Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/28/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b sowie den Zusatzpunkt 11: 21. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({0}), Gernot Erler, Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Ludger Volmer, Claudia Roth ({1}), Marianne Tritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Der Nahe und Mittlere Osten als Nachbar und Partner der EU - Drucksache 15/3206 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für eine Partnerschaft für Frieden und Stabilität im größeren Mittleren Osten und in Nordafrika - Drucksache 15/3050 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für einen Helsinki-Prozess für den Nahen und Mittleren Osten - Drucksache 15/3207 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist ein Anfang. Wir machen den ernsthaften Versuch, eine eigene parlamentarische Dimension für eine internationale Diskussion über Chancen eines nachhaltigen Stabilisierungskonzeptes für die Großregion des Nahen und Mittleren Ostens zu schaffen. Das ist gleichzeitig ein Versuch, eine umfassende politische Antwort auf die Herausforderungen des globalen Netzwerkterrorismus zu finden. Der Termin ist gut gewählt, um Vorschläge zu machen und Erwartungen zu formulieren, denn wir stehen vor einer Reihe von Gipfelereignissen, man könnte sogar sagen: vor einem regelrechten Gipfelstakkato. Es fängt an mit den Feierlichkeiten zum D-Day in der Normandie, geht über das G-8-Treffen in Sea Island und den EUUSA-Gipfel in Irland hin zum NATO-Gipfel in Istanbul. Die Erwartungen sind groß, dass diese Treffen Fortschritte bringen in Bezug auf das Thema Greater Middle East. Auch wir sind entschlossen, eigene Anstöße dazu einzubringen. Das drückt sich in den drei Anträgen aus, die die verschiedenen Fraktionen hier vorgelegt haben. Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, aber auch unterschiedliche Akzent- und Prioritätensetzungen. Jede Beschäftigung mit diesem Thema muss sich heute der Situation im Irak stellen. Die amerikanische Politik dort ist gescheitert. Es ist ihr nicht gelungen, dem Land Sicherheit zu bringen und einen politischen Neuanfang sowie Übergang zur Stabilität zu organisieren. Aber Redetext das ist nicht alles. Hinzu kommen drei Besorgnis erregende Punkte: Erstens. Der Irak ist heute Schauplatz eines offenen blutigen Konflikts - eines zweiten in dieser Region neben dem palästinensisch-israelischen -, durch den die ganze Region destabilisiert wird. Zweitens. Der Irak ist heute Teil einer direkten Front mit den Kämpfern des global agierenden Terrorismus. An dieser Front werden den Einheiten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten immer wieder schwere und tragische Verluste zugefügt, die häufig verbunden sind mit Verlusten bei der irakischen Zivilbevölkerung. Der dritte Punkt ist der schlimmste: Die Entwicklung im Irak hat Osama Bin Laden seinem strategischen Ziel, einen Riss zwischen der westlichen und der arabisch-islamischen Welt zu schaffen und einen Kampf der Kulturen zu organisieren, näher gebracht. Vor allem die Berichte und Bilder von Misshandlungen und Folterungen irakischer Männer und Frauen durch amerikanische Soldaten haben zu dieser äußerst gefährlichen Entwicklung beigetragen. Nüchtern und mit großer Sorge müssen wir feststellen: Wir sind, ohne uns wehren zu können, Teil dieser Auseinandersetzung, weil die westliche Führungsmacht diesen Krieg mit all seinen Problemen und Fehlern im Namen westlicher Werte führt. Deswegen befinden wir uns als Teil der westlichen Welt in unfreiwilliger Mithaftung. Das übrigens gibt uns auch das Recht, Fragen an die Verantwortlichen zu stellen und Erwartungen zu äußern, ({0}) zum Beispiel im Hinblick darauf, ob das Problem der Misshandlungen wirklich auf Verfehlungen von einigen wenigen Soldaten reduziert werden kann oder ob hier doch ein angeordnetes System zur Einschüchterung und Demütigung von Gefangenen angewandt wird, um bessere Befragungsergebnisse zu erzielen, aber auch im Hinblick darauf, ob der Schaden, der dadurch für das Image und das Prestige der westlichen Führungsmacht und damit der ganzen westlichen Welt in immensem Umfang entstanden ist, begrenzt werden kann und wer dabei die fachliche und wer die politische Verantwortung übernimmt. ({1}) Wir haben gerade wegen dieser unfreiwilligen Mithaftung das Recht, Antworten auf die Fragen zu bekommen. Wir begrüßen - das sage ich auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion -, dass sich die amerikanische Politik ändert und jetzt Fehler korrigiert. Wir begrüßen, dass sie die Vereinten Nationen stärker in den Stabilisierungsprozess einbezieht. Wir können nur hoffen, dass die Autorität von Lakhdar Brahimi ausreichen wird, um jetzt eine Übergangsregierung zu schaffen und Personen zu benennen, die in der irakischen Bevölkerung eine Chance auf Vertrauen bekommen. ({2}) Wir begrüßen, dass Präsident Bush endlich Distanz zu einer Figur wie Ahmed Tschalabi und seinem INC, auf dessen Konto viele gefährliche Fehleinschätzungen gehen, herstellt. Wir begrüßen, dass jetzt die Beratung einer neuen Sicherheitsratsresolution möglich ist, die das Besatzungsregime beenden und die politische Verantwortung in die Hände einer neuen, souveränen Interimsregierung legen soll. Wir sind davon überzeugt, dass eine durchgreifende Verbesserung der Sicherheitslage vor Ort aber nur dann erreicht werden kann, wenn es tatsächlich einen klaren Schnitt zum Bisherigen gibt und wenn die irakische Souveränität nicht eine fiktive, sondern eine tatsächliche sein wird. ({3}) Der bisherige Resolutionsentwurf bleibt dabei in entscheidenden Fragen unklar: Wie soll sich das Verhältnis der neuen Interimsregierung zu der künftig Multinational Force genannten Sicherheitsgruppierung gestalten? Wie sollen Verantwortung und Befehlsgewalt zwischen den irakischen Sicherheitskräften einerseits und der Multinational Force andererseits abgegrenzt und organisiert werden? Ohne eine klare Antwort auf diese Fragen sind die Erfolgsaussichten des Neuanfangs gering. Oder gibt es hier wirklich jemanden, der glaubt, dass die bloße Umbenennung von Okkupationskräften in Multinational Force mit denselben 138 000 amerikanischen Soldaten, denselben Koalitionstruppen, denselben Kommandostrukturen, vielleicht lediglich verbunden mit einer Konsultationspflicht bezüglich der neuen Interimsregierung, ausreicht, um die Gewalttätigkeiten, die täglich gegen die bewaffneten Kräfte stattfinden, tatsächlich zu beenden? Es ist noch Zeit zur Nachbesserung; wir müssen sie nutzen. ({4}) Der Mut, durchgreifend etwas zu verändern, muss noch wachsen. Dabei könnte die nüchterne Erkenntnis hilfreich sein, dass sich die Koalitionstruppen - nach eigenen Angaben - zu 90 Prozent mit Eigensicherung beschäftigen müssen und dass es für die Iraker bisher eigentlich vor allem dann gefährlich wurde, wenn sie in die Nähe solcher Einheiten geraten sind, denn da finden die Anschläge statt. Widersinnigerweise ist man umso sicherer, je weiter man von den Sicherungsgruppen entfernt ist. Zu der Sourveränitätsübertragung auf eine eigene irakische Regierung mit Autorität gibt es keine Alternative. Aber die Übergabe der Verantwortung in irakische Hände darf keine Mogelpackung sein; sie muss überzeugen. Von den nächsten Wochen hängt viel ab. Eine neue politische Partnerschaft des Westens mit der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens braucht Fortschritte im Irak und braucht auch Fortschritte bei der Beilegung des anderen blutigen Konflikts, nämlich des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Deswegen muss jede Strategie für einen Greater Middle East mit Bemühungen um eine Lösung für diesen beiden Konflikte beginnen. ({5}) Aber mangelnder Fortschritt bei der Lösung dieser beiden Konflikte darf keine Aktivitäten verhindern und darf nicht zum Vorwand genommen werden, nicht über die Stabilität der Großregion des Nahen und Mittleren Ostens nachzudenken. Wir müssen aus der Sackgasse herauskommen: Die einen sagen, erst müsse eine Demokratisierung stattfinden, bevor man überhaupt zu einer Konfliktlösung kommen könne, und die anderen sagen, bevor es nicht zu einer Konfliktlösung komme, mache es gar keinen Sinn, über ein Gesamtkonzept für diese Großregion zu reden. Diese Sackgasse ist entstanden; wir müssen aus ihr herausfinden. ({6}) Dabei muss uns auch klar sein, dass eine ideologische Form eines Demokratisierungskonzepts nicht weiterführt. Man muss doch zugeben, dass es sich gerade bei dem israelisch-palästinensischen Konflikt um einen Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, die im Vergleich zu anderen Staaten demokratisch legitimierte Regierungen haben. Das ist ganz gewiss der Fall bei Israel und auch die palästinensische Autonomiebehörde ist im Vergleich zu anderen arabischen Staaten demokratisch legitimiert. Das ist ein Hinweis darauf, dass man nicht automatisch davon ausgehen kann, dass es zwischen demokratischen Ländern keine blutigen Konflikte gibt und deswegen die Demokratie - die man notfalls von außen mit Gewalt einführt - das Allheilmittel ist. Wenn man diese Automatik zugrunde legt, muss man scheitern. Das ist nicht die Lösung. Das ist der Hintergrund für unsere Bemühungen. Wir müssen gemeinsam an Konzepten für einen gesamtstrategischen Ansatz für diese Region arbeiten. Wir müssen uns über die entsprechenden Instrumente unterhalten. Diese Debatte ist nur ein Anfang. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages sollten sich vornehmen, diese Debatte intensiv weiterzuführen und auf diese Weise den für die Weltpolitik wichtigen diplomatischen Prozess aus parlamentarischer Sicht zu begleiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger. ({0})

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon lange vor dem 11. September war erkennbar, dass sich im ganzen Größeren Mittleren Osten und in Nordafrika eine explosive Situation heranbildet. Vom Maghreb bis nach Pakistan zieht sich seit langem ein Krisenbogen der Instabilität. Das reale Pro-Kopf-Einkommen in der arabischen Welt sank im letzten Jahrzehnt jährlich um 2 Prozent. Das ist der größte Einkommensverlust irgendeiner Region in der Welt. Die dortige demographische Entwicklung ist das Gegenteil unserer demographischen Entwicklung. Von den 1,3 Milliarden Muslimen auf der Welt ist über die Hälfte jünger als 20 Jahre. Im Jahre 2010 wird die Zahl der Berufsanfänger auf dem Arbeitsmarkt gegenüber 1990 in Algerien, Ägypten und Marokko um 50 Prozent, in Syrien sogar um 100 Prozent gestiegen sein. Eine Volkswirtschaft kann noch so dynamisch sein; sie wird nicht in der Lage sein, diesen vielen jungen Menschen Arbeit und Perspektive zu vermitteln. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Würdelosigkeit sind der ideale Nährboden für Terroristen. Wenn wir den Terrorismus bekämpfen wollen, dann ist es - neben allen polizeilichen Maßnahmen bei uns - sehr wichtig, die sozialen und politischen Wurzeln des Terrorismus glaubwürdig zu bekämpfen. Deshalb debattieren wir heute im Deutschen Bundestag über eine Initiative für eine engere und tiefere Partnerschaft mit den Ländern Nordafrikas und des Mittleren Ostens. Das ist gut und wichtig. ({0}) Ich habe gestern zusammen mit dem Kollegen Ruck, dem Kollegen Gröhe und anderen aus unserer Fraktion mit 15 arabischen Botschaftern über unseren heutigen Antrag diskutiert. Vor dem Hintergrund dieses Gesprächs mit den Botschaftern möchte ich an dieser Stelle auf einige Punkte hinweisen, von denen die Glaubwürdigkeit unserer westlichen Initiativen in den nächsten Wochen und Monaten abhängt: Erstens. Wir müssen bei all dem, was wir tun, immer zwischen dem Islam und dem militanten Islamismus unterscheiden. ({1}) Es ist unendlich wichtig, dass wir die großen toleranten Traditionen des Islam, etwa das Kalifat von Cordoba vor 1 000 Jahren, die großen Bemühungen in der islamischen Welt auch heute, für Aufklärung und Korankritik einzutreten, und auch die demokratischen Ansätze der Schura-Tradition des Islam würdigen und entsprechend darauf reagieren. ({2}) Es gibt im Koran die Sure 2,256, die besagt, dass in Glaubensdingen kein Zwang herrschen soll. Der Großscheich der ehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo, Mohammed Tantawi, hat neulich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Folgendes gesagt: Der Islam ist gegen alle Formen und Facetten des Terrorismus … Wir sind nicht damit einverstanden, dass sich jemand inmitten unschuldiger Menschen, Frauen und Kinder in die Luft sprengt … Es steht außer Zweifel, dass jeder Staat, der einen Terroristen, der rechtlich Verurteilte beherbergt und ihnen Unterschlupf bietet, ein terroristischer Staat ist … Terrorismus bedeutet: Friedfertige in Angst zu versetzen … Wer Terrorismus fördert, wird an ihm zugrunde gehen. Das sagt eine der großen Autoritäten der islamischen Welt. Es ist ganz wichtig, dass wir nicht in einen Kampf der Zivilisationen, des Christentums gegen den Islam, des Abendlands gegen den Orient, verfallen, sondern dass wir die Terroristen mit der großen Mehrheit der friedliebenden Muslime isolieren und bekämpfen. Das ist unsere politische Aufgabe. ({3}) Zweitens. Wenn wir über eine Initiative für den größeren Nahen Osten sprechen, dann ist es von sehr großer Bedeutung, dass wir klar machen, dass das kein Ersatz für eine Lösung des Nahostproblems ist. Der Stachel des Palästinaproblems sitzt überall in der arabischen Welt tief. Das ist das Problem Nummer eins. Wir werden zwischen unserer Welt und der islamischen Welt keinen Frieden finden, wenn dieser Konflikt nicht fair, gerecht und dauerhaft gelöst wird und wenn in dieser Region die Gewalt auf beiden Seiten nicht endlich ein Ende hat. Das ist die Voraussetzung für jede Form von Dialog mit der arabischen Welt. ({4}) Drittens. Mit unserem Angebot für eine Partnerschaft dürfen wir unter keinen Umständen den Versuch verknüpfen, wir wollten unsere Wertvorstellungen, unsere Formen der Demokratie, des Westminster-Parlamentarismus, anderen Länden überstülpen. Wir wollen keinen Kulturimperialismus, keine Belehrungen. Wir haben keinen Grund, andere von Europa aus zu belehren. In der muslimischen Welt hört man, wenn wir mit Demokratiekonzepten ankommen, immer wieder die Frage: Was habt ihr denn im letzten Jahrhundert über die Welt gebracht? Darauf kann man nur schwer reagieren. Wir haben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir wollen nicht unsere Demokratiemodelle durchsetzen; aber wir wollen mehr Einhaltung der Menschenrechte, mehr Freiheit und mehr Partizipation. Dazu gibt es doch inzwischen in der arabischen Welt selbst hochinteressante Papiere. Es hat in den letzten Wochen Kommentare nur dahin gehend gegeben, dass der arabische Gipfel von Tunis fehlgeschlagen sei. Schauen wir einmal genauer hin: In der 13-Punkte-Erklärung von Tunis stehen zum ersten Mal in einem solchen Dokument viele wirkliche Bekenntnisse zu den Rechten der Frauen, zu Partizipation, Gewaltenteilung und zur Begrenzung von Amtszeiten. Das ist eine Chance. Sie können dazu sagen, dass das Lippenbekenntnisse seien und diese Regime das nicht so meinten. Aber es wird damit für die Menschen - denken wir nur an den KSZE-Prozess - eine Berufungsinstanz geschaffen. Dort tut sich etwas. An diesen Ansätzen müssen wir anknüpfen und sie unterstützen. Wir dürfen ihnen nicht unsere Konzepte überstülpen, sondern mit ihnen an der Verbesserung und Modernisierung ihrer Gesellschaft arbeiten. Darum geht es. ({5}) Viertens. Der nächste Punkt ist nicht ganz leicht. Aus der muslimischen Welt wird immer wieder gesagt: Ihr messt mit doppelten Standards. Wenn der Iran etwas macht, ist es abgrundtief böse, und wenn es in Saudi Arabien geschieht, wo es den Wahhabitismus gibt, also ein radikales islamisches Regime, deckt ihr den Mantel des Schweigens darüber, weil es eine prowestliche Regierung ist. Solange wir uns solche doppelten Standards erlauben, nehmen uns die jungen Muslime nicht ernst, wenn wir Demokratie und Menschenrechte predigen. Man kann es in der Politik nie 100-prozentig machen. Wir sind nicht Amnesty International; es gibt realpolitische Kompromisse und Notwendigkeiten. Aber ein bisschen mehr eindeutige Standards und weniger Doppelzüngigkeit sind dringend notwendig, wenn wir die Herzen junger Muslime gewinnen wollen. ({6}) Fünftens. Die Chance, Wandel und Menschenrechte in den Ländern des größeren Mittleren Ostens und Nordafrikas zu unterstützen, erhalten wir nur, wenn die Werte, für die wir stehen, auch deutlich erkennbar bleiben. Insofern haben die Bilder von Folter und Demütigungen von Irakern eine katastrophale Wirkung. Sie diskreditieren all das, wofür die westliche Welt und auch Amerika stehen, nämlich Menschenrechte und Menschenwürde. Natürlich kann man darauf hinweisen, dass bei Saddam über Jahre und Jahrzehnte viel brutaler, viel umfassender und viel schlimmer gefoltert worden ist. Aber wir in der westlichen Welt haben unsere eigenen hohen Standards. Wir müssen alles dafür tun, dass diese Vorgänge aufgeklärt werden und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden; sonst können wir die Glaubwürdigkeit, die wir zum Dialog mit der islamischen Welt brauchen, nie wieder erzielen. ({7}) Sechstens. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit und der sozialen Ungerechtigkeit geht es darum, den Globalisierungsprozess sozial zu gestalten und ihm einen politischen Rahmen zu geben. Die Öffnung unserer Märkte für die Produkte aus diesem Teil der Welt ist von großer Wichtigkeit. Freihandel zu fördern - aber wirklichen Freihandel -, Entwicklungspolitik zu betreiben, dort die Demokratie zu fördern, durch Aufklärungsprojekte einen Beitrag dazu zu leisten, dass die BevölkeDr. Friedbert Pflüger rung vielleicht nicht mehr ganz so schnell wächst wie bisher, das ist von großer Wichtigkeit. Siebtens. Wir müssen die kulturelle Zusammenarbeit ausbauen, viel mehr über den Islam, seine Unterschiede und die verschiedenen islamischen Länder wissen und sie besser verstehen. Deswegen ist es falsch, die Mittel für auswärtige Kulturpolitik zu kürzen. ({8}) Ich bin gerade in fünf Ländern am Persischen Golf gewesen. Auf der ganzen arabischen Halbinsel gibt es nicht ein Goethe-Institut. Das müssen wir ändern, wenn wir es mit dem Dialog mit der Welt des Islam ernst meinen. ({9}) Mein letzter Gedanke: Es ist nicht so, dass für alles, was in der islamischen Welt passiert, der Westen Verantwortung trägt. Natürlich hat es die Zeit des Kolonialismus gegeben, natürlich hat es enorme Fehler im Verhältnis zur islamischen Welt gegeben. Aber es geht nicht, dass die Muslime immer nur uns verantwortlich machen und sich selbst entlasten. Sie müssen auch selbst an der Modernisierung, an der Öffnung und an der Reform ihrer Länder mitwirken. Wir erwarten von den Muslimen in aller Welt - auch von denen, die bei uns leben -, dass sie sich deutlicher als bisher in Wort und Tat von den Terroristen und extremistischen Islamisten absetzen. Dieses Recht auf ihre Mitarbeit und auf ihre Modernisierungsanstrengung haben wir genauso, wie sie das Recht auf unsere Unterstützung und Sympathie haben. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Ludger Volmer, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen legen heute einen Antrag vor, der dreierlei leisten möchte: Er möchte den transatlantischen Dialog über Sicherheitsfragen wieder aufnehmen und in die richtige Richtung umlenken, ({0}) er möchte die Debatte innerhalb der EU über die strategische Dimension der europäischen Politik vertiefen und er möchte einen substanziellen Dialog zwischen dem so genannten Westen und der arabisch-islamischen Welt über Modernisierung, Demokratisierung und Umsetzung der Menschenrechte mitinitiieren. Dieser Antrag ist überfällig, weil uns die Krisen der letzten Monate eindrücklich vorgeführt haben, dass die Politik des „Weiter so!“, dass die reine Machtpolitik, die auf militärische Projektion setzt, gescheitert ist. Sehen wir uns die Situation im Irak an. Im Irak erleben wir das Desaster einer ideologisch verblendeten Politik der Administration von Präsident Bush. So deutlich muss man das sagen. ({1}) Wir sehen, dass es unmöglich ist, Demokratie herbeizubomben. Wir sind uns in der Zielsetzung Demokratisierung einig. Aber man kann Demokratie nicht mit Waffengewalt herbeizwingen, insbesondere dann nicht, wenn man ständig die Würde der Menschen verletzt, die man zur Demokratie bekehren möchte. ({2}) Sehen wir uns das Sicherheitsdesaster an. Es war doch absehbar, dass kein Plan existierte, wie der Wiederaufbau nach dem Krieg einer Hightecharmee gegen eine mittelmäßig bewaffnete Dritte-Welt-Armee zu geschehen habe, wie regionale Stabilität gewährleistet werden könne. Heute muss die Bush-Administration auf die Kräfte zurückgreifen, die sie bekämpft hat, nämlich die alten Sicherheitsorgane von Saddam Hussein. Das ist doch der völlige Bankrott der Sicherheitspolitik, die dort angestrebt wurde. Was zeigen uns die Folterorgien der letzten Monate mit den schrecklichen Menschenrechtsverletzungen? Man hatte den Anspruch, Demokratie zu exportieren und man exportierte Folterknechte. Das ist doch der totale moralische Bankrott eines bestimmten Anspruchs, der angeblich für die gesamten westlichen Werte steht. ({3}) Gegen diesen Anspruch müssen wir uns wehren. Wir müssen von den amerikanischen Freunden und Partnern fordern - ich begrüße, dass der Außenminister das bei seiner Rede sehr deutlich gemacht hat -, dass die Dinge aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden. Wir hoffen, dass der Schaden, der durch diesen doppelten - politischen und moralischen - Bankrott angerichtet wurde, durch eine UNO-Resolution zumindest eingedämmt werden kann, die möglichst bald die Irakisierung des Konfliktes in die Wege leitet. ({4}) Meine Damen und Herren, doppelte Standards wirft uns die islamisch-arabische Welt vor. Wir wissen nur zu gut, dass sich viele Despoten des Orients mit ihren eigenen doppelten Standards hinter den Fehlern des Westens verstecken. Umso wichtiger ist es, dass wir eine Fehleraufarbeitung vornehmen und einen Neuansatz für einen grundlegenden Dialog zwischen unserem westlichen Kulturkreis und dem islamisch-arabischen Kulturkreis finden. Das geht nicht mehr mit dem moralischen Zeigefinger. Dieses Recht haben wir durch den moralischen Bankrott verspielt, den die Folterorgien mit sich gebracht haben. Wenn wir über Versagen reden, müssen wir auch über die Haltung einiger Kräfte in diesem Hause vor einem Jahr reden. Ich erinnere mich noch sehr gut daran - man brauchte sich nur die Sendung von Frau Illner gestern Abend anzuschauen -, wie die Vorsitzende der CDU/ CSU-Fraktion noch vor einem Jahr argumentiert hat. Wir erinnern uns an ihre Kniefälligkeit gegenüber Präsident Bush, mit der sie die Opposition in den USA und in Europa geschwächt hat ({5}) dies alles aus der wahnhaften Vorstellung heraus, wenn sich die kleine Bundeswehr in einem Bedrohungsszenario an die Seite der großen US-Armee stellte, würde Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen abrüsten, die er überhaupt nicht hatte. Dies war die Absurdität der Politik der CDU/CSU. Zudem frage ich mich, Frau Merkel, wie Sie es rechtfertigen können, zu sagen: Wir wollten mitdrohen, aber für den Fall, dass Saddam nicht reagiert hätte, hätten wir uns natürlich nicht militärisch beteiligt. „Bellen, ohne zu beißen“, das ist offensichtlich das Motto Ihrer Sicherheitspolitik. ({6}) Wie unglaubwürdig sie ist, weiß jeder Sicherheitspolitiker. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie 2002 an die Macht gekommen wären, dann wäre Deutschland heute in demselben Schlamassel, in dem die USA sind. ({7}) Dann hätten wir Anteil an dem moralischen Bankrott dieser Politik. Wenn Sie daran beteiligt gewesen wären, hätte die arabisch-islamische Welt heute vielleicht sogar zu Recht den Eindruck, es ginge um einen Kampf der Kulturen. Es war diese Koalition, die durch die rot-grüne Außenpolitik zusammen mit unseren Freunden in Frankreich, Belgien und anderswo verhindert hat, dass es in der Wahrnehmung der arabisch-islamischen Welt zu einem Clash of Civilizations gekommen ist. ({8}) Auf diese Politik sind wir stolz. Dazu erwarten wir von Ihnen noch immer ein klares Wort. ({9}) Der west-östliche Dialog steht auf der Tagesordnung. Er muss sich um Modernisierung, Demokratisierung und Menschenrechte drehen. Wir haben ein gesteigertes Interesse daran, denn der Orient liegt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Insbesondere, weil wir die Europäische Union erweitert haben, ist es notwendig, sinnvoll und in unserem Sicherheitsinteresse, dass wir friedliche und freundschaftliche Beziehungen zu dieser Region pflegen. Auch brauchen wir diese Region im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Nicht nur wir, die westliche Welt, sind Ziele der Terroristen, sondern auch die arabisch-islamische Welt selbst hat unter diesen Irrläufern zu leiden, die sich zu Unrecht auf den Koran berufen. Auch in dieser Hinsicht haben wir zumindest mit den Modernisierungskräften in der islamischen Welt ein gemeinsames Interesse. Zum Nahostkonflikt ist bereits einiges gesagt worden. Diesen zu lösen ist in diesem gesamten Kontext die zentrale Aufgabe. Wir wissen, dass es ohne eine Lösung des Nahostkonflikts auf der Basis von Zweistaatlichkeit und gegenseitigem Gewaltverzicht, wie es in der Roadmap vorgezeichnet ist, keine grundlegende Neuverständigung zwischen der arabischen Welt und dem Westen geben wird. Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig. Wir müssen beide Projekte, die Lösung des Nahostkonflikts und den Versuch, diesen umfassenden Dialog aufzunehmen, gleichzeitig beginnen. Dass sich Europa in diesem Kontext ein neues Selbstverständnis und ein neues Selbstbewusstsein zu Eigen machen muss, liegt auf der Hand. Europa muss seine strategische Dimension erkennen, wie es der Außenminister in seiner Münchener Rede ausgedrückt hat. Die Europäische Union muss zu einem Selbstverständnis kommen, in dem sie sich als handelndes Subjekt und nicht mehr nur als eine Arena sieht, in der die einzelnen Teilnehmerstaaten ihre nationalen Interessen ausagieren. Am besten wäre es, wenn neben der europäischen Sicherheitsstrategie, die eine gute strategische Orientierung bietet, der gemeinsame Verfassungsvertrag verabschiedet würde und so endlich das Selbstverständnis Europas als politisch handelndes und strategisches Subjekt festgeschrieben würde. ({10}) Meine Damen und Herren, im Kontext des Dialogs zwischen dem Westen und der orientalischen Welt kann ein Land eine Schlüsselrolle spielen und einen geradezu strategischen Stellenwert einnehmen: die Türkei. Deshalb möchte ich diesen Punkt ansprechen. Denn meine Kritik an der Irakpolitik der CDU/CSU habe ich vorhin nicht aus Rechthaberei formuliert, ({11}) sondern weil ich befürchte, dass, nun bezogen auf die Türkei, der gleiche strategische Fehler erneut gemacht wird. ({12}) Aus einer diffusen Ablehnung gegenüber Moslems - Herr Pflüger hat zwar versucht, etwas anderes zu suggerieren - und aus einer irrationalen, emotionalen Bindung an ein bestimmtes, eng definiertes Verständnis von abendländischer Kultur versucht man, die Türkei außen vor zu lassen, und ({13}) nimmt in Kauf, dass all ihre Hoffnungen enttäuscht werden und dass auch Demokratisierung und Modernisierung, die dort gerade aufgrund der europäischen Perspektive der Türkei Einzug gehalten haben, wieder gestoppt und vielleicht sogar rückgängig gemacht werden. Es liegt in unserem Sicherheitsinteresse - das mögen sich bitte auch die Innenpolitiker vergegenwärtigen -, dass sich dieses wichtige Land an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident in positiver Weise auf die europäischen Werte bezieht, sich diese Werte aneignet und gemeinsam mit uns den Dialog mit der arabischislamischen Welt aufnimmt. Wir brauchen die Türkei. Deshalb darf es keine innenpolitisch motivierten Ressentiments geben, die die Türkei ins Niemandsland oder vielleicht sogar auf die falsche Seite treiben. ({14}) Dass diese Politik - der Dialog mit dem Orient und die europäische Perspektive der Türkei - Realität werden kann, dafür steht diese rot-grüne Regierung und deshalb sind Grün und Rot europapolitisch und außenpolitisch die erste Wahl. Danke. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Werner Hoyer, FDPFraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine Anmerkung zu diesem Wahlkampfauftritt des Kollegen Volmer machen. Wir Liberalen haben eine Gemeinsamkeit mit den Koalitionsfraktionen: Wir haben den Irakkrieg weder sachlich noch rechtlich für gerechtfertigt gehalten noch haben wir ihn für richtig gehalten; er war eben obendrein ein Fehler. Aber was wir nicht zugelassen hätten, wäre, dass über diese Frage mit aktiver Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland Europa gespalten worden ist, und das ist hier passiert. ({0}) - Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Albern!) Diese wahlkampftaktische Aktion, die damals erfolgreich war, aber mit zur Spaltung Europas führte, soll jetzt, im Vorfeld der Europawahl, erneut versucht werden. Das wird diesmal nicht mehr aufgehen - das haben die Wählerinnen und Wähler durchschaut. Bei aller Kritik, die anzubringen ist - ich denke, zur Selbstgerechtigkeit besteht hier nun überhaupt keine Veranlassung; dafür wird all das, was vor dem Sturz von Saddam Hussein geschehen ist, dann doch zu leicht vergessen. ({1}) Es geht im Nahen Osten um viel mehr als um regionale Stabilität - so wichtig sie ist -, es geht auch darum, wie wir mit unserer Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel klarkommen; es geht darum, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu bestehen; es geht darum, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, es geht darum, den Clash of Civilizations zu verhindern, und es geht in allererster Linie darum, die Glaubwürdigkeit der westlichen Welt und des westlichen Wertesystems zu wahren und da, wo sie beschädigt ist, wiederherzustellen. ({2}) Wir glauben an die Freiheit und die Würde des Menschen. Dieses Wertesystem und die Glaubwürdigkeit der Akteure, die es verkörpern und umsetzen, sind unsere wichtigsten Waffen im Kampf gegen internationalen Terrorismus, unsere wichtigsten Mittel auch, um einen Beitrag zur Stabilisierung im Nahen und Mittleren Osten zu leisten. Politik wird heute - das wissen wir alle; ob wir es wollen oder nicht - auch über Bilder gemacht. Die Bilder, die in den letzten Wochen aus dem Abu-GhureibGefängnis über den Äther gegangen sind, kann man nur als politischen Super-GAU betrachten; er wird uns lange beschäftigen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ist nicht nur der Kernsatz unseres deutschen Grundgesetzes, das ist das Credo der westlichen Wertegemeinschaft und das gilt auch für die Iraker. Erst wenn wir die Würde der Menschen in der islamischen Welt in den Mittelpunkt unseres Handelns rücken, werden wir diese Menschen für uns gewinnen und gleichzeitig auch überzeugend bei den Regimen der Region dafür werben können, die Würde und die Freiheit des einzelnen Menschen besser zu achten. Deshalb ist es wichtig, dass die Amerikaner voll aufklären; deswegen ist es wichtig, dass wir Vorsorge treffen, dass so etwas nie wieder passiert. Aber, meine Damen und Herren, angesichts der antiamerikanischen Orgie, ({3}) die heute Morgen hier vom Kollegen Volmer abgezogen worden ist, sage ich: Ich habe volles Vertrauen in die großen Werte der amerikanischen Verfassung, der Bill of Rights, der Declaration of Independence - auch in die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Gesellschaft. Wir unterschätzen das hier. ({4}) Sehen wir uns doch einmal an, in welcher intellektuellen, moralischen und rechtlichen Schärfe die amerikanische Diskussion über die Vorgänge geführt wird! Zumindest was intellektuelle Redlichkeit angeht, könnten sich einige bei uns eine Scheibe davon abschneiden. ({5}) Klar ist aber auch: Die Amerikaner könnten zur Wiederherstellung ihrer Glaubwürdigkeit einen weiteren Beitrag leisten, zum Beispiel indem sie mit dem Thema Guantanamo Bay anders umgehen oder ihre Position zum Internationalen Strafgerichtshof überdenken würden. ({6}) Meine Damen und Herren, im Nahen Osten genießen die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und der Außenminister persönlich einen guten Ruf. Das gilt auch in Bezug auf den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Das ist auch gut so. Aber wir dürfen den guten Ruf nicht als bloßen Heiligenschein ansehen und er darf kein Selbstzweck werden, sondern er muss dazu genutzt werden, um Einfluss zu nehmen, und zwar auch in den Situationen, in denen es schwer fallen mag, harte Worte auszusprechen. ({7}) Es ist an der Zeit, dass der Bundesaußenminister seinen guten Ruf aktiv einsetzt. Das darf aber nicht so aussehen, dass er für die Israelis oder für die Palästinenser Partei ergreift; er muss vielmehr Partei ergreifen für die Implementierung der Roadmap wie auch für die Umsetzung der schon vorhandenen Friedensvorschläge, die aus der Zivilgesellschaft gekommen sind. ({8}) In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen, dass ich nicht gut finde, wie wir mit Herrn Rabbo und Herrn Beilin umgegangen sind. Sie haben uns im Ausschuss überzeugend vorgetragen, wir haben sie bejubelt. Aber anschließend haben wir das mit einer sehr schwachen Erklärung bedacht. ({9}) Der Bundesaußenminister muss für das Völkerrecht eintreten. Das muss er auch dann tun, wenn Ministerpräsident Scharon das Völkerrecht verletzt und meint, trotzdem auf dem richtigen Weg zu sein. ({10}) Die Bush-Administration hat sich zu Beginn ihrer Amtszeit aus der Lösung des Nahostproblems fast völlig herausgehalten, und zwar auch aus der Situation des Wahlkampfes heraus: Nach Clintons Abgang durfte man nichts fortführen, was Clinton fast erfolgreich bewältigt hätte. Das war ein großer Fehler. Jetzt werden die Amerikaner wieder aktiver. Ich hoffe, es handelt sich nicht wieder um eine Aktivität im Vorwahlkampf aus taktischen Motiven. Wir brauchen die Amerikaner bei dieser Arbeit. Wichtig ist, dass wir den fatalen Eindruck ausräumen, im Nahen Osten gebe es eine Arbeitsteilung zwischen Europäern und Amerikanern, als seien die Europäer für die Finanzierung der Palästinenser zuständig, die Amerikaner dagegen würden sich nur mit den Leiden des israelischen Volkes befassen und würden die dafür notwendigen Mittel und die notwendige Empathie aufbringen. Diesen Eindruck müssen wir ausräumen. Die Amerikaner sind gut beraten, die Chancen zu nutzen, die in Gesten, auch humanitärer Art, gegenüber den Palästinensern bestehen, Chancen, die zum Beispiel darin liegen, dass die amerikanische Administration klare Worte für Völkerrechtsverletzungen findet, die Israel zuzurechnen sind. Umgekehrt wären wir Europäer gut beraten, den Israelis glaubwürdig zu vermitteln, dass auch wir das legitime Interesse des israelischen Volkes anerkennen, als jüdischer Staat zu bestehen, und dass wir aktiv für sie eintreten und mit ihnen fühlen angesichts der ständigen terroristischen Bedrohung und Gewalt, unter der sie leben und leiden. ({11}) Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt. Damit komme ich auf unseren Antrag zu sprechen. Der Friedensprozess im Nahen Osten kann genauso wenig von außen aufgezwungen werden wie der ebenso wichtige Prozess der Modernisierung der Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Solche Versuche werden immer Abwehrreflexe auslösen, und zwar nicht nur bei den Regimen in der Region, die um ihre Macht und um ihren Einfluss fürchten, sondern auch bei den allermeisten Menschen vor Ort. Denn die Menschen in dieser Region sind zutiefst verunsichert, sie sind durch die aktuellen Bilder aus dem Irak zutiefst abgestoßen, sie sind indoktriniert durch ihre politischen und religiösen Führer und sie sind - auch das muss man im Hinterkopf behalten zu stolz und zu würdevoll, um sich Lösungen immer nur von außen aufdrücken zu lassen. Natürlich ist zu Recht gesagt worden - Friedbert Pflüger hat darauf hingewiesen -, dass Aktivitäten auch von innen kommen und sichtbar werden müssen; das ist vollkommen richtig. Nur ein Oktroi wird das Problem nicht lösen. Es herrscht in den Zivilgesellschaften in dieser Region ein enormer Reformdruck. Es gibt durchaus die Erkenntnis, dass die islamisch-arabischen Länder weltweit den Anschluss zu verlieren drohen. Viele in diesen Ländern drängen nach stärkeren Partizipationsrechten und mehr Freiheit. Diese Vertreter der Zivilgesellschaft wissen auch, dass für den erforderlichen Modernisierungsprozess Hilfe von außen erforderlich ist. Diese darf aber nicht aufgedrückt werden. In den Anträgen der Union wie auch der Koalition finden sich viele gute Vorschläge. Aber ich meine, wir sollten zusätzlich den Gedanken einbringen, die maßgeblich betroffenen Akteure einzubeziehen und ihnen internationale Unterstützung zukommen zu lassen. Wir haben gute Erfahrungen mit dem Helsinkiprozess gemacht. Ich weiß, dass man das nicht eins zu eins übertragen kann. Warum ziehen wir aber nicht die Schlussfolgerungen aus dem, was wir in Helsinki und durch den Helsinkiprozess gelernt haben? Dieser Prozess hat den Weg zur Überwindung der Teilung Europas und unseres Landes freigemacht. Der Weg von Helsinki war der Schlüssel zur Vereinigung Europas, die wir vor wenigen Tagen gefeiert haben, und zur Vereinigung unseres Landes vor 15 Jahren. Deswegen: Lasst uns untersuchen - wir werden in den Ausschussberatungen ausreichend Zeit haben -, wo wir Möglichkeiten dafür sehen, die Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen mit den drei Körben von Helsinki auf mögliche Lösungsansätze für den Nahen Osten zu übertragen. Ich denke, die Europäer und die Deutschen könnten hier hilfreich sein. Nachdem unsere Vorschläge in dieser Richtung am Anfang sehr belächelt worden sind - auch von dem Herrn Außenminister -, bin ich nun sehr ermutigt, da diesbezüglich mittlerweile doch überall eine große Aufgeschlossenheit vorhanden ist. Kollege Pflüger hat im Hinblick auf das Alexandriadokument zu Recht auf die entsprechenden Anknüpfungspunkte hingewiesen. Auch Minister Sharansky aus Israel hat sich positiv in diese Richtung geäußert. Nehmen wir diesen Faden auf und versuchen wir, tatsächlich einen Beitrag zur Lösung des gefährlichsten Problems in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu leisten! Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Hoyer, wir haben es erlebt: Diese Debatte hat auf der Sicherheitskonferenz in München begonnen. Der Außenminister hat den Eröffnungszug gemacht und gesagt, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland mit den Konflikten, die sich ganz in unserer Nähe ereignen, umgehen müssen. Wir erinnern uns alle an den Kollegen Lamers, der immer wieder deutlich gemacht hat, dass der Nahe Osten deswegen so heißt, weil er direkt neben uns liegt. Anders als die Amerikaner, die „middle east“ sagen, würde es uns sofort und direkt betreffen, falls sich der Nahe Osten in kriegerischer Selbstzerstörung befinden und in eine Auseinandersetzung geraten würde. Das hat der Außenminister klar gemacht. Wir im Westen müssen jetzt unsere eigenen inneren Widersprüche überwinden, einen neuen Akzent setzen und den Eröffnungszug machen. Lieber Kollege Dr. Hoyer, insofern braucht die Bundesregierung keinen Hinweis darauf, dass das nötig ist. Der Außenminister hat das deutlich gemacht und wir führen hier eine vernünftige Debatte darüber. ({0}) Ich finde, in dieser Debatte sollte es auch darauf ankommen, unseren amerikanischen Freunden und Partnern nicht mit dem Gestus der Schadenfreude zu begegnen. ({1}) - Lieber Kollege Dr. Hoyer, das war nicht das, worauf der Kollege Volmer hingewiesen hat. - Nein, innerhalb des Westens brauchen wir keine Schadenfreude; denn es kommt jetzt darauf an, eine harte und schonungslose Bilanz des Irakkriegs zu ziehen. ({2}) Ich bin froh, dass Madeleine Albright sehr deutlich sagt, dass die Irakstrategie des amerikanischen Präsidenten gescheitert ist. Sie ist nicht nur deshalb gescheitert, weil der Krieg ganz anders verläuft, als sich manche in der Administration das gedacht haben. Man hätte Lehren aus der Geschichte ziehen können. Ich nenne jemanden, der sehr hart und deutlich gesagt hat, was es bedeutet, wenn man in einen Krieg zieht: Winston Churchill hat das in seinen eigenen biographischen Notizen sehr klar gemacht. Dazu, dass manche, die vom Kriegsfieber gepackt sind, glauben, sie könnten das beherrschen, was geschieht, wenn das Signal des Krieges ertönt ist, hat er ganz deutlich gesagt: Derjenige, der dieses Signal hört, ist von diesem Moment an nicht mehr Herr dessen, was geschieht, sondern er wird Sklave der Ereignisse, die dann heraufgerufen werden. In dieser Gefahr befindet sich derjenige, der die Interessen und die Würde von Menschen einfach missachtet. Zurzeit befindet sich die gegenwärtige amerikanische Administration in einer solchen Gefahr. Ein anderer hat zu einer früheren Zeit dieses Problem sehr kritisch analysiert und aufgearbeitet, nämlich Fulbright. Er hat für eine solche Situation ganz klar gesagt: Wenn es nur noch so wäre, dass sich die Arroganz der Macht durchsetzte, dann allerdings hätte Amerika verloren. - So, wie Amerika gegenüber den Menschen dieser Region auftritt, verliert es an Glaubwürdigkeit. In dieser Phase befindet sich gegenwärtig die amerikanische Administration. Das hat nichts mit Schadenfreude zu tun oder damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Vielmehr müssen wir darauf setzen, dass die selbstkritischen Kräfte in den USA diese große Herausforderung selbst bestehen. Ich bin ganz sicher, dass dies geschehen wird, lieber Kollege Dr. Hoyer. ({3}) Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten reden, dann müssen wir uns selbst fragen, in welcher langen historischen Linie wir uns befinden. War es nicht so, dass der Austausch zwischen Europa im Norden und dem Mittelmeerraum ein immer währender kriegerischer und imperialer gewesen ist? Waren es nicht Krieg, Auseinandersetzung, Abgrenzung - allerdings auch Integration und Aufnahme -, die diesen Austausch, diese Beziehungen leider zu stark und zu häufig geprägt haben? Dies ist die lange geschichtliche Widersprüchlichkeit, mit der wir uns im Raum des Mittelmeers gegenseitig begegnet sind. Hier steht auf der einen Seite die Wiege der monotheistischen Religion und auf der anderen Seite - das dürfen wir nicht vergessen - die Wiege des modernen und imperialen Staatsdenkens. Ich darf einmal daran erinnern - wenn man Mitglied der Christlich Demokratischen Union ist, dürfte das ganz nahe liegen -, was Paulus geantwortet hat, als er gefragt worden ist, wer er sei: Civis Romanus sum - ich bin ein Bürger Roms. Auch das prägt diesen Raum: der Beginn der Zivilisation, immer begleitet von kriegerischen Auseinandersetzungen. Das ist die Widersprüchlichkeit. Heute könnten wir aus den Fehlern, die gemacht worden sind, lernen und daraus den Schluss ziehen: Wir Gert Weisskirchen ({4}) müssen in ein neues gemeinsames Verhältnis eintreten, damit das, was uns in der Vergangenheit so stark und so negativ geprägt hat, überwunden wird. Wir müssen versuchen, unsere historischen Erfahrungen so zu nutzen, dass wir in der Tat - darin stimme ich Ihnen zu, Herr Dr. Hoyer - unsere Erfahrungen seit 1975 ernst nehmen, aufnehmen und mit dieser Region in einen wirklichen Dialog eintreten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Europäische Union eine neue Partnerschaft mit unserem direkten Nachbarn eingeht. Willy Brandt hat dazu, wie ich finde, richtig gesagt: Wir Deutsche wollen gute Nachbarn sein, nach innen und nach außen. - Jetzt kommt es darauf an, ein neues nachbarschaftliches Verhältnis mit dieser gebeutelten, schwierigen und in sich so widersprüchlichen Region einzugehen. Wenn wir uns diese Region anschauen, von Marrakesch bis Kabul, dann kann man sich schon die Frage stellen: Seid ihr nicht zu euphorisch, zu versuchen, mit dieser ganzen Region eine neue Partnerschaft einzugehen? Das ist wohl wahr; denn bei der Kleinteiligkeit und Kleinräumigkeit von Marokko bis Afghanistan kann es schon dazu kommen, dass uns die Suche nach der Lösung dieser Einzelprobleme derart bedrängt, dass wir den Blick auf das Ganze verlieren. Diese skeptische Frage wird uns während des langen Prozesses, den wir jetzt beginnen werden, begleiten. Wenn wir aber nicht den Mut haben, einen gemeinsamen strategischen Entwurf zu skizzieren, werden wir auch die kleinen Fragen nicht lösen, sondern diese werden sich als Steine auf dem gemeinsamen Weg erweisen. Dann allerdings könnten wir scheitern. Nein, ich glaube, wir stehen am Anfang eines völlig neuen Prozesses. Der Außenminister hat zu Recht in München gesagt, dass das bedeuten muss, dass sich der Westen neu definiert, dass er sich neu erfindet. Denn wir wollen doch dieser Region, die nahe bei uns liegt, nicht mit dem Gestus „Wir wissen alles besser und es ist nun an der Zeit, dass ihr euch uns anschließt“ begegnen, sondern wir wollen das als Aufgabe der transatlantischen Partnerschaft angehen. Die USA und die Europäische Union müssen ihre Kräfte bündeln und dafür sorgen, dass sich diese Region zu einer Region der Prosperität entwickeln kann. Wer von „Region der Prosperität“ spricht, der weiß auch, wie schwer es die Menschen haben, die in den 22 arabischen Staaten leben. Alle 22 Staaten zusammen erwirtschaften leider nur ein Bruttosozialprodukt, das gerade einmal so groß wie das von Spanien ist. Daran sieht man, wie schwer die Aufgabe ist. Über 50 Prozent der Menschen dort können nicht lesen und nicht schreiben; zwei Drittel davon sind Frauen. Es liegen also große soziale Aufgaben vor uns, die wir gemeinsam anpacken müssen. Denn Sicherheit, Demokratie und Modernisierung sind das, was diese Region braucht. Die Europäische Union wird ein guter, verlässlicher Partner sein, der nur gemeinsam mit den USA diese vor uns liegende schwere, historische Aufgabe bewältigen kann. Ich bin froh darüber, lieber Herr Außenminister, dass Sie das auf die Tagesordnung gesetzt haben und das auf den vor uns liegenden Gipfeln der Europäischen Union, der G 8 und der NATO ansprechen werden. Es ist hilfreich, dass wir diese Debatte frühren. Ziehen wir daraus die richtigen und vernünftigen Konsequenzen! Denn wir brauchen eine neue Partnerschaft zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen Orient und Okzident. Das ist die Aufgabe dieser Generation. Ich hoffe, wir erfüllen sie. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Welt ist nach der Kette von Terroranschlägen, nach New York, nach den Kriegen in Afghanistan und im Irak und nach der Eskalation im Nahen Osten natürlich angespannt. Die Kommunikation zwischen uns ist unbefriedigend. Argwohn und Misstrauen sind auf beiden Seiten groß. Auch das haben wir bei der gestrigen Diskussion mit den Botschaftern erlebt. Ich erinnere an den Streit um Überschriften, um Semantik. Wir haben bisher darauf keine passende Antwort. Antworten zu finden ist dringlich. Es ist ein Gebot der Stunde, dass wir einen neuen, einen intensiveren Dialog mit den Regierungen und Menschen in den Ländern der islamischen Welt anstoßen. Wir haben dazu gerade als Deutsche allen Grund: Wir haben auf der einen Seite traditionell gute, auch gute kulturelle Beziehungen; wir haben intensive ökonomische Beziehungen mit einem überragenden Zukunftspotenzial. Auf der anderen Seite sind wir aber auch massiv von Fehlentwicklungen betroffen, die es in diesem Raum gibt und geben könnte. Ich nenne das Stichwort Migration. Natürlich sind wir auch als Deutsche und Europäer besonders verwundbar durch Terrorismus, Spannungen oder Konflikte in diesem Raum. Das ist der Ausgangspunkt für unseren Antrag. Für uns ist ein ganz entscheidender Schlüssel für eine gemeinsame tragfähige Zukunft eine effizientere Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung gegenüber den islamischen Ländern. Wir gehen davon aus, dass auch für die Menschen dort und für deren Befindlichkeit Bildung, wirtschaftliche Perspektiven und die Chance, zu der Gestaltung der eigenen Gesellschaft beizutragen, wirkliche Schlüsselfaktoren sind. Das ist zwar noch keine Garantie gegen Konflikte und Radikalismus, aber das ist die beste Voraussetzung für ein besseres Miteinander und dafür, einen offenen Konflikt zu vermeiden. Dazu bedarf es natürlich auch in den islamischen Ländern - das wurde schon angesprochen - tief greifender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Reformen. Diese Länder sind dazu bereit, aber es ist eine sehr schwierige Aufgabe. Unsere strategische Aufgabe muss es sein, alles zu tun, damit es zu diesen Reformen kommt. ({0}) Wir sollten dabei jeden Eindruck von Bevormundung und Arroganz vermeiden. Ich erinnere daran, dass in Mitteleuropa quasi noch die Eisenzeit herrschte, als es im Nahen und Mittleren Osten schon blühende Hochkulturen gab. Ich erinnere weiter daran, dass auch islamische Impulse dazu beigetragen haben, dass wir eine Schwächeperiode in unserem Mittelalter überwinden konnten, und möchte in diesem Zusammenhang die Nobelpreisträgerin Ebadi zitieren: Demokratie ist kein Geschenk, das man auf einem Goldtablett darreicht. … Demokratie ist ein historischer Prozess, der sich … in jeder Gesellschaft von innen heraus entwickeln muss. Geschichte setzt Geduld voraus. Das sollten auch wir berücksichtigen. ({1}) Wir sollten auch deutlich machen, dass unser Angebot zur verstärkten Zusammenarbeit und Entwicklung nicht nur auf Demokratieaufbau abzielt, sondern insbesondere auf die Stärkung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaften in dieser Region, die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen und vor allem die Verbesserung der Zukunftschancen der jungen Generation, die auf geradezu dramatische Art und Weise und in einem Maße, wie wir es uns wünschten, ein überragender Bestandteil der Alterspyramide dieser Gesellschaften ist. Wir sollten darüber hinaus deutlich machen, dass wir uns um die gemeinsame Abwehr von Gefahren kümmern wollen, die uns alle betreffen. Deswegen bestehen die Hauptelemente unseres Antrags darin, den wissenschaftlichen Dialog fortzuführen und zu intensivieren, einen Beitrag zu einem effizienteren Umgang mit der knappen Ressource Wasser zu leisten, die Unterstützung für den Ausbau eines breiten und modernen Bildungs- und Erziehungswesens zu verstärken und vor allem die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zu stärken. Als weitere Stichworte sind beispielsweise eine moderne Verwaltung, die Integration in globalisierte Märkte, das Ausbildungswesen und die Hochschulkapazitäten zu nennen. An der Haltung und Politik der jetzigen Bundesregierung gibt es einiges zu kritisieren. Ich finde es bedauerlich, dass zum Beispiel niemand aus der Spitze des Entwicklungsministeriums an dieser wichtigen Debatte teilnimmt. ({2}) - Ich finde es schade, Herr Volmer, dass Sie das Thema mit einer so rückwärts gewandten Polemik angehen. Sie gestatten, dass ich nicht darauf eingehe. ({3}) Nehmen Sie doch zur Kenntnis, was in der deutschen Entwicklungspolitik wirklich passiert! Die Schwerpunktsetzung geht völlig an dem vorbei, was in dem von arabischen Wissenschaftlern erstellten Entwicklungsreport dargestellt wurde. Es gibt im BMZ kein aktuelles Konzept für den Nahen und Mittleren Osten. Erst drei Jahre nach dem 11. September wurde heuer ein solches Konzept in Auftrag gegeben. Mit einer falschen Schwerpunktsetzung, einer ungenügenden Koordinierung, einer fehlenden internationalen Arbeitsteilung und einer miserablen Haushalts- und Finanzpolitik haben Sie Ihren eigenen Spielraum für ein strategisches Krisenmanagement und eine strategische Krisenpolitik verspielt. ({4}) Deshalb sollte man hier nicht so große Töne spucken. Natürlich besteht die Politik gegenüber dieser Region nicht nur aus Entwicklungspolitik. Das wurde schon angesprochen. Im Zusammenhang mit dem Nahen und Mittleren Osten stellt der Konflikt zwischen Israel und Palästina das Schlüsselproblem dar. Aber wir wollen auch deutlich machen, dass es uns um ein ehrliches Angebot für eine gemeinsame Suche nach einer friedlichen Kooperation auch in Verantwortung für die kommenden Generationen geht. Ich glaube, dass Deutschland als Bestandteil einer westlichen Gesamtstrategie hinsichtlich dieser Region einen größeren Spielraum hat. Diesen Spielraum sollten wir, diesen Spielraum sollte auch die Bundesregierung stärker nutzen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Außenminister Joseph Fischer das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten sowie über eine neue Partnerschaft sprechen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir es bei diesem Thema mit der zentralen Sicherheitsfrage - vermutlich nicht nur in den kommenden Jahren, sondern Jahrzehnten - für uns Europäer und damit auch für die Bundesrepublik Deutschland zu tun haben. Wenn man zurückblickt, dann erkennt man, dass eines der Probleme vielleicht darin besteht, dass wir alle den Übergang von einem bipolaren System des Kalten Krieges, in dem sich zwei große Weltmächte um einen zentralen Konflikt global gruppiert hatten, hin zu einer völlig veränderten, neuen Weltlage politisch vermutlich nicht in der Radikalität nachvollzogen haben, wie ihn die Realität vorgegeben hat. Dieser Übergangsprozess hat eine Neudefinition der unterschiedlichen Rollen notwendig gemacht, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung des transatlantischen Bündnisses, mit entsprechenden Konsequenzen für die Verantwortung Europas. Ich persönlich möchte anmerken, dass sich die strategischen Herausforderungen, vor denen die Europäer stehen, in den fünfeinhalb Jahren, in denen ich Außenminister bin, ({0}) radikal verändert haben. Nicht umsonst ist Afghanistan hier der Dreh- und Angelpunkt. Die Entwicklung in Afghanistan steht in einem engen Zusammenhang mit dem Niedergang des Sowjetimperiums, zeitlich aber auch in einem engen Zusammenhang mit der damaligen islamischen Revolution unter Chomeini im Iran. Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, haben eine ganz andere Qualität und sind schwerer vermittelbar. Wir haben das gestern in der Kosovodebatte gesehen. Nation Building ist unter den heutigen Bedingungen eine langfristige Aufgabe, bei deren Erfüllung wir ständig mit Rückschlägen rechnen müssen und die unserer - zu Recht - ungeduldigen Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar ist. Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten reden, dann sollten wir wissen, dass der Balkan noch eine vergleichsweise geringe Herausforderung ist. Wenn wir das, was wir sagen, ernst meinen, dann müssen wir uns also auf eine sehr langfristige Perspektive einstellen. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Voraussetzung für den Erfolg sein wird, dass wir Europäer mit unseren amerikanischen Partnern endlich eine strategische Diskussion anstoßen, die Realismus zur Grundlage haben muss. Auf dieser Grundlage müssen wir versuchen, einen neuen Konsens herzustellen. Ob das gelingt, wird die Zukunft zeigen. Ein neuer Konsens ist deswegen notwendig, weil ich glaube, dass weder Europa noch die USA, die letzte Supermacht, allein in der Lage sein werden, die gewaltigen Herausforderungen, die nicht nur auf einer gemeinsamen Bedrohung beruhen, zu meistern. Das ist der Hintergrund. Die Debatte über eine Einigung wird sicherlich sehr schwierig und kompliziert. Frau Merkel, Sie sollten sich ehrlich machen, dass Sie einen Fehler begangen haben. Ich verstehe sogar, welcher Fehler es war. Sie haben die Veränderungen im transatlantischen Verhältnis - bezogen auf den Nahen Osten - unterschätzt. Die Union weiß das heute auch. Journalisten erzählen ja, welche Aussagen hinter verschlossenen Türen tatsächlich gemacht werden. Frau Merkel, Sie sollten sich an diesem Punkt ehrlich machen. Es ist doch völlig klar, dass die entscheidende Frage nicht gewesen ist, ob Europa im Hinblick auf den Irakkrieg zusammenzuhalten gewesen wäre. Ich war doch dabei, als Herr Pflüger in Anwesenheit von Herrn Rumsfeld in München gesagt hat, dass der Brief der Acht ein Brief der Fünfzehn gewesen wäre, wenn Sie die letzte Bundestagswahl gewonnen und die Bundesregierung gestellt hätten. Der Brief der Acht war der Brief derjenigen, die mit den USA in den Irakkrieg gezogen sind. Man sollte hier keine Scheindebatten führen. Nachdem mittlerweile alle Fakten offen liegen, ist offensichtlich, dass die Entscheidung nicht von Europa beeinflusst wurde. Selbst wenn sich Chirac und Schröder mit Blair, Aznar und Berlusconi auf eine gemeinsame Linie geeinigt hätten, hätte sich die US-amerikanische Position nicht verändert. Wir hätten vielleicht noch ein, zwei Monate Zeit gewinnen können, allerdings um den Preis, dann dabei sein zu müssen; das wissen Sie doch auch. Seien Sie an diesem Punkt also ehrlich! ({1}) Wenn umgekehrt Blair, Aznar und Berlusconi an der Seite von Schröder und Chirac geblieben wären, dann hätte es vielleicht - ich sage bewusst: vielleicht - eine inneramerikanische Debatte gegeben. ({2}) - Aber mehr wäre doch nicht möglich gewesen! Ich persönlich habe diese Debatte über Monate auf verschiedenen Außenministertreffen geführt. Wir haben diese Debatte mit der amerikanischen Seite seit meinem Besuch dort am 18./19. September 2001 geführt. Wir wissen heute - die entsprechenden amerikanischen Publikationen liegen vor -, dass alle Entscheidungen schon vorher gefallen sind und dass nicht die Existenz von Massenvernichtungswaffen die entscheidende Frage war, sondern die Auffassung, man könne mit einer militärischen Intervention in dieser Region so etwas wie einen demokratischen Urknall mit einer entsprechenden Dominowirkung herbeiführen. Das hat sich im Lichte der Realität als falsch erwiesen. Ich glaube, die negativen Konsequenzen dessen werden uns noch sehr lange beschäftigen. ({3}) Es ist richtig: Es führt kein Weg an einem partnerschaftlichen Ansatz vorbei. Denn der Kern dessen, was uns in Form von Terrorismus gemeinsam bedroht, ist eine Modernisierungskrise in dieser Region. Was heißt Modernisierungskrise? - Es heißt letztendlich, dass diese Region, gründend auf der eigenen Kultur und religiösen Traditionen, gründend auch auf der eigenen Geschichte, einen eigenen Zugang zur Globalisierung haben muss. Wenn die Globalisierung der ökonomische Basistrend ist, dann stellt sich die Frage: Wird die arabisch-islamische Welt diese Entwicklung als ihre eigene annehmen und sie mit eigenen Beiträgen aktiv mitgestalten oder wird sie sie passiv erleiden und dann versuchen, dagegen, egal in welcher Form, zu rebellieren und zu kämpfen? In diesem Spannungsverhältnis hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges ein neuer Totalitarismus entwickelt. Das ist der al-Qaida-Totalitarismus. Ihn werden wir bekämpfen müssen. Mit ihm wird es keine Verhandlungen geben. Das macht aber nur ein Siebtel des Ganzen aus. Zu sechs Siebteln wird es darum gehen, die Transformationsaufgabe zu begleiten, was ein langfristiger und mühseliger Prozess sein wird. Ich finde, da sind die Europäer hervorragend aufgestellt. Aber wir brauchen auf der anderen Seite auch unsere amerikanischen Partner. Das halte ich ebenfalls für unverzichtbar. Um diese große Aufgabe werden wir nicht herumkommen. Kollege Pflüger, mir ist aufgefallen, dass Sie zu allem etwas gesagt haben, nur zum Zweistromland nicht. ({4}) Ich will gern auf die aktuelle Entwicklung zu sprechen kommen. Ich teile überhaupt nicht, was Kollege Schäuble gestern in einem Interview über die Situation im Irak gesagt hat. In diesem Interview sagte er wieder: Deutsche Truppen sollten dorthin. Kollege Schäuble, ich bin nicht der Meinung, dass westliche Truppen, ob deutsche, ob andere, unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel wenn die UNO oder jemand anders es fordert, im Irak stationiert werden sollten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass westliche Truppen dort, egal unter welchen Bedingungen, angesichts der konkreten historischen Abläufe, die in den letzten Wochen und Monaten hinter uns liegen und die uns noch jetzt bedrängen und bedrücken, aus sich heraus als Besatzer gesehen werden. Insofern sollten wir auch keine Debatte über den Vorschlag führen, die NATO in die Auseinandersetzung dort hineinzuziehen. ({5}) - Nichts Bundeskanzler! Ich rede von dem, was Sie gegenüber der „FAZ“ gestern gesagt haben. Jetzt kommen Sie mir nicht mit dem Bundeskanzler. ({6}) Ich bin froh, dass der Bundeskanzler Gerhard Schröder heißt; ({7}) denn das hat die Politik möglich gemacht, für die wir stehen. Ich rede gerade über den Vorschlag, die NATO jetzt in die Auseinandersetzung im Irak hineinzuziehen. Was könnte die NATO denn mehr leisten als die Koalition? Sie würde weniger leisten. Sie würde aber als Besatzungsmacht gesehen. ({8}) Das heißt - das hat der Bundeskanzler völlig zu Recht gesagt -, die NATO selbst würde gefährdet. Deswegen waren wir von Anfang an äußerst skeptisch. Ich habe das bereits auf der Wehrkundetagung in München klipp und klar ausgedrückt. ({9}) Unsere letzte aktuelle Chance ist Brahimi. Ich erinnere an die Generalversammlung der Vereinten Nationen vor zwei Jahren. Heute sagen auch die regionalen Partner: Das ist das letzte Spiel, das wir haben. Angesichts dessen müssen wir alles tun, damit das ein Erfolg wird. Das setzt voraus, dass wir den Vorschlag von Brahimi tatsächlich umsetzen. Ich hoffe, dass dieser Vorschlag breit fundiert ist und breit getragen wird. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, einen innerirakischen Konsens herzustellen. Das ist nach den Ereignissen dieses Jahres extrem schwierig. Es gibt einen zusätzlichen regionalen Stabilisierungsfaktor: Die Nachbarn haben kein Interesse an einem Auseinanderbrechen des Irak. Wenn wir mit diesen Faktoren in einer vernünftigen Resolution umgehen, um Legitimation zu kreieren, dann könnte es funktionieren. Zum anderen großen Thema, Israel/Palästina. Da geht es nicht um Heiligenscheine oder Ähnliches. Sie können hier lange fordern: Außenminister, mach endlich voran mit der Roadmap! - Sie sind doch viel zu klug und viel zu informiert, Herr Hoyer, um nicht zu wissen: Wenn es so einfach wäre, wären wir schon längst an der Arbeit. Wir haben Rückschläge zu verzeichnen. Es gibt Schwierigkeiten der Konfliktparteien auf beiden Seiten. Wir waren der Meinung, dass der einseitige Rückzug aus Gaza, eingebunden in die Roadmap und entsprechend vernünftig gemacht, ein großer Schritt nach vorn sein könnte, wenn wir gleichzeitig Sicherheit kreieren, wenn wir eine ordentliche Übertragung auf eine palästinensische Autorität hinbekommen, wenn es nicht zu einer Verlagerung der Siedler in die Westbank kommt, wenn dies nicht sozusagen ein „Gaza first and Gaza only“ bedeutet. Sie finden das in der Tullamore-Erklärung der Europäischen Union. Daran führt kein Weg vorbei. Ich bin froh darüber, dass wir hier wieder einen transatlantischen Konsens erreicht haben. Präsident Bush hat den G-8-Außenministern im Weißen Haus vor vierzehn Tagen persönlich gesagt, dass die USA dieselbe Position wie die Europäer und wie das Quartett insgesamt haben. Meines Erachtens wird es jetzt darum gehen, die verschiedenen Elemente zusammenzubringen. Ich sehe da eine Möglichkeit. Aber wie so oft gilt: Hinter der nächsten Ecke kann der nächste Terroranschlag oder die nächste politisch-militärische Aktion lauern, was alles wieder zunichte macht. Irak und Israel/Palästina sind die beiden heißesten Konflikte. Es wird kein Wider-Middle-East-Konzept geben, wenn wir diese Fragen nicht lösen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ja. - Ein letzter Punkt. Ich appelliere nochmals an Sie von der Union: Überdenken Sie Ihre Position zur Türkei! Ich verstehe die Gründe. Es ist nicht so, dass ich die Gründe für irrational halte. Ich verstehe auch die Sorgen. Frau Merkel, ich habe den Eindruck, dass wir alle die Analyse sozusagen vor dem Komma im Wesentlichen teilen. Aber die entscheidende Frage ist nun anders zu bewerten - jetzt, da es Klarheit gibt über die neue Weltordnung und im Lichte ihrer Bedrohung. Die Frage der Modernisierung ist geopolitisch die zentrale Frage im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Aufgrund des Vorlaufs, nämlich der vier Jahrzehnte Vorlauf, wird jede Aussage, mit der der Türkei im kommenden Winter definitiv die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, als ein Nein begriffen werden. Deswegen wird es von entscheidender Bedeutung sein, dass wir eine Entscheidung treffen, die die feste Verankerung der Türkei in Europa, die feste Verankerung in der Moderne - mit moderner Zivilgesellschaft, mit moderner Marktwirtschaft, mit Demokratie und Rechtsstaat - ermöglicht. Das wäre der wirklich strategische Sieg und wäre auch für den Nahen und Mittleren Osten, was den kooperativen Neuansatz betrifft, meines Erachtens von überragender Bedeutung. ({0}) Deswegen appelliere ich noch einmal an die Union - viele von Ihnen wissen doch, dass die Analyse richtig ist; es geht nicht darum, dass ich Recht habe -, in der Türkeifrage im Interesse der gemeinsamen Sicherheit die Position nochmals zu überdenken. Wir können und dürfen der Türkei die Tür nicht vor der Nase zuschlagen, wenn sie auf dem Weg der Modernisierung ist. - Das ist ein weiterer wichtiger Bestandteil. Ich danke. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat davon gesprochen, dass es sich bei den Problemen im Nahen und Mittleren Osten im Kern um eine Modernisierungsproblematik handele und dass in einer Zeit wie der unsrigen die immer schnelleren Veränderungen unterschiedlicher kultureller Zustände und Traditionen und die immer stärkere Wechselbezüglichkeit in der Welt zu diesen ungeheuren Brüchen und Spaltungen führen. Das ist im Übrigen ein Kennzeichen der gesamten Globalisierungsproblematik. Ich vermute, dass dieses im Nahen und Mittleren Osten insbesondere deshalb so deutlich zutage tritt, weil durch das Erdöl, das ja für die Weltwirtschaft seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielt, dieser Prozess der Spaltung der Interessen zusätzlich beschleunigt und vielfältig verschärft wurde. Nun ist in dieser Debatte und in den Anträgen der Fraktionen viel Kluges dazu gesagt worden, wie sich diese Region entwickeln könne und wie wir bei aller Wahrung der Unterschiedlichkeit der Kulturen und Traditionen durch Partnerschaft dabei helfen können, diesen Weg der Modernisierung zu begleiten. Ich vermute übrigens, Herr Weisskirchen, dass sich der Ausspruch von Willy Brandt bezüglich der guten Nachbarn doch eher auf Polen als auf Afghanistan bezog. Wir sollten uns bei der Nachbarschaft nicht übernehmen. Das bringt mich zu einem weiteren Punkt, Herr Kollege Fischer, nämlich zu Ihrer Argumentation bezüglich der Türkei, um das an der Stelle gleich zu sagen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Gnade Ihrer Aufmerksamkeit nur einen Moment schenken wollten. ({0}) - Das ist schön. Ihre Argumentation zur Türkei ist zwar heute nicht das Thema dieser Debatte, aber sie bestärkt mich in meiner Auffassung, dass wir zwei Sachverhalte richtig miteinander verbinden müssen, nämlich die Perspektive der politischen Einigung Europas und das Verhältnis dieses handlungsfähiger werdenden Europas zur Türkei und zur Modernisierung in der islamischen Welt insgesamt. Wir können doch nicht allen Teilen der islamischen Welt in der Hoffnung, dass sie sich in Richtung auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit modernisieren, eine Perspektive auf Aufnahme in die Europäische Union geben. ({1}) - Entschuldigung, können Sie das Argument selber nicht vorher vielleicht einmal prüfen? Das Argument lautete, dass wir die Türkei als Vollmitglied in die Europäische Union aufnehmen müssten, weil wir ein Interesse daran haben, dass sie sich in unserem Sinne entwickelt. Ich glaube, in Bezug auf dieses Ziel ist die privilegierte Partnerschaft die bessere Lösung. Ich möchte aber in der Debatte noch auf etwas anderes hinweisen: Ich glaube, wir sollten darauf achten, dass wir uns in Bezug auf die Problematik im Nahen und Mittleren Osten, die sich für uns ja als furchtbar schwierig darstellt, nicht übernehmen und überheben. In der Debatte wurde gesagt, man könne Demokratie nicht herbeibomben. Das ist die eine Seite der Medaille. Manchmal geht es aber auch nicht ganz ohne militärische Stabilisierung. Auf diese Weise können wenigstens Voraussetzungen geschaffen werden. Überspitzt könnte man sagen: Saddam Hussein hat man auch nicht durch auswärtige Kulturpolitik aus dem Amt gehoben. Vorgestern haben wir ja über den Sudan diskutiert. Nachdem wir noch vor ein paar Monaten gesagt haben, solch eine Katastrophe wie in Ruanda dürfe es nie wieder geben, sind wir nun dabei, im Sudan genauso zu versagen. Erfolge können wir hier nur erzielen, wenn die dort Herrschenden wissen, dass sie notfalls durch militärische Gewalt am Begehen von Verbrechen gehindert werden. Es geht also nicht ganz ohne. ({2}) Gestern haben wir über das Mandat im Kosovo geredet. Es waren der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister, die im Deutschen Bundestag den Antrag eingebracht haben, die militärische Präsenz auf nicht ganz absehbare Zeit fortzusetzen, weil das nötig sei, um friedliche Entwicklung, Modernisierung und Nation Building überhaupt zu ermöglichen. Das eine ist also ohne das andere nie ganz zu machen. Deswegen brauchen wir ein einiges Europa - Deutschland alleine kann nämlich gar nichts bewirken - und deswegen brauchen wir die atlantische Partnerschaft um jeden Preis. Anders als in der Gemeinschaft des Westens sind die Aufgaben überhaupt nicht zu bewältigen. ({3}) - Um jeden Preis, weil anders die Lage im Nahen und Mittleren Osten nicht stabilisiert werden kann. Europa alleine kann das nicht. ({4}) - „Um jeden Preis“ heißt natürlich nicht, Herr Kollege, dass deswegen jedes Vorgehen richtig ist. ({5}) Entweder sind wir verlässliche Partner oder wir sind es nicht. Das heißt, wir kritisieren uns selber und wir kritisieren andere, und was nicht in Ordnung ist, muss in Ordnung gebracht werden. Auf die Fähigkeit der Amerikaner, eigene Fehler zu korrigieren - daran ist schon vom Kollegen Hoyer und von anderen erinnert worden -, kann man mehr vertrauen, als man das in anderen Teilen der Welt kann. Das sollten Sie auch tun. Henry Kissinger ist vor ein paar Wochen gefragt worden, was möglicherweise eine andere Regierung unternehmen würde. Man weiß ja nicht, wie die Wahl ausgeht; man muss die Wahlergebnisse so nehmen, wie sie sind, sie akzeptieren und mit denen leben, die gewählt worden sind. Ich rate dringend dazu, hier nicht den amerikanischen Wahlkampf zu führen, denn das hilft uns auch nicht. Henry Kissinger hat geantwortet, vielleicht würde ein Senator Kerry, wenn er zum Präsidenten gewählt würde, mehr auf die Europäer zugehen, als Präsident George W. Bush es in den zurückliegenden Jahren getan hat. Dann hat er gelächelt und gesagt: Nach ein paar Monaten wäre er genauso enttäuscht. Für uns stellt sich die Frage: Zu welcher Partnerschaft sind wir bereit? Jeder hat gesagt - ich könnte Sie oder den Bundeskanzler zitieren -, dass ein überstürzter Rückzug aus dem Irak das Schlimmste wäre, weil dann mit Sicherheit ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Trotz unserer hehren Anträge hier im Deutschen Bundestag und was immer wir sonst noch machen können, würde dann eine noch schlimmere Katastrophe eintreten. Ein überstürzter Rückzug kommt also nicht infrage. Deswegen muss in dieser schwierigen Lage - die noch schwieriger geworden ist, als sie war; das ist unstreitig, aber die Rechthaberei hat doch keinen Sinn - die Frage gestellt werden: Was können wir Europäer dazu beitragen, dass sich die Situation in eine bessere Richtung entwickelt? Es macht keinen Sinn, auf der einen Seite zu sagen, die UNO müsse eine stärkere Rolle übernehmen, und auf der anderen Seite von vornherein auszuschließen, dass man selbst dabei ist. Es war der deutsche Bundeskanzler, der im Auswärtigen Ausschuss vor ein paar Wochen gesagt hat - Herr Fischer, es tut mir Leid -: Wenn unter der Voraussetzung einer UNO-Resolution ein entsprechendes Ersuchen an die NATO gerichtet wird, wird die Bundesregierung nicht dagegen sein. Dann hat er gesagt: Aber wir beteiligen uns nicht. - Das macht keinen Sinn. Entweder oder! Wir können nicht multilaterale Entscheidungen fordern und gleichzeitig sagen: aber wir nicht. So bekommen wir keine multilateralen Entscheidungen; das ist das Problem. ({6}) Das, Herr Außenminister, war der Fehler, den Ihnen Frau Merkel und wir alle von der Union vor und nach dem Irakkrieg zu Recht vorgehalten haben. Über andere Fragen kann man diskutieren. Ich könnte Ihnen das Interview von gestern ganz vorlesen; es war besser als Ihr Redebeitrag. Der Punkt ist: Wer multilaterale Entscheidungen will, sei es in der UNO, in der Europäischen Union oder in der NATO, darf nicht gleichzeitig sagen: Aber wir beteiligen uns nicht. Denn damit tut man genau das, was die Amerikaner uns vorhalten. Man sollte nicht nur auf die arabische Welt hören, sondern manchmal auch auf die amerikanische. ({7}) Die Amerikaner sagen, dass die Europäer gerne entscheiden würden, was die Amerikaner tun und lassen sollen. Das geht nicht: Wir können nicht entscheiden, was die Amerikaner machen. Wir sollten den Amerikanern, unseren verlässlichsten Freunden und der wichtigsten Führungsmacht, unter deren Fehlern wir genauso leiden wie sie selber, sagen, welchen Beitrag wir zu leisten bereit und in der Lage sind. Anderenfalls werden wir den Trend zu unilateralen Entscheidungen in Amerika nicht schwächen und die Neigung zu multilateralen Entscheidungen nicht stärken. An diesem Punkt sind wir unterschiedlicher Meinung - in der Frage, welches der richtige Weg ist und wie wir es gemeinsam hinbekommen. Wenn wir das gemeinsam machen, sind wir auf dem besseren Weg. ({8}) - So geht es nicht. ({9}) - Ich glaube, Sie werden nichts erreichen. Sie haben mit Ihrer Politik nichts anderes zustande gebracht, als Europa zu spalten. (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie hätten Europa an der Seite Amerikas in den Krieg geführt! Es ist ja nur ein frommer Wunsch, dass Europa einer Meinung ist. ({10}) Ich will gar nicht über die Frage diskutieren, wer Recht gehabt hat. Ich sage nur: Solange Europa gespalten und nicht in der Lage ist, einen Beitrag zu leisten, werden wir nichts bewirken. Wenn Europa das nicht Seite an Seite mit den Vereinigten Staaten von Amerika in einer besseren atlantischen Partnerschaft tut, werden wir im Nahen Osten, im Irak und in der Israel/PalästinaFrage nichts erreichen. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, wenn sich - es gibt gelegentlich auch amerikanische Stimmen, die das fordern - die Europäer mehr darum bemühen, die Palästinenser zu beeinflussen, während die Amerikaner sich mehr um die Israelis bemühen. Das halte ich für grundfalsch. Wir müssen miteinander auf beide Seiten gleichermaßen einwirken. Es darf keine Arbeitsteilung geben. Es darf übrigens auch keine Arbeitsteilung im atlantischen Bündnis in der Form geben, dass die Amerikaner für Hardpower und die Europäer für Softpower stehen. So werden wir beide scheitern und das träfe dann uns alle. ({11}) - Das machen wir doch im Kosovo auch, Herr Kollege. Haben Sie die gestrige Debatte nicht mitbekommen? Es geht doch nicht ohne Hardpower. Auch im Sudan geht es nicht ohne Hardpower. Aber Hardpower allein reicht nicht; auch das ist wahr. Deswegen ist es eine solche Katastrophe, wenn der Westen seinen Führungsanspruch durch eigene Fehler riskiert oder verspielt. Die Sache muss in Ordnung gebracht werden. Beides gehört untrennbar zusammen. Es ist schon bemerkenswert, wie Sie reagieren, wenn gesagt wird, Hardpower und Softpower gehörten zusammen. Auf die richtige Kombination kommt es an. Im Kosovo machen wir es genauso. Ich glaube, dass die Lage viel ernster ist. ({12}) - Herr Kollege, Sie haben sich mit Ihrer Rede so disqualifiziert, dass der Kollege Ruck richtigerweise gesagt hat, es lohne sich nicht, darauf einzugehen. ({13}) Verhalten Sie sich in den verbleibenden zwei Minuten, in denen ich noch rede, ein bisschen still. ({14}) Wir sollten die Schwierigkeit der Lage, in der wir stecken - wir haben sie heute in der Debatte ein wenig kleingeredet -, nicht unterschätzen. Wenn es Brahimi und den Vereinten Nationen nicht gelingt, die atlantische Gemeinschaft und die arabischen Staaten zu überzeugen, dass sie sich im Irak stärker engagieren müssen, dann werden wir einen schweren Rückschlag erleiden. ({15}) - Sie müssen nur ein anderes Gesicht dabei machen. Sie sollten nicht so viel Schadenfreude, sondern mehr Sorge in Ihrem Gesicht ausdrücken. ({16}) Rechthaberei und Schadenfreude nutzen uns in dieser Lage überhaupt nicht. ({17}) Wir werden alle betroffen sein. Es geht uns alle an. ({18}) Es ist schon bemerkenswert, dass wir uns trotz der ruhigen und selbstkritischen Darlegungen in dieser Debatte nicht auf das einigen können, was wir gemeinsam erreichen müssen. Wir dürfen doch nicht aufhören, zu fragen, wie wir es besser machen können. Ich glaube, wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn die westliche Gemeinschaft gemeinsam handelt. Übrigens habe ich nach der Münchener Rede des Außenministers gesagt, dass ich auch Russland und die arabische Welt einbeziehen würde. In diesem Punkt sind wir sprunghaft. Einmal fahren wir an Weihnachten Schlitten, und dann tun wir so, als ob es Russland nicht gäbe. ({19}) - Ja, Russland ist beim Quartett und bei der Roadmap mit dabei. Das muss man aber auch erwähnen. Wir brauchen die Partnerschaft aller. Wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn wir die westliche Gemeinschaft stärken. Das setzt ein einiges Europa und auch ein Europa voraus, das seinen Platz an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika weiß und nicht glaubt, eine Gegenkraft entwickeln zu können. Wenn wir uns nämlich darauf konzentrieren, Gegenkraft zu sein, dann werden wir am Ende nichts bewirken, was den Einfluss auf die amerikanische Politik und auf den Nahen und Mittleren Osten angeht. Nur wenn wir bereit sind, unseren Beitrag zu leisten, werden wir in der Erreichung der Ziele, die wir gemeinsam diskutiert haben, erfolgreich sein. In diesem Sinne müssen wir weiterarbeiten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dietmar Nietan, SPDFraktion.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass die heutige Debatte sehr wichtig ist. Ich sehe sie als Fortsetzung der Debatte an, die wir fast auf den Tag genau vor 15 Wochen, am 13. Februar, hier geDietmar Nietan führt haben, als wir über den gemeinsamen Antrag zur Genfer Friedensinitiative diskutiert haben. Dieser Verantwortung, die uns aus dem gemeinsamen Antrag erwachsen ist, müssen wir gerecht werden. Wir müssen deutlich machen, dass die Antwort auf so wichtige Fragen, bei denen es um die Zukunft von Frieden, Stabilität und Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten geht, gemeinsam und im Konsens gegeben werden sollte. Diese Debatte taugt nicht für parteipolitische Ränkespiele und sie taugt auch nicht dafür, unterschwellig jemandem irgendwelche Schuld in die Schuhe zu schieben. ({0}) Deshalb möchte ich dem verehrten Kollegen Hoyer sagen: Man kann zwar darüber diskutieren, ob das, was wir damals beschlossen haben, zu dünn war. Aber ich glaube, Sie stimmen mit mir darin überein, dass allein die Tatsache, dass es diese Debatte und diesen gemeinsamen Antrag gegeben hat, außerhalb des Bundestages und auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland eine große positive Aufmerksamkeit erzielt hat. Ich würde mir wünschen, dass die Ergebnisse der heutigen Debatte daran anknüpfen. Bei dem einen oder anderen Redebeitrag hatte ich jedoch Zweifel, ob das möglich ist. ({1}) Ich will sehr deutlich sagen, dass es aus meiner Sicht darum geht, ob wir es schaffen, unsere Glaubwürdigkeit in der dortigen Region wiederherzustellen. Ich stelle sehr deutlich fest: Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. Wer glaubt, dass man sich mit einem verschmitzten „Ich habe es ja immer gewusst“ die Hände reiben kann, weil jetzt schlimme Dinge in der US-Armee passiert sind, der täuscht sich. Es geht um die Werte des Westens. Entweder verteidigen wir diese und sind darin gemeinsam glaubwürdig oder wir gehen gemeinsam unter. Das sollte man an dieser Stelle betonen. ({2}) Es ist schon sehr viel zu den Initiativen in dieser Region gesagt worden. Ich möchte auf einen ganz wichtigen Punkt im Krisenherd Naher und Mittlerer Osten, auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina, zurückkommen. Wir haben in der Debatte vor 15 Wochen sehr ausdrücklich die Fortschritte der israelischen Regierung gelobt. Ich selber habe gesagt, dass Ariel Scharon Anerkennung dafür verdient, dass er als erster LikudFührer deutlich für eine Zweistaatenlösung und die Räumung von Siedlungsgebieten eingetreten ist. Ich sage an dieser Stelle aber auch, dass mich das, was sich ungefähr zwei Monate später, am 14. April, in Washington ereignet hat, nämlich der gemeinsame Auftritt von Ariel Scharon und George W. Bush im Weißen Haus vor den Medien, an der einen oder anderen Stelle hat zweifeln lassen, ob ich mein Lob zu früh ausgesprochen habe. ({3}) Ich möchte das begründen, weil ich wirklich große Sorge habe. Nicht das, was in jenem Brief von Präsident Bush steht - wenn man diesen Text liest, stellt man fest, dass darin viele teilweise auch für die Palästinenser bittere Wahrheiten stehen -, sondern die Art und Weise, wie beide vor den Medien aufgetreten sind, dieses Kumpelhafte, dieses Kolportierte - tatsächlich hat Ariel Scharon so lange auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv gesessen, bis er wusste, dass er sich in das Flugzeug setzen kann, weil George W. Bush das, was er möchte, akzeptiert -, diese Begleitumstände und Bilder, die in einer modernen Medienwelt nun einmal entscheidend sind, haben uns - ich betone wieder: uns - in unendlicher Weise Glaubwürdigkeit gekostet. Denn ab diesem Zeitpunkt konnte man zumindest dem amerikanischen Präsidenten - nicht der gesamten Administration; ich denke da an den Außenminister - nicht mehr abnehmen, dass er wirklich ein ehrlicher Makler sein will. An dieser Stelle sind wir als Europäer gefordert, nicht mit dem Zeigefinger und der Haltung, dass wir es besser wissen, aufzutreten. Wir müssen vielmehr den amerikanischen, israelischen und palästinensischen Freunden konkrete Vorschläge anbieten, welchen Beitrag wir leisten wollen und können. Wenn wir das jetzt nicht tun, versagen auch wir. Ich glaube, wir stehen auch wegen des Verhaltens des amerikanischen Präsidenten in einer Pflicht, aus der wir uns nicht herausstehlen sollten. ({4}) Ich stelle aus meiner sehr persönlichen Sicht fest: Europa sollte Ariel Scharon jetzt beim Wort nehmen und sagen: Wenn du dich wirklich aus dem Gazastreifen einseitig zurückziehst, dann muss das in einer Art und Weise geschehen, dass dort kein Chaos ausbricht. ({5}) Es muss deutlich werden: Ariel Scharon verlässt den Gazastreifen, um zu zeigen, dass dies der erste Schritt hin zu einer fairen Zweistaatenlösung ist. ({6}) Das müssen unsere Bedingungen für den Abzug der Israelis sein. Ich sage - nicht ohne würdigen zu wollen, was unser Außenminister dort tut -: Europa insgesamt ist da noch immer zu unkonkret. Wir als Europäer sind an dieser Stelle wirklich gefordert. ({7}) Was kann das aus meiner Sicht konkret heißen? Das kann für mich nur heißen, zu sagen: Im Rahmen der Roadmap kann eine Übergabe des Gazastreifens nicht einseitig und unkontrolliert geschehen. Vielmehr sollten sich die Palästinenser, die Israelis, das Nahostquartett und vielleicht auch die Ägypter als Nachbarn zusammensetzen und gemeinsam einen Plan ausarbeiten, der sicherstellt, dass der Abzug aus dem Gazastreifen Stabilität und nicht Destabilität bewirkt. Dazu müssen wir als Europäer klare und konkrete Vorschläge einbringen. ({8}) Das heißt aber, dass Europa - da sehe ich auch uns als Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht - unterstreichen muss, dass in einem solchen Prozess für uns eines unverrückbar ist: Die Sicherheitsgarantie für Israel als jüdischer Staat ist für Europa oberste Priorität, weil sich Israel auf uns verlassen muss. Das sage ich sehr deutlich; wir hören das auch immer deutlich von unserem Außenminister. Aber viele transatlantisch gelagerte europäische Staaten tun das nicht in dieser Deutlichkeit. Ich würde mir wünschen, dass auch sie das tun. Das würde Israel helfen. ({9}) Genauso muss aber klar sein, dass wir Europäer, wenn es zu diesem Rückzug aus dem Gazastreifen kommt, die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht im Stich lassen. Das heißt für mich - da hat Kollege Hoyer völlig Recht -, bei der Zusammenarbeit mit den Amerikanern darf es kein Spiel - wir machen dies, ihr macht das - geben. Gemeinsam mit den Amerikanern müssen wir, wenn es zum Abzug aus Gaza kommt, viel Geld und humanitäre Hilfe investieren, damit es für die Menschen dort abseits von Terrorismus und Hass eine wirkliche Lebensperspektive gibt, die sie im Moment nicht haben. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber unseren palästinensischen Freunden. An dieser Stelle ist auch Israel gefordert. Denn wir dürfen es nicht durchgehen lassen, dass Israel Gaza isoliert und die wirtschaftliche Entwicklung dort nicht funktioniert, weil es keinen Flughafen oder Hafen gibt, der Außenhandelsbeziehungen zulässt. Wer Frieden will, muss Gaza eine wirkliche Chance geben. Das heißt, dass Israel die Isolation von Gaza nach dem Abzug aufgeben muss. ({10}) Ich glaube, dass diese konkreten Punkte, die wirklich formuliert werden müssten, einen weiteren Aspekt unterstreichen, den ich hier zum Schluss noch einmal darlegen möchte. Die gesamte Greater Middle East Initiative der Amerikaner und auch das, über das wir hier diskutieren, zielen auf einen Dialog, so wie ihn der Außenminister mit seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz am 7. Februar 2004 angestoßen hat. Dieser Dialog bedeutet Internationalisierung, aber auch Regionalisierung. Wenn wir sagen, dass Internationalisierung und Regionalisierung nicht im Sinne von Aufoktroyieren, sondern von Partnerschaft, Dialog und Austausch wichtig sind, dann muss es alle Akteure in der Region einschließen. Das heißt für mich an die Adresse von Israel, dass es auch in Israel ein Umdenken geben muss. Bei allem Verständnis für das, was Israel und das jüdische Volk in seiner Geschichte erlitten haben: Wer sich in Zeiten der Globalisierung einer Internationalisierung verschließt, wer immer noch die Attitüde vor sich herträgt: „Uns hilft sowieso keiner und wir machen alles alleine“, wird scheitern. Deshalb müssen wir deutlich machen: Regionalisierung und Internationalisierung müssen dazu führen, dass sich Israel in einen solchen Prozess konstruktiv einbringt. Daran habe ich bei der derzeitigen Administration meine Zweifel. Das müssen wir ihr auch so deutlich sagen; das gehört dazu. ({11}) Ich hoffe, dass ich mit diesen Ausführungen habe deutlich machen können, dass es durchaus Ansatzpunkte gibt, ein stärkeres europäisches Profil zu entwickeln. Ich will noch einmal unterstreichen: Ich möchte das nicht aus Rechthaberei oder nicht etwa, weil wir sagen: „Jetzt wollen wir einmal zeigen, dass wir es in bestimmten Dingen besser machen können als die Amerikaner“ um Gottes willen. Ich möchte das, weil ich glaube, dass es in Amerika viele Menschen gibt - auch in der amerikanischen Administration; dort sicherlich nicht jeder -, die gerade konkrete Vorschläge der Europäer herbeisehnen und erwarten. Sie sagen: Wir wollen nicht immer nur von Europa kritisiert werden, wir wollen von Europa auch hören, wie sie es machen würden. Nur, wenn man konkrete Vorschläge macht, ist man in Amerika ein ernsthafter Koalitions- und Diskussionspartner. Darum ist es so wichtig, dass wir uns bewegen und konkret sagen, was wir wollen. Das beinhaltet natürlich - das ist dem einen oder anderen vielleicht unangenehm -, dass man, wenn man etwas konkret sagt, es dann am Ende auch tun muss. ({12}) Wir sollten keine Angst vor der eigenen Courage haben, sondern wir sollten konkrete Vorschläge machen, auch wenn man uns dann beim Wort nimmt und sagt: Dann tut es auch. ({13}) Ich möchte zum Abschluss noch einmal betonen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass die heutige Debatte, von einigen Ausreißern abgesehen, gezeigt hat, dass wir sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Ich glaube, dass es uns und den Menschen in der Region helfen kann, wenn wir in dieser Gemeinsamkeit weiter agieren. Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung machen: Ich hätte mich gefreut - aufgrund der vielen guten Dinge, die in allen drei Anträgen stehen -, wenn es uns auch diesmal wieder gelungen wäre, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, und zwar nicht, weil ich die Konsenssoße so liebe, sondern weil das Thema es verlangt. Deshalb hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal, beim dritten Aufschlag zu diesem Thema, mit einem gemeinsamen Antrag und konkreten Vorschlägen zeigen, dass wir als Parlamentarier an dieser Stelle unsere Regierung nicht allein lassen. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Im Antrag von SPD und Grünen steht vieles, was richtig und zu unterstützen ist. Anfangs möchte ich eine Bemerkung zur europäischen Verfassung machen. Sie fordern in Ihrem Antrag die Verabschiedung der europäischen Verfassung. Wir als PDS sind auch der Auffassung, dass wir eine europäische Verfassung brauchen. Die derzeit vorliegende Fassung - ({0}) - Das ist nicht die falsche Debatte. Lesen Sie sich doch den Antrag von SPD und Grünen durch. In Ihrem Antrag steht: eine europäische Verfassung verabschieden, und auf diesen Punkt gehe ich ein. ({1}) Gestatten Sie, dass ich auf Ihren Antrag eingehe. Ich habe ihn gelesen. ({2}) Für die Ablehnung dieser EU-Verfassung gibt es einen schwerwiegenden Grund, nämlich den, dass in dieser Verfassung die Militarisierung der EU festgeschrieben ist. Wir als PDS sind der festen Überzeugung, dass eine Militarisierung der EU nicht dazu beitragen wird, die Konflikte in dieser Welt zu lösen und schon gar nicht die komplizierten Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. ({3}) - Wenn Sie nicht in der Lage sind, einen Gedanken, der über mehr als zwei Sätze geht, nachzuvollziehen, tut es mir Leid für Sie, meine Herren. ({4}) Diese Überzeugung, dass eine Militarisierung der Europäischen Union die Konflikte im Mittleren und Nahen Osten nicht lösen helfen wird, teilen wir als PDS mit sehr vielen Menschen in Europa, in den USA und im Nahen und Mittleren Osten. Die Bush-Regierung hat ja gerade den Beweis erbracht, dass es nicht möglich ist, die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten mit Waffengewalt zu lösen. Im Gegenteil: Der Krieg gegen den Irak hat zu einer dramatischen Eskalation geführt. Kollege Volmer hat heute gesagt: Man kann Demokratie nicht herbeibomben. Das kann ich unterschreiben. Das ist richtig. Ich stelle aber die Gegenfrage: Was war mit Afghanistan und was war mit Kosovo? Wenn Sie - zu Recht - die CDU kritisieren, müssen Sie auch Ihre eigene Rolle hinterfragen, die Sie im Irakkrieg gespielt haben. Es wurde immer erklärt, die Bundesrepublik sei weder direkt noch indirekt am Irakkrieg beteiligt. Die Wahrheit jedoch sieht anders aus. Vor ungefähr einem Jahr fand das 20. deutsch-amerikanische Kongress-Bundestag-Seminar statt. Im Rahmen dieses Seminars gab es ein Frühstück der Seminarteilnehmer mit dem Bundesaußenminister, Herrn Fischer. Der neben mir sitzende demokratische Kongressabgeordnete meldete sich und sagte, er möchte sich bei der Bundesregierung dafür bedanken, dass die Bundesregierung alles getan habe, was die USA erwartet hätten: Gewährung der Überflugrechte, Bewachung der US-Kasernen, Rückführung der Soldaten, Bewachung der Krankenhäuser für amerikanische Soldaten hier in Deutschland. Ich kann mich erinnern - Herr Bundesaußenminister, Sie können sich vielleicht auch erinnern -, dass Sie aufgrund dieser Aussage nicht amüsiert waren, weil Sie in der Öffentlichkeit immer das Gegenteil behauptet haben. ({5}) - Richtig, wo ich Recht habe, habe ich Recht. Da kann auch kaum jemand widersprechen. Wenn Sie von der SPD jetzt mit dem Stichwort „Friedensmacht“ plakatieren, sollten Sie sich daran erinnern, wie Sie sich wirklich verhalten haben und dass die Bundesregierung durch die Gewährung von Überflugrechten indirekt am Irakkrieg beteiligt war. ({6}) In Ihrem Antrag fordern Sie die Zusammenarbeit aller Staaten bei der gemeinsamen Verhinderung und Ahndung „privater“ Gewalt, besonders dann, wenn sie terroristische Mittel anwendet. Das ist eine sehr einseitige Betrachtung dieser Welt. Es geht doch nicht nur um die Verhinderung „privater“ Gewalt. Das ist nur die eine Seite. Es geht vielmehr auch um die Beendigung von staatlicher Gewalt. Wir als PDS lehnen Selbstmordattentate von Palästinensern genauso ab wie die gezielte Tötung von palästinensischen Politikern durch die israelische Regierung. Natürlich wird auch immer mehr US-Bürgern klar, dass die staatliche Gewalt der US-Regierung gegen die irakische Bevölkerung auf immer heftigere irakische Gegengewalt stößt. Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit und in Anbetracht der völlig verfahrenen US-Politik im Nahen und Mittleren Osten wird eine friedliche Lösung der Konflikte unter Schirmherrschaft der UNO immer dringlicher. Die UNO, die USA, die EU und Russland haben im April 2003 die so genannte Roadmap als verbindlichen Weg und Rahmen der Konfliktregelung zwischen Israelis und Palästinensern vorgelegt. Es ist nicht zu akzeptieren, dass die USA diese Roadmap auf eigene Faust verlassen haben. ({7}) Wir erwarten, dass die Bundesregierung alles daransetzt, dass die USA bei dem anstehenden Gipfeltreffen der Staaten der G 8 im Juni dieses Jahres auf den Weg der Roadmap zurückgeholt werden. Abschließend möchte ich betonen, dass alle Sicherheitskonzepte hinfällig sind, wenn es nicht gelingt, dieser Region eine wirtschaftliche Zukunft zu geben. Im Bundestag können beliebig viele Sicherheitsgesetze verabschiedet werden; sie werden unser Leben nicht sicherer machen. Wir werden nur in Ruhe und Frieden leben können, wenn wir endlich bereit sind, mit anderen zu teilen und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaffen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe das Vergnügen, zum Schluss dieser Debatte zu reden und darauf zu achten, möglichst nichts von dem zu wiederholen, was vorher schon Kluges gesagt worden ist. ({0}) Ich möchte sehr gerne auf den Kollegen Nietan zu sprechen kommen, weil ich glaube, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hat, indem er gesagt hat: Wir müssen konkret werden; und wenn wir konkret werden, dann sind wir auch verpflichtet, entsprechend zu handeln. Deswegen finde ich es gut, dass wir heute über die drei vorliegenden Anträge diskutieren und sie im federführenden Ausschuss und in den anderen zuständigen Ausschüssen des Bundestages zu einem Zeitpunkt beraten, da gerade kein Wahlkampf ist. Denn dadurch besteht vielleicht die Chance, das zu schaffen, was Sie, Herr Kollege Nietan, angesprochen haben: in diesem Haus eine gemeinsame Linie zu finden. Ich halte das für sehr schwierig; das will ich gleich vorweg sagen. Aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. Ich halte das zum Beispiel deswegen für schwierig, weil in dem Antrag der Koalition eine Passage über die Türkei steht, die nach meinem Dafürhalten sowohl in sich als auch was das Verhalten der Koalition gegenüber der Türkei angeht, ziemlich widersprüchlich ist, zum Beispiel auf dem Feld der militärischen Zusammenarbeit in der NATO oder bei der Frage, ob man Leute, die aus der Türkei stammen, die bei uns rechtskräftig verurteilt sind und ihre Strafe abgesessen haben, in die Türkei abschieben darf oder nicht, weil die Standards des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs dort nicht eingehalten werden. Hier gibt es ein paar Punkte, bei denen wir möglicherweise nicht übereinkommen. Auf der anderen Seite ist hier im Haus aber übereinstimmend festgestellt worden, dass es eine ganze Reihe von gemeinsamen Auffassungen gibt: Erstens. Die arabischen Länder sind unsere Nachbarn, in geographischer und politischer Hinsicht. Zweitens. Wir müssen mit den arabischen Ländern zusammenarbeiten, weil wir ihnen das auch schon auf andere Weise angeboten haben. Am Barcelona-Prozess zum Beispiel, der initiiert wurde, ist mit Ausnahme der arabischen Halbinsel die gesamte arabische Welt beteiligt. Der Barcelona-Prozess muss fortgesetzt und verifiziert werden. Wir müssen unser Augenmerk aber auch verstärkt darauf richten, was in der arabischen Welt selbst passiert. Wie schon vor 15 Monaten beklage ich heute zum wiederholten Mal, dass der Westen offensichtlich überhaupt nicht bereit ist, den Friedensplan, der vom saudischen Kronprinzen Abdallah stammt und von der Arabischen Liga verabschiedet worden ist, auf den Verhandlungstisch zu legen und mit der arabischen Seite konkret darüber zu verhandeln, welche Teile dieses Friedensplans umsetzbar sind. ({1}) In ihm sind eine ganze Menge Punkte enthalten, die vor zwei Jahren noch völlig undenkbar waren. Darin steht, dass die Sicherheit und Souveränität des Staates Israel anerkannt wird. Die Linie, dass dieser Staat nicht in Frage gestellt werden darf, vertreten wir in diesem ganzen Haus einmütig. Darin steht auch, dass man eine Zone der Sicherheit und des wirtschaftlichen Austausches schaffen will. Warum gehen wir dieses Problem denn nicht anhand dieses Friedensplanes an? Natürlich stellt sich vorher noch die Frage der Vertriebenen; aber in dieser Hinsicht haben wir Deutsche unsere eigenen, speziellen Erfahrungen, die wir auf diesem Gebiet einbringen könnten. Wenn ich mir überlege, was auf der Konferenz von Tunis beschlossen worden ist, ist doch - abgesehen von all dem Streit, der zwischen den arabischen Regierenden geherrscht hat - völlig klar: Man hat sich Begrifflichkeiten angeeignet, die vorher im Sprachgebrauch der arabischen Regierungen und im Sprachgebrauch der Arabischen Liga überhaupt nicht verwendet wurden. Da wird zu einer guten Regierungsführung aufgefordert, da wird aufgefordert, den Kampf gegen die Armut und den Kampf zur Verbesserung der Lage der Frau aufzunehmen. Natürlich sagt man, dass jedes Land diese Dinge nach seinen Möglichkeiten und nach seinem Entwicklungsstand befördern soll; aber all das befindet sich doch auf der Linie, die wir brauchen, damit das, was wir an Zielen und gemeinsamen Interessen in der Region und in der europäisch-arabischen Zusammenarbeit brauchen, ein bisschen konvergiert. Wenn ich die Konferenz von Alexandria vom März dieses Jahres betrachte, muss ich feststellen: Da werden Forderungen nach mehr politischer Pluralität erhoben, nach freier und unabhängiger Presse, nach sofortiger Freilassung von politischen Gefangenen usw.; ich will aus Zeitgründen nicht alles im Detail aufzählen. Das heißt, im Grunde genommen wird die Ebene, auf der man miteinander sprechen und miteinander verhandeln kann, um eine Friedensordnung in dieser Region zu schaffen, immer breiter und immer größer. Nur, wir müssen sie auch nutzen. Ich glaube, der erste Schritt, den wir dafür brauchen, ist, den Versuch zu unternehmen, dass wir uns im Deutschen Bundestag auf eine gemeinsame Linie verständigen, einen Kern gemeinsam herausarbeiten, und das, was uns trennt, einmal liegen lassen. Eines möchte ich auf jeden Fall sagen: Dieses Thema ist von ganz grundlegender Bedeutung für die Sicherheit und die künftige Entwicklung unseres eigenen Landes und Europas. Es eignet sich überhaupt nicht zum Wahlkampf. Wir können an dieses Thema nur ganz ruhig und ganz sachlich und unter Wahrung des Respektes vor dem kulturellen und dem religiösen Hintergrund der anderen Seite herangehen, auf partnerschaftlicher Ebene, so wie der Kollege Pflüger das beschrieben hat. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/3206 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an den Ausschuss für die Angelegen- heiten der Europäischen Union zu überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/3050 und 15/3207 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei- tige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b sowie Zusatzpunkt 12 auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung - Drucksache 15/2998 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen - Drucksache 15/2970 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die europäische Verfassung beschließen - der erweiterten Union ein solides Fundament für die Zukunft geben - Drucksache 15/3208 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Freien Demokraten legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes vor, der den Weg freimachen soll, einen Volksentscheid über die europäische Verfassung zu ermöglichen. ({0}) Wir wollen zu der europäischen Verfassung bzw. zum Verfassungsvertrag Ja sagen und wir hoffen sehr, dass der Europäische Rat in Brüssel, in 14 Tagen, ein Ergebnis zustande bringt, das uns das mit voller Kraft und Überzeugung ermöglicht. ({1}) Wir wollen zu dieser europäischen Verfassung Ja sagen und wir wollen aktiv dafür werben, dass die Bürgerinnen und Bürger sich zu dieser Verfassung bekennen, dass sie in einem Volksentscheid Ja zu ihr sagen. Wir Liberale sind vehemente Verfechter der repräsentativen Demokratie und keineswegs der Auffassung, über alles und jedes - auch im europäischen Kontext müsse eine Volksabstimmung oder ein Volksentscheid stattfinden. Aber wir sind der Auffassung, dass die verfassungsrechtlichen Grundlagen, auf denen das Handeln der Befugten in einer repräsentativen Demokratie beruht, der Legitimation durch das Volk bedürfen. Das Volk sollte deshalb ausdrücklich Ja zu dem sagen, was der Verfassungskonvent vorgelegt hat und was die Regierungskonferenz hoffentlich zu einem guten Ende bringen wird. So hätten wir übrigens auch vorgehen sollen, als es um das Grundgesetz für das vereinte Deutschland ging ({2}) Ich wundere mich über die Argumente, die bisweilen dagegen vorgebracht werden. Ich könnte durchaus auch mit einer europaweiten Entscheidung leben, wenn wir nicht, wie es im gegenwärtigen Stadium leider noch immer der Fall ist, über einen Verfassungsvertrag reden würden, sondern bereits über eine europäische Verfassung, die sich der Souverän, in diesem Fall der gesamteuropäische Souverän, gibt. Wir haben es aber mit der Rechtskonstruktion eines Vertrages zu tun, der zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschlossen wird. Insofern ist es konsequent, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben müssen, über das Ratifikationsverfahren selber zu entscheiden. In vielen europäischen Staaten wird diese Entscheidung dem Volk überlassen. Ich denke, auch die Deutschen sind in der Lage, diese Entscheidung selber zu treffen, und müssen sie nicht dem Parlament alleine überlassen. ({3}) Es überrascht mich, immer wieder hören zu müssen, dass die Gefahr bestehe, dass nicht über das zweifellos komplizierte Regelwerk abgestimmt werde, sondern über Einzelfragen, die so hochgepusht würden, dass im Endeffekt das Gesamtwerk aus dem Auge verloren würde. Dieses Argument kann ich nicht ganz verstehen. Warum sollten wir, die wir von diesem Verfassungswerk überzeugt sind, nicht mit voller Überzeugungskraft vor die Wählerinnen und Wähler treten und die gesellschaftlichen Eliten dieses Landes in Wissenschaft, Kultur, Kirchen, Gewerkschaften usw. mobilisieren können, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg ist? Ich verstehe nicht, dass wir uns dann, wenn am Ende 99 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages diesem Verfassungsprojekt ihre Zustimmung geben werden, selber nicht zutrauen, 50,1 Prozent der Bevölkerung davon zu überzeugen. ({4}) Das sieht für mich sehr danach aus, dass man Angst vor dem Volk hat. Diesen Vorwurf sollten wir uns nicht machen lassen. Meine Damen und Herren, die Europäische Union ist in einer ausgesprochen schwierigen Situation. Der Verfassungsvertrag ist noch nicht unter Dach und Fach. Manche werden nach dem Ende der Konventsarbeit Illusionen gehabt haben. Natürlich hätte jeder von uns diesen Verfassungsvertrag anders ausgestaltet, da jeder die Sicht seiner Partei und seiner Nation vertritt. Wenn 200 Liberale zusammengesessen hätten, dann hätte der Text anders ausgesehen. Das kann ich Ihnen garantieren. ({5}) Aber es ist ein Kompromiss zustande gekommen, den ich für sehr bemerkenswert halte. Ich kann den Teilnehmern des Konventes für das, was sie geleistet haben, nur danken. Das, was zustande gekommen ist, nachdem die Ausarbeitung des Textes wieder in der Hand der Regierungskonferenz gelegt worden ist, hat das Gesamtwerk nicht unbedingt verbessert. Eine Ausnahme nenne ich ausdrücklich: Ich finde es hervorragend, dass endlich das Ziel der Preisniveaustabilität im Zielkatalog aufgeführt wird. ({6}) Ich glaube, dass es angesichts des katastrophalen Verhaltens der Bundesregierung in Hinblick auf den Stabilitätspakt genau die richtige Botschaft ist, die Ziele um das Ziel der Preisniveaustabilität zu ergänzen. ({7}) Das Übrige erfreut mich nicht. Ich mache mir Sorgen, was beim Endspurt auf den letzten Metern vor dem Europäischen Rat in Brüssel noch passieren wird. Die Iren haben sehr mutige Vorschläge gemacht. Ich bin überhaupt der Auffassung, dass sie sich in ihrer Präsidentschaft mutig und leistungsfähig zeigen. ({8}) Ich hätte mir gewünscht, wenn man mit großer Mehrheit den Vorschlägen der irischen Präsidentschaft gefolgt wäre, was das endgültige Entscheidungsrecht des Parlaments bei der Ausgabenseite des Haushalts angeht. Ich hätte mir auch gewünscht, wenn wir das Thema der doppelten Mehrheit so erklären könnten - bei uns zu Hause, aber auch bei unseren Partnern, die sich dagegen noch sperren -, dass klar wird, dass es sich nicht um etwas rein Technisches handelt, sondern dass das eine Frage der demokratischen Legitimation europäischen Handelns ist. Es ist doch ein unbefriedigender Zustand, dass, wenn die Europäische Union heute einen Aufnahmeantrag bei sich selber stellen würde, sie wahrscheinlich aufgrund von Legitimationsdefiziten und Demokratiedefiziten nicht aufgenommen würde. Wir hoffen, dass das Verfassungswerk zum Erfolg geführt werden wird. Wir wollen Ja dazu sagen. Wir wollen die Bevölkerung davon überzeugen, dass das ein guter Weg für Europa in Frieden, Freiheit, Wohlstand und Rechtstaatlichkeit ist. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hoyer, leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie heute wieder mit einem alten Hut gekommen sind; denn schon 2003 ist dieser Antrag der FDP - ich meine: zu Recht mit einer ganz breiten Mehrheit hier im Hause abgelehnt worden. ({0}) Dass Sie diesen alten Hut jetzt wieder herausziehen und erneut aufsetzen, geschieht offenbar nicht nur wegen des Diskussionsprozesses um die europäische Verfassung, sondern höchstwahrscheinlich auch vor dem Hintergrund der jetzt anstehenden Europawahl, bei der Sie versuchen, sich mit einem Thema zu profilieren. Anders kann ich das hier nicht einordnen. Über die Verfassung als solche und ihre Bedeutung - das haben Sie richtigerweise gesagt - besteht kein grundsätzlicher Streit. Ich halte es aber für verfehlt, das Volk über einen einzelnen - zweifellos bedeutsamen Punkt der europäischen Politik gesondert abstimmen zu lassen; denn vom Prinzip her kennen wir das von anderen bedeutsamen Punkten der europäischen Politik ganz genauso, ob das nun die Römischen Verträge, die Einführung des Euro oder auch die Osterweiterung waren. Warum soll das also jetzt hier bei diesem einen Punkt geschehen? ({1}) Ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit übrigens sagen: Ihr Antrag enthält auch ein paar kleine handwerkliche Fehler. Sie schreiben nicht von „dem“ Volksentscheid, nämlich dem einzigen, den es zur Verfassung geben soll, sondern von „einem“ Volksentscheid, den der Deutsche Bundestag beschließen soll. Das klingt ja fast so, als ob Sie im Bundestag so lange Volksentscheide beschließen lassen wollen, bis das Ergebnis bezüglich der europäischen Verfassung mit dem übereinstimmt, was Sie persönlich wollen. Im Übrigen enthält Ihr Gesetzentwurf auch keine Antwort auf folgende, wie ich finde, ganz spannende Frage: ({2}) Was passiert denn eigentlich, wenn das Volk anders als der Bundestag und der Bundesrat entscheidet? Wie ist eine solche Kollision im Ergebnis aufzulösen? Dazu enthält Ihr Gesetzentwurf keinerlei Normen. Da ist unser Gesetzentwurf aus der letzten Legislaturperiode schon wesentlich besser; er ist entsprechend gestaffelt. Wir sehen für viele Gegenstände die Volksinitiative und dann gegebenenfalls das Volksbegehren und den Volksentscheid mit entsprechenden Quoren vor. Von daher wollen wir dem Volk selbst die Initiative überlassen, als Souverän tätig zu werden. Wir wollen ihm nicht sagen, dass es bei einem Gegenstand, den wir festgelegt haben, jetzt freundlicherweise mitbestimmen darf. ({3}) Unser Gesetzentwurf und seine Beratung haben beim letzten Mal Folgendes deutlich gezeigt: Wir müssen sorgfältig überlegen, wie die Gegenstände der Volksabstimmungen von den ureigensten Angelegenheiten der Staatsorgane abgegrenzt werden sollen. Welche Voraussetzungen müssen Volksinitiativen erfüllen, damit ihnen das notwendige politische Gewicht zukommt? Welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen, um etwa eine Änderung des Grundgesetzes zu bewirken? Welche Beteiligungs- und Zustimmungsquoren sind angemessen und notwendig? Schließlich stellt sich vor allen Dingen die Frage, wie bei Änderungen des Grundgesetzes und bei Änderungen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, zu verfahren ist. Wir haben in unserem Gesetzentwurf der letzten Legislaturperiode, der hier leider nicht mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit versehen wurde, entsprechende Regelungen getroffen. Herr Hoyer, Sie selbst und Ihre Fraktionskollegen haben in der letzten Wahlperiode noch deutlich Sympathie für unseren Gesetzentwurf gezeigt. Sie haben sogar gesagt, dass Sie die Eigeninitiative des Volkes für richtig halten, und versucht - lobenswert, wie ich finde -, diesem Gesetzentwurf der Koalition mit einem Änderungsantrag zu einer Zweidrittelmehrheit hier im Haus zu verhelfen. Leider hat das nicht geklappt. Ich finde es eigenartig, dass Sie von dieser Position jetzt ohne zwingenden Grund abrücken. Eingangs meiner Ausführungen habe ich es schon gesagt: Man merkt die Absicht und vielleicht ist man auch ein wenig verstimmt. ({4}) Jedenfalls ist Ihr Antrag hier und heute abzulehnen. Nun beschäftigen sich also auch die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihren Anträgen mit der europäischen Verfassung. Bei allem Konsens, den Sie als erster Redner hier richtigerweise beschworen und von dem wir auch im Tagesordnungspunkt zuvor gehört haben, gibt es natürlich schon ein paar unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ich nennen: Sie von der CDU/CSU haben offenbar noch nicht gemerkt, dass die Verankerung der Preisstabilität ebenso wie die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank im Prinzip schon Bestandteile der Verfassung sind. Ich will Ihnen aber auch sagen, wo ich persönlich von Ihren Einschätzungen durchaus abweiche: Ich habe keine nennenswerte Sympathie dafür, noch einen gesonderten Gottesbezug oder einen besonderen Bezug auf das christliche Erbe Europas mit in die Präambel aufzunehmen. Ich halte es für richtig, in dieser Verfassung auf die kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas zu verweisen. Dies aber enthält der Präambelentwurf richtigerweise schon jetzt. Ich komme noch zu einem anderen Punkt, in dem wir uns sicherlich unterscheiden: Sie wollen für die Türkei nur noch eine Art privilegierte Partnerschaft. Dabei machen Sie sich noch nicht einmal die Mühe, in Ihrem Antrag näher zu konkretisieren, was Sie letztendlich für die Türkei darunter verstehen. Auf eine ernsthafte Auseinandersetzung kommt es Ihnen an dieser Stelle offenbar nicht so sehr an. Ich glaube, auch Sie haben den 13. Juni dieses Jahres im Auge. Dabei vergessen Sie ganz, dass der Amtsvorgänger von Bundeskanzler Schröder - dieser hat es schon mehrfach zitiert -, also Helmut Kohl, dem Ministerpräsidenten Yilmaz bei seinem Besuch im September 1997 in Deutschland erklärt hat, er, Helmut Kohl, unterstütze das Ziel einer späteren EU-Mitgliedschaft der Türkei. Daran scheinen sich aber heute in Ihren Reihen nur noch die Kollegen Volker Rühe und Ruprecht Polenz zu erinnern. Mit Ihrer Forderung nach einer lediglich privilegierten Partnerschaft verlassen Sie also die eigenen früheren und besseren Positionen. ({5}) Für uns, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/ Die Grünen und SPD, steht hier und jetzt eine definitive und endgültige Festlegung in der Frage des EU-Beitritts der Türkei nicht zur Debatte. Die Zeit ist dafür noch nicht reif. Alle politisch Handelnden sollten sich aber ihrer Verantwortung bei diesem schwierigen Thema bewusst sein. Während Sie leichtfertig - ich glaube, das ist Ihr Versuch - vor dem Hintergrund des Wahltermins die Ängste der Bevölkerung ein Stück weit instrumentalisieren, ist unsere Position und die der Bundesregierung zum Türkeibeitritt bekannt: Wir wollen im Ergebnis einer langen Reihe von Entscheidungen der EU-Staatsund Regierungschefs, die wir mitgetragen haben, in Übereinstimmung mit dem Europäischen Rat in Kopenhagen vom Dezember 2002 wie folgt verfahren - ich zitiere -: Entscheidet der Europäische Rat im Dezember 2004 auf der Grundlage eines Berichts und einer Empfehlung der Kommission, dass die Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt, so wird die Europäische Union die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ohne Verzug - ich wiederhole: ohne Verzug eröffnen. Wir jedenfalls sind uns dieser Verantwortung bewusst und werden zu gegebener Zeit unsere Entscheidungen verantwortungsvoll treffen. Soweit Sie als CDU/CSU noch darauf verweisen, dass der Bundestag vor wie auch immer gearteten Verhandlungen und Zusagen der Regierung im Rat damit befasst werden soll, läuft das im Ergebnis auf eine Art imperatives Mandat für die Bundesregierung hinaus. Das ist uns fremd. Wir lehnen dies ab. Wir halten es sehr wohl für vorstellbar, ja sogar für wünschenswert, dass wir bei der Frage der Beteiligung der nationalen Parlamente und damit auch unseres Bundestages im Kontext der europäischen Willensbildung zu vielleicht effektiveren und besseren Formen kommen. Ich hoffe und erwarte, dass mein Kollege Michael Roth zu diesem Punkt noch einige Ausführungen machen wird. Wir jedenfalls sehen ähnlich wie andere, die hier schon gesprochen haben, in den derzeit laufenden Verhandlungen die Sorge begründet, am Ende könnte der Verfassungsentwurf hinter den Ursprungstext zurückfallen. Dies wollen wir nicht. Wir wollen keinen Rückschritt in dieser Verfassung und im Hinblick auf die Ergebnisse des Konvents. Das gilt auch und gerade im Bereich der Innen- und Justizpolitik. Wir also wollen keine Rückschritte, sondern eine zügige Ratifizierung, und zwar hier in Bundestag und Bundesrat, weil Deutschland ein überragendes Interesse an einer erweiterten und gestärkten Europäischen Union hat. Hierzu bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit an. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute debattieren wir darüber, ob in Deutschland ein Referendum über die künftige europäische Verfassung abgehalten werden soll. Die von der FDP vorgeschlagene Grundgesetzänderung ist ein Irrweg. Wenn wir diesen Irrweg beschreiten, gehen wir ein dreifaches Risiko ein. Erstens provoziert ein Referendum das Missverständnis, dass die europäische Verfassung unser Grundgesetz ablösen würde. Zweitens gaukelt ein solches Referendum eine Ja-Nein-Alternative vor, die es de facto nicht gibt. Drittens bietet ein Referendum eine Bühne für Stimmungsmache und für all diejenigen, die ihren Zorn über die Regierung an Europa ablassen würden. Deshalb soll es nach unserer Auffassung bei den Regeln des Grundgesetzes bleiben. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, als sie sich für die repräsentative Demokratie entschieden haben. Sie wollten eben solche hoch komplexen Materien nicht Augenblicksstimmungen ausliefern, sondern der Verantwortung der Parlamente. Wir wollen diese Verantwortung wahrnehmen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher? ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hintze, Sie sagen, es sei der Bevölkerung nicht zuzumuten, eine Ja-Nein-Alternative vorgesetzt zu bekommen und darüber abzustimmen. Stimmen Sie mit mir überein, dass wir im Parlament genau dasselbe machen werden? Wir werden mit Ja oder Nein abstimmen. Wir haben keinerlei Änderungsmöglichkeiten. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bevor Sie über die Zielrichtung von Schüssen sprechen, lauschen Sie meiner Antwort! ({0}) Ich habe eben Kollegen Hoyer zugehört. Ich habe heute Morgen Herrn Kollegen Westerwelle im Deutschlandfunk zugehört. Beide haben erklärt, dass dieses Parlament ihrer Einschätzung nach mit über 90-prozentiger Mehrheit die Verfassung tragen und sie auch der Bevölkerung vermitteln wird. Also auch Sie sind der Auffassung, dass es für uns Deutsche in der Europäischen Union nur ein Ja gibt und dass ein Nein uns zurückwirft. Dem Volk aber eine Frage vorzulegen, auf die es praktisch nur ein Ja gibt, ist nicht ganz in Ordnung. Oder wir machen es wie die Iren, die dem Volk die Frage so lange vorlegen, bis es sie so beantwortet, wie es die Mehrheit im Parlament will. Ich finde, dass die Volksabstimmung dafür ein höchst untaugliches Instrument ist, lieber Herr Kollege Burgbacher. ({1}) - Darauf komme ich gleich. - Bei einem Referendum würde über alles Mögliche abgestimmt, über Gerhard Schröder, über die Maut, über die Ölpreise, nur nicht über die Zukunft der Europäischen Union. Das Problem von Volksabstimmungen ist, dass das Volk regelmäßig über Fragen abstimmt, die nicht gestellt wurden. Sie wissen das ganz genau. Es ist eine Absurdität der Demokratie, wenn wir für Europa werben und die europäische Verfassung durchsetzen wollen, dann aber zusätzliche Hürden auf dem Weg zu ihrer Realisierung errichten. Das ist ein Paradox. Nun hat die FDP - das ist heute in der Vorstellung nicht dargelegt worden - versucht, Parlament und Volk dadurch zu versöhnen, dass sie die Idee einer additiven Volksabstimmung geschaffen hat. Das Volk soll mit 25-prozentiger Mehrheit zustimmen und dann soll auch noch die Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates mit Zweidrittelmehrheit erforderlich sein. Das ist zwar ein ganz sympathischer Versuch, den Tücken der Frage nach repräsentativer Demokratie oder emotionaler Demokratie zu entgehen, aber ich fürchte, der Versuch ist verfehlt. Herr Westerwelle hat heute Morgen im Rundfunk gefragt, ob wir uns das nicht zutrauen. Natürlich trauen wir uns das zu. Aber wenn wir als Souverän der Überzeugung sind, dass eine Sache richtig ist, dann sollten wir uns auch zutrauen, die Verantwortung dafür selbst zu tragen. ({2}) Was erleben wir in England? Tony Blair hat gesagt, das englische Volk solle abstimmen, und zwar nach den Wahlen zum Unterhaus. Er will die Frage an das Volk über seine Führungsverantwortung von einer politischinhaltlich hoch wichtigen Frage trennen. Wir sind der Auffassung, dass dieses Wegschieben von Verantwortung nicht in unserem Grundgesetz angelegt ist. Wir sollten es bei den bewährten Regeln unseres Grundgesetzes belassen ({3}) und die Verantwortung dafür übernehmen. ({4}) Wir haben heute Morgen über Antiterrorstrategien im Mittleren Osten gesprochen. Jetzt sprechen wir über die Stärkung Europas und darüber, wie wir die Menschen mehr beteiligen und ihre Empfindungen besser aufnehmen können. Ich glaube, vieles davon bleibt unglaubwürdig, wenn wir heute nicht auch ein Wort zu den Vorgängen sagen, die uns und alle Menschen in Deutschland spätestens seit gestern massiv beschäftigen. Der Rechtsstaat in Deutschland ist auf dem allerbesten Wege, sich lächerlich zu machen. ({5}) Wenn ein Top-Gefährder wie Metin Kaplan mit Polizei und Verfassungsschutz Katz und Maus spielen kann, ({6}) dann zeigt das nur, wie wichtig und richtig unsere Forderung ist, dass für solche Personen die Idee der Sicherungshaft verwirklicht wird, wie sie der Bundesinnenminister dankenswerterweise vorgeschlagen hat. ({7}) Denn dann wäre ein solches Katz-und-Maus-Spiel nicht mehr möglich. ({8}) - Zu den Zwischenrufen unserer grünen Kollegen möchte ich anmerken: Dass es dem Bundesinnenminister mit unserer Hilfe gelungen ist, die Grünen beim Zuwanderungsgesetz sozusagen von der Werkbank zu verbannen, ist immerhin ein Beitrag zu mehr Sicherheit in Deutschland. Jetzt müssen wir das Zuwanderungsgesetz noch in eine vernünftige Form gießen. Aber eines müssen die Menschen im Lande wissen: Völlige Sicherheit gibt es nur, wenn solche Kräfte die Mehrheit in diesem Hause stellen und in die Regierungsverantwortung kommen, ({9}) die das tun, was jeder sittlich empfindende Mensch als richtig ansieht. ({10}) - Das ist ein wichtiger Beitrag, Frau Sonntag. ({11}) Es ist schlimm, wenn heute der Bundestag tagt, aber über dieses Thema nicht gesprochen werden soll. ({12}) Die Menschen sind darüber empört, dass der selbst ernannte Führer des Kalifatstaats, der rechtskräftig verurteilt wurde und mehrere Jahre bei uns im Gefängnis saß, nicht festgesetzt und abgeschoben werden kann. Denn das wollen die Menschen und das entspricht dem Geiste unseres Grundgesetzes. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. ({0}) - Darf ich den Zwischenruf kurz beantworten?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, zunächst hat der Kollege Niebel für seine Zwischenfrage das Wort.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gut.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Hintze, können Sie mir erklären, was Metin Kaplan mit dem Antrag der FDP-Fraktion zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung zu tun hat? ({0}) Das ist mir nicht erklärlich. ({1})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will Ihnen das gerne erklären, lieber Kollege Niebel. Die FDP begründet den Antrag damit, dass sie eine wichtige Forderung der Menschen im Lande aufnimmt. Es ist übrigens sehr interessant, dass die Koalitionsparteien das zwar immer wieder gefordert haben, aber dann, wenn es konkret wird, dem FDP-Antrag nicht zustimmen. Aber das ist ein anderes Thema. Ich glaube, dass der Unmut der Menschen über die Politik und über uns als Verantwortungsträger wächst, wenn wir nicht bereit sind, solchen Skandalen ein Ende zu bereiten und unserer Polizei und unserem Verfassungsschutz solche Blamagen zu ersparen, indem wir eine Rechtsordnung entwickeln, nach der so etwas nicht möglich ist bzw. unterbunden wird. ({0}) - Das ist eine interessante Frage. Eine Kollegin aus der SPD-Fraktion hat gerade in einem Zwischenruf gefragt, ob ich möchte, dass das in die EU-Verfassung aufgenommen wird. Das ist eine sehr gute Frage, die ich wie folgt beantworten will: Ich setze in der Tat die Hoffnung darauf, dass aufgrund der Tatsache, dass europäisches Recht Vorrang vor nationalem Recht hat, in Europa im Umgang mit Terroristen und Gefährdern ein Recht geschaffen wird, das Europa zu einer großen Sicherheitsgemeinschaft werden lässt und das solchen Tätern und Gefährdern in Deutschland und Europa keine Chance bietet. ({1}) In wenigen Tagen wird sich erweisen, ob die Regierungen in Europa die Kraft haben, mit der Verfassung den Weg zu mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in Europa zu ebnen. Als auf dem Europäischen Rat von Nizza die lange Nacht der faulen Kompromisse zu Ende ging, waren wir uns einig: nie wieder Nizza! ({2}) Allerdings glaube ich, Herr Bundesaußenminister - Sie werden im Moment durch die grüne Fraktionsvorsitzende etwas an der Mitberatung gehindert -, dass es Europa und auch Deutschland gut täte, wenn die Bundesregierung zu der Mittlerrolle zurückfinden würde, die sie früher in Europa eingenommen hat. Es mag zwar bequem sein, zusammen mit England und Frankreich eine Art Direktorat zu bilden, aber es wird nicht funktionieren. Wenn Deutschland als Motor eines Direktorats agiert, dann bedeutet das das Ende der Veranstaltung. Was wir brauchen, ist ein faires Miteinander von Kleinen und Großen, wie es einst langjährige Praxis war. ({3}) Ich meine übrigens, dass die Politik der Bundesregierung in der Zwischenphase nach der italienischen Präsidentschaft und vor dem Versuch der irischen Präsidentschaft, eine Lösung zu finden, auch dazu geführt hat, dass wir uns ziemlich festgefahren haben. Unsere Hoffnung ist, dass wir ein Stück weiterkommen werden. Es ist sehr erfreulich - Herr Kollege Hoyer hat das schon angesprochen -, dass sich gegen die Mehrheit in diesem Hause bei der Mehrheit in Europa durchgesetzt hat, dass die Preisstabilität nicht nur eine einzelne Aufgabe der Europäischen Zentralbank sein darf, sondern auch eines der Ziele der Europäischen Union sein muss, dem sich alle Politiken unterzuordnen haben; ({4}) denn Wachstum ohne Preisstabilität führt auf direktem Wege in den wirtschaftlichen Abgrund. ({5}) Wir freuen uns, dass dies nun in der zukünftigen europäischen Verfassung verankert wird. ({6}) - Herr Roth, Sie sollten nicht dazwischenbrüllen. ({7}) - Weil ich mich gegen die Zwischenrufe akustisch durchsetzen muss! Ich komme nun auf etwas zu sprechen, das uns sehr am Herzen liegt. Sie haben in diesem Haus oft und wortreich dargelegt, dies sei überflüssig. Das ist die Haltung einer Regierung, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt zum dritten Mal in Folge bricht. Sie bringen uns herunter. Sie sind dafür verantwortlich, dass das Wachstum in Deutschland unter dem EU-Durchschnitt liegt. Sie haben die Verschuldung auf die Spitze getrieben. Sie wollen die Preisstabilität opfern. Ihre Politik darf sich auf europäischer Ebene nicht fortsetzen. ({8}) Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Türkei sagen. ({9}) Wir haben von dem Spitzenkandidaten der SPD im Europawahlkampf, Herrn Vural Öger, Interessantes über die Türkeipolitik gehört. ({10}) Wir wissen jetzt, warum der Bundeskanzler Herrn Öger an so prominenter Stelle auf der Wahlliste platziert hat. Herr Öger hat sich - gemäß seinen eigenen Ausführungen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - ausgelassen, dass das, was mit der türkischen Belagerung Wiens nicht geschafft worden sei, heute unsere geburtenfreudigen Türkinnen in der Bundesrepublik erreichen könnten. ({11}) - Frau Kollegin Schwall-Düren, Sie haben wieder dazwischengeschrien, bevor Sie zugehört haben. Ich habe die Aussagen von Herrn Öger aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert, mit denen er versucht hat, die Zitate in „Hürriyet“ zu korrigieren. Die Korrektur sollten Sie lesen; denn sie ist zumindest genauso interessant wie das Zitat in „Hürriyet“. Die Auffassung, die Herr Öger vertritt, mag vielleicht die neue frauenpolitische Linie der SPD sein. Unserer Auffassung von westlicher Kultur entspricht sie jedenfalls nicht. ({12}) - Entschuldigung, ich habe das im Original zitiert. Dass Originalzitate Ihres eigenen Spitzenkandidaten Sie in Unruhe versetzen, kann ich verstehen. Die „Frankfurter Rundschau“ hat berichtet, die SPDFührung habe verfügt, dass er von nun an für immer seinen Mund halten solle. Ich bin ja froh, dass er gesprochen hat; denn so wissen wir, welches Denken Sie repräsentieren und was auf uns zukommt. Wir sind aufgefordert worden, die Türkeifrage im Europawahlkampf nicht anzusprechen. Wir weisen diese Aufforderung liebevoll zurück. Alle wichtigen Fragen gehören in den Wahlkampf. Wohin denn sonst? Wir müssen auch die Türkeifrage ansprechen; denn sie ist für Europa und insbesondere für Deutschland eine Schicksalsfrage. Sie haben eine andere Auffassung als wir. Die Wähler sollen das ruhig wissen; denn sie müssen sich entscheiden. Ich bin ziemlich sicher, dass sie sich richtig entscheiden werden. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Jetzt gratuliere ich recht herzlich unserem Kollegen Burgbacher zu seinem heutigen 55. Geburtstag. Alles Gute! ({0}) Das Wort hat die Kollegin Anna Lührmann, Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Hintze, ich bin mir sicher, dass sich die Wählerinnen und Wähler am 13. Juni richtig entscheiden werden ({0}) und dass sie sich nicht für die CDU/CSU entscheiden werden, wenn ihnen Europa am Herzen liegt. ({1}) Denn Sie haben uns eben noch einmal demonstriert, wie der Europawahlkampf der Union aussieht. Er hat genauso wenig etwas mit Europapolitik zu tun wie Ihre Rede. ({2}) Aus innenpolitischem Kalkül haben Sie die Themen „Zuwanderung“, „Kaplan“ und „Türkei“ angesprochen. Für mich ist das, was Sie sagen, unverantwortlicher Populismus. Sie schüren Ängste vor Europa, anstatt aufzuklären und die Menschen auf dem Weg nach Europa mitzunehmen. ({3}) Ich will jetzt zum Thema kommen, zur europäischen Verfassung. Bei diesem Thema ist meiner Meinung nach ein weiteres wichtiges Etappenziel erreicht; denn nach dem Treffen der Außenminister am vergangenen Montag ist die EU ihrer neuen Verfassung wieder ein gutes Stück näher gekommen. Heute erscheint eine Einigung auf dem Gipfel im Juni wieder viel wahrscheinlicher. Das sind gute Aussichten; denn noch am Anfang dieses Jahres hätte ich darauf kaum eine größere Summe verwettet. Doch seit dem Dezembergipfel ging es immer wieder voran, und das nicht zuletzt, weil viele Regierungen, wie die deutsche Bundesregierung, nie einen Zweifel daran gelassen haben, dass sie genau diese Verfassung wollen. Ich habe also vor, bei diesem Thema optimistisch zu bleiben. Dieser Optimismus scheint heute mehr denn je berechtigt. Die schwierigen Verhandlungen zeigen jetzt noch einmal ganz deutlich, dass die Bundesregierung gut daran getan hat, auf dem Ergebnis des Konvents zu bestehen und die Verhandlungen mit Änderungsanträgen nicht noch weiter zu erschweren; denn das Auf und Ab dieser Regierungskonferenz macht doch wieder eines ganz klar: Es ist dem Konvent in 16 Monaten sehr harter Arbeit vorbildlich gelungen, gute Kompromisse in den heiklen Fragen zu finden. Die Diskussionen über Änderungsanträge in der Regierungskonferenz zeigen nämlich immer wieder, dass es kaum gelingt, andere, geschweige denn bessere Formulierungen als die zu finden, die der Konvent selber erarbeitet hat. Aus dieser Erfahrung sollten die Regierungen klug werden. So könnte man sich nämlich viele quälende Nachtsitzungen ersparen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen - ich weiß nicht, wie es Ihnen ging -, am letzten Freitag haben mich die Verhandlungen im Kreise der Außenminister ziemlich empört. Da kamen die einen und die anderen immer wieder mit ihren alten Forderungen, also mit alten Hüten, daher, die eigentlich schon längst ad acta gelegt worden sind. Dadurch wurde nicht nur eine Einigung erschwert; vielmehr war meiner Meinung nach auch der Inhalt der Änderungswünsche kontraproduktiv. Während der Regierungskonferenz wurden nämlich fast nur Änderungen vorgeschlagen, die ich als Proeuropäerin nur als eindeutige Rückschritte bezeichnen kann. Fundamentale Fehlgriffe waren etwa die Bestrebungen, die Befugnisse des Europaparlaments wieder zu beschränken. Die Rechte des Parlaments im Haushaltsverfahren sollten sogar hinter den Status quo zurückgedreht werden. Es gab auch den Vorschlag, die Charta der Grundrechte, den zweiten Teil der Verfassung, durch ein Zusatzprotokoll in seiner Wirkung zu beschränken. Wir reden hier also nicht über Peanuts, sondern über fundamentale Grundrechte und über das zentrale Organ der repräsentativen Demokratie in der EU. Nach dem Treffen am Montag bin ich - das habe ich schon erwähnt - weit optimistischer gestimmt. Die gröbsten Angriffe auf den Verfassungstext scheinen unter anderem durch das Engagement der deutschen Bundesregierung kassiert worden zu sein. Aber es bleibt so mancher Stolperstein erhalten. Ich glaube, ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, dass ein wesentlicher Stolperstein den Namen „Großbritannien“ trägt. An die Adresse von Großbritannien kann ich nur sagen - ich habe darauf schon in meiner letzten Rede hingewiesen -: Europa lebt vom Kompromiss. Sie wissen, worum es geht, nämlich um die so genannten Red Lines der britischen Regierung. Von britischer Seite wird zum Beispiel die Forderung erhoben, die qualifizierte Mehrheit für Entscheidungen zurückzunehmen. Ich finde das haarsträubend. Das offenbart nur eines: die Verweigerung von mehr Demokratie, von mehr Handlungsfähigkeit und von Transparenz für Europa. Ein Mehr an Demokratie, an Transparenz und an Einfachheit, aber auch an Effizienz und Bürgernähe, das ist doch genau das, was am Ende dieses Verfassungsprozesses stehen muss. Genau so lautet nämlich der Auftrag von Laeken, den die Regierungen dem Konvent gegeben haben. ({5}) Der Konvent ist dieser Aufgabe gerecht geworden. Es wäre geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, wenn die Regierungen dafür sorgten, dass die von ihnen selbst gesteckten Ziele eben nicht umgesetzt werden. Wir alle hier wissen, dass mit der Einigung auf einen Verfassungstext noch nicht der ganze Weg zurückgelegt ist. Im Gegenteil: Die Ratifizierungen in den 25 Mitgliedstaaten müssen dann noch durchgeführt werden. In manchen Ländern müssen die Parlamente zustimmen, in anderen auch die Bevölkerung per Referendum. Ich würde einen europaweiten Volksentscheid über die europäische Verfassung deutlich befürworten. Wenn die Bürgerinnen und Bürger in allen europäischen Ländern gleichzeitig abstimmten, dann könnte man eine innenpolitische Instrumentalisierung verhindern und es fände eine wirklich europäische Debatte statt. Anders als die FDP hat die rot-grüne Bundesregierung 2002 einen Gesetzentwurf für direkte Demokratie in allen Bereichen in den Deutschen Bundestag eingebracht. ({6}) Diesem Vorschlag haben über die Hälfte der FDP-Fraktion und die gesamte CDU/CSU-Fraktion nicht zugestimmt. Vor diesem Hintergrund ist Ihr heutiges Wahlkampfgetöse wirklich unglaubwürdig. ({7}) Abschließend will ich noch eines deutlich sagen: Egal, wie ratifiziert wird, es kommt darauf an, was und dass ratifiziert wird; denn nur mit einer neuen Verfassung ist Europa auch in guter Verfassung. ({8}) Vielen Dank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte in meinem Beitrag nur auf die von der FDP-Fraktion vorgeschlagene Verfassungsänderung eingehen. Das Grundgesetz ist der wichtigste Rechtstext in unserer Demokratie. Darum sind an Änderungen dieses Rechtstextes hohe Anforderungen zu stellen, was die fachliche Qualität anbelangt. Es ist die politische Frage zu beantworten, ob wir die Grundentscheidungen, die die Verfassungsväter und -mütter getroffen haben, wirklich verändern wollen. Ich möchte zu beidem etwas sagen, zur fachlichen Qualität Ihres Vorschlags und zu der Grundsatzfrage, ob es richtig ist, einen Volksentscheid zur Einführung der EU-Verfassung zu ermöglichen. Zum ersten Thema: Was ist von Ihrem Vorschlag fachlich zu halten? Sie formulieren in Ihrem Entwurf, dass es um die Einführung einer europäischen Verfassung geht. Natürlich reden wir politisch über die EUVerfassung, über den Verfassungsvertrag. Es gibt auch gute politische Gründe dafür, so zu reden. Es verdeutlicht, dass es ein wichtiges Werk ist. Es spiegelt sich darin insbesondere wider, wie dieser Entwurf erarbeitet worden ist, nämlich nicht mit der bisherigen Methode der Vertragsänderungen. Die Herren der Verträge, die Mitgliedstaaten, haben die Gesetzgebung ein Stück weit aus ihren Händen gegeben und haben insbesondere Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten - nicht nur Parlamentarier, aber auch Parlamentarier - an der Erstellung des Verfassungsentwurfs beteiligt. Wir können rechtlich aber nicht einfach so formulieren, wie wir politisch reden; das Grundgesetz hat andere Anforderungen an die Sprache. Deshalb müssen wir fragen: Wird im Rechtssinne eine Verfassung eingeführt? Wird mit dieser Vertragsänderung, um die es geht, das bisherige Vertragswerk eine neue Qualität, nämlich Verfassungsqualität, gewinnen? Das ist Ihre rechtliche Anforderung dafür, dass der Volksentscheid überhaupt stattfindet. Ich möchte dazu nur aus zwei Urteilen zitieren, die ich mir gestern noch einmal durchgelesen habe, die schon alt sind. In einem Urteil aus dem Jahre 1991 - das ist schon lang her - stellt der Europäische Gerichtshof fest, dass der EWG-Vertrag „obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstellt. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1968 stellt das Bundesverfassungsgericht fest - das ist im 22. Band -, die Europäische Gemeinschaft sei eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art. Nun zitiere ich: „Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar.“ Die Europäische Union hat eine Verfassung. Die europäischen Verträge haben seit langem Verfassungsqualität. Was macht denn eine Verfassung aus? Ich zitiere dazu die Begründung des Gesetzentwurfs der FDPFraktion: Es ist die Entscheidung „über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausgestaltung und Verteilung politischer Macht“. Alles das ist in den Verträgen bereits entschieden. Wir haben die Souveränitätsübertragung. Wir haben ein System der Kompetenzverteilung. Wir haben mit dem Europäischen Gerichtshof ein Verfassungsgericht. Darum besteht kein Zweifel: So wenig man den Zeitpunkt bestimmen kann, zu dem die europäischen Verträge Verfassungsqualität angenommen haben, so sicher ist, dass sie bereits seit langem Verfassungsqualität haben. Darum ist Ihr Entwurf aus europarechtlichen Gründen unzulänglich. Ich möchte mich mit dem Entwurf aber auch verfassungsrechtlich beschäftigen. Sie schreiben in Ihrem Begründungstext, „ohne ausdrückliche Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger“ sei der Verfassungstext „nicht ausreichend legitimiert“. Das finde ich wirklich bedrückend - das sage ich mit allem Ernst, ohne jeden taktischen Hintersinn. Sie wie wir alle gehen davon aus, dass Ihr Gesetzentwurf keine Mehrheit findet. Wollen Sie im Ernst behaupten, dass die Europäische Union, wenn diese Vertragsänderung im bislang üblichen Verfahren ratifiziert wird, in Zukunft unter einem Legitimationsmangel leidet? ({0}) So steht es in Ihrem Begründungstext schwarz auf weiß. Wollen Sie auch sagen, dass die früheren Entscheidungen grundlegendster Art, der Maastricht-Vertrag und die Einführung der Währungsunion, das heißt die Abgabe nationaler Währungshoheit, unter einem Legitimationsmangel leiden? Was ist mit dem Grundgesetz, zu dem niemals ein Plebiszit durchgeführt wurde? Leidet das auch unter einem Legitimationswandel? ({1}) Wie verhält es sich mit künftigen Änderungen, da ja nur einmal ein Volksentscheid durchgeführt werden soll? Sie sagen, dafür sei keine plebiszitäre Entscheidung nötig. Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Auffassung sein, aber mich stört, mit welcher Leichtfertigkeit in dem Gesetzentwurf die Legitimation der wesentlichen rechtlichen Grundlagen des Staates wie der Europäischen Union infrage gestellt wird. Hier haben Sie einen schweren Fehler gemacht. ({2}) Nun zu der Frage, ob es richtig ist, über diese Verfassung per Volksentscheid zu entscheiden. In diesem Hause gibt es ja bezüglich der Präferenz für Volksentscheide eine ganz originelle Konstellation zwischen FDP und der rot-grünen Koalition. Die FDP sagt, wir wollen nur hier, aber nirgends sonst einen Volksentscheid zulassen. Rot-Grün sagt, wir wollen über alles einen Volksentscheid zulassen, nur nicht über diese Frage. ({3}) - Im Grunde überall. - Beide Positionen sind von der Taktik und der Sache her nicht glaubwürdig. ({4}) Wir können mit der Frage der Legitimation - das ist eine Kernfrage der Demokratie, denn Demokratie ist Legitimation - nicht taktisch umgehen, sondern wir müssen mit ihr verantwortungsvoll und sachlich umgehen. Es ist bedauerlich, dass die CDU/CSU-Fraktion die einzige Fraktion im Parlament ist, die sich der Verantwortung in diesem Punkt bewusst ist. Sie taktiert nicht, sondern praktiziert Verantwortung. ({5}) Sie, Frau Lührmann, haben eben das klare Bekenntnis abgelegt: Sie wollen einen Volksentscheid darüber. Aber der Bundesaußenminister hat ihn verboten. Insbesondere die Grünen sind ja ein immer folgsameres Kind der Regierung geworden. Sie, Herr Bundesaußenminister, können, wie ich glaube, mit dieser Fraktion sehr zufrieden sein. Wenn es ernst wird, sagen Sie ihr, was sie machen soll. Das sagt auch etwas über Ihr Selbstverständnis aus. Ich möchte darauf eingehen, ob es richtig ist, durch Volksentscheide Entscheidungen zu fällen, und möchte begründen - da gebe ich Ihnen Recht -, dass die europäische Verfassung ein gutes Beispiel dafür darstellt, warum eine Entscheidung durch Plebiszite in unserem Land die schlechtere demokratische Alternative ist. Nach meiner festen Überzeugung liegt das nicht daran, dass wir Abgeordnete des Bundestages die besseren Entscheider wären, dass wir schlauere und bessere Entscheidungen träfen, als wenn das Volk abstimmen würde. Der Grund liegt vielmehr in den objektiven Bedingungen, der Möglichkeit, eine schwierige Frage verantwortlich zu entscheiden. Voraussetzung dafür, um überhaupt verantwortlich und vernünftig entscheiden zu können, ist das Vorhandensein eines Verfahrens, mit dem man in der Lage ist, die Komplexität eines Gegenstandes zu verarbeiten. Der entscheidende Punkt ist, ob wir davon sprechen können, dass die Voraussetzung dafür existiert, verantwortlich zu entscheiden, und ob das Verfahren, das Entscheidungen vorausgeht, die Möglichkeit bietet, die Komplexität des Gegenstandes zu verarbeiten. Das parlamentarische Verfahren bietet sie, unabhängig davon, ob uns das im Einzelfall gelingt. Wir sind im Parlament in der Lage, strukturiert plurale Auffassungen miteinander zu diskutieren und zu einem Ergebnis zu kommen, für das wir uns dann politisch und demokratisch rechtfertigen müssen. Ich bin fest davon überzeugt - damit komme ich zum Ende -, dass die plebiszitäre Entscheidung genau diesen Mangel hat: Sie bietet kein Verfahren, das in der Lage wäre, der Komplexität eines Gegenstandes in der für demokratische Legitimation nötigen Breite - eine Informationselite kann das schaffen - gerecht zu werden. Es geht bei dieser Frage um das Funktionieren unserer Demokratie, um nichts weniger. Für dieses Funktionieren haben wir als Parlament eine doppelte moralische Pflicht: die Pflicht, zu begründen, dass es zur parlamentarischen Verantwortung keine praktische Alternative gibt, und die Pflicht, diese Verantwortung durch den Stil unserer Auseinandersetzungen

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, darf ich Sie erinnern, dass Sie zum Ende kommen wollten?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- und durch den Inhalt der konkreten Entscheidungen zu leben. Das ist unsere Pflicht; wir können sie nicht übertragen, sondern müssen sie selber erfüllen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Röttgen, wenn man aus grundsätzlichen Erwägungen heraus plebiszitäre Elemente ablehnt, dann war Ihre Argumentation überzeugend. Das sage ich voller Respekt. Aber auf der linken Seite dieses Hauses gibt es Kräfte, Fraktionen, die übereinstimmend der Auffassung sind, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern die direkte Demokratie unter ganz bestimmten Bedingungen zutrauen sollten, weil wir die repräsentative Demokratie gerade stärken wollen, indem wir die Bürgerinnen und Bürger auch in Sachfragen stärker einbeziehen. Die Kollegin Lührmann hat in der Begründung ihrer Ablehnung eines nationalen Referendums über die europäische Verfassung ein wesentliches Argument genannt, das auch für mich ausschlaggebend ist: Wenn wir die europäische Verfassung, die ich für ein großartiges und wesentliches Projekt halte, nur noch nationalen Themen und Diskussionen unterziehen, dann erreichen wir nicht das, um was wir uns eigentlich alle bemühen sollten, nämlich dass sich die Bürgerinnen und Bürger nicht nur als Deutsche, Franzosen oder Ungarn identifizieren, sondern eine europäische Identität gewinnen. Wenn wir das erreicht haben, bin auch ich dafür, dass wir über eine europäische Verfassung in einem Volksentscheid abstimmen, genau so, wie ich mir persönlich gewünscht hätte, dass das deutsche Volk Anfang der 90er-Jahre in freier Selbstbestimmung über das Grundgesetz bzw. die deutsche Verfassung abgestimmt hätte. Das war ihm damals, weil Sie das nicht gewollt haben, leider verwehrt. Aber 20 Tage vor dem europäischen Gipfel, auf dem eine grundlegende Weichenstellung bezüglich der Zukunft Europas und der Bürgerinnen und Bürger in Europa vorgenommen wird, sollten wir nicht nur über ein Ratifizierungsverfahren reden, sondern die Inhalte der europäischen Verfassung in den Mittelpunkt unserer Debatte rücken; denn wir sollten jetzt nicht so tun, als seien alle offenen Fragen schon geklärt. Europa hat am 1. Mai eine großartige Chance ergriffen: Wir haben diesen Kontinent wiedervereinigt. Das war ein großer Erfolg, an dem nicht wenige einen maßgeblichen Anteil haben. Aber der Problemdruck, auch der nationale, ist erheblich. Viele Probleme, mit denen Michael Roth ({0}) wir uns auf nationaler Ebene zu beschäftigen haben, können aus meiner Sicht nur in einem vereinten Europa gelöst werden. Noch nie hingen Frieden, Demokratie, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und die Zukunft der Bürgerschaft so sehr vom Erfolg der europäischen Politik ab. Im Zeitalter umfassender Globalisierung ist ein nach innen und nach außen solides europäisches Haus unersetzlich. Aber machen wir uns nichts vor, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir sind bislang die Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie die größer gewordene Europäische Union handlungsfähig bleiben soll. Deswegen dürfen wir uns auf der großen Erweiterung vom 1. Mai nicht ausruhen. Wenn wir das täten, bliebe die EU der 25 nicht mehr als ein Torso. Wir müssen die Institutionen, die Strukturen und die Verfahren der EU grundlegend modernisieren. Wir müssen die demokratische Legitimation der europäischen Entscheidungsprozesse stärken. Wir müssen außerdem die EU für alle Bürgerinnen und Bürger - ich glaube, auch für den einen oder anderen Kollegen - transparenter machen. Nur dann werden wir den Erwartungen gerecht und nur dann wird es möglich sein, mit dieser EU die großen Herausforderungen erfolgreich politisch zu meistern. ({1}) So genannte Leftovers, also Überbleisel, wie bei Nizza wird es nicht mehr geben dürfen. Der Kollege Gloser hat mich gebeten, auf einen Punkt hinzuweisen: In diesen Tagen feiert Nürnberg die 50-jährige Partnerschaft zu Nizza. Deswegen ist der Satz „Nie wieder Nizza“ für den einen oder anderen von uns sicherlich nur schwer erträglich. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. ({2}) Nizza genießt auch weiterhin unsere Wertschätzung, wenn auch nicht unbedingt die Regierungskonferenz. Aber weil wir eben ein zweites Nizza nicht haben wollten, war das Vertagen der Regierungskonferenz nach dem ergebnislosen Gipfel von Brüssel im Dezember 2003 richtig. Denn eine Einigung um jeden Preis wäre aus meiner Sicht unverantwortlich. Deswegen ist es so positiv, dass die irische Präsidentschaft jetzt mit großem Druck, mit großer Sorgfalt und mit großer Beharrlichkeit einen Erfolg noch unter ihrer Präsidentschaft erreichen möchte. Eine Nacht der langen Messer, in der mit aller Macht allein um die Durchsetzung rein nationaler Interessen geschachert wurde, konnte sich die EU noch nie so wenig leisten wie heute. Verlieren die Beteiligten die europäische Vision eines vereinten und handlungsfähigen Europas im Endspurt aus den Augen oder opfern sie bewusst, wird die EU großen Schaden nehmen. Keiner weiß, ob wir eine solche Chance noch einmal erhielten. Deswegen müssen sich alle Beteiligten ihrer immensen Verantwortung bewusst sein. Sie müssen deutlich sagen, ob sie - dominiert von nationalen Sonderinteressen - die Zukunftsfähigkeit Europas bewusst blockieren wollen oder ob sie bereit sind, gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten. Aus meiner Sicht ist ein fairer Ausgleich nationaler Interessen möglich. Die hervorragende Arbeit des europäischen Verfassungskonvents hat dies gezeigt. Der Konvent - das werden die Historiker in 20 oder 30 Jahren einmal sagen - war ein wesentlicher Meilenstein europäischer Integration. Mehr Demokratie wagen, die Handlungsfähigkeit der EU nach innen und nach außen stärken, die EU transparenter gestalten: Das sind die eigentlichen Kernziele, an denen sich der Verfassungsprozess zu orientieren hat. Das war so im Konvent und das muss so sein in der Regierungskonferenz. Was wir von dieser Regierungskonferenz zu Recht erwarten dürfen, ist nicht mehr und nicht weniger als die Verwirklichung dieser drei Ziele. Für die Bundesregierung sind es schwierige Verhandlungen. Wir wissen das. Wir wissen auch, dass sich Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer mit großem persönlichen Einsatz um tragfähige Kompromisse bemühen, die sich am Konventsentwurf orientieren und die die Beschlüsse des Bundestages konsequent einbeziehen. Sich an dem Konventsentwurf zu orientieren war von Anfang an die richtige Strategie. Wir haben hierüber im Bundestag leider keine Übereinstimmung erzielen können, weil einige eine nicht enden wollende Liste von Änderungsvorschlägen vorgelegt haben. Ich meine, es war gut und richtig, zu sagen: Etwas Besseres als das Konventsergebnis werden wir nicht erzielen. ({3}) Dafür danken wir dem Bundeskanzler, dem Außenminister und auch dem Staatsminister für Europa Bury. ({4}) Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer festen Absicht, die ins Stocken geratenen Schlussverhandlungen über eine europäische Verfassung endlich zum Erfolg zu führen. Wir müssen aber auch eines deutlich zur Kenntnis nehmen - das gibt Anlass zur Sorge -: Die Zustimmung gegenüber der Europäischen Union sinkt, auch in Deutschland. Noch nicht einmal 50 Prozent der Deutschen waren in der jüngsten Umfrage positiv gegenüber der EU eingestellt. Das muss uns alarmieren. Wir sollten daraus Konsequenzen ziehen. Aber, Herr Kollege Hintze, wir sollten nicht die Konsequenzen daraus ziehen, die Sie ziehen. Es sind noch 16 Tage bis zur Europawahl. ({5}) Wenn man so argumentiert wie Sie und nicht über Europa, sondern über das diskutiert, was einem wenige Tage vor einer Wahl ins nationale Kalkül passt, dann Michael Roth ({6}) zerstört man die Vertrauensbasis der Europäischen Union. Dann macht man sich unglaubwürdig. Sie können sich doch nicht in Sonntagsreden zum großen Europapolitiker aufschwingen und hier, wenn es um die Zukunft Europas geht, nur über die Türkei und den islamistischen Fundamentalismus ({7}) und nicht über die Kernbereiche Europas reden, die unsere eigentliche und gemeinsame Aufgabe sein sollten. ({8}) Wir brauchen aus meiner Sicht vielmehr eine programmatische Neugründung Europas. Ich bin mir sicher, dass wir in diesen Punkten hier im Bundestag keine Übereinstimmung erzielen werden. Aus meiner Sicht ist dies auch gut so. Dass das so ist, hat man auch an einer Bemerkung des geschätzten Kollegen Hoyer gemerkt. Es wäre ja schlimm, wenn 200 Kolleginnen und Kollegen der FDP im Konvent gesessen hätten. Dann gäbe es einen noch stärkeren neoliberalistischen Geist, ({9}) der aus meiner Sicht die Fundamente der Europäischen Union langfristig zerstört. ({10}) Es ist vielmehr nötig - das sollten wir in dieser Debatte ruhig deutlich machen -, dass die Europäische Union endlich ihr soziales Profil schärft. Wir wollen nicht alles den Prinzipien des Marktes unterordnen. Wir Sozialdemokraten stehen für ein soziales Europa mit gelebter Solidarität; denn die europäische Integration ist die demokratische Antwort auf die Globalisierung. Deswegen dürfen wir nicht noch einmal an der Grundrechte-Charta herumdoktern. Die Grundrechte-Charta ist das Herzstück unseres europäischen Grundgesetzes. Sie begründet maßgeblich unsere europäische Identität. Ich kann der Kollegin Lührmann nur zustimmen: Es ist aus meiner Sicht - die Diplomaten dürfen und sollten das nicht sagen; aber ich kann das sagen - nur schwer erträglich, wie die britische Regierung mit ihrer Salamitaktik gefundene Kompromisse wieder infrage zu stellen versucht. Das ist für uns - in aller Offenheit - inakzeptabel. ({11}) Stures Beharren auf unzähligen nationalen Befindlichkeiten und rote Linien ist ebenso kontraproduktiv wie das ständige Nachlegen neuer Forderungen. Dann ein Wort zur Preisstabilität. Es wird doch niemand hier im Hause behaupten wollen, dass Preisstabilität nicht gut sei. Sie ist vor allem für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wichtig. Aber man kann es auch übertreiben. In dieser Verfassung ist mehrfach von Preisstabilität die Rede. Dass man aber die Preisstabilität vor dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nennen möchte, ({12}) das ist mit meiner Vorstellung vom Sozialstaatsgebot nur sehr begrenzt in Einklang zu bringen. ({13}) Deswegen: Finger weg von den sozialen Errungenschaften dieses Verfassungsentwurfs, für die sich maßgeblich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Verfassungskonvent stark gemacht haben! 78 Prozent der Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass das wirtschaftliche Schwergewicht der EU auch außen- und sicherheitspolitisch, das heißt auch auf der internationalen Bühne, endlich handlungsfähiger wird. Dafür brauchen wir einen europäischen Außenminister. Das garantiert uns die europäische Verfassung. Sie kann der EU international eine stärkere Stimme und den Bürgern mehr Gewicht geben. Wir kämpfen aber auch für eine Friedensmacht Europa. Dass sich das nur schwer mit den Konzepten der CDU/CSU in Übereinstimmung bringen lässt, dürfte klar sein. Frau Merkel und Herr Stoiber sind in der Irakfrage einem Irrweg gefolgt. Das kann mal passieren. Aber sie bringen nicht den Mut zur Umkehr auf. Das ist das eigentlich Bedauerliche. ({14}) Der Bundestag versteht sich traditionell als Partner des Europäischen Parlamentes. Kompetenzverlagerungen nach Brüssel sind daher nur dann akzeptabel, wenn das Europäische Parlament gestärkt wird. Das Europäische Parlament muss deshalb auch im Haushaltsverfahren ein gleichberechtigter Partner werden. Wir sind sehr erfreut darüber, dass auf der letzten Zusammenkunft der Außenminister ein tragfähiger Kompromiss gefunden wurde, der auch bei unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament Unterstützung findet. Wir brauchen aber ebenso eine arbeitsfähige Kommission mit einem starken Kommissionspräsidenten. Unsere Erwartungen - ich glaube, auch darin sind wir alle einer Meinung - sind relativ realistisch. Es geht mir gar nicht um die Größe der Europäischen Kommission. Mir geht es aber darum, dass möglicherweise jedes Kommissionsmitglied über ein eigenes Ressort verfügen möchte. Bei begrenzten Kompetenzen der Europäischen Union sehe ich darin eine Gefahr; denn die machen sich dann ihre Arbeit selbst. Umso wichtiger ist ein durchsetzungsfähiger, integrationsfreundlicher und den Respekt aller Mitgliedstaaten verdienender Kommissionspräsident. Ich hoffe, dass die Staats- und Regierungschefs auch in dieser Frage eine sehr weise Entscheidung treffen. ({15}) Wir haben in diesem Hause immer wieder über den Gottesbezug gesprochen. Ich habe da eine etwas andere Michael Roth ({16}) Auffassung als der geschätzte Kollege seitens der SPDFraktion, der vor mir gesprochen hat. ({17}) Denn ich weiß, dass eine große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen dies wünscht bzw. nichts dagegen einzuwenden hätte. Die säkularen Kräfte in der EU sind jedoch stark und wir müssen sie respektieren. Bei diesem sensiblen Thema bitte ich Sie - ich weiß nicht, ob Sie es irgendwann in die Diskussion einbringen - um ein Stück Verantwortungsbewusstsein; denn ein stures Festhalten an dieser Forderung könnte die bisher erreichten Erfolge infrage stellen. Diese sind maßgeblich auch auf das Engagement der Bundesregierung zurückzuführen. Wollen Sie wirklich die Bezugnahme auf das religiöse Erbe in der Präambel oder Art. 51, den Kirchenartikel, gefährden? Ich halte sie für einen großen Erfolg und deswegen sollten wir mit weiteren Forderungen sehr zurückhaltend sein. Seit Beginn der 90er-Jahre fordern wir unablässig transparente und demokratischere Abstimmungsprinzipien für den Rat. Endlich ist ein Durchbruch möglich. Wir haben in Amsterdam vergeblich die doppelte Mehrheit gefordert und wir haben sie auch in Nizza leider vergeblich gefordert. ({18}) Jetzt gibt es endlich die realistische Chance, sie zu erreichen. In aller Offenheit und mit allem Respekt gegenüber der polnischen Regierung und vor allem der polnischen Opposition: Ich glaube nicht, dass Europa ernsthaft darüber nachdenken sollte, wie man blockiert. Stattdessen sollte man gemeinsam darüber nachdenken, wie man Europa nach vorne bringt. ({19}) Deswegen müssen wir Blockaden überwinden, die Strukturen im Rat demokratischer gestalten und Europa handlungs- und entscheidungsfähiger machen. Deswegen steht das europäische Gesamtinteresse im Vordergrund. Gelingt der Regierungskonferenz am 17. und 18. Juni ein guter Wurf, ist das erweiterte und vereinte Europa gestärkt wie nie. Europa wird zunehmend international gestalten können, wenn es dann mit einer Stimme nicht nur sein wirtschaftliches, sondern endlich auch sein politisches Gewicht zum Ausdruck bringen kann. Die Tragweite und die Bedeutung dieser Entscheidungen sind seit Nizza unverändert geblieben und die Probleme lassen sich nicht durch weiteres Vertagen lösen. Wir müssen jetzt, unter irischer Präsidentschaft, das Projekt vollenden, damit wir uns dann gemeinsam mit der Bevölkerung und im Deutschen Bundestag über dieses großartige Projekt unterhalten können. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern etwas Positives anbieten. Unsere guten Wünsche begleiten die Bundesregierung, den Bundeskanzler und den Außenminister. Wir hoffen, dass europäischer Mut und Weitsicht am 17. und 18. Juni gefragt sind. Diese dürfen die Bürgerinnen und Bürger zu Recht von uns erwarten. Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trauen wir dem Volk? Diese Frage könnte man über diese Debatte stellen. Ich sage Ihnen: Das Volk ist mindestens so klug wie das Abbild des Parlamentes, Herr Roth. ({0}) Sie liegen sicherlich falsch, wenn Sie diese Frage so ausschließlich diskutieren, wie Sie es hier tun. Trauen Sie dem Parlament, Herr Außenminister? Dem Volk trauen Sie jedenfalls nicht; Sie wehren sich gegen eine Volksabstimmung, aus Ihrer Sicht aus gutem Grunde, weil das Volk Sie mit seinem Votum hinwegspülen würde. Sie trauen aber auch diesem Parlament nicht. Seit Wochen und Monaten wird über dieses große Projekt einer europäischen Verfassung im Stil von Geheimverhandlungen hinter verschlossenen Türen gesprochen. Unser Außenminister war bisher nicht bereit, vor diesem Parlament seine Verhandlungsführung und seine Verhandlungspositionen darzulegen. ({1}) Das ist die Situation: Diese Regierung traut weder dem Volk noch dem Parlament. ({2}) Der Verfassungsvertrag ist in vielen Punkten offen. Es wäre durchaus notwendig und interessant, in aller Offenheit einen Dialog über die inhaltlichen Fragen zu führen, bei denen wir etwas bewegen wollen. Herr Außenminister, der europäische Verfassungsvertrag sollte - das war einmal Ihr Ziel - Europa in außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen handlungsfähig machen. Er sollte ein Stück weit mehr Vergemeinschaftung als Reaktion auf das europäische Desaster beim Irakkrieg bringen und die europäische Antwort darauf sein. Nichts ist passiert, Sie haben an dieser Stelle versagt. Das, was geschaffen wurde, ist ein europäischer Papiertiger. ({3}) So kann ich Sie mir als europäischen Außenminister gut vorstellen. Es wird nur neue außenpolitische Bürokratie - diesmal europäische - aufgebaut, aber kein Schritt hin zur Vergemeinschaftung dieses wichtigen Bereiches unternommen. ({4}) Zweitens wäre es wirklich wichtig, mit dem Volk und dem Parlament über die Frage zu reden: Wollen wir mehr Subsidiarität und Föderalismus im Aufbau dieses Europa oder wollen wir mehr Zentralisierung und den europäischen Superstaat mit einer allgegenwärtigen Zuständigkeit? Wir wollen keine Zentralisierung, aber dieser europäische Verfassungsvertrag bietet leider kein Modell einer klaren Kompetenzabgrenzung, damit die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft wissen, was Brüssel entscheidet und wen sie dort wählen bzw. wegen bestimmter Entscheidungen abwählen können, was wir hier in Berlin und was die Landesregierungen beispielsweise in Düsseldorf oder München entscheiden. Dies war das Ziel von Laeken. Dieses Ziel wurde leider nicht erreicht. Der europäische Verfassungsvertrag schafft leider eine sehr komplizierte Ordnung von ausschließlichen, geteilten und koordinierenden Zuständigkeiten. In diesem Hohen Hause blickt kaum noch einer durch, in der Regierung sowieso nicht. ({5}) Wie soll das Volk dann noch wissen, wer in dieser Rechtsordnung wo was entscheidet? ({6}) Damit bin ich bei der Frage der Legitimation, Herr Roth, der Urfrage der Demokratie. Wir werden für einen konkreten Zeitraum von vier Jahren, beim Europäischen Parlament von fünf Jahren gewählt. Danach kann das Volk sagen: Nein, das war es nicht. Der wird nicht wieder gewählt. - Das Volk muss aber nachvollziehen können, welche Entscheidungen getroffen werden. Deshalb erhebe ich den Vorwurf von Geheimverhandlungen. Europapolitik muss parlamentarisiert werden, sie muss nachvollziehbar sein. Es kann nicht sein, dass sich heute die Europäische Union in die Planungen zum Frankfurter Flughafen einschaltet. Niemand weiß, wer wo und warum. Es kann nicht sein - um einen weiteren aktuellen Punkt aufzugreifen -, dass wir heute über Brüssel die lebenslängliche Freiheitsstrafe abschaffen. Wer gibt denn wem in Brüssel dafür die Legitimation, einem Kommissar, einem Beamten? Nein, diese Fragen können und dürfen nur von den nationalen Parlamenten entschieden werden. Deshalb bringt die CDU/CSU-Fraktion zunächst einen Vorschlag zur Stärkung der nationalen Parlamente ein. Wir dürfen uns von der europäischen Sekundärrechtsetzung nicht total verabschieden. Wir müssen diese Fragen, die jetzt Teil der europäischen Rechtsetzung sind, wieder zu unserer Sache machen. Es gilt der Legitimationsstrang, wie er im Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Maastricht-Vertrag definiert wird. Danach, lieber Kollege Röttgen, steht in der europäischen Rechtsetzung zuvorderst die Legitimation über die nationalen Parlamente und ergänzend über das Europäische Parlament. Diese Rangfolge sehe ich nicht mehr. Der Deutsche Bundestag ist bei der Sekundärgesetzgebung weitgehend auf das Abnicken und die Kenntnisnahme von Papieren reduziert. Das merken unsere Bürgerinnen und Bürger natürlich. Wir müssen Dinge verantworten, für die wir keine Verantwortung übernehmen können. Die Verlagerung der Verantwortung für die Politikgestaltung beispielsweise im Bereich der Daseinsvorsorge, des Zivilschutzes oder der Kultur nach Brüssel kommt leider nicht beim Europäischen Parlament an. Wenn das denn so wäre, könnte man selbstverständlich darüber reden. Mit dieser Bundesregierung schaffen wir eine Exekutivdemokratie: die Herrschaft der Beamten, alle Macht den Beamten, keine Macht den Parlamenten. Das wollen wir nicht als Zukunft der Europäischen Union. ({7}) Deshalb, Herr Außenminister, schlagen wir fünf konkrete Punkte zur Stärkung der nationalen Parlamente in der europäischen Rechtsetzung vor: Erstens. Es muss auch beim Verfassungsvertrag klar sein, dass die nationalen Parlamente Herren der Verträge bleiben. ({8}) Zweitens. Wir sind der Meinung, dass die von den Regierungen unterbreiteten Vorschläge zu einer Vertragsänderung vor einem Zusammentritt der Regierungskonferenz den nationalen Parlamenten zur Diskussion und Mitberatung vorgelegt werden müssen, damit wir nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in die Situation kommen, am Ende der Debatte Ja oder Nein zu einem mehr als 1 000 Seiten umfassenden Verfassungsvertragswerk sagen zu müssen, ohne dass wir mit diesem Herrn hier darüber diskutieren konnten. Wir müssen in den Prozess der Gestaltung eingebunden werden. ({9}) Drittens. Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes ist zu ändern bzw. in folgender Weise zu ergänzen: Die Bundesregierung soll die Stellungnahmen des Bundestages nicht nur berücksichtigen, wie es jetzt heißt, sondern in Einzelfällen - nicht in allen Bereichen, aber in den maßgeblichen und zentralen Fragen der europäischen Sekundärrechtsetzung - durchaus an die Stellungnahmen des Bundestages gebunden werden können. Art. 23 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes soll in seiner neuen Fassung wie folgt lauten: Stellungnahmen können bindende Wirkung haben. ({10}) In Satz 4 soll es heißen: Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Meine Damen und Herren, dann könnten wir sagen, an welchen Stellen wir uns einschalten wollen. Wenn Herr Schily in Brüssel die Asylrichtlinie verabschiedet, muss er auch hier im Deutschen Bundestag Rechenschaft ablegen, uns die entsprechenden Dokumente zeitnah vorlegen und sich unser Votum abholen. Dann ist die europäische Rechtsetzung über die Mitwirkung der nationalen Parlamente legitimiert und wir sind nah am Bürger. Nur das kann der Weg sein. ({11}) Des Weiteren brauchen wir ein nationales Klagerecht, und zwar als Minderheitenrecht. Darüber sind wir uns, glaube ich, ebenfalls im Klaren. Auch brauchen wir - das möchte ich noch einmal verdeutlichen - eine Parlamentarisierung der Europapolitik; denn Europapolitik ist längst nicht mehr Außenpolitik im Rahmen einer Geheimdiplomatie.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- Ich komme zum Schluss. - Deshalb hatte Bundeskanzler Schröder natürlich Recht, als er vor der letzten Bundestagswahl angekündigt hat, Herrn Außenminister Fischer durch eine Kabinettsreform die Zuständigkeit für die Europapolitik zu nehmen. Diesen Schritt würden wir durchaus begrüßen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am heutigen Morgen haben wir bereits zwei Debatten geführt: diese Europadebatte und die vorherige Debatte über den Nahen und Mittleren Osten. Das war unter dem Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit der Oppositionspolitik sehr interessant. Im Hinblick auf den Irak wurde der Vorwurf erhoben, Kollege Volmer würde Wahlkampf machen. Man müsse sich moderat verhalten und selbstverständlich dürften wir nicht daran erinnern, dass Frau Merkel der Meinung war, wir sollten Soldaten in den Irak schicken. ({0}) Das dürfe man nicht sagen; denn das sei üble Wahlkampfpolemik. ({1}) Als dieser Tagesordnungspunkt endete, trat dann Herr Hintze auf, der den Menschen in gnadenloser Sachlichkeit verkündete, worum es geht: dass wir bei den anstehenden Europawahlen darüber entscheiden, ob wir von den Türken überflutet werden. Da wurde auch verkündet, wir würden Geheimgespräche führen. ({2}) Es wurde so getan, als hätte die jetzige Bundesregierung eine andere Grundlage für ihr Handeln, als es sie in den Zeiten von Theo Waigel und Klaus Kinkel gegeben hat. Diese Grundlage hat sich allerdings nicht geändert. Das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass Sie heute in der Opposition sind. ({3}) Sie, Herr Altmaier und Herr Hintze, klatschen sogar noch, wenn hinsichtlich Art. 23 des Grundgesetzes Vorstellungen geäußert werden, die, wenn wir sie umsetzen würden - das wissen Sie ganz genau -, die Verabschiedung von der bisherigen Integrationsorientierung nicht nur der Regierung Kohl, sondern der gesamten europapolitischen Tradition bedeuten würden. ({4}) Nehmen Sie diesen Herrn von der CSU eigentlich ernst? Ich nehme zwar an, dass Sie das nicht tun. Aber wenn Sie ihn ernst nehmen, müssen Sie wissen, dass er europapolitische Positionen vertritt, mit denen er näher bei den britischen Konservativen um Maggie Thatcher als bei Helmut Kohl, Konrad Adenauer oder wem auch immer ist. ({5}) Deswegen sage ich Ihnen: Das, was Sie hier vorgetragen haben, können Sie vergessen. Die direkte Konsequenz davon wäre, dass es nur noch Geheimverhandlungen gäbe. ({6}) Ich weiß nicht, an wie vielen Ausschusssitzungen und Diskussionen wir teilgenommen haben. Kollege Altmaier war sogar Mitglied des Konventes. Bei den jetzigen Verhandlungen ist als Repräsentant des Bundesrates übrigens immer der zuständige Staatssekretär aus Baden-Württemberg anwesend. Offensichtlich ist die vertrauensvolle Beziehung zwischen Bayern und BadenWürttemberg mittlerweile so zerrüttet, dass er Sie nicht mehr informiert. ({7}) Mein Eindruck ist, dass zumindest die Bayerische Staatsregierung hervorragend informiert ist. ({8}) Nein, meine Damen und Herren, das zeigt, worum es wirklich geht: Es geht Ihnen ausschließlich um Stimmungsmache, und zwar um Stimmungsmache - das hätte ich Ihnen von der Union, ehrlich gesagt, nicht zugetraut - gegen die Verfassung. ({9}) Da ist aber meines Erachtens Schluss mit lustig und auch Ende mit Wahlkampf: Das hat nichts mehr mit der Frage zu tun, ob man für oder gegen einen Volksentscheid ist. Die Position, die hier gerade vorgetragen wurde, bedeutet doch im Klartext: Wir sagen, dass die Verfassung in Richtung eines europäischen Superstaates geht, einer Beamtenherrschaft. ({10}) - Na gut, wenn das Ihre Position ist, dann kann ich Ihnen nur sagen: Diese Auseinandersetzung nehmen wir gerne auf. ({11}) Was stellen wir denn fest? Sie kommen an und sagen: Die EU-Kommission mischt sich in die Planungen zum Frankfurter Flughafen ein. Es war doch nicht die Kommission, die plötzlich den Bannwald am Frankfurter Flughafen als FFH-Gebiet ausgewiesen hat, sondern ein Regierungspräsident in Darmstadt, der weder den Sozialdemokraten noch den Grünen angehört. Wer hat denn da die Rechtslage verändert? Es war die hessische Landesregierung, die zuständige regionale Behörde in Person des Darmstädter Regierungspräsidenten. Das ist bei Ihnen nicht angekommen. Der zweite Punkt in dem Zusammenhang, „Herrschaft der Beamten“: Die Rechte des Europäischen Parlaments werden, wenn diese Verfassung Wirklichkeit wird, in einem Maße ausgeweitet, wie es bisher noch nie der Fall war. ({12}) Alles, was unter das Mitentscheidungsverfahren fällt, betrifft den Rat und das Parlament; das heißt, die Ausdehnung der Rechte des Parlaments ist massiv. Sie hier im Deutschen Bundestag haben in Zukunft die Subsidiaritätskontrolle, ({13}) und zwar nicht nur abwartend, sondern aktiv - sie liegt bei den Parlamenten der Mitgliedstaaten -, sodass wir hier einen ganz entscheidenden Schritt nach vorn getan haben; das ist eine neue Qualität des Parlaments. ({14}) - Nix Null Komma null. Dann frage ich Sie, warum Ministerpräsident Teufel, Kollege Altmaier und Kollege Hintze dies in der Vergangenheit gepriesen haben. Offensichtlich befinden Sie sich im Zustand wahlkampforientierter Schizophrenie zwischen CDU und CSU. Sie müssten sich da schon einmal einigen. ({15}) Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang: Wenn Sie hier allen Ernstes sagen, dass die europäische Sicherheits- und Außenpolitik und der kommende Außenminister mit dem „Doppelhut“ kein Schritt nach vorne wären, dann ist das so etwas von daneben! Jeder weiß doch: Die FDP, die CDU, die Grünen und die Sozialdemokraten, wir alle haben hier dafür gestritten, ({16}) dass wir diesen Fortschritt endlich bekommen. Aber was ist mit der CDU? Der Stadtverband München ist ja nun von europäischer Leuchtkraft sondergleichen, wenn man die Dinge so liest, die da bei euch, zwischen Singhammer und Müller, so vor sich gehen. ({17}) Ich kann Ihnen nur sagen: Vergessen Sie all das, das ist Wahlkampf, unterstes Niveau. ({18}) - Wenn das Thema der Verfassung so angegangen wird, gehört das zur Sache, meine Herren und Damen. ({19}) - Das können wir so nicht stehen lassen. Mir geht es darum, aufzuzeigen, wo wir jetzt bei der Verfassung stehen. Meine Haltung zum Volksentscheid kennen Sie. ({20}) - Meine Haltung ist die: Wir sollten am Ratifizierungsverfahren, so wie wir es haben, festhalten. ({21}) Ich teile diese Meinung mit Hans-Dietrich Genscher; Sie werden es nicht glauben. Meine Fraktion ist, was die Grundsätze anbetrifft, anderer Auffassung; ich bin in einer Minderheitenposition. ({22}) - Was ist für Liberale eigentlich so tragisch daran, sich in einer Minderheitenposition wiederzufinden? Sehen Sie, ich fühle mich unter diesem Gesichtspunkt wohlbehütet von Ihnen. Ich würde das Haus jetzt gerne über den letzten Stand der Verhandlungen unterrichten, damit dem Vorwurf der Geheimverhandlungen selbst Schwerhörigen gegenüber direkt entgegnet werden kann. Wir hatten am letzten Montag die wichtigsten Punkte nochmals aufgerufen. Ich stimme all denen zu, die die irische Präsidentschaft gelobt haben, aber ich möchte nicht versäumen zu sagen: Das alles gründet auf den Vorarbeiten der italienischen Präsidentschaft; auch das will ich hier nochmals ausdrücklich erwähnen. Die irische Präsidentschaft wird meines Erachtens einen abschließenden Gesamtentwurf vorlegen, in dem die offenen Fragen behandelt werden. Erstens. Die schwierigste Frage und zugleich die wichtigste Frage der demokratischen Machtverteilung ist das Abstimmungsverfahren. Bei diesem Abstimmungsverfahren zeichnet sich jetzt ab, dass alle die doppelte Mehrheit akzeptiert haben, dass sich der Verhandlungsspielraum zwischen dem, was vor allen Dingen viele kleinere Mitgliedstaaten wollen - pari/pari, 50/50; Österreich ist hier an erster Stelle zu benennen -, und 55/65, dem Ratsvorschlag, bewegt. Ich denke, es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir diesen Schritt jetzt gemacht haben, dass die doppelte Mehrheit dem Grunde nach akzeptiert ist. Ich glaube auch, wir werden hier letztendlich einen Kompromiss finden können; das ist zumindest mein Eindruck aus der Runde der Außenminister. Auch die Gespräche, die der Bundeskanzler in Warschau geführt hat, zeigen, dass sich eine Einigung abzeichnet und, anders als im Dezember, erreichbar ist. Es gibt Überlegungen, den Ratsvorschlag zur Grundlage zu nehmen. Das hieße, dass man bei der doppelten Mehrheit, der Staatenmehrheit und der Bevölkerungsmehrheit, ein Bevölkerungsminimum ansetzt. ({23}) - Derjenige, der das gerade gesagt hat, ist derjenige, der sich andauernd darüber beschwert, es gebe Geheimverhandlungen. Entscheidend ist doch, dass ich jetzt die Gelegenheit nutze, das Haus zu unterrichten. Bisher hatte ich noch nicht die Möglichkeit, das im Ausschuss zu tun. Ich nehme doch an, dass es Sie interessiert, wo wir vor den entscheidenden Verhandlungen stehen. Bei der Bevölkerungsmehrheit, bei der Staatenmehrheit ebenso, soll eine entsprechende Klausel vorgesehen werden, um dem Direktoriumsvorwurf zu begegnen wie auch dem Vorwurf, es könne eine Mehrheit der kleinen Staaten geben ohne ein entsprechendes Minimum an Bevölkerung. Sonst würde der Gedanke der doppelten Mehrheit sinnverkehrt in der Realität umgesetzt. Ich denke, in diese Richtung wird es gehen. Das wäre meines Erachtens ein echter Schritt nach vorne und würde einen erfolgreichen Abschluss ermöglichen. Der zweite Punkt betrifft das Letztentscheidungsrecht des Parlaments im Haushaltsverfahren. Hierzu hat die irische Präsidentschaft einen Vorschlag vorgelegt, der darauf hinausläuft, dass sich beide Seiten einigen müssen. Das Parlament hat in der Sitzung positiv reagiert. Viele der Mitgliedstaaten, die vorher energisch gegen das Letztentscheidungsrecht des Parlaments waren, haben ebenfalls positiv reagiert. Ich kann also die Prognose wagen, dass die Formulierung, die die Präsidentschaft vorgeschlagen hat, Zustimmung finden wird und so ein Konflikt, eine institutionelle Konfrontation zwischen Parlament und Rat verhindert werden kann. Der dritte Punkt betrifft die Parlamentssitze. Die kleinsten Mitgliedstaaten haben nochmals darum gebeten, das Mindestquorum um einen Sitz anzuheben. Die Bundesregierung hat sich dahin gehend geäußert, sie habe nichts dagegen, allerdings könne eine Anhebung nicht zulasten unseres Anteils gehen. Eine Anhebung würde also eine maßvolle Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze bedeuten, wobei Spanien und Polen ebenfalls Diskussionsbedarf angemeldet haben. Ich glaube, wir werden aber auch diese noch offene Frage abhaken können. Es ist also nur noch die Frage des christlich-religiösen Erbes offen. Wir haben dafür gestritten und haben uns dafür eingesetzt, eine Formulierung zu finden, die in Richtung der Formulierung geht, die in unserem Grundgesetz steht. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur die Staaten, die eine geringere Bindung an die christlich-religiöse Tradition haben, dagegen sind, sondern auch die Staaten, die ein anderes Verständnis der Trennung von Staat und Religion haben. Ich gehe davon aus, dass man sich auf die Formulierung, die der Konvent gefunden hat - es war schon schwierig genug, sich darauf zu verständigen -, einigen wird. - Das waren die letzten entscheidenden Punkte, die uns beschäftigt haben. Abschließend eine Bemerkung zu den Vorschlägen hinsichtlich der Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit. Für uns ist wichtig, nun den erreichten Verhandlungsstand zu den Bereichen Innen und Recht entsprechend zu verteidigen. Die Präsidentschaft wird einen Gesamtvorschlag vorlegen, der alle bis dahin offenen Fragen berücksichtigt. Es besteht also die echte Chance, dass wir einen erfolgreichen Abschluss erzielen können. Ich denke, das verdanken wir dem guten Willen aller Beteiligten. Wir wissen, was für Europa davon abhängt. Um die EU der 25 handlungsfähig, demokratisch, effizient und transparent zu machen, brauchen wir unbedingt diesen Verfassungsvertrag. Um den Risiken, über die wir heute Morgen diskutiert haben, und den Gefahren, mit denen wir es zu tun haben, begegnen zu können, setzt das eine handlungsfähige Europäische Union voraus. Ich denke, mit diesem Verfassungsvertrag, wenn er so abgeschlossen wird, haben wir tatsächlich den qualitativen Schritt der Vertiefung erreicht, den wir am 1. Mai mit der Erweiterung gemacht haben. Ich danke Ihnen. ({24})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Guido Westerwelle, FDPFraktion.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Laufe der Debatte ist mehrfach der Eindruck erweckt worden, als wäre das, was wir in unserem Antrag fordern, nämlich über die gemeinsame europäische Verfassung auch in Deutschland eine Volksabstimmung zuzulassen, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es wurde so getan, als sei unser Antrag gegen das Grundgesetz bzw. gegen dessen Geist gerichtet. Ein Blick ins Gesetz erleichtert bekanntlich die Rechtsfindung. Deswegen möchte ich Ihnen Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes noch einmal vor Augen führen. Dort heißt es: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt. Wir kennen im Grundgesetz übrigens auch ganz konkrete Fälle für eine Volksabstimmung. Wenn sich zum Beispiel zwei Länder neu gliedern wollen - das haben wir mit Berlin und Brandenburg erlebt -, ({0}) dann muss natürlich eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Zwei Länder, die sich zusammenschließen wollen, müssen also das Volk befragen. Die Eingliederung Deutschlands in eine europäische Staatlichkeit ist im Vergleich dazu mit Sicherheit weit wichtiger. Deshalb sollte dazu erst recht das Volk befragt werden. ({1}) Herr Minister Fischer, ich kann verstehen, dass die Kolleginnen und Kollegen der Unionsparteien, die bei solchen Mitteln der direkten Demokratie seit vielen Jahren eher skeptisch sind, auch hier ihre Skepsis zum Ausdruck bringen. Abenteuerlich wird es nur dann, wenn sich die Grünen und die Sozialdemokraten, die bei jeder Klein-Klein-Frage immer wieder für die Volksabstimmung geworben haben, ({2}) bei der europäischen Verfassung auf Ihren Standpunkt, Herr Fischer, disziplinieren lassen. ({3}) Die Grünen sind sonst für Volksabstimmungen über jeden Krötentunnel, bei der europäischen Verfassung sind sie aber nicht dazu bereit, weil sie Angst vorm Volk haben. Das ist der falsche Ratgeber. ({4}) Herr Außenminister, es ist bemerkenswert, wie Sie das hier vorgetragen haben. Sie sagten, Sie befänden sich in einer Minderheitenposition. Das ist überhaupt nichts Ehrenrühriges. Das kommt in der Politik immer wieder vor. Jeder, der in der Politik arbeitet, war regelmäßig auch schon in Minderheitenpositionen, ganz gleich, an welcher Position er arbeitet. Das ist das Normalste der Welt. Herr Minister Fischer, das Problem ist nicht, dass Sie beim Thema Volksabstimmung sagen, Sie seien in einer Minderheitenposition gegenüber Ihrer Fraktion. Das Problem ist, dass Sie die Parole ausgegeben haben, dass sie Ihnen statt ihrem Gewissen folgen müssen. Das ist meines Erachtens eine klare Fehlentscheidung in diesem Hause. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte sehr.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Westerwelle, ganz unabhängig davon, dass ich nicht ganz verstehe, was Sie gegen Krötentunnel haben, möchte ich Sie etwas fragen. Man könnte sich vorstellen, dass es im Wahlkampf auch um populistische Forderungen geht. Das will ich Ihnen gar nicht unterstellen. Wieso entwickelt die FDP nur dann, wenn es um die EU-Verfassung geht, plötzlich ein Liebesgefühl für plebiszitäre Elemente in der Verfassung? Wir haben in unserem Antrag gesagt, dass das Volk selbst entscheiden soll, über welche Themen im dreistufigen Verfahren abgestimmt wird. Es soll also von unten herauf und nicht vom Bundestag herunter bestimmt werden, über welches spezielle Thema abgestimmt wird. Warum haben die wenigen Abgeordneten der FDP-Fraktion, die an der damaligen Abstimmung teilgenommen haben, mehrheitlich dagegen gestimmt?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst einmal ist es gut, dass Sie mir die Gelegenheit geben, das klarzustellen. Wie jede andere Partei auch haben wir in den letzten Jahren mehrfach über diese Frage gesprochen. Natürlich haben auch wir den Eindruck gewonnen, dass die Distanz zwischen der Politik und dem Volk zugenommen hat. Durch mehr Mittel der direkten Demokratie wollen wir diese Distanz zwischen den politischen Entscheidern und dem Volk wieder verringern. Es gibt einen massiven Unterschied zwischen uns, den ich Ihnen auch nennen werde; das braucht man gar nicht zu verkleistern: Wir Liberale wollen, dass die repräsentative Demokratie durch direkte Mitwirkungsmöglichkeiten ergänzt und nicht ersetzt wird. ({0}) Wir wollen nicht, dass für jede Klein-Klein-Entscheidung eine Volksabstimmung durchgeführt wird, sondern wir wollen sie bei historischen Schlüsselentscheidungen. Die EU-Verfassung ist eine solche historische Schlüsselentscheidung. ({1}) Der Vorwurf des Populismus ist von Ihnen immer wieder erhoben worden. Der Außenminister spricht von Wahlkampf und Sie sagen, Sie wollten uns keinen Populismus vorwerfen, tun es damit aber. Das ist das übliche Spiel. Das kennen wir; das ist ein bisschen einfach. Deswegen möchte ich Ihnen nur einmal sagen, wie die Lage in Europa aussieht: Dänemark, Irland, Luxemburg, die Niederlande, Polen, Lettland, Frankreich, Österreich, Portugal, Spanien, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Slowakei - all diese Länder haben schon beschlossen, dass es dort ein Referendum geben wird, sind dabei, zu beschließen, dass es dort ein Referendum geben wird, oder haben schon die Möglichkeiten dafür geschaffen, dass es dort ein Referendum geben wird. Wollen wir dabei zusehen, wenn unsere Regierung erklärt, unser Volk sei dafür nicht reif genug? Unser deutsches Volk ist demokratisch genauso reif wie all die Staaten in Europa, in denen die Bürger darüber abstimmen dürfen. ({2}) Wir wollen, dass abgestimmt wird. Wir sind der Überzeugung, dass dies ein wesentliches Element ist, um das Thema Europa endlich wieder in die Herzen der Bevölkerung hineinzubringen. Das ist unser eigentliches Anliegen. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, dass bei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament in Brandenburg nur 30 Prozent zur Wahl gegangen sind. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir selber eine Entwicklung bekämpfen müssen, die da heißt: Europa ist ein Europa der Staatsgipfel. Es muss aber ein Europa der Bürgerinnen und Bürger sein. Diese Verfassung sollte vom Volk getragen werden. Es war ein Fehler, dass nach der deutschen Einheit über unser gemeinsames Grundgesetz nicht vom Volk abgestimmt wurde. Eine riesige Mehrheit wäre diesen Weg mitgegangen. Dieser Fehler sollte sich in Europa nicht wiederholen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der CDU/CSU-Antrag spiegelt heute weniger die Diskussion über europäische Zustände als vielmehr die Nichtdiskussion über den europapolitischen Zustand der Christdemokraten wider. Bei Ihnen ist heute von fortschreitender Integration nicht mehr die Rede, sondern eher von anhaltender Stagnation. Sie haben keinen Mut mehr für die Zukunft. Bei Ihnen herrscht nur noch Kleinmut vor. Der Beitrag des Kollegen Müller - das ist wirklich zu bedauern - ist der Einstieg in den Ausstieg unserer gemeinsamen Überzeugung des europäischen Verfassungsprojekts. ({0}) Es ist schon bedauerlich, dass Sie sich auf den gleichen Weg wie Ihre CSU-Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament begeben, die vor einem Jahr gegen den Beitritt Tschechiens gestimmt haben. Ansonsten gibt es bei Ihnen nur reine Taktik statt europäischer Inhalte. Im Straßburger Parlament wurden von der Fraktion der europäischen Christdemokraten zuerst die englischen Konservativen aufgenommen - sie sind bekanntlich nicht europäisch -, dann die italienische Forza Berlusconis, die bekanntlich keine Christdemokraten sind. Ergebnis: eine große Zahl von Abgeordneten und eine kleine Zahl von Gemeinschaft. Im aktuellen Europawahlkampf fällt Ihnen deshalb nichts anderes ein, als Bilder von Angela Merkel zu plakatieren. Sie hatte bekanntlich im Jahre 2003 ihre Unterstützung für den Spalterbrief der acht EU-Staaten bekundet. Sie erinnern sich: Das waren die Kriegswilligen im Irak. Heute wollen Sie das nicht mehr wahrhaben. ({1}) Würden Sie sich heute weniger von Wahlkampftaktik leiten lassen und stattdessen offen argumentieren, so müssten Sie zugeben, dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ebenso wie Grüne heute meist das fortführen und erfolgreich weiterbringen, was Sie früher selbst gefordert haben. Ich sage Ihnen: Wenn es heute um Wegmarkierungen und um einen Meilenstein im europäischen Verfassungsprozess geht, so sind wir als SPD stolz, dazu Wegweisendes beigetragen zu haben. Schon 1866 im Kaiserreich forderte der ADAV im ersten Wahlprogramm die deutsche Einheit als einen Anfang des solidarischen europäischen Staates. 1925 sprach sich die SPD in Weimar für die Bildung der vereinigten Staaten von Europa aus, um zur Interessensolidarität aller Völker zu gelangen. Vor 60 Jahren trug eine linke Widerstandsgruppe gegen die Nazidiktatur den Namen „Europäische Union“. Ihr gehörte unter anderem der unvergessene Professor Robert Havemann an. 1984 formulierte der italienische Sozialist Altiero Spinelli im Europäischen Parlament den ersten Verfassungsentwurf, ein Modell, das alle weiteren konstitutionellen Überlegungen inspirierte und auch von den Fraktionen dieses Hauses getragen worden ist. Schließlich wurde 1999 auf Initiative von Gerhard Schröder und der rot-grünen Bundesregierung mit dem Konvent zur Axel Schäfer ({2}) Europäischen Grundrechte-Charta der Nukleus für die europäische Verfassung geschaffen. Wir wollen ein europäisches Deutschland. Deshalb muss die deutsche Europafähigkeit gestärkt werden. Es ist notwendig, dass wir uns als Bundestag darüber Klarheit verschaffen, welche Konsequenzen sich aus der europäischen Verfassung künftig für unsere Tätigkeiten ergeben. Erstmals werden die nationalen Parlamente mit 25 Staaten die Möglichkeit haben, die Einhaltung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips bei europäischer Rechtsetzung direkt zu kontrollieren. ({3}) Das Protokoll zum Verfassungsentwurf beinhaltet eine direkte Beteiligung der nationalen Parlamente. Dadurch ergeben sich Chancen einer frühzeitigen, konstruktiven Mitwirkung des Deutschen Bundestages in EU-Angelegenheiten. Der so genannte Frühwarnmechanismus wird ein Gestaltungsinstrument sein, also ein Instrument zur Ausformulierung europäischer Politik und nicht zur Verhinderung. Das sage ich ausdrücklich in Richtung Bundesrat, dessen Bedeutung und Verantwortung in der EU gestärkt werden. Künftig gilt: Das Europäische Parlament, der Ministerrat und die Kommission berücksichtigen die begründeten Stellungnahmen der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten oder einer der Kammern der nationalen Parlamente. Die Umsetzung der Bestimmungen der künftigen EUVerfassung geht mit einer Verbesserung der Europafähigkeit unseres Parlaments einher. Die SPD hat dazu konkrete Vorschläge erörtert und Ihnen vorgelegt, auf die Sie gerne eingehen können. Erstens. Das Informationsmanagement unseres Parlaments muss sich auf die Zuleitung von EU-Dokumenten direkt durch die europäischen Organe einstellen. Zweitens. Angesichts der knapp bemessenen Fristen müssen relevante EU-Dokumente künftig direkt vom Bundestagspräsidenten über den Vorsitzenden des EUAusschusses an die Ausschüsse überwiesen werden. Drittens. Eine Vorfeldbeobachtung von europäischen Rechtsetzungsvorhaben sowie deren intensive inhaltliche Beratung sind für uns unabdingbar. Viertens. Im Hinblick auf die knappe Fristsetzung sind auf Grundlage von Art. 45 des Grundgesetzes Regelungen zur Abgabe von plenarersetzenden Beschlüssen über die Subsidiaritätsrüge durch den EU-Ausschuss vorzusehen. Fünftens. Der Bundestag selbst muss eine neue Balance zwischen dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und den Fachausschüssen bei der Subsidiaritätskontrolle schaffen. Sechstens. Der Europaausschuss braucht spezielle Berichterstatter und in den Fachausschüssen brauchen wir EU-Berichterstatter, die gemeinsam europäische Rechtsetzungsvorhaben prüfen. Siebtens. Für die Beratung von Angelegenheiten, die nicht Gegenstand des Frühwarnmechanismus sind, sollte der heute bestehende Verfahrensgang - abgesehen vom einheitlichen beschleunigten Überweisungsverfahren fortbestehen. Achtens. Die COSAC und die Konferenz der Parlamentspräsidenten sind als wichtigste Elemente in den Prozess und die Bewertung der Subsidiaritätskontrolle einzubeziehen. Besondere deutsche Interessen haben die europäische Entwicklung, auch in der Verfassungstradition, befruchtet. Ich erinnere an den Maastrichter Vertrag, in den auf unsere Initiative hin der Ausschuss der Regionen aufgenommen wurde. Er erhält jetzt das Klagerecht. Ich erinnere auch an die regionale und kommunale Selbstverwaltung. Die künftige EU-Verfassung achtet nicht nur die föderale Struktur unseres Grundgesetzes, sondern sie gewährt auch der Selbstverwaltung einen Schutz. Das ist bemerkenswert, wo wir doch wissen, dass viele Länder eher zentralistisch ausgerichtet sind. Wir müssen uns einige selbstkritische Fragen stellen. Sind wir in Europa heute tatsächlich schon auf der Höhe der Zeit? Werden wir durch unsere parteiliche, politische, auch parlamentarische Wirklichkeit schon dem Anspruch gerecht, den wir selbst in der Verfassung formuliert haben? Ganz konkret frage ich uns alle im Parlament: Gibt es tatsächlich schon echte europäische Parteien, die länderübergreifend agieren? Warum haben wir noch keinen europäischen Spitzenkandidaten für die Wahl zum Europäischen Parlament? ({4}) Ist es künftig noch akzeptabel, den Bürgerinnen und Bürgern vor der Wahl nicht zu sagen, wen Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale als Kandidaten für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission benennen? Wir müssen alle besser und für Europa fit werden. ({5}) Eine letzte Bemerkung zum Antrag der Kolleginnen und Kollegen zur Europäischen Verfassung. Rüdiger Veit hat unsere grundsätzliche Position dargelegt. Ich sage zugleich, dass wir über dieses Thema weiter diskutieren müssen. Dafür gibt es zwei ganz wichtige Gründe. Zum einen - das ist schon gesagt worden - gibt es tatsächlich in der Mehrheit der EU-Staaten die Diskussion über Plebiszite. Noch gestern hat ein Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, ein Christdemokrat, uns Deutsche danach gefragt, wie es bei uns weitergehen wird. Es gibt zum anderen tatsächlich den Art. 146 des Grundgesetzes, den Schlussartikel, der besagt, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit dann verliert, wenn eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Wir haben bekanntlich aus respektablen Gründen bisher nicht davon Gebrauch gemacht. Axel Schäfer ({6}) Ich betone aber an dieser Stelle: Weimar ist kein Argument gegen Plebiszite, auch wenn das immer wieder behauptet wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit!

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. ({0}) Europa könnte aber ein gutes Argument für mehr direkte Demokratie sein. Dies ist in der Europäischen Union nur dann zu realisieren, wenn alle Staaten am selben Tag über die gemeinsame Verfassung abstimmen. Dabei gilt: Die Mehrheit ist die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger und die Mehrheit der Staaten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist der europäische Weg, den wir weiterverfolgen wollen; denn das wichtigste deutsche Interesse gilt der europäischen Einigung. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute erneut über die Europäische Union. Das ist nahe liegend. Denn die EU wurde am 1. Mai erweitert; am 13. Juni wird das EU-Parlament gewählt und die Verhandlungen über die künftige EU-Verfassung laufen noch. Deshalb begrüßt die PDS im Bundestag diese Debatte. ({0}) Uns liegen außerdem zwei konkrete Anträge vor, und zwar einer von der CDU/CSU und einer von der FDP. Insofern können wir konkret zur Sache reden. Der CDU/CSU-Antrag ist der längere, aber mitnichten der bessere. Kurz gefasst wollen Sie die Europäische Zentralbank stärken und vor der Politik schützen. Sie wollen eine grundsätzliche Absage an eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Sie wollen obendrein Gottes Segen in der Präambel der Verfassung verankern. Das alles lehnt die PDS im Bundestag ab. Wir wollen einen Sozialpakt als Basis der künftigen EU. Wir schlagen niemandem die Tür zur EU zu. Wir wollen eine Verfassung, die zusammenführt und nicht trennt. ({1}) Die PDS hat nun einmal ein anderes Europabild als die CDU/CSU, nämlich kein militärisches, sondern ein friedliches, kein kapitales, sondern ein soziales und kein obrigkeitsstaatliches, sondern ein bürgerrechtlich-demokratisches Bild. Deshalb sagen wir Nein zum Antrag der CDU/CSU. ({2}) Der Antrag der FDP liegt uns näher. Er fordert eine Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung. Dazu muss das Grundgesetz geändert werden. Die PDS ist seit Jahren dafür. Wie wir alle wissen - das spielte auch heute in der Debatte schon eine Rolle -, ist der neue FDP-Antrag lediglich die kleinere Variante eines größeren Antrags, der Volksentscheide und Abstimmungen auf Bundesebene auch bei anderen Themen zulässt. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch ({3}) Nun haben heute Morgen sicherlich Millionen Zuschauer den Abgeordneten Ferber von der CSU im Fernsehen gehört. Er meinte, der FDP-Antrag sei zu kurz gesprungen. Er, Ferber, wolle eine europaweite und nicht nur eine deutsche Volksabstimmung. Das finde ich außerordentlich bemerkenswert. Frau Merkel und Herr Glos mimen in Europa den großen Springinsfeld, während ihnen zuhause die Füße einschlafen, wenn es um direkte Demokratie geht. So viel Doppelzüngigkeit wie die CDU/CSU praktizieren derzeit nur noch die Grünen. ({4}) Aber auch deren Verwirrspiel ist beeindruckend. Dazu braucht man nur die Reden vom grünen Vorsprecher Fischer und vom grünen Spitzenmann Cohn-Bendit zu vergleichen. Der eine sagt hü, der andere hott. Aber am Ende kommt nichts dabei heraus, jedenfalls keine direkte Demokratie. Ich könnte in diesem Zusammenhang zelebrieren, was Rot-Grün nach dem Motto „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ seit 1998 aufführt, wenn es um mehr Demokratie geht. Das ist kabarettreif. Immer, wenn es um unverbindliche Versprechen geht, dann sind SPD und Grüne dafür. Immer, wenn es zum Schwur kommt und um konkrete Beschlüsse geht, dann sind sie dagegen. Nun stehen Sie erneut vor der Wahl: Entweder Sie machen sich endlich ehrlich und stimmen mit der PDS dem FDP-Antrag zu oder Sie bleiben unglaubwürdig und lehnen auch diesen Antrag ab. Nun noch einmal zu dem Pseudoargument, dass entweder alle EU-Staaten abstimmen sollten oder keiner. Nachdem selbst Großbritannien seine Blockade gegen eine Volksabstimmung aufgegeben hat, gehört die Bundesrepublik zu den wenigen, die sich noch immer verweigern. Das ist die Lage. Sie ist alles andere als ein demokratisches Aushängeschild für die Bundesrepublik. Ich weiß, dass das Tradition hat. Schon 1990 haben die CDU/CSU und die Mehrheit der SPD eine Volksabstimmung über die deutsche Verfassung abgelehnt, obwohl sie im Grundgesetz angelegt ist. Aber ein Fehler wird nicht besser, wenn man ihn ständig wiederholt. Schließlich darf ich noch daran erinnern, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland für eine Volksabstimmung ist. Die PDS hat das immer gefördert und wir werden den FDP-Antrag noch ergänzen. Wir schlagen Volksabstimmungen über die künftige EUVerfassung für den 8. Mai 2005 vor. Das wäre ein gutes historisches Datum und das wäre einem friedlichen Europa würdig. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, mit welcher Nonchalance und gepflegten Langeweile bisweilen über das Thema europäische Verfassung diskutiert wird. Das beginnt schon bei der Debatte über ein Referendum. Hier verfahren manche nach dem Motto: Bei der EU-Verfassung kann man es mit einem Referendum ruhig einmal probieren. Wenn es sich bewährt, kann man auch über die innerstaatliche Anwendung nachdenken. Die FDP schließt ein Referendum über innerstaatliche Themen sogar ausdrücklich aus. Ich sage Ihnen: Europa ist kein Spielfeld für Experimente, für die uns die nationale Politik zu schade ist. ({0}) Der Verfassungsvertrag ist kein dritt- oder viertklassiges Thema, sondern eines der zentralen Zukunftsthemen der europäischen Politik. Er wird zwar die staatliche und die verfassungsrechtliche Qualität Europas nicht verändern. Aber für die Zukunftsfähigkeit Europas ist das InKraft-Treten des Verfassungsvertrages unabdingbar. ({1}) Ein gescheitertes Referendum in einem einzigen Mitgliedstaat - das wissen Sie genauso gut wie wir - verzögert das In-Kraft-Treten der Verfassung um Monate, Jahre oder vielleicht sogar für immer. Das ist doch der entscheidende Punkt! Die Bürger in Dänemark und Irland, wo das Referendum verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist, entscheiden mit dem Referendum über den Verfassungsvertrag nicht nur über ihr eigenes Schicksal, sondern auch über die Zukunft von 450 Millionen Europäern. Es gibt für den Fall, dass es schief geht, keinen Plan B in der Schublade. Nicht einmal der Bundesaußenminister, der sich sonst die Lösung aller Probleme dieser Welt zutraut, hat ansatzweise eine Idee, wie Europa aus seiner Verfassungskrise herausfinden soll, wenn keine Verfassung zustande kommt. Mit dem Vertrag von Nizza können wir die Zukunftsaufgaben jedenfalls nicht bewältigen. Es wird leichthin gesagt, die Politiker müssten eben ihre Bevölkerungen überzeugen, wenn sie wirklich wollten, dass eine europäische Verfassung in Kraft tritt. Herr Kollege Hoyer, Sie haben dabei aber außer Acht gelassen, dass wir seit einigen Jahren in diesem Land einen Bundeskanzler haben, der es noch nicht einmal schafft, seine eigene Partei von der Notwendigkeit und Richtigkeit seiner nationalen Politik zu überzeugen. Wie soll ein solcher Bundeskanzler die Menschen in diesem Land davon überzeugen, dass eine europäische Verfassung notwendig und wichtig ist? ({2}) Ich persönlich meine, dass wir über den französischen Vorschlag nachdenken sollten, wonach die Verfassung in allen Ländern, in denen das parlamentarisch möglich ist, am gleichen Tag ratifiziert werden sollte. Ich glaube, das wäre ein wichtiges Signal, dass es hier um die gemeinsame Verantwortung aller Europäer und nicht nur um nationale politische Entscheidungen geht. Ich bin kein Anhänger von Pessimismus und Schwarzmalerei, wenn es um die europäische Verfassung geht. Ich gebe nur Folgendes zu bedenken: Frau Kollegin Schwall-Düren und der Kollege Röttgen, die heute an dieser Debatte teilgenommen haben, sind herausragende Mitglieder der Föderalismuskommission, die eine innerstaatliche Reform zustande bringen soll. Ich wünsche der Föderalismuskommission alles Gute. Sie kann mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, was Gesetz bzw. Verfassung in Deutschland werden soll. Wenn ich aber sehe, wie mühsam und schwierig die Beratungen der Föderalismuskommission im Detail trotz dieser Möglichkeit sind und wie viele hohe Erwartungen bereits nach unten korrigiert worden sind, dann meine ich, dass sich der Verfassungsentwurf, den der europäische Konvent vorgelegt hat - wohl wissend, dass er von allen Staaten einstimmig gebilligt werden muss -, sehen lassen kann. Es ist ein anständiger und guter Entwurf. ({3}) Weil das so ist, ist es unsäglich, wie dieser Entwurf von kleinkarierten Erbsenzählern in der Regierungskonferenz zerredet und zerfleddert wird: ({4}) überall rote Linien, Bedenken, Vetodrohungen. Herr Bundesaußenminister, Sie haben einmal gesagt: Mit den Leftovers der Leftovers muss endgültig Schluss sein. Es ist absehbar, dass es, auch wenn Sie sich am 18. Juni einigen - ich wünsche Ihnen, dass Sie es tun -, wieder die Leftovers der Leftovers der Leftovers geben wird. Denn in einem für die Handlungsfähigkeit und auch für die Legitimation Europas zentralen Punkt, nämlich in der Frage der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, verläuft die Entwicklung schlecht. Nach allem, was wir wissen, ist der Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit in vielen Bereichen in Gefahr. Bei den Dienstleistungen, bei den unlauteren Steuerpraktiken, bei der finanziellen Vorausschau, bei den Modalitäten des Eigenmittelbeschlusses, in wichtigen Fragen im Bereich von Innerem und Justiz: Überall droht uns der Rückfall in die alte Einstimmigkeit, damit in die Handlungsunfähigkeit und in die Erpressbarkeit. Herr Bundesaußenminister, was den Kompromiss, der in Bezug auf die doppelte Mehrheit erzielt werden wird, angeht: Ich erkenne die Bemühungen aller, die sich dafür eingesetzt haben, an. Aber eines ist doch auch richtig: Besonders groß ist der Fortschritt gegenüber Nizza nicht mehr; denn überall haben sich diejenigen durchgesetzt, die ihre Blockademinderheiten schützen wollen, die erreichen wollen, dass sie ihre heiligen Kühe nicht schlachten müssen. Das führt dazu, dass die Europäische Union insgesamt handlungsunfähiger wird. Herr Bundesaußenminister und lieber Michael Roth, kommen Sie mir jetzt nicht mit den Polen, den Spaniern und den Briten, die angeblich allein die bösen Buben sind. Was nutzen uns denn die enge Freundschaft des Bundeskanzlers mit Herrn Blair, die Schröder/Blair-Papiere, die Absichtserklärungen und die gegenseitigen Besuche, wenn es weder bei der Irakfrage noch bei der Verfassungsfrage möglich war, zu einer deutsch-britischen Position zu gelangen? Was nutzt uns das Weimarer Dreieck, das Polen, Deutschland und Frankreich bilden, wenn im entscheidenden Moment vor dem Scheitern des Brüsseler Gipfels Funkstille herrschte? Wir haben im Konvent doch auch mit den britischen und den polnischen Kolleginnen und Kollegen einen Konsens erzielt. Allerdings haben es die Regierungen dann nicht geschafft, diesen Konsens in die Regierungskonferenz hinüberzuretten. Es ist oft gesagt worden: Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden; es ist besser, jetzt eine schlechte Verfassung als gar keine Verfassung zu verabschieden. Ich meine, wir sollten jetzt nicht schon wieder damit anfangen, in Kauf zu nehmen, dass die neue Verfassung in zwei oder drei Jahren geändert werden muss. Wir haben uns dafür entschieden, den Bürgerinnen und Bürgern ein klares und deutliches Signal zu geben. Mit dieser Verfassung will Europa seine Zukunftsfähigkeit sichern. Das bedeutet: Wir dürfen ihnen jetzt, noch bevor die Verfassung überhaupt ratifiziert ist, nicht schon wieder mit Änderungen drohen. ({5}) Am 13. Juni ist Europawahl. Die Wahlbeteiligung geht in allen europäischen Ländern auch deshalb zurück, weil die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass es auf ihre Stimme nicht wirklich ankommt. Weder entscheiden sie über ihre Regierung noch haben sie sichtbaren, nachvollziehbaren Einfluss auf die Brüsseler Politik. Herr Bundesaußenminister, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Die Bundesregierung sollte sich verpflichten, bei der Wahl des neuen Kommissionspräsidenten, die am 18./19. Juni ansteht, keinen Vorschlag zu akzeptieren, der nicht über eine Mehrheit im neu gewählten Europäischen Parlament verfügt. Das wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg, die Europawahl zu einer wirklichen Entscheidung über Europa zu machen. Würde die Bundesregierung darüber hinaus keinen deutschen Kommissar vorschlagen, der nicht über eine Mehrheit unter den deutschen Europaabgeordneten verfügt, so wäre das ein Zeichen von echter Demokratie, von Bürgernähe und von Respekt vor dem, was am 13. Juni in dieser Wahl zum Ausdruck kommen soll. ({6}) Herr Bundesaußenminister, lassen Sie Ihren hehren europapolitischen Worten - da sind wir gar nicht so weit auseinander - ein paar kleine, bescheidene Taten folgen! Wenn das geschieht, dann können wir in den nächsten Wochen gemeinsam noch viel erreichen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Druck- sachen 15/2998 und 15/2970 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetz- entwurf auf Drucksache 15/2998 soll federführend vom Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einver- standen? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Zusatzpunkt 12: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis- ses 90/Die Grünen mit dem Titel „Die europäische Ver- fassung beschließen - der erweiterten Union ein solides Fundament für die Zukunft geben“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/3208? - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ent- haltung der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Groneberg, Karin Kortmann, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, HansChristian Ströbele, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Globale Zukunftssicherung durch die Förde- rung erneuerbarer Energien in Entwicklungs- ländern vorantreiben - Drucksache 15/3212 - b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Bestandsaufnahme durch die Deutsche Energie-Agentur ({1}) über den Handlungsbedarf bei der Förderung des Exportes erneuerbarer Energietechnologien - Drucksache 15/1862 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Nationalen Zuteilungsplan für Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 ({3}) - Drucksache 15/2966 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) - Drucksachen 15/3224, 15/3237 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Kelber Dr. Reinhard Loske Zu dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzes liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der kommenden Woche ist es so weit: Die Internationale Konferenz für Erneuerbare Energien findet in Bonn statt. Vom 1. bis 4. Juni werden sich auf Einladung von Bundeskanzler Gerhard Schröder mehr als 100 Minister und Ministerinnen sowie mehr als 120 Delegationen auf Ziele zum weltweiten Ausbau der erneuerbaren Energien und zur Steigerung der Energieeffizienz verständigen. Zahlreiche nationale und internationale Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, die Weltbank und UN-Organisationen werden vertreten sein. Warum richten wir, das Bundesentwicklungsministerium und das Bundesumweltministerium unter Leitung meines Kollegen Jürgen Trittin, diese Konferenz zusammen aus? Deutschland ist Vorreiter in der Nutzung erneuerbarer Energien und der Steigerung der Energieeffizienz. Nicht nur angesichts hoher Ölpreise, die unsere und alle Volkswirtschaften belasten, haben wir schon lange die Perspektive für eine neue Energiezukunft entwickelt und unsere Politik entsprechend ausgerichtet. Diese Energiewende kann aber nur nachhaltig sein, wenn sie global ist; denn wegen der Emissionen und des Wettlaufs um knappe fossile Ressourcen gibt es für alle Menschen auf diesem Globus nur eine gemeinsame Zukunft. Wenn wir jetzt nicht handeln, wenn wir nicht auf erneuerbare Energien und bessere Energieeffizienz setzen, geht uns auf allen Kontinenten, aber auch gerade uns in Europa irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes die Luft aus. ({0}) Die Konferenz verfolgt drei Ziele. Erstens. Es wird eine gemeinsame politische Erklärung geben, in der sich die anwesenden Regierungen ihrer Vision einer neuen Energiezukunft versichern. Das gemeinsame Ziel soll lauten: Bis zum Jahr 2015 soll 1 Milliarde Menschen, die bisher keinen Zugang zu moderner Energieversorgung haben, mit Energie aus erneuerbaren Quellen versorgt werden, damit sie aus der Energiearmut geholt werden. ({1}) Zweitens. Auf der Konferenz soll ein gemeinsames Aktionsprogramm verabschiedet werden, in dem alle anwesenden Regierungen darlegen, mit welchen Programmen und Zielen sie zu dieser neuen Energiezukunft beitragen werden. Ein drittes Dokument wird ganz praktische Politikempfehlungen dazu enthalten, wie auch Entwicklungsländer verstärkt erneuerbare Energien einsetzen und nutzen können. Die Argumente für die erneuerbaren Energien sind gerade für Entwicklungsländer überzeugend. Wir alle wollen, dass die Entwicklungsländer die Armut in ihren Ländern bekämpfen. Wir alle wollen, dass Kinder in die Schule gehen können, dass Menschen in Krankenhäusern versorgt werden und dass Handwerker Maschinen nutzen können. Das geht aber nur, wenn es Wirtschaftswachstum gibt, wenn Menschen Zugang zu moderner Energieversorgung erhalten. Bisher hat ein Drittel der Welt, 2 Milliarden Menschen, keinen Zugang zu moderner Energie. Armutsbekämpfung geht aber Hand in Hand mit Energieversorgung. Deshalb - da dürfen wir uns nichts vormachen - wird der weltweite Energieverbrauch steigen, während gleichzeitig die Ölreserven abnehmen. Noch verbraucht ein US-Bürger im übertragenen Sinne über 13-mal so viel Erdöl wie ein Mensch in China und über 26-mal so viel wie ein in Indien lebender Mensch. Das wird sich ändern. Auch Chinas Nachfrage nach Öl ist in den letzten drei Monaten um 18 Prozent gestiegen. Dabei ist aber eines klar: Entwicklungsländer dürfen und wollen nicht die Fehler wiederholen, die die Industrieländer bisher bei ihrer Energieversorgung gemacht haben, denn das hält unser Globus nicht aus. Der Klimawandel würde sich dann noch weiter beschleunigen. Es gibt also keine Alternativen zu erneuerbaren Energien und zur Steigerung ihrer Effizienz. Außerdem bringt der Einsatz erneuerbarer Energien riesige Vorteile für Entwicklungsländer mit sich. Dieser leistet einen Beitrag zur Armutsbekämpfung, wirkt dem Klimawandel entgegen und macht alle Volkswirtschaften, die der Industrieund der Entwicklungsländer, unabhängiger vom Öl. Hierfür ein Beispiel: Allein die Haushalte von Entwicklungsländern würden um 60 Milliarden US-Dollar entlastet - eine gigantische Summe -, wenn sie nicht die Mehraufwendungen für den gestiegenen Ölpreis zu tragen hätten. Übrigens ist der Betrag fast so hoch wie die Summe der Gelder, die von den Geberländern für offizielle Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet wird. Sie sehen also, welchen Spielraum die Haushalte von Entwicklungsländern durch höhere Unabhängigkeit vom Öl erhielten. ({2}) Viertens. Erneuerbare Energien schaffen qualifizierte Arbeitsplätze, hier und in den Partnerländern. Sie sind überall verfügbar. Es gibt keine Kämpfe um sie. Außerdem sind sie dezentral einsetzbar; das ist besonders wichtig für die Versorgung ländlicher Regionen, in denen es keine Stromnetze gibt. Wir als Bundesregierung haben - so hat es Bundeskanzler Schröder im Jahre 2002 in Johannesburg auch zugesagt - für fünf Jahre, vom Jahr 2003 bis zum Jahr 2007, den Partnerländern rund 1 Milliarde Euro zur Förderung erneuerbarer Energien und zur Steigerung ihrer Effizienz zugesagt. Das Entwicklungsministerium ist augenblicklich mit 157 Vorhaben in 39 Ländern aktiv. Das heißt, Deutschland kündigt seine Verpflichtungen an; es löst aber seine Verpflichtungen auch ein. Und diese Verpflichtungen liegen im wahrsten Sinne des Wortes auch in unserem eigenen Interesse; denn auch wir wollen davon profitieren, dass der Klimawandel aufgehalten oder ihm wenigstens entgegengewirkt wird. Auf der Konferenz in Bonn werden wir weitere Initiativen vorstellen. Wir werden, wie wir es nennen, eine Reihe von Leuchttürmen für den deutschen Aktionsplan beisteuern: eine Initiative „Geothermie für Entwicklung“, eine afghanisch-französisch-deutsche Initiative „Nachhaltige Energie für Wiederaufbau und Entwicklung“, Public Private Partnerships für nachhaltige Energie zur Unterstützung kleinerer und mittlerer Energieunternehmen in Subsahara-Afrika sowie eine Energiepartnerschaft zwischen unserem Ministerium und der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank, um in dieser Region den Ausbau erneuerbarer Energien voranzubringen. Fünftens und letztens: Wir drängen darauf, dass die Weltbank eine Bank zur Förderung erneuerbarer Energien wird. Bisher haben diese bei ihr nur einen Anteil von 6 bis 10 Prozent. Das ist absolut unzureichend. Wir wollen, dass dieser Anteil drastisch gesteigert wird. Damit könnte eine deutliche Stärkung der Förderung erneuerbarer Energien in der Welt bewirkt werden. ({3}) Zum Schluss, Frau Präsidentin. Nach einer aktuellen Umfrage vom Mai dieses Jahres sind in Deutschland laut Allensbach 62 Prozent der Befragten für eine verstärkte Förderung der Energie aus Sonne, Wind und Wasser. Deshalb ist meine feste Überzeugung: Erneuerbare Energien sind die Energieform der Zukunft. Wir haben auf diesem Globus unendlich viel dieser erneuerbaren Energien. Dieser Überfluss schont unsere Umwelt, schafft Frieden und fördert Entwicklung und Sicherheit. Die ökologische Gestaltung der Globalisierung gelingt nur mit erneuerbaren Energien. Die Generationen heute, aber zumal die nach uns kommenden Generationen werden es uns danken, wenn wir die Weichen richtig stellen. Die Konferenz, die nächste Woche stattfindet, dient diesem Ziel. Wir hoffen auf einen großen Erfolg und freuen uns über die hohe Zahl von über 2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, um eine neue Energiezukunft weltweit anzustoßen und zu beginnen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass wir mit dem gerade angesprochenen Thema, das Frau Wieczorek-Zeul einleitend behandelt hat, eines der wesentlichen Instrumente aufgreifen, die wir in Zukunft nutzen müssen, um weltweit zu mehr Klimaschutz und Klimavorsorge zu kommen. Deshalb werden wir bei dieser Konferenz unseren Beitrag leisten und gleichzeitig dafür sorgen, dass dabei die internationalen Aspekte besonders berücksichtigt werden. Lassen Sie mich hinzufügen, dass wir aber natürlich darauf achten werden, dass wir zur Gesamtlösung der Klimaschutzproblematik eine Effizienzverbesserung bei allen Energieträgern weltweit brauchen. Nach unserer Auffassung können wir einen wirklichen Beitrag zur Lösung des Klimaproblems, das eine echte Bedrohung darstellt und deshalb dringend gelöst werden muss, nur dadurch leisten. Wir müssen uns heute gleichzeitig mit der Einführung des Emissionshandels und dessen Kernstück, dem Gesetz über den Nationalen Zuteilungsplan, den Nationalen Allokationsplan, auseinander setzen. Dieses Gesetz ist nicht nur ein umweltpolitisches, sondern es hat auch ganz erhebliche Bedeutung in Bezug auf die Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb hätte ich mir eigentlich gewünscht, dass wir mehr Zeit gehabt hätten, uns mit diesem Gesetz hier zu befassen. ({0}) Wenn das Gesetz so durchgepeitscht wird, dass man nicht einmal zwei Stunden Zeit hat, um ganz wesentliche Änderungsanträge von gravierendster Bedeutung im Kontext einigermaßen durchzuprüfen, wird das der Sache nicht gerecht. ({1}) Auch Ihren Hinweis, dass Sie auf europäischer Ebene eine Verpflichtung eingegangen sind, kann ich nicht gelten lassen, wenn ich im internationalen Vergleich sehe, Dr. Klaus W. Lippold ({2}) dass nur vier Länder der Europäischen Union ein solches Gesetz pünktlich eingereicht haben. Ich kann das auch deshalb nicht gelten lassen, weil Sie sich bei der Erfüllung anderer EU-Zielsetzungen, zum Beispiel dem Stabilitätsgesetz, nicht nur Zeit lassen, sondern die Regelungen dieses Gesetzes bewusst übertreten und sagen, dass Sie sie auch in Zukunft übertreten werden. Hier wäre mehr Zeit angebracht gewesen, um eine Verbesserung der Situation zu erreichen. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei der Umsetzung des Emissionshandels hat die Union besonderen Wert darauf gelegt, dass der Aspekt, dass vorsorgender Umweltschutz mit Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzsicherung vereinbar ist, in den Vordergrund gestellt wird. Ich sage ganz deutlich, dass wir sehr zufrieden sind, dass es gelungen ist, im Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz einen Passus zu verankern, der für neu zu gründende Unternehmen ebenso wie für Betriebserweiterungen hinreichend Emissionsberechtigungen vorsieht. Das bedeutet, dass es auch in Zukunft keine Behinderungen geben wird, wenn sich neue Unternehmen in Deutschland ansiedeln wollen und Arbeitsplätze schaffen wollen oder wenn bestehende Unternehmen ihren Betrieb erweitern wollen. Wir waren ganz eindeutig der Meinung, dass die von Ihnen bisher vorgesehene Reserve dafür nicht ausreicht, vor allen Dingen weil wir nach wie vor einen Berg von mindestens 4,5 Millionen Arbeitslosen zu bewältigen haben, was mit einer so knappen Reserve nie hätte gelingen können. ({4}) Wir werden natürlich auch deutlich machen, dass es wichtig ist - wir sind uns nach den bisherigen Prüfungen aber nicht ganz sicher, ob das erreicht wurde -, Wettbewerbsnachteile gegenüber dem europäischen Ausland auszuschalten. Wir müssen deutlich sagen, dass das Gesetz, wie Sie es gestaltet haben, für eine Reihe von Branchen zu ganz erheblichen Schwierigkeiten führt. Dabei handelt es sich um Branchen wie zum Beispiel die Zementindustrie, die in Deutschland wesentlich modernere Anlagen, als sie weltweit zu finden sind, betreibt, was zu wesentlich höheren Emissionsminderungen führt. Trotzdem wird dieser Industriezweig mit Auflagen konfrontiert, die er nicht erfüllen kann. Wenn die Konsequenz aus dem Gesetz ist, dass in Deutschland keine Anlagen mehr gebaut werden oder Anlagen stillgelegt werden, dann muss man sagen, dass dies nicht dem Umweltschutz dient; denn Anlagen in anderen Ländern weisen wesentlich stärkere Emissionen auf. Deswegen muss dieser Teil genau überdacht und geprüft werden. ({5}) Wir hatten bei Ihnen gelegentlich durchaus den Eindruck, dass die Vorstellung für Sie nicht unangenehm wäre, wenn es in Deutschland bestimmte Industriezweige nicht mehr geben würde. Es gäbe dann die entsprechenden Emissionen nicht mehr und Sie könnten Ihr einseitiges umweltpolitisches Ziel erreichen. Diese Haltung kann unserer Gesamtverantwortung nicht gerecht werden. Wir werden dafür sorgen, dass diese Verhältnisse nicht so bleiben. ({6}) Wir wollen auch nicht, dass durch die Art und Weise, wie Sie das Gesetz ausgestaltet haben, in der Bundesrepublik Deutschland spezifische Energieträger wie zum Beispiel Steinkohle oder Braunkohle benachteiligt werden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass wir weltweit sowohl Öl als auch Steinkohle und Braunkohle in absehbarer Zeit noch nutzen müssen. Wenn es uns in Deutschland gelingt, hier die effizientesten Technologien zu schaffen, dann leisten wir erstens einen Beitrag zum vorsorgenden Klimaschutz und zweitens einen Beitrag zur Exportstärkung und damit zur Sicherung unserer Arbeitsplätze. Das ist ganz entscheidend. Hier gibt es Ansatzpunkte, bei denen Sie noch nachbessern müssen. Es ist uns gelungen, wenigstens für ein Bundesland Regelungen durchzusetzen - gegebenenfalls werden diese Regelungen noch zwei andere Bundesländer betreffen -, die die weitere Nutzung der Braunkohle sicherstellen. Ich halte das für ausgesprochen notwendig und wichtig. Es gibt noch Positionen, die wir einfordern müssen, die sich aber im Moment noch nicht genau überschauen lassen. Die Erfüllung der Zielsetzungen durch das Treibhausgasemissionsgesetz und durch den Nationalen Allokationsplan erfordert, dass wir Instrumente, die wir in diesem Hause gemeinschaftlich auf Initiative der Union geschaffen haben - ich nenne Clean Development Mechanism und Joint Implementation, also die gemeinschaftliche Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen -, in ihrer vollen Breite nutzen und ihre Anwendung nicht stärker als andere Länder beschränken. ({7}) Die Instrumente müssen funktionsfähig bleiben; sonst hat die Einführung von Joint Implementation und Clean Development Mechanism keinen Sinn. Dies sind nicht die einzigen Positionen, um die es geht. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir in Zukunft eine faire Auseinandersetzung mit den anderen Sektoren führen können, in denen noch Emissionsminderungen vorgenommen werden müssen. Wir dürfen dabei nicht nur über Minderungen im Energiebereich und im Industriebereich nachdenken. Es fehlt nach wie vor ein entsprechender Ansatz, um zum Beispiel im Altbaubestand wesentlich schneller mit dem Klimaschutz voranzukommen, als das derzeit zu beobachten ist. ({8}) Wir haben immer noch die Positionen vor Augen, die Sie in Ihre Parteiprogramme und auch in Ihr Regierungsprogramm aufgenommen haben, insbesondere zur steuerlichen Förderung. Wir wären dankbar, wenn Sie diese Positionen sozusagen aktivieren würden, damit wir hier einen ganz großen Schritt vorankommen und uns nicht nur auf dieses Segment beschränken müssen. Wir brauchen ein klares und allumfassendes Konzept; sonst Dr. Klaus W. Lippold ({9}) haben wir nicht die Möglichkeit, Emissionsminderungen so schnell zu erreichen, wie wir dies wollen. ({10}) Lassen Sie mich noch kurz sagen - ich will in diesem Zusammenhang nur einen Aspekt nennen -, dass unser Energiemix nach wie vor die Kernenergie mit einschließen wird. Es ist schon erstaunlich, wie sich weltweit die Denke ändert. Es gibt hervorragende grüne Denker, wie zum Beispiel James Lovelock, Urgestein in der Klimaschutzvorsorge und Grüner im wahrsten Sinne des Wortes, der die vorsorgende Klimaschutzpolitik weltweit ganz maßgeblich mit beeinflusst hat. ({11}) Dieser Grüne sagt aber, dass Sie in Ihrer ideologischen Festlegung auf den Kernenergieausstieg „misleaded“ - auf gut Deutsch: irregeleitet - sind. Ich kann mich dem nur anschließen. Angesichts dessen, dass es in diesem Land 84-Jährige gibt, die die geistige Beweglichkeit haben, bei der Anpassung an neue Probleme mit neuen Antworten zu arbeiten, sollten auch Sie, die Sie die 84 noch nicht erreicht haben, die nötige Flexibilität besitzen, um sich entsprechend anzupassen. ({12}) Mein letzter Satz. Manchmal weisen Ihnen ja die internationalen Gurus den Weg. Ich erinnere mich daran, dass Sie uns in früheren Jahren, wenn wir über nachwachsende Wälder und Holzplantagen gesprochen haben, abgebürstet haben. Als dann Ihr anderer Guru aus Brasilien, Lutzenberger, der frühere Umweltminister von Brasilien, gesagt hat, dies sei ein sinnvolles Instrument, da konnten wir beobachten, dass Sie Ihre Denke geändert haben. Ändern Sie jetzt Ihre Denke, da ein anderer Guru sagt, was richtig ist! Das wird Ihnen gut tun und das wird auch unserem Land nutzen. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich werde einmal eine Doktorarbeit über die Länge der letzten Sätze schreiben. Das wird lustig. ({0}) Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die einen halten sich wie Herr Lippold an Gurus. Manche gehen ins Kino und schauen sich „The Day after Tomorrow“ an. Ich glaube, wir sind uns aber darin einig, dass wir im Klimaschutz vorankommen müssen und dass beim Thema Klimaschutz die Energiewende eine ganz zentrale Rolle spielt. Hier hat die Koalition in den letzten Jahren entscheidende Weichen gestellt: von der Ökosteuer über den Atomausstieg, das Erneuerbare-Energien-Gesetz - ich bin froh, dass es auf einem guten Weg zu sein scheint - und die Energieeinsparverordnung bis zum Emissionshandel. Dass wir damit auf dem richtigen Weg sind, belegt der Umstand, dass Russlands Präsident nunmehr in Aussicht gestellt hat, das Kioto-Protokoll zu ratifizieren. Damit kommt erstmalig ein völkerrechtlich verbindlicher Deckel auf die Treibhausgasemissionen. Hierzu passt das Instrument des Emissionshandels. Der Emissionshandel macht den Klimaschutz effizient. ({0}) Wir rechnen mit Einsparungen von 500 Millionen Euro für die Unternehmen in den ersten beiden Handelsperioden. Aber er ist auch ein Paradigmenwechsel; denn erstmalig wird der Ausstoß von CO2 absolut gedeckelt. Wir haben mit dem Entwurf, den wir hier vorgelegt haben, erneut die Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutschland beim Klimaschutz unterstrichen. Wir sind auf dem Weg der Zielerfüllung sehr weit. Bis 2012 müssen wir den CO2-Ausstoß noch um 17 Millionen Tonnen reduzieren. Wir haben, obwohl wir diesen Weg schon ein ganzes Stück zurückgelegt haben, gesagt: Wir wollen, dass schon in der ersten Handelsperiode - damit unterscheiden wir uns von vielen anderen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union - auch von der Industrie und dem Verkehr Reduktionen erbracht werden. Wir haben einen Erfüllungsfaktor von 2,91 Prozent. Wir belohnen den Ersatz alter Technik durch moderne, effizientere Technik und machen im Gegenzug alte Technik unrentabel. Braunkohlekraftwerke mit einer Effizienz von 32 Prozent und weniger müssen ab 2010 zusätzlich um 15 Prozent reduzieren. Sie sehen: Schon vor In-Kraft-Treten dieses Gesetzes wirkt die Mischung aus Übertragungsregel und Malusregel. Es wird bei Grevenbroich ein neues Braunkohlekraftwerk geben. Diese Anlage wird 45 Prozent effizienter sein als die dafür im Gegenzug stillzulegenden Anlagen der RWE in Frimmersdorf. Deutschland spart allein dadurch 2 Millionen Tonnen CO2 ein. Ich sage Ihnen: Das ist ein Ergebnis der ambitionierten Klimaschutzpolitik dieser Koalition. ({1}) In der nächsten Woche werden 1 000 Delegierte und 1 000 Delegationsmitglieder aus über 100 Staaten nach Bonn kommen, um diese in Deutschland vollzogene Energiewende zu besichtigen. Dabei stehen die erneuerbaren Energien im Mittelpunkt. Sie sind in dreifacher Hinsicht eine Win-win-Option: Sie tragen nachhaltig zum Klimaschutz bei. Bereits jetzt werden dadurch 53 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr eingespart. Im Jahr 2010 werden es 85 Millionen Tonnen CO2 sein. Die erneuerbaren Energien bringen Dynamik in den Arbeitsmarkt und steigern die Wettbewerbsfähigkeit. Bereits heute arbeiten in Deutschland 120 000 Menschen in dieser Branche. Gutachter und Wissenschaftler sagen, wenn sich unser heutiger Umsatz in Höhe von 10 Milliarden Euro in Deutschland und aufgrund der Exportchancen, die die erneuerbaren Energien eröffnen, vervierfacht, dann können bis zu 400 000 Menschen im Jahr 2020 in dieser Branche Beschäftigung finden. In diesen Tagen, in denen einige ihr Auto wegen der steigenden Ölpreise mit Aufklebern verunzieren, ist eines besonders wichtig: Die erneuerbaren Energien vermindern die Abhängigkeit unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft von diesem einzigen Gut, dem Öl. ({2}) Aus diesem Grund sagen wir: Wir müssen diese Technik weltweit voranbringen. Eine sichere Zukunft, auch im Sinne von Sicherheitspolitik, beruht auch auf dem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Diese Energien müssen aber billiger und wettbewerbsfähiger werden. Deshalb hat der Bundeskanzler auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung gesagt, wir wollen in den nächsten fünf Jahren eine halbe Milliarde Euro zur Förderung von erneuerbaren Energien in den Entwicklungsländern ausgeben. Allein im letzten Jahr wurden Zusagen für neue Projekte in einer Größenordnung von ungefähr 100 Millionen Euro gemacht. Deswegen beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschland an der Global Market Initiative zum Bau von 5 000 Megawatt solarthermischer Kraftwerke im Sonnengürtel der Erde und deswegen fördern wir über Instrumente wie das EEG die Technologieentwicklung in Deutschland, dabei haben wir insbesondere die Massenproduktion im Blick. Ich will auf eines hinweisen: In den letzten Jahren hat sich in Deutschland nicht nur die Photovoltaikleistung versechsfacht, sondern im gleichen Zeitraum sind die Kosten für die einzelnen Einheiten auch um 40 Prozent gesunken. Solche Initiativen und Vorstöße sollen auf der Konferenz „Renewables 2004“ in Bonn das Aktionsprogramm prägen. Wir wollen den allgemeinen Satz „Der Ausbau der erneuerbaren Energien soll signifikant gesteigert werden“ mit einem konkreten Aktionsprogramm und konkreten Finanzzusagen und Zielsetzungen, wie sie die EU und Südamerika verwirklicht haben, unterlegen. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Aber wir wollen unser Ziel erreichen, ungefähr 1 Milliarde Menschen in den nächsten Jahren Zugang zu Energie zu verschaffen. Die Energiewende in Deutschland belegt: Effizienz, Energiesparen und erneuerbare Energien helfen dem Klima, modernisieren den Standort Deutschland und stärken unsere Wettbewerbsfähigkeit. In diesem Sinne freue ich mich, Sie alle in der nächsten Woche in der UN-Stadt begrüßen zu dürfen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits seit Mitte der 80er-Jahre setzt sich die FDP für den Emissionshandel ein. Wir haben stets die Einmischung der Bundesregierung auf europäischer Ebene gefordert, wenn die Spielregeln in Europa für den Emissionshandel festgelegt werden. In diesem Punkt haben Sie, Herr Trittin, versagt. Sie haben diese Warnung ignoriert und sich in keiner Weise darum gekümmert. ({0}) Ich finde das, was heute hier passiert, wieder einmal bezeichnend. Wir debattieren heute über den Emissionshandel. Das Herzstück des Emissionshandels, das Zuteilungsgesetz, haben wir heute hier zu beraten. Das wäre eigentlich eine eigene Debatte wert. Aber was machen Sie? Es werden wieder Entschließungsanträge zu erneuerbaren Energien, die Sie längst hätten einbringen können und wo Sie längst hätten handeln können, hier mit auf die Tagesordnung gesetzt. Das machen Sie ausschließlich deshalb, weil Sie versuchen wollen, die Probleme, die Sie beim Emissionshandel schaffen, zu vertuschen. ({1}) Aber das gibt mir die Chance, auf ein weiteres Versäumnis der Bundesregierung hinzuweisen, Herr Trittin und auch Frau Wieczorek-Zeul. Sie haben es nämlich versäumt, die Bundesrepublik Deutschland auf die Nutzung der so genannten flexiblen Instrumente des KiotoProtokolls vorzubereiten und einzustellen. ({2}) Mit dem Clean Development Mechanism und der Joint Implementation haben wir Möglichkeiten, in Entwicklungs- und Schwellenländern zu investieren, weil dort eine Reduktion der Emissionen von CO2 zu deutlich geringeren Kosten möglich ist. Da Emissionen an den Grenzen nicht Halt machen, wäre es sinnvoll, dort zu investieren, weil wir für die Verbesserung des Weltklimas dadurch deutlich mehr erreichen können. ({3}) Da - das muss ich Ihnen sagen - verweigern Sie sich nach wie vor. ({4}) Sie verhindern damit auch den Technologietransfer in Entwicklungsländer. Sie entwickeln in Ihrem Entwicklungshaushalt Spezialprogramme; aber Sie müssen die Dinge verknüpfen. Dann wären sie sehr viel effizienter und wirkungsvoller. Sie haben damit die Chance nicht nur für den Technologietransfer in Entwicklungs- und Schwellenländer verpasst, sondern auch für eine Exportoffensive für erneuerbare Energien aus Deutschland. Dafür tragen Sie die Verantwortung. ({5}) Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich es noch viel schlimmer finde, dass Sie das offensichtlich auch jetzt, wo es einen gemeinsamen Standpunkt des Europäischen Rates darüber gibt, dass diese Instrumente mit dem europäischen Emissionshandel verknüpft werden sollen, also mithin Kostenreduktionspotenziale auch für den Emissionshandel in Europa und in Deutschland erschlossen werden sollen, wieder nicht in das Gesetz aufnehmen. Es ist klar, welche Entwicklung es in Europa geben wird. Lassen Sie es uns einfach machen! Dass Sie das nicht machen und auch nicht vorsehen, können wir nicht akzeptieren. Das bedeutet eine eklatante Wettbewerbsverzerrung, die wir nicht akzeptieren werden. Sie werden von Europa gezwungen werden, das in Deutschland einzuführen. ({6}) Ein weiterer Punkt, Herr Trittin: Bei der heutigen Diskussion über die Einführung des Emissionshandels geht es um nicht weniger als die Umstellung in der Umweltpolitik von der bisherigen reinen Ordnungspolitik hin zu einem marktwirtschaftlichen Instrument. Das ist ein ganz wichtiger Prozess und etwas derart Neues, dass man die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren darauf hätte vorbereiten müssen. Das haben Sie verpasst. Bisher dachten wir, Sie hätten das verschlafen. Seit dieser Woche wissen wir aber, dass es wohl Absicht war. Wie anders erklären Sie die Art und Weise, wie Sie vorgegangen sind? Sie haben ein beispielloses Chaos angerichtet. Bis kurz vor der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes heute hier, bis kurz vor der Beratung im Umweltausschuss haben Sie einen Änderungsantrag nach dem anderen mit hektischen Verschlimmbesserungen gestellt, ({7}) sodass es zum Schluss Dienstagnacht fünf Pfund Änderungsanträge gab, mit denen Sie nahezu alle Paragraphen Ihres eigenen Gesetzentwurfes geändert haben. Das ist die Realität und das ist keine angemessene Vorgehensweise bei der Einführung eines so wichtigen Instruments. ({8}) Das macht eine seriöse Beratung unmöglich und - das ist noch viel schlimmer - es schafft eine Situation, in der selbst Experten nicht mehr sagen können, wie sich das Gesetz auf betroffene Unternehmen und auf die Arbeitsplätze auswirken wird. Das ist unzumutbar und wird bald dazu führen, dass nachgebessert werden muss. Dies führt zu Verunsicherungen bei Betroffenen. Sie sorgen für ein Fiasko. Für die Probleme, die sich aus diesem Verfahren ergeben, und für das, was beim Emissionshandel hinterher nicht funktioniert, tragen ausschließlich Sie von Rot-Grün die Verantwortung. ({9}) In der Beratung in dieser Woche wurden Sondertöpfe und Spezialregelungen noch einmal ausgeweitet und verkompliziert. Das bringt Nachteile insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, weil der dadurch erzeugte bürokratische Aufwand diese relativ stärker belastet als große Unternehmen. Sie haben es geschafft, den Vorteil des Emissionshandels in einen Nachteil zu verwandeln. Sie haben aus einem staatsfernen, dezentralen und liberalen Instrument, das Klimaschutz zu minimalen Kosten erreicht, ein bürokratisches Monstrum gemacht. ({10}) Ihre Regelungen sind ungerecht, weil Sie Gleiches ungleich behandeln, beispielsweise Altanlagen und Neuanlagen. Altanlagen werden deutlich besser als Neuanlagen mit Emissionsrechten ausgestattet. Sie sagen, damit wollen Sie einen Anreiz für Investitionen schaffen. Aber das schafft das Instrument des Emissionshandels sowieso; denn genau das ist Sinn und Zweck des Emissionshandels. Hier betreiben Sie also keine Investitionsförderung. Vielmehr belohnen Sie die Langsamen, diejenigen, die bisher nichts getan haben, und bestrafen diejenigen, die bereits bisher etwas getan haben. Das tragen wir nicht mit. ({11}) Ohne vernünftigen Grund haben Sie eine glatte Dreifachförderung der Kraft-Wärme-Kopplung eingeführt. Jetzt wird die Kraft-Wärme-Kopplung nicht nur durch das KWK-Gesetz, sondern auch noch auf zweifache Weise durch die Regelungen des Zuteilungsgesetzes, die Zuteilung von mehr Emissionsrechten, gefördert. Dafür stehen Ihnen zwei Fördertöpfe zur Verfügung: sowohl die Early Actions als auch die Regelungen des § 14 Abs. 1 Zuteilungsgesetz, in dem es um die Effizienz geht. In dieser Woche haben Sie das Kumulationsverbot aufgehoben, das ursprünglich im Gesetz stand. Das bedeutet, dass die Kraft-Wärme-Kopplung jetzt aus drei Töpfen gefördert wird. Das ist nichts anderes als die schamlose Klientelpolitik von Rot-Grün. ({12}) Dafür musste zulasten anderer der so genannte Erfüllungsfaktor geändert werden. Sie haben die Neuregelung eingeführt, dass die Zuteilung von Emissionsrechten rückwirkend gekürzt werden kann. Da frage ich Sie: Wer soll vor dem Hintergrund der Rechtsunsicherheit, dass ihm einmal Zugeteiltes vielleicht wieder weggenommen werden kann, eigentlich in diesem Land investieren? ({13}) Aber damit noch nicht genug. Durch die trittinschen Zugeständnisse ergeben sich Verschiebungen. Es sind also in anderen Bereichen mehr Einsparungen nötig, beispielsweise bei den privaten Haushalten und im Verkehrsbereich. Dies führt zu noch unbezifferbaren Mehrbelastungen. Weil Sie dies - das ist absehbar - auf ineffiziente Weise über die Ökosteuer organisieren werden, ({14}) kann ich Ihnen nur sagen: Eine solche Mehrbelastung der privaten Haushalte werden wir nicht mittragen. ({15}) Wir sind der Meinung, dass Doppelbelastungen aus der Ökosteuer und dem KWK-Gesetz zumindest für diejenigen, die am Emissionshandel teilnehmen, abgeschafft werden müssen. Eine solche Doppelbelastung ist nicht gerechtfertigt. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Der Gesetzentwurf, den Sie uns hier vorlegen, ist die größte umweltpolitische Enttäuschung der letzten Jahre in Deutschland. ({16}) Die FDP will den Emissionshandel als unbürokratisches, effizientes Instrument. Das bürokratische Monster, das Sie uns hier vorlegen, werden wir aber nicht mittragen. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Scheer.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der nächsten Woche wird nicht nur die Internationale Regierungskonferenz durchgeführt, sondern am 2. Juni findet auch das Internationale Parlamentarierforum statt, zu dem der Deutsche Bundestag eingeladen hat. ({0}) Als Vorsitzender dieses Parlamentarierforums möchte ich betonen - das tue ich auch im Namen der gesamten interfraktionellen Vorbereitungsgruppe -, dass wir dieses Forum der Parlamentarier für genauso wichtig wie die Regierungskonferenz halten. ({1}) Denn alle Initiativen, durch die in den letzten 25 Jahren Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energien vorangetrieben wurden - manchmal waren sie auch von Rückschlägen begleitet -, sind letztlich aus den Parlamenten gekommen. Das gilt für das Stromeinspeisungsgesetz und seinen Nachfolger, das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Das gilt für die brasilianischen BioalkoholInitiativen wie auch für die Gesetzgebung des amerikanischen Kongresses Ende der 70er-Jahre, die leider Anfang der 80er-Jahre abgebrochen bzw. kassiert worden ist, womit nicht nur Amerika, sondern die Welt insgesamt in diesem Bereich mindestens zwei Jahrzehnte verloren hat. Das gilt ebenso für viele Initiativen in anderen Ländern. Wir wollen die anderen Parlamentarier motivieren, positive Beispiele nachzuahmen, sie ermutigen, die Initiativen auch von sich aus zu ergreifen. Diese Ermutigung ist notwendig. Der gesamte Bereich der erneuerbaren Energien wird von sehr vielen Mythen begleitet und ist mit sehr vielen Barrieren konfrontiert: Ich nenne zum Beispiel die angeblich zu hohe Kostenbelastung durch erneuerbare Energien. Das ist aber nur eine Momentaufnahme, die für die Initialperiode erneuerbarer Energien zutreffen mag, sie gilt jedoch mit Sicherheit nicht für die dauerhafte Entwicklung. Denn neben dem ökologischen Unterschied gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den herkömmlichen und den erneuerbaren Energien: Erneuerbare Energien werden, weil bei ihnen nur Technikkosten anfallen und nicht mehr Brennstoffkosten - außer bei der Bioenergie, da ist das anders -, mit der weiteren technischen Entwicklung und mit der Massenproduktion solcher Technologien immer billiger werden. Das zeigen 200 Jahre technologisch-industrieller Entwicklung in allen Bereichen. Herkömmliche Energien werden dagegen immer teuerer werden; sie kommen in die Erschöpfungsphase und die Umweltlasten werden immer gravierender und müssen ja schließlich auch von der Gesellschaft - wenn nicht heute, so spätestens morgen, von der nächsten Generation - bezahlt und getragen werden, was gegen das Prinzip jedweden Generationenvertrages ist. ({2}) Vor diesem Hintergrund ist diese Motivierung unglaublich wichtig. Was können die Regierungskonferenz und das Parlamentarierforum leisten? Bei beiden Anlässen handelt es sich nicht um eine Konferenz von Staaten mit dem Ziel eines internationalen Vertrages; es handelt sich auch nicht um einen Beschlusskörper einer internationalen Organisation, auch nicht des UN-Systems. Vielmehr handelt es sich um freiwillige Zusammenkünfte: Auf der Regierungskonferenz werden 87 Regierungen vertreten sein, beim Parlamentarierforum 75 Parlamente. Jeder ist aus freien Stücken gekommen. Es geht jetzt also nicht darum, bürokratisch um jedes Komma zu streiten, sondern es geht um die Impulsgebung; es geht darum, zu zeigen, was wirklich möglich ist, die Augen zu öffnen, die Mentalität der Zurückhaltung gegenüber erneuerbaren Energien - die natürlich auch bis weit in die Politik reicht - aufzubrechen. Was ist der Vorteil der Parlamentarier? Warum sind die Initiativen von Parlamenten gekommen? Es gibt in jedem Land eine lange Tradition - über ein Jahrhundert lang entwickelt -, dass sich überall - wegen der strategischen Bedeutung von Energie für jede Volkswirtschaft; weil ohne Energie nun einmal nichts geht - enge Verflechtungen, Intimverflechtungen zwischen Regierungen und der nun einmal etablierten fossilen bzw. atomaren Energiewirtschaft gebildet und eingespielt haben. ParlaDr. Hermann Scheer mente sind freier von diesem Interessengeflecht; deshalb kamen die Initiativen von daher und das wollen wir auch anderen zeigen. Das internationale System hat in der Frage der erneuerbaren Energien bisher - das sollten wir nicht verschweigen - versagt. Wir haben spätestens seit 1973 - durch die damalige Ölkrise - die Notwendigkeit des Umstiegs erkannt. 1974 begannen in fast allen Ländern der Welt die ersten Forschungs- und Entwicklungsprogramme für erneuerbare Energien; was vorher passierte, war nicht nennenswert. Als die Ölkrise vorbei war, trat wieder Entwarnung ein. In den 80er-Jahren gab es nur minimalste Ansätze; ansonsten ist fast vollständig versäumt worden, etwas zu tun. Erst ab Beginn der 90erJahre ging es aufwärts - noch immer nicht unbedingt gefördert durch das internationale System. Noch nicht einmal auf der berühmten Rio-Konferenz ist der Zusammenhang zwischen globalen Entwicklungsproblemen und globalen Umweltproblemen, besonders dem Klimaproblem, und der heutigen Weise des Energieverbrauchs und den jeweiligen Energiequellen, aus denen diese Energie generiert wird, genannt worden. Das ist aufgrund des Interessendrucks verschwiegen worden, der natürlich auch auf solche Konferenzen einwirkt. Noch vor Johannesburg schien es fast wieder so. Dann kam die Initiative des UN-Generalsekretärs im Frühjahr 2002, der gesagt hat: So geht es nun wirklich nicht. In Johannesburg standen das Thema Wasser und das Thema erneuerbare Energien schließlich im Mittelpunkt aller Erörterungen. Das heißt, in Johannesburg hat man sich den realen globalen Problemen erstmals angenähert. Nun ist es unsere Aufgabe, Impulse zu setzen. Im Rahmen dieser Konferenz müssen wir aufzeigen, welche Möglichkeiten die erneuerbaren Energien tatsächlich bieten. Für deren Einsatz gibt es nicht nur Umweltgründe - diese allein würden schon dafür sprechen -, sondern auch entwicklungspolitische Gründe. Viele Länder der Dritten Welt sitzen mittlerweile in der Falle der fossilen Energien. Sie müssen schon heute mehr für den Import von fossilen Energien bezahlen, als sie durch den Export einnehmen. Hier liegt die große Chance durch erneuerbare Energien. ({3}) Wir sollten stolz darauf sein, hierzu eine avantgardistische Position einnehmen zu können. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Peter Paziorek das Wort.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Scheer, ich habe um eine Kurzintervention gebeten, weil ich verhindern möchte, dass in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Frage, ob Abgeordnete aus dem Unionslager die Resolution und Schlusserklärung bei der Parlamentarierkonferenz unterzeichnen werden, ein falscher Eindruck entsteht. Sie haben in Ihrer Rede die Position vermittelt - das war für mich durchaus nachvollziehbar -, dass ein Gegensatz zwischen erneuerbaren Energien und fossilen Energieträgern bzw. - das haben Sie nur andeutungsweise gesagt und haben in der Tat vorsichtig formuliert zwischen erneuerbaren Energien und Atomenergie bestehe. Ich habe der Vorbereitungskommission für die Parlamentarierkonferenz angehört. Wir haben zusammen versucht, einen Resolutionstext zu erarbeiten, der breit gefasst ist und damit allen die Möglichkeit gibt, ihn zu unterzeichnen. Vor dem Hintergrund Ihrer Rede muss die Öffentlichkeit darauf hingewiesen werden, dass es durchaus unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Frage gab, ob der gesamte Energiebedarf von erneuerbaren Energien abgedeckt werden soll oder ob es nicht den verschiedenen Staaten und Volkswirtschaften überlassen bleiben soll, eigene Wege zur Förderung der erneuerbaren Energien zu finden und einen eigenen Energiemix zu definieren. Es wird weiterhin Staaten geben, die nicht ausschließlich auf erneuerbare Energien setzen werden, sondern die auch in Zukunft fossile Energieträger verwenden werden. Auch zur friedlichen Nutzung der Atomenergie beziehen sie unterschiedliche Positionen. Aus Klimaschutzgründen spricht aus meiner Sicht sogar vieles dafür, weiterhin Kernenergie zu nutzen, sich aber auch gleichzeitig für einen größeren Anteil der erneuerbaren Energien einzusetzen. Wir haben bei der Formulierung der Resolution einen Kompromiss gefunden. In ihr wird keine Entweder-oderPosition bezogen, wie es in Ihren Ausführungen teilweise anklang. Die Resolution bietet durchaus eine gewisse Offenheit für die verschiedenen möglichen Wege und für den Einsatz verschiedener Energieträger. Der gemeinsame Wille ist aber, aus Klimaschutzgründen und aus volkswirtschaftlichen Gründen den Anteil der erneuerbaren Energien zu erhöhen. Mir war wichtig, das hier darzustellen - bitte haben Sie Verständnis dafür -: In dieser Resolution wurde kein Gegensatz aufgebaut. Jede Volkswirtschaft soll vielmehr das Recht haben, ihren eigenen Weg zu finden. Gerade diese Offenheit in der Resolution ist der Grund dafür, dass mehrere Abgeordnete aus dem Unionslager sie bei der Parlamentarierkonferenz unterzeichnen können. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Paziorek, ich bin Ihnen für Ihre Ausführungen sehr dankbar. In meiner Rede wollte ich zum Ausdruck bringen, dass ein mentaler Aufbruch stattfinden muss, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Wir sind in diesem Bereich in Deutschland sogar relativ weit. In der Praxis ist bei uns schon viel geschehen. Ich habe einen ziemlich guten Überblick über das, was in den Ländern auf den verschiedenen Kontinenten passiert. In Deutschland sind die Koalitionsparteien in dieser Frage deutlich weiter als die Oppositionsparteien. Die Oppositionsparteien sind in dieser Frage aber durchaus weiter als manche sozialdemokratischen Parteien in anderen Ländern. Vor diesem Hintergrund habe ich von der Notwendigkeit eines Aufbruchs gesprochen. Ich hatte keineswegs vor - das war nicht Sinn meiner Ausführungen -, meine Betrachtungen nur nach innen zu richten. Wir sind mittlerweile weiter als noch vor drei Jahren. Damals gab es in der Enquete-Kommission Schwierigkeiten in der Frage, das, was wir an Gesetzen auf den Weg gebracht haben, als Erfolgsmeldung an die UN zu geben. Einige waren damit nicht einverstanden, obwohl es sich um beschlossene Gesetze handelte. Eines ist aber klar - Sie wissen, dass ich mich bei der Resolution dafür eingesetzt habe -: Ich bin nicht unbedingt dafür, eine Festlegung darüber zu treffen, bis zu welchem Jahr jedes Land der Welt wie viel an erneuerbaren Energien eingeführt haben muss; deswegen habe ich auch keinen entsprechenden Versuch gemacht. Auf nationaler Ebene, auf der wir das in der Hand haben, gibt es gute Gründe dafür. Ich denke aber, es wäre nicht besonders produktiv, das allgemein zu formulieren, weil man sich dann um Kommas streiten würde. Das kann nicht der Sinn einer Konferenz sein, die sowieso keine verbindlichen Beschlüsse fassen kann. Es macht aber Sinn, deutlich zu machen, was alles möglich ist, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. ({0}) Es gibt sehr gute praktische Vergleichsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Konzepten. Sie werden dort diskutiert werden. Die Zahlen sprechen Gott sei Dank für sich. Andere Betrachtungen, auch ideologischer Art, hören dann auf. Es ist uns allen klar, dass die Dynamik vorangetrieben werden muss und dass es aus vielerlei Gründen - am wenigsten jedoch aufgrund des umfassenden Potenzials erneuerbarer Energien - ohnehin nicht möglich sein wird, von heute auf morgen ein ganzes Energiesystem zu ändern. Jedes Land hat heute einen anderen Energiemix, meistens einen herkömmlichen. Wo es die natürlichen Bedingungen erlauben, nutzt man oft die traditionelle Wasserkraft. Nach meiner und der Auffassung vieler anderer wird der Anteil der erneuerbaren Energien am Energiemix auf dem Weg in die Zukunft sehr rasch ansteigen, während der Anteil der fossilen Energien parallel zu diesem Prozess reduziert wird. Am Schluss werden dann irgendwann nur noch die erneuerbaren Energien übrig bleiben. Das ergibt sich schon aufgrund der Ressourcenproblematik. Das ist jedenfalls meine Hoffnung und die Perspektive, für die ich mich einsetze. Ich glaube, dafür gibt es auch in der Bevölkerung eine breite Unterstützung. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Girisch. ({0})

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung nimmt für sich in Anspruch, mit ihrem Nationalen Allokationsplan eine Vorreiterrolle in Europa eingenommen zu haben. Diese Selbsteinschätzung ist aus meiner Sicht falsch; ({0}) denn unter einer Vorreiterrolle verstehe ich, dass man den anderen Ländern als Vorbild, aber auch als Vordenker dient und dass man die anderen Länder motiviert, die Eckpunkte aus dem deutschen Allokationsplan zu übernehmen. Dies ist nachweislich nicht geschehen. ({1}) Im Gegenteil: Die Bundesregierung hat unser Land und die bei uns vom Emissionshandel betroffenen 2 400 Anlagen durch ihr Verhalten ins Abseits manövriert. ({2}) In der EU gibt es außer Deutschland bisher nur ein einziges Land, das den Unternehmern in der ersten Periode weniger Kohlendioxidemissionen zuteilt als in der Basisperiode. Es kommt aber noch schlimmer: In der Schlussberatung des Umweltausschusses ging die Bundesregierung sogar von einer Übererfüllung des deutschen Minderungsziels aus. Das zeigt deutlich: RotGrün und die verantwortlichen Minister können höchstens in einem Bereich zu Recht eine Vorreiterrolle beanspruchen, nämlich bei der Gefährdung des Standortes Deutschland. ({3}) - Ja, man kann wohl sagen, dass die Wahrheit weh tut. ({4}) Ähnlich sieht auch die Selbsteinschätzung hinsichtlich einer zeitlichen und inhaltlichen Vorreiterrolle aus. Wieder behauptet die Bundesregierung, dass sie diese einnehme. Dies kann beim besten Willen niemand erkennen. Wer hier zu Recht eine Vorreiterrolle einnehmen will, der muss mehr als nur einen von der Kommission vorgegebenen Zeitplan für die nationale Umsetzung einer EU-Richtlinie einhalten. Rot-Grün hat dies sogar nur auf den letzten Drücker geschafft. Der Preis für die Einhaltung der Fristen war schlicht und ergreifend zu hoch. ({5}) Es ist einfach nicht hinnehmbar, wenn der Bundestag und insbesondere die Opposition von einer inhaltlichen und konstruktiven Beratung des Gesetzentwurfs zum Nationalen Allokationsplan faktisch ausgenommen werden. ({6}) Wie dies geschehen ist, will ich Ihnen kurz erläutern. Am Montag dieser Woche fand eine öffentliche Anhörung im Umweltausschuss zum NAPG statt. Am Mittwoch, nur zwei Tage später, war die Schlussberatung im Umweltausschuss. Die umfangreichen und gravierenden Änderungsanträge der Regierungsfraktionen lagen erst gegen 22.30 Uhr am Dienstag vor, also am Vorabend der Ausschusssitzung. Ich frage Sie: Wie sollen wir als verantwortliche Abgeordnete bei einem solchen Vorgang überhaupt eine gründliche inhaltliche Prüfung dieser Anträge vornehmen können? ({7}) Viele, die heute anwesend sind, waren in der Debatte dabei. Sie haben doch selbst gemerkt, dass Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion aufgenommen wurden. Das zeigt, dass Sie dilettantisch gearbeitet haben. Dafür gibt es aus meiner Sicht eine schlüssige Erklärung: Die Regierungsfraktionen drücken sich bewusst vor einer sachlichen Auseinandersetzung mit den Argumenten der Opposition. Die Zeitvorgabe aus Brüssel wurde als ein willkommener Vorwand für eine völlige Überstürzung der Beratung missbraucht. Wie wenig stichhaltig das Argument Zeitdruck war, zeigt eine weitere Tatsache. Wir alle konnten in der Presse nachlesen, dass trotz des vermeintlichen Zeitdrucks anscheinend immer noch genügend Zeit war, die Medien vor uns über die wichtigen Änderungen zu informieren, nämlich am Nachmittag des vorigen Tages um 15.30 Uhr. Die Presse am Nachmittag und die Abgeordneten erst am Abend zu informieren, halte ich in Anbetracht der Bedeutung dieses Gesetzes für skandalös. ({8}) - Wenn Sie das für Quatsch halten, dann lesen Sie das bitte in Ihrer eigenen Presseerklärung nach. ({9}) So viel Redlichkeit muss auch in einem Parlament sein. Offensichtlich ist diese Verfahrensweise bei der Regierung zum System geworden. Schon bei dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, bei dem wir gemeint haben, dass wir gut zusammenarbeiten können - wir haben die Zusammenarbeit angeboten -, sind einige Dinge nicht so gut gelaufen, wie wir uns dies vorgestellt haben. Ich komme jetzt zu der von Ihnen in Anspruch genommenen inhaltlichen Vorreiterrolle. Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht durchdacht. Er enthält zudem Dutzende unbestimmte Rechtsbegriffe, die entweder gar nicht geklärt oder in späteren Rechtsvorschriften geregelt werden sollen. ({10}) Der Gesetzentwurf weist also gravierende inhaltliche und juristische Mängel auf. ({11}) - Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Frau Gönner hat im Ausschuss eine ganz sachliche Diskussion geführt. ({12}) - Das ist widerlegt. Ich halte den Brief, den heute der Staatssekretär geschrieben hat, nicht für redlich. Wir werden in der nächsten Sitzung auf diese Dinge nochmals eingehen. ({13}) - Es ist klar, dass Sie ihn toll finden. Dass der Staatssekretär in der Sitzung unsere Vorschläge aufgegriffen hat, zeigt, dass er rechtlich den falschen Weg beschritten hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Lassen Sie den Kollegen bitte zum Schluss kommen, weil seine Redezeit abgelaufen ist. ({0})

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin mir sicher, Sie werden in den nächsten Jahren noch so manches Mal wünschen, bei diesem Gesetz die Opposition stärker eingebunden oder mit ihr zusammengearbeitet zu haben. ({0}) Auf diese Weise hätten noch viele juristische, aber auch handwerkliche Fehler korrigiert werden können.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, bitte.

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben stattdessen vorgezogen, die Opposition faktisch nicht am Beratungsverfahren zu beteiligen. ({0}) Sie eröffnen mit Ihrem Gesetzentwurf Tür und Tor für eine ganze Reihe von Klagen - ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Minister Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Frau Präsidentin! Wir sind gebeten worden, einer Frage nachzugehen, die Frau Gönner im Ausschuss ge- stellt hat, nämlich ob es beim Vorliegen bestimmter Vo- raussetzungen hinreichend sei, die einzelnen Vorausset- zungen, die jede für sich hinreichend ist, durch ein Komma zu trennen und anschließend ein „oder“ anzu- hängen. Mein Staatssekretär hat Frau Gönner zugesagt, diese Frage zu prüfen. Das Ergebnis der Prüfung will ich Ihnen, da Sie das hier erwähnen, nicht vorenthalten. Es ist nämlich so, dass die im Gesetzentwurf gewählte For- mulierung korrekt ist. Dem „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, herausge- geben vom Bundesministerium der Justiz, können Sie in der neu bearbeiteten Auflage von 1999 auf Seite 51 ent- nehmen: Das Wort „oder“ ist immer dann zu verwenden, wenn a) in einer Rechtsvorschrift verschiedene Vor- aussetzungen festgelegt werden sollen oder b) an einen Tatbestand Rechtsfolgen in der Weise angeknüpft werden, ({0}) dass jeweils nur eine von ihnen eintreten soll. Werden die einzelnen Voraussetzungen oder Rechtsfolgen durch Kommata voneinander getrennt, muss das Wort „oder“ vor die letzte Voraussetzung oder Rechtsfolge gesetzt werden. ({1}) Dies gilt auch bei listenförmiger Anordnung der Aufzählung. ({2}) So weit zur Rechtsförmlichkeit, der wir in vollem Umfang nachgekommen sind und die wir auf Bitten von Frau Gönner gerne noch einmal überprüft haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das war jetzt eigentlich eine Stellungnahme zur Debatte. Sie, Herr Girisch, möchten dazu noch etwas sagen. Dann gebe ich Ihnen das Wort. Drei Minuten, bitte.

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie waren bei der Debatte im Ausschuss nicht anwesend. Ich muss Ihnen sagen, dass eine ganze Galerie von Beamten dort war. Es waren noch nie so viele Beamte aus Ihrem Hause anwesend wie bei dieser Beratung. Es waren mit Sicherheit einige Juristen dabei, die sich mit Frau Gönner an Ort und Stelle hätten auseinander setzen können. ({0}) Die waren dazu offenbar auch nicht in der Lage. Ich bedanke mich. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich muss schon sagen: Ich finde, dass dieses KleinKlein für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer gar nicht nachvollziehbar ist. ({0}) Wenn Sie das aber haben wollen, dann kann ich Ihnen Folgendes sagen: Wir sind im Ausschuss auf Sie eingegangen, als es um die Verbindung von TEHG und dem Nationalen Allokationsplan ging, und zwar deshalb, weil wir sicherstellen wollten, dass Sie dem TEHG im Vermittlungsausschuss zustimmen. Das haben Sie jetzt gemacht. Dafür ein herzliches Dankeschön. Das heißt, wir sind einer Meinung. Sie bauen nur einen Popanz auf. ({1}) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt zur Sache. Vor wenigen Tagen - ich glaube, vorgestern - lief eine Umfrage vom Europressedienst über den Ticker. Die will ich uns nicht vorenthalten. Danach sind 69 Prozent unserer Bevölkerung der Meinung, wir müssten weg vom Erdöl. 58 Prozent sind der Ansicht, dass die jetzige wirtschaftliche Situation unmittelbar von der Entwicklung der Ölpreise abhängt. 72 Prozent meinen, dass die erneuerbaren Energien der Ausweg sind. Ich glaube, diese Relationen zeigen, wo die Aufgabe für uns hier im Parlament liegt. Bei aller Wertschätzung, Herr Kollege Lippold, für James Lovelock und seine Gaia-Hypothese: Die Leute wollen nicht die Atomenergie, sondern sie wollen den Einstieg in die erneuerbaren Energien. Dafür stehen wir und dafür werden wir uns einsetzen. ({2}) Wenn man diese Woche ins Kino geht, dann stößt man auf den Film „The Day after Tomorrow“. Er behandelt den Klimawandel, allerdings nur ein Szenario, nämlich den abrupten Klimawandel. Das ist wohl nicht das wahrscheinlichste, aber es ist ein denkbares Szenario. Wenn die Leute in die Zeitung schauen, dann lesen sie, dass ein Fass Öl heute 40 Dollar kostet. Diese beiden Aspekte - die Versorgungssicherheit und die Ressourcenverfügbarkeit einerseits und das Klima andererseits - müssen in politischer Hinsicht zusammen betrachtet werden. Es ist unsere Aufgabe, klar zu machen, dass die Abwendung vom Erdöl sowohl eine sehr wichtige Klimaschutzstrategie als auch eine Strategie zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit ist. Denn die Sonne schickt uns keine Rechnung. ({3}) Positiv ist auch - das sollten wir nicht vergessen -, dass Russland jetzt anscheinend bereit ist, das KiotoProtokoll zu ratifizieren, sodass dann endlich der KiotoProzess beginnen könnte. Ich bedanke mich herzlich bei der EU-Kommission, bei Herrn Prodi und anderen, dass sie sich dafür eingesetzt haben, Russland in den WTOVerhandlungen ein Stück weit entgegenzukommen, sodass es Russland möglich wurde, das Protokoll zu ratifizieren. Es geht also nicht - wie es manche von Ihnen in den vergangenen Monaten suggeriert haben - um einen Plan B zum Kioto-Protokoll; es geht vielmehr um „Kioto plus“. Zu diesem Plus gehört auch die Konferenz „renewables 2004“, die in der nächsten Woche in Deutschland stattfinden und ein sehr wichtiges Signal an die Staatengemeinschaft aussenden wird. ({4}) Noch eine letzte Vorbemerkung: Ich halte es auch für sehr positiv, dass der Nachhaltigkeitsrat diese Woche als mittelfristiges Klimaschutzziel für Deutschland die 40-prozentige Kohlendioxidreduktion - ausgehend vom Basisjahr 1990 - bis zum Jahr 2020 bekräftigt hat. Das ist die Planungssicherheit, die für die Politik wie auch für die Unternehmen erforderlich ist. Damit können wir auch anderen Ländern gegenüber signalisieren, dass wir unsere Vorreiterrolle ernst nehmen. Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zum nationalen Zuteilungsplan. Ich verhehle nicht, Frau Homburger: Ich hätte mir eine einfachere und anspruchsvollere Ausgestaltung vorstellen können. Im letzteren Fall wären Sie nicht mit im Boot gewesen, aber was das Erste angeht, bin ich mit Ihnen einer Meinung. Ich glaube trotzdem, dass darin sehr viele positive Elemente enthalten sind. Ich halte es zunächst einmal für einen Wert an sich, dass wir fristgerecht geliefert und gegenüber Brüssel signalisiert haben: Wir wollen, dass es zum 1. Januar 2005 losgeht. Das ist sehr wichtig. Ich halte es darüber hinaus für entscheidend, dass für beide Verpflichtungsperioden Reduktionsziele vorgesehen sind. Wichtig ist auch, dass eine Übertragungsregelung gefunden wurde, die Anreize für frühe Modernisierungsinvestitionen in innovative Energietechnik bietet. Das alles ist positiv. Ich stelle mit einem gewissen Selbstbewusstsein fest: Es war sehr gut, dass die Koalitionsfraktionen den Gesetzentwurf nachgebessert haben. Wir haben die Caps - die Obergrenzen - verbindlich festgeschrieben. Das erhöht die Verbindlichkeit des Gesetzes. Die im Nationalen Allokationsplan der Regierung genannte Obergrenze von 499 Millionen Tonnen für die erste Periode bildet damit die Konstante. Sie umfasst alle Zuteilungen für Alt- und Neuanlagen. Das ist im Gesetzentwurf klar geregelt und es ist richtungweisend. Darüber hinaus haben wir eine Malusregelung in den Gesetzentwurf aufgenommen. Nach dieser Regelung müssen besonders alte Anlagen früher vom Netz genommen werden. Es ist doch geradezu ein Witz, dass zurzeit noch Anlagen in Betrieb sind, die vor 45 oder gar 50 Jahren ans Netz gegangen sind. Vom Innovationsstandort Deutschland darf man wohl etwas mehr erwarten. Das haben wir im Gesetzentwurf verankert. Auch was Sie zum Thema Early Action gesagt haben, Frau Homburger, ist nicht wahr. In den neuen Bundesländern gab es eine Ungleichbehandlung zwischen den großen Spielern - ich will an dieser Stelle keine Namen nennen - und den Stadtwerken. Wir haben es erreicht, diejenigen, die besonders früh besonders viel gemacht haben und besonders ehrgeizig vorgegangen sind, stärker zu belohnen als jene, die nur wenig gemacht haben. Auf gut Deutsch: Wer viel in Richtung Effizienzverbesserung und Kraft-Wärme-Kopplung getan hat, wird belohnt. Das ist auch gut so. ({5}) Ich komme zu einem letzten Argument. Wir haben eine Newcomer-Reserve und eine Härtefallregelung eingeführt. Auch das ist sehr wichtig. Dadurch steigt der Erfüllungsfaktor von 2,5, wie im Regierungsentwurf angegeben, auf 2,91. Das heißt, bis 2007 muss eine Reduktion um knapp 3 Prozent erfolgen. Wenn Sie aber so tun, Frau Homburger, als handele es sich dabei um eine Konzession an die KWK oder die Stadtwerke, dann ist das nicht wahr. Die Wahrheit ist, dass der Erfüllungsfaktor zu einem Löwenanteil - ich möchte fast sagen: ausschließlich - auf die Einführung einer Härtefallregelung im Sinne der Wirtschaft zurückzuführen ist. Wenn Sie sich dagegenstellen wollen, dann machen Sie das bitte; aber seien Sie dann auch ehrlich! Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Stübgen.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der hier zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf über den Nationalen Allokationsplan weist viele bürokratische Unsinnigkeiten und wirtschaftsfeindliche Aspekte auf, schädigt daneben einseitig die ostdeutsche Industrie und fördert ebenso einseitig die nordrheinwestfälische Kohleindustrie. Aber nicht nur das: Das Gesetz wird sich zu einem Gesetz entwickeln, das den Transfer von Ost nach West befördert. Denn die ostdeutsche Industrie und insbesondere die bisher erfolgreiche Braunkohleindustrie muss aus ihrer Substanz den längst überfälligen Sanierungsbedarf der nordrhein-westfälischen Kohleindustrie finanzieren. Es ist zwar normal in diesem Haus, dass bestimmte Gruppen versuchen, regionale Industrieinteressen durchzusetzen. Wir als unabhängige Abgeordnete sind aber dazu da, den Interessenausgleich für die gesamtdeutsche Wirtschaft im Auge zu behalten. Ein derartig skrupelloser Versuch wie in diesem Gesetzentwurf, die nordrhein-westfälische Kohleindustrie auf Kosten der ostdeutschen Wirtschaft zu fördern, ist mir allerdings noch nicht untergekommen. Ich möchte Ihnen das an drei Punkten kurz nachweisen. ({0}) - Die Länder Brandenburg und Sachsen werden im Bundesrat gegen den Gesetzentwurf stimmen und den Vermittlungsausschuss anrufen; das sage ich Ihnen voraus. Erstens. Die ostdeutsche Industrie hat mit Beginn der 90er-Jahre, und zwar schon vor 1994, sehr erfolgreich erhebliche Investitionen in den Umweltschutz getätigt. Zum Teil kommt der vorliegende Gesetzentwurf mit der so genannten Early-Action-Regelung dem entgegen. Das Problem ist aber, dass Sie in dem Gesetzentwurf alle Investitionen, die vor 1994 getätigt wurden, ausschließen. Somit wird von vornherein ein großer Teil der Umweltschutzinvestitionen in der ostdeutschen Industrie, insbesondere in der Braunkohleindustrie, von der Anrechnung ausgeschlossen. Das Ergebnis wird sein, dass eine ganze Reihe unserer ostdeutschen Industriebetriebe sehr bald Emissionszertifikate kaufen müssen, weil Sie deren Umweltschutzinvestitionen nicht angemessen anrechnen. Zweitens. Die Investitionen, die unter die im Gesetzentwurf vorgesehenen Early-Action-Regelung fallen - sie ist im Grunde richtig -, werden im Verhältnis zu den so genannten Newcomer-Investitionen schlechter bewertet. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Für einen Braunkohlekraftwerksblock, der 1995 ans Netz gegangen ist, würde der betreffende Betreiber nach Ihrer Regelung bis 2007 den Erfüllungsfaktor 1 zugeteilt bekommen, aber auch nur, wenn seine Early Action angerechnet wird. Das heißt, er müsste bis dahin keine Emissionsminderungen realisieren. Von 2008 an müsste dieses Unternehmen aber - davon wäre eine ganze Reihe von Kraftwerksbetreibern betroffen - auf Kosten der eigenen Wirtschaftlichkeit Emissionszertifikate erwerben ({1}) und verlöre damit seine Marktfähigkeit. Wenn dagegen ein Betreiber einen 40 Jahre alten Braunkohlekraftwerksblock mit einem schlechten Wirkungsgrad und mit extrem ungünstigen Emissionswerten, der zum Beispiel im Rheinland steht und der im wahrsten Sinne des Wortes eine Dreckschleuder ist, 2005 modernisiert, dann bekommt er - wo ist hier der umweltpolitische Aspekt? - bis einschließlich 2023, also 18 Jahre lang, den Erfüllungsfaktor 1 zuerkannt, aber nicht nur das: Zusätzlich bekommt er bis 2009, also vier Jahre lang, die Emissionszertifikate auf Basis der Altemissionen der Dreckschleuder zugeteilt, die er nicht mehr benötigt und die er für bares Geld zum Beispiel an schlechter gestellte ostdeutsche Unternehmen verkaufen kann. Vor diesem Hintergrund kann von Wettbewerbsgleichheit in keiner Weise die Rede sein. ({2}) - Die werden kommen. Drittens. Auch bei der Regelung des Neubaus von Kohlekraftwerken hat Herr Clement besonders gut aufgepasst. Es ist allgemein bekannt, dass in den nächsten 15 Jahren circa 40 neue Kraftwerke in Deutschland gebaut werden müssen. ({3}) - Selbstverständlich. - Gerade hier gäbe es günstige Investitionsmöglichkeiten für die wirtschaftlich hervorragend arbeitende Braunkohleindustrie in der Lausitz und in Mitteldeutschland. Das Gesetz soll aber diese Investitionsmöglichkeiten verhindern; denn für den Neubau von Kraftwerken nach 2005 - so ein Zufall, Herr Clement! - werden als Benchmark für den Erfüllungsfaktor 1 die Emissionswerte eines modernen Steinkohlekraftwerkes zugrunde gelegt werden. Diese Werte kann auch das modernste Braunkohlekraftwerk nicht erfüllen. So können die Betreiber von Braunkohlekraftwerken künftig nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Sie werden kategorisch ausgeschlossen. Es gibt aber eine Ausnahme - das ist die größte Unverschämtheit -: Wenn man ein altes Kraftwerk schließt, dann ist es erlaubt, auf der Basis der Newcomer-Regelung ein neues Kraftwerk zu errichten und es 18 Jahre zu betreiben. Sie wissen ganz genau, dass in den neuen Bundesländern kein einziges altes Kraftwerk mehr steht. Dafür gibt es aber massenweise Dreckschleudern in Nordrhein-Westfalen. Dieses Lobbyistengesetz ist eine unglaubliche Unverschämtheit und geht auf Kosten der neuen Bundesländer. Ich habe nachgewiesen, dass dieses Gesetz eine Lex Nordrhein-Westfalica ist, dass es kurzfristig wahltaktische Überlegungen der nordrhein-westfälischen SPD unterstützen soll und dass es langfristig die ostdeutsche Industrie schädigen wird. ({4}) Liebe Kollegen von der SPD, wenn Sie verstanden haben, warum Sie hier im Bundestag sitzen, dann können Sie dieses clementsche Lobbyistengesetz nur ablehnen. Wenn Sie mir noch immer nicht glauben, möchte ich Ihnen kurz aus einem Schreiben des Ministerpräsidenten Platzeck - er ist ein unverdächtiger Zeuge - an Ihren Fraktionsvorsitzenden Müntefering von dieser Woche zitieren: Durch die frühzeitigen Modernisierungen in Ostdeutschland, die die Erreichung der Klimaschutzziele für Deutschland überhaupt erst ermöglichen, haben ostdeutsche Unternehmen erhebliche Vorleistungen erbracht, die angemessen anerkannt werden müssen. … Ein Bruch dieser Zusage durch Bundesregierung und Bundestag würde weder auf das Verständnis der Menschen in der Lausitz noch auf das Verständnis der Landesregierung treffen. ({5}) - Das ist überhaupt nicht gelöst. - Herr Platzeck befindet sich übrigens im Wahlkampf. Unterstützen Sie ihn und lehnen Sie dieses schlechte Gesetz ab! Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Kelber.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich erfordert der letzte Redebeitrag, der aus einer Aneinanderreihung von Unwahrheiten bestand, eigentlich eine sofortige Reaktion. Aber ich möchte einen ganz anderen Einstieg wählen. Vor einigen Monaten war eine Parlamentarierdelegation der pazifischen Inselstaaten hier in Berlin zu Besuch beim Deutschen Bundestag. Die Heimat dieser Menschen wird in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein. Grund dafür ist der Klimawandel, der den Meeresspiegel ansteigen lässt. Einige der pazifischen Inselstaaten haben mit Neuseeland bereits die Evakuierung der gesamten Bevölkerung vereinbart. Das sind sichtbare Opfer unseres Umgangs mit Energie und Ressourcen. Ich erwähne diese Begegnung aus zwei Gründen: Erstens. Es gab die dringende Bitte gerade an uns Deutsche, beim Klimaschutz nicht nachzulassen. Wir seien eines der wenigen positiven Beispiele in der Welt. Zweitens. Bei allen Debatten um Details des Emissionshandels, beim Feilschen um Emissionszertifikate und beim Schachern um Sonderregelungen sollten wir eines bedenken: Den Emissionshandel führen wir für den Klimaschutz ein und für nichts anderes. Das scheinen manche in dieser Debatte schon längst vergessen zu haben. ({0}) Zügiger und wirksamer Klimaschutz ist dringender notwendig denn je. Je mehr wir wissen - das Wissen wächst eigentlich jeden Tag an -, desto deutlicher werden die katastrophalen Folgen. Wir wissen, dass der Anstieg der Temperaturen schneller erfolgt als erwartet, dass sich weder Fauna noch Flora daran anpassen können. Die Eisschmelze von Gletschern und an den Polen geht schneller vonstatten und übertrifft alle Erwartungen. Der Meeresspiegel könnte nicht nur durch Schmelzwasser und Ausdehnung langsam, sondern durch Abrutschen großer Eismassen auch durchaus sprunghaft ansteigen. Wenn das der Fall ist, dann werden wir vor Problemen, auch vor wirtschaftlichen, stehen, die ganz anders sind als diejenigen, die in der gesamten Debatte darüber, was wir in den Klimaschutz investieren, eine Rolle spielen. Dem Süden der Welt, aber auch dem Mittelmeerraum und dem Süden der USA drohen verstärkte Dürren. Dem Norden der Welt drohen verheerende Hochwasser. Haben wir eigentlich alle schon vergessen, was 2002 in unserem eigenen Land passiert ist? Das ist auf einmal in keinem einzigen Beitrag, weder im Umweltausschuss noch heute, von der Opposition erwähnt worden. ({1}) Man sollte sich an dieser Stelle auch einmal fragen, was der Zusammenbruch des Golfstroms für ein Land wie das unsrige bedeuten kann. Erlauben Sie gerade mir als Bonner Abgeordnetem diesen Vergleich; schließlich liegt Berlin auf der Höhe von Südalaska. Wir führen den europäischen Emissionshandel in Deutschland ein, weil wir so zum Klimaschutz beitragen. Mit dem Emissionshandel stellen wir sicher, dass die Emissionen von klimaschädlichen Gasen in Deutschland auch in den nächsten Jahren stetig zurückgeführt werden. Wir wollen den Emissionshandel auch einführen, weil der Klimaschutz so preisgünstiger als mit anderen Mitteln erreicht werden kann. Das hat auch der Vertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie auf der Expertenanhörung des Bundestages noch einmal betont. Er war dort von der CDU/CSU eingeladen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Flachsbarth?

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, selbstverständlich.

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kelber, ohne die schlimmen Folgen eines möglichen Klimawandels in Abrede stellen zu wollen - jedes Wort, das Sie dazu sagen, kann sicherlich unterstrichen werden -, möchte ich von Ihnen gerne erfahren, ob Sie wissen, in welchem Verhältnis die CO2Ersparnisse in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten zwei Perioden zu dem Zuwachs an CO2-Emissionen, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, in Russland oder auch in China, stehen.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Flachsbarth, die ehemalige Umweltministerin Angela Merkel - sie selbst hat damals die international verbindlichen Zusagen zum Klimaschutz mit unterschrieben -, ({0}) reagiert heute auf die Klimaschutzverpflichtungen, die wir jetzt erfüllen wollen, indem sie durch die Gegend rennt und „Das sind ja nur 0,04 Prozent“ sagt oder mit anderen Zahlen um sich wirft. Damit meint sie eigentlich, ohne es auszusprechen, dass wir uns um dieses Thema nicht mehr kümmern sollen. Wer so vorgeht, wer immer sagt, sein Beitrag sei ja nur so klein und unbedeutend, ({1}) der wird seiner Verpflichtung nicht gerecht, einer weltweiten Bedrohung entgegenzutreten und zu zeigen, dass es technologische Potenziale gibt, die Ausstrahlungskraft auch für andere Regionen haben können. Wenn wir zum Beispiel eine neue Kraftwerksgeneration einführen oder wenn wir neue Technologien auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien entwickeln, weil wir Klimaschutz ernst nehmen, dann können diese neuen Kraftwerke oder Technologien auch in anderen Ländern eingesetzt werden und dort einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Ich nenne dafür ein konkretes Beispiel; Sie haben ja China genannt. ({2}) - Sie verstehen den Zusammenhang nicht. Das hat mit der Frage sehr viel zu tun. ({3}) - Nein. - Ein Beispiel. ({4}) - Wollen Sie die Frage beantwortet haben oder wollen Sie dazwischenquatschen? ({5}) - Ich warte, bis Sie fertig sind und beantworte dann die Frage von Frau Flachsbarth zu Ende. ({6}) Die chinesische Regierung hat angekündigt, dass sie die erneuerbaren Energien mit einem Gesetz nach dem Beispiel des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes fördern will. ({7}) Was wir hier sozusagen im kleinen Rahmen zum Klimaschutz gemacht haben, wird in einem Land mit 1,2 Milliarden Einwohnern fortgesetzt. Das zeigt, wie man Klimaschutz machen kann. Man darf sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Mein Beitrag ist eh so klein. Ich brauche nichts zu tun. - Frau Flachsbarth, nicht mit uns! ({8}) Frau Präsidentin, Sie haben mir übrigens 45 Sekunden Redezeit abgezogen, als ich noch geantwortet habe. Darauf wollte ich nur kurz hinweisen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich darf Sie und die anderen Kollegen daran erinnern: Solange ich die Leitung hier innehabe, tue ich das, wie ich es für richtig halte. Das brauchen Sie nicht zu kritisieren. ({0}) Dafür sollten Sie sich entschuldigen.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es war ein Fehler. Deutschland kann seine international verbindlichen Zusagen zum Klimaschutz, abgegeben von der Regierung Kohl und bestätigt durch SPD und Grüne, am preisgünstigsten mit dem Emissionshandel einhalten. Niemand kann das leugnen. Jedes Unternehmen hat in Zukunft drei einfache Möglichkeiten, seinen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten: Es kann selbst im vorgeschriebenen Umfang die Emissionen mindern, übrigens auch durch Projekte im Ausland. Es kann Emissionsrechte von anderen Unternehmen zukaufen, die selber mehr gemindert haben, als vorgeschrieben war. Es kann selber seine Emissionen mehr reduzieren, als vorgeschrieben war, und die gewonnenen Zertifikate verkaufen. Wir führen im Klimaschutz also ein marktwirtschaftliches Instrument ein. Ich möchte dazu eine persönliche Anmerkung machen. Auch ich hätte mir vorstellen können - damit komme ich Ihnen ein ganzes Stück entgegen, Frau Homburger -, dieses Instrument noch marktwirtschaftlicher auszugestalten, noch klarere Marktsignale zu setzen. Ich wundere mich in diesem Zusammenhang auch etwas über die deutsche Wirtschaft. Erst liegt sie der Politik über Jahre in den Ohren mit der Forderung: Führt den Emissionshandel ein! - Wenn die Politik dies macht, wird mit aller Lobbymacht auf eine Sonderregelung nach der anderen gedrängt. Wenn die Politik die Sonderregelungen schafft, treten dieselben Lobbygruppen auf und sagen: Jetzt sehen wir aber zu viel Bürokratie in dem System. ({0}) Sehr nachhaltig ist das Verhalten der Wirtschaftsverbände in dieser Frage sicherlich nicht. Lassen Sie uns bei der Fortschreibung des Emissionshandels doch gemeinsam noch mehr auf den Markt setUlrich Kelber zen: Jedem für die gleiche Produktion die gleiche Menge von Zertifikaten! Veraltete Anlagen müssen dann zukaufen und neue Anlagen können, weil sie effizienter sind, Zertifikate am Markt verkaufen und haben so einen Vorteil im Emissionshandel. Ich schätze es so ein, dass wir bei der Fortschreibung dieses Gesetzes in 2006 oder in 2009, wenn die dritte Stufe kommt, ein breites Bündnis dafür haben werden. Ich hoffe, dass diese Mehrheiten auch dann noch vorhanden sind. ({1}) - Breite Mehrheiten über alle Parteien hinweg! Wie ordnet sich eigentlich die Umsetzung des Emissionshandels innerhalb der EU ein? Herr Girisch, aber auch andere Kollegen haben diese Frage angesprochen. Herr Lippold - er ist leider nicht mehr da - hat von zwei Ländern gesprochen. ({2}) Inzwischen haben aber bereits neun der alten EU-Mitgliedstaaten und zwei der neuen EU-Mitgliedstaaten ihren nationalen Allokationsplan vorgelegt. Die EU-Kommission hat zu Recht angedeutet und an bestimmten Stellen auch schon in expliziter Form zum Ausdruck gebracht, dass sie auf die Einhaltung der EU-Richtlinie und des Klimaschutzes in den nationalen Allokationsplänen achten wird. Auch wir werden darauf achten, dass alle Mitgliedstaaten die gleichen Regeln einhalten müssen. ({3}) Deutschland ist übrigens keineswegs überall Vorreiter im Emissionshandel. Mehrere Mitgliedstaaten haben zum Beispiel der Energiewirtschaft wesentlich höhere Auflagen erteilt als wir in Deutschland. Dafür hat dort die restliche Industrie mehr Freiheiten bekommen. Großbritannien hat insgesamt einen ambitionierteren Plan vorgelegt als Deutschland, weil man dort davon überzeugt ist, dass Investitionen in den Klimaschutz Arbeitsplätze schaffen. Es gibt noch einen weiteren Punkt, den man erwähnen muss, um nicht einer nationalen Selbsttäuschung zu unterliegen. Bei allem Stolz auf den Klimaschutz in Deutschland, auf die Gemeinsamkeiten im Parlament zu dem Thema und die Maßnahmen der letzten Jahre gilt: Noch immer liegt unser Pro-Kopf-Ausstoß über dem Durchschnitt der Europäischen Union, weil 90 Prozent der Emissionsminderungen - da gebe ich dem Kollegen, der vor mir geredet hat, Recht - in den neuen Bundesländern erbracht wurden und die ökologische Modernisierung für den Klimaschutz im Westen unseres Landes erst noch erfolgen muss. Dafür soll auch der Emissionshandel einen Anstoß geben. Erste Erfolge können wir am heutigen Tage schon vorweisen. Ich komme damit zu den ökologischen Erfolgen in der Umsetzung des Emissionshandels: Über Bonus- und Malusregelungen motivieren wir zur Erneuerung des deutschen Kraftwerksparks. Es ist vorhin schon erwähnt worden: Der erste Antrag für die Modernisierung eines Doppelblocks ist von RWE vorgelegt worden; es sollen pro Block 2 Millionen Tonnen pro Jahr eingespart werden, also über 4 Millionen Tonnen im Jahr, nachdem die Modernisierung erfolgt ist. Es ist richtig, dass mit diesem Gesetz der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung auch in Zukunft gefördert wird; sie ist nämlich besonders klimafreundlich. Wenn man Emissionshandel betreibt, um für Klimaschutz zu sorgen, warum soll man dann nicht eine klimafreundliche Energieart fördern? Wir haben natürlich auch darauf geachtet, dass frühzeitig ergriffene Maßnahmen für den Klimaschutz belohnt werden. Wer in den letzten Jahren modernisiert hat, braucht für einen Zeitraum von bis zu zwölf Jahren nach der Modernisierung keine weitere Minderung von klimaschädlichen Gasen erbringen. Er kann es aber tun, dann hat er einen weiteren Vorteil im Wettbewerb mit Betreibern alter Anlagen. Wir haben auch darauf geachtet - das kommt gerade den ostdeutschen Stadtwerken entgegen -, dass jeder, der eine Reduzierung der klimaschädlichen Gase um mehr als 40 Prozent erreicht hat, diesen Wettbewerbsvorteil sogar bis zum Jahre 2012 erhält. Das ist ein wichtiges Signal: Wer mehr tut, als der Gesetzgeber verlangt, wird dafür belohnt. Das wird auch in Zukunft so sein. Es wird auch - entgegen der Meinung von Wirtschaftsverbänden und Opposition - keinen Stillstand geben: Wir verlangen, dass der Ausstoß an klimaschädlichen Gasen jedes Jahr in Deutschland weiter gemindert wird. Wir haben uns verpflichtet, in den Sektoren Verkehr und private Haushalte einen deutlichen Beitrag zu leisten. Schließlich werden wir das Kioto-Ziel von 846 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß sogar noch um 2 Millionen Tonnen unterschreiten. Erlauben Sie mir auch, darauf hinzuweisen, dass wir die vielen Einsprüche, die vonseiten der unter die neuen Regelungen fallenden Unternehmen, der Branchenvertreter und der Wirtschaftsverbände kamen, sehr ernst genommen haben und auf mögliche wirtschaftliche Härten für sie überprüft haben. So haben wir einige Vorkehrungen getroffen: Wer neue Anlagen schafft, erhält Planungssicherheit. Die Auslastung verschiedener Anlagen untereinander kann durch Übertragung von Produktions- und Zertifikatsmengen optimiert werden. Prozessbedingte Emissionen, also solche, die mit heutigen technischen Methoden nicht gemindert werden können, werden gesondert berücksichtigt. Wir haben flexible Härtefallklauseln und eine ausreichende Wachstumsreserve geschaffen. Das haben uns auch zwei Experten auf der Anhörung bestätigt, und zwar die Vertreter des BDI und des RheinischWestfälischen Institutes, beide übrigens von der CDU/ CSU für dieses Gremium benannt. Wir werden mit den flexiblen Instrumenten JI und CDM unseren Unternehmen weitere Möglichkeiten eröffnen. Als wir am Kompromiss im Ministerrat mitgewirkt haben, haben wir nämlich gesagt, dass wir die Richtlinie in dem Augenblick, in dem sie auf dem Tisch liegt, in Deutschland eins zu eins umsetzen werden. Ich habe übrigens meinen eigenen Stadtwerken zu Hause, den Bonner Stadtwerken, vorgeschlagen ({4}) - stellen Sie mir bitte eine Zwischenfrage, wenn Sie möchten -, sich an Projekten in unseren Partnerstädten Minsk, Yalova und Petropolis zu beteiligen und die dort erhaltenen Zertifikate in den deutschen Markt einzubringen. Die SPD hat in den letzten Monaten sehr viele Gespräche mit Unternehmen, Verbänden und Umweltschützern zu diesem Thema geführt. Nach dem Beschluss von Mittwoch haben wir viele E-Mails, Faxe und Telefonate erhalten, in denen ausnahmslos Zustimmung zur Umsetzung des Emissionshandels geäußert wurde. Eines müssen Sie sich aber anziehen, liebe Kollegen von der CDU/ CSU: Die Haltung zu Ihrem Verhalten sieht wesentlich anders aus. Am Mittwoch gab es die Beratungen im Umweltausschuss. Vorher sind die Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU übers Land gezogen und haben Unternehmen und Verbänden Versprechungen über Versprechungen zum Emissionshandel gemacht; so hat zum Beispiel der allseits bekannte Kollege aus Ostdeutschland gesagt, was die CDU/CSU noch alles zusätzlich für ostdeutsche Unternehmen erreichen wolle. Am Mittwoch hätten Sie Gelegenheit gehabt, Änderungsanträge vorzulegen und die Versprechen einzuhalten, die Sie gegeben haben. ({5}) Gab es am Mittwoch Änderungsanträge von der CDU/ CSU? Fehlanzeige! Es kam kein Vorschlag für die geforderten zusätzlichen Boni für ostdeutsche Anlagen, ({6}) und das, obwohl der Gesetzentwurf seit über einem Monat vorliegt. Das heißt, 247 Abgeordnete von der CDU/ CSU waren einen Monat lang nicht in der Lage, einen einzigen Änderungsantrag zum Emissionshandel zu formulieren. ({7}) Das zeigt Tatenlosigkeit beim Thema Emissionshandel. ({8}) Sie hätten nämlich zugeben müssen, dass Sie Ihr Versprechen, allen alles, und das gleichzeitig, zu geben, nicht hätten einhalten können. ({9}) Das ist der Grund, warum wir ohne Ihre inhaltliche Beteiligung arbeiten müssen. Reden Sie sich doch nicht damit heraus, dass Ihnen unsere Änderungsanträge zu spät vorgelegen hätten! Sie hatten einen Monat Zeit für Änderungsanträge und waren nicht in der Lage, an dieser Stelle einen Alternativvorschlag zu machen. Ich möchte mich bei den Mitarbeitern der beteiligten Ministerien, den Fraktionsreferenten, unseren Mitarbeitern und der großen Anzahl aller Beteiligten für die gute Zusammenarbeit bei diesem Gesetz bedanken. Wir haben ein Klimaschutzinstrument geschaffen, das wirtschaftliche Härten vermeidet, Investitionen anreizen wird und damit zu einer Jobmaschine werden wird. Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz. Sie haben als Opposition keinen Änderungsantrag vorgelegt, also sollten Sie heute zustimmen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und noch einmal Entschuldigung für meine ungebührliche Anmahnung, Frau Präsidentin! ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Vielen Dank. - Ich wollte auch nur darauf hinweisen, dass am Freitagnachmittag etliche Kollegen nach Hause wollen und Züge und Flugzeuge erreichen müssen und dass ich deswegen ein bisschen strenger darauf achte, das Ganze nicht zu sehr ausufern zu lassen. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion bekennt sich zur Förderung erneuerbarer Energien und steht damit in der Tradition dessen, was wir seinerzeit bei der Verabschiedung des Kioto-Protokolls wesentlich mitverhandelt haben. Wir haben hier im Grundsatz keine Differenz. Allerdings wird der Unterschied in unserer Politik deutlich, wenn man das Kioto-Protokoll mit dem vergleicht, was Sie mit Ihrem Zuteilungsplan in der nationalen Umsetzung daraus gemacht haben. Sie haben das Kioto-Protokoll zum Vorwand für eine Politik genommen, die den Industriestandort Deutschland stark gefährdet und die deswegen von uns zurückgewiesen wird. Darauf haben die Vorredner unserer Fraktion mit Recht hingewiesen. Ich möchte mich hier auf die entwicklungspolitischen Aspekte dieser Debatte konzentrieren und will noch einmal deutlich machen: Die Verbindung von Entwicklungs- und Umweltpolitik wird nie so offenkundig wie bei den Instrumenten des Joint Implementation und des Clean Development Mechanism. Wir haben sehr wohl die Möglichkeit, diese Instrumente in unserer nationalen Zuständigkeit stärker zu nutzen. Es wäre richtig, sie stärker zu nutzen. Wenn Sie das aus ideologischen Gründen nicht wollen, können Sie sich nicht hinter der EU und ihren Vorgaben verstecken, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({0}) Kollege Scheer und andere haben mit Recht auf die Bedeutung der Konferenz in der nächsten Woche in Bonn und auf die Parlamentarierkonferenz hingewiesen. Ich bin dankbar, dass es, wenn auch in zähen Verhandlungen, hier gelungen ist, zu einem Resolutionsentwurf zu kommen, den viele mittragen können, was nicht zuletzt der Hartnäckigkeit des Kollegen Paziorek zu verdanken ist; ({1}) wir haben ein durchaus ausgewogenes Bild herstellen können. Aber leider sieht nicht nur das, was Sie national tun, völlig anders aus, sondern auch das, was Sie mit Ihrem Antrag heute vorlegen. In dem Resolutionsentwurf für die Konferenz wird zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Energiekosten für die Entwicklungsländer nachträglich gesenkt werden. Es wäre schön, wenn wir uns das auch für unsere nationale Energiepolitik zu Herzen nähmen. Sie hingegen haben mit Ihren Maßnahmen dafür gesorgt, dass die wettbewerbsbedingten Energiepreissenkungen der letzten Jahre überkompensiert worden sind. Das ist eine Politik in genau die falsche Richtung. ({2}) Es gibt in Ihrem Antrag durchaus bedenkenswerte Formulierungen. Beispielsweise erklären Sie, dass Sie die Politik für die Förderung erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ausrichten wollen. Ich kann Sie nur dazu aufrufen, damit im eigenen Land zu beginnen. ({3}) Dieser Nationale Zuteilungsplan ist jedenfalls das Gegenteil davon. Ich kann auch nur erneut darum bitten, die eigenen ideologischen Grundpositionen nicht einfach auf die Entwicklungsländer zu übertragen. Sie postulieren in Ihrem Antrag eine nachhaltige Politik für eine Energiewende, wofür Sie den weltweiten Ausstieg aus der Kernenergie und aus den fossilen Energieträgern fordern. Es müsste Ihnen eigentlich klar sein, mit welcher Arroganz Sie das völlig legitime Interesse vieler Entwicklungsländer an einer friedlichen Nutzung der Kernenergie behandeln. Es müsste Ihnen eigentlich auch klar sein, dass Sie den Entwicklungsländern, die einen preiswerten Zugang zu fossilen Energieträgern haben, nicht ausreden können, diesen zu nutzen. Wenn Sie uns das nicht glauben, dann lesen Sie nach, was beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat beim BMWA schreibt. Er weist darauf hin, dass es häufig sehr viel besser ist, durch Investitionen in den Kraftwerkspark der Entwicklungsländer den Kohlendioxidausstoß zu senken. Der BMWA-Beirat weist weiterhin darauf hin, dass dieses Vorgehen beispielsweise bei dem chinesischen Kraftwerkspark 30- bis 50-mal günstiger ist als die Einspareffekte, die mit Maßnahmen des EEG erzielt werden. Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann sollten Sie doch wenigstens Ihren eigenen Fachleuten glauben, die Sie beauftragt haben, Ihnen Ratschläge zu geben. Die Ratschläge liegen auf dem Tisch. Es ist nun an Ihnen, sie umzusetzen. ({4}) Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der uns skeptisch stimmt. Es ist völlig unstrittig, dass gerade in den Entwicklungsländern die erneuerbaren Energien gefördert werden müssen. Es sind doch wir, die immer wieder darauf hinweisen, dass die Entwicklungsländer vielfach sehr viel bessere Standortbedingungen für die Förderung erneuerbarer Energien haben, als es bei uns der Fall ist. Diese Potenziale gilt es zu nutzen. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob man dieses Vorhaben mit finanziellen Mitteln unterstützt. Die kontinuierlich rückläufige Entwicklung des BMZ-Etats seit 1998 spricht da leider eine andere Sprache. Mit einzelnen Strohfeuern vor einer solchen Konferenz - es wurde an einer Stelle etwas dazugepackt, was an anderer Stelle weggenommen wurde - sind diese Probleme nicht zu lösen. Wir fordern Sie also auf: Kommen Sie endlich zu einer konsistenten und an den wirklichen Bedürfnissen der Industrie- und Entwicklungsländer orientierten Politik zur Förderung erneuerbarer Energien! Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Mit den Positionen, die Sie heute dargelegt haben, aber nicht. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang stand eine Drohung: das Wort „Klimakatastrophe“. Es folgten internationale Konferenzen, Klimaschutzkonferenzen. Sie mündeten in ehrgeizige Verpflichtungen, nämlich Klimaschutzselbstverpflichtungen. Dann gab es einen Plan, den Klimaschutzemissionshandelabbauplan. Nun gibt es ein Gesetz. Es ist ein Emissionsverteilungsgesetz. Vom drohenden Wort bis zum vorliegenden Gesetz gingen der Klimaschutz und die Selbstverpflichtungen weitgehend verloren, wie beim beliebten Kinderspiel „Stille Post“. Dazu hätte es eigentlich Rot-Grün nicht bedurft. Ich finde, das hätten die Unternehmerverbände auch allein so hinbekommen. ({0}) Die PDS hat immer gesagt: Der Handel mit Emissionsrechten ist umstritten. Er kann bestenfalls ein Teil eines Maßnahmepaketes sein, das vielfältiger und auch umfassender ist. Was jetzt vorliegt, ist aber nicht einmal ein Teil. Wer bisher viel CO2 emittiert hat, der darf das auch weiterhin. Wer Sonderwünsche anmeldet, dem werden sie erfüllt. Die Energiefresser werden gefüttert und die Energiesparer weiter belächelt. Das eigentliche Ziel aber, nämlich den CO2-Ausstoß mit marktwirtschaftlichen Mitteln drastisch zu senken, wurde vernebelt. Im Streit „Umwelt kontra Wirtschaft“ blieb der Umweltminister zweiter Sieger. So zweifelte in der Anhörung im Umweltausschuss nicht nur das Öko-Institut inzwischen am Sinn dieses rot-grünen Gesetzes. Nun zurück zum Anfang, zum drohenden Wort „Klimakatastrophe“. Das ist natürlich mehr als nur ein Wort. Es ist auch nicht aus der Welt mit dem heutigen Gesetz. Wir haben die reale Gefahr nicht einmal gebannt. Wenn wir auch gern anderes glauben und die Bundesregierung anderes predigt: Das Problem der drohenden Klimakatastrophe steht weiter vor uns bzw. schwebt über der Welt. Der Klimaschutz stagniert seit Jahren, jedenfalls gemessen an den CO2-Emissionen. Die Zahlen sind bekannt und heute mehrfach genannt worden. Das, was als Klimaplus zu Buche schlägt, geht weitgehend auf das Industrieminus in den neuen Bundesländern zurück. ({1}) Die große versprochene Klimaanstrengung in den alten Bundesländern blieb bisher aus. Sie wird auch durch das vorliegende Gesetz nicht angeregt. Das ist sein Hauptmanko. Deshalb lehnt die PDS im Bundestag dieses Gesetz heute ab. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marie-Luise Dött. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz über den Nationalen Allokationsplan für Treibhausgasemissionsberechtigungen wird zum Zuteilungsgesetz 2007. Der neue Titel ist schön, kurz und prägnant. Die gravierenden Mängel, die dieses Gesetz hat, sind damit jedoch nicht behoben. ({0}) Das Zuteilungsgesetz ist das wohl wichtigste umweltund wirtschaftspolitische Gesetz dieser Legislaturperiode. Es werden Entscheidungen getroffen, die von erheblicher Reichweite sind. In vollem Bewusstsein dessen hetzt die Regierungskoalition das Gesetz innerhalb von einer Woche von der Sachverständigenanhörung am Montag über die Ausschussberatung am Mittwoch zur Schlussberatung heute am Freitag. ({1}) Herr Kelber, wir nehmen Anhörungen ernst. ({2}) Änderungsanträge hätten also nur zwischen Montagabend und Dienstagmorgen beraten werden können; sie müssen ja auch in der Fraktion besprochen werden. ({3}) Deshalb verweise ich auf unseren Entschließungsantrag, dem Sie ja hätten zustimmen können. ({4}) Das lässt für mich nur den Schluss zu: Sie legen keinen Wert auf die demokratische Beteiligung des Parlaments. Vielmehr sind die Vertreter der Medien lange vor den Parlamentariern über die Inhalte Ihrer Änderungsanträge bestens informiert worden. Das ist Ihr Verständnis von Demokratie. ({5}) Aber auch aufseiten der Regierungsfraktionen tappen einige im Dunkeln, was die Inhalte dieses Gesetzes angeht. Der Termindruck kann in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht als Argument gelten. Sie hätten mit der Umsetzung früher beginnen können. Aber statt der Gründlichkeit oberste Priorität einzuräumen, liefern Sie eine Patchworkarbeit bunt zusammengehäkelter Normen ab. Dieses Häkeldeckchen, das Sie hier vorlegen, hat den Namen Gesetz nur schwerlich verdient. Mit einer juristisch sauberen Norm hat das Zuteilungsgesetz wenig gemein. Es finden sich reihenweise falsche und laienhafte Formulierungen. Auslegungen sind unklar, Rechtsbegriffe unbestimmt. Wider besseres Wissen wollen Sie hier ein Gesetz beschließen, dessen Folgen verheerend sind. Natürlich wird das Zuteilungsgesetz zum Jobmotor, wie Sie so schön sagen; es wird zum Jobmotor für Anwälte und Gerichte mutieren. So wird das nichts mit dem Aufschwung am Arbeitsmarkt. ({6}) Aus dem Hause des Umweltministers Jürgen Trittin, der jetzt leider nicht mehr da ist ({7}) - wo? -, ({8}) hat die Abgeordneten am Dienstagabend ein Bericht erreicht, in dem die Allokationspläne der anderen EUMitgliedstaaten untersucht werden. Die Analyse kommt zu dem Schluss, dass acht der elf vorliegenden Allokationspläne über das Maß zuteilen. Im Gegensatz dazu soll in Deutschland das Minderungsziel nicht nur eingehalten, sondern noch darüber hinausgegangen werden. Das führt dazu, dass Unternehmen in Deutschland nur schwerlich in eine Verkäuferposition kommen. ({9}) In der Studie des BMU steht ausdrücklich, dass solch unterschiedliche Zuteilungen zu Wettbewerbsverzerrungen und erheblichen Belastungen der deutschen WirtMarie-Luise Dött schaft führen werden. Ich gehe davon aus, dass sowohl das Ministerium als auch die Abgeordneten der Regierungskoalition diese Studie kannten, als sie am Dienstag entschieden, die Kioto-Vorgaben nicht nur einzuhalten, sondern noch darüber hinauszugehen. Mit dieser Entscheidung haben Sie sich ganz bewusst gegen den Industriestandort Deutschland und gegen Arbeitsplätze entschieden. ({10}) Aufgrund der Kürze meiner Redezeit möchte ich mich auf eine besonders bedenkliche Änderung des Entwurfs beschränken. In § 4 des Gesetzentwurfs findet sich nun ein neuer Absatz. Dieser sieht eine rückwirkende Kürzung bereits zugeteilter Zertifikate für den Fall vor, dass im Rahmen der Zuteilungsregeln für mehr als 495 Millionen Tonnen Zertifikate ausgegeben werden müssen. Da die letztlich ausgegebene Menge an Zertifikaten infolge von Anlagenstilllegungen, Produktionsrückgängen, Anfechtungen von Zuteilungsentscheidungen usw. erst gegen Ende der Handelsperiode eindeutig festgeschrieben wird, besteht aufgrund der neuen Regelungen für die Anlagenbetreiber noch während der Handelsperiode Unsicherheit darüber, ({11}) ob sie über ausreichend Zertifikate zur Abdeckung ihrer Emissionen verfügen. ({12}) Dies würde die bereits bestehende Verunsicherung weiter erhöhen und das Investitionsklima zusätzlich negativ beeinflussen. ({13}) Ich möchte Sie daher dringend bitten, diesen Passus ersatzlos zu streichen. ({14}) Meine Damen und Herren, wir wollen den Emissionshandel genauso wie die FDP, aber dieser Gesetzentwurf ist handwerklich und inhaltlich so schlecht gemacht, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmen wird. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 15/3212 mit dem Titel „Globale Zukunftssicherung durch die Förderung erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern vorantreiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 23 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 15/1862 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Zuteilungsgesetzes auf der Drucksache 15/2966. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der fraktionslosen Abgeordneten Petra Pau angenommen worden. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit dem soeben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der fraktionslosen Abgeordneten Petra Pau angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache 15/3238? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 15/3239? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung zweier Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Die Punkte sollen anschließend als Zusatztagesordnungspunkte 15 und 16 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe also Zusatzpunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer und Altersbezügen ({1}) - Drucksachen 15/2150, 15/2563, 15/2592, 15/2986, 15/3004, 15/3160, 15/3230 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg-Otto Spiller Berichterstatter im Bundesrat: Staatsminister Gernot Mittler. Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall. Dann können wir gleich zur Abstimmung kommen. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgende weitere Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses. Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3230? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2003/87/EG über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft. - Drucksachen 15/2328, 15/2540, 15/2681, 15/2693, 15/2901, 15/3250 Berichterstattung: Abgeordneter Michael Müller ({3}) Berichterstatter im Bundesrat: Minister Rudolf Köberle. Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall. Wir kommen also zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3250? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkt 13 auf: 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausschreibungspraxis in der Arbeitsmarktpolitik effizient und effektiv ausgestalten - Drucksache 15/2826 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine qualitätsorientierte und an den regionalen Bedürfnissen ausgerichtete Ausschreibungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen - Drucksache 15/3213 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Hier haben die Abgeordneten Brandner, Bellmann, Kurth, Niebel und der Parlamentarische Staatssekretär Schlauch darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2826 und 15/3213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist auch der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt auf, zu dem geredet wird, nämlich Tagesordnungspunkt 25 sowie Zusatzpunkt 14: 25 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz - Drucksache 15/1472 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten - Drucksache 15/2192 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({7}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- sprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es offensichtlich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und das Wort hat zunächst die baden-württembergische Justizministerin, Frau Werwigk-Hertneck. 1) Anlage 3 Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin ({8}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! „Verantwortung für die Jugend“ - das ist das diesjährige Thema des Deutschen Jugendgerichtstages in Leipzig. Es geht uns alle an. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass unsere Jugend Perspektiven entwickeln und in eine aussichts- und chancenreiche Zukunft blicken kann. Das kann aber nur gelingen, wenn jeder - ich meine hier in erster Linie Eltern, Erzieher und Lehrer, aber auch Richter, Staatsanwälte, Vollzugs- und Polizeibeamte - gewillt ist, seinen Beitrag in der Ausbildung und Erziehung, in der Prävention, aber auch bei der Bestrafung und Wiedereingliederung zu leisten. ({9}) Gefordert sind aber auch Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, nämlich als Gesetzgeber. „Verantwortung für die Jugend“ heißt auch, dass wir den Jugendrichterinnen und Jugendrichtern sinnvolle Möglichkeiten der Reaktion auf Straftaten junger Menschen zur Verfügung stellen. ({10}) Eine dieser sinnvollen Reaktionsmöglichkeiten ist der nun vorgeschlagene Warnschussarrest. Seine Einführung wird von der staatsanwaltlichen und richterlichen Praxis seit langem gefordert. Auch wenn die Kritiker nicht müde werden, es immer wieder zu behaupten: Der Warnschussarrest dient nicht dazu, junge Menschen wegen ihres ersten Ladendiebstahls wegzusperren, um sie durch den kurzfristigen Freiheitsentzug zu schockieren. Der Warnschussarrest dient vielmehr dazu, diejenigen Straftäter zu erreichen, die aufgrund ihrer kontinuierlichen Hinentwicklung zur Kriminalität mit ambulanten oder kurzfristigen Betreuungsmaßnahmen nicht mehr erreichbar sind. Um bei diesen Tätern eine nachhaltige Bewusstseins- und Verhaltensänderung herbeizuführen, bedarf es vielmehr einer längerfristigen Intervention, die durch eine intensive stationäre Betreuungsphase eingeleitet werden sollte. ({11}) Hier setzt der Warnschussarrest an. Im modernen Arrestvollzug stehen dem straffällig gewordenen Jugendlichen Sozialarbeiter und Psychologen zur Aufarbeitung von persönlichen Problemen und zur Vermittlung von gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten zur Verfügung. Gerade diese erste stationäre Phase des Warnschussarrestes erlaubt eine intensive Arbeit mit dem jugendlichen Täter, die häufig zu einer nachhaltigen Bewusstseinsund Verhaltensänderung führt. Danach ist es die Aufgabe des Bewährungshelfers, diesen eingeleiteten Neuorientierungsprozess zu stabilisieren, damit es nicht zu einem Rückfall in alte Denk- und Verhaltensmuster und damit zu erneuter Straffälligkeit kommt. ({12}) Ohne den Warnschussarrest bleibt der Praxis in diesen Fällen heute nicht selten nur die Verhängung einer unbedingten Jugendstrafe übrig. Wenn aber die Aussicht besteht, dass die Vollstreckung einer Jugendstrafe durch den Warnschussarrest entbehrlich wird, dann erscheint es unvertretbar, wenn die Rechtspolitik der Praxis dieses mildere Instrument nicht zur Verfügung stellen will. ({13}) Fast noch dringlicher stellt sich der gesetzgeberische Handlungsbedarf bei der Frage der strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender dar. Diesbezüglich hat sich nämlich in den letzten Jahrzehnten bundesweit eine nach Regionen und Delikten höchst unterschiedliche Praxis herausgebildet. Ob bei Straftaten Heranwachsender Jugendstrafrecht oder allgemeines Strafrecht zur Anwendung kommt, ist heute letzten Endes davon abhängig, ob der Täter in Schleswig-Holstein oder BadenWürttemberg, in einer Großstadt oder auf dem Land vor Gericht steht. ({14}) Deswegen besteht in der Fachwelt Einigkeit darüber, dass diese Praxis, die das verfassungsrechtliche Willkürverbot, das Rechtsstaatsprinzip und das Bestimmtheitsgebot tangiert, nicht länger hingenommen werden darf. ({15}) Hoch umstritten - dies haben die Abstimmungsergebnisse beim 64. Deutschen Juristentag in Berlin gezeigt ist jedoch die Frage, wie wir dieses Problem zu lösen haben. Häufig wird unter Hinweis auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse die generelle Einbeziehung aller Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht gefordert. ({16}) - Ich glaube, Sie, Herr Ströbele, fordern das. Professor Dr. Albrecht hat in seinem Gutachten auf dem 64. Deutschen Juristentag jedoch deutlich gemacht, dass sich aus den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie keine tragfähigen und schlüssigen Entscheidungsmaßstäbe für die Frage der strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender ableiten lassen. Die Ausbildung sozialer Verhaltensweisen dauert bis weit in die zweite Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts oder sogar darüber hinaus. Bei Anlegung dieses Maßstabs müsste man konsequenterweise auch knapp Dreißigjährige in das Jugendstrafrecht einbeziehen, was aber richtigerweise niemand fordert. Aber eine Begrenzung der Anwendung des Jugendstrafrechts auf unter 21-Jährige lässt sich damit auf keinen Fall rechtfertigen. ({17}) Bei Anlegung dieses Maßstabs erscheint eine derartige Altersgrenze nämlich willkürlich. Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck ({18}) Nach meiner Überzeugung muss sich die Frage des Umgangs mit delinquenten Heranwachsenden letztlich an normativen Maßstäben orientieren. ({19}) Unsere Gesamtrechtsordnung enthält hierzu eindeutige Regelungen. So werden Heranwachsende sowohl im Zivilrecht als auch im öffentlichen Recht als Erwachsene behandelt. Sie können Verträge schließen, heiraten, Arbeitgeber sein und so weiter. Auch das elterliche Erziehungsrecht endet mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Warum sollte das subsidiäre staatliche Erziehungsrecht darüber hinaus fortdauern? ({20}) Deshalb habe ich mich dafür ausgesprochen, bei Straftaten Heranwachsender künftig grundsätzlich das allgemeine Strafrecht anzuwenden. ({21}) Nur in Ausnahmefällen, also bei Vorliegen schwerwiegender Entwicklungsverzögerungen, erscheint es sinnvoll, den Heranwachsenden nicht wie einen Erwachsenen, sondern wie einen Jugendlichen zu behandeln. Ich will hier auch das eine oder andere Gegenargument in den Raum stellen. ({22}) Erstens. Es wird behauptet, die Zahlen im Bereich der Jugendkriminalität würden nicht steigen. ({23}) Im Allgemeinen stimmt das. ({24}) Bei leichten Delikten sind die Zahlen rückläufig; aber bei Gewaltdelikten steigen sie. ({25}) Darauf müssen wir reagieren. ({26}) Zweitens. Es wird bezweifelt, ob das klare Signal einer Gesellschaft an einen 18-Jährigen bzw. eine 18-Jährige, dass er oder sie erwachsen ist, generalpräventive Wirkungen entfalten könnte. ({27}) Ein derart eindeutiges Signal wird generalpräventive Wirkung entfalten - das steht für mich außer Zweifel Du bist erwachsen, egal ob du Rechte in Anspruch nimmst oder Pflichten nachkommen musst. Drittens eine Frage von mir als Landesministerin an den Bundesgesetzgeber: Länderöffnungsklauseln werden oft kritisch beurteilt. Wenn wir nun bei der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf Heranwachsende nach Bundesländern höchst unterschiedliche Rechtsprechungen hinnehmen, halte ich das für verfassungswidrig - wir sollten hier auf eine bundeseinheitliche Rechtslage achten. Mit den geltenden Vorschriften ist dieses Ziel offensichtlich nicht zu erreichen. Ich bitte daher um Unterstützung des Gesetzentwurfes. Herzlichen Dank. ({28})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete, nein: der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. ({0}) - Auch das ist er.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrte Frau Präsidentin, ich fühle mich auch als Abgeordneter; das ist kein Schimpfwort. Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz, der heute dem Bundestag präsentiert wird, würde nichts verbessern. Als Gesetz wäre er bestenfalls wirkungslos und unschädlich, in den meisten Fällen wäre er kontraproduktiv. ({0}) In Union und FDP weiß man das eigentlich, zumindest wissen es die, die sich ernsthaft mit dieser Frage befassen. Wir alle kennen die Meldungen über kriminelle Jugendbanden und über jugendliche Intensivtäter, und wir alle sind uns darüber einig, dass etwas dagegen unternommen werden muss. Leider fällt Ihnen im Bundesrat nichts anderes ein, als immer wieder nach härteren Strafen und „Denkzettelsanktionen“ zu rufen. Ich gebe zu: So entsetzlich wie die Einzelfälle sind, liegt diese Reaktion bei der emotionsgeladenen Stimmung, die danach entstehen kann, nahe - richtig ist sie nicht. Gerade im Strafrecht ist es Aufgabe der Politik, verantwortungsvoll, rational und auf sicherer Faktengrundlage zu handeln. Das können oder wollen Sie im Bundesrat offensichtlich nicht. ({1}) Erstens. Die Jugendkriminalität ist in den letzten Jahren nicht stetig gestiegen, wie Sie in der Begründung des Gesetzentwurfes behaupten: ({2}) Nach 1998 ist ein leichter Rückgang der Fallzahlen bei den Jugendlichen und insgesamt eine Stabilisierung bei den Heranwachsenden zu verzeichnen. ({3}) Die Kriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden stagniert, während sie bei den Erwachsenen - die nach dem allgemeinen Strafrecht abgeurteilt werden zunimmt. Damit will ich nicht sagen, dass wir keine Probleme hätten. Aber Ihre Aussagen sind in ihrer Pauschalität einfach falsch. Wir haben sicher enorme Probleme mit den eingangs erwähnten Intensivtätern und mit den Tätern im Bereich gefährlicher und schwerer Körperverletzung und Raub; bei denen sind in der Tat Steigerungsraten zu verzeichnen. Aber jetzt bitte ich Sie, einmal zuzuhören: Die Rückfallstatistik hat uns auch gezeigt, dass die meisten strafrechtlich in Erscheinung tretenden Jugendlichen dies nur einmal tun und nicht wieder. Auffallend hoch ist nur die Rückfallquote derjenigen Jugendlichen und Heranwachsenden, die in Haft gewesen sind. Zweitens. Der Sinn des Jugendstrafrechts liegt nicht in „Warnschüssen“ und hartem Durchgreifen. ({4}) Das Missverständnis beginnt schon damit, dass immer behauptet wird, das Jugendstrafrecht sei stets milder als das Erwachsenenstrafrecht. Das ist so nicht richtig, und es ist ärgerlich, dass immer mehr Politiker - sei es aus Unwissenheit, sei es aus Absicht - diesem Missverständnis Vorschub leisten. ({5}) Kernpunkt des Jugendstrafrechtes ist der Erziehungsgedanke. Das Jugendstrafrecht ist darauf ausgerichtet, Jugendliche und Heranwachsende zu fördern und zu fordern und sie so von weiteren Straftaten abzuhalten. Dafür gibt das Jugendstrafrecht den Gerichten ein differenziertes und flexibles Instrumentarium an die Hand, das sich als wirksam bewährt hat und in der Praxis funktioniert. Sie ignorieren das, wenn Sie fordern, dass bei Heranwachsenden grundsätzlich das allgemeine Strafrecht, das Jugendstrafrecht dagegen nur ausnahmsweise Anwendung findet. Die Folge wäre, dass die Gerichte bei Heranwachsenden grundsätzlich nur mit Geld- oder Freiheitsstrafen reagieren könnten. Glaubt jemand ernsthaft, dass man damit einer künftigen Straffälligkeit Heranwachsender besser entgegenwirken kann als mit dem differenzierten Reaktionsinstrumentarium des Jugendstrafrechts, das den altersbedingten Besonderheiten und Einflussmöglichkeiten angepasst ist? Nahezu alle Fachleute lehnen Ihren Vorschlag ab. ({6}) - Herr Fricke, sie haben schon oft genug geklatscht. Es muss außerdem nicht geklatscht werden, wenn Selbstverständlichkeiten vorgetragen werden. ({7}) Oder nehmen wir den Vorschlag zum Warnschussarrest. Schon wegen seiner stigmatisierenden und entsozialisierenden Wirkung sagen uns fast alle Fachleute bereits seit Jahren, dass es so nicht geht. Wenn das, verehrte Frau Justizministerin, was Sie eben vorgetragen haben, im Gesetz oder auch nur in der Begründung zum Gesetz stünde - ich nenne als Stichworte soziale Betreuung und Begleitung -, wäre das schon ein Fortschritt. ({8}) Wir wissen doch alle, wie heutzutage der Arrest ausgestaltet ist: Die Heranwachsenden werden weggeschlossen, werden eingesperrt. Wenn sie dann herauskommen, sind sie stigmatisiert. Manche geben sogar damit an, im Knast gewesen zu sein. ({9}) Frau Präsidentin, ich darf doch noch eine Minute reden? - Das Bundesministerium der Justiz hat in Form eines Referentenentwurfs einen viel besseren Entwurf vorgelegt, der das Jugendstrafrecht stärken wird. Grundlage sind die Beratungsergebnisse der Expertengruppe, die die FDP übrigens in ihrem Antrag erwähnt hat. Es geht dabei darum, wie die jungen Gefangenen ihr Leben künftig ohne Straftaten führen können. Es geht um die Abkehr vom unscharfen, missverständlichen und umstrittenen Erziehungsbegriff des Jugendkriminalrechts hin zum Grundsatz der umfassenden Förderung und Forderung. Wir wollen junge Gefangene zur Teilnahme an den Maßnahmen verpflichten, die ein Förderplan für sie vorsieht. Insgesamt konzipieren wir so ein eigenständiges Regelwerk mit jugendspezifischen Inhalten, das in seinem Aufbau weitgehend dem bewährten Gefüge des Strafvollzugsgesetzes folgt. Wir brauchen also weder Ihr Gesetz zur Bekämpfung der Jugenddelinquenz, noch wird der im Mai vorgelegte Entwurf des Bundesrates mit dem blumigen Namen „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Jugendstrafrechts und zur Verbesserung und Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens“ - Verbesserung und Beschleunigung schließen sich schon gegenseitig aus - Gnade vor unseren Augen finden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, eine Minute ist schon lange vorbei. Kommen Sie bitte zum Schluss.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Ihre Entwürfe werden Entwürfe bleiben. Ich wünsche allen ein frohes Pfingstfest und bedanke mich sehr herzlich für Ihre überaus große Geduld. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe erwartet, dass die Diskussion zum Thema Jugenddelinquenz genau so verlaufen würde. Wir bewerfen uns mit Statistiken und Zahlen. ({0}) Am Ende ist jeder der sicheren Überzeugung, dass er mit seiner Auffassung Recht hat. Wir werden uns in dieser Debatte im Klein-Klein, in einem Hickhack ergehen. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, ob das Fahrverbot als Hauptstrafe, als Nebenstrafe, als Erziehungsmaßnahme oder als Zuchtmittel angemessener sei und wie man das Fahrverbot in das Jugendstrafrecht einsortieren müsse. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, ob eine Meldeweisung sinnvoll ist oder ob sie nach dem Jugendstrafrecht nicht ohnehin schon möglich ist. Ich versichere Ihnen: Das sind Themen, die nur wenige Juristen, die darauf spezialisiert sind, verstehen. Das ist nicht die Botschaft, die die Öffentlichkeit zum Thema Jugenddilinquenz erwartet und erwarten darf. Am 26. Mai 2004 titelte die „Berliner Morgenpost“: Ich wollte Berufskiller werden. In dem Artikel ging es um das Strafverfahren gegen einen 21-Jährigen, der zwei hilflose Rentnerinnen in hohem Alter ermordet hat. Als er festgenommen und gefragt wurde, was er mit diesen grausamen Taten bezweckt habe, erklärte er, er habe schon immer Berufskiller werden wollen. Bei der ersten Tat habe er üben wollen. Meine Damen und Herren, auf solche Vorfälle erwartet die Öffentlichkeit zu Recht eine Antwort. Herr Staatssekretär Hartenbach, grüßen Sie die Bundesjustizministerin. ({1}) Die Öffentlichkeit hat Anspruch auf ein schlüssiges Konzept. Der Jugendstrafvollzug ist verfassungswidrig, weil es an einem Gesetz fehlt. Sie wissen so gut wie ich, dass es eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle gibt, in der erwachsenen Häftlingen eine Entschädigung zugesprochen wird, weil der Strafvollzug für Erwachsene gesetzwidrig ist, da eine Einzelunterbringung in Hafträumen nicht ermöglicht werden kann. Ich warte darauf, dass jugendliche Straftäter mit anwaltlicher Hilfe eine Entschädigung einklagen, weil sie auf nicht verfassungsgemäßer Grundlage inhaftiert sind. ({2}) Aber: Die Bundesjustizministerin reagiert nicht. ({3}) Der Staatssekretär beschränkt sich auf die Aussage, dass Referentenentwürfe vorliegen. Man kann deshalb konstatieren: Entwürfe liegen auf dem Tisch und vom Tisch wird nichts weggeschafft. Im Bundesjustizministerium unter der Leitung der Bundesjustizministerin Zypries liegt zu viel im Argen. ({4}) Ich nehme es den Ländern nicht übel, dass sie in ihrer größten und höchsten Not reagieren; denn sie erleben den Strafvollzug ja an der Front. ({5}) Es war nicht das Bundesjustizministerium, das eine Lösungsmöglichkeit zum Erwachsenenstrafvollzug angeboten hat. Die Länder haben über den Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, um § 18 Strafvollzugsgesetz zu ändern. So sind es wieder einmal die Länder, die im Bereich des Jugendstrafrechts initiativ werden. Wie lange höre ich von der Bundesjustizministerin schon, dass Sie das Jugendstrafverfahren reformieren werden? - Nichts außer heißer Luft! Sie sagen, Sie werden den Opferschutz im Jugendstrafverfahren verbessern. - Nichts außer heißer Luft! Mir ist die Lösungsmöglichkeit, die die Länder anbieten, zehnmal lieber, als nichts zu tun. ({6}) Ich räume ein: Natürlich wird es Diskussionsbedarf geben. Meines Erachtens geht es nicht um die Frage, ob wir auf die Heranwachsenden grundsätzlich das Erwachsenenstrafrecht anwenden sollen. Meine Herren von Rot-Grün, wenn Sie diese Forderung unterstützen würden, befänden Sie sich aber in bester Gesellschaft; denn Tony Blair hat das Gesetz im Jahre 2000 wegen der steigenden Jugendkriminalität in England geändert, sodass auf Heranwachsende nur noch das Erwachsenenstrafrecht anwendbar ist. ({7}) Ganz anders war es im konservativen Spanien unter Aznar, der nämlich die deutsche Lösung übernommen hat. In Spanien ist das Heranwachsendenstrafrecht inzwischen so wie im deutschen Recht. Sie sehen also, es geht quer durch alle Reihen. Ich verhehle nicht, dass auch in unserer Fraktion die Diskussion noch im Gange ist. Diese Entscheidung muss jeder Abgeordnete für sich selbst treffen. Es ist eine Entscheidung des Gewissens und weniger eine rechtsdogmatische Entscheidung. Ich greife noch einmal den Fall des jungen 21-Jährigen auf, der erklärt hat, er wolle Berufskiller werden. Die Anwälte haben sofort reagiert und in der Presse publiziert, dass sie der Meinung sind, dass auf diesen Fall das Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Es ist durchaus möglich, dass dieser 21-Jährige in seiner Entwicklung noch zurückgeblieben ist. Deswegen würde nach derzeiSiegfried Kauder ({8}) tigem Recht das Jugendstrafrecht anzuwenden sein. Ich persönlich habe nichts dagegen. ({9}) Jetzt kommen Sie aber mit Ihrem Argument, dass im Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke herrscht. Das stimmt nur beschränkt. Schauen Sie mal in § 18 Jugendgerichtsgesetz. Die Freiheitsstrafe für Jugendliche beträgt sechs Monate bis fünf Jahre, weil man der Meinung war, dass eine Strafe, die fünf Jahre übersteigt, erzieherisch sinnlos sei. Wenn aber ein Verbrechen begangen worden ist, das nach allgemeinem Erwachsenenstrafrecht beurteilt und mit einer Höchststrafe von über zehn Jahren belegt wird, dann beträgt auch die Jugendstrafe zehn Jahre. Das heißt, auch hier fließen generalpräventive Aspekte mit in den Erziehungsgedanken hinein. Frau Ministerin Werwigk-Hertneck, deswegen bin ich der Meinung, dass Sie mit Ihrem Ansinnen, die Jugendstrafe, die gegen Heranwachsende verhängt wird, allgemein auf 15 Jahre zu erhöhen, über das Ziel hinausschießen. ({10}) Sie meinen das nicht; denn wenn Sie die Jugendstrafe für Heranwachsende auf 15 Jahre erhöhen würden, dann würden Sie gleichzeitig den Strafrahmen nach oben verschieben, sodass auch die Eingangsstrafen für die weniger schwere Kriminalität erhöht würden. Ich weiß, dass Sie das nicht wollen. Es gibt 22 kapitale Verbrechen, die bei Erwachsenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe belegt sind. Diese Fälle meinen Sie. Sie meinen denjenigen, der sagt, er wolle Berufskiller werden. Es gibt hier eine Lösung, nämlich in § 18 Jugendgerichtsgesetz. Danach kann beim Heranwachsendenstrafrecht gesagt werden: Wenn Erwachsene mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe belegt werden würden, dann beträgt die Höchststrafe beim Heranwachsenden ausnahmsweise nicht zehn, sondern 15 Jahre. Ich glaube, auf diesem Level können wir uns einigen. Nun zum Warnschussarrest. Man kann lange darüber philosophieren, wie er sich in das Rechts- und Sanktionensystem des Jugendstrafrechts einordnen lässt. Das ist aber nicht das Thema. Dieses Problem kann man lösen. Festzuhalten bleibt, dass ein Erwachsener zu einer Freiheitsstrafe von nur einem Monat verurteilt werden kann. Wenn die Einwirkung auf ihn oder die Verteidigung der Rechtsordnung es gebietet, wird diese Strafe auch vollstreckt. Beim Jugendlichen geht das nicht, weil die Jugendstrafe aus guten Gründen erst mit sechs Monaten beginnt. Fünf Monate oder drei Monate Jugendstrafe können nicht verhängt werden. Das heißt, man muss die dadurch entstandene Lücke im jugendstrafrechtlichen Sanktionensystem angemessen schließen können. Dafür bietet sich in der Tat der Warnschussarrest an. Er hat überhaupt keine negativen Auswirkungen auf einen Jugendlichen oder Heranwachsenden. Warum soll dieser nicht einmal vier Wochen in einer Jugendarrestanstalt erleben, wie das Leben außerhalb der Freiheit vollzogen wird? Gerade da wir festgestellt haben, dass die Rückfallquote bei den Jugendlichen und Heranwachsenden, die im Jugendstrafvollzug waren, 78 Prozent beträgt, muss man sich doch überlegen, welche vorausgelagerten flankierenden Maßnahmen man hat, um auf diese jungen Menschen einzuwirken. Der Warnschussarrest ist eine gute Möglichkeit, flankierend eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe zu begleiten. Eine weitere Maßnahme wurde von den Ländern in ihren Gesetzentwurf eingeführt: das Fahrverbot. Wir können uns lange darüber unterhalten, wie es sich in das Sanktionensystem einordnen lässt. Aber, Herr Kollege Ströbele, ich kann Ihnen helfen. Es gab im Bundesjustizministerium einen Arbeitsentwurf, der genau diesen Gesetzesvorschlag, den die Länder aufgegriffen haben, nämlich § 15 a Jugendgerichtsgesetz, entwickelt hat. Ich weiß nicht, warum er im Ministerium und bei Rot-Grün versackt ist. Auf jeden Fall wäre es eine gute Lösungsmöglichkeit. Warum sollen junge Menschen, die sich zusammentun, abends zu fünft in einem Fahrzeug zu irgendeiner Diskothek fahren, um sie aufzumischen und eine Schlägerei anzuzetteln, nicht einmal merken, wie es ist, wenn man kein Fahrzeug führen darf? ({11}) Deswegen befürworte ich auch nicht die Einschränkung eines Fahrverbots nur auf verkehrsbezogene Delikte. Es tut den jungen Leuten gut, wenn sie merken, wie es ist, wenn man kein Fahrzeug führen darf. Ich möchte auch nicht das Argument hören, dass man jungen, im Erwerbsleben stehenden Menschen den Führerschein nicht wegnehmen kann. Das tut doch gar kein Jugendrichter. Auch der Einwand, das sei nicht zu kontrollieren, verfängt nicht; denn dann dürfen Sie überhaupt keine jugendgerichtlichen Weisungen mehr festsetzen. Schauen Sie einmal in § 10 des Jugendgerichtsgesetzes. Darin gibt es die Möglichkeit, die Weisung zu verhängen, bestimmte Gaststätten nicht zu besuchen. Auch damit muss ein Kontrollmechanismus eingeleitet werden. Nicht anders ist es beim Fahrverbot. Sie sehen es schon: Ich halte auch diesen Vorschlag des Ländergesetzentwurfs für sinnvoll. Man wird, Frau Justizministerin Werwigk-Hertneck, darüber reden müssen, ob man statt der Einführung von § 15 a Jugendgerichtsgesetz nicht schlicht und ergreifend in § 10 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes eine Ziffer 10 anfügt und darin die Weisung festlegt, es sollte die Weisung, der Jugendliche dürfe eine gewisse Zeit kein Fahrzeug führen eingeführt werden. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, eines scheinen Sie übersehen zu haben: Das Fahrverbot ist nach der bestehenden Gesetzeslage weit über das hinaus zulässig, was Sie sich wünschen. Nach § 10 des Jugendgerichtsgesetzes kann ein Jugendrichter ein Fahrverbot auch über die Frist des § 44 StGB, also über drei Monate hinaus, verhängen. Das ist auch dann möglich, wenn ein Verkehrsbezug nicht besteht. Sie sind also aufgefordert, Siegfried Kauder ({12}) wenn Sie Ihre Interessen so, wie Sie sie artikulieren, durchsetzen wollen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Hand und Fuß hat. ({13}) Im Augenblick haben Sie nichts auf der Hand. Das ist schlimm für die Menschen, die Sicherheit erwarten. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Kollegin Erika Simm hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann erteile ich jetzt dem Abgeordneten Hans-Christian Ströbele das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich kurz fassen. ({0}) Ich verstehe sowieso nicht, warum wir kurz vor Pfingsten dieses alte Thema erneut diskutieren müssen. ({1}) Es handelt sich nicht um einen wunderbaren, mit ganz neuen Ideen gefüllten Gesetzentwurf des Bundesrates oder einzelner Länder, sondern um einen Gesetzentwurf, den wir schon im Bundestag beraten und abgelehnt haben und der schon im Bundesrat mehrfach beraten worden ist. Er ist vom Strafverteidigertag, vom Anwaltstag, vom Deutschen Jugendgerichtstag und von nahezu allen Institutionen diskutiert und abgelehnt worden, und zwar aus gutem Grunde. ({2}) Denn er ist nicht nur alt, sondern er enthält auch nichts Neues und er geht von zwei völlig falschen Vorausset- zungen aus. Die eine falsche Voraussetzung findet sich im ersten Satz dieses Gesetzentwurfes. Dort wird auf eine Statistik hingewiesen. Wir haben das nicht erfunden, sondern das steht in dem Gesetzentwurf. Es wurde nämlich die fal- sche Behauptung aufgestellt, dass die Jugenddelinquenz in den letzten Jahren zugenommen habe. Das Gegenteil ist wahr. Von 1998 bis 2003 hat die Jugenddelinquenz, übrigens auch die Kinderdelinquenz, abgenommen, und zwar exorbitant. Sie hat auch im Jahr 2003 abgenom- men. Von 1997 bis 2003 hat sie um 15 bis 17 Prozent ab- genommen. Im Jahr 2003 hat die Delinquenz von deut- schen Jugendlichen um 1 Prozent abgenommen, die von ausländischen Jugendlichen, die angeblich besonders ge- fährlich sind, weswegen man dauernd solche Gesetze vorschlagen muss, um über 2 Prozent. Schon diese Vo- 1) Anlage 4 raussetzung stimmt also nicht. Ich weiß nicht, warum wir uns dann mit diesem Vorschlag hier auseinander setzen sollen. ({3}) Die zweite falsche Voraussetzung, die sich inzidenter schon durch die Reden, aber auch durch den Entwurf zieht, ist der Irrglaube, die falsche Auffassung, die von den wahren Tatsachen unberührt ist, dass jugendliche Straftäter nach dem Jugendstrafrecht milder bestraft würden, dass das ein Privileg für Jugendliche und Heranwachsende sei und diese damit nicht in dem Maße zur Rechenschaft gezogen werden könnten, wie es bei Erwachsenen der Fall sei. Dem ist überhaupt nicht so. Das Jugendstrafrecht geht nur mit anderen Sanktionen und nach anderen Kriterien vor. Als Strafverteidiger wissen wir, dass Jugendliche sehr häufig sogar härtere Strafen, auch Freiheitsstrafen, bekommen als Erwachsene. Das geschieht etwa deshalb, weil das Gericht der Auffassung ist, dass in dem Augenblick, in dem das Urteil gefällt wird, zur erzieherischen Einwirkung auf den Jugendlichen die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch ohne Bewährung erforderlich ist. Deshalb sind all die Argumente, die hier durchscheinen, zum Beispiel Heranwachsende im Alter von 21 Jahren, die fürchterliche Dinge gemacht hätten, dürften nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, falsch. Nach dem Jugendstrafrecht werden sie dann behandelt, wenn das Gericht - häufig aufgrund von Sachverständigengutachten - zu der Überzeugung kommt, dass sie in ihrem Entwicklungsstand Jugendlichen gleichzustellen sind. Sonst wird Erwachsenenstrafrecht angewendet. ({4}) Sie wollen das umkehren. Allein aus der Tatsache, dass Sie fordern, dass die Höchststrafe von zehn auf 15 Jahre heraufgesetzt wird, ergibt sich die eigentliche Intention dieses Gesetzentwurfs. Das ist der ideologische Hintergrund. ({5}) Sie wollen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass die Länder, die solche Gesetze im Bundesrat immer wieder einbringen, die Einzigen sind, die wirklich gegen Jugendkriminalität vorgehen und die Bevölkerung schützen wollen, während diejenigen, die solche Gesetze nicht haben wollen, weil sie wissen, dass sie in die Irre führen und nicht helfen, nicht genügend gegen Jugendkriminalität tun. Auf diesem Wege folgen wir Ihnen nicht. Wir gehen davon aus, dass die Gesetze, die wir haben, grundsätzlich richtig und ausreichend sind und dass wir alles vermeiden sollten, dass wir eine Entwicklung bekommen, wie sie etwa in einigen Staaten der Vereinigten Staaten zu beobachten ist, wo mit Jugendlichen, manchmal mit Kindern, strafrechtlich in gleicher Weise umgegangen wird wie mit Erwachsenen. Das ist nicht unsere AuffasHans-Christian Ströbele sung von einem Rechtsstaat. Das wollen wir hier in Deutschland nicht haben. ({6}) Ich sage Ihnen abschließend, Herr Kollege Kauder: Sie haben bemängelt, dass das Jugendstrafvollzugsgesetz noch nicht auf dem Tisch liegt. Ich kann Sie beruhigen. Sie konnten sich damit auch schon befassen. Es ist ein sehr umfangreicher Entwurf des Bundesjustizministeriums. Wir machen unsere Arbeit, die sehr schwierig und umfangreich ist. Sie sollten nicht den Eindruck erwecken, dass sich das Bundesjustizministerium oder die Koalition vor solchen Aufgaben drückt. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als letzte Rednerin hat jetzt die Kollegin Laurischk das Wort. Sie hat nicht mehr als zwei Minuten Redezeit.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf geht von einer in den letzten Jahren stetig angestiegenen Jugendkriminalität aus, „der durch verstärkte Anstrengungen aller staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte wirksam zu begegnen“ sei. Tatsächlich sind die Zahlen aber keineswegs so besorgniserregend. Nach dem Kriminalitätsbericht des Innenministeriums von 2003 ist die Kinder- und Jugendkriminalität seit 1998 weiterhin rückläufig. Dennoch befindet sie sich absolut betrachtet auf einem zu hohen Niveau. Das Jugendstrafrecht hat sich sicherlich bewährt. Es bietet eine ganze Palette an Reaktionsmöglichkeiten der Jugendgerichte und stellt den Erziehungsgedanken in den Vordergrund, was dem noch nicht abgeschlossenen Reifungsprozess von Jugendlichen und Heranwachsenden entspricht. Im Strafvollzug für Jugendliche sind die größten Erfolge der Resozialisierung zu verzeichnen, was wesentlich mit ihrer in diesem Lebensabschnitt noch bestehenden Prägbarkeit, aber auch mit der Flexibilität der richterlichen Reaktion nach dem Jugendgerichtsgesetz und den Eingriffsmöglichkeiten nach dem Jugendhilfegesetz zu tun hat. In einer internen Anhörung hat die FDP-Bundestagsfraktion mit verschiedenen Fachleuten über Möglichkeiten zur Reduzierung der Jugenddelinquenz gesprochen. Dabei kamen auch Modelle intensiver Betreuung straffälliger Jugendlicher - wie sie in Baden-Württemberg beispielhaft sind - zur Sprache. Ich bin sicher, dass sich der Rechtsausschuss auch im Rahmen einer Expertenanhörung mit dieser Fragestellung befassen wird. Nach Auffassung der FDP-Fraktion ist die Schaffung eines einheitlichen Jugendstrafvollzugsgesetzes dringlich. Ein solches Gesetz ist seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Erwachsenenstrafvollzug im Jahr 1972 - das muss man sich einmal deutlich machen: seit mehr als 30 Jahren - überfällig. ({0}) - Sehr richtig, Herr Ströbele. Es wurde von den jeweiligen Regierungen immer wieder in Angriff genommen und ist jedesmal auf Länderebene gescheitert. Das sollten wir in dieser Diskussion - die ich durchaus nicht für überflüssig halte, wie Sie gerade meinten, Herr Kollege Ströbele - im Blick behalten. Diese Thematik kommt mir etwas zu kurz. ({1}) Die Ankündigung, dass im Bundesjustizministerium ein Entwurf in Arbeit ist, sollte uns freuen. ({2}) Ich bin sicher, dass die Bundesregierung ihre Anstrengungen verstärken wird, hinsichtlich eines Jugendstrafvollzugsgesetzes und seiner Finanzierbarkeit zu einem mit den Ländern abgestimmten Ergebnis zu kommen. Ich setze dabei auf die Gestaltungs- und Kompromissfähigkeit beider Seiten. Uns geht es um ein Kernanliegen des Rechtsstaates, nämlich die Sicherstellung verfassungsrechtlich unangreifbarer und effektiver Vollzugsbedingungen auch für die Straftäter, die noch nicht erwachsen sind. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes Pfingstfest. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 15/1472 und 15/2192 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne schöne Pfingsttage. Wie ich höre, soll das Wetter besser werden. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Juni 2004, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.