzept für diese Fälle zu modifizieren. Aber das erfordert es nicht, lieber Herr Kollege Nooke, innerhalb des Gedenkstättenkonzepts eine
spezifische Regelung für die Gedenkstätten zu den beiden Diktaturen vorzusehen, und deswegen würde ich Sie
bitten, Ihren Antrag zurückzuziehen.
({3})
Da werden Dinge zusammengebracht, die nicht zusammengehören. Ich will, dass sämtliche Gedenkstätten,
seien es solche zu einer Diktatur oder auch zu anderen
Anlässen, integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts
sind.
({4})
Ihr Antrag, so wie Sie ihn formuliert haben - Sie haben es heute auch noch einmal betont -, führt zu dem
Verdacht der Relativierung und zu Missverständnissen.
Ich will Ihnen da keine Absicht unterstellen, aber Sie
würden diesem Haus und, so glaube ich, auch der CDU/
CSU-Fraktion wirklich einen großen Gefallen tun, wenn
Sie diesen Antrag nicht weiterverfolgen, sondern sich
auf den Weg begeben, den ich Ihnen eben vorgeschlagen
habe. Lassen Sie uns gemeinsam mehr für die Gedenkstätten zur SED-Vergangenheit tun, lassen Sie uns das
Gedenkstättenkonzept des Bundes weiterentwickeln und
- das ist meine herzliche Bitte an Sie - lassen Sie uns
von dieser schwierigen Diskussion, die inzwischen die
Grenzen dieses Landes überschritten hat, Abstand nehmen!
({5})
Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
allererst, Herr Nooke: Sie haben den späten Zeitpunkt,
zu dem diese Debatte geführt wird, bedauert. Es war Ihre
Claudia Roth ({0})
Fraktion, die dafür eingetreten ist, dass diese Debatte um
diese Uhrzeit stattfindet;
({1})
fragen Sie sich also bitte einmal selber, warum Ihre
Fraktion nicht dafür gesorgt hat, dass wir heute Morgen
um 11 Uhr über dieses Thema debattiert haben. Wir hätten das sehr gerne getan.
({2})
Vielleicht haben Ihre Fraktion oder Ihre Fraktionsspitze auch ein Stück weit eine breitere öffentliche
Wahrnehmung dieser Auseinandersetzung gescheut;
denn - darauf bestehe ich, Herr Nooke - der vorliegende
Antrag kündigt natürlich den Konsens der EnqueteKommission zur Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit und das Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung von 1999 auf.
({3})
In Ihrem Antrag, Herr Nooke, setzen Sie in der Tat auf
eine pauschalierende Gleichsetzung von DDR-Unrecht
und Nationalsozialismus. Der Antrag spricht von doppelter Vergangenheit.
({4})
Wer von doppelter Vergangenheit redet, der setzt damit
die Identität von scheinbar Gleichem voraus, Herr
Nooke. Durch Unterlassen, durch Pauschalieren und
durch Vereinfachen
({5})
signalisiert die Union eine Gleichrangigkeit zweier Systeme, wo keine Gleichrangigkeit ist und wo sie auch
nicht herbeigeredet werden darf.
Frau Kollegin Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bosbach?
Nein. - Diese Gleichsetzung ist angesichts der Einzigartigkeit des Holocaust inakzeptabel. Wenn Sie nicht
wollen, dass man Ihren Antrag so interpretiert, dann ziehen Sie diesen Antrag bitte zurück; denn genau so ist er
zu interpretieren.
({0})
Wer nicht unterscheidet, wer nicht differenziert, wer
Geschichte als Gleichmacherei betreibt, der macht sich
schuldig an der Relativierung des Nationalsozialismus
und somit schuldig an der Bagatellisierung des größten
Verbrechens der Menschheitsgeschichte. Wer nicht mehr
differenziert, der ignoriert auch unsere historische Verantwortung. Herr Nooke, wenn so viele, wenn praktisch
alle Opferorganisationen Ihren Antrag genau so interpretieren, dann kann an Ihrem Antrag nicht nur etwas falsch
zu interpretieren sein, sondern dann geht es auch um
eine Zielrichtung, die an den alten Historikerstreit anknüpft. Darauf will ich gleich eingehen.
({1})
Sie, Herr Nooke, oder Teile der Union behaupten, die
Erinnerung an das DDR-Unrecht werde vernachlässigt, weil das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus überproportional gefördert werde.
({2})
Dem ist massiv zu widersprechen. Mit der Birthler-Behörde, mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und mit über 350 Erinnerungsorten wird engagiert
auf die Aufarbeitung der Folgen der SED-Diktatur gesetzt und wird auch das notwendige Erinnern an ihre Opfer geleistet. Wenn mehr getan werden kann, Herr Otto,
dann sollte selbstverständlich mehr getan werden.
Unter dem Oberbegriff des Opfergedenkens, Herr
Nooke, üben Sie den Schulterschluss mit dem Ewiggestrigen.
({3})
Ich bin mir ziemlich sicher, dass dahinter auch eine Art
von Geschichtsrevisionismus steht, der von der übergroßen Mehrheit der Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen abgelehnt wird. Tun Sie doch nicht so, als hätten wir
diese Auseinandersetzung nicht, als hätten wir den Historikerstreit nicht,
({4})
als hätten wir nicht die Auseinandersetzungen über
Äußerungen von Nolte, die durchaus als Geschichtsrevisionismus zu bezeichnen sind. Das war ein leicht durchschaubarer Versuch der Umwertung und eines schleichenden Paradigmenwechsels. Davon dürfen wir uns
nicht täuschen lassen.
({5})
Ich glaube, dass es ziemlich klar ist, wohin diese
ideologische Reise gehen soll. Das zeigt auch der Begründungsteil Ihres Antrags. In Ihrem Antrag werden
unterschiedslos die Opfer von Krieg und Vertreibung
und die Opfer in der Zivilbevölkerung mit eingereiht und
dann mündet der Antrag in die Forderung nach einem
Mahnmal für die Bombenopfer des alliierten Luftkriegs
Claudia Roth ({6})
und in die Forderung nach einem Zentrum gegen Vertreibungen.
Frau Staatsministerin Weiss hat schon die Geschichte
dieses Antrags dargestellt. Sie hat davon berichtet, wie
sich die gesamten Repräsentanten der NS-Opfer aus dem
Stiftungsrat der Sächsischen Gedenkstätten zurückgezogen haben, Herr Nooke. Was haben Sie jetzt getan? Sie
haben kosmetisch verändert, indem Sie den Verweis auf
Sachsen wegretuschiert haben; aber an der Stoßrichtung
Ihres Antrags hat sich nichts geändert.
Ich finde, das ist sehr durchschaubar. Sie müssen sich
doch fragen, warum aus der ganzen Welt Briefe ankommen.
({7})
Aus der ganzen Welt, Herr Nooke, zum Beispiel aus Yad
Vashem, aus Theresienstadt, von Opfergruppen aus Norwegen, aus Paris, aus New York. In all diesen Briefen
kommt die tiefe und, wie ich finde, berechtigte Sorge
zum Ausdruck,
({8})
dass es um die Neubewertung der deutschen Geschichte
und damit auch um ein Stück Entsorgung der deutschen
Geschichte gehen soll.
({9})
Damit zerschlagen Sie national und international Porzellan. Sie zerstören Vertrauen, das über sehr lange Zeit gewachsen ist. Sie reißen Wunden bei Überlebenden des
Holocaust auf. Dem müssen wir uns entgegenstellen.
Deswegen: Ziehen Sie diesen Antrag zurück, Herr
Nooke!
({10})
Frau Kollegin Roth, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich möchte mit einem Zitat des Direktors von Yad
Vashem enden. Avner Shalev hat am 14. Juni geschrieben:
Das vorgelegte Gesetz ist ein Affront gegen die historische Wahrheit.
({0})
An die Verbrechen des totalitären kommunistischen
Regimes muss erinnert werden.
({1})
Diese Erinnerung darf jedoch nicht zu einer Vereinfachung und einer falschen Darstellung der Vergangenheit führen, die an Geschichtsrevisionismus
grenzt. Erinnerung muss wurzeln in einer korrekten
Beschreibung der Vergangenheit.
Damit habe ich den Direktor von Yad Vashem zitiert.
Dem ist, Herr Nooke, nichts hinzuzufügen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Wolfgang Bosbach das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der mir vorliegenden Fassung des Antrages des
Kollegen Nooke und anderer vom 4. Mai 2004 heißt es
unter anderem wörtlich:
Das Nationalsozialistische Regime hat mit dem
millionenfachen Mord an den europäischen Juden
ein singuläres Verbrechen begangen, das immer ein
spezielles Gedenken erfordern wird.
Vorgeworfen wird dem Kollegen Nooke und allen anderen Antragstellerinnen und Antragstellern unter anderem
die pauschalierte Gleichsetzung. Das, was in dem Antrag
steht, ist exakt das Gegenteil von dem, was den Antragstellern vorgeworfen wird.
({0})
Kein einziger der Vorwürfe, die von den letzten Rednern
erhoben worden sind, ist auch nur mit einer Silbe des
Antrages begründet worden. Die Kritiker haben keine
einzige Textstelle erwähnt, um damit ihre Vorwürfe zu
begründen. Es handelt sich nur um Behauptungen. Eine
fundierte Begründung war in der Kritik nicht enthalten.
({1})
Ich erteile jetzt der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die „Berliner Zeitung“ schrieb am 2. Juni - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -: „CDU will DDR
und NS-Zeit gleichsetzen.“ Diese Überschrift trifft den
Kern Ihres Antrages, meine Damen und Herren, und er
ruft deshalb zu Recht national und international Empörung hervor.
({0})
Frau Roth hat eben schon Briefe zitiert. Ich möchte ein
weiteres Zitat hinzufügen. Dr. Jan Munk, Direktor der
Gedenkstätten Theresienstadt und Vorsitzender der Föderation der Jüdischen Gemeinde in der Tschechischen
Republik, schrieb mir, dass die Umsetzung dieses Antrages „auch in den Nachbarländern und anderswo in der
Welt … Besorgnis hervorrufen könnte.“
({1})
Ähnliche Briefe bekamen wir alle aus den USA, Österreich und Norwegen. Ich finde es schon unverfroren,
meine Damen und Herren von der CDU, dass Sie hier einen Antrag auf die Tagesordnung setzen, der schon einmal aufgrund von massiven Protesten zurückgezogen
werden musste. Nun wird er von Ihnen wieder fast unverändert in den Bundestag eingebracht.
({2})
Das zeigt, wie Sie von der CDU mit öffentlicher Kritik
umgehen: Sie wird einfach ignoriert.
Herr Nooke und Kollegen, um es ganz deutlich zu sagen: Es geht Ihnen nicht um die Opfer in der DDR, sondern es geht darum, mit der DDR-Geschichte die NSGeschichte reinzuwaschen. Es geht um selbsternannte
Opfer wie Hitlers Marinerichter Filbinger, den Sie als
CDU für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert hatten.
({3})
Filbinger, der im Dienste eines verbrecherischen Systems noch kurz vor Kriegsende Todesurteile unterschrieb und an Exekutionen beteiligt war, wurde von der
CDU als würdig empfunden, zum siebenten Mal einen
Bundespräsidenten zu wählen.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der CDU/
CSU, ist unglaubwürdig und reiner Ablasshandel. Sie
sind bereit, Gedenkstätten zu bauen. Doch Sie sind nicht
wirklich bereit, Ihr Denken zu ändern. Es ist doch hochgradig unglaubwürdig, wenn Sie einerseits ein Gedenkstättenkonzept von der Bundesregierung fordern - Frau
Staatsministerin hat entsprechend darauf reagiert - und
andererseits Hitlers Marinerichter Filbinger ehren, indem Sie ihn für die Bundesversammlung nominieren.
Ich habe mich in Baden-Württemberg erkundigt. Es
wurde bisher noch kein Widerstandskämpfer gegen den
Faschismus durch die dortige CDU für die Wahl eines
Bundespräsidenten nominiert,
({4})
dafür aber sieben Mal Hitlers Marinerichter Filbinger,
der auch noch Ehrenvorsitzender der CDU in BadenWürttemberg ist.
({5})
Ich frage Frau Merkel - sie ist leider nicht anwesend,
aber sie trägt die Verantwortung - : Was will die CDU
jungen Menschen - ich will es wiederholen; es scheint
Sie aufzuregen - mit der siebenfachen Nominierung von
Herrn Filbinger eigentlich sagen? Wollen Sie damit sagen - Zitat Filbinger - : „Was früher Recht war, kann
heute nicht Unrecht sein“? Wollen Sie damit sagen, dass
Nibelungentreue zu einem verbrecherischen System belohnt werden muss?
({6})
Der Antrag der CDU/CSU ist an Boshaftigkeit und
Tücke nicht zu überbieten.
({7})
Er schadet dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. Ich fordere Sie auf - damit schließe ich mich meinen Vorrednern außer denen der CDU/CSU an - , diesen
Antrag zurückzuziehen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem die CDU/CSU ihren sehr umstrittenen Gedenkstättenantrag zurückgezogen hatte
({0})
- ich meine den Antrag vom November - , habe ich
ernsthaft gehofft, dass wir uns mit diesem Papier nicht
mehr auseinander setzen müssen. Aber es kam anders.
Gerade in der heutigen Debatte ist mir bewusst geworden, dass das, was die Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten festgestellt hat, sehr wohl begründet ist,
({1})
nämlich dass Sie ohne Grund den in einem langen Diskussionsprozess gefundenen Konsens einseitig aufkündigen.
({2})
Es ist mir absolut rätselhaft, was Sie getrieben hat, an
diesem Entwurf weiterhin festzuhalten. Offenbar geht es
einigen Ihrer Fraktionskollegen, die ihre Unterstützung
zurückgezogen haben, nicht anders. Diesen Punkt sollte
man beachten.
Dass wir in Bezug auf die Gedenkstätten noch einiges
zu tun haben, ist offensichtlich. Das leugne ich auch gar
nicht. Aber wir können dies weiterhin sehr gut tun auf
der Grundlage des Gedenkstättenkonzepts der Bundesregierung, das die Ergebnisse der Enquete-Kommission
widerspiegelt.
Wir wollen - es ist mir wichtig, dies zu erwähnen - ,
dass die historische Forschung und der geschichtswissenschaftliche Diskurs die Grundlage für die Entwicklung der demokratischen Erinnerungskultur sind und
bleiben, und nicht die Politik. Denn das hatten wir schon
in der DDR. An diesem Tag sollte man sich daran erinnern, Herr Nooke.
Ich frage mich also: Was verfolgen Sie mit diesem
Antrag? Bei meinen Überlegungen muss ich zunächst
feststellen, dass Sie sich trotz einiger Ausbesserungen
weiterhin an dem sächsischen Konzept orientieren. Das
ist unübersehbar. Ich frage daher: Warum sollten wir uns
auf Bundesebene ausgerechnet an dem Land orientieren,
das das schwammigste und problematischste Gesetz in
der Gedenkstättenfrage zu bieten hat?
({3})
Die ausdrückliche Unterscheidung zwischen NS-Terrorregime und SED-Diktatur, wie sie die EnqueteKommission des Bundestages gefordert hat, wird dort
nicht mehr vorgenommen. Zusammenhänge zwischen
den beiden Diktaturen werden nicht da hergestellt, wo
sie historisch richtig sind, sondern nur da, wo sie für ein
bestimmtes Geschichtsbild opportun erscheinen. Das Risiko, Opferverbände dabei zu düpieren, nehmen Sie sehr
wohl in Kauf.
Die Reaktionen im In- und Ausland sind verheerend.
Von allen Seiten wird der mit Ihrem Antrag verbundene
erinnerungspolitische Paradigmenwechsel abgelehnt. Im
Verhältnis zu Israel ist die Wirkung besonders fatal. Der
Leiter der Diaspora-Abteilung des israelischen Außenministeriums, Nimrod Barkan, hat bereits deutlich gemacht, dass „eine Verabschiedung dieses Gesetzes einer
radikalen Veränderung der Beziehungen gleichkommen“
würde, „die sich bis heute zwischen dem jüdischen Volk
und Deutschland entwickelt haben“. Ähnlich heftige
Botschaften erreichen uns von den Vereinigten Staaten.
Nahezu alle Gedenkstätten haben sich dazu geäußert.
Avner Shalev von Yad Vashem bezeichnet den Antrag in
einem Brief an Frau Merkel als „Affront gegen die historische Wahrheit“. Für mich ist unbegreiflich, dass Sie
das nicht zum Nachdenken zwingt.
({4})
Ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Union,
eigentlich auch nur im Ansatz klar, wie viel gewachsene
Glaubwürdigkeit in die demokratische Erinnerungskultur in unserem Land Sie damit kaputtmachen?
({5})
Hinzu kommt die Tatsache, dass die deutsche Leiderfahrung im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg bei
der CDU derart prominent in Denkmale gefasst werden
soll, dass eine Verwischung der Verantwortung sowie
eine falsche Darstellung von Ursache und Wirkung
wahrscheinlich sind.
Ich glaube, dass Sie einer gefährlichen Tendenz im
aktuellen Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten
Weltkrieg aufgesessen sind, einer Tendenz, die vermeintliche Zusammenhänge zwischen Verbrechen des
NS-Regimes und dem Unrecht der DDR herstellt und
eine Gleichsetzung beider Systeme und ihrer Opfer intendiert. Das ist - lassen Sie sich das sagen! - historisch
falsch.
({6})
Ich empfehle Ihnen deshalb ganz dringend: Nehmen Sie
die breite Kritik an und ziehen Sie das von Ihnen vorgelegte Konzept zurück! Das wäre anständig.
({7})
Wenn Sie nicht ein so dickes Fell hätten, hätten Sie eigentlich schon längst gemerkt, dass Sie sich mit Ihrem
rückwärts gewandten Antrag in einer Sackgasse befinden. Sie nehmen wichtige Verbände der Opfer, aber auch
die Gedenkstätten nicht mit.
({8})
Das aber können und wollen wir uns nicht leisten. Wir
wollen das national nicht, und wir wollen es international nicht.
({9})
Lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Vielleicht
hören Sie mir auch einmal zu.
({10})
Ich möchte gern den Vorschlag von Herrn Otto aufgreifen. Denn es ist ganz offensichtlich, dass es, besonders
was die Gedenkstätten zur Erinnerung an die SED-Diktatur betrifft, noch offene Fragen gibt. Wir sollten den
Stand der Gedenkstättenarbeit jetzt - wir haben das
Konzept vor genau fünf Jahren verabschiedet - einmal
überprüfen.
({11})
Es gibt Punkte, an denen es hakt; wir kennen sie alle.
Hier müssen wir zu Lösungen kommen. Daran ist mir
sehr gelegen.
({12})
Deshalb brauchen wir aber kein neues Konzept. Ich appelliere also an Sie, an alle, die den Antrag unterschrieben haben: Kommen Sie zu dem Konsens im Umgang
mit der deutschen Vergangenheit zurück! Wir haben mit
dem Gedenkstättenkonzept dafür eine wirklich gute
Grundlage.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3048 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Die Reden zu den weiteren Tagesordnungspunkten
sollen zu Protokoll genommen werden. Ich bitte Sie aber
noch kurz um Geduld, damit wir alles für das Protokoll
ordentlich abwickeln.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Faße, Gerold Reichenbach, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Rainder Steenblock, Franziska
Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({0}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit vor der deutschen Küste verbessern
- Küstenwache optimieren
- Drucksache 15/3322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen Annette
Faße und Angelika Mertens, SPD, sowie der Kollegen
Dr. Ole Schröder, Wolfgang Börnsen, CDU/CSU,
Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, und Hans-
Michael Goldmann, FDP.1)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/3322 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsaus-
1) Anlage 4
schuss, den Finanzausschuss, den Haushaltsausschuss,
den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft, an den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union zu über-
weisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({2})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP
Wirtschaftliche und organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft
verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer
({3}), Eduard Oswald, Norbert
Königshofen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Wirtschaftliche und organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft
verbessern
- Drucksachen 15/2393, 15/1322, 15/2634 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Günter Bruckmann
Albert Schmidt ({4})
Norbert Königshofen
Horst Friedrich ({5})
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Erträge der Deutschen Flugsicherung ({6})
durch das QTE-Lease ({7}) vollständig bei der DFS als
Eigenkapital belassen
- Drucksache 15/2827 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Hans-Günter Bruckmann und der Parlamentarischen
Staatssekretärin Iris Gleicke, SPD, Norbert Königshofen
und Eduard Oswald, CDU/CSU, Albert Schmidt, Bünd-
nis 90/Die Grünen, und Horst Friedrich, FDP.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/2634. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trages der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf
Drucksache 15/2393 mit dem Titel „Wirtschaftliche und
2) Anlage 5
organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsiche-
rung dauerhaft verbessern“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1322 mit
dem Titel „Wirtschaftliche und organisatorische Struktu-
ren der Deutschen Flugsicherung dauerhaft verbessern“
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig ange-
nommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2827 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brunhilde
Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Undine Kurth ({10}),
Rainder Steenblock, Volker Beck ({11}), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Potenziale des Deutschlandtou-
rismus in der erweiterten Europäischen Union
konsequent nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke,
Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den Tourismus stärken - Chancen der EU-
Erweiterung nutzen
- Drucksachen 15/2980, 15/3192, 15/3347 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Brunhilde Irber
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Unterstützung grenzübergreifender kommu-
naler Zusammenarbeit im Rahmen der EU-
Osterweiterung
- Drucksachen 15/1327, 15/3259 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Burgbacher
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden, nämlich die von Brunhilde Irber, SPD, Jürgen
Klimke und Ernst Hinsken, CDU/CSU, Undine Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen, Ernst Burgbacher, FDP.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Tourismus auf Drucksache 15/3347. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung die Annahme des Antrages der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 15/2980 mit dem Titel „Chancen und Poten-
ziale des Deutschlandtourismus in der erweiterten Euro-
päischen Union konsequent nutzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/3192 mit dem Titel „Den Tourismus
stärken - Chancen der EU-Erweiterung nutzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 15/3259 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Unterstützung grenzübergreifender kommunaler Zusam-
menarbeit im Rahmen der EU-Osterweiterung“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1327 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse ihrer Bemühungen um die Weiterentwicklung der politischen und ökonomischen
Gesamtstrategie für die Balkanstaaten und
ganz Südosteuropa für das Jahr 2003
- Drucksache 15/2464 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr ({15}),
1) Anlage 6
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfs-
maßnahmen für Südosteuropa
- Drucksachen 15/2424, 15/3333 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
Marianne Tritz
Dr. Rainer Stinner
Die Reden der Kollegen Detlef Dzembritzki, SPD-
Fraktion, Michael Stübgen und Karl-Theodor Freiherr
von und zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion, der Staats-
ministerin Kerstin Müller und Dr. Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion werden zu Protokoll genommen.1)
Tagesordnungspunkt 12 a: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2464 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 12 b: Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/3333 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Grund-
sätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfsmaßnahmen für
Südosteuropa“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 15/2424 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU
bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 21 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({16}), Karin Kortmann, Lothar
Binding ({17}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Thilo Hoppe, Volker Beck ({18}), Katrin Göring-
Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Entwicklungspartnerschaften mit der Wirt-
schaft weiterentwickeln - gemeinsam Armut
bekämpfen
- Drucksache 15/3327 -
1) Anlage 7
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß ({20}), Dr. Christian Ruck,
Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Menschen mit Behinderung in Entwicklungszusammenarbeit einbeziehen
- Drucksache 15/2968 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({21})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Reden der Kollegen Dagmar Schmidt ({22}), SPD-Fraktion, Peter Weiß ({23}),
CDU/CSU-Fraktion, Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grü-
nen, und Markus Löning, FDP-Fraktion, werden zu Pro-
tokoll genommen.2)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/3327 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Ausschuss
für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit zu überweisen. Die Drucksache auf
Vorlage 15/2968 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Juni 2004,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.