Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b
sowie den Zusatzpunkt 11:
21. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert
Weisskirchen ({0}), Gernot Erler, Kerstin
Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Ludger
Volmer, Claudia Roth ({1}), Marianne
Tritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Der Nahe und Mittlere Osten als Nachbar und
Partner der EU
- Drucksache 15/3206 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck,
Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für eine Partnerschaft für Frieden und Stabilität im größeren Mittleren Osten und in
Nordafrika
- Drucksache 15/3050 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Ulrich
Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für einen Helsinki-Prozess für den Nahen und
Mittleren Osten
- Drucksache 15/3207 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte ist ein Anfang. Wir machen den ernsthaften Versuch, eine eigene parlamentarische Dimension
für eine internationale Diskussion über Chancen eines
nachhaltigen Stabilisierungskonzeptes für die Großregion des Nahen und Mittleren Ostens zu schaffen. Das
ist gleichzeitig ein Versuch, eine umfassende politische
Antwort auf die Herausforderungen des globalen Netzwerkterrorismus zu finden.
Der Termin ist gut gewählt, um Vorschläge zu machen und Erwartungen zu formulieren, denn wir stehen
vor einer Reihe von Gipfelereignissen, man könnte sogar
sagen: vor einem regelrechten Gipfelstakkato. Es fängt
an mit den Feierlichkeiten zum D-Day in der Normandie, geht über das G-8-Treffen in Sea Island und den EUUSA-Gipfel in Irland hin zum NATO-Gipfel in Istanbul.
Die Erwartungen sind groß, dass diese Treffen Fortschritte bringen in Bezug auf das Thema Greater Middle
East.
Auch wir sind entschlossen, eigene Anstöße dazu einzubringen. Das drückt sich in den drei Anträgen aus, die
die verschiedenen Fraktionen hier vorgelegt haben. Es
gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, aber auch
unterschiedliche Akzent- und Prioritätensetzungen.
Jede Beschäftigung mit diesem Thema muss sich
heute der Situation im Irak stellen. Die amerikanische
Politik dort ist gescheitert. Es ist ihr nicht gelungen, dem
Land Sicherheit zu bringen und einen politischen Neuanfang sowie Übergang zur Stabilität zu organisieren. Aber
Redetext
das ist nicht alles. Hinzu kommen drei Besorgnis erregende Punkte:
Erstens. Der Irak ist heute Schauplatz eines offenen
blutigen Konflikts - eines zweiten in dieser Region neben dem palästinensisch-israelischen -, durch den die
ganze Region destabilisiert wird.
Zweitens. Der Irak ist heute Teil einer direkten Front
mit den Kämpfern des global agierenden Terrorismus.
An dieser Front werden den Einheiten der Vereinigten
Staaten und ihrer Verbündeten immer wieder schwere
und tragische Verluste zugefügt, die häufig verbunden
sind mit Verlusten bei der irakischen Zivilbevölkerung.
Der dritte Punkt ist der schlimmste: Die Entwicklung
im Irak hat Osama Bin Laden seinem strategischen Ziel,
einen Riss zwischen der westlichen und der arabisch-islamischen Welt zu schaffen und einen Kampf der Kulturen zu organisieren, näher gebracht. Vor allem die Berichte und Bilder von Misshandlungen und
Folterungen irakischer Männer und Frauen durch amerikanische Soldaten haben zu dieser äußerst gefährlichen
Entwicklung beigetragen.
Nüchtern und mit großer Sorge müssen wir feststellen: Wir sind, ohne uns wehren zu können, Teil dieser
Auseinandersetzung, weil die westliche Führungsmacht
diesen Krieg mit all seinen Problemen und Fehlern im
Namen westlicher Werte führt. Deswegen befinden wir
uns als Teil der westlichen Welt in unfreiwilliger Mithaftung. Das übrigens gibt uns auch das Recht, Fragen an
die Verantwortlichen zu stellen und Erwartungen zu äußern,
({0})
zum Beispiel im Hinblick darauf, ob das Problem der
Misshandlungen wirklich auf Verfehlungen von einigen
wenigen Soldaten reduziert werden kann oder ob hier
doch ein angeordnetes System zur Einschüchterung und
Demütigung von Gefangenen angewandt wird, um bessere Befragungsergebnisse zu erzielen, aber auch im
Hinblick darauf, ob der Schaden, der dadurch für das
Image und das Prestige der westlichen Führungsmacht
und damit der ganzen westlichen Welt in immensem
Umfang entstanden ist, begrenzt werden kann und wer
dabei die fachliche und wer die politische Verantwortung
übernimmt.
({1})
Wir haben gerade wegen dieser unfreiwilligen Mithaftung das Recht, Antworten auf die Fragen zu bekommen.
Wir begrüßen - das sage ich auch im Namen der
SPD-Bundestagsfraktion -, dass sich die amerikanische
Politik ändert und jetzt Fehler korrigiert. Wir begrüßen,
dass sie die Vereinten Nationen stärker in den Stabilisierungsprozess einbezieht. Wir können nur hoffen, dass
die Autorität von Lakhdar Brahimi ausreichen wird, um
jetzt eine Übergangsregierung zu schaffen und Personen zu benennen, die in der irakischen Bevölkerung eine
Chance auf Vertrauen bekommen.
({2})
Wir begrüßen, dass Präsident Bush endlich Distanz zu
einer Figur wie Ahmed Tschalabi und seinem INC, auf
dessen Konto viele gefährliche Fehleinschätzungen gehen, herstellt. Wir begrüßen, dass jetzt die Beratung einer neuen Sicherheitsratsresolution möglich ist, die das
Besatzungsregime beenden und die politische Verantwortung in die Hände einer neuen, souveränen Interimsregierung legen soll.
Wir sind davon überzeugt, dass eine durchgreifende
Verbesserung der Sicherheitslage vor Ort aber nur dann
erreicht werden kann, wenn es tatsächlich einen klaren
Schnitt zum Bisherigen gibt und wenn die irakische Souveränität nicht eine fiktive, sondern eine tatsächliche
sein wird.
({3})
Der bisherige Resolutionsentwurf bleibt dabei in entscheidenden Fragen unklar: Wie soll sich das Verhältnis
der neuen Interimsregierung zu der künftig Multinational Force genannten Sicherheitsgruppierung gestalten?
Wie sollen Verantwortung und Befehlsgewalt zwischen
den irakischen Sicherheitskräften einerseits und der
Multinational Force andererseits abgegrenzt und organisiert werden? Ohne eine klare Antwort auf diese Fragen
sind die Erfolgsaussichten des Neuanfangs gering. Oder
gibt es hier wirklich jemanden, der glaubt, dass die bloße
Umbenennung von Okkupationskräften in Multinational
Force mit denselben 138 000 amerikanischen Soldaten,
denselben Koalitionstruppen, denselben Kommandostrukturen, vielleicht lediglich verbunden mit einer
Konsultationspflicht bezüglich der neuen Interimsregierung, ausreicht, um die Gewalttätigkeiten, die täglich gegen die bewaffneten Kräfte stattfinden, tatsächlich zu beenden?
Es ist noch Zeit zur Nachbesserung; wir müssen sie
nutzen.
({4})
Der Mut, durchgreifend etwas zu verändern, muss noch
wachsen. Dabei könnte die nüchterne Erkenntnis hilfreich sein, dass sich die Koalitionstruppen - nach eigenen Angaben - zu 90 Prozent mit Eigensicherung beschäftigen müssen und dass es für die Iraker bisher
eigentlich vor allem dann gefährlich wurde, wenn sie in
die Nähe solcher Einheiten geraten sind, denn da finden
die Anschläge statt. Widersinnigerweise ist man umso
sicherer, je weiter man von den Sicherungsgruppen entfernt ist.
Zu der Sourveränitätsübertragung auf eine eigene
irakische Regierung mit Autorität gibt es keine Alternative. Aber die Übergabe der Verantwortung in irakische
Hände darf keine Mogelpackung sein; sie muss überzeugen.
Von den nächsten Wochen hängt viel ab. Eine neue
politische Partnerschaft des Westens mit der Großregion
des Nahen und Mittleren Ostens braucht Fortschritte im
Irak und braucht auch Fortschritte bei der Beilegung des
anderen blutigen Konflikts, nämlich des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Deswegen muss jede
Strategie für einen Greater Middle East mit Bemühungen um eine Lösung für diesen beiden Konflikte beginnen.
({5})
Aber mangelnder Fortschritt bei der Lösung dieser
beiden Konflikte darf keine Aktivitäten verhindern und
darf nicht zum Vorwand genommen werden, nicht über
die Stabilität der Großregion des Nahen und Mittleren
Ostens nachzudenken. Wir müssen aus der Sackgasse
herauskommen: Die einen sagen, erst müsse eine Demokratisierung stattfinden, bevor man überhaupt zu einer
Konfliktlösung kommen könne, und die anderen sagen,
bevor es nicht zu einer Konfliktlösung komme, mache es
gar keinen Sinn, über ein Gesamtkonzept für diese Großregion zu reden. Diese Sackgasse ist entstanden; wir
müssen aus ihr herausfinden.
({6})
Dabei muss uns auch klar sein, dass eine ideologische
Form eines Demokratisierungskonzepts nicht weiterführt. Man muss doch zugeben, dass es sich gerade bei
dem israelisch-palästinensischen Konflikt um einen
Konflikt zwischen zwei Staaten handelt, die im Vergleich zu anderen Staaten demokratisch legitimierte Regierungen haben. Das ist ganz gewiss der Fall bei Israel
und auch die palästinensische Autonomiebehörde ist im
Vergleich zu anderen arabischen Staaten demokratisch
legitimiert. Das ist ein Hinweis darauf, dass man nicht
automatisch davon ausgehen kann, dass es zwischen demokratischen Ländern keine blutigen Konflikte gibt und
deswegen die Demokratie - die man notfalls von außen
mit Gewalt einführt - das Allheilmittel ist. Wenn man
diese Automatik zugrunde legt, muss man scheitern. Das
ist nicht die Lösung.
Das ist der Hintergrund für unsere Bemühungen. Wir
müssen gemeinsam an Konzepten für einen gesamtstrategischen Ansatz für diese Region arbeiten. Wir müssen
uns über die entsprechenden Instrumente unterhalten.
Diese Debatte ist nur ein Anfang. Die Fraktionen des
Deutschen Bundestages sollten sich vornehmen, diese
Debatte intensiv weiterzuführen und auf diese Weise den
für die Weltpolitik wichtigen diplomatischen Prozess aus
parlamentarischer Sicht zu begleiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon lange
vor dem 11. September war erkennbar, dass sich im ganzen Größeren Mittleren Osten und in Nordafrika eine explosive Situation heranbildet. Vom Maghreb bis nach
Pakistan zieht sich seit langem ein Krisenbogen der Instabilität. Das reale Pro-Kopf-Einkommen in der arabischen Welt sank im letzten Jahrzehnt jährlich um
2 Prozent. Das ist der größte Einkommensverlust irgendeiner Region in der Welt.
Die dortige demographische Entwicklung ist das
Gegenteil unserer demographischen Entwicklung. Von
den 1,3 Milliarden Muslimen auf der Welt ist über die
Hälfte jünger als 20 Jahre. Im Jahre 2010 wird die Zahl
der Berufsanfänger auf dem Arbeitsmarkt gegenüber
1990 in Algerien, Ägypten und Marokko um 50 Prozent,
in Syrien sogar um 100 Prozent gestiegen sein. Eine
Volkswirtschaft kann noch so dynamisch sein; sie wird
nicht in der Lage sein, diesen vielen jungen Menschen
Arbeit und Perspektive zu vermitteln.
Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Würdelosigkeit sind der ideale Nährboden für Terroristen. Wenn wir
den Terrorismus bekämpfen wollen, dann ist es - neben
allen polizeilichen Maßnahmen bei uns - sehr wichtig,
die sozialen und politischen Wurzeln des Terrorismus
glaubwürdig zu bekämpfen. Deshalb debattieren wir
heute im Deutschen Bundestag über eine Initiative für
eine engere und tiefere Partnerschaft mit den Ländern
Nordafrikas und des Mittleren Ostens. Das ist gut und
wichtig.
({0})
Ich habe gestern zusammen mit dem Kollegen Ruck,
dem Kollegen Gröhe und anderen aus unserer Fraktion
mit 15 arabischen Botschaftern über unseren heutigen
Antrag diskutiert. Vor dem Hintergrund dieses Gesprächs mit den Botschaftern möchte ich an dieser Stelle
auf einige Punkte hinweisen, von denen die Glaubwürdigkeit unserer westlichen Initiativen in den nächsten
Wochen und Monaten abhängt:
Erstens. Wir müssen bei all dem, was wir tun, immer
zwischen dem Islam und dem militanten Islamismus unterscheiden.
({1})
Es ist unendlich wichtig, dass wir die großen toleranten
Traditionen des Islam, etwa das Kalifat von Cordoba
vor 1 000 Jahren, die großen Bemühungen in der islamischen Welt auch heute, für Aufklärung und Korankritik
einzutreten, und auch die demokratischen Ansätze der
Schura-Tradition des Islam würdigen und entsprechend
darauf reagieren.
({2})
Es gibt im Koran die Sure 2,256, die besagt, dass in
Glaubensdingen kein Zwang herrschen soll. Der Großscheich der ehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo,
Mohammed Tantawi, hat neulich in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ Folgendes gesagt:
Der Islam ist gegen alle Formen und Facetten des
Terrorismus … Wir sind nicht damit einverstanden,
dass sich jemand inmitten unschuldiger Menschen,
Frauen und Kinder in die Luft sprengt … Es steht
außer Zweifel, dass jeder Staat, der einen Terroristen, der rechtlich Verurteilte beherbergt und ihnen
Unterschlupf bietet, ein terroristischer Staat ist …
Terrorismus bedeutet: Friedfertige in Angst zu versetzen … Wer Terrorismus fördert, wird an ihm zugrunde gehen.
Das sagt eine der großen Autoritäten der islamischen
Welt.
Es ist ganz wichtig, dass wir nicht in einen Kampf der
Zivilisationen, des Christentums gegen den Islam, des
Abendlands gegen den Orient, verfallen, sondern dass
wir die Terroristen mit der großen Mehrheit der friedliebenden Muslime isolieren und bekämpfen. Das ist unsere politische Aufgabe.
({3})
Zweitens. Wenn wir über eine Initiative für den größeren Nahen Osten sprechen, dann ist es von sehr großer
Bedeutung, dass wir klar machen, dass das kein Ersatz
für eine Lösung des Nahostproblems ist. Der Stachel des
Palästinaproblems sitzt überall in der arabischen Welt
tief. Das ist das Problem Nummer eins. Wir werden zwischen unserer Welt und der islamischen Welt keinen
Frieden finden, wenn dieser Konflikt nicht fair, gerecht
und dauerhaft gelöst wird und wenn in dieser Region die
Gewalt auf beiden Seiten nicht endlich ein Ende hat. Das
ist die Voraussetzung für jede Form von Dialog mit der
arabischen Welt.
({4})
Drittens. Mit unserem Angebot für eine Partnerschaft
dürfen wir unter keinen Umständen den Versuch verknüpfen, wir wollten unsere Wertvorstellungen, unsere
Formen der Demokratie, des Westminster-Parlamentarismus, anderen Länden überstülpen. Wir wollen keinen
Kulturimperialismus, keine Belehrungen. Wir haben keinen Grund, andere von Europa aus zu belehren. In der
muslimischen Welt hört man, wenn wir mit Demokratiekonzepten ankommen, immer wieder die Frage: Was
habt ihr denn im letzten Jahrhundert über die Welt gebracht? Darauf kann man nur schwer reagieren. Wir haben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir wollen nicht
unsere Demokratiemodelle durchsetzen; aber wir wollen
mehr Einhaltung der Menschenrechte, mehr Freiheit und
mehr Partizipation.
Dazu gibt es doch inzwischen in der arabischen Welt
selbst hochinteressante Papiere. Es hat in den letzten
Wochen Kommentare nur dahin gehend gegeben, dass
der arabische Gipfel von Tunis fehlgeschlagen sei.
Schauen wir einmal genauer hin: In der 13-Punkte-Erklärung von Tunis stehen zum ersten Mal in einem solchen Dokument viele wirkliche Bekenntnisse zu den
Rechten der Frauen, zu Partizipation, Gewaltenteilung
und zur Begrenzung von Amtszeiten. Das ist eine
Chance. Sie können dazu sagen, dass das Lippenbekenntnisse seien und diese Regime das nicht so meinten.
Aber es wird damit für die Menschen - denken wir nur
an den KSZE-Prozess - eine Berufungsinstanz geschaffen. Dort tut sich etwas. An diesen Ansätzen müssen wir
anknüpfen und sie unterstützen. Wir dürfen ihnen nicht
unsere Konzepte überstülpen, sondern mit ihnen an der
Verbesserung und Modernisierung ihrer Gesellschaft arbeiten. Darum geht es.
({5})
Viertens. Der nächste Punkt ist nicht ganz leicht. Aus
der muslimischen Welt wird immer wieder gesagt: Ihr
messt mit doppelten Standards. Wenn der Iran etwas
macht, ist es abgrundtief böse, und wenn es in Saudi
Arabien geschieht, wo es den Wahhabitismus gibt, also
ein radikales islamisches Regime, deckt ihr den Mantel
des Schweigens darüber, weil es eine prowestliche Regierung ist.
Solange wir uns solche doppelten Standards erlauben,
nehmen uns die jungen Muslime nicht ernst, wenn wir
Demokratie und Menschenrechte predigen. Man kann es
in der Politik nie 100-prozentig machen. Wir sind nicht
Amnesty International; es gibt realpolitische Kompromisse und Notwendigkeiten. Aber ein bisschen mehr
eindeutige Standards und weniger Doppelzüngigkeit
sind dringend notwendig, wenn wir die Herzen junger
Muslime gewinnen wollen.
({6})
Fünftens. Die Chance, Wandel und Menschenrechte
in den Ländern des größeren Mittleren Ostens und Nordafrikas zu unterstützen, erhalten wir nur, wenn die
Werte, für die wir stehen, auch deutlich erkennbar bleiben. Insofern haben die Bilder von Folter und Demütigungen von Irakern eine katastrophale Wirkung. Sie diskreditieren all das, wofür die westliche Welt und auch
Amerika stehen, nämlich Menschenrechte und Menschenwürde. Natürlich kann man darauf hinweisen, dass
bei Saddam über Jahre und Jahrzehnte viel brutaler, viel
umfassender und viel schlimmer gefoltert worden ist.
Aber wir in der westlichen Welt haben unsere eigenen
hohen Standards. Wir müssen alles dafür tun, dass diese
Vorgänge aufgeklärt werden und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden; sonst können
wir die Glaubwürdigkeit, die wir zum Dialog mit der islamischen Welt brauchen, nie wieder erzielen.
({7})
Sechstens. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit und der sozialen Ungerechtigkeit geht es darum,
den Globalisierungsprozess sozial zu gestalten und ihm
einen politischen Rahmen zu geben. Die Öffnung unserer Märkte für die Produkte aus diesem Teil der Welt ist
von großer Wichtigkeit. Freihandel zu fördern - aber
wirklichen Freihandel -, Entwicklungspolitik zu betreiben, dort die Demokratie zu fördern, durch Aufklärungsprojekte einen Beitrag dazu zu leisten, dass die BevölkeDr. Friedbert Pflüger
rung vielleicht nicht mehr ganz so schnell wächst wie
bisher, das ist von großer Wichtigkeit.
Siebtens. Wir müssen die kulturelle Zusammenarbeit ausbauen, viel mehr über den Islam, seine Unterschiede und die verschiedenen islamischen Länder wissen und sie besser verstehen. Deswegen ist es falsch, die
Mittel für auswärtige Kulturpolitik zu kürzen.
({8})
Ich bin gerade in fünf Ländern am Persischen Golf
gewesen. Auf der ganzen arabischen Halbinsel gibt es
nicht ein Goethe-Institut. Das müssen wir ändern, wenn
wir es mit dem Dialog mit der Welt des Islam ernst meinen.
({9})
Mein letzter Gedanke: Es ist nicht so, dass für alles,
was in der islamischen Welt passiert, der Westen Verantwortung trägt. Natürlich hat es die Zeit des Kolonialismus gegeben, natürlich hat es enorme Fehler im Verhältnis zur islamischen Welt gegeben. Aber es geht nicht,
dass die Muslime immer nur uns verantwortlich machen
und sich selbst entlasten. Sie müssen auch selbst an der
Modernisierung, an der Öffnung und an der Reform ihrer Länder mitwirken. Wir erwarten von den Muslimen
in aller Welt - auch von denen, die bei uns leben -, dass
sie sich deutlicher als bisher in Wort und Tat von den
Terroristen und extremistischen Islamisten absetzen.
Dieses Recht auf ihre Mitarbeit und auf ihre Modernisierungsanstrengung haben wir genauso, wie sie das Recht
auf unsere Unterstützung und Sympathie haben.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Ludger Volmer, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen legen heute einen Antrag vor, der dreierlei leisten möchte: Er möchte den transatlantischen Dialog über Sicherheitsfragen wieder aufnehmen und in die
richtige Richtung umlenken,
({0})
er möchte die Debatte innerhalb der EU über die strategische Dimension der europäischen Politik vertiefen und
er möchte einen substanziellen Dialog zwischen dem so
genannten Westen und der arabisch-islamischen Welt
über Modernisierung, Demokratisierung und Umsetzung
der Menschenrechte mitinitiieren.
Dieser Antrag ist überfällig, weil uns die Krisen der
letzten Monate eindrücklich vorgeführt haben, dass die
Politik des „Weiter so!“, dass die reine Machtpolitik, die
auf militärische Projektion setzt, gescheitert ist.
Sehen wir uns die Situation im Irak an. Im Irak erleben wir das Desaster einer ideologisch verblendeten Politik der Administration von Präsident Bush. So deutlich
muss man das sagen.
({1})
Wir sehen, dass es unmöglich ist, Demokratie herbeizubomben. Wir sind uns in der Zielsetzung Demokratisierung einig. Aber man kann Demokratie nicht mit Waffengewalt herbeizwingen, insbesondere dann nicht,
wenn man ständig die Würde der Menschen verletzt, die
man zur Demokratie bekehren möchte.
({2})
Sehen wir uns das Sicherheitsdesaster an. Es war
doch absehbar, dass kein Plan existierte, wie der Wiederaufbau nach dem Krieg einer Hightecharmee gegen eine
mittelmäßig bewaffnete Dritte-Welt-Armee zu geschehen habe, wie regionale Stabilität gewährleistet werden
könne. Heute muss die Bush-Administration auf die
Kräfte zurückgreifen, die sie bekämpft hat, nämlich die
alten Sicherheitsorgane von Saddam Hussein. Das ist
doch der völlige Bankrott der Sicherheitspolitik, die dort
angestrebt wurde.
Was zeigen uns die Folterorgien der letzten Monate
mit den schrecklichen Menschenrechtsverletzungen?
Man hatte den Anspruch, Demokratie zu exportieren und man exportierte Folterknechte. Das ist doch der totale moralische Bankrott eines bestimmten Anspruchs,
der angeblich für die gesamten westlichen Werte steht.
({3})
Gegen diesen Anspruch müssen wir uns wehren. Wir
müssen von den amerikanischen Freunden und Partnern
fordern - ich begrüße, dass der Außenminister das bei
seiner Rede sehr deutlich gemacht hat -, dass die Dinge
aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden.
Wir hoffen, dass der Schaden, der durch diesen doppelten - politischen und moralischen - Bankrott angerichtet
wurde, durch eine UNO-Resolution zumindest eingedämmt werden kann, die möglichst bald die Irakisierung
des Konfliktes in die Wege leitet.
({4})
Meine Damen und Herren, doppelte Standards wirft
uns die islamisch-arabische Welt vor. Wir wissen nur zu
gut, dass sich viele Despoten des Orients mit ihren eigenen doppelten Standards hinter den Fehlern des Westens
verstecken. Umso wichtiger ist es, dass wir eine Fehleraufarbeitung vornehmen und einen Neuansatz für einen
grundlegenden Dialog zwischen unserem westlichen
Kulturkreis und dem islamisch-arabischen Kulturkreis
finden. Das geht nicht mehr mit dem moralischen Zeigefinger. Dieses Recht haben wir durch den moralischen
Bankrott verspielt, den die Folterorgien mit sich gebracht haben.
Wenn wir über Versagen reden, müssen wir auch über
die Haltung einiger Kräfte in diesem Hause vor einem
Jahr reden. Ich erinnere mich noch sehr gut daran - man
brauchte sich nur die Sendung von Frau Illner gestern
Abend anzuschauen -, wie die Vorsitzende der CDU/
CSU-Fraktion noch vor einem Jahr argumentiert hat.
Wir erinnern uns an ihre Kniefälligkeit gegenüber Präsident Bush, mit der sie die Opposition in den USA und in
Europa geschwächt hat ({5})
dies alles aus der wahnhaften Vorstellung heraus, wenn
sich die kleine Bundeswehr in einem Bedrohungsszenario an die Seite der großen US-Armee stellte, würde
Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen abrüsten,
die er überhaupt nicht hatte. Dies war die Absurdität der
Politik der CDU/CSU.
Zudem frage ich mich, Frau Merkel, wie Sie es rechtfertigen können, zu sagen: Wir wollten mitdrohen, aber
für den Fall, dass Saddam nicht reagiert hätte, hätten wir
uns natürlich nicht militärisch beteiligt. „Bellen, ohne zu
beißen“, das ist offensichtlich das Motto Ihrer Sicherheitspolitik.
({6})
Wie unglaubwürdig sie ist, weiß jeder Sicherheitspolitiker. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie 2002 an die
Macht gekommen wären, dann wäre Deutschland heute
in demselben Schlamassel, in dem die USA sind.
({7})
Dann hätten wir Anteil an dem moralischen Bankrott
dieser Politik. Wenn Sie daran beteiligt gewesen wären,
hätte die arabisch-islamische Welt heute vielleicht sogar
zu Recht den Eindruck, es ginge um einen Kampf der
Kulturen. Es war diese Koalition, die durch die rot-grüne
Außenpolitik zusammen mit unseren Freunden in Frankreich, Belgien und anderswo verhindert hat, dass es in
der Wahrnehmung der arabisch-islamischen Welt zu
einem Clash of Civilizations gekommen ist.
({8})
Auf diese Politik sind wir stolz. Dazu erwarten wir von
Ihnen noch immer ein klares Wort.
({9})
Der west-östliche Dialog steht auf der Tagesordnung.
Er muss sich um Modernisierung, Demokratisierung und
Menschenrechte drehen. Wir haben ein gesteigertes Interesse daran, denn der Orient liegt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Insbesondere, weil wir die Europäische Union erweitert haben, ist es notwendig, sinnvoll
und in unserem Sicherheitsinteresse, dass wir friedliche
und freundschaftliche Beziehungen zu dieser Region
pflegen. Auch brauchen wir diese Region im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
Nicht nur wir, die westliche Welt, sind Ziele der Terroristen, sondern auch die arabisch-islamische Welt selbst
hat unter diesen Irrläufern zu leiden, die sich zu Unrecht
auf den Koran berufen. Auch in dieser Hinsicht haben
wir zumindest mit den Modernisierungskräften in der
islamischen Welt ein gemeinsames Interesse.
Zum Nahostkonflikt ist bereits einiges gesagt worden.
Diesen zu lösen ist in diesem gesamten Kontext die zentrale Aufgabe. Wir wissen, dass es ohne eine Lösung des
Nahostkonflikts auf der Basis von Zweistaatlichkeit und
gegenseitigem Gewaltverzicht, wie es in der Roadmap
vorgezeichnet ist, keine grundlegende Neuverständigung
zwischen der arabischen Welt und dem Westen geben
wird. Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig. Wir
müssen beide Projekte, die Lösung des Nahostkonflikts
und den Versuch, diesen umfassenden Dialog aufzunehmen, gleichzeitig beginnen.
Dass sich Europa in diesem Kontext ein neues
Selbstverständnis und ein neues Selbstbewusstsein zu
Eigen machen muss, liegt auf der Hand. Europa muss
seine strategische Dimension erkennen, wie es der
Außenminister in seiner Münchener Rede ausgedrückt
hat. Die Europäische Union muss zu einem Selbstverständnis kommen, in dem sie sich als handelndes Subjekt und nicht mehr nur als eine Arena sieht, in der die
einzelnen Teilnehmerstaaten ihre nationalen Interessen
ausagieren. Am besten wäre es, wenn neben der europäischen Sicherheitsstrategie, die eine gute strategische
Orientierung bietet, der gemeinsame Verfassungsvertrag
verabschiedet würde und so endlich das Selbstverständnis Europas als politisch handelndes und strategisches
Subjekt festgeschrieben würde.
({10})
Meine Damen und Herren, im Kontext des Dialogs
zwischen dem Westen und der orientalischen Welt kann
ein Land eine Schlüsselrolle spielen und einen geradezu
strategischen Stellenwert einnehmen: die Türkei. Deshalb möchte ich diesen Punkt ansprechen. Denn meine
Kritik an der Irakpolitik der CDU/CSU habe ich vorhin
nicht aus Rechthaberei formuliert,
({11})
sondern weil ich befürchte, dass, nun bezogen auf die
Türkei, der gleiche strategische Fehler erneut gemacht
wird.
({12})
Aus einer diffusen Ablehnung gegenüber Moslems
- Herr Pflüger hat zwar versucht, etwas anderes zu suggerieren - und aus einer irrationalen, emotionalen Bindung an ein bestimmtes, eng definiertes Verständnis von
abendländischer Kultur versucht man, die Türkei außen
vor zu lassen, und
({13})
nimmt in Kauf, dass all ihre Hoffnungen enttäuscht werden und dass auch Demokratisierung und Modernisierung, die dort gerade aufgrund der europäischen Perspektive der Türkei Einzug gehalten haben, wieder
gestoppt und vielleicht sogar rückgängig gemacht werden.
Es liegt in unserem Sicherheitsinteresse - das mögen
sich bitte auch die Innenpolitiker vergegenwärtigen -,
dass sich dieses wichtige Land an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident in positiver Weise auf die
europäischen Werte bezieht, sich diese Werte aneignet
und gemeinsam mit uns den Dialog mit der arabischislamischen Welt aufnimmt. Wir brauchen die Türkei.
Deshalb darf es keine innenpolitisch motivierten Ressentiments geben, die die Türkei ins Niemandsland oder
vielleicht sogar auf die falsche Seite treiben.
({14})
Dass diese Politik - der Dialog mit dem Orient und
die europäische Perspektive der Türkei - Realität werden kann, dafür steht diese rot-grüne Regierung und deshalb sind Grün und Rot europapolitisch und außenpolitisch die erste Wahl.
Danke.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegen Werner Hoyer, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich eine Anmerkung zu diesem Wahlkampfauftritt des Kollegen Volmer machen. Wir Liberalen haben eine Gemeinsamkeit mit den Koalitionsfraktionen: Wir haben den Irakkrieg weder sachlich noch
rechtlich für gerechtfertigt gehalten noch haben wir ihn
für richtig gehalten; er war eben obendrein ein Fehler.
Aber was wir nicht zugelassen hätten, wäre, dass über
diese Frage mit aktiver Beteiligung der Bundesrepublik
Deutschland Europa gespalten worden ist, und das ist
hier passiert.
({0}) -
Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Albern!)
Diese wahlkampftaktische Aktion, die damals erfolgreich war, aber mit zur Spaltung Europas führte, soll
jetzt, im Vorfeld der Europawahl, erneut versucht werden. Das wird diesmal nicht mehr aufgehen - das haben
die Wählerinnen und Wähler durchschaut.
Bei aller Kritik, die anzubringen ist - ich denke, zur
Selbstgerechtigkeit besteht hier nun überhaupt keine
Veranlassung; dafür wird all das, was vor dem Sturz von
Saddam Hussein geschehen ist, dann doch zu leicht vergessen.
({1})
Es geht im Nahen Osten um viel mehr als um regionale Stabilität - so wichtig sie ist -, es geht auch darum,
wie wir mit unserer Verpflichtung gegenüber dem Staat
Israel klarkommen; es geht darum, den Kampf gegen
den internationalen Terrorismus zu bestehen; es geht darum, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, es geht darum, den Clash of Civilizations zu verhindern, und es
geht in allererster Linie darum, die Glaubwürdigkeit der
westlichen Welt und des westlichen Wertesystems zu
wahren und da, wo sie beschädigt ist, wiederherzustellen.
({2})
Wir glauben an die Freiheit und die Würde des Menschen. Dieses Wertesystem und die Glaubwürdigkeit der
Akteure, die es verkörpern und umsetzen, sind unsere
wichtigsten Waffen im Kampf gegen internationalen
Terrorismus, unsere wichtigsten Mittel auch, um einen
Beitrag zur Stabilisierung im Nahen und Mittleren Osten
zu leisten.
Politik wird heute - das wissen wir alle; ob wir es
wollen oder nicht - auch über Bilder gemacht. Die Bilder, die in den letzten Wochen aus dem Abu-GhureibGefängnis über den Äther gegangen sind, kann man nur
als politischen Super-GAU betrachten; er wird uns lange
beschäftigen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ist nicht nur der Kernsatz unseres deutschen
Grundgesetzes, das ist das Credo der westlichen Wertegemeinschaft und das gilt auch für die Iraker. Erst wenn
wir die Würde der Menschen in der islamischen Welt in
den Mittelpunkt unseres Handelns rücken, werden wir
diese Menschen für uns gewinnen und gleichzeitig auch
überzeugend bei den Regimen der Region dafür werben
können, die Würde und die Freiheit des einzelnen Menschen besser zu achten. Deshalb ist es wichtig, dass die
Amerikaner voll aufklären; deswegen ist es wichtig, dass
wir Vorsorge treffen, dass so etwas nie wieder passiert.
Aber, meine Damen und Herren, angesichts der antiamerikanischen Orgie,
({3})
die heute Morgen hier vom Kollegen Volmer abgezogen
worden ist, sage ich: Ich habe volles Vertrauen in die
großen Werte der amerikanischen Verfassung, der
Bill of Rights, der Declaration of Independence - auch
in die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Gesellschaft. Wir unterschätzen das hier.
({4})
Sehen wir uns doch einmal an, in welcher intellektuellen, moralischen und rechtlichen Schärfe die amerikanische Diskussion über die Vorgänge geführt wird! Zumindest was intellektuelle Redlichkeit angeht, könnten sich
einige bei uns eine Scheibe davon abschneiden.
({5})
Klar ist aber auch: Die Amerikaner könnten zur Wiederherstellung ihrer Glaubwürdigkeit einen weiteren
Beitrag leisten, zum Beispiel indem sie mit dem Thema
Guantanamo Bay anders umgehen oder ihre Position
zum Internationalen Strafgerichtshof überdenken würden.
({6})
Meine Damen und Herren, im Nahen Osten genießen
die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und
der Außenminister persönlich einen guten Ruf. Das gilt
auch in Bezug auf den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Das ist auch gut so. Aber wir dürfen
den guten Ruf nicht als bloßen Heiligenschein ansehen
und er darf kein Selbstzweck werden, sondern er muss
dazu genutzt werden, um Einfluss zu nehmen, und zwar
auch in den Situationen, in denen es schwer fallen mag,
harte Worte auszusprechen.
({7})
Es ist an der Zeit, dass der Bundesaußenminister seinen
guten Ruf aktiv einsetzt. Das darf aber nicht so aussehen,
dass er für die Israelis oder für die Palästinenser Partei
ergreift; er muss vielmehr Partei ergreifen für die Implementierung der Roadmap wie auch für die Umsetzung
der schon vorhandenen Friedensvorschläge, die aus der
Zivilgesellschaft gekommen sind.
({8})
In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen,
dass ich nicht gut finde, wie wir mit Herrn Rabbo und
Herrn Beilin umgegangen sind. Sie haben uns im Ausschuss überzeugend vorgetragen, wir haben sie bejubelt.
Aber anschließend haben wir das mit einer sehr schwachen Erklärung bedacht.
({9})
Der Bundesaußenminister muss für das Völkerrecht
eintreten. Das muss er auch dann tun, wenn Ministerpräsident Scharon das Völkerrecht verletzt und meint, trotzdem auf dem richtigen Weg zu sein.
({10})
Die Bush-Administration hat sich zu Beginn ihrer
Amtszeit aus der Lösung des Nahostproblems fast völlig
herausgehalten, und zwar auch aus der Situation des
Wahlkampfes heraus: Nach Clintons Abgang durfte man
nichts fortführen, was Clinton fast erfolgreich bewältigt
hätte. Das war ein großer Fehler. Jetzt werden die Amerikaner wieder aktiver. Ich hoffe, es handelt sich nicht
wieder um eine Aktivität im Vorwahlkampf aus taktischen Motiven. Wir brauchen die Amerikaner bei dieser Arbeit.
Wichtig ist, dass wir den fatalen Eindruck ausräumen,
im Nahen Osten gebe es eine Arbeitsteilung zwischen
Europäern und Amerikanern, als seien die Europäer
für die Finanzierung der Palästinenser zuständig, die
Amerikaner dagegen würden sich nur mit den Leiden
des israelischen Volkes befassen und würden die dafür
notwendigen Mittel und die notwendige Empathie aufbringen. Diesen Eindruck müssen wir ausräumen. Die
Amerikaner sind gut beraten, die Chancen zu nutzen, die
in Gesten, auch humanitärer Art, gegenüber den Palästinensern bestehen, Chancen, die zum Beispiel darin liegen, dass die amerikanische Administration klare Worte
für Völkerrechtsverletzungen findet, die Israel zuzurechnen sind. Umgekehrt wären wir Europäer gut beraten,
den Israelis glaubwürdig zu vermitteln, dass auch wir
das legitime Interesse des israelischen Volkes anerkennen, als jüdischer Staat zu bestehen, und dass wir aktiv
für sie eintreten und mit ihnen fühlen angesichts der
ständigen terroristischen Bedrohung und Gewalt, unter
der sie leben und leiden.
({11})
Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt. Damit
komme ich auf unseren Antrag zu sprechen. Der Friedensprozess im Nahen Osten kann genauso wenig von
außen aufgezwungen werden wie der ebenso wichtige
Prozess der Modernisierung der Länder des Nahen und
Mittleren Ostens. Solche Versuche werden immer Abwehrreflexe auslösen, und zwar nicht nur bei den Regimen in der Region, die um ihre Macht und um ihren Einfluss fürchten, sondern auch bei den allermeisten
Menschen vor Ort. Denn die Menschen in dieser Region
sind zutiefst verunsichert, sie sind durch die aktuellen
Bilder aus dem Irak zutiefst abgestoßen, sie sind indoktriniert durch ihre politischen und religiösen Führer und
sie sind - auch das muss man im Hinterkopf behalten zu stolz und zu würdevoll, um sich Lösungen immer nur
von außen aufdrücken zu lassen. Natürlich ist zu Recht
gesagt worden - Friedbert Pflüger hat darauf hingewiesen -, dass Aktivitäten auch von innen kommen und
sichtbar werden müssen; das ist vollkommen richtig.
Nur ein Oktroi wird das Problem nicht lösen.
Es herrscht in den Zivilgesellschaften in dieser Region ein enormer Reformdruck. Es gibt durchaus die Erkenntnis, dass die islamisch-arabischen Länder weltweit
den Anschluss zu verlieren drohen. Viele in diesen Ländern drängen nach stärkeren Partizipationsrechten und
mehr Freiheit. Diese Vertreter der Zivilgesellschaft wissen auch, dass für den erforderlichen Modernisierungsprozess Hilfe von außen erforderlich ist. Diese darf aber
nicht aufgedrückt werden.
In den Anträgen der Union wie auch der Koalition
finden sich viele gute Vorschläge. Aber ich meine, wir
sollten zusätzlich den Gedanken einbringen, die maßgeblich betroffenen Akteure einzubeziehen und ihnen internationale Unterstützung zukommen zu lassen.
Wir haben gute Erfahrungen mit dem Helsinkiprozess
gemacht. Ich weiß, dass man das nicht eins zu eins übertragen kann. Warum ziehen wir aber nicht die Schlussfolgerungen aus dem, was wir in Helsinki und durch den
Helsinkiprozess gelernt haben? Dieser Prozess hat den
Weg zur Überwindung der Teilung Europas und unseres
Landes freigemacht. Der Weg von Helsinki war der
Schlüssel zur Vereinigung Europas, die wir vor wenigen
Tagen gefeiert haben, und zur Vereinigung unseres Landes vor 15 Jahren.
Deswegen: Lasst uns untersuchen - wir werden in
den Ausschussberatungen ausreichend Zeit haben -, wo
wir Möglichkeiten dafür sehen, die Schlussfolgerungen
aus den Erfahrungen mit den drei Körben von Helsinki
auf mögliche Lösungsansätze für den Nahen Osten zu
übertragen. Ich denke, die Europäer und die Deutschen
könnten hier hilfreich sein. Nachdem unsere Vorschläge
in dieser Richtung am Anfang sehr belächelt worden
sind - auch von dem Herrn Außenminister -, bin ich nun
sehr ermutigt, da diesbezüglich mittlerweile doch überall
eine große Aufgeschlossenheit vorhanden ist.
Kollege Pflüger hat im Hinblick auf das Alexandriadokument zu Recht auf die entsprechenden Anknüpfungspunkte hingewiesen. Auch Minister Sharansky aus
Israel hat sich positiv in diese Richtung geäußert. Nehmen wir diesen Faden auf und versuchen wir, tatsächlich
einen Beitrag zur Lösung des gefährlichsten Problems in
unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu leisten!
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Hoyer, wir haben es erlebt: Diese Debatte hat
auf der Sicherheitskonferenz in München begonnen. Der
Außenminister hat den Eröffnungszug gemacht und gesagt, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland mit den
Konflikten, die sich ganz in unserer Nähe ereignen, umgehen müssen.
Wir erinnern uns alle an den Kollegen Lamers, der
immer wieder deutlich gemacht hat, dass der Nahe Osten
deswegen so heißt, weil er direkt neben uns liegt. Anders
als die Amerikaner, die „middle east“ sagen, würde es
uns sofort und direkt betreffen, falls sich der Nahe Osten
in kriegerischer Selbstzerstörung befinden und in eine
Auseinandersetzung geraten würde. Das hat der Außenminister klar gemacht. Wir im Westen müssen jetzt unsere eigenen inneren Widersprüche überwinden, einen
neuen Akzent setzen und den Eröffnungszug machen.
Lieber Kollege Dr. Hoyer, insofern braucht die Bundesregierung keinen Hinweis darauf, dass das nötig ist. Der
Außenminister hat das deutlich gemacht und wir führen
hier eine vernünftige Debatte darüber.
({0})
Ich finde, in dieser Debatte sollte es auch darauf ankommen, unseren amerikanischen Freunden und Partnern nicht mit dem Gestus der Schadenfreude zu begegnen.
({1})
- Lieber Kollege Dr. Hoyer, das war nicht das, worauf
der Kollege Volmer hingewiesen hat. - Nein, innerhalb
des Westens brauchen wir keine Schadenfreude; denn es
kommt jetzt darauf an, eine harte und schonungslose Bilanz des Irakkriegs zu ziehen.
({2})
Ich bin froh, dass Madeleine Albright sehr deutlich
sagt, dass die Irakstrategie des amerikanischen Präsidenten gescheitert ist. Sie ist nicht nur deshalb gescheitert,
weil der Krieg ganz anders verläuft, als sich manche in
der Administration das gedacht haben. Man hätte Lehren
aus der Geschichte ziehen können. Ich nenne jemanden,
der sehr hart und deutlich gesagt hat, was es bedeutet,
wenn man in einen Krieg zieht: Winston Churchill hat
das in seinen eigenen biographischen Notizen sehr klar
gemacht. Dazu, dass manche, die vom Kriegsfieber gepackt sind, glauben, sie könnten das beherrschen, was
geschieht, wenn das Signal des Krieges ertönt ist, hat er
ganz deutlich gesagt: Derjenige, der dieses Signal hört,
ist von diesem Moment an nicht mehr Herr dessen, was
geschieht, sondern er wird Sklave der Ereignisse, die
dann heraufgerufen werden. In dieser Gefahr befindet
sich derjenige, der die Interessen und die Würde von
Menschen einfach missachtet. Zurzeit befindet sich die
gegenwärtige amerikanische Administration in einer solchen Gefahr.
Ein anderer hat zu einer früheren Zeit dieses Problem
sehr kritisch analysiert und aufgearbeitet, nämlich
Fulbright. Er hat für eine solche Situation ganz klar gesagt: Wenn es nur noch so wäre, dass sich die Arroganz
der Macht durchsetzte, dann allerdings hätte Amerika
verloren. - So, wie Amerika gegenüber den Menschen
dieser Region auftritt, verliert es an Glaubwürdigkeit. In
dieser Phase befindet sich gegenwärtig die amerikanische Administration. Das hat nichts mit Schadenfreude
zu tun oder damit, mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Vielmehr müssen wir darauf setzen, dass die selbstkritischen Kräfte in den USA diese große Herausforderung
selbst bestehen. Ich bin ganz sicher, dass dies geschehen
wird, lieber Kollege Dr. Hoyer.
({3})
Wenn wir über den Nahen und Mittleren Osten reden,
dann müssen wir uns selbst fragen, in welcher langen
historischen Linie wir uns befinden. War es nicht so,
dass der Austausch zwischen Europa im Norden und
dem Mittelmeerraum ein immer währender kriegerischer und imperialer gewesen ist? Waren es nicht Krieg,
Auseinandersetzung, Abgrenzung - allerdings auch Integration und Aufnahme -, die diesen Austausch, diese
Beziehungen leider zu stark und zu häufig geprägt haben? Dies ist die lange geschichtliche Widersprüchlichkeit, mit der wir uns im Raum des Mittelmeers gegenseitig begegnet sind. Hier steht auf der einen Seite die
Wiege der monotheistischen Religion und auf der anderen Seite - das dürfen wir nicht vergessen - die Wiege
des modernen und imperialen Staatsdenkens.
Ich darf einmal daran erinnern - wenn man Mitglied
der Christlich Demokratischen Union ist, dürfte das ganz
nahe liegen -, was Paulus geantwortet hat, als er gefragt
worden ist, wer er sei: Civis Romanus sum - ich bin ein
Bürger Roms. Auch das prägt diesen Raum: der Beginn
der Zivilisation, immer begleitet von kriegerischen Auseinandersetzungen. Das ist die Widersprüchlichkeit.
Heute könnten wir aus den Fehlern, die gemacht worden sind, lernen und daraus den Schluss ziehen: Wir
Gert Weisskirchen ({4})
müssen in ein neues gemeinsames Verhältnis eintreten,
damit das, was uns in der Vergangenheit so stark und so
negativ geprägt hat, überwunden wird. Wir müssen versuchen, unsere historischen Erfahrungen so zu nutzen,
dass wir in der Tat - darin stimme ich Ihnen zu, Herr
Dr. Hoyer - unsere Erfahrungen seit 1975 ernst nehmen,
aufnehmen und mit dieser Region in einen wirklichen
Dialog eintreten. Wir müssen dafür sorgen, dass die Europäische Union eine neue Partnerschaft mit unserem direkten Nachbarn eingeht. Willy Brandt hat dazu, wie ich
finde, richtig gesagt: Wir Deutsche wollen gute Nachbarn sein, nach innen und nach außen. - Jetzt kommt es
darauf an, ein neues nachbarschaftliches Verhältnis mit
dieser gebeutelten, schwierigen und in sich so widersprüchlichen Region einzugehen.
Wenn wir uns diese Region anschauen, von Marrakesch bis Kabul, dann kann man sich schon die Frage
stellen: Seid ihr nicht zu euphorisch, zu versuchen, mit
dieser ganzen Region eine neue Partnerschaft einzugehen? Das ist wohl wahr; denn bei der Kleinteiligkeit und
Kleinräumigkeit von Marokko bis Afghanistan kann es
schon dazu kommen, dass uns die Suche nach der Lösung dieser Einzelprobleme derart bedrängt, dass wir
den Blick auf das Ganze verlieren. Diese skeptische
Frage wird uns während des langen Prozesses, den wir
jetzt beginnen werden, begleiten. Wenn wir aber nicht
den Mut haben, einen gemeinsamen strategischen Entwurf zu skizzieren, werden wir auch die kleinen Fragen
nicht lösen, sondern diese werden sich als Steine auf
dem gemeinsamen Weg erweisen. Dann allerdings könnten wir scheitern.
Nein, ich glaube, wir stehen am Anfang eines völlig
neuen Prozesses.
Der Außenminister hat zu Recht in München gesagt,
dass das bedeuten muss, dass sich der Westen neu definiert, dass er sich neu erfindet. Denn wir wollen doch
dieser Region, die nahe bei uns liegt, nicht mit dem Gestus „Wir wissen alles besser und es ist nun an der Zeit,
dass ihr euch uns anschließt“ begegnen, sondern wir
wollen das als Aufgabe der transatlantischen Partnerschaft angehen. Die USA und die Europäische Union
müssen ihre Kräfte bündeln und dafür sorgen, dass sich
diese Region zu einer Region der Prosperität entwickeln
kann.
Wer von „Region der Prosperität“ spricht, der weiß
auch, wie schwer es die Menschen haben, die in den
22 arabischen Staaten leben. Alle 22 Staaten zusammen
erwirtschaften leider nur ein Bruttosozialprodukt, das
gerade einmal so groß wie das von Spanien ist. Daran
sieht man, wie schwer die Aufgabe ist. Über 50 Prozent
der Menschen dort können nicht lesen und nicht schreiben; zwei Drittel davon sind Frauen. Es liegen also
große soziale Aufgaben vor uns, die wir gemeinsam anpacken müssen. Denn Sicherheit, Demokratie und Modernisierung sind das, was diese Region braucht.
Die Europäische Union wird ein guter, verlässlicher
Partner sein, der nur gemeinsam mit den USA diese vor
uns liegende schwere, historische Aufgabe bewältigen
kann. Ich bin froh darüber, lieber Herr Außenminister,
dass Sie das auf die Tagesordnung gesetzt haben und das
auf den vor uns liegenden Gipfeln der Europäischen
Union, der G 8 und der NATO ansprechen werden. Es ist
hilfreich, dass wir diese Debatte frühren. Ziehen wir daraus die richtigen und vernünftigen Konsequenzen!
Denn wir brauchen eine neue Partnerschaft zwischen
dem Westen und dem Osten, zwischen Orient und Okzident. Das ist die Aufgabe dieser Generation. Ich hoffe,
wir erfüllen sie.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Welt ist nach der Kette von Terroranschlägen,
nach New York, nach den Kriegen in Afghanistan und
im Irak und nach der Eskalation im Nahen Osten natürlich angespannt. Die Kommunikation zwischen uns ist
unbefriedigend. Argwohn und Misstrauen sind auf beiden Seiten groß. Auch das haben wir bei der gestrigen
Diskussion mit den Botschaftern erlebt. Ich erinnere an
den Streit um Überschriften, um Semantik. Wir haben
bisher darauf keine passende Antwort.
Antworten zu finden ist dringlich. Es ist ein Gebot der
Stunde, dass wir einen neuen, einen intensiveren Dialog
mit den Regierungen und Menschen in den Ländern der
islamischen Welt anstoßen. Wir haben dazu gerade als
Deutsche allen Grund: Wir haben auf der einen Seite traditionell gute, auch gute kulturelle Beziehungen; wir haben intensive ökonomische Beziehungen mit einem
überragenden Zukunftspotenzial. Auf der anderen Seite
sind wir aber auch massiv von Fehlentwicklungen betroffen, die es in diesem Raum gibt und geben könnte.
Ich nenne das Stichwort Migration. Natürlich sind wir
auch als Deutsche und Europäer besonders verwundbar
durch Terrorismus, Spannungen oder Konflikte in diesem Raum.
Das ist der Ausgangspunkt für unseren Antrag. Für
uns ist ein ganz entscheidender Schlüssel für eine gemeinsame tragfähige Zukunft eine effizientere Politik
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung gegenüber den islamischen Ländern. Wir gehen davon aus, dass auch für die Menschen dort und für deren
Befindlichkeit Bildung, wirtschaftliche Perspektiven
und die Chance, zu der Gestaltung der eigenen Gesellschaft beizutragen, wirkliche Schlüsselfaktoren sind.
Das ist zwar noch keine Garantie gegen Konflikte und
Radikalismus, aber das ist die beste Voraussetzung für
ein besseres Miteinander und dafür, einen offenen Konflikt zu vermeiden.
Dazu bedarf es natürlich auch in den islamischen
Ländern - das wurde schon angesprochen - tief greifender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Reformen.
Diese Länder sind dazu bereit, aber es ist eine sehr
schwierige Aufgabe. Unsere strategische Aufgabe muss
es sein, alles zu tun, damit es zu diesen Reformen
kommt.
({0})
Wir sollten dabei jeden Eindruck von Bevormundung
und Arroganz vermeiden.
Ich erinnere daran, dass in Mitteleuropa quasi noch
die Eisenzeit herrschte, als es im Nahen und Mittleren
Osten schon blühende Hochkulturen gab. Ich erinnere
weiter daran, dass auch islamische Impulse dazu beigetragen haben, dass wir eine Schwächeperiode in unserem Mittelalter überwinden konnten, und möchte in diesem Zusammenhang die Nobelpreisträgerin Ebadi
zitieren:
Demokratie ist kein Geschenk, das man auf einem
Goldtablett darreicht. … Demokratie ist ein historischer Prozess, der sich … in jeder Gesellschaft von
innen heraus entwickeln muss. Geschichte setzt Geduld voraus.
Das sollten auch wir berücksichtigen.
({1})
Wir sollten auch deutlich machen, dass unser Angebot zur verstärkten Zusammenarbeit und Entwicklung
nicht nur auf Demokratieaufbau abzielt, sondern insbesondere auf die Stärkung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaften in dieser Region, die
Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen und
vor allem die Verbesserung der Zukunftschancen der
jungen Generation, die auf geradezu dramatische Art
und Weise und in einem Maße, wie wir es uns wünschten, ein überragender Bestandteil der Alterspyramide
dieser Gesellschaften ist. Wir sollten darüber hinaus
deutlich machen, dass wir uns um die gemeinsame Abwehr von Gefahren kümmern wollen, die uns alle betreffen.
Deswegen bestehen die Hauptelemente unseres Antrags darin, den wissenschaftlichen Dialog fortzuführen
und zu intensivieren, einen Beitrag zu einem effizienteren Umgang mit der knappen Ressource Wasser zu leisten, die Unterstützung für den Ausbau eines breiten und
modernen Bildungs- und Erziehungswesens zu verstärken und vor allem die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zu stärken. Als weitere Stichworte sind beispielsweise eine moderne Verwaltung, die Integration in
globalisierte Märkte, das Ausbildungswesen und die
Hochschulkapazitäten zu nennen.
An der Haltung und Politik der jetzigen Bundesregierung gibt es einiges zu kritisieren. Ich finde es bedauerlich, dass zum Beispiel niemand aus der Spitze des Entwicklungsministeriums an dieser wichtigen Debatte
teilnimmt.
({2})
- Ich finde es schade, Herr Volmer, dass Sie das Thema
mit einer so rückwärts gewandten Polemik angehen. Sie
gestatten, dass ich nicht darauf eingehe.
({3})
Nehmen Sie doch zur Kenntnis, was in der deutschen
Entwicklungspolitik wirklich passiert! Die Schwerpunktsetzung geht völlig an dem vorbei, was in dem von
arabischen Wissenschaftlern erstellten Entwicklungsreport dargestellt wurde. Es gibt im BMZ kein aktuelles
Konzept für den Nahen und Mittleren Osten. Erst drei
Jahre nach dem 11. September wurde heuer ein solches
Konzept in Auftrag gegeben.
Mit einer falschen Schwerpunktsetzung, einer ungenügenden Koordinierung, einer fehlenden internationalen Arbeitsteilung und einer miserablen Haushalts- und
Finanzpolitik haben Sie Ihren eigenen Spielraum für ein
strategisches Krisenmanagement und eine strategische
Krisenpolitik verspielt.
({4})
Deshalb sollte man hier nicht so große Töne spucken.
Natürlich besteht die Politik gegenüber dieser Region
nicht nur aus Entwicklungspolitik. Das wurde schon angesprochen. Im Zusammenhang mit dem Nahen und
Mittleren Osten stellt der Konflikt zwischen Israel und
Palästina das Schlüsselproblem dar. Aber wir wollen
auch deutlich machen, dass es uns um ein ehrliches Angebot für eine gemeinsame Suche nach einer friedlichen
Kooperation auch in Verantwortung für die kommenden
Generationen geht. Ich glaube, dass Deutschland als Bestandteil einer westlichen Gesamtstrategie hinsichtlich
dieser Region einen größeren Spielraum hat. Diesen
Spielraum sollten wir, diesen Spielraum sollte auch die
Bundesregierung stärker nutzen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile Außenminister Joseph Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
über den Nahen und Mittleren Osten sowie über eine
neue Partnerschaft sprechen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir es bei diesem Thema mit
der zentralen Sicherheitsfrage - vermutlich nicht nur in
den kommenden Jahren, sondern Jahrzehnten - für uns
Europäer und damit auch für die Bundesrepublik
Deutschland zu tun haben.
Wenn man zurückblickt, dann erkennt man, dass eines
der Probleme vielleicht darin besteht, dass wir alle den
Übergang von einem bipolaren System des Kalten Krieges, in dem sich zwei große Weltmächte um einen zentralen Konflikt global gruppiert hatten, hin zu einer völlig veränderten, neuen Weltlage politisch vermutlich
nicht in der Radikalität nachvollzogen haben, wie ihn die
Realität vorgegeben hat. Dieser Übergangsprozess hat
eine Neudefinition der unterschiedlichen Rollen notwendig gemacht, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung
des transatlantischen Bündnisses, mit entsprechenden
Konsequenzen für die Verantwortung Europas. Ich persönlich möchte anmerken, dass sich die strategischen
Herausforderungen, vor denen die Europäer stehen, in
den fünfeinhalb Jahren, in denen ich Außenminister bin,
({0})
radikal verändert haben.
Nicht umsonst ist Afghanistan hier der Dreh- und Angelpunkt. Die Entwicklung in Afghanistan steht in einem
engen Zusammenhang mit dem Niedergang des Sowjetimperiums, zeitlich aber auch in einem engen Zusammenhang mit der damaligen islamischen Revolution unter Chomeini im Iran.
Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen,
haben eine ganz andere Qualität und sind schwerer vermittelbar. Wir haben das gestern in der Kosovodebatte
gesehen. Nation Building ist unter den heutigen Bedingungen eine langfristige Aufgabe, bei deren Erfüllung
wir ständig mit Rückschlägen rechnen müssen und die
unserer - zu Recht - ungeduldigen Öffentlichkeit nur
schwer vermittelbar ist. Wenn wir über den Nahen und
Mittleren Osten reden, dann sollten wir wissen, dass der
Balkan noch eine vergleichsweise geringe Herausforderung ist. Wenn wir das, was wir sagen, ernst meinen,
dann müssen wir uns also auf eine sehr langfristige
Perspektive einstellen. Ich bin der festen Überzeugung,
dass eine Voraussetzung für den Erfolg sein wird, dass
wir Europäer mit unseren amerikanischen Partnern endlich eine strategische Diskussion anstoßen, die Realismus zur Grundlage haben muss. Auf dieser Grundlage
müssen wir versuchen, einen neuen Konsens herzustellen. Ob das gelingt, wird die Zukunft zeigen. Ein neuer
Konsens ist deswegen notwendig, weil ich glaube, dass
weder Europa noch die USA, die letzte Supermacht, allein in der Lage sein werden, die gewaltigen Herausforderungen, die nicht nur auf einer gemeinsamen Bedrohung beruhen, zu meistern. Das ist der Hintergrund. Die
Debatte über eine Einigung wird sicherlich sehr schwierig und kompliziert.
Frau Merkel, Sie sollten sich ehrlich machen, dass Sie
einen Fehler begangen haben. Ich verstehe sogar, welcher Fehler es war. Sie haben die Veränderungen im
transatlantischen Verhältnis - bezogen auf den Nahen
Osten - unterschätzt. Die Union weiß das heute auch.
Journalisten erzählen ja, welche Aussagen hinter verschlossenen Türen tatsächlich gemacht werden. Frau
Merkel, Sie sollten sich an diesem Punkt ehrlich machen. Es ist doch völlig klar, dass die entscheidende
Frage nicht gewesen ist, ob Europa im Hinblick auf den
Irakkrieg zusammenzuhalten gewesen wäre. Ich war
doch dabei, als Herr Pflüger in Anwesenheit von Herrn
Rumsfeld in München gesagt hat, dass der Brief der
Acht ein Brief der Fünfzehn gewesen wäre, wenn Sie die
letzte Bundestagswahl gewonnen und die Bundesregierung gestellt hätten. Der Brief der Acht war der Brief
derjenigen, die mit den USA in den Irakkrieg gezogen
sind. Man sollte hier keine Scheindebatten führen. Nachdem mittlerweile alle Fakten offen liegen, ist offensichtlich, dass die Entscheidung nicht von Europa beeinflusst
wurde. Selbst wenn sich Chirac und Schröder mit Blair,
Aznar und Berlusconi auf eine gemeinsame Linie geeinigt hätten, hätte sich die US-amerikanische Position
nicht verändert. Wir hätten vielleicht noch ein, zwei Monate Zeit gewinnen können, allerdings um den Preis,
dann dabei sein zu müssen; das wissen Sie doch auch.
Seien Sie an diesem Punkt also ehrlich!
({1})
Wenn umgekehrt Blair, Aznar und Berlusconi an der
Seite von Schröder und Chirac geblieben wären, dann
hätte es vielleicht - ich sage bewusst: vielleicht - eine
inneramerikanische Debatte gegeben.
({2})
- Aber mehr wäre doch nicht möglich gewesen! Ich persönlich habe diese Debatte über Monate auf verschiedenen Außenministertreffen geführt. Wir haben diese Debatte mit der amerikanischen Seite seit meinem Besuch
dort am 18./19. September 2001 geführt. Wir wissen
heute - die entsprechenden amerikanischen Publikationen liegen vor -, dass alle Entscheidungen schon vorher
gefallen sind und dass nicht die Existenz von Massenvernichtungswaffen die entscheidende Frage war, sondern die Auffassung, man könne mit einer militärischen
Intervention in dieser Region so etwas wie einen demokratischen Urknall mit einer entsprechenden Dominowirkung herbeiführen. Das hat sich im Lichte der Realität als falsch erwiesen. Ich glaube, die negativen
Konsequenzen dessen werden uns noch sehr lange beschäftigen.
({3})
Es ist richtig: Es führt kein Weg an einem partnerschaftlichen Ansatz vorbei. Denn der Kern dessen, was
uns in Form von Terrorismus gemeinsam bedroht, ist
eine Modernisierungskrise in dieser Region. Was
heißt Modernisierungskrise? - Es heißt letztendlich, dass
diese Region, gründend auf der eigenen Kultur und religiösen Traditionen, gründend auch auf der eigenen Geschichte, einen eigenen Zugang zur Globalisierung haben muss. Wenn die Globalisierung der ökonomische
Basistrend ist, dann stellt sich die Frage: Wird die arabisch-islamische Welt diese Entwicklung als ihre eigene
annehmen und sie mit eigenen Beiträgen aktiv mitgestalten oder wird sie sie passiv erleiden und dann versuchen,
dagegen, egal in welcher Form, zu rebellieren und zu
kämpfen?
In diesem Spannungsverhältnis hat sich nach dem
Ende des Kalten Krieges ein neuer Totalitarismus entwickelt. Das ist der al-Qaida-Totalitarismus. Ihn werden
wir bekämpfen müssen. Mit ihm wird es keine Verhandlungen geben. Das macht aber nur ein Siebtel des Ganzen aus. Zu sechs Siebteln wird es darum gehen, die
Transformationsaufgabe zu begleiten, was ein langfristiger und mühseliger Prozess sein wird. Ich finde, da sind
die Europäer hervorragend aufgestellt. Aber wir brauchen auf der anderen Seite auch unsere amerikanischen
Partner. Das halte ich ebenfalls für unverzichtbar. Um
diese große Aufgabe werden wir nicht herumkommen.
Kollege Pflüger, mir ist aufgefallen, dass Sie zu allem
etwas gesagt haben, nur zum Zweistromland nicht.
({4})
Ich will gern auf die aktuelle Entwicklung zu sprechen
kommen. Ich teile überhaupt nicht, was Kollege
Schäuble gestern in einem Interview über die Situation
im Irak gesagt hat. In diesem Interview sagte er wieder:
Deutsche Truppen sollten dorthin. Kollege Schäuble, ich
bin nicht der Meinung, dass westliche Truppen, ob deutsche, ob andere, unter bestimmten Bedingungen, zum
Beispiel wenn die UNO oder jemand anders es fordert,
im Irak stationiert werden sollten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass westliche
Truppen dort, egal unter welchen Bedingungen, angesichts der konkreten historischen Abläufe, die in den
letzten Wochen und Monaten hinter uns liegen und die
uns noch jetzt bedrängen und bedrücken, aus sich heraus
als Besatzer gesehen werden.
Insofern sollten wir auch keine Debatte über den Vorschlag führen, die NATO in die Auseinandersetzung dort
hineinzuziehen.
({5})
- Nichts Bundeskanzler! Ich rede von dem, was Sie gegenüber der „FAZ“ gestern gesagt haben. Jetzt kommen
Sie mir nicht mit dem Bundeskanzler.
({6})
Ich bin froh, dass der Bundeskanzler Gerhard Schröder
heißt;
({7})
denn das hat die Politik möglich gemacht, für die wir
stehen.
Ich rede gerade über den Vorschlag, die NATO jetzt in
die Auseinandersetzung im Irak hineinzuziehen. Was
könnte die NATO denn mehr leisten als die Koalition? Sie würde weniger leisten. Sie würde aber als Besatzungsmacht gesehen.
({8})
Das heißt - das hat der Bundeskanzler völlig zu Recht
gesagt -, die NATO selbst würde gefährdet. Deswegen
waren wir von Anfang an äußerst skeptisch. Ich habe das
bereits auf der Wehrkundetagung in München klipp und
klar ausgedrückt.
({9})
Unsere letzte aktuelle Chance ist Brahimi. Ich erinnere an die Generalversammlung der Vereinten Nationen
vor zwei Jahren. Heute sagen auch die regionalen Partner: Das ist das letzte Spiel, das wir haben. Angesichts
dessen müssen wir alles tun, damit das ein Erfolg wird.
Das setzt voraus, dass wir den Vorschlag von Brahimi
tatsächlich umsetzen. Ich hoffe, dass dieser Vorschlag
breit fundiert ist und breit getragen wird. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, einen innerirakischen
Konsens herzustellen. Das ist nach den Ereignissen dieses Jahres extrem schwierig. Es gibt einen zusätzlichen
regionalen Stabilisierungsfaktor: Die Nachbarn haben
kein Interesse an einem Auseinanderbrechen des Irak.
Wenn wir mit diesen Faktoren in einer vernünftigen
Resolution umgehen, um Legitimation zu kreieren, dann
könnte es funktionieren.
Zum anderen großen Thema, Israel/Palästina. Da
geht es nicht um Heiligenscheine oder Ähnliches. Sie
können hier lange fordern: Außenminister, mach endlich
voran mit der Roadmap! - Sie sind doch viel zu klug und
viel zu informiert, Herr Hoyer, um nicht zu wissen:
Wenn es so einfach wäre, wären wir schon längst an der
Arbeit.
Wir haben Rückschläge zu verzeichnen. Es gibt
Schwierigkeiten der Konfliktparteien auf beiden Seiten.
Wir waren der Meinung, dass der einseitige Rückzug aus
Gaza, eingebunden in die Roadmap und entsprechend
vernünftig gemacht, ein großer Schritt nach vorn sein
könnte, wenn wir gleichzeitig Sicherheit kreieren, wenn
wir eine ordentliche Übertragung auf eine palästinensische Autorität hinbekommen, wenn es nicht zu einer
Verlagerung der Siedler in die Westbank kommt, wenn
dies nicht sozusagen ein „Gaza first and Gaza only“ bedeutet. Sie finden das in der Tullamore-Erklärung der
Europäischen Union. Daran führt kein Weg vorbei.
Ich bin froh darüber, dass wir hier wieder einen transatlantischen Konsens erreicht haben. Präsident Bush hat
den G-8-Außenministern im Weißen Haus vor vierzehn
Tagen persönlich gesagt, dass die USA dieselbe Position
wie die Europäer und wie das Quartett insgesamt haben.
Meines Erachtens wird es jetzt darum gehen, die verschiedenen Elemente zusammenzubringen. Ich sehe da
eine Möglichkeit. Aber wie so oft gilt: Hinter der nächsten Ecke kann der nächste Terroranschlag oder die
nächste politisch-militärische Aktion lauern, was alles
wieder zunichte macht.
Irak und Israel/Palästina sind die beiden heißesten
Konflikte. Es wird kein Wider-Middle-East-Konzept geben, wenn wir diese Fragen nicht lösen.
Herr Minister, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja. - Ein letzter Punkt.
Ich appelliere nochmals an Sie von der Union: Überdenken Sie Ihre Position zur Türkei! Ich verstehe die
Gründe. Es ist nicht so, dass ich die Gründe für irrational
halte. Ich verstehe auch die Sorgen. Frau Merkel, ich
habe den Eindruck, dass wir alle die Analyse sozusagen
vor dem Komma im Wesentlichen teilen. Aber die entscheidende Frage ist nun anders zu bewerten - jetzt, da
es Klarheit gibt über die neue Weltordnung und im
Lichte ihrer Bedrohung. Die Frage der Modernisierung
ist geopolitisch die zentrale Frage im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus.
Aufgrund des Vorlaufs, nämlich der vier Jahrzehnte
Vorlauf, wird jede Aussage, mit der der Türkei im kommenden Winter definitiv die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, als ein Nein begriffen werden. Deswegen wird
es von entscheidender Bedeutung sein, dass wir eine
Entscheidung treffen, die die feste Verankerung der Türkei in Europa, die feste Verankerung in der Moderne
- mit moderner Zivilgesellschaft, mit moderner Marktwirtschaft, mit Demokratie und Rechtsstaat - ermöglicht. Das wäre der wirklich strategische Sieg und wäre
auch für den Nahen und Mittleren Osten, was den kooperativen Neuansatz betrifft, meines Erachtens von überragender Bedeutung.
({0})
Deswegen appelliere ich noch einmal an die Union
- viele von Ihnen wissen doch, dass die Analyse richtig
ist; es geht nicht darum, dass ich Recht habe -, in der
Türkeifrage im Interesse der gemeinsamen Sicherheit
die Position nochmals zu überdenken. Wir können und
dürfen der Türkei die Tür nicht vor der Nase zuschlagen,
wenn sie auf dem Weg der Modernisierung ist. - Das ist
ein weiterer wichtiger Bestandteil.
Ich danke.
({1})
Ich erteile Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat davon gesprochen, dass es sich bei
den Problemen im Nahen und Mittleren Osten im Kern
um eine Modernisierungsproblematik handele und dass
in einer Zeit wie der unsrigen die immer schnelleren Veränderungen unterschiedlicher kultureller Zustände und
Traditionen und die immer stärkere Wechselbezüglichkeit in der Welt zu diesen ungeheuren Brüchen und Spaltungen führen. Das ist im Übrigen ein Kennzeichen der
gesamten Globalisierungsproblematik. Ich vermute, dass
dieses im Nahen und Mittleren Osten insbesondere deshalb so deutlich zutage tritt, weil durch das Erdöl, das ja
für die Weltwirtschaft seit Jahrzehnten eine zentrale
Rolle spielt, dieser Prozess der Spaltung der Interessen
zusätzlich beschleunigt und vielfältig verschärft wurde.
Nun ist in dieser Debatte und in den Anträgen der
Fraktionen viel Kluges dazu gesagt worden, wie sich
diese Region entwickeln könne und wie wir bei aller
Wahrung der Unterschiedlichkeit der Kulturen und Traditionen durch Partnerschaft dabei helfen können, diesen
Weg der Modernisierung zu begleiten. Ich vermute übrigens, Herr Weisskirchen, dass sich der Ausspruch von
Willy Brandt bezüglich der guten Nachbarn doch eher
auf Polen als auf Afghanistan bezog. Wir sollten uns bei
der Nachbarschaft nicht übernehmen. Das bringt mich
zu einem weiteren Punkt, Herr Kollege Fischer, nämlich
zu Ihrer Argumentation bezüglich der Türkei, um das an
der Stelle gleich zu sagen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie mir die Gnade Ihrer Aufmerksamkeit nur einen Moment schenken wollten.
({0})
- Das ist schön.
Ihre Argumentation zur Türkei ist zwar heute nicht
das Thema dieser Debatte, aber sie bestärkt mich in meiner Auffassung, dass wir zwei Sachverhalte richtig miteinander verbinden müssen, nämlich die Perspektive der
politischen Einigung Europas und das Verhältnis dieses
handlungsfähiger werdenden Europas zur Türkei und zur
Modernisierung in der islamischen Welt insgesamt. Wir
können doch nicht allen Teilen der islamischen Welt in
der Hoffnung, dass sie sich in Richtung auf Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit modernisieren, eine Perspektive
auf Aufnahme in die Europäische Union geben.
({1})
- Entschuldigung, können Sie das Argument selber nicht
vorher vielleicht einmal prüfen? Das Argument lautete,
dass wir die Türkei als Vollmitglied in die Europäische
Union aufnehmen müssten, weil wir ein Interesse daran
haben, dass sie sich in unserem Sinne entwickelt. Ich
glaube, in Bezug auf dieses Ziel ist die privilegierte Partnerschaft die bessere Lösung.
Ich möchte aber in der Debatte noch auf etwas anderes
hinweisen: Ich glaube, wir sollten darauf achten, dass wir
uns in Bezug auf die Problematik im Nahen und Mittleren Osten, die sich für uns ja als furchtbar schwierig darstellt, nicht übernehmen und überheben. In der Debatte
wurde gesagt, man könne Demokratie nicht herbeibomben. Das ist die eine Seite der Medaille. Manchmal geht
es aber auch nicht ganz ohne militärische Stabilisierung. Auf diese Weise können wenigstens Voraussetzungen geschaffen werden. Überspitzt könnte man sagen:
Saddam Hussein hat man auch nicht durch auswärtige
Kulturpolitik aus dem Amt gehoben.
Vorgestern haben wir ja über den Sudan diskutiert.
Nachdem wir noch vor ein paar Monaten gesagt haben,
solch eine Katastrophe wie in Ruanda dürfe es nie wieder geben, sind wir nun dabei, im Sudan genauso zu versagen. Erfolge können wir hier nur erzielen, wenn die
dort Herrschenden wissen, dass sie notfalls durch militärische Gewalt am Begehen von Verbrechen gehindert
werden. Es geht also nicht ganz ohne.
({2})
Gestern haben wir über das Mandat im Kosovo geredet. Es waren der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister, die im Deutschen Bundestag den
Antrag eingebracht haben, die militärische Präsenz auf
nicht ganz absehbare Zeit fortzusetzen, weil das nötig
sei, um friedliche Entwicklung, Modernisierung und Nation Building überhaupt zu ermöglichen. Das eine ist
also ohne das andere nie ganz zu machen. Deswegen
brauchen wir ein einiges Europa - Deutschland alleine
kann nämlich gar nichts bewirken - und deswegen brauchen wir die atlantische Partnerschaft um jeden Preis.
Anders als in der Gemeinschaft des Westens sind die
Aufgaben überhaupt nicht zu bewältigen.
({3})
- Um jeden Preis, weil anders die Lage im Nahen und
Mittleren Osten nicht stabilisiert werden kann. Europa
alleine kann das nicht.
({4})
- „Um jeden Preis“ heißt natürlich nicht, Herr Kollege,
dass deswegen jedes Vorgehen richtig ist.
({5})
Entweder sind wir verlässliche Partner oder wir sind es
nicht. Das heißt, wir kritisieren uns selber und wir kritisieren andere, und was nicht in Ordnung ist, muss in Ordnung gebracht werden. Auf die Fähigkeit der Amerikaner, eigene Fehler zu korrigieren - daran ist schon vom
Kollegen Hoyer und von anderen erinnert worden -,
kann man mehr vertrauen, als man das in anderen Teilen
der Welt kann. Das sollten Sie auch tun.
Henry Kissinger ist vor ein paar Wochen gefragt worden, was möglicherweise eine andere Regierung unternehmen würde. Man weiß ja nicht, wie die Wahl ausgeht; man muss die Wahlergebnisse so nehmen, wie sie
sind, sie akzeptieren und mit denen leben, die gewählt
worden sind. Ich rate dringend dazu, hier nicht den amerikanischen Wahlkampf zu führen, denn das hilft uns
auch nicht. Henry Kissinger hat geantwortet, vielleicht
würde ein Senator Kerry, wenn er zum Präsidenten gewählt würde, mehr auf die Europäer zugehen, als Präsident George W. Bush es in den zurückliegenden Jahren
getan hat. Dann hat er gelächelt und gesagt: Nach ein
paar Monaten wäre er genauso enttäuscht.
Für uns stellt sich die Frage: Zu welcher Partnerschaft sind wir bereit? Jeder hat gesagt - ich könnte Sie
oder den Bundeskanzler zitieren -, dass ein überstürzter
Rückzug aus dem Irak das Schlimmste wäre, weil dann
mit Sicherheit ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Trotz
unserer hehren Anträge hier im Deutschen Bundestag
und was immer wir sonst noch machen können, würde
dann eine noch schlimmere Katastrophe eintreten. Ein
überstürzter Rückzug kommt also nicht infrage.
Deswegen muss in dieser schwierigen Lage - die
noch schwieriger geworden ist, als sie war; das ist unstreitig, aber die Rechthaberei hat doch keinen Sinn - die
Frage gestellt werden: Was können wir Europäer dazu
beitragen, dass sich die Situation in eine bessere Richtung entwickelt? Es macht keinen Sinn, auf der einen
Seite zu sagen, die UNO müsse eine stärkere Rolle übernehmen, und auf der anderen Seite von vornherein auszuschließen, dass man selbst dabei ist.
Es war der deutsche Bundeskanzler, der im Auswärtigen Ausschuss vor ein paar Wochen gesagt hat - Herr
Fischer, es tut mir Leid -: Wenn unter der Voraussetzung
einer UNO-Resolution ein entsprechendes Ersuchen an
die NATO gerichtet wird, wird die Bundesregierung
nicht dagegen sein. Dann hat er gesagt: Aber wir beteiligen uns nicht. - Das macht keinen Sinn. Entweder oder! Wir können nicht multilaterale Entscheidungen
fordern und gleichzeitig sagen: aber wir nicht. So bekommen wir keine multilateralen Entscheidungen; das
ist das Problem.
({6})
Das, Herr Außenminister, war der Fehler, den Ihnen
Frau Merkel und wir alle von der Union vor und nach
dem Irakkrieg zu Recht vorgehalten haben. Über andere
Fragen kann man diskutieren. Ich könnte Ihnen das Interview von gestern ganz vorlesen; es war besser als Ihr
Redebeitrag. Der Punkt ist: Wer multilaterale Entscheidungen will, sei es in der UNO, in der Europäischen
Union oder in der NATO, darf nicht gleichzeitig sagen:
Aber wir beteiligen uns nicht. Denn damit tut man genau
das, was die Amerikaner uns vorhalten. Man sollte nicht
nur auf die arabische Welt hören, sondern manchmal
auch auf die amerikanische.
({7})
Die Amerikaner sagen, dass die Europäer gerne entscheiden würden, was die Amerikaner tun und lassen
sollen. Das geht nicht: Wir können nicht entscheiden,
was die Amerikaner machen. Wir sollten den Amerikanern, unseren verlässlichsten Freunden und der wichtigsten Führungsmacht, unter deren Fehlern wir genauso leiden wie sie selber, sagen, welchen Beitrag wir zu leisten
bereit und in der Lage sind. Anderenfalls werden wir den
Trend zu unilateralen Entscheidungen in Amerika nicht
schwächen und die Neigung zu multilateralen Entscheidungen nicht stärken. An diesem Punkt sind wir
unterschiedlicher Meinung - in der Frage, welches der
richtige Weg ist und wie wir es gemeinsam hinbekommen. Wenn wir das gemeinsam machen, sind wir auf
dem besseren Weg.
({8})
- So geht es nicht.
({9})
- Ich glaube, Sie werden nichts erreichen. Sie haben mit
Ihrer Politik nichts anderes zustande gebracht, als Europa zu spalten.
(Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie hätten Europa an der Seite
Amerikas in den Krieg geführt!
Es ist ja nur ein frommer Wunsch, dass Europa einer
Meinung ist.
({10})
Ich will gar nicht über die Frage diskutieren, wer
Recht gehabt hat. Ich sage nur: Solange Europa gespalten und nicht in der Lage ist, einen Beitrag zu leisten,
werden wir nichts bewirken. Wenn Europa das nicht
Seite an Seite mit den Vereinigten Staaten von Amerika
in einer besseren atlantischen Partnerschaft tut, werden
wir im Nahen Osten, im Irak und in der Israel/PalästinaFrage nichts erreichen. Ich glaube nicht, dass es richtig
ist, wenn sich - es gibt gelegentlich auch amerikanische
Stimmen, die das fordern - die Europäer mehr darum bemühen, die Palästinenser zu beeinflussen, während die
Amerikaner sich mehr um die Israelis bemühen. Das
halte ich für grundfalsch. Wir müssen miteinander auf
beide Seiten gleichermaßen einwirken. Es darf keine Arbeitsteilung geben. Es darf übrigens auch keine Arbeitsteilung im atlantischen Bündnis in der Form geben, dass
die Amerikaner für Hardpower und die Europäer für
Softpower stehen. So werden wir beide scheitern und
das träfe dann uns alle.
({11})
- Das machen wir doch im Kosovo auch, Herr Kollege.
Haben Sie die gestrige Debatte nicht mitbekommen? Es
geht doch nicht ohne Hardpower. Auch im Sudan geht es
nicht ohne Hardpower. Aber Hardpower allein reicht
nicht; auch das ist wahr. Deswegen ist es eine solche
Katastrophe, wenn der Westen seinen Führungsanspruch
durch eigene Fehler riskiert oder verspielt. Die Sache
muss in Ordnung gebracht werden. Beides gehört
untrennbar zusammen. Es ist schon bemerkenswert, wie
Sie reagieren, wenn gesagt wird, Hardpower und Softpower gehörten zusammen. Auf die richtige Kombination kommt es an. Im Kosovo machen wir es genauso.
Ich glaube, dass die Lage viel ernster ist.
({12})
- Herr Kollege, Sie haben sich mit Ihrer Rede so disqualifiziert, dass der Kollege Ruck richtigerweise gesagt
hat, es lohne sich nicht, darauf einzugehen.
({13})
Verhalten Sie sich in den verbleibenden zwei Minuten,
in denen ich noch rede, ein bisschen still.
({14})
Wir sollten die Schwierigkeit der Lage, in der wir stecken - wir haben sie heute in der Debatte ein wenig
kleingeredet -, nicht unterschätzen. Wenn es Brahimi
und den Vereinten Nationen nicht gelingt, die atlantische
Gemeinschaft und die arabischen Staaten zu überzeugen,
dass sie sich im Irak stärker engagieren müssen, dann
werden wir einen schweren Rückschlag erleiden.
({15})
- Sie müssen nur ein anderes Gesicht dabei machen. Sie
sollten nicht so viel Schadenfreude, sondern mehr Sorge
in Ihrem Gesicht ausdrücken.
({16})
Rechthaberei und Schadenfreude nutzen uns in dieser
Lage überhaupt nicht.
({17})
Wir werden alle betroffen sein. Es geht uns alle an.
({18})
Es ist schon bemerkenswert, dass wir uns trotz der ruhigen und selbstkritischen Darlegungen in dieser Debatte nicht auf das einigen können, was wir gemeinsam
erreichen müssen. Wir dürfen doch nicht aufhören, zu
fragen, wie wir es besser machen können. Ich glaube,
wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn die westliche Gemeinschaft gemeinsam handelt.
Übrigens habe ich nach der Münchener Rede des
Außenministers gesagt, dass ich auch Russland und die
arabische Welt einbeziehen würde. In diesem Punkt
sind wir sprunghaft. Einmal fahren wir an Weihnachten
Schlitten, und dann tun wir so, als ob es Russland nicht
gäbe.
({19})
- Ja, Russland ist beim Quartett und bei der Roadmap
mit dabei. Das muss man aber auch erwähnen. Wir brauchen die Partnerschaft aller.
Wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn wir die
westliche Gemeinschaft stärken. Das setzt ein einiges
Europa und auch ein Europa voraus, das seinen Platz an
der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika weiß und
nicht glaubt, eine Gegenkraft entwickeln zu können.
Wenn wir uns nämlich darauf konzentrieren, Gegenkraft
zu sein, dann werden wir am Ende nichts bewirken, was
den Einfluss auf die amerikanische Politik und auf den
Nahen und Mittleren Osten angeht. Nur wenn wir bereit
sind, unseren Beitrag zu leisten, werden wir in der Erreichung der Ziele, die wir gemeinsam diskutiert haben, erfolgreich sein. In diesem Sinne müssen wir weiterarbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Ich erteile das Wort Kollegen Dietmar Nietan, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass die heutige Debatte sehr wichtig ist. Ich
sehe sie als Fortsetzung der Debatte an, die wir fast auf
den Tag genau vor 15 Wochen, am 13. Februar, hier geDietmar Nietan
führt haben, als wir über den gemeinsamen Antrag zur
Genfer Friedensinitiative diskutiert haben. Dieser Verantwortung, die uns aus dem gemeinsamen Antrag erwachsen ist, müssen wir gerecht werden. Wir müssen
deutlich machen, dass die Antwort auf so wichtige Fragen, bei denen es um die Zukunft von Frieden, Stabilität
und Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten geht,
gemeinsam und im Konsens gegeben werden sollte.
Diese Debatte taugt nicht für parteipolitische Ränkespiele und sie taugt auch nicht dafür, unterschwellig jemandem irgendwelche Schuld in die Schuhe zu schieben.
({0})
Deshalb möchte ich dem verehrten Kollegen Hoyer
sagen: Man kann zwar darüber diskutieren, ob das, was
wir damals beschlossen haben, zu dünn war. Aber ich
glaube, Sie stimmen mit mir darin überein, dass allein
die Tatsache, dass es diese Debatte und diesen gemeinsamen Antrag gegeben hat, außerhalb des Bundestages
und auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland
eine große positive Aufmerksamkeit erzielt hat. Ich
würde mir wünschen, dass die Ergebnisse der heutigen
Debatte daran anknüpfen. Bei dem einen oder anderen
Redebeitrag hatte ich jedoch Zweifel, ob das möglich ist.
({1})
Ich will sehr deutlich sagen, dass es aus meiner Sicht
darum geht, ob wir es schaffen, unsere Glaubwürdigkeit in der dortigen Region wiederherzustellen. Ich stelle
sehr deutlich fest: Es geht um unsere Glaubwürdigkeit.
Wer glaubt, dass man sich mit einem verschmitzten „Ich
habe es ja immer gewusst“ die Hände reiben kann, weil
jetzt schlimme Dinge in der US-Armee passiert sind, der
täuscht sich. Es geht um die Werte des Westens. Entweder verteidigen wir diese und sind darin gemeinsam
glaubwürdig oder wir gehen gemeinsam unter. Das sollte
man an dieser Stelle betonen.
({2})
Es ist schon sehr viel zu den Initiativen in dieser Region gesagt worden. Ich möchte auf einen ganz wichtigen Punkt im Krisenherd Naher und Mittlerer Osten, auf
den Konflikt zwischen Israel und Palästina, zurückkommen. Wir haben in der Debatte vor 15 Wochen sehr ausdrücklich die Fortschritte der israelischen Regierung gelobt. Ich selber habe gesagt, dass Ariel Scharon
Anerkennung dafür verdient, dass er als erster LikudFührer deutlich für eine Zweistaatenlösung und die Räumung von Siedlungsgebieten eingetreten ist. Ich sage an
dieser Stelle aber auch, dass mich das, was sich ungefähr
zwei Monate später, am 14. April, in Washington ereignet hat, nämlich der gemeinsame Auftritt von Ariel
Scharon und George W. Bush im Weißen Haus vor den
Medien, an der einen oder anderen Stelle hat zweifeln
lassen, ob ich mein Lob zu früh ausgesprochen habe.
({3})
Ich möchte das begründen, weil ich wirklich große
Sorge habe. Nicht das, was in jenem Brief von Präsident
Bush steht - wenn man diesen Text liest, stellt man fest,
dass darin viele teilweise auch für die Palästinenser bittere Wahrheiten stehen -, sondern die Art und Weise, wie
beide vor den Medien aufgetreten sind, dieses Kumpelhafte, dieses Kolportierte - tatsächlich hat Ariel Scharon
so lange auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv gesessen, bis er wusste, dass er sich in das Flugzeug setzen
kann, weil George W. Bush das, was er möchte, akzeptiert -, diese Begleitumstände und Bilder, die in einer modernen Medienwelt nun einmal entscheidend sind, haben
uns - ich betone wieder: uns - in unendlicher Weise
Glaubwürdigkeit gekostet. Denn ab diesem Zeitpunkt
konnte man zumindest dem amerikanischen Präsidenten
- nicht der gesamten Administration; ich denke da an den
Außenminister - nicht mehr abnehmen, dass er wirklich
ein ehrlicher Makler sein will.
An dieser Stelle sind wir als Europäer gefordert, nicht
mit dem Zeigefinger und der Haltung, dass wir es besser
wissen, aufzutreten. Wir müssen vielmehr den amerikanischen, israelischen und palästinensischen Freunden
konkrete Vorschläge anbieten, welchen Beitrag wir leisten wollen und können. Wenn wir das jetzt nicht tun,
versagen auch wir. Ich glaube, wir stehen auch wegen
des Verhaltens des amerikanischen Präsidenten in einer
Pflicht, aus der wir uns nicht herausstehlen sollten.
({4})
Ich stelle aus meiner sehr persönlichen Sicht fest:
Europa sollte Ariel Scharon jetzt beim Wort nehmen und
sagen: Wenn du dich wirklich aus dem Gazastreifen einseitig zurückziehst, dann muss das in einer Art und
Weise geschehen, dass dort kein Chaos ausbricht.
({5})
Es muss deutlich werden: Ariel Scharon verlässt den
Gazastreifen, um zu zeigen, dass dies der erste Schritt
hin zu einer fairen Zweistaatenlösung ist.
({6})
Das müssen unsere Bedingungen für den Abzug der
Israelis sein. Ich sage - nicht ohne würdigen zu wollen,
was unser Außenminister dort tut -: Europa insgesamt
ist da noch immer zu unkonkret. Wir als Europäer sind
an dieser Stelle wirklich gefordert.
({7})
Was kann das aus meiner Sicht konkret heißen? Das
kann für mich nur heißen, zu sagen: Im Rahmen der
Roadmap kann eine Übergabe des Gazastreifens nicht
einseitig und unkontrolliert geschehen. Vielmehr sollten
sich die Palästinenser, die Israelis, das Nahostquartett
und vielleicht auch die Ägypter als Nachbarn zusammensetzen und gemeinsam einen Plan ausarbeiten, der
sicherstellt, dass der Abzug aus dem Gazastreifen Stabilität und nicht Destabilität bewirkt. Dazu müssen wir als
Europäer klare und konkrete Vorschläge einbringen.
({8})
Das heißt aber, dass Europa - da sehe ich auch uns als
Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht - unterstreichen muss, dass in einem solchen Prozess für uns eines
unverrückbar ist: Die Sicherheitsgarantie für Israel als
jüdischer Staat ist für Europa oberste Priorität, weil sich
Israel auf uns verlassen muss. Das sage ich sehr deutlich;
wir hören das auch immer deutlich von unserem Außenminister. Aber viele transatlantisch gelagerte europäische Staaten tun das nicht in dieser Deutlichkeit. Ich
würde mir wünschen, dass auch sie das tun. Das würde
Israel helfen.
({9})
Genauso muss aber klar sein, dass wir Europäer,
wenn es zu diesem Rückzug aus dem Gazastreifen
kommt, die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht
im Stich lassen. Das heißt für mich - da hat Kollege
Hoyer völlig Recht -, bei der Zusammenarbeit mit den
Amerikanern darf es kein Spiel - wir machen dies, ihr
macht das - geben. Gemeinsam mit den Amerikanern
müssen wir, wenn es zum Abzug aus Gaza kommt, viel
Geld und humanitäre Hilfe investieren, damit es für die
Menschen dort abseits von Terrorismus und Hass eine
wirkliche Lebensperspektive gibt, die sie im Moment
nicht haben. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber unseren palästinensischen Freunden.
An dieser Stelle ist auch Israel gefordert. Denn wir
dürfen es nicht durchgehen lassen, dass Israel Gaza isoliert und die wirtschaftliche Entwicklung dort nicht
funktioniert, weil es keinen Flughafen oder Hafen gibt,
der Außenhandelsbeziehungen zulässt. Wer Frieden will,
muss Gaza eine wirkliche Chance geben. Das heißt, dass
Israel die Isolation von Gaza nach dem Abzug aufgeben
muss.
({10})
Ich glaube, dass diese konkreten Punkte, die wirklich
formuliert werden müssten, einen weiteren Aspekt unterstreichen, den ich hier zum Schluss noch einmal darlegen möchte. Die gesamte Greater Middle East Initiative der Amerikaner und auch das, über das wir hier
diskutieren, zielen auf einen Dialog, so wie ihn der Außenminister mit seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz am 7. Februar 2004 angestoßen hat. Dieser Dialog
bedeutet Internationalisierung, aber auch Regionalisierung. Wenn wir sagen, dass Internationalisierung und
Regionalisierung nicht im Sinne von Aufoktroyieren,
sondern von Partnerschaft, Dialog und Austausch wichtig sind, dann muss es alle Akteure in der Region einschließen.
Das heißt für mich an die Adresse von Israel, dass es
auch in Israel ein Umdenken geben muss. Bei allem Verständnis für das, was Israel und das jüdische Volk in seiner Geschichte erlitten haben: Wer sich in Zeiten der
Globalisierung einer Internationalisierung verschließt,
wer immer noch die Attitüde vor sich herträgt: „Uns hilft
sowieso keiner und wir machen alles alleine“, wird
scheitern. Deshalb müssen wir deutlich machen: Regionalisierung und Internationalisierung müssen dazu führen, dass sich Israel in einen solchen Prozess konstruktiv
einbringt. Daran habe ich bei der derzeitigen Administration meine Zweifel. Das müssen wir ihr auch so deutlich sagen; das gehört dazu.
({11})
Ich hoffe, dass ich mit diesen Ausführungen habe
deutlich machen können, dass es durchaus Ansatzpunkte
gibt, ein stärkeres europäisches Profil zu entwickeln.
Ich will noch einmal unterstreichen: Ich möchte das
nicht aus Rechthaberei oder nicht etwa, weil wir sagen:
„Jetzt wollen wir einmal zeigen, dass wir es in bestimmten Dingen besser machen können als die Amerikaner“ um Gottes willen. Ich möchte das, weil ich glaube, dass
es in Amerika viele Menschen gibt - auch in der amerikanischen Administration; dort sicherlich nicht jeder -,
die gerade konkrete Vorschläge der Europäer herbeisehnen und erwarten. Sie sagen: Wir wollen nicht immer
nur von Europa kritisiert werden, wir wollen von Europa
auch hören, wie sie es machen würden. Nur, wenn man
konkrete Vorschläge macht, ist man in Amerika ein
ernsthafter Koalitions- und Diskussionspartner.
Darum ist es so wichtig, dass wir uns bewegen und
konkret sagen, was wir wollen. Das beinhaltet natürlich
- das ist dem einen oder anderen vielleicht unangenehm -, dass man, wenn man etwas konkret sagt, es
dann am Ende auch tun muss.
({12})
Wir sollten keine Angst vor der eigenen Courage haben,
sondern wir sollten konkrete Vorschläge machen, auch
wenn man uns dann beim Wort nimmt und sagt: Dann tut
es auch.
({13})
Ich möchte zum Abschluss noch einmal betonen, dass
ich der festen Überzeugung bin, dass die heutige Debatte, von einigen Ausreißern abgesehen, gezeigt hat,
dass wir sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Ich
glaube, dass es uns und den Menschen in der Region helfen kann, wenn wir in dieser Gemeinsamkeit weiter
agieren.
Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung machen: Ich hätte mich gefreut - aufgrund der vielen guten
Dinge, die in allen drei Anträgen stehen -, wenn es uns
auch diesmal wieder gelungen wäre, einen gemeinsamen
Antrag zu formulieren, und zwar nicht, weil ich die Konsenssoße so liebe, sondern weil das Thema es verlangt.
Deshalb hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal, beim
dritten Aufschlag zu diesem Thema, mit einem gemeinsamen Antrag und konkreten Vorschlägen zeigen, dass
wir als Parlamentarier an dieser Stelle unsere Regierung
nicht allein lassen.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Im
Antrag von SPD und Grünen steht vieles, was richtig
und zu unterstützen ist.
Anfangs möchte ich eine Bemerkung zur europäischen Verfassung machen. Sie fordern in Ihrem Antrag
die Verabschiedung der europäischen Verfassung. Wir
als PDS sind auch der Auffassung, dass wir eine europäische Verfassung brauchen. Die derzeit vorliegende Fassung - ({0})
- Das ist nicht die falsche Debatte. Lesen Sie sich doch
den Antrag von SPD und Grünen durch. In Ihrem Antrag
steht: eine europäische Verfassung verabschieden, und
auf diesen Punkt gehe ich ein.
({1})
Gestatten Sie, dass ich auf Ihren Antrag eingehe. Ich
habe ihn gelesen.
({2})
Für die Ablehnung dieser EU-Verfassung gibt es einen schwerwiegenden Grund, nämlich den, dass in dieser Verfassung die Militarisierung der EU festgeschrieben ist. Wir als PDS sind der festen Überzeugung, dass
eine Militarisierung der EU nicht dazu beitragen wird,
die Konflikte in dieser Welt zu lösen und schon gar nicht
die komplizierten Konflikte im Nahen und Mittleren Osten.
({3})
- Wenn Sie nicht in der Lage sind, einen Gedanken, der
über mehr als zwei Sätze geht, nachzuvollziehen, tut es
mir Leid für Sie, meine Herren.
({4})
Diese Überzeugung, dass eine Militarisierung der Europäischen Union die Konflikte im Mittleren und Nahen
Osten nicht lösen helfen wird, teilen wir als PDS mit
sehr vielen Menschen in Europa, in den USA und im Nahen und Mittleren Osten. Die Bush-Regierung hat ja gerade den Beweis erbracht, dass es nicht möglich ist, die
Konflikte im Nahen und Mittleren Osten mit Waffengewalt zu lösen. Im Gegenteil: Der Krieg gegen den Irak
hat zu einer dramatischen Eskalation geführt.
Kollege Volmer hat heute gesagt: Man kann Demokratie nicht herbeibomben. Das kann ich unterschreiben.
Das ist richtig. Ich stelle aber die Gegenfrage: Was war
mit Afghanistan und was war mit Kosovo?
Wenn Sie - zu Recht - die CDU kritisieren, müssen
Sie auch Ihre eigene Rolle hinterfragen, die Sie im Irakkrieg gespielt haben. Es wurde immer erklärt, die Bundesrepublik sei weder direkt noch indirekt am Irakkrieg
beteiligt. Die Wahrheit jedoch sieht anders aus. Vor ungefähr einem Jahr fand das 20. deutsch-amerikanische
Kongress-Bundestag-Seminar statt. Im Rahmen dieses
Seminars gab es ein Frühstück der Seminarteilnehmer
mit dem Bundesaußenminister, Herrn Fischer. Der neben
mir sitzende demokratische Kongressabgeordnete meldete sich und sagte, er möchte sich bei der Bundesregierung dafür bedanken, dass die Bundesregierung alles getan habe, was die USA erwartet hätten: Gewährung der
Überflugrechte, Bewachung der US-Kasernen, Rückführung der Soldaten, Bewachung der Krankenhäuser für
amerikanische Soldaten hier in Deutschland. Ich kann
mich erinnern - Herr Bundesaußenminister, Sie können
sich vielleicht auch erinnern -, dass Sie aufgrund dieser
Aussage nicht amüsiert waren, weil Sie in der Öffentlichkeit immer das Gegenteil behauptet haben.
({5})
- Richtig, wo ich Recht habe, habe ich Recht. Da kann
auch kaum jemand widersprechen.
Wenn Sie von der SPD jetzt mit dem Stichwort „Friedensmacht“ plakatieren, sollten Sie sich daran erinnern,
wie Sie sich wirklich verhalten haben und dass die Bundesregierung durch die Gewährung von Überflugrechten
indirekt am Irakkrieg beteiligt war.
({6})
In Ihrem Antrag fordern Sie die Zusammenarbeit aller
Staaten bei der gemeinsamen Verhinderung und Ahndung „privater“ Gewalt, besonders dann, wenn sie terroristische Mittel anwendet. Das ist eine sehr einseitige
Betrachtung dieser Welt. Es geht doch nicht nur um die
Verhinderung „privater“ Gewalt. Das ist nur die eine
Seite. Es geht vielmehr auch um die Beendigung von
staatlicher Gewalt.
Wir als PDS lehnen Selbstmordattentate von Palästinensern genauso ab wie die gezielte Tötung von palästinensischen Politikern durch die israelische Regierung.
Natürlich wird auch immer mehr US-Bürgern klar, dass
die staatliche Gewalt der US-Regierung gegen die irakische Bevölkerung auf immer heftigere irakische Gegengewalt stößt.
Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit und in Anbetracht der völlig verfahrenen US-Politik im Nahen und
Mittleren Osten wird eine friedliche Lösung der Konflikte unter Schirmherrschaft der UNO immer dringlicher. Die UNO, die USA, die EU und Russland haben im
April 2003 die so genannte Roadmap als verbindlichen
Weg und Rahmen der Konfliktregelung zwischen Israelis und Palästinensern vorgelegt. Es ist nicht zu akzeptieren, dass die USA diese Roadmap auf eigene Faust verlassen haben.
({7})
Wir erwarten, dass die Bundesregierung alles daransetzt,
dass die USA bei dem anstehenden Gipfeltreffen der
Staaten der G 8 im Juni dieses Jahres auf den Weg der
Roadmap zurückgeholt werden.
Abschließend möchte ich betonen, dass alle Sicherheitskonzepte hinfällig sind, wenn es nicht gelingt, dieser Region eine wirtschaftliche Zukunft zu geben. Im
Bundestag können beliebig viele Sicherheitsgesetze verabschiedet werden; sie werden unser Leben nicht sicherer machen. Wir werden nur in Ruhe und Frieden leben
können, wenn wir endlich bereit sind, mit anderen zu teilen und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaffen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
das Vergnügen, zum Schluss dieser Debatte zu reden und
darauf zu achten, möglichst nichts von dem zu wiederholen, was vorher schon Kluges gesagt worden ist.
({0})
Ich möchte sehr gerne auf den Kollegen Nietan zu sprechen kommen, weil ich glaube, dass er den Nagel auf
den Kopf getroffen hat, indem er gesagt hat: Wir müssen
konkret werden; und wenn wir konkret werden, dann
sind wir auch verpflichtet, entsprechend zu handeln.
Deswegen finde ich es gut, dass wir heute über die
drei vorliegenden Anträge diskutieren und sie im federführenden Ausschuss und in den anderen zuständigen
Ausschüssen des Bundestages zu einem Zeitpunkt beraten, da gerade kein Wahlkampf ist. Denn dadurch besteht
vielleicht die Chance, das zu schaffen, was Sie, Herr
Kollege Nietan, angesprochen haben: in diesem Haus
eine gemeinsame Linie zu finden.
Ich halte das für sehr schwierig; das will ich gleich
vorweg sagen. Aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. Ich halte das zum Beispiel deswegen für schwierig,
weil in dem Antrag der Koalition eine Passage über die
Türkei steht, die nach meinem Dafürhalten sowohl in
sich als auch was das Verhalten der Koalition gegenüber
der Türkei angeht, ziemlich widersprüchlich ist, zum
Beispiel auf dem Feld der militärischen Zusammenarbeit
in der NATO oder bei der Frage, ob man Leute, die aus
der Türkei stammen, die bei uns rechtskräftig verurteilt
sind und ihre Strafe abgesessen haben, in die Türkei abschieben darf oder nicht, weil die Standards des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs dort nicht eingehalten werden. Hier gibt es ein paar Punkte, bei denen wir
möglicherweise nicht übereinkommen.
Auf der anderen Seite ist hier im Haus aber übereinstimmend festgestellt worden, dass es eine ganze Reihe
von gemeinsamen Auffassungen gibt: Erstens. Die arabischen Länder sind unsere Nachbarn, in geographischer und politischer Hinsicht. Zweitens. Wir müssen
mit den arabischen Ländern zusammenarbeiten, weil wir
ihnen das auch schon auf andere Weise angeboten haben.
Am Barcelona-Prozess zum Beispiel, der initiiert wurde,
ist mit Ausnahme der arabischen Halbinsel die gesamte
arabische Welt beteiligt. Der Barcelona-Prozess muss
fortgesetzt und verifiziert werden.
Wir müssen unser Augenmerk aber auch verstärkt darauf richten, was in der arabischen Welt selbst passiert.
Wie schon vor 15 Monaten beklage ich heute zum wiederholten Mal, dass der Westen offensichtlich überhaupt
nicht bereit ist, den Friedensplan, der vom saudischen
Kronprinzen Abdallah stammt und von der Arabischen
Liga verabschiedet worden ist, auf den Verhandlungstisch zu legen und mit der arabischen Seite konkret darüber zu verhandeln, welche Teile dieses Friedensplans
umsetzbar sind.
({1})
In ihm sind eine ganze Menge Punkte enthalten, die
vor zwei Jahren noch völlig undenkbar waren. Darin
steht, dass die Sicherheit und Souveränität des Staates
Israel anerkannt wird. Die Linie, dass dieser Staat nicht
in Frage gestellt werden darf, vertreten wir in diesem
ganzen Haus einmütig. Darin steht auch, dass man eine
Zone der Sicherheit und des wirtschaftlichen Austausches schaffen will. Warum gehen wir dieses Problem
denn nicht anhand dieses Friedensplanes an? Natürlich
stellt sich vorher noch die Frage der Vertriebenen; aber
in dieser Hinsicht haben wir Deutsche unsere eigenen,
speziellen Erfahrungen, die wir auf diesem Gebiet einbringen könnten.
Wenn ich mir überlege, was auf der Konferenz von
Tunis beschlossen worden ist, ist doch - abgesehen von
all dem Streit, der zwischen den arabischen Regierenden
geherrscht hat - völlig klar: Man hat sich Begrifflichkeiten angeeignet, die vorher im Sprachgebrauch der arabischen Regierungen und im Sprachgebrauch der Arabischen Liga überhaupt nicht verwendet wurden. Da wird
zu einer guten Regierungsführung aufgefordert, da wird
aufgefordert, den Kampf gegen die Armut und den
Kampf zur Verbesserung der Lage der Frau aufzunehmen. Natürlich sagt man, dass jedes Land diese Dinge
nach seinen Möglichkeiten und nach seinem Entwicklungsstand befördern soll; aber all das befindet sich doch
auf der Linie, die wir brauchen, damit das, was wir an
Zielen und gemeinsamen Interessen in der Region und in
der europäisch-arabischen Zusammenarbeit brauchen,
ein bisschen konvergiert.
Wenn ich die Konferenz von Alexandria vom März
dieses Jahres betrachte, muss ich feststellen: Da werden
Forderungen nach mehr politischer Pluralität erhoben,
nach freier und unabhängiger Presse, nach sofortiger
Freilassung von politischen Gefangenen usw.; ich will
aus Zeitgründen nicht alles im Detail aufzählen. Das
heißt, im Grunde genommen wird die Ebene, auf der
man miteinander sprechen und miteinander verhandeln
kann, um eine Friedensordnung in dieser Region zu
schaffen, immer breiter und immer größer. Nur, wir müssen sie auch nutzen. Ich glaube, der erste Schritt, den wir
dafür brauchen, ist, den Versuch zu unternehmen, dass
wir uns im Deutschen Bundestag auf eine gemeinsame
Linie verständigen, einen Kern gemeinsam herausarbeiten, und das, was uns trennt, einmal liegen lassen.
Eines möchte ich auf jeden Fall sagen: Dieses Thema
ist von ganz grundlegender Bedeutung für die Sicherheit
und die künftige Entwicklung unseres eigenen Landes
und Europas. Es eignet sich überhaupt nicht zum Wahlkampf. Wir können an dieses Thema nur ganz ruhig und
ganz sachlich und unter Wahrung des Respektes vor dem
kulturellen und dem religiösen Hintergrund der anderen
Seite herangehen, auf partnerschaftlicher Ebene, so wie
der Kollege Pflüger das beschrieben hat.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/3206 zur federführenden Beratung an
den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe,
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung und an den Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union zu überweisen.
Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/3050 und
15/3207 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 22 a und
22 b sowie Zusatzpunkt 12 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({0}) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung
- Drucksache 15/2998 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen
- Drucksache 15/2970 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die europäische Verfassung beschließen - der
erweiterten Union ein solides Fundament für
die Zukunft geben
- Drucksache 15/3208 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Freien Demokraten legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes vor, der den Weg
freimachen soll, einen Volksentscheid über die europäische Verfassung zu ermöglichen.
({0})
Wir wollen zu der europäischen Verfassung bzw. zum
Verfassungsvertrag Ja sagen und wir hoffen sehr, dass
der Europäische Rat in Brüssel, in 14 Tagen, ein Ergebnis zustande bringt, das uns das mit voller Kraft und
Überzeugung ermöglicht.
({1})
Wir wollen zu dieser europäischen Verfassung Ja sagen
und wir wollen aktiv dafür werben, dass die Bürgerinnen
und Bürger sich zu dieser Verfassung bekennen, dass sie
in einem Volksentscheid Ja zu ihr sagen.
Wir Liberale sind vehemente Verfechter der repräsentativen Demokratie und keineswegs der Auffassung,
über alles und jedes - auch im europäischen Kontext müsse eine Volksabstimmung oder ein Volksentscheid
stattfinden. Aber wir sind der Auffassung, dass die verfassungsrechtlichen Grundlagen, auf denen das Handeln
der Befugten in einer repräsentativen Demokratie beruht, der Legitimation durch das Volk bedürfen. Das
Volk sollte deshalb ausdrücklich Ja zu dem sagen, was
der Verfassungskonvent vorgelegt hat und was die Regierungskonferenz hoffentlich zu einem guten Ende
bringen wird. So hätten wir übrigens auch vorgehen sollen, als es um das Grundgesetz für das vereinte Deutschland ging
({2})
Ich wundere mich über die Argumente, die bisweilen
dagegen vorgebracht werden. Ich könnte durchaus auch
mit einer europaweiten Entscheidung leben, wenn wir
nicht, wie es im gegenwärtigen Stadium leider noch immer der Fall ist, über einen Verfassungsvertrag reden
würden, sondern bereits über eine europäische Verfassung, die sich der Souverän, in diesem Fall der gesamteuropäische Souverän, gibt. Wir haben es aber mit der
Rechtskonstruktion eines Vertrages zu tun, der zwischen
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschlossen wird. Insofern ist es konsequent, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben müssen, über das Ratifikationsverfahren selber zu entscheiden. In vielen
europäischen Staaten wird diese Entscheidung dem Volk
überlassen. Ich denke, auch die Deutschen sind in der
Lage, diese Entscheidung selber zu treffen, und müssen
sie nicht dem Parlament alleine überlassen.
({3})
Es überrascht mich, immer wieder hören zu müssen,
dass die Gefahr bestehe, dass nicht über das zweifellos
komplizierte Regelwerk abgestimmt werde, sondern
über Einzelfragen, die so hochgepusht würden, dass im
Endeffekt das Gesamtwerk aus dem Auge verloren
würde. Dieses Argument kann ich nicht ganz verstehen.
Warum sollten wir, die wir von diesem Verfassungswerk
überzeugt sind, nicht mit voller Überzeugungskraft vor
die Wählerinnen und Wähler treten und die gesellschaftlichen Eliten dieses Landes in Wissenschaft, Kultur, Kirchen, Gewerkschaften usw. mobilisieren können, um die
Bevölkerung davon zu überzeugen, dass das der richtige
Weg ist? Ich verstehe nicht, dass wir uns dann, wenn am
Ende 99 Prozent der Mitglieder des Deutschen Bundestages diesem Verfassungsprojekt ihre Zustimmung geben werden, selber nicht zutrauen, 50,1 Prozent der Bevölkerung davon zu überzeugen.
({4})
Das sieht für mich sehr danach aus, dass man Angst vor
dem Volk hat. Diesen Vorwurf sollten wir uns nicht machen lassen.
Meine Damen und Herren, die Europäische Union ist
in einer ausgesprochen schwierigen Situation. Der Verfassungsvertrag ist noch nicht unter Dach und Fach.
Manche werden nach dem Ende der Konventsarbeit
Illusionen gehabt haben. Natürlich hätte jeder von uns
diesen Verfassungsvertrag anders ausgestaltet, da jeder
die Sicht seiner Partei und seiner Nation vertritt. Wenn
200 Liberale zusammengesessen hätten, dann hätte der
Text anders ausgesehen. Das kann ich Ihnen garantieren.
({5})
Aber es ist ein Kompromiss zustande gekommen, den
ich für sehr bemerkenswert halte. Ich kann den Teilnehmern des Konventes für das, was sie geleistet haben, nur
danken.
Das, was zustande gekommen ist, nachdem die Ausarbeitung des Textes wieder in der Hand der Regierungskonferenz gelegt worden ist, hat das Gesamtwerk nicht
unbedingt verbessert. Eine Ausnahme nenne ich ausdrücklich: Ich finde es hervorragend, dass endlich das
Ziel der Preisniveaustabilität im Zielkatalog aufgeführt
wird.
({6})
Ich glaube, dass es angesichts des katastrophalen Verhaltens der Bundesregierung in Hinblick auf den Stabilitätspakt genau die richtige Botschaft ist, die Ziele um das
Ziel der Preisniveaustabilität zu ergänzen.
({7})
Das Übrige erfreut mich nicht. Ich mache mir Sorgen,
was beim Endspurt auf den letzten Metern vor dem Europäischen Rat in Brüssel noch passieren wird. Die Iren
haben sehr mutige Vorschläge gemacht. Ich bin überhaupt der Auffassung, dass sie sich in ihrer Präsidentschaft mutig und leistungsfähig zeigen.
({8})
Ich hätte mir gewünscht, wenn man mit großer Mehrheit
den Vorschlägen der irischen Präsidentschaft gefolgt
wäre, was das endgültige Entscheidungsrecht des Parlaments bei der Ausgabenseite des Haushalts angeht.
Ich hätte mir auch gewünscht, wenn wir das Thema
der doppelten Mehrheit so erklären könnten - bei uns
zu Hause, aber auch bei unseren Partnern, die sich dagegen noch sperren -, dass klar wird, dass es sich nicht um
etwas rein Technisches handelt, sondern dass das eine
Frage der demokratischen Legitimation europäischen
Handelns ist. Es ist doch ein unbefriedigender Zustand,
dass, wenn die Europäische Union heute einen Aufnahmeantrag bei sich selber stellen würde, sie wahrscheinlich aufgrund von Legitimationsdefiziten und Demokratiedefiziten nicht aufgenommen würde.
Wir hoffen, dass das Verfassungswerk zum Erfolg geführt werden wird. Wir wollen Ja dazu sagen. Wir wollen die Bevölkerung davon überzeugen, dass das ein guter Weg für Europa in Frieden, Freiheit, Wohlstand und
Rechtstaatlichkeit ist.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Hoyer, leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie heute
wieder mit einem alten Hut gekommen sind; denn schon
2003 ist dieser Antrag der FDP - ich meine: zu Recht mit einer ganz breiten Mehrheit hier im Hause abgelehnt
worden.
({0})
Dass Sie diesen alten Hut jetzt wieder herausziehen und
erneut aufsetzen, geschieht offenbar nicht nur wegen des
Diskussionsprozesses um die europäische Verfassung,
sondern höchstwahrscheinlich auch vor dem Hintergrund der jetzt anstehenden Europawahl, bei der Sie versuchen, sich mit einem Thema zu profilieren. Anders
kann ich das hier nicht einordnen.
Über die Verfassung als solche und ihre Bedeutung
- das haben Sie richtigerweise gesagt - besteht kein
grundsätzlicher Streit. Ich halte es aber für verfehlt, das
Volk über einen einzelnen - zweifellos bedeutsamen Punkt der europäischen Politik gesondert abstimmen zu
lassen; denn vom Prinzip her kennen wir das von anderen bedeutsamen Punkten der europäischen Politik ganz
genauso, ob das nun die Römischen Verträge, die Einführung des Euro oder auch die Osterweiterung waren.
Warum soll das also jetzt hier bei diesem einen Punkt geschehen?
({1})
Ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit übrigens sagen:
Ihr Antrag enthält auch ein paar kleine handwerkliche
Fehler. Sie schreiben nicht von „dem“ Volksentscheid,
nämlich dem einzigen, den es zur Verfassung geben soll,
sondern von „einem“ Volksentscheid, den der Deutsche
Bundestag beschließen soll. Das klingt ja fast so, als ob
Sie im Bundestag so lange Volksentscheide beschließen
lassen wollen, bis das Ergebnis bezüglich der europäischen Verfassung mit dem übereinstimmt, was Sie persönlich wollen.
Im Übrigen enthält Ihr Gesetzentwurf auch keine
Antwort auf folgende, wie ich finde, ganz spannende
Frage:
({2})
Was passiert denn eigentlich, wenn das Volk anders als
der Bundestag und der Bundesrat entscheidet? Wie ist
eine solche Kollision im Ergebnis aufzulösen? Dazu enthält Ihr Gesetzentwurf keinerlei Normen.
Da ist unser Gesetzentwurf aus der letzten Legislaturperiode schon wesentlich besser; er ist entsprechend gestaffelt. Wir sehen für viele Gegenstände die Volksinitiative und dann gegebenenfalls das Volksbegehren und
den Volksentscheid mit entsprechenden Quoren vor. Von
daher wollen wir dem Volk selbst die Initiative überlassen, als Souverän tätig zu werden. Wir wollen ihm nicht
sagen, dass es bei einem Gegenstand, den wir festgelegt
haben, jetzt freundlicherweise mitbestimmen darf.
({3})
Unser Gesetzentwurf und seine Beratung haben beim
letzten Mal Folgendes deutlich gezeigt: Wir müssen
sorgfältig überlegen, wie die Gegenstände der Volksabstimmungen von den ureigensten Angelegenheiten der
Staatsorgane abgegrenzt werden sollen. Welche Voraussetzungen müssen Volksinitiativen erfüllen, damit ihnen
das notwendige politische Gewicht zukommt? Welche
Voraussetzungen müssen sie erfüllen, um etwa eine Änderung des Grundgesetzes zu bewirken? Welche Beteiligungs- und Zustimmungsquoren sind angemessen und
notwendig? Schließlich stellt sich vor allen Dingen die
Frage, wie bei Änderungen des Grundgesetzes und bei
Änderungen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, zu verfahren ist. Wir haben in unserem Gesetzentwurf der letzten Legislaturperiode, der hier leider
nicht mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit versehen
wurde, entsprechende Regelungen getroffen.
Herr Hoyer, Sie selbst und Ihre Fraktionskollegen haben in der letzten Wahlperiode noch deutlich Sympathie
für unseren Gesetzentwurf gezeigt. Sie haben sogar gesagt, dass Sie die Eigeninitiative des Volkes für richtig
halten, und versucht - lobenswert, wie ich finde -, diesem
Gesetzentwurf der Koalition mit einem Änderungsantrag
zu einer Zweidrittelmehrheit hier im Haus zu verhelfen.
Leider hat das nicht geklappt. Ich finde es eigenartig, dass
Sie von dieser Position jetzt ohne zwingenden Grund abrücken. Eingangs meiner Ausführungen habe ich es
schon gesagt: Man merkt die Absicht und vielleicht ist
man auch ein wenig verstimmt.
({4})
Jedenfalls ist Ihr Antrag hier und heute abzulehnen.
Nun beschäftigen sich also auch die Fraktionen von
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihren
Anträgen mit der europäischen Verfassung. Bei allem
Konsens, den Sie als erster Redner hier richtigerweise
beschworen und von dem wir auch im Tagesordnungspunkt zuvor gehört haben, gibt es natürlich schon ein
paar unterschiedliche Schwerpunkte. Einige will ich
nennen:
Sie von der CDU/CSU haben offenbar noch nicht gemerkt, dass die Verankerung der Preisstabilität ebenso
wie die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank im Prinzip schon Bestandteile der Verfassung sind.
Ich will Ihnen aber auch sagen, wo ich persönlich von
Ihren Einschätzungen durchaus abweiche: Ich habe
keine nennenswerte Sympathie dafür, noch einen gesonderten Gottesbezug oder einen besonderen Bezug auf
das christliche Erbe Europas mit in die Präambel aufzunehmen. Ich halte es für richtig, in dieser Verfassung
auf die kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas zu verweisen. Dies aber enthält der
Präambelentwurf richtigerweise schon jetzt.
Ich komme noch zu einem anderen Punkt, in dem wir
uns sicherlich unterscheiden: Sie wollen für die Türkei
nur noch eine Art privilegierte Partnerschaft. Dabei
machen Sie sich noch nicht einmal die Mühe, in Ihrem
Antrag näher zu konkretisieren, was Sie letztendlich für
die Türkei darunter verstehen. Auf eine ernsthafte Auseinandersetzung kommt es Ihnen an dieser Stelle offenbar nicht so sehr an. Ich glaube, auch Sie haben den
13. Juni dieses Jahres im Auge. Dabei vergessen Sie
ganz, dass der Amtsvorgänger von Bundeskanzler
Schröder - dieser hat es schon mehrfach zitiert -, also
Helmut Kohl, dem Ministerpräsidenten Yilmaz bei seinem Besuch im September 1997 in Deutschland erklärt
hat, er, Helmut Kohl, unterstütze das Ziel einer späteren
EU-Mitgliedschaft der Türkei. Daran scheinen sich
aber heute in Ihren Reihen nur noch die Kollegen Volker
Rühe und Ruprecht Polenz zu erinnern. Mit Ihrer Forderung nach einer lediglich privilegierten Partnerschaft
verlassen Sie also die eigenen früheren und besseren Positionen.
({5})
Für uns, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen und SPD, steht hier und jetzt eine definitive
und endgültige Festlegung in der Frage des EU-Beitritts
der Türkei nicht zur Debatte. Die Zeit ist dafür noch
nicht reif. Alle politisch Handelnden sollten sich aber ihrer Verantwortung bei diesem schwierigen Thema bewusst sein. Während Sie leichtfertig - ich glaube, das ist
Ihr Versuch - vor dem Hintergrund des Wahltermins die
Ängste der Bevölkerung ein Stück weit instrumentalisieren, ist unsere Position und die der Bundesregierung
zum Türkeibeitritt bekannt: Wir wollen im Ergebnis einer langen Reihe von Entscheidungen der EU-Staatsund Regierungschefs, die wir mitgetragen haben, in
Übereinstimmung mit dem Europäischen Rat in Kopenhagen vom Dezember 2002 wie folgt verfahren - ich zitiere -:
Entscheidet der Europäische Rat im Dezember 2004 auf der Grundlage eines Berichts und einer Empfehlung der Kommission, dass die Türkei
die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt,
so wird die Europäische Union die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ohne Verzug
- ich wiederhole: ohne Verzug eröffnen.
Wir jedenfalls sind uns dieser Verantwortung bewusst
und werden zu gegebener Zeit unsere Entscheidungen
verantwortungsvoll treffen.
Soweit Sie als CDU/CSU noch darauf verweisen,
dass der Bundestag vor wie auch immer gearteten Verhandlungen und Zusagen der Regierung im Rat damit
befasst werden soll, läuft das im Ergebnis auf eine Art
imperatives Mandat für die Bundesregierung hinaus.
Das ist uns fremd. Wir lehnen dies ab. Wir halten es sehr
wohl für vorstellbar, ja sogar für wünschenswert, dass
wir bei der Frage der Beteiligung der nationalen Parlamente und damit auch unseres Bundestages im Kontext
der europäischen Willensbildung zu vielleicht effektiveren und besseren Formen kommen. Ich hoffe und erwarte, dass mein Kollege Michael Roth zu diesem Punkt
noch einige Ausführungen machen wird.
Wir jedenfalls sehen ähnlich wie andere, die hier
schon gesprochen haben, in den derzeit laufenden Verhandlungen die Sorge begründet, am Ende könnte der
Verfassungsentwurf hinter den Ursprungstext zurückfallen. Dies wollen wir nicht. Wir wollen keinen Rückschritt in dieser Verfassung und im Hinblick auf die Ergebnisse des Konvents. Das gilt auch und gerade im
Bereich der Innen- und Justizpolitik. Wir also wollen
keine Rückschritte, sondern eine zügige Ratifizierung,
und zwar hier in Bundestag und Bundesrat, weil
Deutschland ein überragendes Interesse an einer erweiterten und gestärkten Europäischen Union hat. Hierzu
bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit an.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Heute debattieren wir darüber, ob in Deutschland ein Referendum über die künftige europäische Verfassung abgehalten werden soll. Die von der FDP vorgeschlagene Grundgesetzänderung ist ein Irrweg. Wenn
wir diesen Irrweg beschreiten, gehen wir ein dreifaches
Risiko ein. Erstens provoziert ein Referendum das Missverständnis, dass die europäische Verfassung unser
Grundgesetz ablösen würde. Zweitens gaukelt ein solches Referendum eine Ja-Nein-Alternative vor, die es de
facto nicht gibt. Drittens bietet ein Referendum eine
Bühne für Stimmungsmache und für all diejenigen, die
ihren Zorn über die Regierung an Europa ablassen würden.
Deshalb soll es nach unserer Auffassung bei den Regeln des Grundgesetzes bleiben. Die Mütter und Väter
des Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, als
sie sich für die repräsentative Demokratie entschieden
haben. Sie wollten eben solche hoch komplexen Materien nicht Augenblicksstimmungen ausliefern, sondern
der Verantwortung der Parlamente. Wir wollen diese
Verantwortung wahrnehmen.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Burgbacher?
({0})
Gerne.
Herr Kollege Hintze, Sie sagen, es sei der Bevölkerung nicht zuzumuten, eine Ja-Nein-Alternative vorgesetzt zu bekommen und darüber abzustimmen. Stimmen
Sie mit mir überein, dass wir im Parlament genau dasselbe machen werden? Wir werden mit Ja oder Nein abstimmen. Wir haben keinerlei Änderungsmöglichkeiten.
({0})
Bevor Sie über die Zielrichtung von Schüssen sprechen, lauschen Sie meiner Antwort! ({0})
Ich habe eben Kollegen Hoyer zugehört. Ich habe heute
Morgen Herrn Kollegen Westerwelle im Deutschlandfunk zugehört. Beide haben erklärt, dass dieses Parlament ihrer Einschätzung nach mit über 90-prozentiger
Mehrheit die Verfassung tragen und sie auch der Bevölkerung vermitteln wird. Also auch Sie sind der Auffassung, dass es für uns Deutsche in der Europäischen
Union nur ein Ja gibt und dass ein Nein uns zurückwirft.
Dem Volk aber eine Frage vorzulegen, auf die es praktisch nur ein Ja gibt, ist nicht ganz in Ordnung. Oder wir
machen es wie die Iren, die dem Volk die Frage so lange
vorlegen, bis es sie so beantwortet, wie es die Mehrheit
im Parlament will. Ich finde, dass die Volksabstimmung
dafür ein höchst untaugliches Instrument ist, lieber Herr
Kollege Burgbacher.
({1})
- Darauf komme ich gleich. - Bei einem Referendum
würde über alles Mögliche abgestimmt, über Gerhard
Schröder, über die Maut, über die Ölpreise, nur nicht
über die Zukunft der Europäischen Union. Das Problem
von Volksabstimmungen ist, dass das Volk regelmäßig
über Fragen abstimmt, die nicht gestellt wurden. Sie wissen das ganz genau. Es ist eine Absurdität der Demokratie, wenn wir für Europa werben und die europäische
Verfassung durchsetzen wollen, dann aber zusätzliche
Hürden auf dem Weg zu ihrer Realisierung errichten.
Das ist ein Paradox.
Nun hat die FDP - das ist heute in der Vorstellung
nicht dargelegt worden - versucht, Parlament und Volk
dadurch zu versöhnen, dass sie die Idee einer additiven
Volksabstimmung geschaffen hat. Das Volk soll mit
25-prozentiger Mehrheit zustimmen und dann soll auch
noch die Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates mit Zweidrittelmehrheit erforderlich sein. Das ist
zwar ein ganz sympathischer Versuch, den Tücken der
Frage nach repräsentativer Demokratie oder emotionaler
Demokratie zu entgehen, aber ich fürchte, der Versuch
ist verfehlt. Herr Westerwelle hat heute Morgen im
Rundfunk gefragt, ob wir uns das nicht zutrauen. Natürlich trauen wir uns das zu. Aber wenn wir als Souverän
der Überzeugung sind, dass eine Sache richtig ist, dann
sollten wir uns auch zutrauen, die Verantwortung dafür
selbst zu tragen.
({2})
Was erleben wir in England? Tony Blair hat gesagt,
das englische Volk solle abstimmen, und zwar nach den
Wahlen zum Unterhaus. Er will die Frage an das Volk
über seine Führungsverantwortung von einer politischinhaltlich hoch wichtigen Frage trennen. Wir sind der
Auffassung, dass dieses Wegschieben von Verantwortung nicht in unserem Grundgesetz angelegt ist. Wir sollten es bei den bewährten Regeln unseres Grundgesetzes
belassen
({3})
und die Verantwortung dafür übernehmen.
({4})
Wir haben heute Morgen über Antiterrorstrategien im
Mittleren Osten gesprochen. Jetzt sprechen wir über die
Stärkung Europas und darüber, wie wir die Menschen
mehr beteiligen und ihre Empfindungen besser aufnehmen können. Ich glaube, vieles davon bleibt unglaubwürdig, wenn wir heute nicht auch ein Wort zu den Vorgängen sagen, die uns und alle Menschen in Deutschland
spätestens seit gestern massiv beschäftigen. Der Rechtsstaat in Deutschland ist auf dem allerbesten Wege, sich
lächerlich zu machen.
({5})
Wenn ein Top-Gefährder wie Metin Kaplan mit Polizei
und Verfassungsschutz Katz und Maus spielen kann,
({6})
dann zeigt das nur, wie wichtig und richtig unsere Forderung ist, dass für solche Personen die Idee der Sicherungshaft verwirklicht wird, wie sie der Bundesinnenminister dankenswerterweise vorgeschlagen hat.
({7})
Denn dann wäre ein solches Katz-und-Maus-Spiel nicht
mehr möglich.
({8})
- Zu den Zwischenrufen unserer grünen Kollegen
möchte ich anmerken: Dass es dem Bundesinnenminister mit unserer Hilfe gelungen ist, die Grünen beim Zuwanderungsgesetz sozusagen von der Werkbank zu verbannen, ist immerhin ein Beitrag zu mehr Sicherheit in
Deutschland. Jetzt müssen wir das Zuwanderungsgesetz noch in eine vernünftige Form gießen. Aber eines
müssen die Menschen im Lande wissen: Völlige Sicherheit gibt es nur, wenn solche Kräfte die Mehrheit in diesem Hause stellen und in die Regierungsverantwortung
kommen,
({9})
die das tun, was jeder sittlich empfindende Mensch als
richtig ansieht.
({10})
- Das ist ein wichtiger Beitrag, Frau Sonntag.
({11})
Es ist schlimm, wenn heute der Bundestag tagt, aber
über dieses Thema nicht gesprochen werden soll.
({12})
Die Menschen sind darüber empört, dass der selbst ernannte Führer des Kalifatstaats, der rechtskräftig verurteilt wurde und mehrere Jahre bei uns im Gefängnis saß,
nicht festgesetzt und abgeschoben werden kann. Denn
das wollen die Menschen und das entspricht dem Geiste
unseres Grundgesetzes.
({13})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Gerne.
({0})
- Darf ich den Zwischenruf kurz beantworten?
Herr Kollege, zunächst hat der Kollege Niebel für
seine Zwischenfrage das Wort.
Ja, gut.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Hintze, können
Sie mir erklären, was Metin Kaplan mit dem Antrag der
FDP-Fraktion zur Einführung eines Volksentscheids
über eine europäische Verfassung zu tun hat?
({0})
Das ist mir nicht erklärlich.
({1})
Ich will Ihnen das gerne erklären, lieber Kollege
Niebel. Die FDP begründet den Antrag damit, dass sie
eine wichtige Forderung der Menschen im Lande aufnimmt. Es ist übrigens sehr interessant, dass die Koalitionsparteien das zwar immer wieder gefordert haben,
aber dann, wenn es konkret wird, dem FDP-Antrag nicht
zustimmen. Aber das ist ein anderes Thema.
Ich glaube, dass der Unmut der Menschen über die
Politik und über uns als Verantwortungsträger wächst,
wenn wir nicht bereit sind, solchen Skandalen ein Ende
zu bereiten und unserer Polizei und unserem Verfassungsschutz solche Blamagen zu ersparen, indem wir
eine Rechtsordnung entwickeln, nach der so etwas nicht
möglich ist bzw. unterbunden wird.
({0})
- Das ist eine interessante Frage. Eine Kollegin aus der
SPD-Fraktion hat gerade in einem Zwischenruf gefragt,
ob ich möchte, dass das in die EU-Verfassung aufgenommen wird. Das ist eine sehr gute Frage, die ich wie
folgt beantworten will: Ich setze in der Tat die Hoffnung
darauf, dass aufgrund der Tatsache, dass europäisches
Recht Vorrang vor nationalem Recht hat, in Europa im
Umgang mit Terroristen und Gefährdern ein Recht geschaffen wird, das Europa zu einer großen Sicherheitsgemeinschaft werden lässt und das solchen Tätern und
Gefährdern in Deutschland und Europa keine Chance
bietet.
({1})
In wenigen Tagen wird sich erweisen, ob die Regierungen in Europa die Kraft haben, mit der Verfassung
den Weg zu mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in Europa zu ebnen. Als auf dem Europäischen Rat
von Nizza die lange Nacht der faulen Kompromisse zu
Ende ging, waren wir uns einig: nie wieder Nizza!
({2})
Allerdings glaube ich, Herr Bundesaußenminister
- Sie werden im Moment durch die grüne Fraktionsvorsitzende etwas an der Mitberatung gehindert -, dass es
Europa und auch Deutschland gut täte, wenn die Bundesregierung zu der Mittlerrolle zurückfinden würde, die
sie früher in Europa eingenommen hat. Es mag zwar bequem sein, zusammen mit England und Frankreich eine
Art Direktorat zu bilden, aber es wird nicht funktionieren. Wenn Deutschland als Motor eines Direktorats
agiert, dann bedeutet das das Ende der Veranstaltung.
Was wir brauchen, ist ein faires Miteinander von Kleinen
und Großen, wie es einst langjährige Praxis war.
({3})
Ich meine übrigens, dass die Politik der Bundesregierung in der Zwischenphase nach der italienischen Präsidentschaft und vor dem Versuch der irischen Präsidentschaft, eine Lösung zu finden, auch dazu geführt hat,
dass wir uns ziemlich festgefahren haben. Unsere Hoffnung ist, dass wir ein Stück weiterkommen werden. Es
ist sehr erfreulich - Herr Kollege Hoyer hat das schon
angesprochen -, dass sich gegen die Mehrheit in diesem
Hause bei der Mehrheit in Europa durchgesetzt hat, dass
die Preisstabilität nicht nur eine einzelne Aufgabe der
Europäischen Zentralbank sein darf, sondern auch eines
der Ziele der Europäischen Union sein muss, dem sich
alle Politiken unterzuordnen haben;
({4})
denn Wachstum ohne Preisstabilität führt auf direktem
Wege in den wirtschaftlichen Abgrund.
({5})
Wir freuen uns, dass dies nun in der zukünftigen europäischen Verfassung verankert wird.
({6})
- Herr Roth, Sie sollten nicht dazwischenbrüllen.
({7})
- Weil ich mich gegen die Zwischenrufe akustisch
durchsetzen muss!
Ich komme nun auf etwas zu sprechen, das uns sehr
am Herzen liegt. Sie haben in diesem Haus oft und wortreich dargelegt, dies sei überflüssig. Das ist die Haltung
einer Regierung, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt
zum dritten Mal in Folge bricht. Sie bringen uns herunter. Sie sind dafür verantwortlich, dass das Wachstum in
Deutschland unter dem EU-Durchschnitt liegt. Sie haben
die Verschuldung auf die Spitze getrieben. Sie wollen
die Preisstabilität opfern. Ihre Politik darf sich auf europäischer Ebene nicht fortsetzen.
({8})
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Türkei
sagen.
({9})
Wir haben von dem Spitzenkandidaten der SPD im
Europawahlkampf, Herrn Vural Öger, Interessantes
über die Türkeipolitik gehört.
({10})
Wir wissen jetzt, warum der Bundeskanzler Herrn Öger
an so prominenter Stelle auf der Wahlliste platziert hat.
Herr Öger hat sich - gemäß seinen eigenen Ausführungen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - ausgelassen, dass das, was mit der türkischen Belagerung
Wiens nicht geschafft worden sei, heute unsere geburtenfreudigen Türkinnen in der Bundesrepublik erreichen
könnten.
({11})
- Frau Kollegin Schwall-Düren, Sie haben wieder dazwischengeschrien, bevor Sie zugehört haben. Ich habe
die Aussagen von Herrn Öger aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert, mit denen er versucht hat, die
Zitate in „Hürriyet“ zu korrigieren. Die Korrektur sollten
Sie lesen; denn sie ist zumindest genauso interessant wie
das Zitat in „Hürriyet“. Die Auffassung, die Herr Öger
vertritt, mag vielleicht die neue frauenpolitische Linie
der SPD sein. Unserer Auffassung von westlicher Kultur
entspricht sie jedenfalls nicht.
({12})
- Entschuldigung, ich habe das im Original zitiert. Dass
Originalzitate Ihres eigenen Spitzenkandidaten Sie in
Unruhe versetzen, kann ich verstehen.
Die „Frankfurter Rundschau“ hat berichtet, die SPDFührung habe verfügt, dass er von nun an für immer seinen Mund halten solle. Ich bin ja froh, dass er gesprochen hat; denn so wissen wir, welches Denken Sie repräsentieren und was auf uns zukommt.
Wir sind aufgefordert worden, die Türkeifrage im
Europawahlkampf nicht anzusprechen. Wir weisen diese
Aufforderung liebevoll zurück. Alle wichtigen Fragen
gehören in den Wahlkampf. Wohin denn sonst? Wir
müssen auch die Türkeifrage ansprechen; denn sie ist für
Europa und insbesondere für Deutschland eine Schicksalsfrage. Sie haben eine andere Auffassung als wir. Die
Wähler sollen das ruhig wissen; denn sie müssen sich
entscheiden. Ich bin ziemlich sicher, dass sie sich richtig
entscheiden werden.
Ich danke Ihnen.
({13})
Jetzt gratuliere ich recht herzlich unserem Kollegen
Burgbacher zu seinem heutigen 55. Geburtstag. Alles
Gute!
({0})
Das Wort hat die Kollegin Anna Lührmann, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Hintze, ich bin mir sicher, dass
sich die Wählerinnen und Wähler am 13. Juni richtig
entscheiden werden
({0})
und dass sie sich nicht für die CDU/CSU entscheiden
werden, wenn ihnen Europa am Herzen liegt.
({1})
Denn Sie haben uns eben noch einmal demonstriert, wie
der Europawahlkampf der Union aussieht. Er hat genauso wenig etwas mit Europapolitik zu tun wie Ihre
Rede.
({2})
Aus innenpolitischem Kalkül haben Sie die Themen
„Zuwanderung“, „Kaplan“ und „Türkei“ angesprochen.
Für mich ist das, was Sie sagen, unverantwortlicher
Populismus. Sie schüren Ängste vor Europa, anstatt aufzuklären und die Menschen auf dem Weg nach Europa
mitzunehmen.
({3})
Ich will jetzt zum Thema kommen, zur europäischen
Verfassung. Bei diesem Thema ist meiner Meinung nach
ein weiteres wichtiges Etappenziel erreicht; denn nach
dem Treffen der Außenminister am vergangenen Montag
ist die EU ihrer neuen Verfassung wieder ein gutes Stück
näher gekommen. Heute erscheint eine Einigung auf
dem Gipfel im Juni wieder viel wahrscheinlicher. Das
sind gute Aussichten; denn noch am Anfang dieses Jahres hätte ich darauf kaum eine größere Summe verwettet.
Doch seit dem Dezembergipfel ging es immer wieder
voran, und das nicht zuletzt, weil viele Regierungen, wie
die deutsche Bundesregierung, nie einen Zweifel daran
gelassen haben, dass sie genau diese Verfassung wollen.
Ich habe also vor, bei diesem Thema optimistisch zu
bleiben. Dieser Optimismus scheint heute mehr denn je
berechtigt.
Die schwierigen Verhandlungen zeigen jetzt noch einmal ganz deutlich, dass die Bundesregierung gut daran
getan hat, auf dem Ergebnis des Konvents zu bestehen
und die Verhandlungen mit Änderungsanträgen nicht
noch weiter zu erschweren; denn das Auf und Ab dieser
Regierungskonferenz macht doch wieder eines ganz
klar: Es ist dem Konvent in 16 Monaten sehr harter Arbeit vorbildlich gelungen, gute Kompromisse in den
heiklen Fragen zu finden. Die Diskussionen über Änderungsanträge in der Regierungskonferenz zeigen nämlich immer wieder, dass es kaum gelingt, andere, geschweige denn bessere Formulierungen als die zu
finden, die der Konvent selber erarbeitet hat. Aus dieser
Erfahrung sollten die Regierungen klug werden. So
könnte man sich nämlich viele quälende Nachtsitzungen
ersparen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen - ich weiß nicht, wie
es Ihnen ging -, am letzten Freitag haben mich die Verhandlungen im Kreise der Außenminister ziemlich empört. Da kamen die einen und die anderen immer wieder
mit ihren alten Forderungen, also mit alten Hüten, daher,
die eigentlich schon längst ad acta gelegt worden sind.
Dadurch wurde nicht nur eine Einigung erschwert; vielmehr war meiner Meinung nach auch der Inhalt der
Änderungswünsche kontraproduktiv. Während der Regierungskonferenz wurden nämlich fast nur Änderungen
vorgeschlagen, die ich als Proeuropäerin nur als eindeutige Rückschritte bezeichnen kann.
Fundamentale Fehlgriffe waren etwa die Bestrebungen, die Befugnisse des Europaparlaments wieder zu beschränken. Die Rechte des Parlaments im Haushaltsverfahren sollten sogar hinter den Status quo zurückgedreht
werden. Es gab auch den Vorschlag, die Charta der
Grundrechte, den zweiten Teil der Verfassung, durch ein
Zusatzprotokoll in seiner Wirkung zu beschränken. Wir
reden hier also nicht über Peanuts, sondern über fundamentale Grundrechte und über das zentrale Organ der repräsentativen Demokratie in der EU.
Nach dem Treffen am Montag bin ich - das habe ich
schon erwähnt - weit optimistischer gestimmt. Die
gröbsten Angriffe auf den Verfassungstext scheinen unter anderem durch das Engagement der deutschen Bundesregierung kassiert worden zu sein.
Aber es bleibt so mancher Stolperstein erhalten. Ich
glaube, ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, dass ein
wesentlicher Stolperstein den Namen „Großbritannien“
trägt. An die Adresse von Großbritannien kann ich nur
sagen - ich habe darauf schon in meiner letzten Rede
hingewiesen -: Europa lebt vom Kompromiss. Sie wissen, worum es geht, nämlich um die so genannten Red
Lines der britischen Regierung. Von britischer Seite wird
zum Beispiel die Forderung erhoben, die qualifizierte
Mehrheit für Entscheidungen zurückzunehmen.
Ich finde das haarsträubend. Das offenbart nur eines:
die Verweigerung von mehr Demokratie, von mehr
Handlungsfähigkeit und von Transparenz für Europa.
Ein Mehr an Demokratie, an Transparenz und an Einfachheit, aber auch an Effizienz und Bürgernähe, das ist
doch genau das, was am Ende dieses Verfassungsprozesses stehen muss. Genau so lautet nämlich der Auftrag
von Laeken, den die Regierungen dem Konvent gegeben
haben.
({5})
Der Konvent ist dieser Aufgabe gerecht geworden. Es
wäre geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, wenn
die Regierungen dafür sorgten, dass die von ihnen selbst
gesteckten Ziele eben nicht umgesetzt werden. Wir alle
hier wissen, dass mit der Einigung auf einen Verfassungstext noch nicht der ganze Weg zurückgelegt ist. Im
Gegenteil: Die Ratifizierungen in den 25 Mitgliedstaaten müssen dann noch durchgeführt werden. In manchen
Ländern müssen die Parlamente zustimmen, in anderen
auch die Bevölkerung per Referendum.
Ich würde einen europaweiten Volksentscheid über
die europäische Verfassung deutlich befürworten. Wenn
die Bürgerinnen und Bürger in allen europäischen Ländern gleichzeitig abstimmten, dann könnte man eine innenpolitische Instrumentalisierung verhindern und es
fände eine wirklich europäische Debatte statt.
Anders als die FDP hat die rot-grüne Bundesregierung 2002 einen Gesetzentwurf für direkte Demokratie
in allen Bereichen in den Deutschen Bundestag eingebracht.
({6})
Diesem Vorschlag haben über die Hälfte der FDP-Fraktion und die gesamte CDU/CSU-Fraktion nicht zugestimmt. Vor diesem Hintergrund ist Ihr heutiges Wahlkampfgetöse wirklich unglaubwürdig.
({7})
Abschließend will ich noch eines deutlich sagen:
Egal, wie ratifiziert wird, es kommt darauf an, was und
dass ratifiziert wird; denn nur mit einer neuen Verfassung ist Europa auch in guter Verfassung.
({8})
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich möchte in meinem Beitrag nur auf die von
der FDP-Fraktion vorgeschlagene Verfassungsänderung
eingehen. Das Grundgesetz ist der wichtigste Rechtstext
in unserer Demokratie. Darum sind an Änderungen dieses Rechtstextes hohe Anforderungen zu stellen, was die
fachliche Qualität anbelangt. Es ist die politische Frage
zu beantworten, ob wir die Grundentscheidungen, die
die Verfassungsväter und -mütter getroffen haben, wirklich verändern wollen. Ich möchte zu beidem etwas sagen, zur fachlichen Qualität Ihres Vorschlags und zu der
Grundsatzfrage, ob es richtig ist, einen Volksentscheid
zur Einführung der EU-Verfassung zu ermöglichen.
Zum ersten Thema: Was ist von Ihrem Vorschlag
fachlich zu halten? Sie formulieren in Ihrem Entwurf,
dass es um die Einführung einer europäischen Verfassung geht. Natürlich reden wir politisch über die EUVerfassung, über den Verfassungsvertrag. Es gibt auch
gute politische Gründe dafür, so zu reden. Es verdeutlicht, dass es ein wichtiges Werk ist. Es spiegelt sich darin insbesondere wider, wie dieser Entwurf erarbeitet
worden ist, nämlich nicht mit der bisherigen Methode
der Vertragsänderungen. Die Herren der Verträge, die
Mitgliedstaaten, haben die Gesetzgebung ein Stück weit
aus ihren Händen gegeben und haben insbesondere Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten - nicht nur Parlamentarier, aber auch Parlamentarier - an der Erstellung
des Verfassungsentwurfs beteiligt.
Wir können rechtlich aber nicht einfach so formulieren, wie wir politisch reden; das Grundgesetz hat andere
Anforderungen an die Sprache. Deshalb müssen wir fragen: Wird im Rechtssinne eine Verfassung eingeführt?
Wird mit dieser Vertragsänderung, um die es geht, das
bisherige Vertragswerk eine neue Qualität, nämlich Verfassungsqualität, gewinnen? Das ist Ihre rechtliche Anforderung dafür, dass der Volksentscheid überhaupt stattfindet.
Ich möchte dazu nur aus zwei Urteilen zitieren, die
ich mir gestern noch einmal durchgelesen habe, die
schon alt sind. In einem Urteil aus dem Jahre 1991 - das
ist schon lang her - stellt der Europäische Gerichtshof
fest, dass der EWG-Vertrag „obwohl er in der Form
einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen
wurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstellt. In
einer Entscheidung aus dem Jahr 1968 stellt das Bundesverfassungsgericht fest - das ist im 22. Band -, die
Europäische Gemeinschaft sei eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener
Art. Nun zitiere ich: „Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar.“
Die Europäische Union hat eine Verfassung. Die
europäischen Verträge haben seit langem Verfassungsqualität. Was macht denn eine Verfassung aus? Ich zitiere dazu die Begründung des Gesetzentwurfs der FDPFraktion: Es ist die Entscheidung „über Inhalt, Grenzen,
Organisation, Ausgestaltung und Verteilung politischer
Macht“. Alles das ist in den Verträgen bereits entschieden. Wir haben die Souveränitätsübertragung. Wir haben
ein System der Kompetenzverteilung. Wir haben mit
dem Europäischen Gerichtshof ein Verfassungsgericht.
Darum besteht kein Zweifel: So wenig man den Zeitpunkt bestimmen kann, zu dem die europäischen Verträge Verfassungsqualität angenommen haben, so sicher
ist, dass sie bereits seit langem Verfassungsqualität haben. Darum ist Ihr Entwurf aus europarechtlichen Gründen unzulänglich.
Ich möchte mich mit dem Entwurf aber auch verfassungsrechtlich beschäftigen. Sie schreiben in Ihrem Begründungstext, „ohne ausdrückliche Zustimmung der
Bürgerinnen und Bürger“ sei der Verfassungstext „nicht
ausreichend legitimiert“. Das finde ich wirklich bedrückend - das sage ich mit allem Ernst, ohne jeden taktischen Hintersinn. Sie wie wir alle gehen davon aus, dass
Ihr Gesetzentwurf keine Mehrheit findet. Wollen Sie im
Ernst behaupten, dass die Europäische Union, wenn
diese Vertragsänderung im bislang üblichen Verfahren
ratifiziert wird, in Zukunft unter einem Legitimationsmangel leidet?
({0})
So steht es in Ihrem Begründungstext schwarz auf weiß.
Wollen Sie auch sagen, dass die früheren Entscheidungen grundlegendster Art, der Maastricht-Vertrag und die
Einführung der Währungsunion, das heißt die Abgabe
nationaler Währungshoheit, unter einem Legitimationsmangel leiden? Was ist mit dem Grundgesetz, zu dem
niemals ein Plebiszit durchgeführt wurde? Leidet das
auch unter einem Legitimationswandel?
({1})
Wie verhält es sich mit künftigen Änderungen, da ja nur
einmal ein Volksentscheid durchgeführt werden soll? Sie
sagen, dafür sei keine plebiszitäre Entscheidung nötig.
Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Auffassung sein, aber mich stört, mit welcher Leichtfertigkeit
in dem Gesetzentwurf die Legitimation der wesentlichen
rechtlichen Grundlagen des Staates wie der Europäischen Union infrage gestellt wird. Hier haben Sie einen
schweren Fehler gemacht.
({2})
Nun zu der Frage, ob es richtig ist, über diese Verfassung per Volksentscheid zu entscheiden. In diesem
Hause gibt es ja bezüglich der Präferenz für Volksentscheide eine ganz originelle Konstellation zwischen FDP
und der rot-grünen Koalition. Die FDP sagt, wir wollen
nur hier, aber nirgends sonst einen Volksentscheid zulassen. Rot-Grün sagt, wir wollen über alles einen Volksentscheid zulassen, nur nicht über diese Frage.
({3})
- Im Grunde überall. - Beide Positionen sind von der
Taktik und der Sache her nicht glaubwürdig.
({4})
Wir können mit der Frage der Legitimation - das ist eine
Kernfrage der Demokratie, denn Demokratie ist Legitimation - nicht taktisch umgehen, sondern wir müssen
mit ihr verantwortungsvoll und sachlich umgehen. Es ist
bedauerlich, dass die CDU/CSU-Fraktion die einzige
Fraktion im Parlament ist, die sich der Verantwortung in
diesem Punkt bewusst ist. Sie taktiert nicht, sondern
praktiziert Verantwortung.
({5})
Sie, Frau Lührmann, haben eben das klare Bekenntnis
abgelegt: Sie wollen einen Volksentscheid darüber. Aber
der Bundesaußenminister hat ihn verboten. Insbesondere
die Grünen sind ja ein immer folgsameres Kind der Regierung geworden. Sie, Herr Bundesaußenminister, können, wie ich glaube, mit dieser Fraktion sehr zufrieden
sein. Wenn es ernst wird, sagen Sie ihr, was sie machen
soll. Das sagt auch etwas über Ihr Selbstverständnis aus.
Ich möchte darauf eingehen, ob es richtig ist, durch
Volksentscheide Entscheidungen zu fällen, und möchte
begründen - da gebe ich Ihnen Recht -, dass die europäische Verfassung ein gutes Beispiel dafür darstellt,
warum eine Entscheidung durch Plebiszite in unserem
Land die schlechtere demokratische Alternative ist.
Nach meiner festen Überzeugung liegt das nicht daran,
dass wir Abgeordnete des Bundestages die besseren Entscheider wären, dass wir schlauere und bessere Entscheidungen träfen, als wenn das Volk abstimmen würde. Der
Grund liegt vielmehr in den objektiven Bedingungen,
der Möglichkeit, eine schwierige Frage verantwortlich
zu entscheiden.
Voraussetzung dafür, um überhaupt verantwortlich
und vernünftig entscheiden zu können, ist das Vorhandensein eines Verfahrens, mit dem man in der Lage ist,
die Komplexität eines Gegenstandes zu verarbeiten.
Der entscheidende Punkt ist, ob wir davon sprechen können, dass die Voraussetzung dafür existiert, verantwortlich zu entscheiden, und ob das Verfahren, das Entscheidungen vorausgeht, die Möglichkeit bietet, die
Komplexität des Gegenstandes zu verarbeiten. Das parlamentarische Verfahren bietet sie, unabhängig davon,
ob uns das im Einzelfall gelingt. Wir sind im Parlament
in der Lage, strukturiert plurale Auffassungen miteinander zu diskutieren und zu einem Ergebnis zu kommen,
für das wir uns dann politisch und demokratisch rechtfertigen müssen.
Ich bin fest davon überzeugt - damit komme ich zum
Ende -, dass die plebiszitäre Entscheidung genau diesen
Mangel hat: Sie bietet kein Verfahren, das in der Lage
wäre, der Komplexität eines Gegenstandes in der für demokratische Legitimation nötigen Breite - eine Informationselite kann das schaffen - gerecht zu werden. Es geht
bei dieser Frage um das Funktionieren unserer Demokratie, um nichts weniger. Für dieses Funktionieren haben
wir als Parlament eine doppelte moralische Pflicht: die
Pflicht, zu begründen, dass es zur parlamentarischen
Verantwortung keine praktische Alternative gibt, und die
Pflicht, diese Verantwortung durch den Stil unserer Auseinandersetzungen
Herr Kollege, darf ich Sie erinnern, dass Sie zum
Ende kommen wollten?
- und durch den Inhalt der konkreten Entscheidungen
zu leben. Das ist unsere Pflicht; wir können sie nicht
übertragen, sondern müssen sie selber erfüllen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Röttgen, wenn man aus grundsätzlichen
Erwägungen heraus plebiszitäre Elemente ablehnt,
dann war Ihre Argumentation überzeugend. Das sage ich
voller Respekt. Aber auf der linken Seite dieses Hauses
gibt es Kräfte, Fraktionen, die übereinstimmend der Auffassung sind, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern die
direkte Demokratie unter ganz bestimmten Bedingungen
zutrauen sollten, weil wir die repräsentative Demokratie
gerade stärken wollen, indem wir die Bürgerinnen und
Bürger auch in Sachfragen stärker einbeziehen.
Die Kollegin Lührmann hat in der Begründung ihrer
Ablehnung eines nationalen Referendums über die
europäische Verfassung ein wesentliches Argument genannt, das auch für mich ausschlaggebend ist: Wenn
wir die europäische Verfassung, die ich für ein großartiges und wesentliches Projekt halte, nur noch nationalen
Themen und Diskussionen unterziehen, dann erreichen
wir nicht das, um was wir uns eigentlich alle bemühen
sollten, nämlich dass sich die Bürgerinnen und Bürger
nicht nur als Deutsche, Franzosen oder Ungarn identifizieren, sondern eine europäische Identität gewinnen.
Wenn wir das erreicht haben, bin auch ich dafür, dass
wir über eine europäische Verfassung in einem Volksentscheid abstimmen, genau so, wie ich mir persönlich
gewünscht hätte, dass das deutsche Volk Anfang der
90er-Jahre in freier Selbstbestimmung über das Grundgesetz bzw. die deutsche Verfassung abgestimmt hätte.
Das war ihm damals, weil Sie das nicht gewollt haben,
leider verwehrt.
Aber 20 Tage vor dem europäischen Gipfel, auf dem
eine grundlegende Weichenstellung bezüglich der
Zukunft Europas und der Bürgerinnen und Bürger in
Europa vorgenommen wird, sollten wir nicht nur über
ein Ratifizierungsverfahren reden, sondern die Inhalte
der europäischen Verfassung in den Mittelpunkt unserer
Debatte rücken; denn wir sollten jetzt nicht so tun, als
seien alle offenen Fragen schon geklärt.
Europa hat am 1. Mai eine großartige Chance ergriffen: Wir haben diesen Kontinent wiedervereinigt. Das
war ein großer Erfolg, an dem nicht wenige einen maßgeblichen Anteil haben. Aber der Problemdruck, auch
der nationale, ist erheblich. Viele Probleme, mit denen
Michael Roth ({0})
wir uns auf nationaler Ebene zu beschäftigen haben,
können aus meiner Sicht nur in einem vereinten Europa
gelöst werden. Noch nie hingen Frieden, Demokratie,
Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und die Zukunft der
Bürgerschaft so sehr vom Erfolg der europäischen Politik ab. Im Zeitalter umfassender Globalisierung ist ein
nach innen und nach außen solides europäisches Haus
unersetzlich.
Aber machen wir uns nichts vor, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Wir sind bislang die Antwort auf die
Frage schuldig geblieben, wie die größer gewordene
Europäische Union handlungsfähig bleiben soll. Deswegen dürfen wir uns auf der großen Erweiterung vom
1. Mai nicht ausruhen. Wenn wir das täten, bliebe die EU
der 25 nicht mehr als ein Torso.
Wir müssen die Institutionen, die Strukturen und die
Verfahren der EU grundlegend modernisieren. Wir müssen die demokratische Legitimation der europäischen
Entscheidungsprozesse stärken. Wir müssen außerdem
die EU für alle Bürgerinnen und Bürger - ich glaube,
auch für den einen oder anderen Kollegen - transparenter machen. Nur dann werden wir den Erwartungen gerecht und nur dann wird es möglich sein, mit dieser EU
die großen Herausforderungen erfolgreich politisch zu
meistern.
({1})
So genannte Leftovers, also Überbleisel, wie bei
Nizza wird es nicht mehr geben dürfen. Der Kollege
Gloser hat mich gebeten, auf einen Punkt hinzuweisen:
In diesen Tagen feiert Nürnberg die 50-jährige Partnerschaft zu Nizza. Deswegen ist der Satz „Nie wieder
Nizza“ für den einen oder anderen von uns sicherlich nur
schwer erträglich. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
({2})
Nizza genießt auch weiterhin unsere Wertschätzung,
wenn auch nicht unbedingt die Regierungskonferenz.
Aber weil wir eben ein zweites Nizza nicht haben wollten, war das Vertagen der Regierungskonferenz nach
dem ergebnislosen Gipfel von Brüssel im Dezember
2003 richtig. Denn eine Einigung um jeden Preis wäre
aus meiner Sicht unverantwortlich. Deswegen ist es so
positiv, dass die irische Präsidentschaft jetzt mit großem
Druck, mit großer Sorgfalt und mit großer Beharrlichkeit
einen Erfolg noch unter ihrer Präsidentschaft erreichen
möchte.
Eine Nacht der langen Messer, in der mit aller Macht
allein um die Durchsetzung rein nationaler Interessen
geschachert wurde, konnte sich die EU noch nie so
wenig leisten wie heute. Verlieren die Beteiligten die
europäische Vision eines vereinten und handlungsfähigen Europas im Endspurt aus den Augen oder opfern sie
bewusst, wird die EU großen Schaden nehmen. Keiner
weiß, ob wir eine solche Chance noch einmal erhielten.
Deswegen müssen sich alle Beteiligten ihrer immensen
Verantwortung bewusst sein. Sie müssen deutlich sagen,
ob sie - dominiert von nationalen Sonderinteressen - die
Zukunftsfähigkeit Europas bewusst blockieren wollen
oder ob sie bereit sind, gemeinsam eine bessere Zukunft
zu gestalten.
Aus meiner Sicht ist ein fairer Ausgleich nationaler
Interessen möglich. Die hervorragende Arbeit des europäischen Verfassungskonvents hat dies gezeigt. Der
Konvent - das werden die Historiker in 20 oder
30 Jahren einmal sagen - war ein wesentlicher Meilenstein europäischer Integration. Mehr Demokratie wagen,
die Handlungsfähigkeit der EU nach innen und nach außen stärken, die EU transparenter gestalten: Das sind die
eigentlichen Kernziele, an denen sich der Verfassungsprozess zu orientieren hat. Das war so im Konvent und
das muss so sein in der Regierungskonferenz. Was wir
von dieser Regierungskonferenz zu Recht erwarten dürfen, ist nicht mehr und nicht weniger als die Verwirklichung dieser drei Ziele.
Für die Bundesregierung sind es schwierige Verhandlungen. Wir wissen das. Wir wissen auch, dass sich Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer mit großem persönlichen Einsatz um tragfähige Kompromisse
bemühen, die sich am Konventsentwurf orientieren und
die die Beschlüsse des Bundestages konsequent einbeziehen. Sich an dem Konventsentwurf zu orientieren war
von Anfang an die richtige Strategie. Wir haben hierüber
im Bundestag leider keine Übereinstimmung erzielen
können, weil einige eine nicht enden wollende Liste von
Änderungsvorschlägen vorgelegt haben. Ich meine, es
war gut und richtig, zu sagen: Etwas Besseres als das
Konventsergebnis werden wir nicht erzielen.
({3})
Dafür danken wir dem Bundeskanzler, dem Außenminister und auch dem Staatsminister für Europa Bury.
({4})
Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer festen
Absicht, die ins Stocken geratenen Schlussverhandlungen über eine europäische Verfassung endlich zum Erfolg zu führen. Wir müssen aber auch eines deutlich zur
Kenntnis nehmen - das gibt Anlass zur Sorge -: Die Zustimmung gegenüber der Europäischen Union sinkt,
auch in Deutschland. Noch nicht einmal 50 Prozent der
Deutschen waren in der jüngsten Umfrage positiv gegenüber der EU eingestellt. Das muss uns alarmieren. Wir
sollten daraus Konsequenzen ziehen.
Aber, Herr Kollege Hintze, wir sollten nicht die Konsequenzen daraus ziehen, die Sie ziehen. Es sind noch
16 Tage bis zur Europawahl.
({5})
Wenn man so argumentiert wie Sie und nicht über
Europa, sondern über das diskutiert, was einem wenige
Tage vor einer Wahl ins nationale Kalkül passt, dann
Michael Roth ({6})
zerstört man die Vertrauensbasis der Europäischen
Union. Dann macht man sich unglaubwürdig. Sie können sich doch nicht in Sonntagsreden zum großen Europapolitiker aufschwingen und hier, wenn es um die Zukunft Europas geht, nur über die Türkei und den
islamistischen Fundamentalismus
({7})
und nicht über die Kernbereiche Europas reden, die unsere eigentliche und gemeinsame Aufgabe sein sollten.
({8})
Wir brauchen aus meiner Sicht vielmehr eine programmatische Neugründung Europas. Ich bin mir sicher,
dass wir in diesen Punkten hier im Bundestag keine
Übereinstimmung erzielen werden. Aus meiner Sicht ist
dies auch gut so. Dass das so ist, hat man auch an einer
Bemerkung des geschätzten Kollegen Hoyer gemerkt.
Es wäre ja schlimm, wenn 200 Kolleginnen und Kollegen der FDP im Konvent gesessen hätten. Dann gäbe es
einen noch stärkeren neoliberalistischen Geist,
({9})
der aus meiner Sicht die Fundamente der Europäischen
Union langfristig zerstört.
({10})
Es ist vielmehr nötig - das sollten wir in dieser Debatte ruhig deutlich machen -, dass die Europäische
Union endlich ihr soziales Profil schärft. Wir wollen
nicht alles den Prinzipien des Marktes unterordnen. Wir
Sozialdemokraten stehen für ein soziales Europa mit gelebter Solidarität; denn die europäische Integration ist
die demokratische Antwort auf die Globalisierung. Deswegen dürfen wir nicht noch einmal an der Grundrechte-Charta herumdoktern. Die Grundrechte-Charta
ist das Herzstück unseres europäischen Grundgesetzes.
Sie begründet maßgeblich unsere europäische Identität.
Ich kann der Kollegin Lührmann nur zustimmen: Es ist
aus meiner Sicht - die Diplomaten dürfen und sollten
das nicht sagen; aber ich kann das sagen - nur schwer erträglich, wie die britische Regierung mit ihrer Salamitaktik gefundene Kompromisse wieder infrage zu stellen
versucht. Das ist für uns - in aller Offenheit - inakzeptabel.
({11})
Stures Beharren auf unzähligen nationalen Befindlichkeiten und rote Linien ist ebenso kontraproduktiv wie
das ständige Nachlegen neuer Forderungen.
Dann ein Wort zur Preisstabilität. Es wird doch niemand hier im Hause behaupten wollen, dass Preisstabilität nicht gut sei. Sie ist vor allem für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wichtig. Aber man kann es
auch übertreiben. In dieser Verfassung ist mehrfach von
Preisstabilität die Rede. Dass man aber die Preisstabilität
vor dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nennen
möchte,
({12})
das ist mit meiner Vorstellung vom Sozialstaatsgebot nur
sehr begrenzt in Einklang zu bringen.
({13})
Deswegen: Finger weg von den sozialen Errungenschaften dieses Verfassungsentwurfs, für die sich maßgeblich
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Verfassungskonvent stark gemacht haben!
78 Prozent der Bürgerinnen und Bürger erwarten zu
Recht, dass das wirtschaftliche Schwergewicht der EU
auch außen- und sicherheitspolitisch, das heißt auch auf
der internationalen Bühne, endlich handlungsfähiger
wird. Dafür brauchen wir einen europäischen Außenminister. Das garantiert uns die europäische Verfassung.
Sie kann der EU international eine stärkere Stimme und
den Bürgern mehr Gewicht geben.
Wir kämpfen aber auch für eine Friedensmacht
Europa. Dass sich das nur schwer mit den Konzepten
der CDU/CSU in Übereinstimmung bringen lässt, dürfte
klar sein. Frau Merkel und Herr Stoiber sind in der Irakfrage einem Irrweg gefolgt. Das kann mal passieren.
Aber sie bringen nicht den Mut zur Umkehr auf. Das ist
das eigentlich Bedauerliche.
({14})
Der Bundestag versteht sich traditionell als Partner
des Europäischen Parlamentes. Kompetenzverlagerungen nach Brüssel sind daher nur dann akzeptabel, wenn
das Europäische Parlament gestärkt wird. Das Europäische Parlament muss deshalb auch im Haushaltsverfahren ein gleichberechtigter Partner werden. Wir sind
sehr erfreut darüber, dass auf der letzten Zusammenkunft
der Außenminister ein tragfähiger Kompromiss gefunden wurde, der auch bei unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament Unterstützung findet.
Wir brauchen aber ebenso eine arbeitsfähige Kommission mit einem starken Kommissionspräsidenten.
Unsere Erwartungen - ich glaube, auch darin sind wir
alle einer Meinung - sind relativ realistisch. Es geht mir
gar nicht um die Größe der Europäischen Kommission.
Mir geht es aber darum, dass möglicherweise jedes
Kommissionsmitglied über ein eigenes Ressort verfügen
möchte. Bei begrenzten Kompetenzen der Europäischen
Union sehe ich darin eine Gefahr; denn die machen sich
dann ihre Arbeit selbst. Umso wichtiger ist ein durchsetzungsfähiger, integrationsfreundlicher und den Respekt
aller Mitgliedstaaten verdienender Kommissionspräsident. Ich hoffe, dass die Staats- und Regierungschefs
auch in dieser Frage eine sehr weise Entscheidung treffen.
({15})
Wir haben in diesem Hause immer wieder über den
Gottesbezug gesprochen. Ich habe da eine etwas andere
Michael Roth ({16})
Auffassung als der geschätzte Kollege seitens der SPDFraktion, der vor mir gesprochen hat.
({17})
Denn ich weiß, dass eine große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen dies wünscht bzw. nichts dagegen einzuwenden hätte. Die säkularen Kräfte in der EU sind jedoch stark und wir müssen sie respektieren. Bei diesem
sensiblen Thema bitte ich Sie - ich weiß nicht, ob Sie es
irgendwann in die Diskussion einbringen - um ein Stück
Verantwortungsbewusstsein; denn ein stures Festhalten
an dieser Forderung könnte die bisher erreichten Erfolge
infrage stellen. Diese sind maßgeblich auch auf das
Engagement der Bundesregierung zurückzuführen. Wollen Sie wirklich die Bezugnahme auf das religiöse Erbe
in der Präambel oder Art. 51, den Kirchenartikel, gefährden? Ich halte sie für einen großen Erfolg und deswegen
sollten wir mit weiteren Forderungen sehr zurückhaltend
sein.
Seit Beginn der 90er-Jahre fordern wir unablässig
transparente und demokratischere Abstimmungsprinzipien für den Rat. Endlich ist ein Durchbruch möglich.
Wir haben in Amsterdam vergeblich die doppelte Mehrheit gefordert und wir haben sie auch in Nizza leider vergeblich gefordert.
({18})
Jetzt gibt es endlich die realistische Chance, sie zu erreichen. In aller Offenheit und mit allem Respekt gegenüber der polnischen Regierung und vor allem der polnischen Opposition: Ich glaube nicht, dass Europa
ernsthaft darüber nachdenken sollte, wie man blockiert.
Stattdessen sollte man gemeinsam darüber nachdenken,
wie man Europa nach vorne bringt.
({19})
Deswegen müssen wir Blockaden überwinden, die
Strukturen im Rat demokratischer gestalten und Europa
handlungs- und entscheidungsfähiger machen. Deswegen steht das europäische Gesamtinteresse im Vordergrund.
Gelingt der Regierungskonferenz am 17. und 18. Juni
ein guter Wurf, ist das erweiterte und vereinte Europa
gestärkt wie nie. Europa wird zunehmend international
gestalten können, wenn es dann mit einer Stimme nicht
nur sein wirtschaftliches, sondern endlich auch sein politisches Gewicht zum Ausdruck bringen kann.
Die Tragweite und die Bedeutung dieser Entscheidungen sind seit Nizza unverändert geblieben und die Probleme lassen sich nicht durch weiteres Vertagen lösen.
Wir müssen jetzt, unter irischer Präsidentschaft, das Projekt vollenden, damit wir uns dann gemeinsam mit der
Bevölkerung und im Deutschen Bundestag über dieses
großartige Projekt unterhalten können. Wir müssen den
Bürgerinnen und Bürgern etwas Positives anbieten.
Unsere guten Wünsche begleiten die Bundesregierung, den Bundeskanzler und den Außenminister. Wir
hoffen, dass europäischer Mut und Weitsicht am 17. und
18. Juni gefragt sind. Diese dürfen die Bürgerinnen und
Bürger zu Recht von uns erwarten.
Vielen Dank.
({20})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trauen
wir dem Volk? Diese Frage könnte man über diese Debatte stellen. Ich sage Ihnen: Das Volk ist mindestens so
klug wie das Abbild des Parlamentes, Herr Roth.
({0})
Sie liegen sicherlich falsch, wenn Sie diese Frage so ausschließlich diskutieren, wie Sie es hier tun.
Trauen Sie dem Parlament, Herr Außenminister?
Dem Volk trauen Sie jedenfalls nicht; Sie wehren sich
gegen eine Volksabstimmung, aus Ihrer Sicht aus gutem
Grunde, weil das Volk Sie mit seinem Votum hinwegspülen würde. Sie trauen aber auch diesem Parlament
nicht. Seit Wochen und Monaten wird über dieses große
Projekt einer europäischen Verfassung im Stil von Geheimverhandlungen hinter verschlossenen Türen gesprochen. Unser Außenminister war bisher nicht bereit, vor
diesem Parlament seine Verhandlungsführung und seine
Verhandlungspositionen darzulegen.
({1})
Das ist die Situation: Diese Regierung traut weder
dem Volk noch dem Parlament.
({2})
Der Verfassungsvertrag ist in vielen Punkten offen. Es
wäre durchaus notwendig und interessant, in aller Offenheit einen Dialog über die inhaltlichen Fragen zu führen,
bei denen wir etwas bewegen wollen.
Herr Außenminister, der europäische Verfassungsvertrag sollte - das war einmal Ihr Ziel - Europa in außen-,
verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen
handlungsfähig machen. Er sollte ein Stück weit mehr
Vergemeinschaftung als Reaktion auf das europäische
Desaster beim Irakkrieg bringen und die europäische
Antwort darauf sein. Nichts ist passiert, Sie haben an
dieser Stelle versagt. Das, was geschaffen wurde, ist ein
europäischer Papiertiger.
({3})
So kann ich Sie mir als europäischen Außenminister gut
vorstellen. Es wird nur neue außenpolitische Bürokratie
- diesmal europäische - aufgebaut, aber kein Schritt hin
zur Vergemeinschaftung dieses wichtigen Bereiches unternommen.
({4})
Zweitens wäre es wirklich wichtig, mit dem Volk und
dem Parlament über die Frage zu reden: Wollen wir
mehr Subsidiarität und Föderalismus im Aufbau dieses
Europa oder wollen wir mehr Zentralisierung und den
europäischen Superstaat mit einer allgegenwärtigen Zuständigkeit? Wir wollen keine Zentralisierung, aber dieser europäische Verfassungsvertrag bietet leider kein
Modell einer klaren Kompetenzabgrenzung, damit die
Bürgerinnen und Bürger in Zukunft wissen, was Brüssel
entscheidet und wen sie dort wählen bzw. wegen bestimmter Entscheidungen abwählen können, was wir
hier in Berlin und was die Landesregierungen beispielsweise in Düsseldorf oder München entscheiden. Dies
war das Ziel von Laeken. Dieses Ziel wurde leider nicht
erreicht.
Der europäische Verfassungsvertrag schafft leider
eine sehr komplizierte Ordnung von ausschließlichen,
geteilten und koordinierenden Zuständigkeiten. In diesem Hohen Hause blickt kaum noch einer durch, in der
Regierung sowieso nicht.
({5})
Wie soll das Volk dann noch wissen, wer in dieser
Rechtsordnung wo was entscheidet?
({6})
Damit bin ich bei der Frage der Legitimation, Herr
Roth, der Urfrage der Demokratie. Wir werden für einen
konkreten Zeitraum von vier Jahren, beim Europäischen
Parlament von fünf Jahren gewählt. Danach kann das
Volk sagen: Nein, das war es nicht. Der wird nicht wieder gewählt. - Das Volk muss aber nachvollziehen können, welche Entscheidungen getroffen werden. Deshalb
erhebe ich den Vorwurf von Geheimverhandlungen.
Europapolitik muss parlamentarisiert werden, sie muss
nachvollziehbar sein. Es kann nicht sein, dass sich heute
die Europäische Union in die Planungen zum Frankfurter Flughafen einschaltet. Niemand weiß, wer wo und
warum. Es kann nicht sein - um einen weiteren aktuellen
Punkt aufzugreifen -, dass wir heute über Brüssel die lebenslängliche Freiheitsstrafe abschaffen. Wer gibt denn
wem in Brüssel dafür die Legitimation, einem Kommissar, einem Beamten? Nein, diese Fragen können und
dürfen nur von den nationalen Parlamenten entschieden
werden.
Deshalb bringt die CDU/CSU-Fraktion zunächst
einen Vorschlag zur Stärkung der nationalen Parlamente
ein. Wir dürfen uns von der europäischen Sekundärrechtsetzung nicht total verabschieden. Wir müssen
diese Fragen, die jetzt Teil der europäischen Rechtsetzung sind, wieder zu unserer Sache machen. Es gilt der
Legitimationsstrang, wie er im Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Maastricht-Vertrag definiert wird. Danach, lieber Kollege Röttgen, steht in der europäischen
Rechtsetzung zuvorderst die Legitimation über die nationalen Parlamente und ergänzend über das Europäische
Parlament. Diese Rangfolge sehe ich nicht mehr. Der
Deutsche Bundestag ist bei der Sekundärgesetzgebung
weitgehend auf das Abnicken und die Kenntnisnahme
von Papieren reduziert.
Das merken unsere Bürgerinnen und Bürger natürlich. Wir müssen Dinge verantworten, für die wir keine
Verantwortung übernehmen können. Die Verlagerung
der Verantwortung für die Politikgestaltung beispielsweise im Bereich der Daseinsvorsorge, des Zivilschutzes
oder der Kultur nach Brüssel kommt leider nicht beim
Europäischen Parlament an. Wenn das denn so wäre,
könnte man selbstverständlich darüber reden.
Mit dieser Bundesregierung schaffen wir eine Exekutivdemokratie: die Herrschaft der Beamten, alle Macht
den Beamten, keine Macht den Parlamenten. Das wollen
wir nicht als Zukunft der Europäischen Union.
({7})
Deshalb, Herr Außenminister, schlagen wir fünf konkrete Punkte zur Stärkung der nationalen Parlamente
in der europäischen Rechtsetzung vor:
Erstens. Es muss auch beim Verfassungsvertrag klar
sein, dass die nationalen Parlamente Herren der Verträge
bleiben.
({8})
Zweitens. Wir sind der Meinung, dass die von den
Regierungen unterbreiteten Vorschläge zu einer Vertragsänderung vor einem Zusammentritt der Regierungskonferenz den nationalen Parlamenten zur Diskussion
und Mitberatung vorgelegt werden müssen, damit wir
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in
die Situation kommen, am Ende der Debatte Ja oder
Nein zu einem mehr als 1 000 Seiten umfassenden Verfassungsvertragswerk sagen zu müssen, ohne dass wir
mit diesem Herrn hier darüber diskutieren konnten. Wir
müssen in den Prozess der Gestaltung eingebunden werden.
({9})
Drittens. Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes ist zu ändern bzw. in folgender Weise zu ergänzen: Die Bundesregierung soll die Stellungnahmen des Bundestages
nicht nur berücksichtigen, wie es jetzt heißt, sondern in
Einzelfällen - nicht in allen Bereichen, aber in den maßgeblichen und zentralen Fragen der europäischen Sekundärrechtsetzung - durchaus an die Stellungnahmen des
Bundestages gebunden werden können. Art. 23 Abs. 3
Satz 3 des Grundgesetzes soll in seiner neuen Fassung
wie folgt lauten: Stellungnahmen können bindende Wirkung haben.
({10})
In Satz 4 soll es heißen: Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
Meine Damen und Herren, dann könnten wir sagen,
an welchen Stellen wir uns einschalten wollen. Wenn
Herr Schily in Brüssel die Asylrichtlinie verabschiedet,
muss er auch hier im Deutschen Bundestag Rechenschaft ablegen, uns die entsprechenden Dokumente zeitnah vorlegen und sich unser Votum abholen. Dann ist die
europäische Rechtsetzung über die Mitwirkung der nationalen Parlamente legitimiert und wir sind nah am Bürger. Nur das kann der Weg sein.
({11})
Des Weiteren brauchen wir ein nationales Klagerecht, und zwar als Minderheitenrecht. Darüber sind wir
uns, glaube ich, ebenfalls im Klaren. Auch brauchen wir
- das möchte ich noch einmal verdeutlichen - eine Parlamentarisierung der Europapolitik; denn Europapolitik ist
längst nicht mehr Außenpolitik im Rahmen einer Geheimdiplomatie.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- Ich komme zum Schluss. - Deshalb hatte Bundeskanzler Schröder natürlich Recht, als er vor der letzten
Bundestagswahl angekündigt hat, Herrn Außenminister
Fischer durch eine Kabinettsreform die Zuständigkeit für
die Europapolitik zu nehmen. Diesen Schritt würden wir
durchaus begrüßen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Joschka Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
heutigen Morgen haben wir bereits zwei Debatten geführt: diese Europadebatte und die vorherige Debatte
über den Nahen und Mittleren Osten. Das war unter dem
Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit der Oppositionspolitik sehr interessant. Im Hinblick auf den Irak wurde der
Vorwurf erhoben, Kollege Volmer würde Wahlkampf
machen. Man müsse sich moderat verhalten und selbstverständlich dürften wir nicht daran erinnern, dass Frau
Merkel der Meinung war, wir sollten Soldaten in den
Irak schicken.
({0})
Das dürfe man nicht sagen; denn das sei üble Wahlkampfpolemik.
({1})
Als dieser Tagesordnungspunkt endete, trat dann Herr
Hintze auf, der den Menschen in gnadenloser Sachlichkeit verkündete, worum es geht: dass wir bei den anstehenden Europawahlen darüber entscheiden, ob wir von
den Türken überflutet werden. Da wurde auch verkündet, wir würden Geheimgespräche führen.
({2})
Es wurde so getan, als hätte die jetzige Bundesregierung
eine andere Grundlage für ihr Handeln, als es sie in den
Zeiten von Theo Waigel und Klaus Kinkel gegeben hat.
Diese Grundlage hat sich allerdings nicht geändert. Das
Einzige, was sich geändert hat, ist, dass Sie heute in der
Opposition sind.
({3})
Sie, Herr Altmaier und Herr Hintze, klatschen sogar
noch, wenn hinsichtlich Art. 23 des Grundgesetzes
Vorstellungen geäußert werden, die, wenn wir sie umsetzen würden - das wissen Sie ganz genau -, die Verabschiedung von der bisherigen Integrationsorientierung
nicht nur der Regierung Kohl, sondern der gesamten
europapolitischen Tradition bedeuten würden.
({4})
Nehmen Sie diesen Herrn von der CSU eigentlich ernst?
Ich nehme zwar an, dass Sie das nicht tun. Aber wenn
Sie ihn ernst nehmen, müssen Sie wissen, dass er europapolitische Positionen vertritt, mit denen er näher bei
den britischen Konservativen um Maggie Thatcher als
bei Helmut Kohl, Konrad Adenauer oder wem auch immer ist.
({5})
Deswegen sage ich Ihnen: Das, was Sie hier vorgetragen
haben, können Sie vergessen. Die direkte Konsequenz
davon wäre, dass es nur noch Geheimverhandlungen
gäbe.
({6})
Ich weiß nicht, an wie vielen Ausschusssitzungen und
Diskussionen wir teilgenommen haben. Kollege
Altmaier war sogar Mitglied des Konventes. Bei den jetzigen Verhandlungen ist als Repräsentant des Bundesrates übrigens immer der zuständige Staatssekretär aus
Baden-Württemberg anwesend. Offensichtlich ist die
vertrauensvolle Beziehung zwischen Bayern und BadenWürttemberg mittlerweile so zerrüttet, dass er Sie nicht
mehr informiert.
({7})
Mein Eindruck ist, dass zumindest die Bayerische
Staatsregierung hervorragend informiert ist.
({8})
Nein, meine Damen und Herren, das zeigt, worum es
wirklich geht: Es geht Ihnen ausschließlich um Stimmungsmache, und zwar um Stimmungsmache - das
hätte ich Ihnen von der Union, ehrlich gesagt, nicht zugetraut - gegen die Verfassung.
({9})
Da ist aber meines Erachtens Schluss mit lustig und auch
Ende mit Wahlkampf: Das hat nichts mehr mit der Frage
zu tun, ob man für oder gegen einen Volksentscheid ist.
Die Position, die hier gerade vorgetragen wurde, bedeutet doch im Klartext: Wir sagen, dass die Verfassung in
Richtung eines europäischen Superstaates geht, einer
Beamtenherrschaft.
({10})
- Na gut, wenn das Ihre Position ist, dann kann ich Ihnen
nur sagen: Diese Auseinandersetzung nehmen wir gerne
auf.
({11})
Was stellen wir denn fest? Sie kommen an und sagen:
Die EU-Kommission mischt sich in die Planungen zum
Frankfurter Flughafen ein. Es war doch nicht die
Kommission, die plötzlich den Bannwald am Frankfurter Flughafen als FFH-Gebiet ausgewiesen hat, sondern
ein Regierungspräsident in Darmstadt, der weder den
Sozialdemokraten noch den Grünen angehört. Wer hat
denn da die Rechtslage verändert? Es war die hessische
Landesregierung, die zuständige regionale Behörde in
Person des Darmstädter Regierungspräsidenten. Das ist
bei Ihnen nicht angekommen.
Der zweite Punkt in dem Zusammenhang, „Herrschaft der Beamten“: Die Rechte des Europäischen Parlaments werden, wenn diese Verfassung Wirklichkeit
wird, in einem Maße ausgeweitet, wie es bisher noch nie
der Fall war.
({12})
Alles, was unter das Mitentscheidungsverfahren fällt,
betrifft den Rat und das Parlament; das heißt, die Ausdehnung der Rechte des Parlaments ist massiv. Sie hier
im Deutschen Bundestag haben in Zukunft die Subsidiaritätskontrolle,
({13})
und zwar nicht nur abwartend, sondern aktiv - sie liegt
bei den Parlamenten der Mitgliedstaaten -, sodass wir
hier einen ganz entscheidenden Schritt nach vorn getan
haben; das ist eine neue Qualität des Parlaments.
({14})
- Nix Null Komma null. Dann frage ich Sie, warum Ministerpräsident Teufel, Kollege Altmaier und Kollege
Hintze dies in der Vergangenheit gepriesen haben. Offensichtlich befinden Sie sich im Zustand wahlkampforientierter Schizophrenie zwischen CDU und CSU. Sie
müssten sich da schon einmal einigen.
({15})
Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang: Wenn Sie
hier allen Ernstes sagen, dass die europäische Sicherheits- und Außenpolitik und der kommende Außenminister mit dem „Doppelhut“ kein Schritt nach vorne wären, dann ist das so etwas von daneben! Jeder weiß doch:
Die FDP, die CDU, die Grünen und die Sozialdemokraten, wir alle haben hier dafür gestritten,
({16})
dass wir diesen Fortschritt endlich bekommen. Aber was
ist mit der CDU? Der Stadtverband München ist ja nun
von europäischer Leuchtkraft sondergleichen, wenn man
die Dinge so liest, die da bei euch, zwischen
Singhammer und Müller, so vor sich gehen.
({17})
Ich kann Ihnen nur sagen: Vergessen Sie all das, das ist
Wahlkampf, unterstes Niveau.
({18})
- Wenn das Thema der Verfassung so angegangen wird,
gehört das zur Sache, meine Herren und Damen.
({19})
- Das können wir so nicht stehen lassen. Mir geht es darum, aufzuzeigen, wo wir jetzt bei der Verfassung stehen. Meine Haltung zum Volksentscheid kennen Sie.
({20})
- Meine Haltung ist die: Wir sollten am Ratifizierungsverfahren, so wie wir es haben, festhalten.
({21})
Ich teile diese Meinung mit Hans-Dietrich Genscher; Sie
werden es nicht glauben. Meine Fraktion ist, was die
Grundsätze anbetrifft, anderer Auffassung; ich bin in einer Minderheitenposition.
({22})
- Was ist für Liberale eigentlich so tragisch daran, sich
in einer Minderheitenposition wiederzufinden? Sehen
Sie, ich fühle mich unter diesem Gesichtspunkt wohlbehütet von Ihnen.
Ich würde das Haus jetzt gerne über den letzten Stand
der Verhandlungen unterrichten, damit dem Vorwurf der
Geheimverhandlungen selbst Schwerhörigen gegenüber
direkt entgegnet werden kann. Wir hatten am letzten
Montag die wichtigsten Punkte nochmals aufgerufen.
Ich stimme all denen zu, die die irische Präsidentschaft
gelobt haben, aber ich möchte nicht versäumen zu sagen:
Das alles gründet auf den Vorarbeiten der italienischen
Präsidentschaft; auch das will ich hier nochmals ausdrücklich erwähnen. Die irische Präsidentschaft wird
meines Erachtens einen abschließenden Gesamtentwurf
vorlegen, in dem die offenen Fragen behandelt werden.
Erstens. Die schwierigste Frage und zugleich die
wichtigste Frage der demokratischen Machtverteilung ist
das Abstimmungsverfahren. Bei diesem Abstimmungsverfahren zeichnet sich jetzt ab, dass alle die doppelte Mehrheit akzeptiert haben, dass sich der Verhandlungsspielraum zwischen dem, was vor allen Dingen
viele kleinere Mitgliedstaaten wollen - pari/pari, 50/50;
Österreich ist hier an erster Stelle zu benennen -, und
55/65, dem Ratsvorschlag, bewegt. Ich denke, es ist von
entscheidender Bedeutung, dass wir diesen Schritt jetzt
gemacht haben, dass die doppelte Mehrheit dem Grunde
nach akzeptiert ist. Ich glaube auch, wir werden hier
letztendlich einen Kompromiss finden können; das ist
zumindest mein Eindruck aus der Runde der Außenminister. Auch die Gespräche, die der Bundeskanzler in
Warschau geführt hat, zeigen, dass sich eine Einigung
abzeichnet und, anders als im Dezember, erreichbar ist.
Es gibt Überlegungen, den Ratsvorschlag zur Grundlage zu nehmen. Das hieße, dass man bei der doppelten
Mehrheit, der Staatenmehrheit und der Bevölkerungsmehrheit, ein Bevölkerungsminimum ansetzt.
({23})
- Derjenige, der das gerade gesagt hat, ist derjenige, der
sich andauernd darüber beschwert, es gebe Geheimverhandlungen. Entscheidend ist doch, dass ich jetzt die Gelegenheit nutze, das Haus zu unterrichten. Bisher hatte
ich noch nicht die Möglichkeit, das im Ausschuss zu tun.
Ich nehme doch an, dass es Sie interessiert, wo wir vor
den entscheidenden Verhandlungen stehen.
Bei der Bevölkerungsmehrheit, bei der Staatenmehrheit ebenso, soll eine entsprechende Klausel vorgesehen
werden, um dem Direktoriumsvorwurf zu begegnen wie
auch dem Vorwurf, es könne eine Mehrheit der kleinen
Staaten geben ohne ein entsprechendes Minimum an Bevölkerung. Sonst würde der Gedanke der doppelten
Mehrheit sinnverkehrt in der Realität umgesetzt. Ich
denke, in diese Richtung wird es gehen. Das wäre meines Erachtens ein echter Schritt nach vorne und würde
einen erfolgreichen Abschluss ermöglichen.
Der zweite Punkt betrifft das Letztentscheidungsrecht
des Parlaments im Haushaltsverfahren. Hierzu hat die
irische Präsidentschaft einen Vorschlag vorgelegt, der
darauf hinausläuft, dass sich beide Seiten einigen müssen. Das Parlament hat in der Sitzung positiv reagiert.
Viele der Mitgliedstaaten, die vorher energisch gegen
das Letztentscheidungsrecht des Parlaments waren, haben ebenfalls positiv reagiert. Ich kann also die Prognose
wagen, dass die Formulierung, die die Präsidentschaft
vorgeschlagen hat, Zustimmung finden wird und so ein
Konflikt, eine institutionelle Konfrontation zwischen
Parlament und Rat verhindert werden kann.
Der dritte Punkt betrifft die Parlamentssitze. Die
kleinsten Mitgliedstaaten haben nochmals darum gebeten, das Mindestquorum um einen Sitz anzuheben. Die
Bundesregierung hat sich dahin gehend geäußert, sie
habe nichts dagegen, allerdings könne eine Anhebung
nicht zulasten unseres Anteils gehen. Eine Anhebung
würde also eine maßvolle Erhöhung der Gesamtzahl der
Sitze bedeuten, wobei Spanien und Polen ebenfalls Diskussionsbedarf angemeldet haben. Ich glaube, wir werden aber auch diese noch offene Frage abhaken können.
Es ist also nur noch die Frage des christlich-religiösen
Erbes offen. Wir haben dafür gestritten und haben uns
dafür eingesetzt, eine Formulierung zu finden, die in
Richtung der Formulierung geht, die in unserem Grundgesetz steht. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen,
dass nicht nur die Staaten, die eine geringere Bindung an
die christlich-religiöse Tradition haben, dagegen sind,
sondern auch die Staaten, die ein anderes Verständnis
der Trennung von Staat und Religion haben. Ich gehe davon aus, dass man sich auf die Formulierung, die der
Konvent gefunden hat - es war schon schwierig genug,
sich darauf zu verständigen -, einigen wird. - Das waren
die letzten entscheidenden Punkte, die uns beschäftigt
haben.
Abschließend eine Bemerkung zu den Vorschlägen
hinsichtlich der Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit. Für uns ist wichtig, nun den erreichten Verhandlungsstand zu den Bereichen Innen und Recht entsprechend zu verteidigen.
Die Präsidentschaft wird einen Gesamtvorschlag vorlegen, der alle bis dahin offenen Fragen berücksichtigt.
Es besteht also die echte Chance, dass wir einen erfolgreichen Abschluss erzielen können. Ich denke, das verdanken wir dem guten Willen aller Beteiligten. Wir wissen, was für Europa davon abhängt. Um die EU der 25
handlungsfähig, demokratisch, effizient und transparent
zu machen, brauchen wir unbedingt diesen Verfassungsvertrag.
Um den Risiken, über die wir heute Morgen diskutiert
haben, und den Gefahren, mit denen wir es zu tun haben,
begegnen zu können, setzt das eine handlungsfähige Europäische Union voraus. Ich denke, mit diesem Verfassungsvertrag, wenn er so abgeschlossen wird, haben wir
tatsächlich den qualitativen Schritt der Vertiefung erreicht, den wir am 1. Mai mit der Erweiterung gemacht
haben.
Ich danke Ihnen.
({24})
Das Wort hat der Kollege Guido Westerwelle, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Laufe der Debatte ist mehrfach der Eindruck
erweckt worden, als wäre das, was wir in unserem Antrag fordern, nämlich über die gemeinsame europäische
Verfassung auch in Deutschland eine Volksabstimmung
zuzulassen, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es
wurde so getan, als sei unser Antrag gegen das Grundgesetz bzw. gegen dessen Geist gerichtet.
Ein Blick ins Gesetz erleichtert bekanntlich die
Rechtsfindung. Deswegen möchte ich Ihnen Art. 20
Abs. 2 des Grundgesetzes noch einmal vor Augen führen. Dort heißt es:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.
Wir kennen im Grundgesetz übrigens auch ganz konkrete Fälle für eine Volksabstimmung. Wenn sich zum
Beispiel zwei Länder neu gliedern wollen - das haben
wir mit Berlin und Brandenburg erlebt -,
({0})
dann muss natürlich eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Zwei Länder, die sich zusammenschließen
wollen, müssen also das Volk befragen. Die Eingliederung Deutschlands in eine europäische Staatlichkeit ist
im Vergleich dazu mit Sicherheit weit wichtiger. Deshalb sollte dazu erst recht das Volk befragt werden.
({1})
Herr Minister Fischer, ich kann verstehen, dass die
Kolleginnen und Kollegen der Unionsparteien, die bei
solchen Mitteln der direkten Demokratie seit vielen Jahren eher skeptisch sind, auch hier ihre Skepsis zum Ausdruck bringen. Abenteuerlich wird es nur dann, wenn
sich die Grünen und die Sozialdemokraten, die bei jeder
Klein-Klein-Frage immer wieder für die Volksabstimmung geworben haben,
({2})
bei der europäischen Verfassung auf Ihren Standpunkt,
Herr Fischer, disziplinieren lassen.
({3})
Die Grünen sind sonst für Volksabstimmungen über jeden Krötentunnel, bei der europäischen Verfassung sind
sie aber nicht dazu bereit, weil sie Angst vorm Volk haben. Das ist der falsche Ratgeber.
({4})
Herr Außenminister, es ist bemerkenswert, wie Sie
das hier vorgetragen haben. Sie sagten, Sie befänden
sich in einer Minderheitenposition. Das ist überhaupt
nichts Ehrenrühriges. Das kommt in der Politik immer
wieder vor. Jeder, der in der Politik arbeitet, war regelmäßig auch schon in Minderheitenpositionen, ganz
gleich, an welcher Position er arbeitet. Das ist das Normalste der Welt. Herr Minister Fischer, das Problem ist
nicht, dass Sie beim Thema Volksabstimmung sagen, Sie
seien in einer Minderheitenposition gegenüber Ihrer
Fraktion. Das Problem ist, dass Sie die Parole ausgegeben haben, dass sie Ihnen statt ihrem Gewissen folgen
müssen. Das ist meines Erachtens eine klare Fehlentscheidung in diesem Hause.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Winkler?
Ja, bitte sehr.
Herr Westerwelle, ganz unabhängig davon, dass ich
nicht ganz verstehe, was Sie gegen Krötentunnel haben,
möchte ich Sie etwas fragen.
Man könnte sich vorstellen, dass es im Wahlkampf
auch um populistische Forderungen geht. Das will ich
Ihnen gar nicht unterstellen. Wieso entwickelt die FDP
nur dann, wenn es um die EU-Verfassung geht, plötzlich
ein Liebesgefühl für plebiszitäre Elemente in der Verfassung? Wir haben in unserem Antrag gesagt, dass das
Volk selbst entscheiden soll, über welche Themen im
dreistufigen Verfahren abgestimmt wird. Es soll also von
unten herauf und nicht vom Bundestag herunter bestimmt werden, über welches spezielle Thema abgestimmt wird. Warum haben die wenigen Abgeordneten
der FDP-Fraktion, die an der damaligen Abstimmung
teilgenommen haben, mehrheitlich dagegen gestimmt?
Zunächst einmal ist es gut, dass Sie mir die Gelegenheit geben, das klarzustellen. Wie jede andere Partei
auch haben wir in den letzten Jahren mehrfach über
diese Frage gesprochen. Natürlich haben auch wir den
Eindruck gewonnen, dass die Distanz zwischen der Politik und dem Volk zugenommen hat. Durch mehr Mittel
der direkten Demokratie wollen wir diese Distanz zwischen den politischen Entscheidern und dem Volk wieder verringern.
Es gibt einen massiven Unterschied zwischen uns,
den ich Ihnen auch nennen werde; das braucht man gar
nicht zu verkleistern: Wir Liberale wollen, dass die repräsentative Demokratie durch direkte Mitwirkungsmöglichkeiten ergänzt und nicht ersetzt wird.
({0})
Wir wollen nicht, dass für jede Klein-Klein-Entscheidung eine Volksabstimmung durchgeführt wird, sondern
wir wollen sie bei historischen Schlüsselentscheidungen.
Die EU-Verfassung ist eine solche historische Schlüsselentscheidung.
({1})
Der Vorwurf des Populismus ist von Ihnen immer
wieder erhoben worden. Der Außenminister spricht von
Wahlkampf und Sie sagen, Sie wollten uns keinen Populismus vorwerfen, tun es damit aber. Das ist das übliche
Spiel. Das kennen wir; das ist ein bisschen einfach. Deswegen möchte ich Ihnen nur einmal sagen, wie die Lage
in Europa aussieht: Dänemark, Irland, Luxemburg, die
Niederlande, Polen, Lettland, Frankreich, Österreich,
Portugal, Spanien, Ungarn, Tschechien, Slowenien und
Slowakei - all diese Länder haben schon beschlossen,
dass es dort ein Referendum geben wird, sind dabei, zu
beschließen, dass es dort ein Referendum geben wird,
oder haben schon die Möglichkeiten dafür geschaffen,
dass es dort ein Referendum geben wird. Wollen wir dabei zusehen, wenn unsere Regierung erklärt, unser Volk
sei dafür nicht reif genug? Unser deutsches Volk ist
demokratisch genauso reif wie all die Staaten in Europa,
in denen die Bürger darüber abstimmen dürfen.
({2})
Wir wollen, dass abgestimmt wird. Wir sind der Überzeugung, dass dies ein wesentliches Element ist, um das
Thema Europa endlich wieder in die Herzen der Bevölkerung hineinzubringen. Das ist unser eigentliches Anliegen. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, dass
bei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament in
Brandenburg nur 30 Prozent zur Wahl gegangen sind.
Das liegt vielleicht auch daran, dass wir selber eine Entwicklung bekämpfen müssen, die da heißt: Europa ist
ein Europa der Staatsgipfel. Es muss aber ein Europa der
Bürgerinnen und Bürger sein. Diese Verfassung sollte
vom Volk getragen werden.
Es war ein Fehler, dass nach der deutschen Einheit
über unser gemeinsames Grundgesetz nicht vom Volk
abgestimmt wurde. Eine riesige Mehrheit wäre diesen
Weg mitgegangen. Dieser Fehler sollte sich in Europa
nicht wiederholen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der CDU/CSU-Antrag spiegelt heute weniger die Diskussion über europäische Zustände als vielmehr die
Nichtdiskussion über den europapolitischen Zustand der
Christdemokraten wider. Bei Ihnen ist heute von fortschreitender Integration nicht mehr die Rede, sondern
eher von anhaltender Stagnation. Sie haben keinen Mut
mehr für die Zukunft. Bei Ihnen herrscht nur noch Kleinmut vor. Der Beitrag des Kollegen Müller - das ist wirklich zu bedauern - ist der Einstieg in den Ausstieg unserer gemeinsamen Überzeugung des europäischen
Verfassungsprojekts.
({0})
Es ist schon bedauerlich, dass Sie sich auf den gleichen Weg wie Ihre CSU-Kolleginnen und Kollegen im
Europäischen Parlament begeben, die vor einem Jahr gegen den Beitritt Tschechiens gestimmt haben. Ansonsten
gibt es bei Ihnen nur reine Taktik statt europäischer Inhalte. Im Straßburger Parlament wurden von der Fraktion der europäischen Christdemokraten zuerst die englischen Konservativen aufgenommen - sie sind
bekanntlich nicht europäisch -, dann die italienische
Forza Berlusconis, die bekanntlich keine Christdemokraten sind. Ergebnis: eine große Zahl von Abgeordneten und eine kleine Zahl von Gemeinschaft.
Im aktuellen Europawahlkampf fällt Ihnen deshalb
nichts anderes ein, als Bilder von Angela Merkel zu plakatieren. Sie hatte bekanntlich im Jahre 2003 ihre Unterstützung für den Spalterbrief der acht EU-Staaten bekundet. Sie erinnern sich: Das waren die Kriegswilligen im
Irak. Heute wollen Sie das nicht mehr wahrhaben.
({1})
Würden Sie sich heute weniger von Wahlkampftaktik
leiten lassen und stattdessen offen argumentieren, so
müssten Sie zugeben, dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ebenso wie Grüne heute meist das fortführen und erfolgreich weiterbringen, was Sie früher
selbst gefordert haben.
Ich sage Ihnen: Wenn es heute um Wegmarkierungen
und um einen Meilenstein im europäischen Verfassungsprozess geht, so sind wir als SPD stolz, dazu Wegweisendes beigetragen zu haben. Schon 1866 im Kaiserreich
forderte der ADAV im ersten Wahlprogramm die deutsche Einheit als einen Anfang des solidarischen europäischen Staates. 1925 sprach sich die SPD in Weimar für
die Bildung der vereinigten Staaten von Europa aus, um
zur Interessensolidarität aller Völker zu gelangen. Vor
60 Jahren trug eine linke Widerstandsgruppe gegen die
Nazidiktatur den Namen „Europäische Union“. Ihr gehörte unter anderem der unvergessene Professor Robert
Havemann an.
1984 formulierte der italienische Sozialist Altiero
Spinelli im Europäischen Parlament den ersten Verfassungsentwurf, ein Modell, das alle weiteren konstitutionellen Überlegungen inspirierte und auch von den Fraktionen dieses Hauses getragen worden ist. Schließlich
wurde 1999 auf Initiative von Gerhard Schröder und der
rot-grünen Bundesregierung mit dem Konvent zur
Axel Schäfer ({2})
Europäischen Grundrechte-Charta der Nukleus für die
europäische Verfassung geschaffen.
Wir wollen ein europäisches Deutschland. Deshalb
muss die deutsche Europafähigkeit gestärkt werden. Es
ist notwendig, dass wir uns als Bundestag darüber Klarheit verschaffen, welche Konsequenzen sich aus der europäischen Verfassung künftig für unsere Tätigkeiten ergeben. Erstmals werden die nationalen Parlamente mit
25 Staaten die Möglichkeit haben, die Einhaltung des
Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips bei europäischer Rechtsetzung direkt zu kontrollieren.
({3})
Das Protokoll zum Verfassungsentwurf beinhaltet eine
direkte Beteiligung der nationalen Parlamente. Dadurch ergeben sich Chancen einer frühzeitigen, konstruktiven Mitwirkung des Deutschen Bundestages in
EU-Angelegenheiten.
Der so genannte Frühwarnmechanismus wird ein Gestaltungsinstrument sein, also ein Instrument zur Ausformulierung europäischer Politik und nicht zur Verhinderung. Das sage ich ausdrücklich in Richtung Bundesrat,
dessen Bedeutung und Verantwortung in der EU gestärkt
werden. Künftig gilt: Das Europäische Parlament, der
Ministerrat und die Kommission berücksichtigen die begründeten Stellungnahmen der nationalen Parlamente
der Mitgliedstaaten oder einer der Kammern der nationalen Parlamente.
Die Umsetzung der Bestimmungen der künftigen EUVerfassung geht mit einer Verbesserung der Europafähigkeit unseres Parlaments einher. Die SPD hat dazu
konkrete Vorschläge erörtert und Ihnen vorgelegt, auf
die Sie gerne eingehen können.
Erstens. Das Informationsmanagement unseres Parlaments muss sich auf die Zuleitung von EU-Dokumenten
direkt durch die europäischen Organe einstellen.
Zweitens. Angesichts der knapp bemessenen Fristen
müssen relevante EU-Dokumente künftig direkt vom
Bundestagspräsidenten über den Vorsitzenden des EUAusschusses an die Ausschüsse überwiesen werden.
Drittens. Eine Vorfeldbeobachtung von europäischen
Rechtsetzungsvorhaben sowie deren intensive inhaltliche Beratung sind für uns unabdingbar.
Viertens. Im Hinblick auf die knappe Fristsetzung
sind auf Grundlage von Art. 45 des Grundgesetzes Regelungen zur Abgabe von plenarersetzenden Beschlüssen
über die Subsidiaritätsrüge durch den EU-Ausschuss
vorzusehen.
Fünftens. Der Bundestag selbst muss eine neue Balance zwischen dem Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union und den Fachausschüssen bei
der Subsidiaritätskontrolle schaffen.
Sechstens. Der Europaausschuss braucht spezielle
Berichterstatter und in den Fachausschüssen brauchen
wir EU-Berichterstatter, die gemeinsam europäische
Rechtsetzungsvorhaben prüfen.
Siebtens. Für die Beratung von Angelegenheiten, die
nicht Gegenstand des Frühwarnmechanismus sind, sollte
der heute bestehende Verfahrensgang - abgesehen vom
einheitlichen beschleunigten Überweisungsverfahren fortbestehen.
Achtens. Die COSAC und die Konferenz der Parlamentspräsidenten sind als wichtigste Elemente in den
Prozess und die Bewertung der Subsidiaritätskontrolle
einzubeziehen.
Besondere deutsche Interessen haben die europäische
Entwicklung, auch in der Verfassungstradition, befruchtet. Ich erinnere an den Maastrichter Vertrag, in den auf
unsere Initiative hin der Ausschuss der Regionen aufgenommen wurde. Er erhält jetzt das Klagerecht. Ich erinnere auch an die regionale und kommunale Selbstverwaltung. Die künftige EU-Verfassung achtet nicht nur
die föderale Struktur unseres Grundgesetzes, sondern sie
gewährt auch der Selbstverwaltung einen Schutz. Das ist
bemerkenswert, wo wir doch wissen, dass viele Länder
eher zentralistisch ausgerichtet sind.
Wir müssen uns einige selbstkritische Fragen stellen.
Sind wir in Europa heute tatsächlich schon auf der Höhe
der Zeit? Werden wir durch unsere parteiliche, politische, auch parlamentarische Wirklichkeit schon dem
Anspruch gerecht, den wir selbst in der Verfassung formuliert haben? Ganz konkret frage ich uns alle im Parlament: Gibt es tatsächlich schon echte europäische Parteien, die länderübergreifend agieren? Warum haben wir
noch keinen europäischen Spitzenkandidaten für die
Wahl zum Europäischen Parlament?
({4})
Ist es künftig noch akzeptabel, den Bürgerinnen und
Bürgern vor der Wahl nicht zu sagen, wen Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale als Kandidaten
für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission
benennen? Wir müssen alle besser und für Europa fit
werden.
({5})
Eine letzte Bemerkung zum Antrag der Kolleginnen und
Kollegen zur Europäischen Verfassung. Rüdiger Veit hat
unsere grundsätzliche Position dargelegt. Ich sage zugleich, dass wir über dieses Thema weiter diskutieren
müssen. Dafür gibt es zwei ganz wichtige Gründe. Zum
einen - das ist schon gesagt worden - gibt es tatsächlich
in der Mehrheit der EU-Staaten die Diskussion über Plebiszite. Noch gestern hat ein Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, ein Christdemokrat, uns
Deutsche danach gefragt, wie es bei uns weitergehen
wird.
Es gibt zum anderen tatsächlich den Art. 146 des
Grundgesetzes, den Schlussartikel, der besagt, dass das
Grundgesetz seine Gültigkeit dann verliert, wenn eine
Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in
freier Entscheidung beschlossen worden ist. Wir haben
bekanntlich aus respektablen Gründen bisher nicht davon Gebrauch gemacht.
Axel Schäfer ({6})
Ich betone aber an dieser Stelle: Weimar ist kein Argument gegen Plebiszite, auch wenn das immer wieder
behauptet wird.
Herr Kollege, Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss.
({0})
Europa könnte aber ein gutes Argument für mehr direkte Demokratie sein. Dies ist in der Europäischen
Union nur dann zu realisieren, wenn alle Staaten am selben Tag über die gemeinsame Verfassung abstimmen.
Dabei gilt: Die Mehrheit ist die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger und die Mehrheit der Staaten.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Das ist der europäische Weg, den wir weiterverfolgen
wollen; denn das wichtigste deutsche Interesse gilt der
europäischen Einigung.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute erneut über die Europäische
Union. Das ist nahe liegend. Denn die EU wurde am
1. Mai erweitert; am 13. Juni wird das EU-Parlament gewählt und die Verhandlungen über die künftige EU-Verfassung laufen noch. Deshalb begrüßt die PDS im Bundestag diese Debatte.
({0})
Uns liegen außerdem zwei konkrete Anträge vor, und
zwar einer von der CDU/CSU und einer von der FDP.
Insofern können wir konkret zur Sache reden.
Der CDU/CSU-Antrag ist der längere, aber mitnichten der bessere. Kurz gefasst wollen Sie die Europäische
Zentralbank stärken und vor der Politik schützen. Sie
wollen eine grundsätzliche Absage an eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Sie wollen obendrein Gottes Segen in
der Präambel der Verfassung verankern.
Das alles lehnt die PDS im Bundestag ab. Wir wollen
einen Sozialpakt als Basis der künftigen EU. Wir schlagen niemandem die Tür zur EU zu. Wir wollen eine Verfassung, die zusammenführt und nicht trennt.
({1})
Die PDS hat nun einmal ein anderes Europabild als
die CDU/CSU, nämlich kein militärisches, sondern ein
friedliches, kein kapitales, sondern ein soziales und kein
obrigkeitsstaatliches, sondern ein bürgerrechtlich-demokratisches Bild. Deshalb sagen wir Nein zum Antrag der
CDU/CSU.
({2})
Der Antrag der FDP liegt uns näher. Er fordert eine
Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung.
Dazu muss das Grundgesetz geändert werden. Die PDS
ist seit Jahren dafür.
Wie wir alle wissen - das spielte auch heute in der
Debatte schon eine Rolle -, ist der neue FDP-Antrag lediglich die kleinere Variante eines größeren Antrags, der
Volksentscheide und Abstimmungen auf Bundesebene
auch bei anderen Themen zulässt.
(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch ({3})
Nun haben heute Morgen sicherlich Millionen Zuschauer den Abgeordneten Ferber von der CSU im Fernsehen gehört. Er meinte, der FDP-Antrag sei zu kurz gesprungen. Er, Ferber, wolle eine europaweite und nicht
nur eine deutsche Volksabstimmung. Das finde ich außerordentlich bemerkenswert. Frau Merkel und Herr
Glos mimen in Europa den großen Springinsfeld, während ihnen zuhause die Füße einschlafen, wenn es um direkte Demokratie geht.
So viel Doppelzüngigkeit wie die CDU/CSU praktizieren derzeit nur noch die Grünen.
({4})
Aber auch deren Verwirrspiel ist beeindruckend. Dazu
braucht man nur die Reden vom grünen Vorsprecher
Fischer und vom grünen Spitzenmann Cohn-Bendit zu
vergleichen. Der eine sagt hü, der andere hott. Aber am
Ende kommt nichts dabei heraus, jedenfalls keine direkte Demokratie.
Ich könnte in diesem Zusammenhang zelebrieren,
was Rot-Grün nach dem Motto „Rein in die Kartoffeln,
raus aus den Kartoffeln“ seit 1998 aufführt, wenn es um
mehr Demokratie geht. Das ist kabarettreif. Immer,
wenn es um unverbindliche Versprechen geht, dann sind
SPD und Grüne dafür. Immer, wenn es zum Schwur
kommt und um konkrete Beschlüsse geht, dann sind sie
dagegen.
Nun stehen Sie erneut vor der Wahl: Entweder Sie
machen sich endlich ehrlich und stimmen mit der PDS
dem FDP-Antrag zu oder Sie bleiben unglaubwürdig
und lehnen auch diesen Antrag ab.
Nun noch einmal zu dem Pseudoargument, dass entweder alle EU-Staaten abstimmen sollten oder keiner.
Nachdem selbst Großbritannien seine Blockade gegen
eine Volksabstimmung aufgegeben hat, gehört die Bundesrepublik zu den wenigen, die sich noch immer verweigern. Das ist die Lage. Sie ist alles andere als ein
demokratisches Aushängeschild für die Bundesrepublik.
Ich weiß, dass das Tradition hat. Schon 1990 haben die
CDU/CSU und die Mehrheit der SPD eine Volksabstimmung über die deutsche Verfassung abgelehnt, obwohl
sie im Grundgesetz angelegt ist. Aber ein Fehler wird
nicht besser, wenn man ihn ständig wiederholt.
Schließlich darf ich noch daran erinnern, dass eine
deutliche Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland für
eine Volksabstimmung ist. Die PDS hat das immer gefördert und wir werden den FDP-Antrag noch ergänzen.
Wir schlagen Volksabstimmungen über die künftige EUVerfassung für den 8. Mai 2005 vor. Das wäre ein gutes
historisches Datum und das wäre einem friedlichen
Europa würdig.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter
Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon erstaunlich, mit welcher Nonchalance und gepflegten Langeweile bisweilen über das Thema europäische Verfassung diskutiert wird. Das beginnt schon bei
der Debatte über ein Referendum. Hier verfahren manche nach dem Motto: Bei der EU-Verfassung kann man
es mit einem Referendum ruhig einmal probieren. Wenn
es sich bewährt, kann man auch über die innerstaatliche
Anwendung nachdenken. Die FDP schließt ein Referendum über innerstaatliche Themen sogar ausdrücklich
aus. Ich sage Ihnen: Europa ist kein Spielfeld für Experimente, für die uns die nationale Politik zu schade ist.
({0})
Der Verfassungsvertrag ist kein dritt- oder viertklassiges Thema, sondern eines der zentralen Zukunftsthemen
der europäischen Politik. Er wird zwar die staatliche und
die verfassungsrechtliche Qualität Europas nicht verändern. Aber für die Zukunftsfähigkeit Europas ist das InKraft-Treten des Verfassungsvertrages unabdingbar.
({1})
Ein gescheitertes Referendum in einem einzigen Mitgliedstaat - das wissen Sie genauso gut wie wir - verzögert das In-Kraft-Treten der Verfassung um Monate,
Jahre oder vielleicht sogar für immer. Das ist doch der
entscheidende Punkt!
Die Bürger in Dänemark und Irland, wo das Referendum verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist, entscheiden mit dem Referendum über den Verfassungsvertrag
nicht nur über ihr eigenes Schicksal, sondern auch über
die Zukunft von 450 Millionen Europäern. Es gibt für
den Fall, dass es schief geht, keinen Plan B in der Schublade. Nicht einmal der Bundesaußenminister, der sich
sonst die Lösung aller Probleme dieser Welt zutraut, hat
ansatzweise eine Idee, wie Europa aus seiner Verfassungskrise herausfinden soll, wenn keine Verfassung zustande kommt. Mit dem Vertrag von Nizza können wir
die Zukunftsaufgaben jedenfalls nicht bewältigen.
Es wird leichthin gesagt, die Politiker müssten eben
ihre Bevölkerungen überzeugen, wenn sie wirklich wollten, dass eine europäische Verfassung in Kraft tritt. Herr
Kollege Hoyer, Sie haben dabei aber außer Acht gelassen, dass wir seit einigen Jahren in diesem Land einen
Bundeskanzler haben, der es noch nicht einmal schafft,
seine eigene Partei von der Notwendigkeit und Richtigkeit seiner nationalen Politik zu überzeugen. Wie soll ein
solcher Bundeskanzler die Menschen in diesem Land davon überzeugen, dass eine europäische Verfassung notwendig und wichtig ist?
({2})
Ich persönlich meine, dass wir über den französischen
Vorschlag nachdenken sollten, wonach die Verfassung in
allen Ländern, in denen das parlamentarisch möglich ist,
am gleichen Tag ratifiziert werden sollte. Ich glaube, das
wäre ein wichtiges Signal, dass es hier um die gemeinsame Verantwortung aller Europäer und nicht nur um nationale politische Entscheidungen geht.
Ich bin kein Anhänger von Pessimismus und
Schwarzmalerei, wenn es um die europäische Verfassung geht. Ich gebe nur Folgendes zu bedenken: Frau
Kollegin Schwall-Düren und der Kollege Röttgen, die
heute an dieser Debatte teilgenommen haben, sind herausragende Mitglieder der Föderalismuskommission,
die eine innerstaatliche Reform zustande bringen soll.
Ich wünsche der Föderalismuskommission alles Gute.
Sie kann mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, was Gesetz bzw. Verfassung in Deutschland werden soll. Wenn
ich aber sehe, wie mühsam und schwierig die Beratungen der Föderalismuskommission im Detail trotz dieser
Möglichkeit sind und wie viele hohe Erwartungen bereits nach unten korrigiert worden sind, dann meine ich,
dass sich der Verfassungsentwurf, den der europäische
Konvent vorgelegt hat - wohl wissend, dass er von allen
Staaten einstimmig gebilligt werden muss -, sehen lassen kann. Es ist ein anständiger und guter Entwurf.
({3})
Weil das so ist, ist es unsäglich, wie dieser Entwurf
von kleinkarierten Erbsenzählern in der Regierungskonferenz zerredet und zerfleddert wird:
({4})
überall rote Linien, Bedenken, Vetodrohungen. Herr
Bundesaußenminister, Sie haben einmal gesagt: Mit den
Leftovers der Leftovers muss endgültig Schluss sein. Es
ist absehbar, dass es, auch wenn Sie sich am 18. Juni
einigen - ich wünsche Ihnen, dass Sie es tun -, wieder
die Leftovers der Leftovers der Leftovers geben wird.
Denn in einem für die Handlungsfähigkeit und auch für
die Legitimation Europas zentralen Punkt, nämlich in
der Frage der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen,
verläuft die Entwicklung schlecht. Nach allem, was wir
wissen, ist der Übergang von der Einstimmigkeit zur
qualifizierten Mehrheit in vielen Bereichen in Gefahr.
Bei den Dienstleistungen, bei den unlauteren Steuerpraktiken, bei der finanziellen Vorausschau, bei den Modalitäten des Eigenmittelbeschlusses, in wichtigen Fragen
im Bereich von Innerem und Justiz: Überall droht uns
der Rückfall in die alte Einstimmigkeit, damit in die
Handlungsunfähigkeit und in die Erpressbarkeit.
Herr Bundesaußenminister, was den Kompromiss, der
in Bezug auf die doppelte Mehrheit erzielt werden wird,
angeht: Ich erkenne die Bemühungen aller, die sich dafür
eingesetzt haben, an. Aber eines ist doch auch richtig:
Besonders groß ist der Fortschritt gegenüber Nizza nicht
mehr; denn überall haben sich diejenigen durchgesetzt,
die ihre Blockademinderheiten schützen wollen, die erreichen wollen, dass sie ihre heiligen Kühe nicht
schlachten müssen. Das führt dazu, dass die Europäische
Union insgesamt handlungsunfähiger wird.
Herr Bundesaußenminister und lieber Michael Roth,
kommen Sie mir jetzt nicht mit den Polen, den Spaniern
und den Briten, die angeblich allein die bösen Buben
sind. Was nutzen uns denn die enge Freundschaft des
Bundeskanzlers mit Herrn Blair, die Schröder/Blair-Papiere, die Absichtserklärungen und die gegenseitigen
Besuche, wenn es weder bei der Irakfrage noch bei der
Verfassungsfrage möglich war, zu einer deutsch-britischen Position zu gelangen? Was nutzt uns das Weimarer Dreieck, das Polen, Deutschland und Frankreich bilden, wenn im entscheidenden Moment vor dem
Scheitern des Brüsseler Gipfels Funkstille herrschte?
Wir haben im Konvent doch auch mit den britischen und
den polnischen Kolleginnen und Kollegen einen Konsens erzielt. Allerdings haben es die Regierungen dann
nicht geschafft, diesen Konsens in die Regierungskonferenz hinüberzuretten.
Es ist oft gesagt worden: Rom ist nicht an einem Tag
erbaut worden; es ist besser, jetzt eine schlechte Verfassung als gar keine Verfassung zu verabschieden. Ich
meine, wir sollten jetzt nicht schon wieder damit anfangen, in Kauf zu nehmen, dass die neue Verfassung in
zwei oder drei Jahren geändert werden muss. Wir haben
uns dafür entschieden, den Bürgerinnen und Bürgern ein
klares und deutliches Signal zu geben. Mit dieser Verfassung will Europa seine Zukunftsfähigkeit sichern. Das
bedeutet: Wir dürfen ihnen jetzt, noch bevor die Verfassung überhaupt ratifiziert ist, nicht schon wieder mit Änderungen drohen.
({5})
Am 13. Juni ist Europawahl. Die Wahlbeteiligung
geht in allen europäischen Ländern auch deshalb zurück,
weil die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben,
dass es auf ihre Stimme nicht wirklich ankommt. Weder
entscheiden sie über ihre Regierung noch haben sie
sichtbaren, nachvollziehbaren Einfluss auf die Brüsseler
Politik. Herr Bundesaußenminister, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Die Bundesregierung sollte sich verpflichten, bei der Wahl des neuen Kommissionspräsidenten, die am 18./19. Juni ansteht, keinen Vorschlag zu
akzeptieren, der nicht über eine Mehrheit im neu gewählten Europäischen Parlament verfügt. Das wäre ein
wichtiger Schritt auf dem Weg, die Europawahl zu einer
wirklichen Entscheidung über Europa zu machen.
Würde die Bundesregierung darüber hinaus keinen
deutschen Kommissar vorschlagen, der nicht über eine
Mehrheit unter den deutschen Europaabgeordneten verfügt, so wäre das ein Zeichen von echter Demokratie,
von Bürgernähe und von Respekt vor dem, was am
13. Juni in dieser Wahl zum Ausdruck kommen soll.
({6})
Herr Bundesaußenminister, lassen Sie Ihren hehren
europapolitischen Worten - da sind wir gar nicht so weit
auseinander - ein paar kleine, bescheidene Taten folgen!
Wenn das geschieht, dann können wir in den nächsten
Wochen gemeinsam noch viel erreichen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b: Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 15/2998 und 15/2970 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetz-
entwurf auf Drucksache 15/2998 soll federführend vom
Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Zusatzpunkt 12: Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen mit dem Titel „Die europäische Ver-
fassung beschließen - der erweiterten Union ein solides
Fundament für die Zukunft geben“. Wer stimmt für den
Antrag auf Drucksache 15/3208? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ent-
haltung der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Groneberg, Karin Kortmann, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, HansChristian Ströbele, Volker Beck ({0}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Globale Zukunftssicherung durch die Förde-
rung erneuerbarer Energien in Entwicklungs-
ländern vorantreiben
- Drucksache 15/3212 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Bestandsaufnahme durch die
Deutsche Energie-Agentur ({1}) über den
Handlungsbedarf bei der Förderung des Exportes erneuerbarer Energietechnologien
- Drucksache 15/1862 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Nationalen Zuteilungsplan für
Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der
Zuteilungsperiode 2005 bis 2007 ({3})
- Drucksache 15/2966 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
- Drucksachen 15/3224, 15/3237 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Dr. Reinhard Loske
Zu dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzes liegen je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
und der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der kommenden Woche ist es so weit: Die Internationale Konferenz für Erneuerbare Energien findet in
Bonn statt. Vom 1. bis 4. Juni werden sich auf Einladung
von Bundeskanzler Gerhard Schröder mehr als 100 Minister und Ministerinnen sowie mehr als 120 Delegationen auf Ziele zum weltweiten Ausbau der erneuerbaren
Energien und zur Steigerung der Energieeffizienz verständigen. Zahlreiche nationale und internationale Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, die Weltbank und UN-Organisationen werden vertreten sein.
Warum richten wir, das Bundesentwicklungsministerium und das Bundesumweltministerium unter Leitung
meines Kollegen Jürgen Trittin, diese Konferenz zusammen aus? Deutschland ist Vorreiter in der Nutzung erneuerbarer Energien und der Steigerung der Energieeffizienz. Nicht nur angesichts hoher Ölpreise, die unsere
und alle Volkswirtschaften belasten, haben wir schon
lange die Perspektive für eine neue Energiezukunft entwickelt und unsere Politik entsprechend ausgerichtet.
Diese Energiewende kann aber nur nachhaltig sein,
wenn sie global ist; denn wegen der Emissionen und des
Wettlaufs um knappe fossile Ressourcen gibt es für alle
Menschen auf diesem Globus nur eine gemeinsame Zukunft. Wenn wir jetzt nicht handeln, wenn wir nicht auf
erneuerbare Energien und bessere Energieeffizienz setzen, geht uns auf allen Kontinenten, aber auch gerade
uns in Europa irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes
die Luft aus.
({0})
Die Konferenz verfolgt drei Ziele. Erstens. Es wird
eine gemeinsame politische Erklärung geben, in der sich
die anwesenden Regierungen ihrer Vision einer neuen
Energiezukunft versichern. Das gemeinsame Ziel soll
lauten: Bis zum Jahr 2015 soll 1 Milliarde Menschen,
die bisher keinen Zugang zu moderner Energieversorgung haben, mit Energie aus erneuerbaren Quellen versorgt werden, damit sie aus der Energiearmut geholt
werden.
({1})
Zweitens. Auf der Konferenz soll ein gemeinsames
Aktionsprogramm verabschiedet werden, in dem alle anwesenden Regierungen darlegen, mit welchen Programmen und Zielen sie zu dieser neuen Energiezukunft beitragen werden.
Ein drittes Dokument wird ganz praktische Politikempfehlungen dazu enthalten, wie auch Entwicklungsländer verstärkt erneuerbare Energien einsetzen und nutzen können.
Die Argumente für die erneuerbaren Energien sind
gerade für Entwicklungsländer überzeugend. Wir alle
wollen, dass die Entwicklungsländer die Armut in ihren
Ländern bekämpfen. Wir alle wollen, dass Kinder in die
Schule gehen können, dass Menschen in Krankenhäusern versorgt werden und dass Handwerker Maschinen
nutzen können. Das geht aber nur, wenn es Wirtschaftswachstum gibt, wenn Menschen Zugang zu moderner
Energieversorgung erhalten. Bisher hat ein Drittel der
Welt, 2 Milliarden Menschen, keinen Zugang zu moderner Energie. Armutsbekämpfung geht aber Hand in
Hand mit Energieversorgung. Deshalb - da dürfen wir
uns nichts vormachen - wird der weltweite Energieverbrauch steigen, während gleichzeitig die Ölreserven abnehmen. Noch verbraucht ein US-Bürger im übertragenen Sinne über 13-mal so viel Erdöl wie ein Mensch in
China und über 26-mal so viel wie ein in Indien lebender
Mensch. Das wird sich ändern. Auch Chinas Nachfrage
nach Öl ist in den letzten drei Monaten um 18 Prozent
gestiegen.
Dabei ist aber eines klar: Entwicklungsländer dürfen
und wollen nicht die Fehler wiederholen, die die Industrieländer bisher bei ihrer Energieversorgung gemacht
haben, denn das hält unser Globus nicht aus. Der Klimawandel würde sich dann noch weiter beschleunigen. Es
gibt also keine Alternativen zu erneuerbaren Energien
und zur Steigerung ihrer Effizienz. Außerdem bringt der
Einsatz erneuerbarer Energien riesige Vorteile für Entwicklungsländer mit sich. Dieser leistet einen Beitrag
zur Armutsbekämpfung, wirkt dem Klimawandel entgegen und macht alle Volkswirtschaften, die der Industrieund der Entwicklungsländer, unabhängiger vom Öl.
Hierfür ein Beispiel: Allein die Haushalte von Entwicklungsländern würden um 60 Milliarden US-Dollar
entlastet - eine gigantische Summe -, wenn sie nicht die
Mehraufwendungen für den gestiegenen Ölpreis zu tragen hätten. Übrigens ist der Betrag fast so hoch wie die
Summe der Gelder, die von den Geberländern für offizielle Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet wird.
Sie sehen also, welchen Spielraum die Haushalte von
Entwicklungsländern durch höhere Unabhängigkeit vom
Öl erhielten.
({2})
Viertens. Erneuerbare Energien schaffen qualifizierte
Arbeitsplätze, hier und in den Partnerländern. Sie sind
überall verfügbar. Es gibt keine Kämpfe um sie. Außerdem sind sie dezentral einsetzbar; das ist besonders
wichtig für die Versorgung ländlicher Regionen, in denen es keine Stromnetze gibt. Wir als Bundesregierung
haben - so hat es Bundeskanzler Schröder im Jahre 2002
in Johannesburg auch zugesagt - für fünf Jahre, vom
Jahr 2003 bis zum Jahr 2007, den Partnerländern rund
1 Milliarde Euro zur Förderung erneuerbarer Energien
und zur Steigerung ihrer Effizienz zugesagt. Das Entwicklungsministerium ist augenblicklich mit 157 Vorhaben in 39 Ländern aktiv. Das heißt, Deutschland kündigt
seine Verpflichtungen an; es löst aber seine Verpflichtungen auch ein. Und diese Verpflichtungen liegen im
wahrsten Sinne des Wortes auch in unserem eigenen Interesse; denn auch wir wollen davon profitieren, dass der
Klimawandel aufgehalten oder ihm wenigstens entgegengewirkt wird.
Auf der Konferenz in Bonn werden wir weitere Initiativen vorstellen. Wir werden, wie wir es nennen, eine
Reihe von Leuchttürmen für den deutschen Aktionsplan beisteuern: eine Initiative „Geothermie für Entwicklung“, eine afghanisch-französisch-deutsche Initiative „Nachhaltige Energie für Wiederaufbau und
Entwicklung“, Public Private Partnerships für nachhaltige Energie zur Unterstützung kleinerer und mittlerer
Energieunternehmen in Subsahara-Afrika sowie eine
Energiepartnerschaft zwischen unserem Ministerium
und der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank, um in
dieser Region den Ausbau erneuerbarer Energien voranzubringen.
Fünftens und letztens: Wir drängen darauf, dass die
Weltbank eine Bank zur Förderung erneuerbarer Energien wird. Bisher haben diese bei ihr nur einen Anteil
von 6 bis 10 Prozent. Das ist absolut unzureichend. Wir
wollen, dass dieser Anteil drastisch gesteigert wird. Damit könnte eine deutliche Stärkung der Förderung erneuerbarer Energien in der Welt bewirkt werden.
({3})
Zum Schluss, Frau Präsidentin. Nach einer aktuellen
Umfrage vom Mai dieses Jahres sind in Deutschland laut
Allensbach 62 Prozent der Befragten für eine verstärkte
Förderung der Energie aus Sonne, Wind und Wasser.
Deshalb ist meine feste Überzeugung: Erneuerbare Energien sind die Energieform der Zukunft. Wir haben auf
diesem Globus unendlich viel dieser erneuerbaren Energien. Dieser Überfluss schont unsere Umwelt, schafft
Frieden und fördert Entwicklung und Sicherheit.
Die ökologische Gestaltung der Globalisierung gelingt nur mit erneuerbaren Energien. Die Generationen
heute, aber zumal die nach uns kommenden Generationen werden es uns danken, wenn wir die Weichen richtig
stellen. Die Konferenz, die nächste Woche stattfindet,
dient diesem Ziel. Wir hoffen auf einen großen Erfolg
und freuen uns über die hohe Zahl von über
2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, um eine neue
Energiezukunft weltweit anzustoßen und zu beginnen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, dass wir mit dem gerade angesprochenen Thema, das Frau Wieczorek-Zeul einleitend behandelt hat, eines der wesentlichen Instrumente
aufgreifen, die wir in Zukunft nutzen müssen, um weltweit zu mehr Klimaschutz und Klimavorsorge zu kommen. Deshalb werden wir bei dieser Konferenz unseren
Beitrag leisten und gleichzeitig dafür sorgen, dass dabei
die internationalen Aspekte besonders berücksichtigt
werden.
Lassen Sie mich hinzufügen, dass wir aber natürlich
darauf achten werden, dass wir zur Gesamtlösung der
Klimaschutzproblematik eine Effizienzverbesserung
bei allen Energieträgern weltweit brauchen. Nach unserer Auffassung können wir einen wirklichen Beitrag zur
Lösung des Klimaproblems, das eine echte Bedrohung
darstellt und deshalb dringend gelöst werden muss, nur
dadurch leisten.
Wir müssen uns heute gleichzeitig mit der Einführung
des Emissionshandels und dessen Kernstück, dem Gesetz über den Nationalen Zuteilungsplan, den Nationalen
Allokationsplan, auseinander setzen. Dieses Gesetz ist
nicht nur ein umweltpolitisches, sondern es hat auch
ganz erhebliche Bedeutung in Bezug auf die Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb
hätte ich mir eigentlich gewünscht, dass wir mehr Zeit
gehabt hätten, uns mit diesem Gesetz hier zu befassen.
({0})
Wenn das Gesetz so durchgepeitscht wird, dass man
nicht einmal zwei Stunden Zeit hat, um ganz wesentliche
Änderungsanträge von gravierendster Bedeutung im
Kontext einigermaßen durchzuprüfen, wird das der Sache nicht gerecht.
({1})
Auch Ihren Hinweis, dass Sie auf europäischer Ebene
eine Verpflichtung eingegangen sind, kann ich nicht gelten lassen, wenn ich im internationalen Vergleich sehe,
Dr. Klaus W. Lippold ({2})
dass nur vier Länder der Europäischen Union ein solches
Gesetz pünktlich eingereicht haben. Ich kann das auch
deshalb nicht gelten lassen, weil Sie sich bei der Erfüllung anderer EU-Zielsetzungen, zum Beispiel dem Stabilitätsgesetz, nicht nur Zeit lassen, sondern die Regelungen dieses Gesetzes bewusst übertreten und sagen,
dass Sie sie auch in Zukunft übertreten werden. Hier
wäre mehr Zeit angebracht gewesen, um eine Verbesserung der Situation zu erreichen.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei der Umsetzung des Emissionshandels hat die Union besonderen
Wert darauf gelegt, dass der Aspekt, dass vorsorgender
Umweltschutz mit Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzsicherung vereinbar ist, in den Vordergrund gestellt
wird. Ich sage ganz deutlich, dass wir sehr zufrieden
sind, dass es gelungen ist, im Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz einen Passus zu verankern, der für neu zu
gründende Unternehmen ebenso wie für Betriebserweiterungen hinreichend Emissionsberechtigungen vorsieht.
Das bedeutet, dass es auch in Zukunft keine Behinderungen geben wird, wenn sich neue Unternehmen in
Deutschland ansiedeln wollen und Arbeitsplätze schaffen wollen oder wenn bestehende Unternehmen ihren
Betrieb erweitern wollen.
Wir waren ganz eindeutig der Meinung, dass die von
Ihnen bisher vorgesehene Reserve dafür nicht ausreicht,
vor allen Dingen weil wir nach wie vor einen Berg von
mindestens 4,5 Millionen Arbeitslosen zu bewältigen
haben, was mit einer so knappen Reserve nie hätte gelingen können.
({4})
Wir werden natürlich auch deutlich machen, dass es
wichtig ist - wir sind uns nach den bisherigen Prüfungen
aber nicht ganz sicher, ob das erreicht wurde -, Wettbewerbsnachteile gegenüber dem europäischen Ausland
auszuschalten. Wir müssen deutlich sagen, dass das Gesetz, wie Sie es gestaltet haben, für eine Reihe von Branchen zu ganz erheblichen Schwierigkeiten führt. Dabei
handelt es sich um Branchen wie zum Beispiel die
Zementindustrie, die in Deutschland wesentlich modernere Anlagen, als sie weltweit zu finden sind, betreibt,
was zu wesentlich höheren Emissionsminderungen
führt. Trotzdem wird dieser Industriezweig mit Auflagen
konfrontiert, die er nicht erfüllen kann. Wenn die Konsequenz aus dem Gesetz ist, dass in Deutschland keine Anlagen mehr gebaut werden oder Anlagen stillgelegt werden, dann muss man sagen, dass dies nicht dem
Umweltschutz dient; denn Anlagen in anderen Ländern
weisen wesentlich stärkere Emissionen auf. Deswegen
muss dieser Teil genau überdacht und geprüft werden.
({5})
Wir hatten bei Ihnen gelegentlich durchaus den Eindruck, dass die Vorstellung für Sie nicht unangenehm
wäre, wenn es in Deutschland bestimmte Industriezweige nicht mehr geben würde. Es gäbe dann die entsprechenden Emissionen nicht mehr und Sie könnten Ihr
einseitiges umweltpolitisches Ziel erreichen. Diese Haltung kann unserer Gesamtverantwortung nicht gerecht
werden. Wir werden dafür sorgen, dass diese Verhältnisse nicht so bleiben.
({6})
Wir wollen auch nicht, dass durch die Art und Weise,
wie Sie das Gesetz ausgestaltet haben, in der Bundesrepublik Deutschland spezifische Energieträger wie zum
Beispiel Steinkohle oder Braunkohle benachteiligt werden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass wir weltweit sowohl Öl als auch Steinkohle und Braunkohle in absehbarer Zeit noch nutzen müssen. Wenn es uns in
Deutschland gelingt, hier die effizientesten Technologien zu schaffen, dann leisten wir erstens einen Beitrag
zum vorsorgenden Klimaschutz und zweitens einen Beitrag zur Exportstärkung und damit zur Sicherung unserer
Arbeitsplätze. Das ist ganz entscheidend. Hier gibt es
Ansatzpunkte, bei denen Sie noch nachbessern müssen.
Es ist uns gelungen, wenigstens für ein Bundesland Regelungen durchzusetzen - gegebenenfalls werden diese
Regelungen noch zwei andere Bundesländer betreffen -,
die die weitere Nutzung der Braunkohle sicherstellen.
Ich halte das für ausgesprochen notwendig und wichtig.
Es gibt noch Positionen, die wir einfordern müssen,
die sich aber im Moment noch nicht genau überschauen
lassen. Die Erfüllung der Zielsetzungen durch das Treibhausgasemissionsgesetz und durch den Nationalen Allokationsplan erfordert, dass wir Instrumente, die wir in
diesem Hause gemeinschaftlich auf Initiative der Union
geschaffen haben - ich nenne Clean Development
Mechanism und Joint Implementation, also die gemeinschaftliche Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen -,
in ihrer vollen Breite nutzen und ihre Anwendung nicht
stärker als andere Länder beschränken.
({7})
Die Instrumente müssen funktionsfähig bleiben; sonst
hat die Einführung von Joint Implementation und Clean
Development Mechanism keinen Sinn.
Dies sind nicht die einzigen Positionen, um die es
geht. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir in
Zukunft eine faire Auseinandersetzung mit den anderen
Sektoren führen können, in denen noch Emissionsminderungen vorgenommen werden müssen. Wir dürfen dabei nicht nur über Minderungen im Energiebereich und
im Industriebereich nachdenken. Es fehlt nach wie vor
ein entsprechender Ansatz, um zum Beispiel im Altbaubestand wesentlich schneller mit dem Klimaschutz voranzukommen, als das derzeit zu beobachten ist.
({8})
Wir haben immer noch die Positionen vor Augen, die
Sie in Ihre Parteiprogramme und auch in Ihr Regierungsprogramm aufgenommen haben, insbesondere zur steuerlichen Förderung. Wir wären dankbar, wenn Sie diese
Positionen sozusagen aktivieren würden, damit wir hier
einen ganz großen Schritt vorankommen und uns nicht
nur auf dieses Segment beschränken müssen. Wir brauchen ein klares und allumfassendes Konzept; sonst
Dr. Klaus W. Lippold ({9})
haben wir nicht die Möglichkeit, Emissionsminderungen
so schnell zu erreichen, wie wir dies wollen.
({10})
Lassen Sie mich noch kurz sagen - ich will in diesem
Zusammenhang nur einen Aspekt nennen -, dass unser
Energiemix nach wie vor die Kernenergie mit einschließen wird. Es ist schon erstaunlich, wie sich weltweit die
Denke ändert. Es gibt hervorragende grüne Denker, wie
zum Beispiel James Lovelock, Urgestein in der Klimaschutzvorsorge und Grüner im wahrsten Sinne des Wortes, der die vorsorgende Klimaschutzpolitik weltweit
ganz maßgeblich mit beeinflusst hat.
({11})
Dieser Grüne sagt aber, dass Sie in Ihrer ideologischen
Festlegung auf den Kernenergieausstieg „misleaded“
- auf gut Deutsch: irregeleitet - sind. Ich kann mich dem
nur anschließen. Angesichts dessen, dass es in diesem
Land 84-Jährige gibt, die die geistige Beweglichkeit haben, bei der Anpassung an neue Probleme mit neuen
Antworten zu arbeiten, sollten auch Sie, die Sie die 84
noch nicht erreicht haben, die nötige Flexibilität besitzen, um sich entsprechend anzupassen.
({12})
Mein letzter Satz. Manchmal weisen Ihnen ja die internationalen Gurus den Weg. Ich erinnere mich daran,
dass Sie uns in früheren Jahren, wenn wir über nachwachsende Wälder und Holzplantagen gesprochen haben, abgebürstet haben. Als dann Ihr anderer Guru aus
Brasilien, Lutzenberger, der frühere Umweltminister von
Brasilien, gesagt hat, dies sei ein sinnvolles Instrument,
da konnten wir beobachten, dass Sie Ihre Denke geändert haben. Ändern Sie jetzt Ihre Denke, da ein anderer
Guru sagt, was richtig ist! Das wird Ihnen gut tun und
das wird auch unserem Land nutzen.
({13})
Ich werde einmal eine Doktorarbeit über die Länge
der letzten Sätze schreiben. Das wird lustig.
({0})
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Jürgen
Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die einen halten sich wie Herr Lippold an Gurus. Manche gehen ins Kino und schauen sich „The Day after Tomorrow“ an. Ich glaube, wir sind uns aber darin einig, dass
wir im Klimaschutz vorankommen müssen und dass
beim Thema Klimaschutz die Energiewende eine ganz
zentrale Rolle spielt. Hier hat die Koalition in den letzten
Jahren entscheidende Weichen gestellt: von der Ökosteuer über den Atomausstieg, das Erneuerbare-Energien-Gesetz - ich bin froh, dass es auf einem guten Weg
zu sein scheint - und die Energieeinsparverordnung bis
zum Emissionshandel. Dass wir damit auf dem richtigen
Weg sind, belegt der Umstand, dass Russlands Präsident
nunmehr in Aussicht gestellt hat, das Kioto-Protokoll
zu ratifizieren. Damit kommt erstmalig ein völkerrechtlich verbindlicher Deckel auf die Treibhausgasemissionen.
Hierzu passt das Instrument des Emissionshandels.
Der Emissionshandel macht den Klimaschutz effizient.
({0})
Wir rechnen mit Einsparungen von 500 Millionen Euro
für die Unternehmen in den ersten beiden Handelsperioden. Aber er ist auch ein Paradigmenwechsel; denn erstmalig wird der Ausstoß von CO2 absolut gedeckelt. Wir
haben mit dem Entwurf, den wir hier vorgelegt haben,
erneut die Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutschland beim Klimaschutz unterstrichen.
Wir sind auf dem Weg der Zielerfüllung sehr weit. Bis
2012 müssen wir den CO2-Ausstoß noch um
17 Millionen Tonnen reduzieren. Wir haben, obwohl wir
diesen Weg schon ein ganzes Stück zurückgelegt haben,
gesagt: Wir wollen, dass schon in der ersten Handelsperiode - damit unterscheiden wir uns von vielen anderen
Mitgliedstaaten in der Europäischen Union - auch von
der Industrie und dem Verkehr Reduktionen erbracht
werden. Wir haben einen Erfüllungsfaktor von 2,91 Prozent.
Wir belohnen den Ersatz alter Technik durch moderne, effizientere Technik und machen im Gegenzug
alte Technik unrentabel. Braunkohlekraftwerke mit einer
Effizienz von 32 Prozent und weniger müssen ab 2010
zusätzlich um 15 Prozent reduzieren.
Sie sehen: Schon vor In-Kraft-Treten dieses Gesetzes
wirkt die Mischung aus Übertragungsregel und Malusregel. Es wird bei Grevenbroich ein neues Braunkohlekraftwerk geben. Diese Anlage wird 45 Prozent effizienter sein als die dafür im Gegenzug stillzulegenden
Anlagen der RWE in Frimmersdorf. Deutschland spart
allein dadurch 2 Millionen Tonnen CO2 ein. Ich sage Ihnen: Das ist ein Ergebnis der ambitionierten Klimaschutzpolitik dieser Koalition.
({1})
In der nächsten Woche werden 1 000 Delegierte und
1 000 Delegationsmitglieder aus über 100 Staaten nach
Bonn kommen, um diese in Deutschland vollzogene
Energiewende zu besichtigen. Dabei stehen die erneuerbaren Energien im Mittelpunkt. Sie sind in dreifacher
Hinsicht eine Win-win-Option:
Sie tragen nachhaltig zum Klimaschutz bei. Bereits
jetzt werden dadurch 53 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr
eingespart. Im Jahr 2010 werden es 85 Millionen Tonnen
CO2 sein. Die erneuerbaren Energien bringen Dynamik in
den Arbeitsmarkt und steigern die Wettbewerbsfähigkeit.
Bereits heute arbeiten in Deutschland 120 000 Menschen
in dieser Branche. Gutachter und Wissenschaftler sagen,
wenn sich unser heutiger Umsatz in Höhe von
10 Milliarden Euro in Deutschland und aufgrund der
Exportchancen, die die erneuerbaren Energien eröffnen,
vervierfacht, dann können bis zu 400 000 Menschen im
Jahr 2020 in dieser Branche Beschäftigung finden.
In diesen Tagen, in denen einige ihr Auto wegen der
steigenden Ölpreise mit Aufklebern verunzieren, ist eines besonders wichtig: Die erneuerbaren Energien vermindern die Abhängigkeit unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft von diesem einzigen Gut, dem Öl.
({2})
Aus diesem Grund sagen wir: Wir müssen diese Technik weltweit voranbringen. Eine sichere Zukunft, auch
im Sinne von Sicherheitspolitik, beruht auch auf dem
massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Diese
Energien müssen aber billiger und wettbewerbsfähiger
werden. Deshalb hat der Bundeskanzler auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung gesagt, wir wollen in
den nächsten fünf Jahren eine halbe Milliarde Euro zur
Förderung von erneuerbaren Energien in den Entwicklungsländern ausgeben. Allein im letzten Jahr wurden
Zusagen für neue Projekte in einer Größenordnung von
ungefähr 100 Millionen Euro gemacht.
Deswegen beteiligt sich die Bundesrepublik Deutschland an der Global Market Initiative zum Bau von
5 000 Megawatt solarthermischer Kraftwerke im Sonnengürtel der Erde und deswegen fördern wir über Instrumente wie das EEG die Technologieentwicklung in
Deutschland, dabei haben wir insbesondere die Massenproduktion im Blick. Ich will auf eines hinweisen: In den
letzten Jahren hat sich in Deutschland nicht nur die Photovoltaikleistung versechsfacht, sondern im gleichen
Zeitraum sind die Kosten für die einzelnen Einheiten
auch um 40 Prozent gesunken.
Solche Initiativen und Vorstöße sollen auf der Konferenz „Renewables 2004“ in Bonn das Aktionsprogramm
prägen. Wir wollen den allgemeinen Satz „Der Ausbau
der erneuerbaren Energien soll signifikant gesteigert
werden“ mit einem konkreten Aktionsprogramm und
konkreten Finanzzusagen und Zielsetzungen, wie sie die
EU und Südamerika verwirklicht haben, unterlegen. Das
ist eine gewaltige Aufgabe. Aber wir wollen unser Ziel
erreichen, ungefähr 1 Milliarde Menschen in den nächsten Jahren Zugang zu Energie zu verschaffen. Die Energiewende in Deutschland belegt: Effizienz, Energiesparen und erneuerbare Energien helfen dem Klima,
modernisieren den Standort Deutschland und stärken unsere Wettbewerbsfähigkeit. In diesem Sinne freue ich
mich, Sie alle in der nächsten Woche in der UN-Stadt begrüßen zu dürfen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bereits seit Mitte der 80er-Jahre setzt sich die FDP für
den Emissionshandel ein. Wir haben stets die Einmischung der Bundesregierung auf europäischer Ebene gefordert, wenn die Spielregeln in Europa für den Emissionshandel festgelegt werden. In diesem Punkt haben
Sie, Herr Trittin, versagt. Sie haben diese Warnung ignoriert und sich in keiner Weise darum gekümmert.
({0})
Ich finde das, was heute hier passiert, wieder einmal
bezeichnend. Wir debattieren heute über den Emissionshandel. Das Herzstück des Emissionshandels, das Zuteilungsgesetz, haben wir heute hier zu beraten. Das wäre
eigentlich eine eigene Debatte wert. Aber was machen
Sie? Es werden wieder Entschließungsanträge zu erneuerbaren Energien, die Sie längst hätten einbringen können und wo Sie längst hätten handeln können, hier mit
auf die Tagesordnung gesetzt. Das machen Sie ausschließlich deshalb, weil Sie versuchen wollen, die Probleme, die Sie beim Emissionshandel schaffen, zu vertuschen.
({1})
Aber das gibt mir die Chance, auf ein weiteres Versäumnis der Bundesregierung hinzuweisen, Herr Trittin
und auch Frau Wieczorek-Zeul. Sie haben es nämlich
versäumt, die Bundesrepublik Deutschland auf die Nutzung der so genannten flexiblen Instrumente des KiotoProtokolls vorzubereiten und einzustellen.
({2})
Mit dem Clean Development Mechanism und der
Joint Implementation haben wir Möglichkeiten, in Entwicklungs- und Schwellenländern zu investieren, weil
dort eine Reduktion der Emissionen von CO2 zu deutlich
geringeren Kosten möglich ist. Da Emissionen an den
Grenzen nicht Halt machen, wäre es sinnvoll, dort zu investieren, weil wir für die Verbesserung des Weltklimas
dadurch deutlich mehr erreichen können.
({3})
Da - das muss ich Ihnen sagen - verweigern Sie sich
nach wie vor. ({4})
Sie verhindern damit auch den Technologietransfer in
Entwicklungsländer. Sie entwickeln in Ihrem Entwicklungshaushalt Spezialprogramme; aber Sie müssen die
Dinge verknüpfen. Dann wären sie sehr viel effizienter
und wirkungsvoller. Sie haben damit die Chance nicht
nur für den Technologietransfer in Entwicklungs- und
Schwellenländer verpasst, sondern auch für eine Exportoffensive für erneuerbare Energien aus Deutschland. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
({5})
Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich es noch viel
schlimmer finde, dass Sie das offensichtlich auch jetzt,
wo es einen gemeinsamen Standpunkt des Europäischen
Rates darüber gibt, dass diese Instrumente mit dem europäischen Emissionshandel verknüpft werden sollen, also
mithin Kostenreduktionspotenziale auch für den Emissionshandel in Europa und in Deutschland erschlossen
werden sollen, wieder nicht in das Gesetz aufnehmen. Es
ist klar, welche Entwicklung es in Europa geben wird.
Lassen Sie es uns einfach machen! Dass Sie das nicht
machen und auch nicht vorsehen, können wir nicht akzeptieren. Das bedeutet eine eklatante Wettbewerbsverzerrung, die wir nicht akzeptieren werden. Sie werden
von Europa gezwungen werden, das in Deutschland einzuführen.
({6})
Ein weiterer Punkt, Herr Trittin: Bei der heutigen Diskussion über die Einführung des Emissionshandels geht
es um nicht weniger als die Umstellung in der Umweltpolitik von der bisherigen reinen Ordnungspolitik hin
zu einem marktwirtschaftlichen Instrument. Das ist ein
ganz wichtiger Prozess und etwas derart Neues, dass
man die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren darauf
hätte vorbereiten müssen. Das haben Sie verpasst. Bisher
dachten wir, Sie hätten das verschlafen. Seit dieser Woche wissen wir aber, dass es wohl Absicht war. Wie anders erklären Sie die Art und Weise, wie Sie vorgegangen sind? Sie haben ein beispielloses Chaos angerichtet.
Bis kurz vor der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes
heute hier, bis kurz vor der Beratung im Umweltausschuss haben Sie einen Änderungsantrag nach dem anderen mit hektischen Verschlimmbesserungen gestellt,
({7})
sodass es zum Schluss Dienstagnacht fünf Pfund Änderungsanträge gab, mit denen Sie nahezu alle Paragraphen Ihres eigenen Gesetzentwurfes geändert haben.
Das ist die Realität und das ist keine angemessene Vorgehensweise bei der Einführung eines so wichtigen Instruments.
({8})
Das macht eine seriöse Beratung unmöglich und - das
ist noch viel schlimmer - es schafft eine Situation, in der
selbst Experten nicht mehr sagen können, wie sich das
Gesetz auf betroffene Unternehmen und auf die Arbeitsplätze auswirken wird. Das ist unzumutbar und wird
bald dazu führen, dass nachgebessert werden muss. Dies
führt zu Verunsicherungen bei Betroffenen. Sie sorgen
für ein Fiasko. Für die Probleme, die sich aus diesem
Verfahren ergeben, und für das, was beim Emissionshandel hinterher nicht funktioniert, tragen ausschließlich Sie
von Rot-Grün die Verantwortung.
({9})
In der Beratung in dieser Woche wurden Sondertöpfe
und Spezialregelungen noch einmal ausgeweitet und
verkompliziert. Das bringt Nachteile insbesondere für
kleine und mittlere Unternehmen, weil der dadurch erzeugte bürokratische Aufwand diese relativ stärker belastet als große Unternehmen.
Sie haben es geschafft, den Vorteil des Emissionshandels in einen Nachteil zu verwandeln. Sie haben aus einem staatsfernen, dezentralen und liberalen Instrument,
das Klimaschutz zu minimalen Kosten erreicht, ein bürokratisches Monstrum gemacht.
({10})
Ihre Regelungen sind ungerecht, weil Sie Gleiches
ungleich behandeln, beispielsweise Altanlagen und Neuanlagen. Altanlagen werden deutlich besser als Neuanlagen mit Emissionsrechten ausgestattet. Sie sagen, damit
wollen Sie einen Anreiz für Investitionen schaffen. Aber
das schafft das Instrument des Emissionshandels sowieso; denn genau das ist Sinn und Zweck des Emissionshandels. Hier betreiben Sie also keine Investitionsförderung. Vielmehr belohnen Sie die Langsamen,
diejenigen, die bisher nichts getan haben, und bestrafen
diejenigen, die bereits bisher etwas getan haben. Das tragen wir nicht mit.
({11})
Ohne vernünftigen Grund haben Sie eine glatte Dreifachförderung der Kraft-Wärme-Kopplung eingeführt. Jetzt wird die Kraft-Wärme-Kopplung nicht nur
durch das KWK-Gesetz, sondern auch noch auf zweifache Weise durch die Regelungen des Zuteilungsgesetzes,
die Zuteilung von mehr Emissionsrechten, gefördert.
Dafür stehen Ihnen zwei Fördertöpfe zur Verfügung: sowohl die Early Actions als auch die Regelungen des § 14
Abs. 1 Zuteilungsgesetz, in dem es um die Effizienz
geht. In dieser Woche haben Sie das Kumulationsverbot
aufgehoben, das ursprünglich im Gesetz stand. Das bedeutet, dass die Kraft-Wärme-Kopplung jetzt aus drei
Töpfen gefördert wird. Das ist nichts anderes als die
schamlose Klientelpolitik von Rot-Grün.
({12})
Dafür musste zulasten anderer der so genannte Erfüllungsfaktor geändert werden. Sie haben die Neuregelung
eingeführt, dass die Zuteilung von Emissionsrechten
rückwirkend gekürzt werden kann. Da frage ich Sie: Wer
soll vor dem Hintergrund der Rechtsunsicherheit, dass
ihm einmal Zugeteiltes vielleicht wieder weggenommen
werden kann, eigentlich in diesem Land investieren?
({13})
Aber damit noch nicht genug. Durch die trittinschen
Zugeständnisse ergeben sich Verschiebungen. Es sind
also in anderen Bereichen mehr Einsparungen nötig, beispielsweise bei den privaten Haushalten und im Verkehrsbereich. Dies führt zu noch unbezifferbaren Mehrbelastungen. Weil Sie dies - das ist absehbar - auf
ineffiziente Weise über die Ökosteuer organisieren werden,
({14})
kann ich Ihnen nur sagen: Eine solche Mehrbelastung
der privaten Haushalte werden wir nicht mittragen.
({15})
Wir sind der Meinung, dass Doppelbelastungen aus
der Ökosteuer und dem KWK-Gesetz zumindest für diejenigen, die am Emissionshandel teilnehmen, abgeschafft werden müssen. Eine solche Doppelbelastung ist
nicht gerechtfertigt. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar:
Der Gesetzentwurf, den Sie uns hier vorlegen, ist die
größte umweltpolitische Enttäuschung der letzten Jahre
in Deutschland.
({16})
Die FDP will den Emissionshandel als unbürokratisches,
effizientes Instrument. Das bürokratische Monster, das
Sie uns hier vorlegen, werden wir aber nicht mittragen.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Scheer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
nächsten Woche wird nicht nur die Internationale Regierungskonferenz durchgeführt, sondern am 2. Juni findet
auch das Internationale Parlamentarierforum statt, zu
dem der Deutsche Bundestag eingeladen hat.
({0})
Als Vorsitzender dieses Parlamentarierforums möchte
ich betonen - das tue ich auch im Namen der gesamten
interfraktionellen Vorbereitungsgruppe -, dass wir dieses Forum der Parlamentarier für genauso wichtig wie
die Regierungskonferenz halten.
({1})
Denn alle Initiativen, durch die in den letzten 25 Jahren Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energien
vorangetrieben wurden - manchmal waren sie auch von
Rückschlägen begleitet -, sind letztlich aus den Parlamenten gekommen. Das gilt für das Stromeinspeisungsgesetz und seinen Nachfolger, das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Das gilt für die brasilianischen BioalkoholInitiativen wie auch für die Gesetzgebung des amerikanischen Kongresses Ende der 70er-Jahre, die leider Anfang der 80er-Jahre abgebrochen bzw. kassiert worden
ist, womit nicht nur Amerika, sondern die Welt insgesamt in diesem Bereich mindestens zwei Jahrzehnte verloren hat. Das gilt ebenso für viele Initiativen in anderen
Ländern.
Wir wollen die anderen Parlamentarier motivieren,
positive Beispiele nachzuahmen, sie ermutigen, die Initiativen auch von sich aus zu ergreifen. Diese Ermutigung
ist notwendig. Der gesamte Bereich der erneuerbaren
Energien wird von sehr vielen Mythen begleitet und ist
mit sehr vielen Barrieren konfrontiert: Ich nenne zum
Beispiel die angeblich zu hohe Kostenbelastung durch
erneuerbare Energien. Das ist aber nur eine Momentaufnahme, die für die Initialperiode erneuerbarer Energien
zutreffen mag, sie gilt jedoch mit Sicherheit nicht für die
dauerhafte Entwicklung. Denn neben dem ökologischen
Unterschied gibt es einen fundamentalen Unterschied
zwischen den herkömmlichen und den erneuerbaren Energien: Erneuerbare Energien werden, weil bei ihnen
nur Technikkosten anfallen und nicht mehr Brennstoffkosten - außer bei der Bioenergie, da ist das anders -,
mit der weiteren technischen Entwicklung und mit der
Massenproduktion solcher Technologien immer billiger
werden. Das zeigen 200 Jahre technologisch-industrieller Entwicklung in allen Bereichen. Herkömmliche
Energien werden dagegen immer teuerer werden; sie
kommen in die Erschöpfungsphase und die Umweltlasten werden immer gravierender und müssen ja schließlich auch von der Gesellschaft - wenn nicht heute, so
spätestens morgen, von der nächsten Generation - bezahlt und getragen werden, was gegen das Prinzip jedweden Generationenvertrages ist.
({2})
Vor diesem Hintergrund ist diese Motivierung unglaublich wichtig.
Was können die Regierungskonferenz und das Parlamentarierforum leisten? Bei beiden Anlässen handelt es
sich nicht um eine Konferenz von Staaten mit dem Ziel
eines internationalen Vertrages; es handelt sich auch
nicht um einen Beschlusskörper einer internationalen
Organisation, auch nicht des UN-Systems. Vielmehr
handelt es sich um freiwillige Zusammenkünfte: Auf der
Regierungskonferenz werden 87 Regierungen vertreten
sein, beim Parlamentarierforum 75 Parlamente. Jeder ist
aus freien Stücken gekommen. Es geht jetzt also nicht
darum, bürokratisch um jedes Komma zu streiten, sondern es geht um die Impulsgebung; es geht darum, zu
zeigen, was wirklich möglich ist, die Augen zu öffnen,
die Mentalität der Zurückhaltung gegenüber erneuerbaren Energien - die natürlich auch bis weit in die Politik
reicht - aufzubrechen.
Was ist der Vorteil der Parlamentarier? Warum sind
die Initiativen von Parlamenten gekommen? Es gibt in
jedem Land eine lange Tradition - über ein Jahrhundert
lang entwickelt -, dass sich überall - wegen der strategischen Bedeutung von Energie für jede Volkswirtschaft;
weil ohne Energie nun einmal nichts geht - enge Verflechtungen, Intimverflechtungen zwischen Regierungen
und der nun einmal etablierten fossilen bzw. atomaren
Energiewirtschaft gebildet und eingespielt haben. ParlaDr. Hermann Scheer
mente sind freier von diesem Interessengeflecht; deshalb
kamen die Initiativen von daher und das wollen wir auch
anderen zeigen.
Das internationale System hat in der Frage der erneuerbaren Energien bisher - das sollten wir nicht verschweigen - versagt. Wir haben spätestens seit 1973
- durch die damalige Ölkrise - die Notwendigkeit des
Umstiegs erkannt. 1974 begannen in fast allen Ländern
der Welt die ersten Forschungs- und Entwicklungsprogramme für erneuerbare Energien; was vorher passierte,
war nicht nennenswert. Als die Ölkrise vorbei war, trat
wieder Entwarnung ein. In den 80er-Jahren gab es nur
minimalste Ansätze; ansonsten ist fast vollständig versäumt worden, etwas zu tun. Erst ab Beginn der 90erJahre ging es aufwärts - noch immer nicht unbedingt gefördert durch das internationale System.
Noch nicht einmal auf der berühmten Rio-Konferenz
ist der Zusammenhang zwischen globalen Entwicklungsproblemen und globalen Umweltproblemen, besonders dem Klimaproblem, und der heutigen Weise des
Energieverbrauchs und den jeweiligen Energiequellen,
aus denen diese Energie generiert wird, genannt worden.
Das ist aufgrund des Interessendrucks verschwiegen
worden, der natürlich auch auf solche Konferenzen einwirkt. Noch vor Johannesburg schien es fast wieder so.
Dann kam die Initiative des UN-Generalsekretärs im
Frühjahr 2002, der gesagt hat: So geht es nun wirklich
nicht. In Johannesburg standen das Thema Wasser und
das Thema erneuerbare Energien schließlich im Mittelpunkt aller Erörterungen. Das heißt, in Johannesburg hat
man sich den realen globalen Problemen erstmals angenähert.
Nun ist es unsere Aufgabe, Impulse zu setzen. Im
Rahmen dieser Konferenz müssen wir aufzeigen, welche
Möglichkeiten die erneuerbaren Energien tatsächlich
bieten. Für deren Einsatz gibt es nicht nur Umweltgründe - diese allein würden schon dafür sprechen -,
sondern auch entwicklungspolitische Gründe. Viele Länder der Dritten Welt sitzen mittlerweile in der Falle der
fossilen Energien. Sie müssen schon heute mehr für den
Import von fossilen Energien bezahlen, als sie durch den
Export einnehmen.
Hier liegt die große Chance durch erneuerbare Energien.
({3})
Wir sollten stolz darauf sein, hierzu eine avantgardistische Position einnehmen zu können.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Peter Paziorek das Wort.
Herr Kollege Scheer, ich habe um eine Kurzintervention gebeten, weil ich verhindern möchte, dass in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Frage, ob Abgeordnete aus
dem Unionslager die Resolution und Schlusserklärung
bei der Parlamentarierkonferenz unterzeichnen werden, ein falscher Eindruck entsteht.
Sie haben in Ihrer Rede die Position vermittelt - das
war für mich durchaus nachvollziehbar -, dass ein Gegensatz zwischen erneuerbaren Energien und fossilen
Energieträgern bzw. - das haben Sie nur andeutungsweise gesagt und haben in der Tat vorsichtig formuliert zwischen erneuerbaren Energien und Atomenergie bestehe. Ich habe der Vorbereitungskommission für die
Parlamentarierkonferenz angehört. Wir haben zusammen versucht, einen Resolutionstext zu erarbeiten, der
breit gefasst ist und damit allen die Möglichkeit gibt, ihn
zu unterzeichnen.
Vor dem Hintergrund Ihrer Rede muss die Öffentlichkeit darauf hingewiesen werden, dass es durchaus unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Frage gab, ob der
gesamte Energiebedarf von erneuerbaren Energien abgedeckt werden soll oder ob es nicht den verschiedenen
Staaten und Volkswirtschaften überlassen bleiben soll,
eigene Wege zur Förderung der erneuerbaren Energien
zu finden und einen eigenen Energiemix zu definieren.
Es wird weiterhin Staaten geben, die nicht ausschließlich
auf erneuerbare Energien setzen werden, sondern die
auch in Zukunft fossile Energieträger verwenden werden. Auch zur friedlichen Nutzung der Atomenergie beziehen sie unterschiedliche Positionen. Aus Klimaschutzgründen spricht aus meiner Sicht sogar vieles
dafür, weiterhin Kernenergie zu nutzen, sich aber auch
gleichzeitig für einen größeren Anteil der erneuerbaren
Energien einzusetzen.
Wir haben bei der Formulierung der Resolution einen
Kompromiss gefunden. In ihr wird keine Entweder-oderPosition bezogen, wie es in Ihren Ausführungen teilweise anklang. Die Resolution bietet durchaus eine gewisse Offenheit für die verschiedenen möglichen Wege
und für den Einsatz verschiedener Energieträger. Der gemeinsame Wille ist aber, aus Klimaschutzgründen und
aus volkswirtschaftlichen Gründen den Anteil der erneuerbaren Energien zu erhöhen.
Mir war wichtig, das hier darzustellen - bitte haben
Sie Verständnis dafür -: In dieser Resolution wurde kein
Gegensatz aufgebaut. Jede Volkswirtschaft soll vielmehr
das Recht haben, ihren eigenen Weg zu finden. Gerade
diese Offenheit in der Resolution ist der Grund dafür,
dass mehrere Abgeordnete aus dem Unionslager sie bei
der Parlamentarierkonferenz unterzeichnen können.
({0})
Bitte.
Herr Kollege Paziorek, ich bin Ihnen für Ihre Ausführungen sehr dankbar. In meiner Rede wollte ich zum
Ausdruck bringen, dass ein mentaler Aufbruch stattfinden muss, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Wir sind in diesem Bereich in Deutschland sogar relativ
weit. In der Praxis ist bei uns schon viel geschehen.
Ich habe einen ziemlich guten Überblick über das,
was in den Ländern auf den verschiedenen Kontinenten
passiert. In Deutschland sind die Koalitionsparteien in
dieser Frage deutlich weiter als die Oppositionsparteien.
Die Oppositionsparteien sind in dieser Frage aber durchaus weiter als manche sozialdemokratischen Parteien in
anderen Ländern. Vor diesem Hintergrund habe ich von
der Notwendigkeit eines Aufbruchs gesprochen.
Ich hatte keineswegs vor - das war nicht Sinn meiner
Ausführungen -, meine Betrachtungen nur nach innen
zu richten. Wir sind mittlerweile weiter als noch vor drei
Jahren. Damals gab es in der Enquete-Kommission
Schwierigkeiten in der Frage, das, was wir an Gesetzen
auf den Weg gebracht haben, als Erfolgsmeldung an die
UN zu geben. Einige waren damit nicht einverstanden,
obwohl es sich um beschlossene Gesetze handelte.
Eines ist aber klar - Sie wissen, dass ich mich bei der
Resolution dafür eingesetzt habe -: Ich bin nicht unbedingt dafür, eine Festlegung darüber zu treffen, bis zu
welchem Jahr jedes Land der Welt wie viel an erneuerbaren Energien eingeführt haben muss; deswegen habe
ich auch keinen entsprechenden Versuch gemacht. Auf
nationaler Ebene, auf der wir das in der Hand haben, gibt
es gute Gründe dafür. Ich denke aber, es wäre nicht besonders produktiv, das allgemein zu formulieren, weil
man sich dann um Kommas streiten würde. Das kann
nicht der Sinn einer Konferenz sein, die sowieso keine
verbindlichen Beschlüsse fassen kann. Es macht aber
Sinn, deutlich zu machen, was alles möglich ist, wenn
die Rahmenbedingungen stimmen.
({0})
Es gibt sehr gute praktische Vergleichsmöglichkeiten
zwischen unterschiedlichen Konzepten. Sie werden dort
diskutiert werden. Die Zahlen sprechen Gott sei Dank
für sich. Andere Betrachtungen, auch ideologischer Art,
hören dann auf.
Es ist uns allen klar, dass die Dynamik vorangetrieben
werden muss und dass es aus vielerlei Gründen - am wenigsten jedoch aufgrund des umfassenden Potenzials erneuerbarer Energien - ohnehin nicht möglich sein wird,
von heute auf morgen ein ganzes Energiesystem zu ändern. Jedes Land hat heute einen anderen Energiemix,
meistens einen herkömmlichen. Wo es die natürlichen
Bedingungen erlauben, nutzt man oft die traditionelle
Wasserkraft. Nach meiner und der Auffassung vieler anderer wird der Anteil der erneuerbaren Energien am
Energiemix auf dem Weg in die Zukunft sehr rasch ansteigen, während der Anteil der fossilen Energien parallel zu diesem Prozess reduziert wird. Am Schluss
werden dann irgendwann nur noch die erneuerbaren
Energien übrig bleiben. Das ergibt sich schon aufgrund
der Ressourcenproblematik.
Das ist jedenfalls meine Hoffnung und die Perspektive, für die ich mich einsetze. Ich glaube, dafür gibt es
auch in der Bevölkerung eine breite Unterstützung.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Girisch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung nimmt für sich in Anspruch, mit ihrem Nationalen Allokationsplan eine
Vorreiterrolle in Europa eingenommen zu haben. Diese
Selbsteinschätzung ist aus meiner Sicht falsch;
({0})
denn unter einer Vorreiterrolle verstehe ich, dass man
den anderen Ländern als Vorbild, aber auch als Vordenker dient und dass man die anderen Länder motiviert, die
Eckpunkte aus dem deutschen Allokationsplan zu übernehmen. Dies ist nachweislich nicht geschehen.
({1})
Im Gegenteil: Die Bundesregierung hat unser Land und
die bei uns vom Emissionshandel betroffenen 2 400 Anlagen durch ihr Verhalten ins Abseits manövriert.
({2})
In der EU gibt es außer Deutschland bisher nur ein
einziges Land, das den Unternehmern in der ersten Periode weniger Kohlendioxidemissionen zuteilt als in der
Basisperiode. Es kommt aber noch schlimmer: In der
Schlussberatung des Umweltausschusses ging die Bundesregierung sogar von einer Übererfüllung des deutschen Minderungsziels aus. Das zeigt deutlich: RotGrün und die verantwortlichen Minister können höchstens in einem Bereich zu Recht eine Vorreiterrolle beanspruchen, nämlich bei der Gefährdung des Standortes
Deutschland.
({3})
- Ja, man kann wohl sagen, dass die Wahrheit weh tut.
({4})
Ähnlich sieht auch die Selbsteinschätzung hinsichtlich einer zeitlichen und inhaltlichen Vorreiterrolle aus.
Wieder behauptet die Bundesregierung, dass sie diese
einnehme. Dies kann beim besten Willen niemand erkennen. Wer hier zu Recht eine Vorreiterrolle einnehmen
will, der muss mehr als nur einen von der Kommission
vorgegebenen Zeitplan für die nationale Umsetzung einer EU-Richtlinie einhalten. Rot-Grün hat dies sogar nur
auf den letzten Drücker geschafft. Der Preis für die Einhaltung der Fristen war schlicht und ergreifend zu hoch.
({5})
Es ist einfach nicht hinnehmbar, wenn der Bundestag
und insbesondere die Opposition von einer inhaltlichen
und konstruktiven Beratung des Gesetzentwurfs zum
Nationalen Allokationsplan faktisch ausgenommen werden.
({6})
Wie dies geschehen ist, will ich Ihnen kurz erläutern.
Am Montag dieser Woche fand eine öffentliche Anhörung im Umweltausschuss zum NAPG statt. Am Mittwoch, nur zwei Tage später, war die Schlussberatung im
Umweltausschuss. Die umfangreichen und gravierenden Änderungsanträge der Regierungsfraktionen lagen
erst gegen 22.30 Uhr am Dienstag vor, also am Vorabend
der Ausschusssitzung. Ich frage Sie: Wie sollen wir als
verantwortliche Abgeordnete bei einem solchen Vorgang
überhaupt eine gründliche inhaltliche Prüfung dieser Anträge vornehmen können?
({7})
Viele, die heute anwesend sind, waren in der Debatte
dabei. Sie haben doch selbst gemerkt, dass Vorschläge
der CDU/CSU-Fraktion aufgenommen wurden. Das
zeigt, dass Sie dilettantisch gearbeitet haben. Dafür gibt
es aus meiner Sicht eine schlüssige Erklärung: Die Regierungsfraktionen drücken sich bewusst vor einer sachlichen Auseinandersetzung mit den Argumenten der Opposition. Die Zeitvorgabe aus Brüssel wurde als ein
willkommener Vorwand für eine völlige Überstürzung
der Beratung missbraucht.
Wie wenig stichhaltig das Argument Zeitdruck war,
zeigt eine weitere Tatsache. Wir alle konnten in der
Presse nachlesen, dass trotz des vermeintlichen Zeitdrucks anscheinend immer noch genügend Zeit war, die
Medien vor uns über die wichtigen Änderungen zu informieren, nämlich am Nachmittag des vorigen Tages um
15.30 Uhr. Die Presse am Nachmittag und die Abgeordneten erst am Abend zu informieren, halte ich in Anbetracht der Bedeutung dieses Gesetzes für skandalös.
({8})
- Wenn Sie das für Quatsch halten, dann lesen Sie das
bitte in Ihrer eigenen Presseerklärung nach.
({9})
So viel Redlichkeit muss auch in einem Parlament sein.
Offensichtlich ist diese Verfahrensweise bei der Regierung zum System geworden. Schon bei dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, bei dem wir gemeint haben, dass
wir gut zusammenarbeiten können - wir haben die Zusammenarbeit angeboten -, sind einige Dinge nicht so
gut gelaufen, wie wir uns dies vorgestellt haben.
Ich komme jetzt zu der von Ihnen in Anspruch genommenen inhaltlichen Vorreiterrolle. Der vorliegende
Gesetzentwurf ist nicht durchdacht. Er enthält zudem
Dutzende unbestimmte Rechtsbegriffe, die entweder gar
nicht geklärt oder in späteren Rechtsvorschriften geregelt werden sollen.
({10})
Der Gesetzentwurf weist also gravierende inhaltliche
und juristische Mängel auf.
({11})
- Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Frau Gönner hat im Ausschuss eine ganz sachliche Diskussion geführt.
({12})
- Das ist widerlegt. Ich halte den Brief, den heute der
Staatssekretär geschrieben hat, nicht für redlich. Wir
werden in der nächsten Sitzung auf diese Dinge nochmals eingehen.
({13})
- Es ist klar, dass Sie ihn toll finden. Dass der Staatssekretär in der Sitzung unsere Vorschläge aufgegriffen hat,
zeigt, dass er rechtlich den falschen Weg beschritten hat.
Lassen Sie den Kollegen bitte zum Schluss kommen,
weil seine Redezeit abgelaufen ist.
({0})
Ich bin mir sicher, Sie werden in den nächsten Jahren
noch so manches Mal wünschen, bei diesem Gesetz die
Opposition stärker eingebunden oder mit ihr zusammengearbeitet zu haben.
({0})
Auf diese Weise hätten noch viele juristische, aber auch
handwerkliche Fehler korrigiert werden können.
Herr Kollege, bitte.
Sie haben stattdessen vorgezogen, die Opposition faktisch nicht am Beratungsverfahren zu beteiligen.
({0})
Sie eröffnen mit Ihrem Gesetzentwurf Tür und Tor für
eine ganze Reihe von Klagen - ({1})
Das Wort hat jetzt der Herr Minister Trittin.
Frau Präsidentin! Wir sind gebeten worden, einer
Frage nachzugehen, die Frau Gönner im Ausschuss ge-
stellt hat, nämlich ob es beim Vorliegen bestimmter Vo-
raussetzungen hinreichend sei, die einzelnen Vorausset-
zungen, die jede für sich hinreichend ist, durch ein
Komma zu trennen und anschließend ein „oder“ anzu-
hängen. Mein Staatssekretär hat Frau Gönner zugesagt,
diese Frage zu prüfen. Das Ergebnis der Prüfung will ich
Ihnen, da Sie das hier erwähnen, nicht vorenthalten. Es
ist nämlich so, dass die im Gesetzentwurf gewählte For-
mulierung korrekt ist.
Dem „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“, herausge-
geben vom Bundesministerium der Justiz, können Sie in
der neu bearbeiteten Auflage von 1999 auf Seite 51 ent-
nehmen:
Das Wort „oder“ ist immer dann zu verwenden,
wenn a) in einer Rechtsvorschrift verschiedene Vor-
aussetzungen festgelegt werden sollen oder b) an
einen Tatbestand Rechtsfolgen in der Weise angeknüpft werden,
({0})
dass jeweils nur eine von ihnen eintreten soll. Werden die einzelnen Voraussetzungen oder Rechtsfolgen durch Kommata voneinander getrennt, muss
das Wort „oder“ vor die letzte Voraussetzung oder
Rechtsfolge gesetzt werden.
({1})
Dies gilt auch bei listenförmiger Anordnung der
Aufzählung.
({2})
So weit zur Rechtsförmlichkeit, der wir in vollem Umfang nachgekommen sind und die wir auf Bitten von
Frau Gönner gerne noch einmal überprüft haben.
Das war jetzt eigentlich eine Stellungnahme zur Debatte.
Sie, Herr Girisch, möchten dazu noch etwas sagen.
Dann gebe ich Ihnen das Wort. Drei Minuten, bitte.
Herr Minister, Sie waren bei der Debatte im Ausschuss nicht anwesend. Ich muss Ihnen sagen, dass eine
ganze Galerie von Beamten dort war. Es waren noch nie
so viele Beamte aus Ihrem Hause anwesend wie bei dieser Beratung. Es waren mit Sicherheit einige Juristen dabei, die sich mit Frau Gönner an Ort und Stelle hätten
auseinander setzen können.
({0})
Die waren dazu offenbar auch nicht in der Lage.
Ich bedanke mich.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.
Ich muss schon sagen: Ich finde, dass dieses KleinKlein für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer gar
nicht nachvollziehbar ist.
({0})
Wenn Sie das aber haben wollen, dann kann ich Ihnen
Folgendes sagen: Wir sind im Ausschuss auf Sie eingegangen, als es um die Verbindung von TEHG und dem
Nationalen Allokationsplan ging, und zwar deshalb, weil
wir sicherstellen wollten, dass Sie dem TEHG im Vermittlungsausschuss zustimmen. Das haben Sie jetzt gemacht. Dafür ein herzliches Dankeschön. Das heißt, wir
sind einer Meinung. Sie bauen nur einen Popanz auf.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt zur Sache. Vor wenigen Tagen - ich glaube,
vorgestern - lief eine Umfrage vom Europressedienst
über den Ticker. Die will ich uns nicht vorenthalten. Danach sind 69 Prozent unserer Bevölkerung der Meinung,
wir müssten weg vom Erdöl. 58 Prozent sind der Ansicht, dass die jetzige wirtschaftliche Situation unmittelbar von der Entwicklung der Ölpreise abhängt.
72 Prozent meinen, dass die erneuerbaren Energien
der Ausweg sind. Ich glaube, diese Relationen zeigen,
wo die Aufgabe für uns hier im Parlament liegt. Bei aller
Wertschätzung, Herr Kollege Lippold, für James
Lovelock und seine Gaia-Hypothese: Die Leute wollen
nicht die Atomenergie, sondern sie wollen den Einstieg
in die erneuerbaren Energien. Dafür stehen wir und dafür werden wir uns einsetzen.
({2})
Wenn man diese Woche ins Kino geht, dann stößt
man auf den Film „The Day after Tomorrow“. Er behandelt den Klimawandel, allerdings nur ein Szenario, nämlich den abrupten Klimawandel. Das ist wohl nicht das
wahrscheinlichste, aber es ist ein denkbares Szenario.
Wenn die Leute in die Zeitung schauen, dann lesen sie,
dass ein Fass Öl heute 40 Dollar kostet.
Diese beiden Aspekte - die Versorgungssicherheit und
die Ressourcenverfügbarkeit einerseits und das Klima
andererseits - müssen in politischer Hinsicht zusammen
betrachtet werden. Es ist unsere Aufgabe, klar zu machen, dass die Abwendung vom Erdöl sowohl eine sehr
wichtige Klimaschutzstrategie als auch eine Strategie
zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit ist. Denn
die Sonne schickt uns keine Rechnung.
({3})
Positiv ist auch - das sollten wir nicht vergessen -,
dass Russland jetzt anscheinend bereit ist, das KiotoProtokoll zu ratifizieren, sodass dann endlich der KiotoProzess beginnen könnte. Ich bedanke mich herzlich bei
der EU-Kommission, bei Herrn Prodi und anderen, dass
sie sich dafür eingesetzt haben, Russland in den WTOVerhandlungen ein Stück weit entgegenzukommen, sodass es Russland möglich wurde, das Protokoll zu ratifizieren.
Es geht also nicht - wie es manche von Ihnen in den
vergangenen Monaten suggeriert haben - um einen
Plan B zum Kioto-Protokoll; es geht vielmehr um
„Kioto plus“. Zu diesem Plus gehört auch die Konferenz
„renewables 2004“, die in der nächsten Woche in
Deutschland stattfinden und ein sehr wichtiges Signal an
die Staatengemeinschaft aussenden wird.
({4})
Noch eine letzte Vorbemerkung: Ich halte es auch für
sehr positiv, dass der Nachhaltigkeitsrat diese Woche
als mittelfristiges Klimaschutzziel für Deutschland die
40-prozentige Kohlendioxidreduktion - ausgehend vom
Basisjahr 1990 - bis zum Jahr 2020 bekräftigt hat. Das
ist die Planungssicherheit, die für die Politik wie auch
für die Unternehmen erforderlich ist. Damit können wir
auch anderen Ländern gegenüber signalisieren, dass wir
unsere Vorreiterrolle ernst nehmen.
Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zum
nationalen Zuteilungsplan. Ich verhehle nicht, Frau
Homburger: Ich hätte mir eine einfachere und anspruchsvollere Ausgestaltung vorstellen können. Im
letzteren Fall wären Sie nicht mit im Boot gewesen, aber
was das Erste angeht, bin ich mit Ihnen einer Meinung.
Ich glaube trotzdem, dass darin sehr viele positive Elemente enthalten sind. Ich halte es zunächst einmal für einen Wert an sich, dass wir fristgerecht geliefert und gegenüber Brüssel signalisiert haben: Wir wollen, dass es
zum 1. Januar 2005 losgeht. Das ist sehr wichtig.
Ich halte es darüber hinaus für entscheidend, dass für
beide Verpflichtungsperioden Reduktionsziele vorgesehen sind. Wichtig ist auch, dass eine Übertragungsregelung gefunden wurde, die Anreize für frühe Modernisierungsinvestitionen in innovative Energietechnik bietet.
Das alles ist positiv.
Ich stelle mit einem gewissen Selbstbewusstsein fest:
Es war sehr gut, dass die Koalitionsfraktionen den Gesetzentwurf nachgebessert haben. Wir haben die Caps
- die Obergrenzen - verbindlich festgeschrieben. Das erhöht die Verbindlichkeit des Gesetzes. Die im Nationalen Allokationsplan der Regierung genannte Obergrenze
von 499 Millionen Tonnen für die erste Periode bildet
damit die Konstante. Sie umfasst alle Zuteilungen für
Alt- und Neuanlagen. Das ist im Gesetzentwurf klar geregelt und es ist richtungweisend.
Darüber hinaus haben wir eine Malusregelung in den
Gesetzentwurf aufgenommen. Nach dieser Regelung
müssen besonders alte Anlagen früher vom Netz genommen werden. Es ist doch geradezu ein Witz, dass zurzeit
noch Anlagen in Betrieb sind, die vor 45 oder gar
50 Jahren ans Netz gegangen sind. Vom Innovationsstandort Deutschland darf man wohl etwas mehr erwarten. Das haben wir im Gesetzentwurf verankert.
Auch was Sie zum Thema Early Action gesagt haben, Frau Homburger, ist nicht wahr. In den neuen Bundesländern gab es eine Ungleichbehandlung zwischen
den großen Spielern - ich will an dieser Stelle keine Namen nennen - und den Stadtwerken. Wir haben es erreicht, diejenigen, die besonders früh besonders viel gemacht haben und besonders ehrgeizig vorgegangen sind,
stärker zu belohnen als jene, die nur wenig gemacht haben. Auf gut Deutsch: Wer viel in Richtung Effizienzverbesserung und Kraft-Wärme-Kopplung getan hat,
wird belohnt. Das ist auch gut so.
({5})
Ich komme zu einem letzten Argument. Wir haben
eine Newcomer-Reserve und eine Härtefallregelung
eingeführt. Auch das ist sehr wichtig. Dadurch steigt der
Erfüllungsfaktor von 2,5, wie im Regierungsentwurf angegeben, auf 2,91. Das heißt, bis 2007 muss eine Reduktion um knapp 3 Prozent erfolgen. Wenn Sie aber so tun,
Frau Homburger, als handele es sich dabei um eine Konzession an die KWK oder die Stadtwerke, dann ist das
nicht wahr. Die Wahrheit ist, dass der Erfüllungsfaktor
zu einem Löwenanteil - ich möchte fast sagen: ausschließlich - auf die Einführung einer Härtefallregelung
im Sinne der Wirtschaft zurückzuführen ist. Wenn Sie
sich dagegenstellen wollen, dann machen Sie das bitte;
aber seien Sie dann auch ehrlich!
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Stübgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der hier zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf über den Nationalen Allokationsplan weist viele
bürokratische Unsinnigkeiten und wirtschaftsfeindliche
Aspekte auf, schädigt daneben einseitig die ostdeutsche
Industrie und fördert ebenso einseitig die nordrheinwestfälische Kohleindustrie. Aber nicht nur das: Das
Gesetz wird sich zu einem Gesetz entwickeln, das den
Transfer von Ost nach West befördert. Denn die ostdeutsche Industrie und insbesondere die bisher erfolgreiche
Braunkohleindustrie muss aus ihrer Substanz den längst
überfälligen Sanierungsbedarf der nordrhein-westfälischen Kohleindustrie finanzieren.
Es ist zwar normal in diesem Haus, dass bestimmte
Gruppen versuchen, regionale Industrieinteressen
durchzusetzen. Wir als unabhängige Abgeordnete sind
aber dazu da, den Interessenausgleich für die gesamtdeutsche Wirtschaft im Auge zu behalten. Ein derartig
skrupelloser Versuch wie in diesem Gesetzentwurf, die
nordrhein-westfälische Kohleindustrie auf Kosten der
ostdeutschen Wirtschaft zu fördern, ist mir allerdings
noch nicht untergekommen. Ich möchte Ihnen das an
drei Punkten kurz nachweisen.
({0})
- Die Länder Brandenburg und Sachsen werden im Bundesrat gegen den Gesetzentwurf stimmen und den Vermittlungsausschuss anrufen; das sage ich Ihnen voraus.
Erstens. Die ostdeutsche Industrie hat mit Beginn der
90er-Jahre, und zwar schon vor 1994, sehr erfolgreich
erhebliche Investitionen in den Umweltschutz getätigt.
Zum Teil kommt der vorliegende Gesetzentwurf mit der
so genannten Early-Action-Regelung dem entgegen. Das
Problem ist aber, dass Sie in dem Gesetzentwurf alle Investitionen, die vor 1994 getätigt wurden, ausschließen.
Somit wird von vornherein ein großer Teil der Umweltschutzinvestitionen in der ostdeutschen Industrie, insbesondere in der Braunkohleindustrie, von der Anrechnung
ausgeschlossen. Das Ergebnis wird sein, dass eine ganze
Reihe unserer ostdeutschen Industriebetriebe sehr bald
Emissionszertifikate kaufen müssen, weil Sie deren Umweltschutzinvestitionen nicht angemessen anrechnen.
Zweitens. Die Investitionen, die unter die im Gesetzentwurf vorgesehenen Early-Action-Regelung fallen
- sie ist im Grunde richtig -, werden im Verhältnis zu den
so genannten Newcomer-Investitionen schlechter bewertet. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Für einen
Braunkohlekraftwerksblock, der 1995 ans Netz gegangen ist, würde der betreffende Betreiber nach Ihrer Regelung bis 2007 den Erfüllungsfaktor 1 zugeteilt bekommen, aber auch nur, wenn seine Early Action angerechnet
wird. Das heißt, er müsste bis dahin keine Emissionsminderungen realisieren. Von 2008 an müsste dieses Unternehmen aber - davon wäre eine ganze Reihe von Kraftwerksbetreibern betroffen - auf Kosten der eigenen
Wirtschaftlichkeit Emissionszertifikate erwerben
({1})
und verlöre damit seine Marktfähigkeit.
Wenn dagegen ein Betreiber einen 40 Jahre alten
Braunkohlekraftwerksblock mit einem schlechten Wirkungsgrad und mit extrem ungünstigen Emissionswerten, der zum Beispiel im Rheinland steht und der im
wahrsten Sinne des Wortes eine Dreckschleuder ist,
2005 modernisiert, dann bekommt er - wo ist hier der
umweltpolitische Aspekt? - bis einschließlich 2023, also
18 Jahre lang, den Erfüllungsfaktor 1 zuerkannt, aber
nicht nur das: Zusätzlich bekommt er bis 2009, also vier
Jahre lang, die Emissionszertifikate auf Basis der Altemissionen der Dreckschleuder zugeteilt, die er nicht
mehr benötigt und die er für bares Geld zum Beispiel an
schlechter gestellte ostdeutsche Unternehmen verkaufen
kann. Vor diesem Hintergrund kann von Wettbewerbsgleichheit in keiner Weise die Rede sein.
({2})
- Die werden kommen.
Drittens. Auch bei der Regelung des Neubaus von
Kohlekraftwerken hat Herr Clement besonders gut aufgepasst. Es ist allgemein bekannt, dass in den nächsten
15 Jahren circa 40 neue Kraftwerke in Deutschland gebaut werden müssen.
({3})
- Selbstverständlich. - Gerade hier gäbe es günstige Investitionsmöglichkeiten für die wirtschaftlich hervorragend arbeitende Braunkohleindustrie in der Lausitz und
in Mitteldeutschland. Das Gesetz soll aber diese Investitionsmöglichkeiten verhindern; denn für den Neubau
von Kraftwerken nach 2005 - so ein Zufall, Herr
Clement! - werden als Benchmark für den Erfüllungsfaktor 1 die Emissionswerte eines modernen Steinkohlekraftwerkes zugrunde gelegt werden. Diese Werte kann
auch das modernste Braunkohlekraftwerk nicht erfüllen.
So können die Betreiber von Braunkohlekraftwerken
künftig nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Sie werden kategorisch ausgeschlossen.
Es gibt aber eine Ausnahme - das ist die größte Unverschämtheit -: Wenn man ein altes Kraftwerk schließt,
dann ist es erlaubt, auf der Basis der Newcomer-Regelung ein neues Kraftwerk zu errichten und es 18 Jahre zu
betreiben. Sie wissen ganz genau, dass in den neuen
Bundesländern kein einziges altes Kraftwerk mehr steht.
Dafür gibt es aber massenweise Dreckschleudern in
Nordrhein-Westfalen. Dieses Lobbyistengesetz ist eine
unglaubliche Unverschämtheit und geht auf Kosten der
neuen Bundesländer.
Ich habe nachgewiesen, dass dieses Gesetz eine Lex
Nordrhein-Westfalica ist, dass es kurzfristig wahltaktische Überlegungen der nordrhein-westfälischen SPD unterstützen soll und dass es langfristig die ostdeutsche Industrie schädigen wird.
({4})
Liebe Kollegen von der SPD, wenn Sie verstanden
haben, warum Sie hier im Bundestag sitzen, dann können Sie dieses clementsche Lobbyistengesetz nur ablehnen. Wenn Sie mir noch immer nicht glauben, möchte
ich Ihnen kurz aus einem Schreiben des Ministerpräsidenten Platzeck - er ist ein unverdächtiger Zeuge - an
Ihren Fraktionsvorsitzenden Müntefering von dieser
Woche zitieren:
Durch die frühzeitigen Modernisierungen in Ostdeutschland, die die Erreichung der Klimaschutzziele für Deutschland überhaupt erst ermöglichen,
haben ostdeutsche Unternehmen erhebliche Vorleistungen erbracht, die angemessen anerkannt werden müssen. … Ein Bruch dieser Zusage durch
Bundesregierung und Bundestag würde weder auf
das Verständnis der Menschen in der Lausitz noch
auf das Verständnis der Landesregierung treffen.
({5})
- Das ist überhaupt nicht gelöst. - Herr Platzeck befindet
sich übrigens im Wahlkampf. Unterstützen Sie ihn und
lehnen Sie dieses schlechte Gesetz ab!
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Kelber.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Natürlich erfordert der letzte Redebeitrag, der
aus einer Aneinanderreihung von Unwahrheiten bestand,
eigentlich eine sofortige Reaktion. Aber ich möchte einen ganz anderen Einstieg wählen.
Vor einigen Monaten war eine Parlamentarierdelegation der pazifischen Inselstaaten hier in Berlin zu Besuch
beim Deutschen Bundestag. Die Heimat dieser Menschen wird in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein.
Grund dafür ist der Klimawandel, der den Meeresspiegel
ansteigen lässt. Einige der pazifischen Inselstaaten haben mit Neuseeland bereits die Evakuierung der gesamten Bevölkerung vereinbart. Das sind sichtbare Opfer
unseres Umgangs mit Energie und Ressourcen.
Ich erwähne diese Begegnung aus zwei Gründen:
Erstens. Es gab die dringende Bitte gerade an uns
Deutsche, beim Klimaschutz nicht nachzulassen. Wir
seien eines der wenigen positiven Beispiele in der Welt.
Zweitens. Bei allen Debatten um Details des Emissionshandels, beim Feilschen um Emissionszertifikate
und beim Schachern um Sonderregelungen sollten wir
eines bedenken: Den Emissionshandel führen wir für
den Klimaschutz ein und für nichts anderes. Das scheinen manche in dieser Debatte schon längst vergessen zu
haben.
({0})
Zügiger und wirksamer Klimaschutz ist dringender
notwendig denn je. Je mehr wir wissen - das Wissen
wächst eigentlich jeden Tag an -, desto deutlicher werden die katastrophalen Folgen. Wir wissen, dass der Anstieg der Temperaturen schneller erfolgt als erwartet,
dass sich weder Fauna noch Flora daran anpassen können. Die Eisschmelze von Gletschern und an den Polen
geht schneller vonstatten und übertrifft alle Erwartungen. Der Meeresspiegel könnte nicht nur durch Schmelzwasser und Ausdehnung langsam, sondern durch Abrutschen großer Eismassen auch durchaus sprunghaft
ansteigen. Wenn das der Fall ist, dann werden wir vor
Problemen, auch vor wirtschaftlichen, stehen, die ganz
anders sind als diejenigen, die in der gesamten Debatte
darüber, was wir in den Klimaschutz investieren, eine
Rolle spielen.
Dem Süden der Welt, aber auch dem Mittelmeerraum
und dem Süden der USA drohen verstärkte Dürren.
Dem Norden der Welt drohen verheerende Hochwasser.
Haben wir eigentlich alle schon vergessen, was 2002 in
unserem eigenen Land passiert ist? Das ist auf einmal in
keinem einzigen Beitrag, weder im Umweltausschuss
noch heute, von der Opposition erwähnt worden.
({1})
Man sollte sich an dieser Stelle auch einmal fragen,
was der Zusammenbruch des Golfstroms für ein Land
wie das unsrige bedeuten kann. Erlauben Sie gerade mir
als Bonner Abgeordnetem diesen Vergleich; schließlich
liegt Berlin auf der Höhe von Südalaska.
Wir führen den europäischen Emissionshandel in
Deutschland ein, weil wir so zum Klimaschutz beitragen. Mit dem Emissionshandel stellen wir sicher, dass
die Emissionen von klimaschädlichen Gasen in Deutschland auch in den nächsten Jahren stetig zurückgeführt
werden. Wir wollen den Emissionshandel auch einführen, weil der Klimaschutz so preisgünstiger als mit anderen Mitteln erreicht werden kann. Das hat auch der Vertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie auf
der Expertenanhörung des Bundestages noch einmal betont. Er war dort von der CDU/CSU eingeladen.
Herr Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Flachsbarth?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Kelber, ohne die schlimmen Folgen eines möglichen Klimawandels in Abrede stellen zu wollen - jedes Wort, das Sie dazu sagen, kann sicherlich unterstrichen werden -, möchte ich von Ihnen gerne
erfahren, ob Sie wissen, in welchem Verhältnis die CO2Ersparnisse in der Bundesrepublik Deutschland in den
nächsten zwei Perioden zu dem Zuwachs an CO2-Emissionen, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, in
Russland oder auch in China, stehen.
Frau Kollegin Flachsbarth, die ehemalige Umweltministerin Angela Merkel - sie selbst hat damals die
international verbindlichen Zusagen zum Klimaschutz
mit unterschrieben -,
({0})
reagiert heute auf die Klimaschutzverpflichtungen, die
wir jetzt erfüllen wollen, indem sie durch die Gegend
rennt und „Das sind ja nur 0,04 Prozent“ sagt oder mit
anderen Zahlen um sich wirft. Damit meint sie eigentlich, ohne es auszusprechen, dass wir uns um dieses
Thema nicht mehr kümmern sollen. Wer so vorgeht, wer
immer sagt, sein Beitrag sei ja nur so klein und unbedeutend,
({1})
der wird seiner Verpflichtung nicht gerecht, einer weltweiten Bedrohung entgegenzutreten und zu zeigen, dass
es technologische Potenziale gibt, die Ausstrahlungskraft auch für andere Regionen haben können. Wenn wir
zum Beispiel eine neue Kraftwerksgeneration einführen
oder wenn wir neue Technologien auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien entwickeln, weil wir Klimaschutz
ernst nehmen, dann können diese neuen Kraftwerke oder
Technologien auch in anderen Ländern eingesetzt werden und dort einen Beitrag zum Klimaschutz leisten.
Ich nenne dafür ein konkretes Beispiel; Sie haben ja
China genannt.
({2})
- Sie verstehen den Zusammenhang nicht. Das hat mit
der Frage sehr viel zu tun.
({3})
- Nein. - Ein Beispiel.
({4})
- Wollen Sie die Frage beantwortet haben oder wollen
Sie dazwischenquatschen?
({5})
- Ich warte, bis Sie fertig sind und beantworte dann die
Frage von Frau Flachsbarth zu Ende.
({6})
Die chinesische Regierung hat angekündigt, dass sie
die erneuerbaren Energien mit einem Gesetz nach dem
Beispiel des deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes
fördern will.
({7})
Was wir hier sozusagen im kleinen Rahmen zum Klimaschutz gemacht haben, wird in einem Land mit
1,2 Milliarden Einwohnern fortgesetzt. Das zeigt, wie
man Klimaschutz machen kann. Man darf sich nicht zurücklehnen nach dem Motto: Mein Beitrag ist eh so
klein. Ich brauche nichts zu tun. - Frau Flachsbarth,
nicht mit uns!
({8})
Frau Präsidentin, Sie haben mir übrigens 45 Sekunden Redezeit abgezogen, als ich noch geantwortet habe.
Darauf wollte ich nur kurz hinweisen.
({9})
Ich darf Sie und die anderen Kollegen daran erinnern:
Solange ich die Leitung hier innehabe, tue ich das, wie
ich es für richtig halte. Das brauchen Sie nicht zu kritisieren.
({0})
Dafür sollten Sie sich entschuldigen.
Es war ein Fehler.
Deutschland kann seine international verbindlichen
Zusagen zum Klimaschutz, abgegeben von der Regierung Kohl und bestätigt durch SPD und Grüne, am preisgünstigsten mit dem Emissionshandel einhalten.
Niemand kann das leugnen. Jedes Unternehmen hat in
Zukunft drei einfache Möglichkeiten, seinen Beitrag
zum Klimaschutz zu leisten: Es kann selbst im vorgeschriebenen Umfang die Emissionen mindern, übrigens
auch durch Projekte im Ausland. Es kann Emissionsrechte von anderen Unternehmen zukaufen, die selber
mehr gemindert haben, als vorgeschrieben war. Es kann
selber seine Emissionen mehr reduzieren, als vorgeschrieben war, und die gewonnenen Zertifikate verkaufen. Wir führen im Klimaschutz also ein marktwirtschaftliches Instrument ein.
Ich möchte dazu eine persönliche Anmerkung machen. Auch ich hätte mir vorstellen können - damit
komme ich Ihnen ein ganzes Stück entgegen, Frau
Homburger -, dieses Instrument noch marktwirtschaftlicher auszugestalten, noch klarere Marktsignale zu setzen. Ich wundere mich in diesem Zusammenhang auch
etwas über die deutsche Wirtschaft. Erst liegt sie der Politik über Jahre in den Ohren mit der Forderung: Führt
den Emissionshandel ein! - Wenn die Politik dies macht,
wird mit aller Lobbymacht auf eine Sonderregelung
nach der anderen gedrängt. Wenn die Politik die Sonderregelungen schafft, treten dieselben Lobbygruppen auf
und sagen: Jetzt sehen wir aber zu viel Bürokratie in
dem System.
({0})
Sehr nachhaltig ist das Verhalten der Wirtschaftsverbände in dieser Frage sicherlich nicht.
Lassen Sie uns bei der Fortschreibung des Emissionshandels doch gemeinsam noch mehr auf den Markt setUlrich Kelber
zen: Jedem für die gleiche Produktion die gleiche Menge
von Zertifikaten! Veraltete Anlagen müssen dann zukaufen und neue Anlagen können, weil sie effizienter sind,
Zertifikate am Markt verkaufen und haben so einen Vorteil im Emissionshandel. Ich schätze es so ein, dass wir
bei der Fortschreibung dieses Gesetzes in 2006 oder in
2009, wenn die dritte Stufe kommt, ein breites Bündnis
dafür haben werden. Ich hoffe, dass diese Mehrheiten
auch dann noch vorhanden sind.
({1})
- Breite Mehrheiten über alle Parteien hinweg!
Wie ordnet sich eigentlich die Umsetzung des Emissionshandels innerhalb der EU ein? Herr Girisch, aber
auch andere Kollegen haben diese Frage angesprochen.
Herr Lippold - er ist leider nicht mehr da - hat von zwei
Ländern gesprochen.
({2})
Inzwischen haben aber bereits neun der alten EU-Mitgliedstaaten und zwei der neuen EU-Mitgliedstaaten ihren nationalen Allokationsplan vorgelegt. Die EU-Kommission hat zu Recht angedeutet und an bestimmten
Stellen auch schon in expliziter Form zum Ausdruck gebracht, dass sie auf die Einhaltung der EU-Richtlinie und
des Klimaschutzes in den nationalen Allokationsplänen
achten wird. Auch wir werden darauf achten, dass alle
Mitgliedstaaten die gleichen Regeln einhalten müssen.
({3})
Deutschland ist übrigens keineswegs überall Vorreiter
im Emissionshandel. Mehrere Mitgliedstaaten haben
zum Beispiel der Energiewirtschaft wesentlich höhere
Auflagen erteilt als wir in Deutschland. Dafür hat dort
die restliche Industrie mehr Freiheiten bekommen.
Großbritannien hat insgesamt einen ambitionierteren
Plan vorgelegt als Deutschland, weil man dort davon
überzeugt ist, dass Investitionen in den Klimaschutz Arbeitsplätze schaffen.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, den man erwähnen
muss, um nicht einer nationalen Selbsttäuschung zu unterliegen. Bei allem Stolz auf den Klimaschutz in
Deutschland, auf die Gemeinsamkeiten im Parlament zu
dem Thema und die Maßnahmen der letzten Jahre gilt:
Noch immer liegt unser Pro-Kopf-Ausstoß über dem
Durchschnitt der Europäischen Union, weil 90 Prozent
der Emissionsminderungen - da gebe ich dem Kollegen,
der vor mir geredet hat, Recht - in den neuen Bundesländern erbracht wurden und die ökologische Modernisierung für den Klimaschutz im Westen unseres Landes erst
noch erfolgen muss. Dafür soll auch der Emissionshandel einen Anstoß geben. Erste Erfolge können wir am
heutigen Tage schon vorweisen.
Ich komme damit zu den ökologischen Erfolgen in
der Umsetzung des Emissionshandels:
Über Bonus- und Malusregelungen motivieren wir
zur Erneuerung des deutschen Kraftwerksparks. Es ist
vorhin schon erwähnt worden: Der erste Antrag für die
Modernisierung eines Doppelblocks ist von RWE vorgelegt worden; es sollen pro Block 2 Millionen Tonnen pro
Jahr eingespart werden, also über 4 Millionen Tonnen im
Jahr, nachdem die Modernisierung erfolgt ist.
Es ist richtig, dass mit diesem Gesetz der Ausbau der
Kraft-Wärme-Kopplung auch in Zukunft gefördert wird;
sie ist nämlich besonders klimafreundlich. Wenn man
Emissionshandel betreibt, um für Klimaschutz zu sorgen, warum soll man dann nicht eine klimafreundliche
Energieart fördern?
Wir haben natürlich auch darauf geachtet, dass frühzeitig ergriffene Maßnahmen für den Klimaschutz belohnt werden. Wer in den letzten Jahren modernisiert
hat, braucht für einen Zeitraum von bis zu zwölf Jahren
nach der Modernisierung keine weitere Minderung von
klimaschädlichen Gasen erbringen. Er kann es aber tun,
dann hat er einen weiteren Vorteil im Wettbewerb mit
Betreibern alter Anlagen.
Wir haben auch darauf geachtet - das kommt gerade
den ostdeutschen Stadtwerken entgegen -, dass jeder,
der eine Reduzierung der klimaschädlichen Gase um
mehr als 40 Prozent erreicht hat, diesen Wettbewerbsvorteil sogar bis zum Jahre 2012 erhält. Das ist ein wichtiges Signal: Wer mehr tut, als der Gesetzgeber verlangt,
wird dafür belohnt. Das wird auch in Zukunft so sein.
Es wird auch - entgegen der Meinung von Wirtschaftsverbänden und Opposition - keinen Stillstand geben: Wir verlangen, dass der Ausstoß an klimaschädlichen Gasen jedes Jahr in Deutschland weiter gemindert
wird. Wir haben uns verpflichtet, in den Sektoren Verkehr und private Haushalte einen deutlichen Beitrag zu
leisten. Schließlich werden wir das Kioto-Ziel von
846 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß sogar noch um
2 Millionen Tonnen unterschreiten.
Erlauben Sie mir auch, darauf hinzuweisen, dass wir
die vielen Einsprüche, die vonseiten der unter die neuen
Regelungen fallenden Unternehmen, der Branchenvertreter und der Wirtschaftsverbände kamen, sehr ernst genommen haben und auf mögliche wirtschaftliche Härten
für sie überprüft haben.
So haben wir einige Vorkehrungen getroffen: Wer
neue Anlagen schafft, erhält Planungssicherheit. Die
Auslastung verschiedener Anlagen untereinander kann
durch Übertragung von Produktions- und Zertifikatsmengen optimiert werden. Prozessbedingte Emissionen,
also solche, die mit heutigen technischen Methoden
nicht gemindert werden können, werden gesondert berücksichtigt. Wir haben flexible Härtefallklauseln und
eine ausreichende Wachstumsreserve geschaffen. Das
haben uns auch zwei Experten auf der Anhörung bestätigt, und zwar die Vertreter des BDI und des RheinischWestfälischen Institutes, beide übrigens von der CDU/
CSU für dieses Gremium benannt.
Wir werden mit den flexiblen Instrumenten JI und
CDM unseren Unternehmen weitere Möglichkeiten
eröffnen. Als wir am Kompromiss im Ministerrat
mitgewirkt haben, haben wir nämlich gesagt, dass wir
die Richtlinie in dem Augenblick, in dem sie auf dem
Tisch liegt, in Deutschland eins zu eins umsetzen werden. Ich habe übrigens meinen eigenen Stadtwerken zu
Hause, den Bonner Stadtwerken, vorgeschlagen
({4})
- stellen Sie mir bitte eine Zwischenfrage, wenn Sie
möchten -, sich an Projekten in unseren Partnerstädten
Minsk, Yalova und Petropolis zu beteiligen und die dort
erhaltenen Zertifikate in den deutschen Markt einzubringen.
Die SPD hat in den letzten Monaten sehr viele Gespräche mit Unternehmen, Verbänden und Umweltschützern zu diesem Thema geführt. Nach dem Beschluss von
Mittwoch haben wir viele E-Mails, Faxe und Telefonate
erhalten, in denen ausnahmslos Zustimmung zur Umsetzung des Emissionshandels geäußert wurde. Eines müssen Sie sich aber anziehen, liebe Kollegen von der CDU/
CSU: Die Haltung zu Ihrem Verhalten sieht wesentlich
anders aus.
Am Mittwoch gab es die Beratungen im Umweltausschuss. Vorher sind die Kolleginnen und Kollegen von
CDU und CSU übers Land gezogen und haben Unternehmen und Verbänden Versprechungen über Versprechungen zum Emissionshandel gemacht; so hat zum Beispiel der allseits bekannte Kollege aus Ostdeutschland
gesagt, was die CDU/CSU noch alles zusätzlich für ostdeutsche Unternehmen erreichen wolle. Am Mittwoch
hätten Sie Gelegenheit gehabt, Änderungsanträge vorzulegen und die Versprechen einzuhalten, die Sie gegeben
haben.
({5})
Gab es am Mittwoch Änderungsanträge von der CDU/
CSU? Fehlanzeige! Es kam kein Vorschlag für die geforderten zusätzlichen Boni für ostdeutsche Anlagen,
({6})
und das, obwohl der Gesetzentwurf seit über einem Monat vorliegt. Das heißt, 247 Abgeordnete von der CDU/
CSU waren einen Monat lang nicht in der Lage, einen
einzigen Änderungsantrag zum Emissionshandel zu formulieren.
({7})
Das zeigt Tatenlosigkeit beim Thema Emissionshandel.
({8})
Sie hätten nämlich zugeben müssen, dass Sie Ihr Versprechen, allen alles, und das gleichzeitig, zu geben,
nicht hätten einhalten können.
({9})
Das ist der Grund, warum wir ohne Ihre inhaltliche
Beteiligung arbeiten müssen. Reden Sie sich doch nicht
damit heraus, dass Ihnen unsere Änderungsanträge zu
spät vorgelegen hätten! Sie hatten einen Monat Zeit für
Änderungsanträge und waren nicht in der Lage, an dieser Stelle einen Alternativvorschlag zu machen.
Ich möchte mich bei den Mitarbeitern der beteiligten
Ministerien, den Fraktionsreferenten, unseren Mitarbeitern und der großen Anzahl aller Beteiligten für die gute
Zusammenarbeit bei diesem Gesetz bedanken. Wir haben ein Klimaschutzinstrument geschaffen, das wirtschaftliche Härten vermeidet, Investitionen anreizen
wird und damit zu einer Jobmaschine werden wird. Ich
bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz. Sie haben
als Opposition keinen Änderungsantrag vorgelegt, also
sollten Sie heute zustimmen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und noch einmal Entschuldigung für meine ungebührliche Anmahnung, Frau Präsidentin!
({10})
Vielen Dank. - Ich wollte auch nur darauf hinweisen,
dass am Freitagnachmittag etliche Kollegen nach Hause
wollen und Züge und Flugzeuge erreichen müssen und
dass ich deswegen ein bisschen strenger darauf achte,
das Ganze nicht zu sehr ausufern zu lassen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion bekennt sich zur Förderung erneuerbarer Energien und steht damit in der Tradition dessen, was wir seinerzeit bei der Verabschiedung
des Kioto-Protokolls wesentlich mitverhandelt haben.
Wir haben hier im Grundsatz keine Differenz. Allerdings
wird der Unterschied in unserer Politik deutlich, wenn
man das Kioto-Protokoll mit dem vergleicht, was Sie mit
Ihrem Zuteilungsplan in der nationalen Umsetzung daraus gemacht haben. Sie haben das Kioto-Protokoll zum
Vorwand für eine Politik genommen, die den Industriestandort Deutschland stark gefährdet und die deswegen
von uns zurückgewiesen wird. Darauf haben die Vorredner unserer Fraktion mit Recht hingewiesen.
Ich möchte mich hier auf die entwicklungspolitischen Aspekte dieser Debatte konzentrieren und will
noch einmal deutlich machen: Die Verbindung von Entwicklungs- und Umweltpolitik wird nie so offenkundig
wie bei den Instrumenten des Joint Implementation und
des Clean Development Mechanism. Wir haben sehr
wohl die Möglichkeit, diese Instrumente in unserer nationalen Zuständigkeit stärker zu nutzen. Es wäre richtig,
sie stärker zu nutzen. Wenn Sie das aus ideologischen
Gründen nicht wollen, können Sie sich nicht hinter der
EU und ihren Vorgaben verstecken, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition.
({0})
Kollege Scheer und andere haben mit Recht auf die
Bedeutung der Konferenz in der nächsten Woche in
Bonn und auf die Parlamentarierkonferenz hingewiesen.
Ich bin dankbar, dass es, wenn auch in zähen Verhandlungen, hier gelungen ist, zu einem Resolutionsentwurf
zu kommen, den viele mittragen können, was nicht zuletzt der Hartnäckigkeit des Kollegen Paziorek zu verdanken ist;
({1})
wir haben ein durchaus ausgewogenes Bild herstellen
können.
Aber leider sieht nicht nur das, was Sie national tun,
völlig anders aus, sondern auch das, was Sie mit Ihrem
Antrag heute vorlegen. In dem Resolutionsentwurf für
die Konferenz wird zu Recht darauf hingewiesen, wie
wichtig es ist, dass die Energiekosten für die Entwicklungsländer nachträglich gesenkt werden. Es wäre
schön, wenn wir uns das auch für unsere nationale Energiepolitik zu Herzen nähmen. Sie hingegen haben mit
Ihren Maßnahmen dafür gesorgt, dass die wettbewerbsbedingten Energiepreissenkungen der letzten Jahre überkompensiert worden sind. Das ist eine Politik in genau
die falsche Richtung.
({2})
Es gibt in Ihrem Antrag durchaus bedenkenswerte
Formulierungen. Beispielsweise erklären Sie, dass Sie
die Politik für die Förderung erneuerbarer Energien in
Entwicklungsländern nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ausrichten wollen. Ich kann Sie nur dazu aufrufen,
damit im eigenen Land zu beginnen.
({3})
Dieser Nationale Zuteilungsplan ist jedenfalls das Gegenteil davon.
Ich kann auch nur erneut darum bitten, die eigenen
ideologischen Grundpositionen nicht einfach auf die
Entwicklungsländer zu übertragen. Sie postulieren in Ihrem Antrag eine nachhaltige Politik für eine Energiewende, wofür Sie den weltweiten Ausstieg aus der
Kernenergie und aus den fossilen Energieträgern fordern.
Es müsste Ihnen eigentlich klar sein, mit welcher Arroganz Sie das völlig legitime Interesse vieler Entwicklungsländer an einer friedlichen Nutzung der Kernenergie behandeln. Es müsste Ihnen eigentlich auch klar sein,
dass Sie den Entwicklungsländern, die einen preiswerten
Zugang zu fossilen Energieträgern haben, nicht ausreden
können, diesen zu nutzen. Wenn Sie uns das nicht glauben, dann lesen Sie nach, was beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat beim BMWA schreibt. Er weist
darauf hin, dass es häufig sehr viel besser ist, durch Investitionen in den Kraftwerkspark der Entwicklungsländer den Kohlendioxidausstoß zu senken. Der
BMWA-Beirat weist weiterhin darauf hin, dass dieses
Vorgehen beispielsweise bei dem chinesischen Kraftwerkspark 30- bis 50-mal günstiger ist als die Einspareffekte, die mit Maßnahmen des EEG erzielt werden.
Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann sollten Sie doch
wenigstens Ihren eigenen Fachleuten glauben, die Sie
beauftragt haben, Ihnen Ratschläge zu geben. Die Ratschläge liegen auf dem Tisch. Es ist nun an Ihnen, sie
umzusetzen.
({4})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der
uns skeptisch stimmt. Es ist völlig unstrittig, dass gerade
in den Entwicklungsländern die erneuerbaren Energien
gefördert werden müssen. Es sind doch wir, die immer
wieder darauf hinweisen, dass die Entwicklungsländer
vielfach sehr viel bessere Standortbedingungen für die
Förderung erneuerbarer Energien haben, als es bei uns
der Fall ist. Diese Potenziale gilt es zu nutzen. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob man dieses Vorhaben
mit finanziellen Mitteln unterstützt. Die kontinuierlich
rückläufige Entwicklung des BMZ-Etats seit 1998
spricht da leider eine andere Sprache.
Mit einzelnen Strohfeuern vor einer solchen Konferenz - es wurde an einer Stelle etwas dazugepackt, was
an anderer Stelle weggenommen wurde - sind diese Probleme nicht zu lösen. Wir fordern Sie also auf: Kommen
Sie endlich zu einer konsistenten und an den wirklichen
Bedürfnissen der Industrie- und Entwicklungsländer orientierten Politik zur Förderung erneuerbarer Energien!
Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Mit den Positionen,
die Sie heute dargelegt haben, aber nicht.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Anfang stand eine Drohung: das Wort „Klimakatastrophe“. Es folgten internationale Konferenzen, Klimaschutzkonferenzen. Sie mündeten in ehrgeizige
Verpflichtungen, nämlich Klimaschutzselbstverpflichtungen. Dann gab es einen Plan, den Klimaschutzemissionshandelabbauplan. Nun gibt es ein Gesetz. Es ist ein
Emissionsverteilungsgesetz. Vom drohenden Wort bis
zum vorliegenden Gesetz gingen der Klimaschutz und
die Selbstverpflichtungen weitgehend verloren, wie
beim beliebten Kinderspiel „Stille Post“. Dazu hätte es
eigentlich Rot-Grün nicht bedurft. Ich finde, das hätten
die Unternehmerverbände auch allein so hinbekommen.
({0})
Die PDS hat immer gesagt: Der Handel mit Emissionsrechten ist umstritten. Er kann bestenfalls ein Teil
eines Maßnahmepaketes sein, das vielfältiger und auch
umfassender ist. Was jetzt vorliegt, ist aber nicht einmal
ein Teil. Wer bisher viel CO2 emittiert hat, der darf das
auch weiterhin. Wer Sonderwünsche anmeldet, dem
werden sie erfüllt. Die Energiefresser werden gefüttert
und die Energiesparer weiter belächelt. Das eigentliche
Ziel aber, nämlich den CO2-Ausstoß mit marktwirtschaftlichen Mitteln drastisch zu senken, wurde vernebelt. Im Streit „Umwelt kontra Wirtschaft“ blieb der
Umweltminister zweiter Sieger. So zweifelte in der Anhörung im Umweltausschuss nicht nur das Öko-Institut
inzwischen am Sinn dieses rot-grünen Gesetzes.
Nun zurück zum Anfang, zum drohenden Wort „Klimakatastrophe“. Das ist natürlich mehr als nur ein Wort.
Es ist auch nicht aus der Welt mit dem heutigen Gesetz.
Wir haben die reale Gefahr nicht einmal gebannt. Wenn
wir auch gern anderes glauben und die Bundesregierung
anderes predigt: Das Problem der drohenden Klimakatastrophe steht weiter vor uns bzw. schwebt über der Welt.
Der Klimaschutz stagniert seit Jahren, jedenfalls gemessen an den CO2-Emissionen. Die Zahlen sind bekannt und heute mehrfach genannt worden. Das, was als
Klimaplus zu Buche schlägt, geht weitgehend auf das Industrieminus in den neuen Bundesländern zurück.
({1})
Die große versprochene Klimaanstrengung in den alten
Bundesländern blieb bisher aus. Sie wird auch durch das
vorliegende Gesetz nicht angeregt. Das ist sein
Hauptmanko. Deshalb lehnt die PDS im Bundestag dieses Gesetz heute ab.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marie-Luise Dött.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz über den Nationalen Allokationsplan für Treibhausgasemissionsberechtigungen wird zum Zuteilungsgesetz
2007. Der neue Titel ist schön, kurz und prägnant. Die
gravierenden Mängel, die dieses Gesetz hat, sind damit
jedoch nicht behoben.
({0})
Das Zuteilungsgesetz ist das wohl wichtigste umweltund wirtschaftspolitische Gesetz dieser Legislaturperiode. Es werden Entscheidungen getroffen, die von
erheblicher Reichweite sind. In vollem Bewusstsein dessen hetzt die Regierungskoalition das Gesetz innerhalb
von einer Woche von der Sachverständigenanhörung am
Montag über die Ausschussberatung am Mittwoch zur
Schlussberatung heute am Freitag.
({1})
Herr Kelber, wir nehmen Anhörungen ernst.
({2})
Änderungsanträge hätten also nur zwischen Montagabend und Dienstagmorgen beraten werden können; sie
müssen ja auch in der Fraktion besprochen werden.
({3})
Deshalb verweise ich auf unseren Entschließungsantrag,
dem Sie ja hätten zustimmen können.
({4})
Das lässt für mich nur den Schluss zu: Sie legen keinen Wert auf die demokratische Beteiligung des Parlaments. Vielmehr sind die Vertreter der Medien lange vor
den Parlamentariern über die Inhalte Ihrer Änderungsanträge bestens informiert worden. Das ist Ihr Verständnis
von Demokratie.
({5})
Aber auch aufseiten der Regierungsfraktionen tappen
einige im Dunkeln, was die Inhalte dieses Gesetzes angeht. Der Termindruck kann in diesem Zusammenhang
jedenfalls nicht als Argument gelten. Sie hätten mit der
Umsetzung früher beginnen können. Aber statt der
Gründlichkeit oberste Priorität einzuräumen, liefern Sie
eine Patchworkarbeit bunt zusammengehäkelter Normen
ab. Dieses Häkeldeckchen, das Sie hier vorlegen, hat den
Namen Gesetz nur schwerlich verdient. Mit einer juristisch sauberen Norm hat das Zuteilungsgesetz wenig gemein. Es finden sich reihenweise falsche und laienhafte
Formulierungen. Auslegungen sind unklar, Rechtsbegriffe unbestimmt. Wider besseres Wissen wollen Sie
hier ein Gesetz beschließen, dessen Folgen verheerend
sind. Natürlich wird das Zuteilungsgesetz zum Jobmotor, wie Sie so schön sagen; es wird zum Jobmotor für
Anwälte und Gerichte mutieren. So wird das nichts mit
dem Aufschwung am Arbeitsmarkt.
({6})
Aus dem Hause des Umweltministers Jürgen Trittin,
der jetzt leider nicht mehr da ist
({7})
- wo? -,
({8})
hat die Abgeordneten am Dienstagabend ein Bericht erreicht, in dem die Allokationspläne der anderen EUMitgliedstaaten untersucht werden. Die Analyse
kommt zu dem Schluss, dass acht der elf vorliegenden
Allokationspläne über das Maß zuteilen. Im Gegensatz
dazu soll in Deutschland das Minderungsziel nicht nur
eingehalten, sondern noch darüber hinausgegangen werden. Das führt dazu, dass Unternehmen in Deutschland
nur schwerlich in eine Verkäuferposition kommen.
({9})
In der Studie des BMU steht ausdrücklich, dass solch
unterschiedliche Zuteilungen zu Wettbewerbsverzerrungen und erheblichen Belastungen der deutschen WirtMarie-Luise Dött
schaft führen werden. Ich gehe davon aus, dass sowohl
das Ministerium als auch die Abgeordneten der Regierungskoalition diese Studie kannten, als sie am Dienstag
entschieden, die Kioto-Vorgaben nicht nur einzuhalten,
sondern noch darüber hinauszugehen. Mit dieser Entscheidung haben Sie sich ganz bewusst gegen den Industriestandort Deutschland und gegen Arbeitsplätze entschieden.
({10})
Aufgrund der Kürze meiner Redezeit möchte ich
mich auf eine besonders bedenkliche Änderung des Entwurfs beschränken. In § 4 des Gesetzentwurfs findet sich
nun ein neuer Absatz. Dieser sieht eine rückwirkende
Kürzung bereits zugeteilter Zertifikate für den Fall vor,
dass im Rahmen der Zuteilungsregeln für mehr als
495 Millionen Tonnen Zertifikate ausgegeben werden
müssen. Da die letztlich ausgegebene Menge an Zertifikaten infolge von Anlagenstilllegungen, Produktionsrückgängen, Anfechtungen von Zuteilungsentscheidungen usw. erst gegen Ende der Handelsperiode eindeutig
festgeschrieben wird, besteht aufgrund der neuen Regelungen für die Anlagenbetreiber noch während der Handelsperiode Unsicherheit darüber,
({11})
ob sie über ausreichend Zertifikate zur Abdeckung ihrer
Emissionen verfügen.
({12})
Dies würde die bereits bestehende Verunsicherung weiter erhöhen und das Investitionsklima zusätzlich negativ
beeinflussen.
({13})
Ich möchte Sie daher dringend bitten, diesen Passus ersatzlos zu streichen.
({14})
Meine Damen und Herren, wir wollen den Emissionshandel genauso wie die FDP, aber dieser Gesetzentwurf
ist handwerklich und inhaltlich so schlecht gemacht,
dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmen
wird.
({15})
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf der Drucksache 15/3212 mit dem Titel „Globale Zukunftssicherung durch die Förderung erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern vorantreiben“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 15/1862 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Zuteilungsgesetzes auf der
Drucksache 15/2966. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU, FDP und der fraktionslosen Abgeordneten Petra Pau angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit dem soeben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der
fraktionslosen Abgeordneten Petra Pau angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache
15/3238? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 15/3239? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um die Beratung zweier Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Die Punkte sollen anschließend als Zusatztagesordnungspunkte 15 und 16 aufgerufen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Ich rufe also Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen
Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
und Altersbezügen ({1})
- Drucksachen 15/2150, 15/2563, 15/2592,
15/2986, 15/3004, 15/3160, 15/3230 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg-Otto Spiller
Berichterstatter im Bundesrat: Staatsminister Gernot
Mittler.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall.
Dann können wir gleich zur Abstimmung kommen.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgende
weitere Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses. Wer stimmt also für die Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3230? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2003/87/EG über ein System
für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft.
- Drucksachen 15/2328, 15/2540, 15/2681,
15/2693, 15/2901, 15/3250 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller ({3})
Berichterstatter im Bundesrat: Minister Rudolf
Köberle.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall.
Wir kommen also zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 15/3250? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkt 13 auf:
24 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika
Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ausschreibungspraxis in der Arbeitsmarktpolitik effizient und effektiv ausgestalten
- Drucksache 15/2826 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine qualitätsorientierte und an den regionalen Bedürfnissen ausgerichtete Ausschreibungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
- Drucksache 15/3213 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Hier haben die Abgeordneten Brandner, Bellmann,
Kurth, Niebel und der Parlamentarische Staatssekretär
Schlauch darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben
zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2826 und 15/3213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist auch der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt auf, zu dem
geredet wird, nämlich Tagesordnungspunkt 25 sowie
Zusatzpunkt 14:
25 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung der Jugenddelinquenz
- Drucksache 15/1472 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten
- Drucksache 15/2192 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
gibt es offensichtlich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und das Wort hat zunächst
die baden-württembergische Justizministerin, Frau
Werwigk-Hertneck.
1) Anlage 3
Corinna Werwigk-Hertneck, Ministerin ({8}):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! „Verantwortung für die Jugend“ - das ist das
diesjährige Thema des Deutschen Jugendgerichtstages in
Leipzig. Es geht uns alle an. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass unsere Jugend Perspektiven entwickeln
und in eine aussichts- und chancenreiche Zukunft blicken kann. Das kann aber nur gelingen, wenn jeder - ich
meine hier in erster Linie Eltern, Erzieher und Lehrer,
aber auch Richter, Staatsanwälte, Vollzugs- und Polizeibeamte - gewillt ist, seinen Beitrag in der Ausbildung
und Erziehung, in der Prävention, aber auch bei der Bestrafung und Wiedereingliederung zu leisten.
({9})
Gefordert sind aber auch Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, nämlich als Gesetzgeber. „Verantwortung für die Jugend“ heißt auch, dass wir den Jugendrichterinnen und Jugendrichtern sinnvolle Möglichkeiten
der Reaktion auf Straftaten junger Menschen zur Verfügung stellen.
({10})
Eine dieser sinnvollen Reaktionsmöglichkeiten ist der
nun vorgeschlagene Warnschussarrest. Seine Einführung wird von der staatsanwaltlichen und richterlichen
Praxis seit langem gefordert. Auch wenn die Kritiker
nicht müde werden, es immer wieder zu behaupten: Der
Warnschussarrest dient nicht dazu, junge Menschen wegen ihres ersten Ladendiebstahls wegzusperren, um sie
durch den kurzfristigen Freiheitsentzug zu schockieren.
Der Warnschussarrest dient vielmehr dazu, diejenigen
Straftäter zu erreichen, die aufgrund ihrer kontinuierlichen Hinentwicklung zur Kriminalität mit ambulanten
oder kurzfristigen Betreuungsmaßnahmen nicht mehr erreichbar sind. Um bei diesen Tätern eine nachhaltige Bewusstseins- und Verhaltensänderung herbeizuführen, bedarf es vielmehr einer längerfristigen Intervention, die
durch eine intensive stationäre Betreuungsphase eingeleitet werden sollte.
({11})
Hier setzt der Warnschussarrest an. Im modernen Arrestvollzug stehen dem straffällig gewordenen Jugendlichen Sozialarbeiter und Psychologen zur Aufarbeitung
von persönlichen Problemen und zur Vermittlung von
gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten zur Verfügung.
Gerade diese erste stationäre Phase des Warnschussarrestes erlaubt eine intensive Arbeit mit dem jugendlichen
Täter, die häufig zu einer nachhaltigen Bewusstseinsund Verhaltensänderung führt. Danach ist es die Aufgabe des Bewährungshelfers, diesen eingeleiteten Neuorientierungsprozess zu stabilisieren, damit es nicht zu
einem Rückfall in alte Denk- und Verhaltensmuster und
damit zu erneuter Straffälligkeit kommt.
({12})
Ohne den Warnschussarrest bleibt der Praxis in diesen
Fällen heute nicht selten nur die Verhängung einer unbedingten Jugendstrafe übrig. Wenn aber die Aussicht besteht, dass die Vollstreckung einer Jugendstrafe durch
den Warnschussarrest entbehrlich wird, dann erscheint
es unvertretbar, wenn die Rechtspolitik der Praxis dieses
mildere Instrument nicht zur Verfügung stellen will.
({13})
Fast noch dringlicher stellt sich der gesetzgeberische
Handlungsbedarf bei der Frage der strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender dar. Diesbezüglich hat
sich nämlich in den letzten Jahrzehnten bundesweit eine
nach Regionen und Delikten höchst unterschiedliche
Praxis herausgebildet. Ob bei Straftaten Heranwachsender Jugendstrafrecht oder allgemeines Strafrecht zur Anwendung kommt, ist heute letzten Endes davon abhängig, ob der Täter in Schleswig-Holstein oder BadenWürttemberg, in einer Großstadt oder auf dem Land vor
Gericht steht.
({14})
Deswegen besteht in der Fachwelt Einigkeit darüber,
dass diese Praxis, die das verfassungsrechtliche Willkürverbot, das Rechtsstaatsprinzip und das Bestimmtheitsgebot tangiert, nicht länger hingenommen werden darf.
({15})
Hoch umstritten - dies haben die Abstimmungsergebnisse beim 64. Deutschen Juristentag in Berlin gezeigt ist jedoch die Frage, wie wir dieses Problem zu lösen haben. Häufig wird unter Hinweis auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse die generelle Einbeziehung
aller Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht gefordert.
({16})
- Ich glaube, Sie, Herr Ströbele, fordern das.
Professor Dr. Albrecht hat in seinem Gutachten auf
dem 64. Deutschen Juristentag jedoch deutlich gemacht,
dass sich aus den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie keine tragfähigen und schlüssigen Entscheidungsmaßstäbe für die Frage der strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender ableiten lassen. Die
Ausbildung sozialer Verhaltensweisen dauert bis weit in
die zweite Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts oder sogar darüber hinaus. Bei Anlegung dieses Maßstabs
müsste man konsequenterweise auch knapp Dreißigjährige in das Jugendstrafrecht einbeziehen, was aber richtigerweise niemand fordert. Aber eine Begrenzung der
Anwendung des Jugendstrafrechts auf unter 21-Jährige
lässt sich damit auf keinen Fall rechtfertigen.
({17})
Bei Anlegung dieses Maßstabs erscheint eine derartige
Altersgrenze nämlich willkürlich.
Ministerin Corinna Werwigk-Hertneck ({18})
Nach meiner Überzeugung muss sich die Frage des
Umgangs mit delinquenten Heranwachsenden letztlich
an normativen Maßstäben orientieren.
({19})
Unsere Gesamtrechtsordnung enthält hierzu eindeutige
Regelungen. So werden Heranwachsende sowohl im Zivilrecht als auch im öffentlichen Recht als Erwachsene
behandelt. Sie können Verträge schließen, heiraten, Arbeitgeber sein und so weiter. Auch das elterliche Erziehungsrecht endet mit Vollendung des 18. Lebensjahres.
Warum sollte das subsidiäre staatliche Erziehungsrecht
darüber hinaus fortdauern?
({20})
Deshalb habe ich mich dafür ausgesprochen, bei
Straftaten Heranwachsender künftig grundsätzlich das
allgemeine Strafrecht anzuwenden.
({21})
Nur in Ausnahmefällen, also bei Vorliegen schwerwiegender Entwicklungsverzögerungen, erscheint es sinnvoll, den Heranwachsenden nicht wie einen Erwachsenen, sondern wie einen Jugendlichen zu behandeln.
Ich will hier auch das eine oder andere Gegenargument in den Raum stellen.
({22})
Erstens. Es wird behauptet, die Zahlen im Bereich der
Jugendkriminalität würden nicht steigen.
({23})
Im Allgemeinen stimmt das.
({24})
Bei leichten Delikten sind die Zahlen rückläufig; aber
bei Gewaltdelikten steigen sie.
({25})
Darauf müssen wir reagieren.
({26})
Zweitens. Es wird bezweifelt, ob das klare Signal
einer Gesellschaft an einen 18-Jährigen bzw. eine 18-Jährige, dass er oder sie erwachsen ist, generalpräventive
Wirkungen entfalten könnte.
({27})
Ein derart eindeutiges Signal wird generalpräventive
Wirkung entfalten - das steht für mich außer Zweifel Du bist erwachsen, egal ob du Rechte in Anspruch
nimmst oder Pflichten nachkommen musst.
Drittens eine Frage von mir als Landesministerin an
den Bundesgesetzgeber: Länderöffnungsklauseln werden oft kritisch beurteilt. Wenn wir nun bei der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf Heranwachsende
nach Bundesländern höchst unterschiedliche Rechtsprechungen hinnehmen, halte ich das für verfassungswidrig - wir sollten hier auf eine bundeseinheitliche
Rechtslage achten. Mit den geltenden Vorschriften ist
dieses Ziel offensichtlich nicht zu erreichen. Ich bitte daher um Unterstützung des Gesetzentwurfes.
Herzlichen Dank.
({28})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete, nein: der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
({0})
- Auch das ist er.
Verehrte Frau Präsidentin, ich fühle mich auch als
Abgeordneter; das ist kein Schimpfwort.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Der
Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verbesserung der
Bekämpfung der Jugenddelinquenz, der heute dem Bundestag präsentiert wird, würde nichts verbessern. Als
Gesetz wäre er bestenfalls wirkungslos und unschädlich,
in den meisten Fällen wäre er kontraproduktiv.
({0})
In Union und FDP weiß man das eigentlich, zumindest
wissen es die, die sich ernsthaft mit dieser Frage befassen.
Wir alle kennen die Meldungen über kriminelle Jugendbanden und über jugendliche Intensivtäter, und wir
alle sind uns darüber einig, dass etwas dagegen unternommen werden muss. Leider fällt Ihnen im Bundesrat
nichts anderes ein, als immer wieder nach härteren Strafen und „Denkzettelsanktionen“ zu rufen. Ich gebe zu:
So entsetzlich wie die Einzelfälle sind, liegt diese Reaktion bei der emotionsgeladenen Stimmung, die danach
entstehen kann, nahe - richtig ist sie nicht. Gerade im
Strafrecht ist es Aufgabe der Politik, verantwortungsvoll, rational und auf sicherer Faktengrundlage zu handeln. Das können oder wollen Sie im Bundesrat offensichtlich nicht.
({1})
Erstens. Die Jugendkriminalität ist in den letzten
Jahren nicht stetig gestiegen, wie Sie in der Begründung
des Gesetzentwurfes behaupten:
({2})
Nach 1998 ist ein leichter Rückgang der Fallzahlen bei
den Jugendlichen und insgesamt eine Stabilisierung bei
den Heranwachsenden zu verzeichnen.
({3})
Die Kriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden stagniert, während sie bei den Erwachsenen - die
nach dem allgemeinen Strafrecht abgeurteilt werden zunimmt. Damit will ich nicht sagen, dass wir keine Probleme hätten. Aber Ihre Aussagen sind in ihrer Pauschalität einfach falsch. Wir haben sicher enorme Probleme
mit den eingangs erwähnten Intensivtätern und mit den
Tätern im Bereich gefährlicher und schwerer Körperverletzung und Raub; bei denen sind in der Tat Steigerungsraten zu verzeichnen. Aber jetzt bitte ich Sie, einmal zuzuhören: Die Rückfallstatistik hat uns auch gezeigt, dass
die meisten strafrechtlich in Erscheinung tretenden Jugendlichen dies nur einmal tun und nicht wieder. Auffallend hoch ist nur die Rückfallquote derjenigen Jugendlichen und Heranwachsenden, die in Haft gewesen sind.
Zweitens. Der Sinn des Jugendstrafrechts liegt nicht
in „Warnschüssen“ und hartem Durchgreifen.
({4})
Das Missverständnis beginnt schon damit, dass immer
behauptet wird, das Jugendstrafrecht sei stets milder als
das Erwachsenenstrafrecht. Das ist so nicht richtig, und
es ist ärgerlich, dass immer mehr Politiker - sei es aus
Unwissenheit, sei es aus Absicht - diesem Missverständnis Vorschub leisten.
({5})
Kernpunkt des Jugendstrafrechtes ist der Erziehungsgedanke. Das Jugendstrafrecht ist darauf ausgerichtet, Jugendliche und Heranwachsende zu fördern und zu fordern und sie so von weiteren Straftaten abzuhalten.
Dafür gibt das Jugendstrafrecht den Gerichten ein differenziertes und flexibles Instrumentarium an die Hand,
das sich als wirksam bewährt hat und in der Praxis funktioniert. Sie ignorieren das, wenn Sie fordern, dass bei
Heranwachsenden grundsätzlich das allgemeine Strafrecht, das Jugendstrafrecht dagegen nur ausnahmsweise
Anwendung findet. Die Folge wäre, dass die Gerichte
bei Heranwachsenden grundsätzlich nur mit Geld- oder
Freiheitsstrafen reagieren könnten. Glaubt jemand ernsthaft, dass man damit einer künftigen Straffälligkeit Heranwachsender besser entgegenwirken kann als mit dem
differenzierten Reaktionsinstrumentarium des Jugendstrafrechts, das den altersbedingten Besonderheiten und
Einflussmöglichkeiten angepasst ist? Nahezu alle Fachleute lehnen Ihren Vorschlag ab.
({6})
- Herr Fricke, sie haben schon oft genug geklatscht. Es
muss außerdem nicht geklatscht werden, wenn Selbstverständlichkeiten vorgetragen werden.
({7})
Oder nehmen wir den Vorschlag zum Warnschussarrest. Schon wegen seiner stigmatisierenden und entsozialisierenden Wirkung sagen uns fast alle Fachleute bereits seit Jahren, dass es so nicht geht. Wenn das,
verehrte Frau Justizministerin, was Sie eben vorgetragen
haben, im Gesetz oder auch nur in der Begründung zum
Gesetz stünde - ich nenne als Stichworte soziale Betreuung und Begleitung -, wäre das schon ein Fortschritt.
({8})
Wir wissen doch alle, wie heutzutage der Arrest ausgestaltet ist: Die Heranwachsenden werden weggeschlossen, werden eingesperrt. Wenn sie dann herauskommen,
sind sie stigmatisiert. Manche geben sogar damit an, im
Knast gewesen zu sein.
({9})
Frau Präsidentin, ich darf doch noch eine Minute reden? - Das Bundesministerium der Justiz hat in Form eines Referentenentwurfs einen viel besseren Entwurf vorgelegt, der das Jugendstrafrecht stärken wird. Grundlage
sind die Beratungsergebnisse der Expertengruppe, die
die FDP übrigens in ihrem Antrag erwähnt hat. Es geht
dabei darum, wie die jungen Gefangenen ihr Leben
künftig ohne Straftaten führen können. Es geht um die
Abkehr vom unscharfen, missverständlichen und umstrittenen Erziehungsbegriff des Jugendkriminalrechts
hin zum Grundsatz der umfassenden Förderung und Forderung. Wir wollen junge Gefangene zur Teilnahme an
den Maßnahmen verpflichten, die ein Förderplan für sie
vorsieht. Insgesamt konzipieren wir so ein eigenständiges Regelwerk mit jugendspezifischen Inhalten, das in
seinem Aufbau weitgehend dem bewährten Gefüge des
Strafvollzugsgesetzes folgt.
Wir brauchen also weder Ihr Gesetz zur Bekämpfung
der Jugenddelinquenz, noch wird der im Mai vorgelegte
Entwurf des Bundesrates mit dem blumigen Namen
„Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Jugendstrafrechts und zur Verbesserung und Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens“ - Verbesserung und Beschleunigung schließen sich schon gegenseitig aus - Gnade vor
unseren Augen finden.
Herr Kollege, eine Minute ist schon lange vorbei.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ihre Entwürfe werden Entwürfe bleiben.
Ich wünsche allen ein frohes Pfingstfest und bedanke
mich sehr herzlich für Ihre überaus große Geduld.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
erwartet, dass die Diskussion zum Thema Jugenddelinquenz genau so verlaufen würde. Wir bewerfen uns mit
Statistiken und Zahlen.
({0})
Am Ende ist jeder der sicheren Überzeugung, dass er mit
seiner Auffassung Recht hat.
Wir werden uns in dieser Debatte im Klein-Klein, in
einem Hickhack ergehen. Wir werden uns mit der Frage
beschäftigen, ob das Fahrverbot als Hauptstrafe, als Nebenstrafe, als Erziehungsmaßnahme oder als Zuchtmittel
angemessener sei und wie man das Fahrverbot in das Jugendstrafrecht einsortieren müsse. Wir werden uns mit
der Frage beschäftigen, ob eine Meldeweisung sinnvoll
ist oder ob sie nach dem Jugendstrafrecht nicht ohnehin
schon möglich ist. Ich versichere Ihnen: Das sind Themen, die nur wenige Juristen, die darauf spezialisiert
sind, verstehen. Das ist nicht die Botschaft, die die Öffentlichkeit zum Thema Jugenddilinquenz erwartet und
erwarten darf.
Am 26. Mai 2004 titelte die „Berliner Morgenpost“:
Ich wollte Berufskiller werden.
In dem Artikel ging es um das Strafverfahren gegen einen 21-Jährigen, der zwei hilflose Rentnerinnen in hohem Alter ermordet hat. Als er festgenommen und gefragt wurde, was er mit diesen grausamen Taten
bezweckt habe, erklärte er, er habe schon immer Berufskiller werden wollen. Bei der ersten Tat habe er üben
wollen.
Meine Damen und Herren, auf solche Vorfälle erwartet die Öffentlichkeit zu Recht eine Antwort. Herr Staatssekretär Hartenbach, grüßen Sie die Bundesjustizministerin.
({1})
Die Öffentlichkeit hat Anspruch auf ein schlüssiges
Konzept. Der Jugendstrafvollzug ist verfassungswidrig,
weil es an einem Gesetz fehlt.
Sie wissen so gut wie ich, dass es eine Entscheidung
des Oberlandesgerichts Celle gibt, in der erwachsenen
Häftlingen eine Entschädigung zugesprochen wird, weil
der Strafvollzug für Erwachsene gesetzwidrig ist, da
eine Einzelunterbringung in Hafträumen nicht ermöglicht werden kann.
Ich warte darauf, dass jugendliche Straftäter mit anwaltlicher Hilfe eine Entschädigung einklagen, weil sie
auf nicht verfassungsgemäßer Grundlage inhaftiert sind.
({2})
Aber: Die Bundesjustizministerin reagiert nicht.
({3})
Der Staatssekretär beschränkt sich auf die Aussage, dass
Referentenentwürfe vorliegen. Man kann deshalb konstatieren: Entwürfe liegen auf dem Tisch und vom Tisch
wird nichts weggeschafft. Im Bundesjustizministerium
unter der Leitung der Bundesjustizministerin Zypries
liegt zu viel im Argen.
({4})
Ich nehme es den Ländern nicht übel, dass sie in ihrer
größten und höchsten Not reagieren; denn sie erleben
den Strafvollzug ja an der Front.
({5})
Es war nicht das Bundesjustizministerium, das eine Lösungsmöglichkeit zum Erwachsenenstrafvollzug angeboten hat. Die Länder haben über den Bundesrat einen
Gesetzentwurf eingebracht, um § 18 Strafvollzugsgesetz zu ändern. So sind es wieder einmal die Länder, die
im Bereich des Jugendstrafrechts initiativ werden.
Wie lange höre ich von der Bundesjustizministerin
schon, dass Sie das Jugendstrafverfahren reformieren
werden? - Nichts außer heißer Luft! Sie sagen, Sie werden den Opferschutz im Jugendstrafverfahren verbessern. - Nichts außer heißer Luft! Mir ist die Lösungsmöglichkeit, die die Länder anbieten, zehnmal lieber, als
nichts zu tun.
({6})
Ich räume ein: Natürlich wird es Diskussionsbedarf
geben. Meines Erachtens geht es nicht um die Frage, ob
wir auf die Heranwachsenden grundsätzlich das Erwachsenenstrafrecht anwenden sollen. Meine Herren von
Rot-Grün, wenn Sie diese Forderung unterstützen würden, befänden Sie sich aber in bester Gesellschaft; denn
Tony Blair hat das Gesetz im Jahre 2000 wegen der steigenden Jugendkriminalität in England geändert, sodass
auf Heranwachsende nur noch das Erwachsenenstrafrecht anwendbar ist.
({7})
Ganz anders war es im konservativen Spanien unter
Aznar, der nämlich die deutsche Lösung übernommen
hat. In Spanien ist das Heranwachsendenstrafrecht inzwischen so wie im deutschen Recht. Sie sehen also, es
geht quer durch alle Reihen. Ich verhehle nicht, dass
auch in unserer Fraktion die Diskussion noch im Gange
ist. Diese Entscheidung muss jeder Abgeordnete für sich
selbst treffen. Es ist eine Entscheidung des Gewissens
und weniger eine rechtsdogmatische Entscheidung.
Ich greife noch einmal den Fall des jungen 21-Jährigen auf, der erklärt hat, er wolle Berufskiller werden.
Die Anwälte haben sofort reagiert und in der Presse publiziert, dass sie der Meinung sind, dass auf diesen Fall
das Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Es ist durchaus
möglich, dass dieser 21-Jährige in seiner Entwicklung
noch zurückgeblieben ist. Deswegen würde nach derzeiSiegfried Kauder ({8})
tigem Recht das Jugendstrafrecht anzuwenden sein. Ich
persönlich habe nichts dagegen.
({9})
Jetzt kommen Sie aber mit Ihrem Argument, dass im
Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke herrscht. Das
stimmt nur beschränkt. Schauen Sie mal in § 18 Jugendgerichtsgesetz. Die Freiheitsstrafe für Jugendliche beträgt sechs Monate bis fünf Jahre, weil man der Meinung
war, dass eine Strafe, die fünf Jahre übersteigt, erzieherisch sinnlos sei. Wenn aber ein Verbrechen begangen
worden ist, das nach allgemeinem Erwachsenenstrafrecht beurteilt und mit einer Höchststrafe von über zehn
Jahren belegt wird, dann beträgt auch die Jugendstrafe
zehn Jahre. Das heißt, auch hier fließen generalpräventive Aspekte mit in den Erziehungsgedanken hinein.
Frau Ministerin Werwigk-Hertneck, deswegen bin ich
der Meinung, dass Sie mit Ihrem Ansinnen, die Jugendstrafe, die gegen Heranwachsende verhängt wird, allgemein auf 15 Jahre zu erhöhen, über das Ziel hinausschießen.
({10})
Sie meinen das nicht; denn wenn Sie die Jugendstrafe für
Heranwachsende auf 15 Jahre erhöhen würden, dann
würden Sie gleichzeitig den Strafrahmen nach oben verschieben, sodass auch die Eingangsstrafen für die weniger schwere Kriminalität erhöht würden. Ich weiß, dass
Sie das nicht wollen. Es gibt 22 kapitale Verbrechen, die
bei Erwachsenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe belegt
sind. Diese Fälle meinen Sie. Sie meinen denjenigen, der
sagt, er wolle Berufskiller werden.
Es gibt hier eine Lösung, nämlich in § 18 Jugendgerichtsgesetz. Danach kann beim Heranwachsendenstrafrecht gesagt werden: Wenn Erwachsene mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe belegt werden würden, dann
beträgt die Höchststrafe beim Heranwachsenden ausnahmsweise nicht zehn, sondern 15 Jahre. Ich glaube,
auf diesem Level können wir uns einigen.
Nun zum Warnschussarrest. Man kann lange darüber philosophieren, wie er sich in das Rechts- und
Sanktionensystem des Jugendstrafrechts einordnen lässt.
Das ist aber nicht das Thema. Dieses Problem kann man
lösen. Festzuhalten bleibt, dass ein Erwachsener zu einer
Freiheitsstrafe von nur einem Monat verurteilt werden
kann. Wenn die Einwirkung auf ihn oder die Verteidigung der Rechtsordnung es gebietet, wird diese Strafe
auch vollstreckt. Beim Jugendlichen geht das nicht, weil
die Jugendstrafe aus guten Gründen erst mit sechs Monaten beginnt. Fünf Monate oder drei Monate Jugendstrafe können nicht verhängt werden. Das heißt, man
muss die dadurch entstandene Lücke im jugendstrafrechtlichen Sanktionensystem angemessen schließen
können. Dafür bietet sich in der Tat der Warnschussarrest an.
Er hat überhaupt keine negativen Auswirkungen auf
einen Jugendlichen oder Heranwachsenden. Warum soll
dieser nicht einmal vier Wochen in einer Jugendarrestanstalt erleben, wie das Leben außerhalb der Freiheit vollzogen wird? Gerade da wir festgestellt haben, dass die
Rückfallquote bei den Jugendlichen und Heranwachsenden, die im Jugendstrafvollzug waren, 78 Prozent beträgt, muss man sich doch überlegen, welche vorausgelagerten flankierenden Maßnahmen man hat, um auf diese
jungen Menschen einzuwirken. Der Warnschussarrest ist
eine gute Möglichkeit, flankierend eine zur Bewährung
ausgesetzte Jugendstrafe zu begleiten.
Eine weitere Maßnahme wurde von den Ländern in
ihren Gesetzentwurf eingeführt: das Fahrverbot. Wir
können uns lange darüber unterhalten, wie es sich in das
Sanktionensystem einordnen lässt. Aber, Herr Kollege
Ströbele, ich kann Ihnen helfen. Es gab im Bundesjustizministerium einen Arbeitsentwurf, der genau diesen Gesetzesvorschlag, den die Länder aufgegriffen haben,
nämlich § 15 a Jugendgerichtsgesetz, entwickelt hat. Ich
weiß nicht, warum er im Ministerium und bei Rot-Grün
versackt ist. Auf jeden Fall wäre es eine gute Lösungsmöglichkeit. Warum sollen junge Menschen, die sich zusammentun, abends zu fünft in einem Fahrzeug zu irgendeiner Diskothek fahren, um sie aufzumischen und
eine Schlägerei anzuzetteln, nicht einmal merken, wie es
ist, wenn man kein Fahrzeug führen darf?
({11})
Deswegen befürworte ich auch nicht die Einschränkung
eines Fahrverbots nur auf verkehrsbezogene Delikte. Es
tut den jungen Leuten gut, wenn sie merken, wie es ist,
wenn man kein Fahrzeug führen darf.
Ich möchte auch nicht das Argument hören, dass man
jungen, im Erwerbsleben stehenden Menschen den Führerschein nicht wegnehmen kann. Das tut doch gar kein
Jugendrichter. Auch der Einwand, das sei nicht zu kontrollieren, verfängt nicht; denn dann dürfen Sie überhaupt
keine jugendgerichtlichen Weisungen mehr festsetzen.
Schauen Sie einmal in § 10 des Jugendgerichtsgesetzes.
Darin gibt es die Möglichkeit, die Weisung zu verhängen,
bestimmte Gaststätten nicht zu besuchen. Auch damit
muss ein Kontrollmechanismus eingeleitet werden. Nicht
anders ist es beim Fahrverbot.
Sie sehen es schon: Ich halte auch diesen Vorschlag
des Ländergesetzentwurfs für sinnvoll. Man wird, Frau
Justizministerin Werwigk-Hertneck, darüber reden müssen, ob man statt der Einführung von § 15 a Jugendgerichtsgesetz nicht schlicht und ergreifend in § 10 Abs. 1
des Jugendgerichtsgesetzes eine Ziffer 10 anfügt und darin die Weisung festlegt, es sollte die Weisung, der Jugendliche dürfe eine gewisse Zeit kein Fahrzeug führen
eingeführt werden.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, eines scheinen Sie übersehen zu haben: Das Fahrverbot ist nach der
bestehenden Gesetzeslage weit über das hinaus zulässig,
was Sie sich wünschen. Nach § 10 des Jugendgerichtsgesetzes kann ein Jugendrichter ein Fahrverbot auch
über die Frist des § 44 StGB, also über drei Monate hinaus, verhängen. Das ist auch dann möglich, wenn ein
Verkehrsbezug nicht besteht. Sie sind also aufgefordert,
Siegfried Kauder ({12})
wenn Sie Ihre Interessen so, wie Sie sie artikulieren,
durchsetzen wollen, einen Gesetzentwurf vorzulegen,
der Hand und Fuß hat.
({13})
Im Augenblick haben Sie nichts auf der Hand. Das ist
schlimm für die Menschen, die Sicherheit erwarten.
Vielen Dank.
({14})
Die Kollegin Erika Simm hat gebeten, ihre Rede zu
Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann erteile ich jetzt dem Abgeordneten Hans-Christian Ströbele das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich kurz fassen.
({0})
Ich verstehe sowieso nicht, warum wir kurz vor Pfingsten dieses alte Thema erneut diskutieren müssen.
({1})
Es handelt sich nicht um einen wunderbaren, mit ganz
neuen Ideen gefüllten Gesetzentwurf des Bundesrates
oder einzelner Länder, sondern um einen Gesetzentwurf,
den wir schon im Bundestag beraten und abgelehnt haben und der schon im Bundesrat mehrfach beraten worden ist. Er ist vom Strafverteidigertag, vom Anwaltstag,
vom Deutschen Jugendgerichtstag und von nahezu allen
Institutionen diskutiert und abgelehnt worden, und zwar
aus gutem Grunde.
({2})
Denn er ist nicht nur alt, sondern er enthält auch nichts
Neues und er geht von zwei völlig falschen Vorausset-
zungen aus.
Die eine falsche Voraussetzung findet sich im ersten
Satz dieses Gesetzentwurfes. Dort wird auf eine Statistik
hingewiesen. Wir haben das nicht erfunden, sondern das
steht in dem Gesetzentwurf. Es wurde nämlich die fal-
sche Behauptung aufgestellt, dass die Jugenddelinquenz
in den letzten Jahren zugenommen habe. Das Gegenteil
ist wahr. Von 1998 bis 2003 hat die Jugenddelinquenz,
übrigens auch die Kinderdelinquenz, abgenommen, und
zwar exorbitant. Sie hat auch im Jahr 2003 abgenom-
men. Von 1997 bis 2003 hat sie um 15 bis 17 Prozent ab-
genommen. Im Jahr 2003 hat die Delinquenz von deut-
schen Jugendlichen um 1 Prozent abgenommen, die von
ausländischen Jugendlichen, die angeblich besonders ge-
fährlich sind, weswegen man dauernd solche Gesetze
vorschlagen muss, um über 2 Prozent. Schon diese Vo-
1) Anlage 4
raussetzung stimmt also nicht. Ich weiß nicht, warum
wir uns dann mit diesem Vorschlag hier auseinander setzen sollen.
({3})
Die zweite falsche Voraussetzung, die sich inzidenter
schon durch die Reden, aber auch durch den Entwurf
zieht, ist der Irrglaube, die falsche Auffassung, die von
den wahren Tatsachen unberührt ist, dass jugendliche
Straftäter nach dem Jugendstrafrecht milder bestraft
würden, dass das ein Privileg für Jugendliche und Heranwachsende sei und diese damit nicht in dem Maße zur
Rechenschaft gezogen werden könnten, wie es bei Erwachsenen der Fall sei. Dem ist überhaupt nicht so. Das
Jugendstrafrecht geht nur mit anderen Sanktionen und
nach anderen Kriterien vor. Als Strafverteidiger wissen
wir, dass Jugendliche sehr häufig sogar härtere Strafen,
auch Freiheitsstrafen, bekommen als Erwachsene. Das
geschieht etwa deshalb, weil das Gericht der Auffassung
ist, dass in dem Augenblick, in dem das Urteil gefällt
wird, zur erzieherischen Einwirkung auf den Jugendlichen die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch ohne Bewährung erforderlich ist.
Deshalb sind all die Argumente, die hier durchscheinen, zum Beispiel Heranwachsende im Alter von
21 Jahren, die fürchterliche Dinge gemacht hätten, dürften nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt
werden, falsch. Nach dem Jugendstrafrecht werden sie
dann behandelt, wenn das Gericht - häufig aufgrund von
Sachverständigengutachten - zu der Überzeugung
kommt, dass sie in ihrem Entwicklungsstand Jugendlichen gleichzustellen sind. Sonst wird Erwachsenenstrafrecht angewendet.
({4})
Sie wollen das umkehren. Allein aus der Tatsache, dass
Sie fordern, dass die Höchststrafe von zehn auf 15 Jahre
heraufgesetzt wird, ergibt sich die eigentliche Intention
dieses Gesetzentwurfs. Das ist der ideologische Hintergrund.
({5})
Sie wollen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken,
dass die Länder, die solche Gesetze im Bundesrat immer
wieder einbringen, die Einzigen sind, die wirklich gegen
Jugendkriminalität vorgehen und die Bevölkerung schützen wollen, während diejenigen, die solche Gesetze
nicht haben wollen, weil sie wissen, dass sie in die Irre
führen und nicht helfen, nicht genügend gegen Jugendkriminalität tun.
Auf diesem Wege folgen wir Ihnen nicht. Wir gehen
davon aus, dass die Gesetze, die wir haben, grundsätzlich richtig und ausreichend sind und dass wir alles vermeiden sollten, dass wir eine Entwicklung bekommen,
wie sie etwa in einigen Staaten der Vereinigten Staaten
zu beobachten ist, wo mit Jugendlichen, manchmal mit
Kindern, strafrechtlich in gleicher Weise umgegangen
wird wie mit Erwachsenen. Das ist nicht unsere AuffasHans-Christian Ströbele
sung von einem Rechtsstaat. Das wollen wir hier in
Deutschland nicht haben.
({6})
Ich sage Ihnen abschließend, Herr Kollege Kauder:
Sie haben bemängelt, dass das Jugendstrafvollzugsgesetz noch nicht auf dem Tisch liegt. Ich kann Sie beruhigen. Sie konnten sich damit auch schon befassen.
Es ist ein sehr umfangreicher Entwurf des Bundesjustizministeriums. Wir machen unsere Arbeit, die sehr
schwierig und umfangreich ist. Sie sollten nicht den Eindruck erwecken, dass sich das Bundesjustizministerium
oder die Koalition vor solchen Aufgaben drückt.
({7})
Als letzte Rednerin hat jetzt die Kollegin Laurischk
das Wort. Sie hat nicht mehr als zwei Minuten Redezeit.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und
Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf geht von einer
in den letzten Jahren stetig angestiegenen Jugendkriminalität aus, „der durch verstärkte Anstrengungen aller
staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte
wirksam zu begegnen“ sei. Tatsächlich sind die Zahlen
aber keineswegs so besorgniserregend.
Nach dem Kriminalitätsbericht des Innenministeriums von 2003 ist die Kinder- und Jugendkriminalität
seit 1998 weiterhin rückläufig. Dennoch befindet sie
sich absolut betrachtet auf einem zu hohen Niveau. Das
Jugendstrafrecht hat sich sicherlich bewährt. Es bietet
eine ganze Palette an Reaktionsmöglichkeiten der Jugendgerichte und stellt den Erziehungsgedanken in den
Vordergrund, was dem noch nicht abgeschlossenen Reifungsprozess von Jugendlichen und Heranwachsenden
entspricht.
Im Strafvollzug für Jugendliche sind die größten Erfolge der Resozialisierung zu verzeichnen, was wesentlich mit ihrer in diesem Lebensabschnitt noch bestehenden Prägbarkeit, aber auch mit der Flexibilität der
richterlichen Reaktion nach dem Jugendgerichtsgesetz
und den Eingriffsmöglichkeiten nach dem Jugendhilfegesetz zu tun hat.
In einer internen Anhörung hat die FDP-Bundestagsfraktion mit verschiedenen Fachleuten über Möglichkeiten zur Reduzierung der Jugenddelinquenz gesprochen.
Dabei kamen auch Modelle intensiver Betreuung straffälliger Jugendlicher - wie sie in Baden-Württemberg
beispielhaft sind - zur Sprache. Ich bin sicher, dass sich
der Rechtsausschuss auch im Rahmen einer Expertenanhörung mit dieser Fragestellung befassen wird.
Nach Auffassung der FDP-Fraktion ist die Schaffung
eines einheitlichen Jugendstrafvollzugsgesetzes dringlich. Ein solches Gesetz ist seit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zum Erwachsenenstrafvollzug im Jahr 1972 - das muss man sich einmal deutlich
machen: seit mehr als 30 Jahren - überfällig.
({0})
- Sehr richtig, Herr Ströbele. Es wurde von den jeweiligen Regierungen immer wieder in Angriff genommen
und ist jedesmal auf Länderebene gescheitert. Das sollten wir in dieser Diskussion - die ich durchaus nicht für
überflüssig halte, wie Sie gerade meinten, Herr Kollege
Ströbele - im Blick behalten. Diese Thematik kommt
mir etwas zu kurz.
({1})
Die Ankündigung, dass im Bundesjustizministerium
ein Entwurf in Arbeit ist, sollte uns freuen.
({2})
Ich bin sicher, dass die Bundesregierung ihre Anstrengungen verstärken wird, hinsichtlich eines Jugendstrafvollzugsgesetzes und seiner Finanzierbarkeit zu einem
mit den Ländern abgestimmten Ergebnis zu kommen.
Ich setze dabei auf die Gestaltungs- und Kompromissfähigkeit beider Seiten. Uns geht es um ein Kernanliegen
des Rechtsstaates, nämlich die Sicherstellung verfassungsrechtlich unangreifbarer und effektiver Vollzugsbedingungen auch für die Straftäter, die noch nicht erwachsen sind.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ein schönes
Pfingstfest.
({3})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 15/1472 und 15/2192 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den
Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne schöne
Pfingsttage. Wie ich höre, soll das Wetter besser werden.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Juni 2004, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.