Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/27/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, sich zu erheben. ({0}) Am 17. Mai ist unser Kollege Matthias Weisheit gestorben. Er wollte gerade eine Dienstreise antreten, als ein Herzanfall ihn aus unserer Mitte riss. Matthias Weisheit wurde am 18. Dezember 1945 in Leipzig geboren. In Ravensburg machte er das Abitur und in Weingarten absolvierte er sein Studium an der Pädagogischen Hochschule. Auch nach dem Studium blieb er dem Bodenseeraum und seinen Menschen verbunden. 20 Jahre arbeitete er hier als Realschullehrer an verschiedenen Schulen. Nicht allein durch die verschiedenen Funktionen, die er in der Sozialdemokratischen Partei auf örtlicher und regionaler Ebene und als Mitglied der Sozialistischen Bodensee-Internationale innehatte, sondern ebenso in seiner Tätigkeit in zahlreichen Vereinen haben viele Menschen Matthias Weisheit als einen außerordentlich kontaktfreudigen, aufgeschlossenen Menschen kennen und schätzen gelernt. Auch sein Auftreten und Wirken im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, wo er seine Fraktion als Obmann vertrat, war gekennzeichnet von seiner Tatkraft und seiner offenen, direkten Art, auf Menschen zuzugehen und Probleme ohne Umschweife anzusprechen. Selbst Schicksalsschläge wie der Tod seines Sohnes im Jahr 1999 haben ihn nicht mutlos werden lassen. Seiner Frau und seiner Tochter sprechen wir unser tief empfundenes Beileid aus. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. - Ich danke Ihnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nachfolgerin für den verstorbenen Kollegen Weisheit hat die Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß am 18. Mai 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin sehr herzlich. ({1}) Die Fraktion der SPD teilt mit, dass die Kollegin Erika Lotz als stellvertretendes Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. Nachfolgerin soll die Kollegin Rita Streb-Hesse werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Rita Streb-Hesse als stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt. Sodann möchte ich noch drei Kollegen nachträglich zum 60. Geburtstag gratulieren. Es sind dies die Kollegen Hans-Peter Kemper, Wilhelm Schmidt und Gert Weisskirchen. Im Namen des Hauses spreche ich die besten Glückwünsche aus. ({2}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: 1 Vereinbarte Debatte zur humanitären und menschenrechtlichen Situation und internationalen Verantwortung im westlichen Sudan ({3}) 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Im Westsudan ({4}) eine humanitäre Katastrophe verhindern - Drucksache 15/3197 ({5}) 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland sichern - Drucksache 15/3201 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Redetext Präsident Wolfgang Thierse 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther ({7}), Eberhard Otto ({8}), Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels - Leitlinien eines Gesamtkonzepts für die neuen Länder - Drucksache 15/3202 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({10}), Joachim Günther ({11}), Eberhard Otto ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten in Ostdeutschland - Drucksache 15/3203 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13}) Haushaltsausschuss 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({14}) a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ent- wurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Bundes- notarordnung - Drucksache 15/3147 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. April 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung - Drucksache 15/3177 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({15}) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital - Drucksache 15/3189 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({16}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Tourismus stärken - Chancen der EU-Erweiterung nutzen - Drucksache 15/3192 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({17}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({18}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Internationale Richtlinien für biologische Vielfalt und Tourismusentwicklung zügig umsetzen - Drucksache 15/3219 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({20}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({21}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Verschiebung des Zeitpunktes für das In-Kraft-Treten des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ({22}) auf den 1. Januar 2006 - Drucksache 15/3105 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({23}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen Post AG zur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen - Drucksache 15/3186 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({24}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 7 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({25}) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Den Rechtsweg in der Regulierung des Telekommunikationsmarktes ändern - Drucksache 15/3218 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Gert Weisskirchen ({26}), Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck ({27}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung und Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo - Drucksache 15/3204 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, Christian Schmidt ({28}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Der Kosovopolitik eine Perspektive geben - Drucksache 15/3188 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungsgesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen notwendig - Drucksache 15/3216 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({29}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Präsident Wolfgang Thierse Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für einen Helsinki-Prozess für den Nahen und Mittleren Osten - Drucksache 15/3207 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Europäische Verfassung beschließen - der erweiterten Union ein solides Fundament für die Zukunft geben - Drucksache 15/3208 13 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine qualitätsorientierte und an den regionalen Bedürfnissen ausgerichtete Ausschreibungspraxis von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen - Drucksache 15/3213 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({30}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten - Drucksache 15/2192 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({31}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Ferner sollen die Debattenpunkte nach Tagesordnungspunkt 12 wie folgt aufgerufen werden: Tagesordnungspunkt 17 - Kinder- und Jugendschutz -, Tagesordnungspunkt 16 - Frauen und Familien in der Bundeswehr -, Tagesordnungspunkt 19 - Südamerikapolitik -, Tagesordnungspunkt 14 - Historisches Erbe -, Tagesordnungspunkt 18 - Tierarzneimittel - und dann Tagesordnungspunkt 20 - Beziehungen der Europäischen Union zu Lateinamerika und der Karibik. Außerdem sollen der Tagesordnungspunkt 13 - Hochwasserschutz - und der Tagesordnungspunkt 15 - Flächendeckende Postdienstleistungen - abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({32}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Offensive für den Mittelstand - zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln Mittelstand umfassend stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Chancen für den Mittelstand - Rahmenbedingungen verbessern statt Förderdschungel ausweiten - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Statistiken reduzieren - Unternehmen entlasten - Bürokratie abbauen - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Joachim Günther ({33}), Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Modellregionen für Deregulierung und Bürokratieabbau - Drucksachen 15/351, 15/349, 15/357, 15/752, 15/1134, 15/3221 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Lange ({34}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Noch zu keiner Zeit sind so viele den Mittelstand strukturell unterstützende Reformen in so kurzer Zeit ergriffen, ({0}) auf den Weg gebracht und umgesetzt worden ({1}) wie zu Beginn der 15. Legislaturperiode. ({2}) - Ihre Freude zeigt, dass Sie vielleicht ein eher schlechtes Gewissen haben, ({3}) wenn Sie den Reformstau im Mittelstand beklagen. Sie werden am Ende erleben, welch positive Bilanz wir vorzulegen haben. Wir lassen uns bei unserer Arbeit von den Zielen und Grundsätzen, die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 14. März des vergangenen Jahres anlässlich der Erläuterungen zur Agenda 2010 formuliert hat, leiten. Es geht dabei nicht um ein Konjunktur- und Beschäftigungsprogramm, das uns nur kurzfristig Erleichterung schaffen würde, es geht bei der Agenda 2010 um weit reichende Strukturreformen, die Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze bei Wohlstand und Arbeit bringen werden. Ich gebe zu: Zurzeit wirken diese Reformen noch nicht so, wie sie wirken werden, wenn sich die konjunkturelle Lage verbessert hat. Mit der Agenda 2010 verfügen wir aber über ein klares, stimmiges Konzept, bei dem der Stärkung und der Förderung des wirtschaftlichen Mittelstands eine ganz besondere Rolle zukommt. ({4}) Wenn ich mir dagegen die Anträge der Oppositionsparteien ansehe, kann ich ein vergleichbares Konzept nicht entdecken. Hier wird vielen vieles versprochen; meist ist es ein Sammelsurium von Ankündigungen, die dann bei der konkreten Entscheidung - zum Beispiel im Vermittlungsausschuss - keine Beachtung mehr finden. Meine Damen und Herren, kleine und mittlere Unternehmen haben es in unserem Lande zurzeit schwer, teilweise sehr schwer. ({5}) Drei Jahre Stagnation haben tiefe Spuren hinterlassen. Doch es ist nicht nur die konjunkturelle Durststrecke, die den Mittelstand plagt. ({6}) Der Wettbewerbsdruck auf den heimischen Märkten nimmt zu und er wird weiter zunehmen. Die Plage ist Ihre Blockadepolitik, das müssen wir ganz deutlich sehen, das werden die Menschen in diesem Land auch nach wie vor feststellen. Da nutzt es auch gar nichts, dass Sie ablenken wollen. In der Tat können wir uns nichts vormachen: Wenn Sie weiterhin wichtige Reformschritte behindern, wird es dem Mittelstand auch in der Zukunft nicht besser gehen können. ({7}) Ich will auf ein anderes Thema hinweisen: Die deutsche Bankenlandschaft zum Beispiel befindet sich in einem Prozess der Reorganisation. Die großen Privatbanken ziehen sich aus dem Finanzierungsgeschäft mit dem Mittelstand zurück. Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die traditionellen Kreditgeber der kleinen und mittleren Unternehmen, befinden sich selbst in einer schwierigen Konsolidierungsphase. Wir haben auf diese Situation im Bankensektor reagiert. Nur, eines ist klar: Der Staat kann diese teilweise tief greifenden Umstrukturierungsprozesse in unserer Wirtschaft, in unserem Bankensektor nicht vollständig kompensieren. ({8}) Er kann ihre negativen Auswirkungen auf Investoren allein nicht auffangen, Herr Schauerte. Auch hier gilt: Der Staat kann nicht alles richten; er soll und darf es auch nicht. Das ist vornehmlich eine unternehmerische Aufgabe, hier ist die schöpferische Kraft des Unternehmers und der Unternehmerin gefragt. Hier vonseiten der Politik falsche Erwartungen zu wecken, wie Sie es teilweise tun, ist fahrlässig und unverantwortlich. ({9}) Es ist schon merkwürdig, meine Damen und Herren: Häufig sind diejenigen, die lautstark übermäßigen Staatseinfluss bedauern, nach immer weniger Staat, immer stärkerer Deregulierung und Entbürokratisierung rufen, diejenigen, die als Erste staatliche Hilfen und staatliche Regulierung fordern, wenn sie ihre eigenen Interessen gefährdet sehen. Meine Damen und Herren von der Union und von der FDP, da klaffen Anspruch und Wirklichkeit häufig meilenweit auseinander. Ich kann Sie nur auffordern, in diesem Zusammenhang mehr Redlichkeit zu zeigen, als Sie in der Vergangenheit an den Tag gelegt haben. ({10}) Ich wiederhole meine Eingangsfeststellung: Zu keiner Zeit wurden so viele Reformen für den Mittelstand auf den Weg gebracht wie in dieser Legislaturperiode. ({11}) Was haben wir versprochen? Was haben wir gehalten? Was bleibt noch zu tun? Dazu habe ich mir zehn Punkte notiert: Erstens. Wir haben die Finanzierungsbedingungen für die mittelständische Wirtschaft nachhaltig verbessert und werden sie weiter verbessern. Der Spitzensteuersatz wurde von uns um 11 Prozentpunkte auf 42 Prozent gesenkt. Wir erinnern uns, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der Union und der FDP: Damals lag er bei 53 Prozent. ({12}) Der Eingangssteuersatz betrug im Jahr 1998 25,9 Prozent; heute sind es 15 Prozent. Der Körperschaftsteuersatz wurde von 30 Prozent für ausgeschüttete und von 40 Prozent für einbehaltene Gewinne einheitlich auf 25 Prozent gesenkt. Insgesamt werden die mittelständischen Unternehmen ab dem 1. Januar 2005 jährlich um gut 17 Milliarden Euro entlastet. Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen und dürfen es nicht nur schlecht machen. ({13}) Das ist die größte Steuerstrukturreform, die es in Deutschland je gegeben hat. Sie hilft vor allem dem von Personengesellschaften geprägten Mittelstand. Unser Ziel ist es, die Finanzierung von Investitionen durch die Einbehaltung von Gewinnen aus steuerlicher Sicht attraktiver zu machen. Das ist unsere Antwort auf die Finanzierungskrise mittelständischer Unternehmen. Zweitens. Wir haben mit unserer Politik der strikten Haushaltskonsolidierung für anhaltend niedrige Zinsen und damit für günstige Finanzierungskosten der Unternehmen gesorgt. Was hilft der mittelständischen Wirtschaft mehr als niedrige Finanzierungskosten? Drittens. Nach dem dramatischen Anstieg der Lohnnebenkosten unter der unionsgeführten Bundesregierung haben wir den Einstieg in die Konsolidierung der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung geschafft. Zu Ihrer Erinnerung die Zahlen: Von 1982 bis 1998 sind die Sozialversicherungsbeiträge von 34 Prozent um ganze 8 Prozentpunkte auf 42 Prozent gestiegen. Damit haben wir Schluss gemacht. ({14}) Wem nutzt die Senkung der Lohnnebenkosten mehr als den kleinen und mittleren Unternehmen? Insbesondere diese Unternehmen werden davon profitieren. Viertens. Wir haben mit den Hartz-Reformen für mehr Effizienz und mehr Mobilität auf dem Arbeitsmarkt gesorgt. Wir haben für Neueinstellungen den Kündigungsschutz gelockert. Unternehmen können jetzt schneller und leichter Arbeitskräfte rekrutieren. ({15}) Fünftens. Wir haben das Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit auf den Weg gebracht. Jahrzehntelang haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, bei diesem Problem weggeschaut, was fatale Folgen für die Steuer- und Abgabenbelastung in unserem Land hatte. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hatten das letztlich durch höhere Beiträge mit zu finanzieren. Niemand sieht sich durch die Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft aber mehr in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet als kleine und mittlere Unternehmen. Sechstens. Wir haben mit dem neuen Ladenschlussgesetz die Chancen des Einzelhandels für mehr Umsatz und Beschäftigung verbessert. Siebtens. Wir haben nach 50 Jahren das Handwerksrecht entrümpelt und haben dadurch mehr Chancen für die im Handwerk Beschäftigten, für Existenzgründer, für Gesellen und für Meister eröffnet. Wir haben das Handwerksrecht europatauglich gemacht. Achtens. Wir haben alle Förderaktivitäten des Bundes im Kredit- und Beteiligungsbereich in der KfW-Mittelstandsbank zusammengefasst. Das Förderangebot wurde gebündelt und gestrafft. Gleichzeitig wurde die Förderpolitik weiterentwickelt und neu ausgerichtet, zum Beispiel mit der neuen Produktfamilie des Unternehmerkapitals. Neuntens. Wir machen ernst mit dem Bürokratieabbau. Deregulierung und Vereinfachung der Verwaltungsabläufe sind in Arbeit. Zehntens. Wir haben bei der Innovations- und Außenwirtschaftsförderung den Schwerpunkt auf die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen gelegt. Meine Damen und Herren, Johannes Rau hat in seiner letzten großen Berliner Rede die Frage gestellt, ob wir uns nicht inzwischen selber so schlecht geredet haben, dass wir uns nichts mehr zutrauen. Ich zitiere den Bundespräsidenten wörtlich: Ich wüsste kein Land, in dem so viele Verantwortliche und Funktionsträger mit so großer Lust so schlecht, so negativ über das eigene Land sprechen, wie das bei uns in Deutschland geschieht. Der Bundespräsident warnt: Das bleibt nicht ohne Folgen. Drei Beispiele dazu aus der jüngsten Vergangenheit: Erstens. Unser Sozialsystem steht nicht vor dem Zusammenbruch. Das zu behaupten wäre abstruser Unsinn. Trotzdem wird so getan, als wäre es so. Viele wollen das dazu nutzen, das Sozialsystem völlig auf den Kopf zu stellen und dem Mittelstand angeblich zu helfen. Gerade der Mittelstand ist auf gute Sozialbeziehungen angewiesen. ({16}) Zweitens. Der Aufbau Ost ist weder gescheitert noch sind die Hilfen von über 1000 Milliarden Euro sinnlos und wirkungslos versickert. Der Aufbau ist vielmehr ein Ruhmesblatt der neueren deutschen Geschichte, auf das alle Deutschen stolz sein können. ({17}) Enttäuscht kann nur der sein, der auf die Lügen derjenigen hereingefallen ist, die behaupteten, die deutsche Einheit könne aus der Portokasse bezahlt werden, und die den Menschen blühende Landschaften in nur wenigen Jahren versprachen. ({18}) Drittens. Der Industriestandort Deutschland steht nicht vor dem Niedergang. Das Gegenteil ist richtig. ({19}) Wir sind im weltweiten Wettbewerb einer der aktivsten Standorte für Investoren. Das wissen offenbar aber nur die ausländischen Investoren. Bei Ihnen wird das auf taube Ohren stoßen. Das ist traurig genug; denn richtig ist: Unsere Probleme sind lösbar und sie werden von dieser Bundesregierung zurzeit Schritt für Schritt gelöst. ({20}) Der entscheidende Reformschritt, den wir dabei gegangen sind, ist die Agenda 2010. Das bestätigen uns alle internationalen Institutionen von Belang, seien es der Internationale Währungsfonds, die Europäische Kommission oder die OECD. Alle bestätigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir brauchen mehr Zuversicht, Mut und Entschlossenheit, aber auch mehr Verantwortung und Disziplin, um die notwendigen Reformen zu bewältigen. Wir sind mit den Reformen noch nicht am Ende. ({21}) Der mit der Agenda 2010 eingeleitete Reformprozess muss und wird weitergeführt werden. Ich würde mir für unser Land wünschen, dass diejenigen in der öffentlichen Debatte mehr Beachtung fänden, die sich mit realistischen Veränderungsvorschlägen sowie mit offener Dialog- und fairer Kompromissbereitschaft hervortun. Wir brauchen, wie Johannes Rau es empfiehlt, in unserem Lande wieder eine Kultur der Zuversicht und der Ermutigung. Dazu rufe ich uns alle auf. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Brandner, wenn man Ihnen eben zugehört hat, dann bekam man wirklich das Gefühl, dass der Realitätsverlust schon sehr weit fortgeschritten ist. ({0}) Ihr Wort in Gottes Ohr, aber die Fakten schauen leider anders aus. Während dieser Debatte, also allein in diesen 90 Minuten, werden irgendwo zwischen Flensburg und Passau sieben Betriebe offiziell Insolvenz anmelden; das wissen Sie. Sie wissen auch, dass, während wir hier sprechen - in diesen 90 Minuten -, 100 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wegbrechen und Familien in Existenzängste geraten. In diesen eineinhalb Stunden wird es auch wieder ein paar Spitzenkräfte geben, die sich überlegen, unserer Heimat den Rücken zu kehren, um nicht hier, sondern in unseren Nachbarländern Arbeitsplätze, Wohlstand und Wachstum zu schaffen. Das sind die Tatsachen, lieber Herr Kollege. ({1}) Wenn ich mir unseren Antrag anschaue, der heute zur Debatte steht und den wir schon vor 15 Monaten eingebracht haben, dann stelle ich fest, dass er genauso aktuell wie damals vor 15 Monaten ist. ({2}) Wir brauchen eine grundsätzliche Kehrtwende. Diese Kehrtwende ist unter Ihrer Regierung nicht eingetreten. Eines muss ich Ihnen sagen: Die Lage ist seit 2003 noch dramatischer geworden, als sie sowieso schon gewesen ist. Hier nützen auch die medienwirksamen Worte Ihres Kanzlers nichts, der ausgeführt hat, dass die Trendwende endlich geschafft ist. Wo ist denn die Trendwende geschafft? Das haben Sie mit Ihren Worten nicht ausgeführt. Genauso wie wir haben auch Sie den zweiten Mittelstandsbericht der führenden Wirtschaftsverbände zur Kenntnis genommen. Darin wurde die Entwicklung von 1,6 Millionen Betrieben mit 12,5 Millionen Beschäftigten analysiert. Was wird dort ausgesagt? Dort steht, dass das Wiederanspringen des Mittelstandes und damit der Binnenkonjunktur für die mittelständischen Unternehmen lediglich ein Hoffnungswert bleibt. Es regiert in diesem Land also das Prinzip Hoffnung und sonst überhaupt nichts. Die Geschäftslage hat sich verschlechtert, nicht verbessert. In dem Bericht wird auch ausgeführt, dass wir nicht normale zyklische Schwankungen haben, sondern dass dies der Ausdruck massiver Strukturdefizite ist. Diese müssen angegangen werden. Aber mit Ihrer Politik passiert gar nichts. Wir sehen es doch: Nach den Zahlen, die gestern die GfK zum Konsumklima veröffentlichte, ist der Konsumklimaindikator auf 4,7 Prozent gesunken. Wir wissen von dieser lähmenden Konsumneigung. Die Menschen haben Angst und sind durch Ihre Politik verunsichert. Besondere Angst haben sie - das ist interessant - vor weiteren Steuererhöhungen dieser Regierung, wie es in der gestrigen Veröffentlichung der GfK deutlich wurde. ({3}) Hören Sie doch auf die Bundesbank! Die Bundesbank schreibt in ihrem Bericht vom März, dass die Staatsschulden ohne Reformen in den nächsten zehn Jahren von über 60 Prozent, die wir schon jetzt haben, auf dann 140 Prozent steigen werden. Sie wissen ganz genau, dass wir in einem hoch verschuldeten Staat leben. Dies ist auch Ergebnis Ihrer Politik. Inzwischen wird für Zinsen mehr ausgegeben als für Forschung und Entwicklung. Das heißt, Sie finanzieren die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Sie gehen hier den falschen Weg. ({4}) Der Grund dafür ist nicht, dass die Steuereinnahmen wegbrechen. Vielmehr steigen die Steuereinnahmen. 1998 lagen die Steuereinnahmen noch bei 175 Milliarden Euro. Bei uns aber lag die Investitionsquote bei 12,5 Prozent. Das ist für den Mittelstand wichtig. Inzwischen sind die Steuereinnahmen auf über 190 Milliarden Euro gestiegen; aber die Investitionsquote ist auf unter 10 Prozent gesunken. Das schadet dem Mittelstand. Schauen wir uns einmal das Jahr 2003 an, Herr Brandner, das Sie gerade so hervorgehoben haben. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Vertrauen verspielt und wie es aufgrund des mangelnden Vertrauens zu immer weniger Investitionen von Unternehmen kommt. Ihre Mittelstandsoffensive haben Sie immens medienwirksam angekündigt. Was ist dabei herausgekommen? Ein so genannter Small Business Act. Er war nämlich sehr „small“ und leider gab es auch wenig „business“, wie wir inzwischen festgestellt haben. ({5}) Es ging aber weiter. Sie sind unwahrscheinlich kreativ beim Erstellen von neuen Masterplänen und Offensiven, die aber wenig bringen. Sie haben dann einen Masterplan Bürokratieabbau aufgelegt. Was ist dabei herausgekommen? Inzwischen haben wir mehr Bürokratie als damals. Sie bringen ein Gesetz nach dem anderen auf den Weg, das noch mehr Bürokratie nach sich zieht. Wenn Sie keine bürokratischen Gesetze auf den Weg bringen, dann schaffen Sie neue bürokratische Behörden, und zwar eine nach der anderen. Das ist Ihre Politik. ({6}) Der Beweis dafür ist, dass die Unternehmen inzwischen 46 Milliarden Euro für Bürokratie aufbringen müssen. Allein der Mittelstand zahlt davon 84 Prozent. Wir müssen uns schon fragen: Warum ist es nicht möglich, für jedes Gesetz und jede Rechtsverordnung, die gemacht werden, zwei abzuschaffen? Warum haben Sie dazu nicht den Mut? Warum werden nicht von nun an nur noch befristete Gesetze gemacht? Warum wird nicht festgelegt, dass die Altvorschriften in bestimmten Fristen überprüft werden und die Regierung dann nachweisen muss, dass die Vorschriften überhaupt notwendig sind? Herr Kollege Brandner, Sie haben vorhin die Handwerksordnung angeführt. Die Reform der Handwerksordnung war als der große Wurf angedacht. Was haben Sie gemacht? Sie haben versucht, die Handwerksordnung zu zerschlagen und sie durch staatlich hoch subventionierte Ich-AGs zu ersetzen. Das war Ihre Politik. ({7}) Sie wissen doch ganz genau, dass Innovation und Wachstum nicht durch diese Kleinstunternehmen entstehen. Diese können gerade für sich selbst sorgen. ({8}) Neue Ideen werden nur dort geboren, wo Menschen zusammenkommen und Ideen kreativ vorangebracht werden. Das ist im Mittelstand der Fall. ({9}) Dann kam noch etwas Neues in Form einer Innovationsoffensive, als Sie das Thema Innovation für sich entdeckt hatten. Das ist schon wieder drei Monate her. Aber außer vollmundigen Erklärungen und Expertenrunden, die Sie in der Presse übrigens sehr gut verkauft haben - das muss ich neidvoll anerkennen -, kam nichts. Es fehlt eine ernsthafte Konkretisierung dieses Projekts. Sie kündigen immer nur an. ({10}) Sie kündigen vollmundig Programme an, die - das muss ich zugestehen - nicht schlecht klingen, aber inhaltlich nichts bringen. Sie haben bis jetzt nichts realisiert und auf den Weg gebracht, was uns in diesem Bereich nach vorne gebracht hätte. Auf das Mautdebakel ({11}) und die dadurch ausbleibenden Verkehrsinvestitionen, wovon viele kleine und mittlere Betriebe betroffen sind, will ich hier gar nicht näher eingehen. ({12}) Unser Land steht vor allem seit dem Mai dieses Jahres vor neuen Herausforderungen. Das wissen Sie. Wie haben Sie uns auf diese neuen Herausforderungen vorbereitet? Fakt ist, dass nicht nur die Großunternehmen Arbeitsplätze verlagern, sondern inzwischen auch die kleineren und mittleren Betriebe Arbeitsplätze zukünftig in den Beitrittsländern schaffen. Das geschieht nicht, weil sie vaterlandslos sind, wie einige von Ihnen behaupten. Sicher ist die Verlagerung für die Markterschließung wichtig und sicher werden damit auch Arbeitsplätze bei uns gesichert. Fakt ist aber auch, dass der Grund nicht nur weniger Steuern und weniger Abgaben sind. Wissen Sie, was es dort gibt? Unternehmerische Freiheit. ({13}) Das ist es, was viele kleine und mittelständische Betriebe bewegt, nicht mehr hier zu investieren, sondern in unseren Nachbarländern. ({14}) Hier müssen Sie ansetzen. Aber was machen Sie? Sie kürzen überproportional die GA-Förderung, ausgerechnet das Förderinstrumentarium, das kleine und mittelständische Betriebe zu Investitionen anregt. Das tun Sie nur, um den Steinkohlebergbau abzusichern. Sie müssen sich einmal überlegen, ob das die richtige Mittelstandspolitik ist, die Sie auf den Weg bringen. ({15}) - Lieber Herr Kollege, wenn Sie keine andere Politik machen, dann kann ich auch keine andere Leier spielen. Machen Sie eine andere Politik, dann werde ich hier auch anders reden! ({16}) Sie wissen genauso wie wir, dass die Eigenkapitalschwäche die Achillesferse der mittelständischen Betriebe ist. Hier müssen wir zu neuen Finanzierungsmöglichkeiten und Anreizen kommen. Wir brauchen auch eine große Steuerreform. Ich rede von einer großen Steuerreform. Sie können mit uns darüber reden, mehr Subventionen abzubauen, als bisher geplant sind. Wir sind aber nicht bereit, Subventionen abzubauen und mit dem eingesparten Geld Haushaltslöcher zu stopfen. Eine große Steuerreform ist richtig, damit wir wieder konkurrenzfähig werden. Unsere Nachbarländer sind wirklich wachstumshungrig. Sie haben Niedrigsteuersätze. Wir aber sind mit unserer Gesamtsteuerlast an oberster Spitze in Europa. ({17}) Was haben Sie dem entgegenzusetzen? Ausbildungsplatzabgabe - toll. Im Bundesrat wird über Pläne zur Erhöhung der Erbschaftsteuer gesprochen, anstatt dass Sie unseren Vorschlag aufgreifen. Stunden Sie die Erbschaftsteuer, wenn ein Betrieb von einem Nachfolger übernommen wird! Erlassen Sie ihm die Erbschaftsteuer nach zehn Jahren! Dann hat er ganz bestimmt mehr für die Volkswirtschaft getan, als wenn er unter Ihrer Regierung Erbschaftsteuer zahlt. ({18}) Wir haben viele Baustellen. Das ist gar keine Thema. Die gab es auch zu unserer Zeit. Die Probleme müssen aber angegangen werden. Wir können uns nicht zurücklehnen. Wenn Sie sehen, dass sich bei einer der wichtigsten Baustellen bei Ihnen überhaupt nichts tut und auch nicht zu erwarten ist, dass sich in den nächsten zwei Jahren nichts tut, nämlich auf dem Arbeitsmarkt, der bei uns wirklich in Beton gegossen ist, dann erkennen Sie die traurigen Perspektiven, die wir haben. Wir müssen die betrieblichen Bündnisse für Arbeit angehen. Das World Economic Forum kam in einer Studie über 102 Länder zu dem Ergebnis, dass außer Venezuela wir das restriktivste Kündigungsschutzgesetz haben. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Wenn Sie dann die neuesten Umfragen hören, wonach zwei Drittel der Unternehmen sich wegen unseres Kündigungsschutzes gegen neue Jobs entscheiden, dann muss man doch das Thema angehen. Wenn Sie weiterhin hören, dass 70 Prozent bereit sind, bei einer Lockerung des Kündigungsschutzes zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, dann muss man das Thema erst recht angehen. Wir haben Probleme mit unseren Sozial- und Regulierungskosten, die immer höher steigen, ohne dass die Beschäftigten mehr Geld in der Tasche haben. Wir müssen aus dem Teufelskreis von wachsender Arbeitslosigkeit und eskalierenden Sozialleistungen herauskommen. Wir müssen zu mehr privater Vorsorge und zu einer Entkoppelung der Sozialleistungen vom Faktor Arbeit kommen. Aber es ist nicht so, dass nur wir diese Vorschläge machen. Ich verstehe zwar, dass Sie unsere Entschließungsanträge und Gesetzentwürfe ablehnen - wir sind schließlich die Opposition -, aber warum hören Sie nicht auf den Sachverständigenrat, auf führende Forschungsinstitute, auf nationale und internationale Wirtschaftsexperten und auf Ihre eigenen Beiräte? Die Gutachten, die Ihnen erklären, was Sie falsch machen, stapeln sich inzwischen. Packen Sie es doch an! ({19}) Ich möchte mit einem Zitat schließen, mit dem ich Ihnen vielleicht ein Leitbild für die nächsten Wochen und Monate bieten kann, in denen Sie noch Regierungsverantwortung tragen. Der Unternehmer und Mittelständler Hans Knürr hat einmal gesagt: Belässt man dem Mittelstand die notwendigen MITTEL, hat er ohne staatliche Hilfe einen unglaublich festen STAND. Denken Sie daran, wenn Sie über die nächste Steuererhöhung nachdenken! Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Rezzo Schlauch das Wort.

Rezzo Schlauch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002777

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Liebe Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben davon gesprochen, dass es viele Baustellen gibt. Darauf kann ich nur eines erwidern: Wir arbeiten an diesen Baustellen, während Sie sie blockieren. ({0}) Ein aktuelles Beispiel einer solchen Baustelle, die Sie aus ideologischer Borniertheit blockiert haben, Frau Kollegin Wöhrl, ist das Zuwanderungsgesetz, ({1}) um das wir uns seit zwei Jahren bemühen und das jetzt Gott sei Dank durch die Bemühungen des Bundeskanzlers erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann. Damit nicht genug: Nicht nur das Zuwanderungsgesetz, sondern beispielsweise auch die sozialen SicheParl. Staatssekretär Rezzo Schlauch rungssysteme sind Baustellen, die mit dem Satz „Die Rente ist sicher“ 16 Jahre lang geschlossen blieben. Wir hingegen sind - das war schwierig genug - in vielen Einzelschritten eine Reform der sozialen Sicherungssysteme angegangen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Schlauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?

Rezzo Schlauch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002777

Nein danke, jetzt nicht. Ich habe gerade erst angefangen. Eine weitere Baustelle, auf die Sie nicht eingegangen sind, ist das Thema Steuern. Sie haben über Jahre hinweg das Steuerniveau auf einem unerträglich hohen Niveau gehalten. Wir haben es zwar mit Mühen, aber erfolgreich gesenkt, und zwar so, dass die Senkung des Steuerniveaus zielgenau den mittelständischen Betrieben zugute kommt. ({0}) Insofern bleibt mir nur festzustellen: Natürlich ist nichts so gut, als dass es nicht noch besser werden kann. Aber wir müssen uns mit der Bilanz unserer Mittelstandspolitik nicht hinter Ihnen verstecken. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schlauch, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?

Rezzo Schlauch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002777

Nein danke, ich habe schon abgelehnt. Ich möchte auf zwei Gesichtspunkte näher eingehen. Herr Kollege Brandner hat schon ein Thema angesprochen, auf das Sie nicht eingegangen sind und das derzeit mit Sicherheit eines der schwierigsten Probleme des Mittelstands ist, nämlich die Finanzierung des Mittelstands durch die Kreditwirtschaft. Wir haben - auch das ist bei Ihnen übrigens unterblieben - frühzeitig Maßnahmen ergriffen, um die Bereitschaft der Kreditwirtschaft so zu steigern, dass der Mittelstand weiterhin zum Kerngeschäftsfeld gehört und auch tatsächlich so behandelt wird. ({0}) Mit der Fusion der beiden staatseigenen Förderbanken zur KfW-Mittelstandsbank haben wir eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen. Die Bilanzen und Zahlen machen deutlich, wie erfolgreich der von uns beschrittene Weg ist. Im Jahr 2004 stellt die KfW insgesamt über 5 Milliarden Euro für Mittelstandskredite zur Verfügung. Bis März dieses Jahres sind bereits 2,4 Milliarden Euro abgerufen worden. Wir haben speziell für den Mittelstand mit dem so genannten Mezzanine-Kapital ein Finanzierungsinstrument geschaffen, das dazu geeignet ist, die Eigenkapitalschwäche der Unternehmen - die im Übrigen nicht vom Himmel gefallen ist, Frau Kollegin Wöhrl, sondern aufgrund unserer Steuerregelungen eine jahrzehntelange Geschichte hat; Sie wissen, worin sie begründet liegt - zu mildern. Wir haben außerdem - Bayern ist bei diesem Pilotfonds mit dabei - die Eigenkapitalfrage über die KfW wieder aufgegriffen. Wir haben in diesem Bereich also in massiver Weise Initiativen unternommen, um die Finanzierungsschwäche der Unternehmen durch die Banken einigermaßen auszugleichen. Dass das nicht eins zu eins möglich ist, ist klar. Frau Kollegin Wöhrl, zu einer weiteren von Ihnen angesprochenen Baustelle: Zur Sicherung der Unternehmensliquidität gehört ebenfalls, dass wir das Thema Zahlungsmoral nochmals angehen. Der kürzlich vorgelegte Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung der Zahlungsmoral“ enthält aus unserer Sicht eine Reihe guter Vorschläge, die nicht nur zu technischen, sondern auch zu inhaltlichen Verbesserungen der derzeitigen Rechtslage für Handwerker und Unternehmer führen dürften. ({1}) Auch beim Abbau der den Mittelstand besonders belastenden Bürokratie bzw. Überbürokratie - dieser Punkt wird von Ihrer Seite und vonseiten der Wirtschaftsverbände immer wieder angeführt - gibt es entscheidende Fortschritte. Bürokratieabbau betrifft - das wissen Sie genauso gut wie wir - alle staatlichen Ebenen, von der EU bis zu den Kommunen. Frau Kollegin, bei diesem Thema haben wir aber die Erfahrung mit Ihnen von der Opposition sowie mit den Wirtschaftsverbänden gemacht, dass gerade diejenigen, die am lautesten nach Bürokratieabbau rufen, genau dann lieber beim Alten bleiben wollen, wenn es um die Wahrung eigener Besitzstände geht. ({2}) In der von Ihnen angesprochenen Diskussion über die Handwerksreform haben Sie regelrecht ideologische Grabenkämpfe geführt, um zu verhindern, dass zehn Gewerke von einer Anlage in die andere überführt werden. Allen, die damals den Untergang des Handwerks prophezeiten, kann ich nur sagen: Er ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Diese Reform hat sich sehr positiv ausgewirkt. In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es bei fast allen Handwerkskammern einen regelrechten Gründungsboom, und zwar vor allem bei den zulassungsfreien Handwerken. Im Bereich vieler Handwerkskammern kam es im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bei den zulassungsfreien Handwerken zu einer Verfünffachung der Zahl der Eintragungen. ({3}) Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie während der damaligen Debatte Ihre Energie darauf verwandt haben, im klassischen Sinne strukturkonservativ zu agieren und althergebrachte Strukturen zu verteidigen. Sie haben versucht, den Wettbewerb einzuschränken. ({4}) Ich kann dazu nur sagen: Mit unserer Handwerksreform haben wir mehr Wettbewerb ermöglicht und haben für Belebung in diesem Bereich gesorgt, während Sie, wie gesagt, auf althergebrachte Weise den Status quo verteidigt haben. ({5}) Das, was wir hier gemacht haben, war echter Bürokratieabbau von unten, der außer Entschlusskraft und Mut nichts gekostet hat. Beides haben wir gehabt. Ein weiteres Beispiel für das Motto „Bürokratieabbau ja, aber bitte nur bei den anderen“ ist die Reform des Vergaberechts. Hier wird ein Wust an umfänglichen und unverständlichen Regelungen von Ihrer Seite sowie - das verwundert mich besonders - vor allen Dingen vonseiten der Wirtschaft und insbesondere der Wirtschaftsverbände plötzlich als Bollwerk gegen Korruption hochstilisiert. Ein einfaches, transparentes Vergaberecht, wie wir es auf den Weg bringen wollen, wird abgelehnt, und zwar deshalb, weil man um den Verlust des Einflusses durch die so genannten Verdingungsausschüsse fürchtet, in denen bislang die Vertreter von Verbänden und Behörden gemeinsam die Ausschreibungsregeln erarbeitet haben. Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass diejenigen, die täglich den Schlachtruf der Deregulierung, der Liberalisierung, der Entbürokratisierung auf den Lippen führen, plötzlich zu heftigen Verteidigern des Status quo werden, wenn es konkret wird. Wir setzen den Bürokratieabbau fort, beispielsweise durch die Reform der Arbeitsstättenverordnung und dadurch, dass wir den Arbeitsschutz bei den Berufsgenossenschaften bündeln. Das bestehende System mit 80 Unfallversicherungsträgern in 16 Bundesländern führt nämlich dazu, dass die Betriebe häufig doppelt überwacht werden. Durch die von uns vorgeschlagene Zusammenführung des staatlichen und des berufsgenossenschaftlichen Vollzugs im Arbeitsschutz wollen wir diese Tätigkeiten bündeln und die Unternehmen so von unnötigem Verwaltungsaufwand entlasten. Frau Kollegin Wöhrl, der große Wurf ist immer sehr schnell dargelegt. Ich erinnere Sie an den großen Wurf Ihres Kollegen Merz, den er mit einem radikalen Gestus präsentiert hat - Stichwort „Steuerreform auf einem Bierdeckel“ - und mit dem er in Ihren eigenen Reihen kläglich gescheitert ist. Es ist mehr Mühe und Arbeit notwendig, um die Situation des Mittelstands zu verbessern. Da muss man auch in die Details gehen. An die Lösung dieser Probleme sind wir mit der Agenda 2010 und mit den von mir angesprochenen Maßnahmen zum Bürokratieabbau und zur Förderung des Mittelstands herangegangen. All dies ginge noch viel schneller, und zwar zum Wohle des Mittelstands, wenn Sie Ihre unsägliche Blockadepolitik in Sachen Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Bundesrat endlich aufgäben. Alle in diesem Haus sind dafür, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt werden. Statt über organisatorische Fragen zu diskutieren, sollte man substanzielle Verbesserungen für den Mittelstand in den Vordergrund rücken. Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben ein düsteres Bild gezeichnet. Es war wie immer schwarz in schwarz. Das ist Ihre Farbe. ({6}) Ich kann Ihnen nur sagen - das wissen Sie; schließlich ist das ein konservativer Ausspruch -: Wirtschaftspolitik ist zur Hälfte gute Psychologie. In dieser Beziehung sind Sie keine gute Wirtschaftspolitikerin, weil Sie mit „schwarz in schwarz“ nicht weiterkommen. Ich will Ihnen an diesem Punkt auch entgegenhalten: Nach der Frühjahrsmittelstandsumfrage der DZ Bank - immerhin eine objektive Institution - erwarten 44 Prozent der mittelständischen Unternehmen in den kommenden Monaten bessere Geschäfte. Dies ist nach Angaben der Bank der zweithöchste Wert seit fast zehn Jahren. Das klingt etwas anders als das von Ihnen dargestellte Horrorszenario. Wir werden daran arbeiten, dass sich die Lage weiterhin verbessert. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Schlauch, Sie haben mir keine Gelegenheit gegeben, eine Frage zu stellen. Deshalb möchte ich mit dieser Kurzintervention Ihre Behauptung klar zurückweisen, dass wir an verschiedenen Punkten blockiert haben. Als Sie von Blockaden gesprochen haben, müssen Sie wohl zunächst an sich selbst gedacht haben. Sie verwechseln hier etwas. Die CDU/CSU hat gestern im Finanzausschuss den Antrag gestellt, die für den Mittelstand äußerst schwierige Neuregelung der Gesellschafterfremdfinanzierung über § 8 a Körperschaftsteuergesetz wieder zu ändern. Es ist natürlich ein Mittelstandsvernichtungsprogramm, wenn die Zinsen für eine Finanzierung im Mittelstand auch noch voll versteuert werden müssen. Sie haben die Veränderung verweigert, obwohl Sie wissen, dass das letztlich wirklich ein Mittelstandsvernichtungsprogramm ist. ({0}) Es muss noch einmal deutlich darauf hingewiesen werden, dass wir von der CDU/CSU gerade einen Antrag für ein Sofortprogramm in der Steuerpolitik in den Deutschen Bundestag eingebracht haben und Sie sich auch diesem Antrag verweigert haben. Er hätte gerade für den Mittelstand ein deutliches Signal in Richtung Entlastung, mehr Freiraum für Investitionen und vor allem Vereinfachung gesetzt. Herr Staatssekretär, nehmen Sie einfach zur Kenntnis, dass Sie mit Ihrem Vorwurf nichts anderes tun, als Nebelkerzen zu werfen. Sie haben dem Mittelstand damit nicht gedient. Der Mittelstand braucht eine klare Mittelstandspolitik und keine Nebelkerzen. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schlauch, Sie haben die Möglichkeit zur Antwort.

Rezzo Schlauch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002777

Herr Kollege Michelbach, ich möchte kurz auf den § 8 a Körperschaftsteuergesetz eingehen. Vielleicht ist es Ihnen entgangen, aber Tatsache ist: Für die unbefriedigende Fassung des § 8 a Körperschaftsteuergesetz sind alle in diesem Hause, einschließlich Ihrer Fraktion, verantwortlich; ({0}) denn dieser § 8 a ist vor Weihnachten im Vermittlungsausschuss ausführlich beraten und in der jetzt gültigen Fassung beschlossen worden. ({1}) Sie haben daran das gleiche Urheberrecht wie allen anderen auch. ({2}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben uns bemüht und wir bemühen uns, die negativen Auswirkungen des § 8 a durch einen so genannten Anwendungserlass in Bezug auf die Bürgschaftsfälle abzumildern und das für den Mittelstand positiver zu gestalten. Das haben wir getan. Für weitere Korrekturen sehen wir derzeit keinen Bedarf. Wir werden es aber natürlich noch einmal prüfen. Den Eindruck zu erwecken, als ob Sie mit diesem § 8 a nichts zu tun haben, das ist nun wirklich nicht legitim. Da haben wir alle ein Problem geschaffen. ({3}) Wir haben die Situation des Mittelstandes verbessert und werden sie auch weiterhin verbessern. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Schlauch, Sie haben so viele Dankesschreiben von Mittelständlern für die außerordentlich erfolgreiche grünrote Politik erwähnt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die einmal vorlegen würden. Ich gebe Ihnen gern Kopien der Schreiben mit massiven Beschwerden über Ihre Politik, die bei uns eingehen. ({0}) Kollegen Brandner, der uns nach seinem Beitrag verlassen hat, hätte ich gern noch etwas zu seiner Rede gesagt - man verfolgt ja die Beiträge der anderen bei der Debatte -, nämlich dass mir seine Selbstbeweihräucherung wie der folgende Fall vorkommt: Einem Bauern wird ein Schwein vom Hof geholt und geschlachtet. Anschließend bekommt er drei Koteletts zurück und soll sich dafür auch noch bedanken. ({1}) - Herr Stiegler, Sie werden im „Spiegel“ gerade mit den Worten zitiert, dass Sie Herrn Clement an die Wand klatschen wollten. Das ist sehr witzig. Ich finde es sehr originell, wie Sie miteinander umgehen. Das ist hochinteressant. Wir diskutieren heute über einen Antrag von GrünRot vom 28. Januar 2003 mit der tollen Überschrift „Offensive für den Mittelstand“. Mit welchem Nachdruck Sie das betreiben, sieht man daran, dass wir ihn heute, im Mai 2004, abschließend beraten. Das hat eine einfache Ursache: Wir stehen vor der Europawahl. Da kommen die üblichen Lippenbekenntnisse von Grün-Rot zum Mittelstand, um vor der Wahl einen guten Eindruck zu machen. Die Realität sieht anders aus. Die Zahl der Firmenpleiten hat 2003 einen neuen Nachkriegsrekord erreicht. Die Arbeitslosigkeit war nach alter Zählung - Sie haben das ja etwas umgeschminkt - im April so hoch wie noch nie. Die Erwerbstätigkeit nimmt weiter ab. Die Binnenkonjunktur lahmt trotz guter Exportlage. Der Mittelstand ist eben in der Region verwurzelt. Er kann nicht nach Südportugal oder China auslagern und die Aufträge dort erfüllen. Ein zentraler Punkt, den Sie - Herr Schlauch, das hat auch Ihre Rede gezeigt - einfach nicht verstehen, ist, dass Mittelstandspolitik nur funktionieren kann, wenn die Regierung in ihrem politischen Handeln Berechenbarkeit, Vertrauen, Klarheit vermittelt. Der Mittelstand will keine Subventionen, er will eine faire Chance haben. Wenn Sie ständig alles neu regeln, hier und da ein Progrämmchen auflegen, die Telekom aber das sie regulierende Gesetz beinahe selber schreiben lassen, Eon und Ruhrgas einen Marktanteil von 85 Prozent zugestehen, die Kohlesubventionen fortsetzen, aber kein Geld für Bildung ausgeben, dann schaffen Sie kein Umfeld, in dem Mittelständler erfolgreich arbeiten können. ({2}) Mittelstand ist kein Betriebsgrößenbegriff, sondern eine Geisteshaltung. Das ist Ihnen natürlich fremd. Es handelt sich um Menschen, die mit einer anderen Einstellung als Funktionäre, die kein unmittelbares Risiko tragen, an die Sache herangehen, die in der Regel mit ihrem Vermögen bzw. ihrem Eigentum für ihre Entscheidungen haften. Mittelständler haben eine spezielle Einstellung; gerade diese brauchen wir. Sie können manchmal nachts nicht schlafen, weil sie sich überlegen, ob sie zu bestimmten Konditionen noch den Auftrag hereinnehmen können und wie sie einen Weg finden, um ihrer Belegschaft Arbeit zu geben. Bei ihnen arbeiten Familienmitglieder mit. Eine 35-Stunden-Woche ist für sie eine Witznummer. Nach drei Tagen haben sie diese Arbeitszeit erreicht. ({3}) Diese Menschen verunsichern Sie permanent. Sie werden von Ihnen schlecht behandelt. ({4}) Sie werden nach wie vor auch steuerlich schlechter behandelt. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie doch Ihren Parteigenossen Professor Dr. Wiegard, den Vorsitzenden des Sachverständigenrates. Der rechnet Ihnen vor, dass die Konditionen für Mittelständler immer noch nicht mit denen der übrigen Wirtschaft vergleichbar sind. ({5}) Und kommen Sie mir doch nicht mit der Steuerquote. Wenn viele mittelständische Betriebe nichts verdienen und deshalb keine Steuern zahlen können, dann kann die Steuerquote nicht hoch sein. Ich treffe doch volkswirtschaftliche Entscheidungen nicht nach Steuerquoten, sondern nach Steuersätzen. Sie übersehen völlig, dass wir nach der EU-Osterweiterung plötzlich mit Ländern in unmittelbarem Wettbewerb stehen, die eine Flat Tax haben, bei der nur ein Minimum steuerfrei gestellt ist, die maximalen Steuersätze aber bei unter 20 Prozent liegen. Es wird für manche Unternehmen bald völlig egal sein, ob ihr Firmensitz in Riga, in Köln, in Ljubljana oder in Hamburg ist. Der Unterschied ist nur, dass sie bei uns 50 Prozent oder mehr Steuern zahlen, während sie dort weniger als 20 Prozent bezahlen. Wie Sie dies durchhalten wollen, ist mir schleierhaft. Das wird zu weiterer Abwanderung von Kapital und inzwischen auch von Arbeitskräften führen, weil die Leute merken, dass woanders mehr übrig bleibt und dort auch bessere Umfeldbedingungen herrschen. ({6}) Herr Clement wurde vom Superminister - ich zitiere noch einmal den „Spiegel“ - zum Störenfried degradiert. Einmal will er den Sparerfreibetrag streichen, dann soll die Ostförderung zusammengestrichen werden, dann soll das Straßennetz privatisiert werden. Gerade durch solche Vorschläge wird nicht die notwendige Klarheit geschaffen. Der Posten des Mittelstandsbeauftragten, der eigentlich genau für diese Menschengruppe und ihre Geisteshaltung kämpfen müsste, ist heute zu einer Versorgungsstelle für abgehalfterte grüne Politiker geworden. ({7}) Das ist nicht der richtige Weg. So kann man dem Mittelstand keine Möglichkeiten aufzeigen, um aus der Krise herauszukommen. Diese Aufzählung ließe sich ja fortsetzen: In einer Bürgerversicherung sollen alle gleichgeschaltet werden. Hier bringen Sie eine DDR light ins System. Man könnte noch Ihren Zickzackkurs beim Ladenschluss und vieles andere hinzufügen. Mit all dem tragen Sie dazu bei, dass der Mittelstand keine faire Chance hat, sich positiv zu entwickeln. Die Bedingungen stimmen nicht. Selbst diese schlechten Bedingungen sind nicht berechenbar. Aber Wirtschaften beruht auf Kalkulation. Am Schluss müssen Sie rechnen: Zwei und zwei sind vier. Wer nicht rechnen kann, kann auch nicht steuern. ({8}) Die Eigenkapitalausstattung des Mittelstandes ist - zum Teil historisch bedingt, zum Teil bedingt durch unser Steuersystem - katastrophal schlecht. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband hat vor kurzem eine Untersuchung vorgelegt, in der er 50 000 mittelständische Betriebe erfasst hat. Von diesen hatte die Hälfte kein Eigenkapital - mit anderen Worten: Die sind schon fertig, wissen es aber nur nicht - und im Schnitt hatten Betriebe bis 100 Beschäftigte eine Eigenkapitalquote von 6 Prozent. In angelsächsischen Ländern liegt sie zwischen 35 und 45 Prozent. Das ist eine strategische Schwäche unseres Mittelstandes. Eine entsprechende Sensibilität für Rahmenbedingungen, die es dem Mittelstand ermöglichen, sich einzubringen, fehlt Ihnen leider völlig. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk, SPD-Fraktion.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Opposition in der vergangenen Dreiviertelstunde hier geboten hat, war billige Polemik, widersprüchlich und zum Teil ausgesprochen heuchlerisch. ({0}) Dass Sie zuerst der Handwerksordnung zustimmen und sie dann hier angreifen und beklagen, finde ich außerordentlich schäbig. ({1}) - Entschuldigen Sie bitte, reden wir hier über die verabschiedete Handwerksordnung oder über frühere Vorschläge? Sie können sich doch nicht erst hier einbringen und mit uns gemeinsam um Änderungen ringen und dann genau diese hier angreifen. Ähnlich ist es mit der EU-Osterweiterung. Wir alle in diesem Hause haben sie gemeinsam beschlossen, Sie haben sie in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft als wichtig, besonders mit Blick auf die Exporte, gepriesen, weil diese Erweiterung neue Chancen biete, aber hier nennen Sie die Konditionen, die Sie vorher alle kannten, schlecht für den deutschen Mittelstand. So können wir doch nicht miteinander umgehen! ({2}) Ein weiterer Punkt ist die Steuerreform; auch hier sprechen Sie doppelzüngig. Zuerst schlagen Sie eine Steuersenkung vor, Frau Kollegin Wöhrl, dann sagen Ihre eigenen Leute, auch der Finanzminister des Landes Bayern, Herr Dr. Kurt Faltlhauser, so gehe es nicht, es müsse auch an die Länderhaushalte gedacht werden - übrigens eine sehr vernünftige Anmerkung von ihm; wir müssen den historischen Tiefstand der deutschen Steuerquote bedenken und überlegen, wo und wie wir senken -, und anschließend beklagen Sie, einschließlich des Kollegen Brüderle - dessen Partei in dem Land, aus dem er kommt, der Steuerreform im Bundesrat zugestimmt hat -, das, was in der Folge geschieht. Dann macht Herr Michelbach hier eine Kurzintervention und erläutert, welch schlimme Auswirkungen § 8 a des Körperschaftsteuergesetzes hat, ({3}) und muss sich von Rezzo Schlauch belehren lassen, dass seine Partei das im Bundesrat selber mitgetragen hat. ({4}) Herrschaften, hinter verschlossenen Türen Ja sagen, im Bundesrat zustimmen und dann an den Stammtischen und hier im Parlament anders reden, das ist einfach heuchlerisch. ({5}) Wir sollten uns stattdessen über Probleme unterhalten, wie zum Beispiel über die Strukturkrise des deutschen Bankensystems, die noch lange nicht durchgestanden ist und die schwerwiegende Auswirkungen auf die Finanzierung des deutschen Mittelstands hat, und darüber, was man konkret machen kann, um die Probleme zu lösen. Dazu reicht keine - ich sage es einmal ganz offen - Maulhurerei, vielmehr müssen wir überlegen, wie wir den Betrieben konkret helfen können. Darüber sollten wir sprechen. ({6}) Entscheidend ist, welche Probleme mittelständische Unternehmen, insbesondere kleine, heute haben - das können wir alle, quer durch dieses Haus, an Beispielen aus unseren Wahlkreisen belegen -, wenn es darum geht, die notwendigen Finanzierungsmittel für Investitionen und den laufenden Geschäftsbetrieb zu beschaffen, von der Finanzierung von Forschung und Entwicklung ganz zu schweigen. Darin liegt einer der Gründe, warum sich der exportorientierte Aufschwung im Moment zwar in den Bilanzen der Großbetriebe niederschlägt, aber noch immer nicht bei den kleinen und mittleren Betrieben: Dort funktioniert die Finanzierung der Investitionen nicht. ({7}) Jeder von uns kann aus seiner eigenen Erfahrung bestätigen, was die Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau aus diesem Frühjahr dokumentiert hat: Für 43 Prozent der befragten Unternehmen ist die Kreditaufnahme spürbar schwieriger geworden; ({8}) in den neuen Ländern sind es sogar 47 Prozent. Bei den kleinen Unternehmen ist es fast jedes zweite, das klagt. 16 Prozent der Unternehmen - wichtige Träger der Wirtschaft und der Beschäftigung, gerade in den Regionen haben Probleme, überhaupt noch einen Kredit zu bekommen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie werden von den Banken oftmals auf das Stichwort Basel II reduziert, übrigens zu Unrecht. Im Gegenteil, die Bundesregierung und ihre Verhandlungsführer in Basel haben Ergebnisse erreicht - zum Teil gegen den Rest der Welt und in einer geduldigen Überzeugungsarbeit in Europa -, die die besonderen Finanzierungsbedingungen des Mittelstands angemessen und sehr viel besser berücksichtigen, als es in den ursprünglichen Plänen vorgesehen war. ({9}) Man hat in internationalen Zeitungen wie der „Financial Times“ und dem „Wall Street Journal“ nachlesen können, dass die Welt das deutsche Wort Mittelstand mittlerweile buchstabieren gelernt hat. Es ist richtig und wichtig, dass die Kapitalmärkte nicht nur zur Finanzierung der großen multinationalen Konzerne da sind. Die Kapitalmärkte müssen auch die Finanzierungen für die kleinen Unternehmen sicherstellen. Auf diesem Gebiet hat gerade die Bundesregierung einen Durchbruch in der internationalen Debatte erreicht. ({10}) - Ja. Reden wir einmal über die Praxis! Die heutige Situation hat auch mit der Struktur des deutschen Bankensystems zu tun. ({11}) Wir müssen auch darüber offen reden, dass bei einem Teil der Großbanken der Mittelstand faktisch keine Kredite mehr bekommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass bei vielen dieser Großbanken das Geld knapp ist, weil sie es auf den internationalen Kapitalmärkten schlicht verzockt haben. Auch darüber muss man einmal offen miteinander reden. ({12}) 700 Milliarden US-Dollar sind allein durch die ITBlase vernichtet worden. Wenn Sie einmal sorgfältig die Bilanzen der deutschen Großbanken durchgehen - leider sind es nicht nur die Großbanken ({13}) und sich die Auswirkungen der Lateinamerikakrise, der Asienkrise und der Russlandkrise anschauen, dann kommen Sie zu dem Schluss, dass massive Wertberichtigungen notwendig waren und dass sich die Banken immer noch nicht ganz von dieser Situation erholt haben. Schauen Sie sich einmal die Rates of Return und die internationalen Ratings an! Man muss auch darüber reden, dass die öffentliche Förderpolitik zum Teil eingesprungen ist, aber dass sie dieses Problem allein nicht lösen kann, insbesondere weil die Banken risikobewusster geworden sind. Man kann dies vor dem Hintergrund ihrer Bilanzen auch nachvollziehen. Sie müssen versuchen, aus dieser schwierigen Situation herauszukommen. Manchmal wurde das Management ausgetauscht, aber manchmal nicht. Diejenigen Banken, die das Management nicht gewechselt haben, fordere ich an dieser Stelle auf, sich bei den großmäuligen Ratschlägen an die Adresse der Politik etwas zu mäßigen. ({14}) Vor der eigenen Tür zu kehren und sich zu überlegen, was sie im vergangenen Jahrzehnt an Milliardensummen der Shareholder, aber auch, was die Potenziale der deutschen Volkswirtschaft angeht, in den Sand gesetzt haben, wäre wesentlich angemessener, als uns auf diversen Verbandstagungen gute Ratschläge zu erteilen. ({15}) Wir haben gemeinsam versucht - das sage ich als Vorsitzende des Unterausschusses ERP-Wirtschaftspläne deutlich -, den Unternehmen wirksame Hilfen zu gewähren und diese schwierige Situation, in der die Banken risikobewusster geworden sind, einigermaßen in den Griff zu bekommen. Eine ganz neue Produktfamilie, die insbesondere berücksichtigt, dass deutsche Unternehmen über geringeres Eigenkapital verfügen, soll gerade kleinen und innovativen Unternehmen helfen, sich Nachrangkapital neben den klassischen Krediten zu beschaffen, damit sie in der Startphase und anschließend in der Wachstumsphase mehr Möglichkeiten haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre mir lieber gewesen, diesen Punkt ausführlicher darzustellen. Aber aufgrund Ihrer wirklich billigen Polemik, die an den nützlichen Maßnahmen im Rahmen dieser Mittelstandsoffensive kein gutes Haar gelassen hat - wir sollten versuchen, gemeinsam für den Mittelstand das Beste herauszuholen -, kann ich die positiven Seiten leider nicht ausgiebig darstellen. ({16}) Es wäre wert, diese Maßnahmen dem Mittelstand und den kleinen Unternehmen bekannter zu machen und auf die neuen Möglichkeiten hinzuweisen. Das wäre besser, als alles schlechtzureden. In der Tat ist Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psychologie. Sie leisten nur den Beitrag, alles schwarz zu malen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über den Mittelstand, von dem alle sagen, dass er die wichtigste und unverzichtbarste Institution ist, wenn es darum geht, vernünftiges Wirtschaften zu ermöglichen, Ertrag zu erzielen, Arbeitsplätze zu schaffen sowie Fortschritt und Nachhaltigkeit zu sichern. Deswegen bitte ich darum, einmal einen Moment innezuhalten und keine klein-kleine Betrachtung vorzunehmen. Ich gestehe Ihnen in einer Reihe von Fällen gute Absichten und guten Willen zu. Ich stelle fest, dass wir eine Reihe von Maßnahmen mitgetragen haben und dass sie vernünftig waren, weil sie an dem einen oder anderen Punkt eine Fehlsteuerung, eine Fehlentwicklung beseitigt haben. Das ist so; darüber brauchen wir uns doch nun wirklich nicht zu streiten. Die Frage ist: Reicht das? Ist dabei genügend herausgekommen? Können uns die Ergebnisse zufrieden stellen, die wir nach sechs Jahren Ihrer Regierungskunst und nach anderthalb Jahren Regierungskunst von Wolfgang Clement erkennen können, dem Superminister, der, als vor einem Jahr über diese Dinge diskutiert wurde, hier war, weil er zum Aufbruch blasen wollte, und der am heutigen Tage, an dem Bilanz gezogen wird, nicht hier ist? Ich darf in aller Ernsthaftigkeit auf ein paar Fakten hinweisen. Unser Ziel ist ja, in Deutschland ArbeitsHartmut Schauerte plätze zu schaffen - und das mit einem effektiven, wirkungsvollen Mittelstand. ({0}) Ein paar Zahlen: Wir haben im Vergleich zum Vorjahr 134 000 Erwerbstätige weniger. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zum Vorjahr um 520 000 geringer. Die Zahl der offenen Stellen ist im Vergleich zum Vorjahr um 91 000 geringer. Das Ergebnis ist also deprimierend. Jetzt muss man überlegen, wie wir aus diesem Trend herauskommen. Sie können behaupten, Sie hätten alles gemacht. Wenn man es jetzt so laufen lasse, dann werde sich die Entwicklung verbessern. Sie glauben es aber selber nicht! Sie wissen das. Ich will ein paar Maßnahmen ansprechen, die Sie angekündigt haben, bei denen Sie guter Hoffnung waren und die Sie beschlossen haben, und dann darauf hinweisen, wie sie gewirkt haben. Die Personal-Service-Agenturen zum Beispiel, die vor kurzer Zeit eingerichtet worden sind, waren der große Renner zur Bewältigung vieler wichtiger Probleme. ({1}) Es wurden Beschäftigungseffekte in Höhe von 500 000 Arbeitsplätzen angekündigt, davon 350 000 Volljobs per anno. Das war Ihr Hoffnungsansatz. Herausgekommen ist in 2004 ein Beschäftigungseffekt von 7 700 Arbeitsplätzen. ({2}) Das Programm des Jobfloaters wurde mit großer Hoffnung und gutem Willen beschlossen, weil es helfen sollte. Angekündigte Beschäftigungseffekte: 120 000 Jobs. Bis heute führte dieses Programm zu 11 000 Volljobs und 1 000 Ausbildungsplätzen. Dafür wurden aber 837 Millionen Euro ausgegeben. ({3}) In diesem Zusammenhang wurde auf die Firmengründungen hingewiesen. Ich hatte bei der letzten Debatte mit Herrn Müntefering - ich weiß nicht, ob er noch hier ist - einen kleinen Disput. Er hatte von 1,6 Millionen Neugründungen in einem Jahr gesprochen. Ich warte noch auf eine präzise Antwort von ihm. Fakt ist: 1998 gab es 858 100 Firmenneugründungen und 704 000 Firmenabmeldungen. Saldo: 154 100 Neugründungen sind übrig geblieben. In 2003 gab es 761 000 Neugründungen und 656 000 Abmeldungen. Saldo: 105 000. Arbeitsplatzrelevante Firmenneugründungen in Deutschland sind also minimal. Das ist doch der Befund. Jetzt müssen wir überlegen: Ist alles richtig gemacht worden? Reicht das? - Ich sage: Nein! Sie haben durch eine Vielzahl von Maßnahmen, durch Ankündigungen, durch kontroverse Diskussionen, durch Streit, durch Zeitverzögerung, durch klassische Fehler also, mindestens so viel neue Verunsicherung bewirkt, wie Sie an der einen oder anderen Stelle sicherlich etwas Vernünftiges gemacht haben. Aber nennen Sie mir einige wenige vernünftige Dinge, die Sie gemacht haben und denen wir nicht zugestimmt haben! Sie werden keine finden. Ich kann Ihnen eine Maßnahme nennen, die wirklich funktioniert hat: die Einführung des Minijobs mit einem Verdienst von 400 Euro pro Kopf. Das ist das einzige Element - das haben wir in den Kompromissverhandlungen durchgesetzt -, das wirklich weitergeführt hat. 7,4 Millionen neue Minijobs sind entstanden. ({4}) Das ist das einzige Programm, das wirklich gelungen ist und das wir durchgesetzt haben. Ich will mich damit nicht brüsten; aber Sie sollten unsere Kritik ernst nehmen. Wir verstehen etwas vom Mittelstand. Wir wissen, was da fehlt. Wir sind da mehr zu Hause als Sie. Für den Mittelstand ist folgende momentane Entwicklung desaströs: Clement darf nicht mehr; Clement kann nicht mehr. Der Bundeskanzler musste den Parteivorsitz abgeben. ({5}) Müntefering sollte den Parteivorsitz übernehmen, um Ruhe, sprich: keine weiteren Veränderungen, in den Reformprozess zu bringen. Das ist ein lebensgefährliches Signal; es gibt weder Hoffnung noch Perspektive für den Weg nach vorn. Wenn Sie diesen gefährlichen, vermutlich aber richtigen Eindruck nicht durch konkretes Handeln definitiv beseitigen, können Sie an den Einzelschräubchen drehen, so viel Sie wollen, dann können Sie auch die Kreditprogramme bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau so stark ausweiten, wie Sie wollen, Sie werden dennoch kein neues Vertrauen schaffen, sodass neue Arbeitsplätze in Deutschland entstehen können und nachhaltig gewirtschaftet werden kann. ({6}) Sie werden das Vertrauen nicht finden. Mittlerweile geht doch Angst im Volk um. Das Einzige, was an Ihrer so genannten nachhaltigen Entschuldungspolitik nachhaltig ist, ist die Tatsache, dass Sie die Maastricht-Kriterien nachhaltig verletzen. Wir müssen doch in den nächsten fünf bis sechs Jahren bei 40 Milliarden Euro Neuverschuldung mit weiteren massiven Verstößen rechnen. Wissen Sie, welche Ängste die Menschen haben? Wir reden diese Ängste nicht groß. Die Menschen befürchten, dass der Staatsbankrott droht, wenn wir so weitermachen. ({7}) - Entschuldigen Sie, stellen Sie sich vor, die Zinsen in Deutschland steigen um 1 Prozent - das ist eine ganz niedrige Marge. Das ist auch höchstwahrscheinlich. ({8}) - Sie werden steigen. Sie wissen doch, was auf dem internationalen Finanzmarkt los ist. Angesichts der Schulden, die uns jetzt belasten, müssen wir bei 1 Prozent Zinssteigerung in einem Jahr um die 10 bis 14 Milliarden Euro zusätzliche Staatsausgaben tätigen. An diesen zusätzlichen Staatsausgaben werden Sie nichts ändern können. Sie erlauben sich in dieser Situation den Stillstand und sagen: Wir brechen die Reformen ab. Die SPD-Wähler sind nicht mehr bereit, weitere Reformen zu akzeptieren. Die SPD-Mitglieder fürchten sie. Münteferings Aufgabe ist es, weitere Austritte zu verhindern und die SPD zu stabilisieren. Das heißt konsequent gedacht: Nichts, was schwierig ist oder wehtut, was aber vermutlich das einzig Hilfreiche ist, wird mehr umgesetzt. In diese negative Situation bringen Sie unser Land. Ich prophezeie Ihnen: Die Menschen werden Sie im Anschluss an Ihre Reden, auf welcher Veranstaltung auch immer - das ist jedenfalls bei mir so -, danach fragen, wie lange Herr Clement noch im Amt bleibt. ({9}) Sie wissen, dass die Amtsdauer endlich ist. ({10}) Es ist ja nicht so, dass er alles richtig gemacht hat. Wir wissen alle, dass er das in Nordrhein-Westfalen nicht gemacht hat und dass er es auch hier nicht macht. Wir hier haben ihn ja nie Superminister genannt. Er war aber der Einzige von Ihnen, der mit einer Reihe von Maßnahmen zumindest versucht hat zu reformieren. Sie haben ihn aber nicht gelassen und das ist das Problem. Wer soll denn kommen? Wen wollen Sie denn bringen? Herrn Brandner? ({11}) Er ist doch Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz in diesem Hause. Soll Herr Kollege Brandner den Kollegen Clement beerben? Ist das die Perspektive für den Mittelstand? ({12}) Soll daraus neuer Mut für den Schritt nach vorn wachsen? Es ist eine ausgesprochen unerträgliche Situation. Über einen Punkt haben Sie hier mehrfach diskutiert, auch der Kollege Michelbach hat ihn aufgegriffen. Ich will daher auf § 8 a Körperschaftsteuergesetz eingehen. Wir haben ihn zwar mitbeschlossen - Sie wissen selbst, dass in den Nacht-und-Nebel-Aktionen im Vermittlungsausschuss sehr viel nebenher gelaufen ist -, ({13}) aber heute konstatieren wir, dass das ein Fehler war. Denn ein sehr großer Teil der mittelständischen Unternehmen zahlt heute Steuern auf seine Zinszahlungen und der Unternehmer, obwohl er den Kredit für sein Unternehmen aufgenommen hat, haftet dafür persönlich. So ist die heutige Lage und wir helfen doch niemandem, wenn wir uns darüber streiten, wer an dem Fehler mitgewirkt hat. Es ist doch einzig und allein vernünftig zu sagen: Wir haben einen Fehler gemacht und der wird so schnell wie möglich korrigiert, bevor er bilanzwirksam wird. In diesem Jahr muss der Fehler korrigiert werden, und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2004. Das wäre eine konkrete Maßnahme. Sie können sich nicht mit dem Satz „Ihr habt mitgewirkt“ herausreden. Wir erkennen heute, dass das, was wir beschlossen haben, Gift ist; also: Weg mit dem Gift! ({14}) Wenn das einträte, hätten wir endlich einen wirklichen mittelstandspolitischen Sprecher, Rezzo Schlauch. Jetzt wissen die meisten von ihm immer noch nichts.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schauerte, gestatten Sie eine Zwischenfrage, die Ihre Redezeit verlängert? Die Kollegin Hendricks möchte Sie etwas fragen.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. Ich danke auch für den liebevollen Hinweis, Herr Präsident.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schauerte, sind Sie bereit, mit dem Hause zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur um die Frage geht, ob wir das gemeinsam beschlossen haben? Das ist wirklich nicht der Punkt. Ich will aber den Vorwurf zurückweisen, dass es das Ergebnis einer Nachtund-Nebel-Aktion gewesen sei. Es hat Arbeitsgruppen des Finanzausschusses gegeben, an denen auch die Finanzminister der B-Seite beteiligt waren. Ich selber habe diese Arbeitsgruppe für die Regierung betreut. ({0}) Es gab einen Regierungsentwurf. Er ist gründlich und sorgfältig und nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion beraten und im Verfahren auch geändert worden. ({1}) So ist beispielsweise die Freigrenze gegenüber dem ursprünglichen Regierungsentwurf erhöht worden. ({2}) Er ist dann in der geänderten Fassung von allen bewusst angenommen worden. Das will ich der guten Ordnung halber noch einmal klarstellen und Sie bitten, das zur Kenntnis zu nehmen. ({3}) Des Weiteren möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kritikpunkt, den Sie gerade angesprochen haben - § 8 a Körperschaftsteuergesetz -, nämlich der so genannte Rückgriff bei verbürgten Krediten, bereits im Entwurf eines Anwendungsschreibens, das von den obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, also einvernehmlich mit allen Ländern, erarbeitet worden ist ({4}) und zurzeit den Verbänden zur Stellungnahme vorliegt, schon geregelt ist. Dieser Entwurf liegt übrigens auch den Mitgliedern des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages vor. Er ist also auch der Unionsseite dieses Hauses bekannt oder könnte es zumindest sein. Wollen Sie sich mit mir einverstanden erklären, dass Sie vor diesem Parlament zukünftig keine Probleme mehr ansprechen, die schon längst gelöst sind? ({5})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin Hendricks, Sie haben zwei Fragen gestellt. Der Präsident hat sie zugelassen, also muss ich auch zwei beantworten. ({0}) Ihre erste Frage lautete: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass das seinerzeit im Vermittlungsausschussverfahren alles sehr sorgfältig beraten worden ist? Dass ausgerechnet Sie diese Frage stellen, wundert mich etwas, denn da Sie die Bundesregierung in dieser Angelegenheit betreut haben, dürften Sie sich an den peinlichen Vorfall erinnern, dass sich plötzlich herausstellte, dass um 1 Milliarde Euro falsch gerechnet worden ist. ({1}) Es hat allergrößte Mühe gekostet, die entsprechenden Korrekturen vorzunehmen. Die Verantwortung dafür lag eindeutig bei Ihnen. Es war ein sehr hektisches Verfahren, in dem auch Fehler passieren konnten. Daher müssen Korrekturen ohne großes Lamento möglich sein. Die Antwort auf Ihre zweite Frage: Natürlich kenne ich den Brief. Er löst aber nur einen Teil des Problems, und zwar den, der ausschließlich Bürgschaften betrifft. Sie wissen, dass die weiter gehenden Forderungen vernünftig und richtig sind, nämlich den Faktor 1,5 bezogen auf das Eigenkapital deutlich zu erhöhen. Sonst ist es eine unzulässige Beschränkung. Dann greift ja diese Strafsteuer auf Zinsen; man zahlt also Gewinnsteuer auf Zinsen, die man zahlt; das muss man sich immer wieder klar machen. Es gibt auch noch weitere Punkte, die einfach nicht passen. Ich sage allerdings eindeutig: Ein Ziel haben wir genauso im Visier wie Sie, nämlich die eleganten Manipulationen der großen Konzerne zu unterbinden. Diese sind weltweit tätig und finanzieren Investitionen mit Krediten, die sie sich selber über irgendwelche Scheinfirmen gegeben haben, um damit in Deutschland Steuern zu sparen. Aber die mittelstandspolitischen Wirkungen Ihrer Maßnahmen sind absolut unerträglich. Korrigieren Sie den Fehler! Im Übrigen danke ich Ihnen für die Möglichkeit, das nachzutragen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle, ich möchte Ihnen eine kurze Vorbemerkung widmen. In meiner Fraktion ist die Frage aufgekommen, was eigentlich mit Ihnen los ist. Sie haben eine sechsminütige Rede zum Mittelstand gehalten, aber nichts Konkretes zum Mittelstand gesagt, an das man sich erinnern könnte. ({0}) Ihre Rede gipfelte in einer unflätigen Beleidigung des Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung und dann haben Sie sich wieder gesetzt. Das war wirklich unter Ihrer Form. Das hat auch nichts mit dem Pfälzer Humor zu tun; denn in der Pfalz ist man nicht für Galligkeit, die Sie hier im Parlament verbreitet haben, sondern für etwas anderes bekannt. ({1}) Jetzt zur Sache. Frau Wöhrl, ich kann Ihnen nicht den Vorwurf ersparen, dass Sie die wirtschaftliche Lage aus parteipolitischem Kalkül schlechtreden. Wenn wir uns die Situation einmal nüchtern anschauen, stellen wir fest: Wir kommen langsam - ich betone: langsam - aus einer schwierigen Wirtschaftskrise heraus. Das Wachstum beträgt derzeit 1,4 Prozentpunkte und wir können mehr schaffen. ({2}) Sie wissen genau, dass es in Deutschland dann zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit kommt, wenn das Wachstum die so genannte Beschäftigungsschwelle übersteigt, die derzeit bei etwa 1,8 Prozentpunkten liegt. ({3}) Die Beschäftigungsschwelle zu senken ist das zentrale Reformwerk, das wir durch die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 angepackt haben. Deswegen ist die Blockade, die Sie jetzt bei Hartz, bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, betreiben, so entscheidend. Offensichtlich wollen Sie gar nicht, dass das, was auch Sie selbst seit Jahren verkündet haben - das Vorhaben, ein anderes soziales Transfersystem in Deutschland mit effektiv besseren Wirkungen auf den Arbeitsmarkt zu schaffen -, jetzt endlich umgesetzt wird. ({4}) Wie können Sie uns denn sonst erklären, dass Herr Koch die Gemeinden zur Blockade dieses neuen Instrumentes aufruft? Ich meine: Er richtet damit großen Schaden an. ({5}) Wir sind also in einer Situation, in der wir - Herr Schauerte, mit dem, was Sie diesbezüglich gesagt haben, liegen Sie völlig falsch - weitere Reformen brauchen. Der Reformprozess muss weitergehen. Bisher gibt es das neue Arbeitslosengeld II und bessere Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand noch nicht. Es ist noch sehr viel zu tun. ({6}) Aber entscheidend ist Folgendes: Von Ihrer Seite dieses Hauses werden nur Elendsszenarien beschrieben. ({7}) Dies verschlechtert die Stimmung in der Bevölkerung, ({8}) bei den Investoren und auch bei den Konsumenten, die ihr Geld nicht ausgeben, weil sie von Ihnen ständig hören, wie elend und mies die Situation ist. ({9}) Deswegen sage ich Ihnen, Herr Schauerte - Sie haben ja versucht, konkreter zu werden und nicht nur die Standortarien zu singen, ({10}) wie es Frau Wöhrl getan hat -: ({11}) Wenn Ihnen daran liegt, dass es dem Mittelstand besser geht, dann verweigern Sie sich den Reformen nicht mehr, wie Sie es gerade tun, sondern gehen Sie mit in die Offensive, damit in Deutschland insgesamt mehr Reformen durchgeführt werden können. Frau Wöhrl, ich will zwei Punkte nennen, auf die es jetzt ankommt: Erstes Beispiel. Sie reden immer über das Thema Kohle. Das tun Sie eigentlich nur, damit Sie darüber schweigen können, dass Sie, wenn wir auch andere Subventionen abbauen wollen, auf der Bremse stehen. Das sind mittelstandsrelevante Fragen; denn für die Zukunft ist es entscheidend, welches Personal der Mittelstand bekommt. Ich habe von Ihnen noch keine konkrete Einlassung zu dem Vorschlag von Bundeskanzler Schröder gehört, die Eigenheimpauschale zu streichen und die dadurch frei werdenden Mittel bei Bund, Ländern und Gemeinden für Bildung, Forschung und Wissenschaft einzusetzen, ({12}) um die strukturelle Schwäche, die hier besteht, zu überwinden. ({13}) Dazu hört man von Ihnen nichts Konkretes. Sie reden nur über das Thema Kohle. Aber wenn es zum Schwur kommen soll, gehen Sie in die Büsche und schreien laut herum. Aber Sie nehmen die Verantwortung, die Sie aufgrund Ihrer Rolle in den Ländern haben, nicht wahr. ({14}) Zweites Beispiel. Weil wir Grüne sehen, dass es im Verkehrsbereich, bei der Schiene und der Straße, zu wenige Investitionen gibt, haben wir den Vorschlag gemacht, die Entfernungspauschale zu halbieren und die Mittel, die dadurch frei werden, für Verkehrsinvestitionen zu verwenden. In allen Ländern wird darüber geklagt - übrigens geht das auch zulasten des Handwerks -, dass zu wenig investiert wird, weil Koch und Steinbrück nicht nur Subventionen abgebaut, sondern auch bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur gekürzt haben. ({15}) Dazu habe ich von Ihnen noch nichts Konkretes gehört. Sie beklagen zwar, dass nicht investiert wird. Aber Sie machen die Wege, damit in Deutschland investiert werden kann, nicht frei, sondern betreiben Blockadepolitik. ({16}) Herr Schauerte, das müssen Sie sich hier anhören; denn es ist wichtig, dass wir an diesen beiden Stellen mehr tun. - Herr Kauder, was haben Sie für Sorgen? Warum machen Sie diese Bewegung? ({17}) - Aha, die Redezeit; ich verstehe. Wenn es wehtut, führt Herr Kauder die Redezeit desjenigen, der gerade spricht, ins Feld. So ist es. ({18}) Damit komme ich zum Schluss meiner Rede. ({19}) Sie haben nichts getan, um die Blockaden, die ich angesprochen habe, zu überwinden. ({20}) Wenn Sie ehrliche Mittelstandspolitik machen würden, Herr Kauder, dann müssten Sie Ihre Bremsblockade aufgeben und zusammen mit der Regierung die notwendigen Reformen anpacken. Die Chance dazu haben Sie. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion, das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kuhn, ich will mit Ihnen anfangen. Nachdem Sie hier Konkretes eingefordert haben, haben Sie selber nicht viel Konkretes gesagt. Wenn Sie nur halb so gut handeln würden, wie der Kollege Brüderle heute hier geredet hat, dann ginge es diesem Land entschieden besser. ({0}) Ein ganz wichtiger Aspekt beim Thema Mittelstand ist das Thema Bürokratie. Das wird immer wichtiger, immer deutlicher zeigt sich das. Es gibt eine Untersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung. Wir wissen, dass die bürokratischen Belastungen für die Wirtschaft in diesem Lande pro Jahr 46 Milliarden Euro betragen. Diese Belastungen sind insbesondere in den letzten fünf Jahren erheblich gestiegen, Herr Schlauch, und Sie wissen das. Sie haben vorher in der Antwort auf den Kollegen Michelbach gesagt: Wir haben uns bemüht und wir bemühen uns. Herr Kollege Schlauch, Sie wissen, was das heißt, wenn es in einem Zeugnis steht: Es heißt, Sie haben sich bemüht, es aber nicht erreicht. ({1}) Dieses Zeugnis, dass Sie sich selber ausstellen, ist für eine Regierung zu wenig und für unser Land katastrophal. Deshalb müssen wir uns einmal anschauen, was 46 Milliarden Euro bedeuten. Sie bedeuten, dass ein Arbeitsplatz in einem Großbetrieb mit über 500 Mitarbeitern jährlich mit circa 350 Euro Kosten belastet ist, ein Arbeitsplatz bei einem kleinen Unternehmen mit unter 10 Mitarbeitern allerdings jährlich sogar mit circa 4 300 Euro - nur aufgrund des Aufwands für Bürokratie! Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Aufwand für Bürokratie ist unnötig und dreht den Mittelständlern in diesem Land die Luft ab. ({2}) - Das ist seriös, vom Institut für Mittelstandsforschung. ({3}) Das steht in einer Studie, die der Wirtschaftsminister in Auftrag gegeben hat; vielleicht unterhalten Sie sich einmal mit Herrn Clement. Es sind im Zusammenhang mit Bürokratie fünf zentrale Bereiche zu nennen: Steuern und Abgaben, Sozialversicherungsrecht, Arbeitsrecht, Statistiken und Umweltschutz. Herr Schlauch, Sie haben hier alle möglichen Vorschläge vorgetragen. Aber es bleibt wieder einmal dabei, dass es nur Vorschläge waren. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben für jeden einzelnen Fall, den Sie angesprochen haben, einen Antrag vorgelegt. Jeden einzelnen Antrag, jeden Gesetzentwurf haben Sie abgelehnt. ({4}) Deswegen ist das, was Sie machen, BürokratieabbauRhetorik, Herr Schlauch, und nicht Bürokratieabbau. ({5}) Kommen wir zum Thema Modellregionen. Herr Clement hat direkt nach dem Regierungsantritt - Oktober 2002 - angekündigt: zunächst Bürokratieabbau. Dann hat er gemerkt, dass er bei Ihnen damit nicht durchkommt, und gesagt: Richten wir Modellregionen ein. - Innerhalb kürzester Zeit haben sich 38 Regionen gefunden, die Initiativen ausgearbeitet und sich als Modellregionen beworben haben. Was haben Sie daraus gemacht? - Drei Testregionen eingesetzt! Die haben zwischenzeitlich tausend Vorschläge geliefert. Aus diesen tausend Vorschlägen haben Sie 29 ausgewählt und eine neue Initiative der Bundesregierung angekündigt. Meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, wenn Sie in diesem Tempo mit dem Thema Bürokratieabbau weitermachen ({6}) und in diesem Tempo damit weitermachen, Vorschläge aus der Wirtschaft aufzugreifen, dann haben Sie am Ende dieser Legislaturperiode mit dem Bürokratieabbau noch nicht einmal angefangen. ({7}) Wir haben auch zum Thema Statistik einen Antrag vorgelegt. 350 Bundesstatistiken werden jährlich erstellt; dafür werden 500 Millionen Euro aufgewendet. Der Bundesrechnungshof hat das Statistische Bundesamt mehrfach wegen Verschwendung gerügt. Dabei sind die Kosten, die sich dadurch ergeben, dass die Unternehmen die Daten zuliefern müssen, noch nicht aufgeführt. Das muss abgestellt werden. Dafür haben wir einen Antrag vorgelegt und dem können Sie heute zustimmen. ({8}) Deswegen kann ich nur sagen: Lassen Sie den vollmundigen Ankündigungen zum Bürokratieabbau endlich Taten folgen. Wenn Sie selbst nichts zuwege bringen, stimmen Sie den Anträgen der FDP-Fraktion zu! Heute haben Sie die Chance dazu. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befinden uns in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Das ist ohne Zweifel wahr. Fest steht aber auch: Die Beiträge, die wir heute vonseiten der Opposition gehört haben, werden nicht dazu beitragen, diese schwierige wirtschaftliche Lage zu verbessern. Das muss hier einmal deutlich gesagt werden. ({0}) Ich muss mich schon sehr wundern, dass Sie offenbar noch nicht einmal das Frühjahrsgutachten zur Kenntnis genommen haben: Das Wachstum in Deutschland belief sich im ersten Quartal 2004 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf 1,5 Prozent und lag damit glatt höher als das der Eurozone, das nur 1,3 Prozent betrug. Ich erinnere mich noch, wie Sie in Ihren Beiträgen den Vorwurf inszeniert haben, wir seien Letzter in Europa. Diese Zeiten sind vorbei. Das Wachstum reicht zwar noch nicht aus - das stimmt -, aber es geht aufwärts. Ich bitte Sie, zumindest diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, wenn Sie schon nicht an die Prognosen glauben. ({1}) Auch Bundesbankpräsident Axel Weber sieht die deutsche Wirtschaft auf dem Weg der Erholung. Er schätzt das Wachstum mit 1,7 Prozent ein und ist damit sogar noch optimistischer als die Bundesregierung und als wir. Das freut uns natürlich. Seine Einschätzung verdient hier zumindest Erwähnung. Es gibt weitere gute Konjunkturnachrichten. Die Befragung von Creditreform zur Mittelstandskonjunktur hat ganz deutlich gezeigt, dass der Anteil der mittelständischen Unternehmen mit sehr guter bzw. guter Auftrags- und Geschäftslage im Vergleich zum Vorjahr um 11,4 Prozentpunkte auf 29,4 Prozent angewachsen ist. Ein solches Ergebnis bedeutet nicht, dass es keine Schwierigkeiten gibt, aber es zeigt, dass es einen Aufwärtstrend gibt. Es gebietet die Seriosität, dies hier zu erwähnen. ({2}) Ähnliche Entwicklungen sieht auch das Statistische Bundesamt bei der Binnenkonjunktur, Herr Kollege Schauerte. Das Statistische Bundesamt meldet für das erste Quartal 2004 eine Erhöhung der Zahl der Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich, insbesondere in den Bereichen Handel, Gastgewerbe und Verkehr. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der hier Beschäftigten um 134 000 Personen gestiegen. Auch hier können Sie einen entsprechenden Aufwärtstrend feststellen. Mir stellt sich an dieser Stelle nun die Frage, welche Alternative Sie uns eigentlich anbieten. Wo in Ihren Anträgen, die wir heute beraten, spiegeln sich Ihre Sprüche zu mehr Wettbewerb und mehr Freiheit, Frau Wöhrl, eigentlich wider? ({3}) Ein gutes Beispiel hierzu haben Sie selbst genannt. Bei der Überarbeitung der Handwerksordnung haben Sie versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wir hätten uns hier noch mehr Freiheiten gewünscht - das gestehe ich zu -, haben aber einen Kompromiss gefunden, der, wie ich finde, sehr gut ist. Wir können in diesem Bereich einen Gründungsboom feststellen. Wir unterstützen so das unternehmerische Denken. Das ist alles positiv. Deswegen können Sie hier doch sagen, dass es richtig war, dass wir das gemeinsam gemacht haben. ({4}) Die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande erwarten, dass wir etwas gemeinsam auf den Weg bekommen. Seien wir stolz darauf, dass uns das gemeinsam gelungen ist! Ein weiteres Beispiel, das einen kleineren Bereich betrifft. Wir haben erreicht, dass Existenzgründer von Beitragszahlungen an die Industrie- und Handelskammern bzw. an die Handwerkskammern befreit sind, wenn ihr Gewerbeertrag nicht höher ist als 25 000 Euro im Jahr. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag für die Menschen, die versuchen, unternehmerisches Denken in die Praxis umzusetzen. Ein weiteres solches Beispiel. Die Eintragung in das Handelsregister muss beschleunigt werden. Fast 70 Prozent aller Handelsregistereintragungen in Deutschland dauern länger als zwei Monate. Damit liegen wir deutlich über dem europäischen Benchmark von einem Monat. Den Gerichten soll deshalb gesetzlich vorgeschrieben werden, den Antragsteller innerhalb eines Monats in einer das Verfahren fördernden Weise zu bescheiden. Damit wollen wir klar machen, dass wir dafür sorgen wollen, dass die Menschen schneller an den Markt gehen können. Dieser Weg ist doch richtig. Sagen Sie deshalb, dass auch Sie das wollen und dass Sie mit uns diesen Weg gehen wollen. Schauen Sie sich heute im „Handelsblatt“ den Monitor zum Thema Ausbildung an. Dort steht die klare Aussage, dass wir auch denjenigen einen Weg ebnen müssen, die nicht so gut qualifiziert sind. Was haben wir gemacht? Schauen Sie sich das einmal an: Bereits seit dem 24. September 2003 gibt es eine Modernisierung hin zu Berufen mit zweijähriger Ausbildungsdauer, wie beim Verkäufer, Handelsfachpacker, Maschinenführer oder Fahrradmonteur. Wir müssen mehr machen - darin stimme ich Ihnen zu -, aber dass wir diesen Weg gegangen sind und dass es bereits Gesetz geworden ist, müssen Sie doch anerkennen. Sprechen Sie das doch einmal aus und erkennen Sie an, dass nicht alles schwarz in schwarz erscheint, sondern dass es in Deutschland voran geht. Das ist Teil der Wahrheit. ({5}) Christian Lange ({6}) Nun zu Ihnen, Herr Brüderle, und Ihren steuerpolitischen Äußerungen. Das, was Sie vorgetragen haben - das steht auch in Ihren Anträgen -, dass die Personengesellschaften gegenüber den Kapitalgesellschaften benachteiligt wären, ist ein alter Hut. Ich will es noch einmal sagen, auch wenn es mich die letzten Minuten meiner Redezeit kostet: Man darf nicht auf den immer wieder bemühten Vergleich hereinfallen, Kapitalgesellschaften zahlen nur 25 Prozent Körperschaftsteuer, Personengesellschaften dagegen 45 Prozent Einkommensteuer. Dieser Vergleich stimmt nicht. Warum stimmt er nicht? Erstens. Kapitalgesellschaften müssen zusätzlich Gewerbesteuer bezahlen, was im Durchschnitt mit knapp 14 Prozent zu Buche schlägt. Also liegt die steuerliche Gesamtbelastung bei rund 39 Prozent, etwa beim Handwerksmeister. Die können die Gewerbesteuer bei der Einkommensteuerschuld pauschal verrechnen. Zweitens. Die Körperschaftsteuer von 25 Prozent wird vom ersten bis zum letzten Euro des Gewinns erhoben, während die Einkommensteuer progressiv ausgestaltet ist. Bei der Personengesellschaft sind nur die Gesellschafter steuerpflichtig, aber nicht die Gesellschaft selbst. Das bedeutet, dass den Personenunternehmern wie jedem anderen Privaten auch der Grundfreibetrag und andere Freibeträge, etwa wenn er Kinder hat, zustehen. Drittens. Was ist schließlich das Ergebnis dessen? Um im Jahr 2005 eine den Körperschaften, also den Aktiengesellschaften, entsprechende durchschnittliche Gesamtbelastung von rund 39 Prozent zu erreichen, muss ein lediger Handwerksmeister rund 130 000 Euro versteuern. Bei einem verheirateten Handwerksmeister sind es rund 245 000 Euro. Dass dies nur 5 Prozent der Personengesellschaften in Deutschland sind, haben wir zu beklagen. Dass das Steuerrecht diese benachteiligt, stimmt aber einfach nicht. Behaupten Sie es hier also nicht. Finden Sie den Weg zurück zur Wahrheit und damit zur Klarheit und damit zum Wirtschaftswachstum in Deutschland! Dazu fordere ich Sie auf. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Veronika Bellmann, CDU/CSU-Fraktion.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, auf welcher Rhetorikschule Sie reden gelernt haben. Meine Großmutter hätte bei dem lauten Redeschwall, den Sie von sich gegeben haben, gesagt: Wer schreit, hat Unrecht. ({0}) Herr Lange, ich will Ihnen gerne sagen, wo unsere Vorschläge für die Mittelstandspolitik stehen. Sie stehen in unserem vorliegenden Antrag. Es sind genau 25 an der Zahl. Uns vorzuwerfen, dass wir Ihnen hier nichts Konstruktives vorschlagen, ist wohl gründlich danebengegriffen. ({1}) Der KfW-Mittelstandsmonitor 2004 sagt aus: Die Schwäche des Mittelstandes hält das vierte Jahr in Folge an. Lediglich 12 Prozent der Mittelständler sind in der Lage, zusätzliches Personal einzustellen. Damit befindet sich die Mittelstandskonjunktur im Schlepptau der Gesamtwirtschaft mit entsprechender Wirkung auf Beschäftigungsimpulse und Investitionen. ({2}) Es stellen sich die Fragen: Ist der Mittelstand in der Krise? Ist die Gesamtwirtschaft in der Krise? Ist die Weltwirtschaft in der Krise? - Nein, die Politik dieser Bundesregierung und die Staatsfinanzen sind in der Krise. ({3}) Ihre Laborversuche sind kläglich gescheitert und die politischen Rahmenbedingungen für den Mittelstand sind katastrophal. Ich will die Steuer- und Abgabenpolitik näher beleuchten und dabei insbesondere die Ausbildungsplatzabgabe hervorheben. Statt die Berufsbildung durch eine Verkürzung der Ausbildungsdauer, durch eine modulare Ausbildung, die an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert ist, und durch die Schaffung neuer Ausbildungsberufe zu modernisieren, schaffen Sie ein Bürokratiemonster sondergleichen: 1 000 Arbeitsplätze ohne Wertschöpfung, die die Steuerzahler und damit die Staatsquote noch mehr belasten, als das ohnehin schon der Fall ist. Das Gleiche gilt bei Hartz IV. Ja, wir sind dafür, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzuführen. ({4}) Wichtig ist aber die Umsetzung. Sie ist wie bei allen anderen Ihrer Gesetze schlampig. Die Bundesagentur für Arbeit verdient ihren Namen fast nicht mehr. Auch dort sind 40 000 neue Arbeitsplätze nötig, aber auch dort entsteht keine Wertschöpfung. ({5}) Über allem schwebt das Haushaltsdebakel ohnegleichen, zu dem das Maut-Desaster mit Milliardenlöchern noch hinzukommt, was nicht ohne Wirkung auf die Mittelstandspolitik bleibt. ({6}) - Herr Tauss, es ist schön, dass Sie meinen Namen mittlerweile kennen, aber Sie können mit Ihren unqualifizierten Zwischenrufen ruhig einmal aufhören. ({7}) Maut-Desaster, Haushaltslöcher, Haushaltsdebakel von all dem ist bei der Gemeinschaftsaufgabe der Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur nicht die Rede. Ich will nun einmal näher auf die Gemeinschaftsaufgabe eingehen. Die Gemeinschaftsaufgabe ist das erfolgreichste Instrument der Wirtschaftsförderung, mit relativ geringen Mitnahmeeffekten und hohen Arbeitsmarkteffekten. 60 Prozent der GA-Summe werden an kleine und mittelständische Unternehmen mit 250 und weniger Arbeitnehmern ausgezahlt. Eine Kürzung dort wäre deshalb auch eine Beschneidung der Handlungsmöglichkeiten der Mittelständler. ({8}) Die Kürzung der GA-Mittel ist ein gesamtdeutsches Spiel mit dem Feuer, da die GA kein rein ostdeutsches Förderinstrument ist, sondern ein Bundesprogramm, das jeder bedürftigen Region zugute kommen soll. Mit den Kürzungen der GA-Mittel schädigen Sie allerdings besonders den Aufbau Ost. Er wird an der wirksamsten Stelle ausgebremst. Dazu gibt es parteiübergreifend Kritik. Ministerpräsident Platzeck, SPD, erklärt: Eine tragende Säule des Aufbau Ost ist gefährdet. Bundesminister Stolpe sagt: Kürzen ist Unsinn. - MdB Schneider, SPD, warnt: Aufbau Ost wird sturmreif geschossen. - MdB Hettlich, Grüne, sagt: Das ist Zündeln am Solidarpakt, eine Taktik der Nadelstiche gegen die Ostförderung. Er ruft Herrn Clement dazu auf, als Bundesminister für das ganze Land verantwortlich zu sein und nicht nur für sein Heimatland Nordrhein-Westfalen. ({9}) Der Verdacht, dass ein Vermeiden der Subventionskürzungen bei der Steinkohle zulasten des Ostens geht, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Steinkohleförderung wird bis 2012 verlängert. Die Steinkohleförderung wird von Kürzungen nach dem Koch/Steinbrück-Konzept, die auf 708 Millionen Euro festgelegt waren, ausgenommen. Die Steinkohleförderung sinkt langsamer als ursprünglich geplant, auch wenn sie verzögert ausgezahlt wird. Das bedeutet für die Kohle ein Plus von 630 Millionen Euro und entspricht genau der Summe, die bei den Verpflichtungsermächtigungen für die GA eingespart werden soll. CDU-Haushälter Dietrich Austermann kritisiert deshalb zu Recht, dass der größte Fehler der Regierung darin besteht, die Vergangenheit zulasten zukunftsgewandter Wirtschaftsförderung zu fördern. ({10}) In der Öffentlichkeit aber werden diese Kürzungen nicht mit dem Haushaltsdebakel, mit den Milliardenverlusten aus dem Mautdesaster oder mit Wahlgeschenken begründet, sondern mit dem Koch/Steinbrück-Konzept. Meine sehr verehren Damen und Herren, eine Lüge wird nicht wahrer, wenn man sie ständig wiederholt. ({11}) Das Koch/Steinbrück-Konzept muss jetzt von Kürzungen im Verkehrsetat bis hin zu den Kürzungen der Verpflichtungsermächtigung bei der GA für alles herhalten. Verstecken Sie sich mit Ihren schönen Reden nicht hinter den Wachstumsprognosen und Ihrer chaotischen Haushaltspolitik, verstecken Sie sich nicht hinter einer moderaten Subventionskürzung, die moderate Konsolidierungsbemühungen nachweist! Die Länder tragen diese Subventionskürzungen aus dem Koch/Steinbrück-Papier nicht umsonst mit; sie stellen vielmehr auch in der Phase eines Abbaus Planungssicherheit und Verlässlichkeit dar. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Kürzungen nach Koch/Steinbrück reichen von 4 bis 12 Prozent; im Unterschied dazu hat das BMWA vorgeschlagen, zwischen 35 und 65 Prozent zu kürzen. In 2005 kommen nach Koch/Steinbrück 96 Prozent oder 201,06 Millionen Euro zur Auszahlung, nach BMWA 35 Prozent oder 73,5 Millionen Euro. Die Differenz beträgt somit 128,1 Millionen Euro; das ist mehr, als die GA West ausmacht. ({12}) Das ist einfache Prozentrechnung. Ich bin gespannt, wie die Anfragen, die diesbezüglich im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gestellt werden, beantwortet werden. Ich hoffe, dass bis zur Kabinettsentscheidung am 23. Juni die verworrenen Kürzungsvorschläge des BMWA noch einmal geradegerückt werden. Es ist schon schlimm genug, dass die Verlässlichkeit der Politik weiter Schaden genommen hat. Ich hoffe auch, dass Sie nach dem Grundsatz handeln: An der Investitionsförderung zu sparen ist wirtschaftlich unsinnig, da dadurch die Sozialabgaben langfristig steigen. Wenn wir wissen, dass die Großindustrie durchaus mobil, der Mittelstand aber im wahrsten Sinne des Wortes bodenständig ist, dann müssen wir Investitionen auch beim Mittelstand entsprechend honorieren: ({13}) durch eine Flexibilisierung von Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, durch einen erleichterten Zutritt von Geringqualifizierten zum Arbeitsmarkt und durch weitere Steuerreformen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit!

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Notwendig ist eine klare Situationsanalyse, und zwar offen und ehrlich, nicht blauäugig und bewusst geschönt, wie es die Bundesregierung oder Herr Brandner vorhin vorgetragen haben. Sie handeln nach dem Motto: Wenn ich die Augen nur lange genug geschlossen halte, dann wird mein Traum schon irgendwann Wirklichkeit werden. - Das kann nicht zutreffen. Wir brauchen eine Situationsanalyse, eine Zielbestimmung und eine Wegbeschreibung. Wir brauchen wie im Auto ein Navigationssystem. ({0}) Wenn Analyse, Zielbestimmung und Wegbeschreibung vorliegen, dann heißt es auch hier: Die Route wird berechnet. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Gesine Lötzsch. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Abgeordnete der PDS. Die aktuelle Steuerschätzung ist ein Offenbarungseid für Herrn Eichel und seine völlig verfehlte Finanzpolitik. Doch es ist keine Kehrtwende der Bundesregierung zu einer vernünftigen, die Konjunktur belebenden Finanzpolitik zu erkennen. Die Versuche des Kanzlers und seines Außenministers, die Finanzpolitik zu ändern und die Konjunktur anzukurbeln, sind offenbar gescheitert. Die Leidtragenden der bedingungslosen Fortsetzung dieser konjunkturfeindlichen Politik sind unter anderem die kleinen und mittelständischen Unternehmen in unserem Land. ({0}) Herr Clement folgt willig dem Sparkurs des Finanzministers und hat als Wirtschaftsminister mit seinem Vorschlag, die öffentlichen Investitionen für den Osten zu kürzen, mindestens - ganz freundlich ausgedrückt - ein Selbsttor geschossen. Gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind auf öffentliche Fördermittel dringend angewiesen. Sie wissen - viele wissen es augenscheinlich auch nicht -, gerade im Osten sind in Anbetracht der geringen Liquidität die Unternehmen ohne Fördermittel häufig vom Aus bedroht. Wer die GA-Mittel für den Osten so dramatisch kürzen will, wie Herr Clement das in die öffentliche Diskussion gebracht hat, der legt die Axt an die Wurzel des Aufbaus Ost. Herr Clement ist zwar nicht hier, aber trotzdem sollte man ihm ins Stammbuch schreiben, dass er nicht mehr Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und auch nicht der Kohlebeauftragte der Bundesregierung ist, sondern Verantwortung für ganz Deutschland trägt - und dazu gehört immer noch der Osten. ({1}) Der so genannte Aufholprozess Ost ist seit Mitte der 90er-Jahre ins Stocken geraten. Der Abstand zwischen Ost und West ist wieder größer geworden. 1997 betrug zum Beispiel die durchschnittliche Kreditquote, bezogen auf die Bilanzsumme, 66 Prozent; sie lag damit fast doppelt so hoch wie bei westdeutschen Unternehmen. Wer in Anbetracht solcher Zahlen Vorschläge wie Herr Clement macht, der hat die ostdeutschen Länder augenscheinlich abgeschrieben. Das gehört angeprangert und darf nicht hingenommen werden. ({2}) - Unterwegs sein alleine reicht nicht. Wer solche Vorschläge macht, Herr Kollege Schmidt, reist nur, um Trostpflaster aufzukleben. Herr Clement hat mit diesem Vorschlag einen Schaden angerichtet, der kaum wieder gutzumachen und auch mit einem Trostpflasterbesuch nicht zu korrigieren ist. Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstandes unter anderem vor: erstens ein Infrastrukturprogramm der Bundesregierung, das vor allem die Infrastruktur von Städten und Gemeinden stärkt und kleinen und mittelständischen Unternehmen Aufträge gibt, zweitens einen neuen Finanzierungsschlüssel für die Gemeinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur, der den Länderanteil von 50 Prozent auf 25 Prozent senkt. In meiner Heimatstadt Berlin ist es zum Beispiel schon gar nicht mehr möglich, alle vom Bund zugestandenen Mittel der Gemeinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land aufgrund seiner Haushaltsnotlage die Kofinanzierung nicht mehr bereitstellen kann. Ich darf aber auch auf positive Erfahrungen zum Beispiel der rot-roten Landesregierung in Schwerin mit einem Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklungsprogramm verweisen. Dieses Programm ist nämlich so angelegt, dass die Regionen selbst über die Fördermittelzuweisung entscheiden und dass sie dafür eigene Budgets haben. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Ein anderes gutes rot-rotes Instrument sind Initiativfonds für finanzschwache Kommunen, die mit den Mitteln aus diesen Fonds Voraussetzungen für die Ansiedlung von Unternehmen schaffen können. Ich bin mir sicher, dass es noch weitere gute Ideen gibt, die von der Bundesregierung einfach nur aufgegriffen, analysiert und umgesetzt werden müssen. Ich möchte noch auf einige Punkte der heutigen Debatte eingehen. Frau Kollegin Wöhrl hat zu Beginn der Debatte völlig richtig gesagt ({3}) - bekommen Sie keinen Schreck, ich zitiere Sie nur -, man solle den Faktor Arbeit von den Sozialabgaben abkoppeln. Sie wissen, dass wir von der PDS schon seit langem den Vorschlag unterbreitet haben, eine Wertschöpfungsabgabe einzuführen. Wenn wir Frau Kollegin Wöhrl an unserer Seite wissen, dann sind wir darüber nicht enttäuscht, sondern freuen uns darüber. ({4}) Der Kollege Rezzo Schlauch hat die falsche Behauptung aufgestellt, dass alle in diesem Haus für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind. Ich darf für uns klarstellen, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ab dem 1. Januar 2005 bedeuten wird, dass die Menschen im Osten von nur noch 331 Euro leben müssen und die Menschen im Westen, die davon betroffen sind, von 345 Euro. Ich darf klarstellen, dass ein derartiges Verfahren niemals die Zustimmung der PDS finden wird. Wir als PDS-Abgeordnete gehören diesem Hause bekanntlich an. ({5}) Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die besten Ideen nichts bringen, wenn die Bundesregierung nicht bereit ist, ihre Finanzpolitik zu ändern. Herr Eichel drosselt mit seiner Finanzpolitik die Konjunktur und Herr Clement zwingt mit seinen Investitionskürzungsvorschlägen den Mittelstand weiter in die Knie. Insofern kann man nicht von einer „Offensive für den Mittelstand“ sprechen; der Antrag von SPD und Grünen gaukelt dies leider nur vor. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Walter Hoffmann, SPDFraktion, das Wort.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt, glaube ich, in diesem Hause einen breiten Konsens in der Einschätzung der Situation des Mittelstands bzw. der kleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande. Alle haben betont, wie wichtig der Mittelstand ist, und die Standorttreue besonders hervorgehoben. Ein Teil der Redner hat auch die beschäftigungspolitische Bedeutung des Mittelstands angesprochen. Es sind beeindruckende Fakten, dass der Mittelstand 70 Prozent der Arbeitnehmer und 83 Prozent der Auszubildenden beschäftigt. Er ist, wie es so schön heißt, das zentrale Standbein für die Zukunft im erweiterten Europa und in einer globalisierten Welt. Da das so ist, tun wir gut daran, alles daranzusetzen, die Situation der kleinen und mittleren Betriebe zu verbessern. Darum streiten wir heute. Wir wollen, dass Menschen gerade in den kleinen und mittleren Betrieben Beschäftigung und Ausbildung finden, dass sich die finanzielle Lage dieser Betriebe verbessert und wieder Erträge eingefahren werden. Herr Schauerte, man kann darüber streiten, ob die bisher erzielten Ergebnisse ausreichend sind. ({0}) - Sie meinen, dass dies nicht der Fall ist. Wir haben dazu naturgemäß eine etwas differenziertere und positivere Einstellung. Aber ich denke, es ist unstrittig, dass wir in den vergangenen Monaten und Jahren eine Fülle von Maßnahmen ergriffen haben, um die Lage der mittleren und kleinen Betriebe zu verbessern. Zu den bürokratischen Belastungen und Regulierungen ist schon vieles gesagt worden. Ich möchte dazu noch einige Anmerkungen machen. Wie wir alle wissen, bestehen die Belastungen für die KMUs nicht nur im Steuer- und Abgabenbereich, sondern auch in der Bürokratie. Das hat die Kollegin Homburger von der FDP in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt. Wenn wir die Lage der kleinen und mittleren Betriebe verbessern wollen, dann müssen wir zunächst einmal feststellen, wodurch diese Lage gekennzeichnet ist. Zum Mittelstand gehören der Friseur, der Dachdecker, der Existenzgründer im IT-Bereich, der Autozulieferer mit fast 500 Beschäftigten - auch er wird statistisch noch dem Mittelstand zugerechnet -, der Metzger, der Maschinenbauer, der Partyservicebetrieb und viele andere. In den jeweiligen Branchen und Sektoren gibt es unterschiedliche Regelungen und Belastungen. Insofern ist es schwierig, zu verallgemeinern. Ich denke, es hilft uns auch nicht weiter - das ist schon mehrfach festgestellt worden -, den Sachverhalt immer wieder polemisch und schwarzmalerisch darzustellen. Mir ist zum Beispiel völlig schleierhaft, warum die Kollegen von der FDP in ihrem Antrag eine großflächige Abschaffung statistischer Erhebungen fordern, obwohl wir wissen, dass wir zumindest auf einen Teil der Erhebungen dringend angewiesen sind und wir mit dem Versuch, sie abzuschaffen, auf den härtesten Widerstand stoßen würden, und zwar auch seitens der Politik. Denn wir brauchen eine vernünftige Datenerfassung, um die entsprechende Gesetzgebung auf den Weg zu bringen. Ich will damit sagen, dass der Teufel im wahrsten Sinne des Wortes im Detail steckt. Wir haben gehandelt - das ist nach unserer Auffassung auch unstrittig -; wir haben Maßnahmen entwickelt und sind jetzt dabei, diese konkret umzusetzen. Wir haben schnell und unbürokratisch das Projekt „Innovationsregionen“ geplant und umgesetzt - und zwar innerhalb eines Jahres, Frau Homburger! Wir haben mithilfe der Innovationsregionen eine Fülle von Vorschlägen erarbeitet und diese vor wenigen Tagen noch einmal in einem Kabinettsbeschluss zusammengefasst, der jetzt zur Umsetzung kommt. Er enthält 29 Vorschläge unter aktiver Beteiligung der Betroffenen. Das ist ein Prozess, der nicht von oben nach unten durchgesetzt, sondern mit den beteiligten Organisationen und den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet wird. Zu den Vorschlägen gehören unter anderem die Verschlankung des Vergaberechts, die Modernisierung der Arbeitsstättenverordnung, die Reduzierung des Verwaltungsaufwands im Arbeitsschutzbereich, elektronische Verfahren bei Steuererklärungen und einfache Meldeverfahren in der Sozialversicherung. In extrem kurzer Zeit haben wir eine Fülle von Vorschlägen mit den Beteiligten entwickelt und auf den gesetzgeberischen Weg gebracht. Jetzt befinden wir uns in der Umsetzungsphase. Herr Schauerte, Sie brauchen keine Angst vor Ruhe und Stillstand in diesem Land zu haben. Wir werden den bisherigen Prozess fortsetzen. Ich denke, der Problemdruck ist in der Tat so hoch, dass wir uns Stillstand und Ruhe im wahrsten Sinne des WorWalter Hoffmann ({1}) tes überhaupt nicht erlauben können. Machen Sie sich keine Sorgen! Wir werden in unserem bewährten Stil weiter handwerklich solide und qualitativ hochwertige Arbeit leisten. ({2}) Wir werden also weiter Vorschläge sammeln und Maßnahmen umsetzen. Ich finde es gut, dass Sie uns in Ihrem Antrag für die Modellregionen - schön, dass das auch einmal geschieht - ausdrücklich loben. Jetzt können Sie uns auf der Bundesratsebene weiterhelfen; denn ein Großteil dessen, was wir vorgeschlagen haben, ist zustimmungspflichtig. Nehmen Sie entsprechend Einfluss auf die Bundesländer, in denen Sie etwas zu sagen haben! Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich in der Tat den Stil der Diskussion über die Mittelstandspolitik sowie über Entbürokratisierung und Deregulierung zum Teil für kontraproduktiv halte. Es hilft uns nicht weiter, die Situation ständig schwarzmalerisch darzustellen. Ich möchte damit die Probleme der kleinen und mittleren Betriebe nicht klein reden; darum geht es mir überhaupt nicht. Wenn wir aber Dynamik erzeugen und Menschen motivieren wollen, Unternehmen zu gründen, Arbeitsplätze zu schaffen und Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, dann schaffen wir das nicht mit Schwarzmalerei und depressiven Zustandsbeschreibungen. Das Institut für Mittelstandsforschung hat im letzten Jahr - meine Kollegin von der FDP hat das vorhin angesprochen - eine breit angelegte Untersuchung über die Belastung des Mittelstandes sowie über Deregulierung und Regulierung angestellt. Diese hat eine Fülle, wie ich finde, sehr nachdenkenswerter Ergebnisse gezeitigt. Ein Ergebnis ist, dass die subjektiv empfundene Bürokratiebelastung der Unternehmen größer ist als die tatsächlich nachgewiesene. Ich wiederhole: Die subjektiv empfundene Bürokratiebelastung der Unternehmen ist größer als die tatsächlich nachgewiesene! Ich bitte, einmal darüber nachzudenken, wie das zustande kommen kann und wo die konkreten Ursachen dafür liegen. Wenn man das tut, kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass das an einer schwarzmalerischen Stimmungsmache liegt, die sich auf viele Mittelständler in diesem Land in der Tat demotivierend auswirkt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das sollten Sie bei der Formulierung Ihrer Anträge berücksichtigen. Deswegen appelliere ich an Sie noch einmal: Dramatisieren Sie die Lage nicht, sondern arbeiten Sie stattdessen an der konkreten Umsetzung unserer Vorschläge mit! Ein konkreter Vorschlag ist: Lassen Sie uns keine überflüssigen Anträge mehr einbringen! Das wäre ein großer Beitrag zum Abbau von Bürokratie. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Schönredner“ ist ein Begriff, der im Süden der Republik stark verbreitet ist. Dieser Begriff trifft heute auf Sie, Herr Schlauch, voll und ganz zu. Wenn ich das, was Herr Kuhn ausgeführt hat, richtig verstanden habe, dann hat er zwar viel geredet, aber zum Mittelstand überhaupt nichts gesagt. ({0}) Das Schlimme ist: Sie reden schön, Sie reden sich selbst etwas ein und Sie glauben das auch noch, was Sie sich einreden. ({1}) In welcher Welt leben Sie denn? Die Lage des Mittelstandes war noch nie so katastrophal wie zurzeit. Allein in den letzten zwei Jahren gab es 80 000 Insolvenzen. Jeden Tag kommen weitere 100 hinzu. Herr Hoffmann, das sind dreimal so viele Konkurse wie vor zehn Jahren und fünfmal so viele wie vor 25 Jahren. (Christine Scheel ({2}) Die Unternehmen laufen in Scharen davon. Jeden Tag verlieren wir über 1 000 Arbeitsplätze an das Ausland. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Die - staatlich großzügig subventionierten - Ich-AGs graben den Steuern und Abgaben zahlenden Meisterbetrieben zu guter Letzt das Wasser ab. Die Bundesagentur für Arbeit muss in diesem Fall fast 1 Milliarde Euro zur Verfügung stellen. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie setzen mit dieser verfehlten Politik weitere Zehntausende von Arbeits- und Ausbildungsplätzen aufs Spiel. Deshalb fordere ich: Schaffen Sie die Ich-AGs sofort wieder ab. Eine solche Regelung gibt es in der ganzen EU kein zweites Mal. Dänemark und Schweden haben das einmal ausprobiert. Auch sie haben Schiffbruch erlitten. ({3}) Seit Rot-Grün bei uns regiert, sind wir, Deutschland, nicht mehr die Lokomotive des europäischen Wirtschaftszuges, sondern wir sitzen im Bremserhäuschen und werden zur Last für die wirtschaftliche Entwicklung Europas. ({4}) Herr Kollege Stiegler, nur noch Griechenland, Portugal und Spanien liegen hinter uns. Alle anderen sind vor uns. Fakt ist: In Deutschland sind - das kann nicht oft genug gesagt werden - die Nettolöhne einfach zu niedrig und die Bruttoarbeitseinkommen zu hoch. ({5}) Wir sind zu teuer, wir sind zu bürokratisch und wir sind zu wenig innovativ. ({6}) Die Ursachen liegen auf der Hand: Sie haben den Mittelstand vernachlässigt; Sie haben ihm unverkraftbare Fesseln angelegt. Seit 1998 haben Sie einen Knüppel nach dem anderen aus dem Sack geholt. Ich rufe hier ins Gedächtnis: Lohnfortzahlungsgesetz gekippt, 630-DM-Regelung abgeschafft, Kündigungsschutzschwelle angehoben und das Betriebsverfassungsgesetz auf Mittel- und Kleinbetriebe ausgeweitet. Zum Beispiel kamen zu den Kosten von 6 Milliarden Euro noch 1,2 Milliarden Euro hinzu. Das ist ein Beschäftigungsprogramm für den DGB, aber nicht für die Bürger unseres Landes. ({7}) Genauso wurde ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit umgesetzt. Ergebnis: minus 250 000 Arbeitsplätze. Die Bürokratie wurde ausgeweitet. Die Steuern wurden erhöht. Ich erinnere nur an die Einführung der Ökosteuer. Den Investitionshaushalt haben Sie gekürzt. Herr Minister Stolpe, Sie sind dabei der Leidtragende - ich fühle mit Ihnen -, weil Sie kein Geld mehr haben, um die Bauwirtschaft anzukurbeln. Jetzt kommen Sie von Rot-Grün noch mit der Ausbildungsplatzabgabe und anderem. Sie wundern sich, dass bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr läuft. Katzenjammer ist an der Tagesordnung. Aber das kommt ja nicht von ungefähr. Es ist alles hausgemacht, wie meine Vorrednerinnen Frau Bellmann und Frau Wöhrl bereits gesagt haben. Dem Macher Schröder unterläuft viel Murks. Er lässt den Mittelstand im Regen stehen. Uns muss quer durch das ganze Parlament besonders berühren, dass der Mittelstand von der Substanz lebt. Die Ertragslage hat sich drastisch verschlechtert. Es muss doch alarmieren, dass 35 Prozent der kleinen Unternehmen mit einem Umsatz unter 250 000 Euro überhaupt keinen Gewinn mehr machen und dass nur ein Drittel der größeren Unternehmen mit einem Umsatz zwischen 5 Millionen Euro und 50 Millionen Euro einen Gewinn erzielen. Die Eigenkapitaldecke wird immer dünner. Sie beträgt im Schnitt höchstens 6 Prozent der Bilanzsumme. Mehr als ein Drittel der Betriebe weist in der Bilanz kein Eigenkapital mehr aus. Bei kleineren Betrieben mit einem Umsatz bis 500 000 Euro sind es sogar mehr als die Hälfte. Dennoch sagen Sie: Mit dem Mittelstand geht es aufwärts; es ist alles in Butter; wir werden die Probleme meistern. Nein, Sie haben dem Mittelstand das Leben schwer gemacht, Sie haben ihn vernichtet. ({8}) Ende 2003 befürchteten über zwei Drittel aller Firmen mit weniger als 50 Beschäftigten und mehr als die Hälfte der Unternehmen mit über 50 Mitarbeitern für 2004 noch schlechtere Finanzbedingungen. Frau Kollegin Wöhrl, Sie haben vorhin darauf zu Recht verwiesen; aber hier wird es nicht verstanden. ({9}) Die Botschaft ist noch nicht ganz angekommen. Das Wichtigste ist, dass wir den Mittelstand wieder stärken. Das ist das A und O. Durch die Stärkung des Mittelstandes werden Wachstum und Beschäftigung gefördert. Vor allen Dingen deshalb müssen vernünftige Rahmenbedingungen geschaffen werden. Für einen Aufschwung in Deutschland brauchen wir einen Befreiungsschlag - ich möchte dazu sechs kurze Punkte vortragen -: erstens einen Steuerabbauplan für die nächsten fünf Jahre, zweitens echte Reformen zur Senkung der Lohnzusatzkosten, drittens weniger Bürokratie, viertens eine Offensive für Investitionen, Innovationen und Existenzgründungen, fünftens eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sechstens längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn. Mittelstand und Existenzgründer gehören wieder ins Zentrum der Wirtschaftspolitik. Dahin werden wir sie auch rücken, weil Sie das versäumt haben. ({10}) Wir brauchen mehr Freiraum für Selbstständigkeit. Seit drei Jahren werden in Deutschland immer weniger Unternehmen gegründet. Herr Lange, was Sie gesagt haben, stimmt gar nicht. Wir haben auch beim Handwerk ein ganz großes Minus zu verzeichnen, nämlich den Verlust von über 100 000 Arbeitsplätzen allein in diesem Jahr. ({11}) Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen: Der Selbstständigenanteil liegt bei uns in der Bundesrepublik Deutschland leider nur noch bei 10 Prozent. In der EU liegt er noch bei 16 Prozent. Dieser Trend zu einem immer geringeren Anteil muss endlich umgekehrt werden. Mittelständler gehen, auch was Arbeitszeit anbelangt, mit gutem Beispiel voran. ({12}) Die Jahresarbeitszeit ist bei ihnen um etwa 50 Prozent höher als bei vielen ihrer Mitarbeiter. Sie packen an, sodass es wieder aufwärts geht. Wir alle sind aufgefordert, dem Mittelstand endlich die Chance zu geben, sich wieder so zu entfalten, wie er es verdient. Wenn er auf Sie von Rot-Grün setzt, ist er verlassen. Wir werden dafür sorgen, dass es wieder vernünftige Rahmenbedingungen für den Mittelstand gibt und es wieder aufwärts geht, wie Kollege Schauerte das vorhin gesagt hat. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf der Drucksache 15/3221. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die An- nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/351 mit dem Titel „Offensive für den Mittelstand“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage- gen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der CDU/CSU-Fraktion auf Druck- sache 15/349 mit dem Titel „Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik statt neue Sonderregeln - Mit- telstand umfassend stärken“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Auch diese Beschlussempfeh- lung ist mehrheitlich angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- sache 15/357 mit dem Titel „Neue Chancen für den Mit- telstand - Rahmenbedingungen verbessern statt Förder- dschungel ausweiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Mit Mehrheit ist die Empfehlung ange- nommen. Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksa- che 15/752 mit dem Titel „Statistiken reduzieren - Un- ternehmen entlasten - Bürokratie abbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Mit gleicher Mehrheit ist auch diese Beschlussempfehlung angenom- men. Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit unter Buchstabe e seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 15/3221 die Ablehnung des An- trags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1134 mit dem Titel „Modellregionen für Deregulierung und Büro- kratieabbau“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehr- heit des Hauses angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und b so- wie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf: 5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Arnold Vaatz, Werner Kuhn ({0}), Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Ostdeutschland eine Zukunft geben - Drucksache 15/3047 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes - Drucksache 15/776 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) - Drucksache 15/2956 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller Cajus Julius Caesar Undine Kurth ({4}) Angelika Brunkhorst ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nachhaltiges Wachstum in Ostdeutschland sichern - Drucksache 15/3201 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther ({6}), Eberhard Otto ({7}), Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ostdeutschland als Speerspitze des Wandels Leitlinien eines Gesamtkonzepts für die neuen Länder - Drucksache 15/3202 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Finanzausschuss Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({9}), Joachim Günther ({10}), Eberhard Otto ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Kürzungen bei den Verkehrsprojekten in Ostdeutschland - Drucksache 15/3203 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12}) Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({13})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Wochen entstand in Deutschland eine Debatte über den Aufbau Ost. So pauschalierend und abwertend man teilweise diese Debatte geführt hat und so verfehlt meines Erachtens auch die übereilte Schlussfolgerung ist, dass der Aufbau Ost gescheitert sei, ({0}) so bleibt aber doch festzuhalten, dass es zwar manchmal übertrieben war, wie man die Debatte geführt hat, es aber nötig war, dass sie geführt wurde. ({1}) Natürlich ist der Aufbau Ost nicht gescheitert. Wir dürften uns aber alle darin einig sein, dass er in enormen Schwierigkeiten steckt. Wir können nicht hinnehmen, dass die Stagnation in Ostdeutschland, die bereits etwa sieben Jahre anhält, noch weitere sieben Jahre zu ertragen ist. Wir müssen hier umsteuern. Wir brauchen neue Perspektiven für Ostdeutschland. Es müssen Identifikationsmöglichkeiten mit Zielen geschaffen werden, die tatsächlich attraktiv und auch realisierbar sind. Im Augenblick können wir bei der Regierung herzlich wenig diesbezügliche Ansätze erkennen. ({2}) Meine Damen und Herren, wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass es immer Unterschiede zwischen den Regionen in Deutschland geben wird, dass sich die Leistungsfähigkeit und die Entwicklungsgeschwindigkeit unterscheiden werden. Wir können aber nicht damit einverstanden sein, dass in letzter Zeit keine Konvergenz mehr, sondern eine Divergenz zu verzeichnen ist. Die Tatsache, dass der polnische Präsident Kwasniewski gestern, nachdem er zunächst auf Polnisch darauf hingewiesen hatte, wie sich die Lage in Polen entwickele und dass man 6 Prozent Wachstum habe, sich zum Herrn Bundeskanzler umdrehte und ihm, damit er das auch mitbekomme, mit polnischem Einschlag auf Deutsch sagte: „6 Prozent, Gerhard!“, stellt natürlich eine Abwatschung der Politik der Bundesregierung dar. ({3}) Das zeigt insbesondere, dass Ostdeutschland mittlerweile in seiner Entwicklung gegenüber den östlichen Nachbarstaaten zurückgefallen ist. Das ist ein ganz besonders deprimierender Zustand, weil wir eben, wie gesagt, in den ersten Jahren eine ganz andere Geschwindigkeit vorgelegt hatten. Was ist festzustellen? Es gibt eine ganze Reihe von strukturellen Nachteilen in der Infrastruktur. Wir können nicht hinnehmen, dass diese Nachteile nicht unverzüglich aufgearbeitet werden. Wir können nicht hinnehmen, dass sie sich verfestigen und ein dauerhaftes Hindernis im Konvergenzprozess bilden. Wir stellen fest, dass die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland seit längerer Zeit auf einem Niveau von zwei Dritteln der des Westens verharrt. Das ist viel zu wenig für den Aufwuchs von Unternehmenskapital, das ist zu wenig, um Kaufkraft selbst zu erzeugen, das ist zu wenig, um eine Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zu ermöglichen. Es sind zu wenig Arbeitsplätze entstanden und die Anzahl der insolvenzgefährdeten Betriebe nimmt leider zu. Der Herr Bundeskanzler wollte sich einmal am Abbau der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland messen lassen. Wir müssen heute leider feststellen, dass ein Abbau von Arbeitsmöglichkeiten in Ostdeutschland eingetreten ist: Nicht die Arbeitslosigkeit ist verringert worden, sondern die Arbeitsplatzdichte. ({4}) Das belastet nicht nur die Sozialsysteme und die Sozialkassen, es belastet vor allen Dingen die betroffenen Menschen, die entweder abwandern oder resignieren. Es darf nicht sein, dass die Politik den Menschen in Ostdeutschland solche Botschaften vermittelt. Die Unternehmenslandschaft in Ostdeutschland wächst insgesamt zu langsam. Sie ist noch immer kleinteilig. Von einem wirklich starken Mittelstand, wie er das Kennzeichen der wachstumsstarken westdeutschen Länder ist, können wir in Ostdeutschland bislang nur träumen. Die regionalen Wachstumszentren, über die wir froh sind, verdanken wir in erster Linie der erfolgreichen Ansiedlungspolitik der Länder. Wir verdanken das aber auch beihilferechtlichen Sonderregelungen und besonderen Finanzierungsinstrumenten, zum Beispiel den EUStrukturmitteln und den GA-Mitteln. Deshalb ist es umso unverständlicher, dass uns diese Finanzierungsinstrumente, wenn es nach der Regierung geht, künftig nach und nach aus der Hand geschlagen werden sollen. Das werden wir nicht zulassen. ({5}) Meine Damen und Herren, die entscheidende Frage ist für uns: Wie kommen wir zu wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen? Da haben bis jetzt alle Rezepte dieser Bundesregierung völlig versagt. ({6}) - Auch die CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung hat in diesem Bereich keine Lösung zustande gebracht; das ist leider wahr. - Aber weil das so ist, verlangen wir von Ihnen jetzt: Schluss mit dem Aussitzen, Schluss mit der Illusion, man könne das Arbeitsvolumen durch Umverteilung von Arbeit erhöhen, Schluss mit der Arroganz gegenüber all jenen, die sich, wie zum Beispiel Klaus von Dohnanyi, Gedanken machen, wie man die Situation wenden kann, Schluss mit der Arroganz, ein „Weiter so“ zu wollen, wie es der heute vorliegende Koalitionsantrag beschreibt! Wir wollen ein Umsteuern, wie es zum Beispiel Klaus von Dohnanyi und Georg Milbradt detailgenau vorgeschlagen haben. ({7}) Wir wollen wenigstens eine offene Diskussion darüber. Wir wollen nicht, dass eine Diskussion durch Besuche des Bundeskanzlers in Schwerin mit der Bemerkung, es sei ja alles in Butter, sofort unterbrochen und abgewürgt wird; denn so verfestigt sich die Stagnation. ({8}) Es ist bedauerlich, dass Sie bis jetzt keine konzeptionellen Vorstellungen haben, obwohl Sie aus Ihren eigenen Reihen deutlich kritisiert werden: von Herrn Hacker, Herrn Schneider, Herrn Hilsberg; auch Herr Hettlich hat sich dazu geäußert. Aber offenbar ist Ihnen über das Kurshalten hinaus noch nichts eingefallen. Wenn Sie aber Kurs halten wollen, dann müssen Sie den Menschen auch erklären, was Kurshalten heißt. Beim Emissionshandel zum Beispiel bedeutet es, dass auch die neueren Festlegungen dazu führen werden, dass die modernisierte Stromwirtschaft in Ostdeutschland die noch vorzunehmende Modernisierung in Westdeutschland finanzieren wird. In Ostdeutschland stehen die modernsten Kraftwerke, die es heute gibt, mit einem bereits entsprechend niedrigen Emissionsvolumen. Deshalb ist es technisch überhaupt nicht möglich, die Emissionen im gesetzlich vorgeschriebenen Maße weiter zu reduzieren. Die Stromwirtschaft Ost muss daher von den alten Kraftwerken West Zertifikate kaufen. Mit dem Verkauf dieser Zertifikate können die Kraftwerke in Westdeutschland ihre eigene Modernisierung bezahlen. Das bedeutet, die Kraftwerke in Ostdeutschland bezahlen zuerst ihre eigene Modernisierung und dann auch noch die Modernisierung in Westdeutschland. So sieht der Aufbau Ost in Sachen Emissionshandel aus! ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Vaatz, der Kollege Hilsberg würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Vaatz, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass im gesamten Bereich des Nationalen Allokationsplanes die Early-Action-Bemühungen für den ostdeutschen Stromkonzern Vattenfall zu 100 Prozent umgesetzt wurden? ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, sie sind nicht zu 100 Prozent umgesetzt worden, sondern, soviel ich weiß - ({0}) Ich habe gestern gehört, dass das gerade nicht so ist. ({1}) Aber umso besser. Wenn das so ist, werden wir sehen. Ich bin gerne bereit, mit den Kollegen noch einmal zu reden; vielleicht sind sie ja zufrieden. Bis jetzt haben sie mir das nicht signalisiert. Kommen wir zum Thema Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Die Lücken in der Verkehrswegeinfrastruktur in Ostdeutschland hätten wir mit Planungsverfahren, die etwa zehn bis 25 Jahre dauern, schließen müssen, wenn wir nicht die Möglichkeit gehabt hätten, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz anzuwenden. Dieses Gesetz hat die Planungszeiträume in Ostdeutschland erheblich verkürzt. Es hat uns dadurch viel Zeit und viel Geld gespart. Aber jetzt hören wir, dass die Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes keineswegs gesichert ist. Oder bestreiten Sie auch das etwa? Vielleicht haben Sie ebenfalls gestern Nacht den Beschluss gefasst, die Geltungsdauer dieses Gesetz zu verlängern. ({2}) Die Verlängerung der Geltungsdauer dieses Gesetzes ist also, wie gesagt, noch nicht beschlossen. ({3}) Das bedeutet, dass wir früher oder später in das alte bundesrepublikanische Planungsrecht zurückfallen werden. Das wiederum bedeutet, dass wir viel Geld in die Verwaltungsarbeit und in Gerichtsprozesse stecken müssen. Die Konsequenz ist, dass der Aufholprozess im Bereich des Verkehrswegebaus weiter stagnieren wird. Zum Thema Strukturpolitik kündigt die Bundesregierung an, dass sie sich bei der EU für das Fortgelten der Strukturförderung der neuen Bundesländer als Ziel-1-Gebiete weiter einsetzen will und dass auch die beihilferechtlichen Spielräume bis 2013 erhalten bleiben sollen. Was passiert aber nun? Trotz zehn neuer Mitgliedstaaten streitet die Bundesregierung vehement für eine Deckelung des EU-Haushalts bei 1 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die weitere Strukturförderung der Ziel-1-Gebiete wird nicht mehr möglich sein, wenn Sie bei dieser Haltung bleiben. All das scheint nicht richtig zusammenzupassen. Deshalb appellieren wir an Sie, Ihre bisherige Position zum Aufbau Ost zu ändern. Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Antrag mit dem Titel „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ vorgelegt. Das ist der Gegenentwurf zu Ihrem Kurshalten. ({4}) „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ beinhaltet eine lange Liste von konkreten Maßnahmen. Wir denken, dass wir wesentlich mehr Anstrengungen unternehmen müssen, um die Herstellung von innovativen und marktfähigen Produkten sowie den Ausbau der Dienstleistungen in Ostdeutschland zu fördern. Nur auf diese Weise können neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie mit den verkrusteten Arbeitsmarktstrukturen aufräumen und dass Sie über die Neuregelung des Kündigungsschutzes dazu beitragen, ({5}) dass Arbeitskräfte leichter eingestellt werden können und dass das Missverhältnis zwischen hohen Überstundenvolumen und hohen Arbeitslosenzahlen nach und nach beseitigt wird.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, noch eine Schlussbemerkung. Wir erwarten von Ihnen, dass es eine geeignete Lohnfindung gibt, damit der Niedriglohnsektor erschlossen werden kann. Wir erwarten von Ihnen insgesamt mehr Freiheit, was die Gestaltungsmöglichkeiten der ostdeutschen Landesregierungen angeht. Wir erwarten insbesondere, dass es bei Ihrer Zusage bleibt, die Solidarpaktmittel in Höhe von 156 Milliarden Euro unangetastet zu lassen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, es hilft alles nichts: Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Angesichts der heutigen Situation müssen wir befürchten, dass das Streichkonzert hinsichtlich der GAMittel den Solidarpakt allmählich aushöhlen wird ({0}) und uns die Planungsgrundlage für die Zukunft entzogen wird. Genau das wollen wir vermeiden. Wenn Sie sich unserer Position anschließen würden, wäre das genau die richtige Botschaft für Ostdeutschland. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Redezeit vom Präsidium nicht festgelegt, sondern nur verwaltet wird. Wenn die tatsächliche Redezeit im Verhältnis zu der angemeldeten Redezeit deutlich überschritten wird, trifft dies die nachfolgenden Redner der jeweiligen Fraktion. Nun erteile ich dem Bundesminister Manfred Stolpe das Wort. ({0})

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005306

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Vaatz, in einem Punkt stimme ich mit Ihnen völlig überein: Die österliche Medienflaute wurde durch Berichte über den Aufbau Ost beendet. Ich betrachte es nicht als einen Schaden, dass dieses Thema wieder ernsthaft diskutiert worden ist. ({0}) Allerdings haben wir dabei auch sehr viel Unsinn hören müssen. ({1}) Was mich am meisten verbittert hat, ist die ständige Wiederholung der Aussage, dass seit 1990 über 1 Billion Euro in den Osten geflossen sind, ohne dabei zu berücksichtigen, dass die reine Zuweisung von Mitteln in den Osten über diese 15 Jahre gerade einmal circa 150 Milliarden Euro umfasst. Alles Übrige, all das, was darüber hinausgeht, betrifft Leistungen und Rechtsverpflichtungen, die in ganz Deutschland gelten und auch an anderen Stellen bezahlt worden sind. ({2}) Das Schlimme an solchen Aussagen ist ja, dass dies Stimmungsmache ist und es spaltet. Das verunsichert und entmutigt die Menschen in Ostdeutschland. Aber Mut und Selbstbewusstsein sind neben der verlässlichen Solidarität aus ganz Deutschland das Wichtigste, was die Menschen im Osten brauchen. Ein ganz wichtiger Faktor, der oft unterschätzt wird und nicht übersehen werden darf, ist die psychologische Komponente. Entmutigen, verunsichern ist das Schlimmste, was wir machen können, um den Aufbau Ost zu verhindern. ({3}) Leipzig kam mit seiner Olympiabewerbung leider nicht in die nächste Runde. Aber der Löwenmut im Rahmen dieser Bewerbung und die breite Unterstützung dieses Projektes quer durch ganz Deutschland haben gezeigt, dass man gemeinsam etwas bewegen kann, einen Aufbruch erreichen kann. Ich glaube, das ist eine Haltung, die wir für den Aufbau Ost insgesamt brauchen. Dieser kann uns dann gelingen, wenn man sich so unterhakt, wie es bei diesem Projekt gemacht worden ist. ({4}) Leider kommen auch immer wieder falsche Signale. Dies gilt zum Beispiel für die Sorge, ob der Aufbau Ost den Sparzwängen zum Opfer fällt. Alle wissen um die Notwendigkeit der Konsolidierung. Die Vorschläge des Vermittlungsausschusses zum Subventionsabbau wurden von allen getragen. Nun erleben wir eine Debatte, in der ein Widerspruch zwischen Subventionsabbau und dem Aufbau Ost im Hinblick auf eventuelle Kürzungen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe auftaucht. Die GA „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ - das muss hier in aller Klarheit gesagt werden - ist eines der erfolgreichsten Förderinstrumente. ({5}) Die GA mobilisiert ganz gezielt wettbewerbsfähige Investitionen. Sie schafft Arbeitsplätze. Sie erhält Arbeitsplätze. Sie entwickelt wirtschaftliche Stärken. Sie hilft Ostdeutschland und damit ganz Deutschland. Sie ist als ein Förderinstrument unverzichtbar. Deshalb ist es richtig, dass alle Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder die Fortsetzung der GA fordern. ({6}) Fortsetzen heißt, nicht scheibchenweise in die Bedeutungslosigkeit kürzen, sondern sichern und verstetigen, solange ein dringender Bedarf besteht. Ich unterstütze diese Forderung ausdrücklich. Alle Menschen in Ostdeutschland erwarten dies. Die GA muss als wesentliches Element der Investitionsförderung in Ostdeutschland erhalten bleiben. Dieses Signal brauchen wir jetzt. Dazu ist mit der heutigen Beschlussfassung eine Chance gegeben. ({7}) Die Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern darf nicht stillstehen. Wir brauchen Planungssicherheit, damit kein weiterer Schaden entsteht. Deshalb begrüße ich den Antrag der Koalitionsfraktionen, die das klar fordern. Unsere Zukunft dürfen wir nicht durch Einsparungen an der falschen Stelle gefährden. Die eingeplanten Mittel müssen vollständig freigegeben werden. Meine Damen und Herren, natürlich geht es dem Wirtschaftsminister nicht besser als dem Verkehrsminister. Der Haushalt 2005 ist noch nicht beschlossen. Die nötigen Mittel sind noch nicht freigegeben. Wir können noch nicht ausgeben, was wir noch nicht haben. Ich gehe jedoch davon aus, dass mit der Aufstellung des Haushaltes für 2005 die Handlungsfähigkeit im Hinblick auf die GA wiederhergestellt werden kann. Das ist unverzichtbar. Das ist auch eine Bitte an alle, die hier mitdenken und mithelfen. ({8}) Es bleibt dabei: Der Solidarpakt II gilt. Niemand stellt ihn infrage. Bis Ende 2019 stehen für den Aufbau Ost weitere 156 Milliarden Euro bereit. Darüber hinaus haben wir die europäische Strukturhilfe zur Verfügung. Länder und Bund sollten sich aber bald darauf verständigen, wie den auf europäischer Ebene drohenden Ausfällen begegnet werden kann. ({9}) Wir werden vonseiten der Regierung alles versuchen, um eine moderate Umstellung der europäischen Strukturhilfe zu erreichen. Zumindest muss aber ein nationaler Ausgleich vorgesehen werden, und zwar gesichert durch europäisches Beihilferecht. ({10}) Auf keinen Fall aber darf durch die Osterweiterung der Europäischen Union ein folgenschwerer Rückschlag für den Aufbau Ost entstehen. Ähnliches gilt übrigens auch für andere benachteiligte Regionen in Deutschland, die ebenfalls auf Strukturhilfen aus Brüssel angewiesen sind. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, zusammen mit den Ländern den wirksamsten Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel zu vereinbaren. Jetzt, zur Halbzeit des Aufbaus Ost, wenige Monate vor dem In-Kraft-Treten des Solidarpaktes II, ist der richtige Zeitpunkt, die künftigen Schwerpunkte zu bestimmen. Bundesminister Clement und ich haben Praktiker der Wirtschaft und wissenschaftliche Analytiker eingeladen, um ihre Vorstellungen zum Aufbau Ost zu hören. Ergebnisse sind zum Sommer zu erwarten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005306

Lieber erst hinterher, da die Uhr weiterrennt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Uhr rennt natürlich nur dann weiter, wenn wir sie nicht stoppen, was wir bei Zwischenfragen aber immer tun.

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005306

Noch wird heftig gestritten, aber Schwerpunkte zeichnen sich schon ab. Die Beschleunigung der Reindustrialisierung ist zwingend. Finanzierungswege für die Neugründung und Bestandssicherung mittelständischer Unternehmen müssen schneller gegangen werden können. Die deutliche Verstärkung von Wissenschaft und Forschung als Wirkungskräfte der Wirtschaft ist ein entscheidender Hebel für den Aufbau Ost. ({0}) Schnelle Deregulierungen müssen als wirksame Erleichterungen für wirtschaftliches Wachstum geschaffen werden. Ich hoffe auf überzeugende Ergebnisse. Meine Damen und Herren, wir müssen aber nicht abwarten, bis die Stellungnahmen vorliegen. Wir haben eine ganze Reihe von Instrumenten, von denen ich nur zwei nennen möchte. So können zum Beispiel strukturschwache Regionen bei der Entfaltung ihrer spezifischen Potenziale gezielt unterstützt werden. In sechs ostdeutschen und zwölf westdeutschen Regionen läuft das Projekt „Regionen aktiv“. Konzepte zur Entwicklung eines Gesamtraums werden durch EU-, Bundesund Länderförderung gestärkt. Es gibt nach meiner Überzeugung in Deutschland keine verlorene Region. Gemeinsam mit den Akteuren vor Ort müssen wir die jeweiligen Stärken stärken. Stärken zu stärken - darum geht es auch bei dem zweiten Beispiel, das ich Ihnen nennen möchte, dem Angebot der Bundesministerien für Wirtschaft, Wissenschaft, Landwirtschaft, Verkehr und Bau an die Länder. Wachstumskerne könnten durch den gebündelten Einsatz von Fördermitteln schneller vorangebracht werden. Wir haben die Verhandlungen mit den Ländern darüber aufgenommen, wie einzelne Förderprogramme auf der Basis der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel effizienter der strategischen Entwicklung von Wachstumskernen und Wachstumsbranchen dienen können. Hier kann die Bundesförderung am effektivsten helfen, aber der Bund - das soll hier ausdrücklich betont sein - wird keine einseitigen Festlegungen treffen. Die Entscheidungen liegen bei den Ländern. Es sind die gemeinsam erarbeiteten Konzepte, die Ostdeutschland voranbringen können: gründlich geprüfte Konzepte, langfristig angelegte Konzepte mit dem Ziel, Arbeit zu schaffen, Mut zu machen und Menschen eine Perspektive zu geben. Die Leute schauen auf uns, auch heute. Kommen nur Zank, Streit oder gar Injurien zur Sprache oder - das wird von uns erwartet - wird ein gesamtgesellschaftlicher Konsens deutlich, dem Osten auf die eigenen Beine zu helfen? Letzteres ist erforderlich und wird erwartet. ({1}) Mit Verlaub: Der Aufbau Ost ist mehr als eine Olympiabewerbung. Je schneller und überzeugender der Aufbau Ost jedoch kommt, umso eher kann Deutschland seine volle Kraft entfalten. Alle gemeinsam können es schaffen: Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaft, Wissenschaft und vor allem die Menschen in Deutschland, im Osten mit ihrem Mut und im Westen mit ihrer Solidarität. Dann wird es gelingen und das muss nicht erst zum Silvesterabend 2019 sein. Ich danke Ihnen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kretschmer das Wort.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, verzeihen Sie mir, dass ich Sie beim Vorlesen Ihres Manuskripts gestört habe. ({0}) Natürlich können wir auch am Ende fragen. Es geht ganz konkret um die europäische Strukturpolitik. Wir haben in diesem Plenum bisher nicht gehört, dass die Bundesregierung, die SPD und die Grünen bereit wären, das Geld, das bisher in die neuen Bundesländer und die strukturschwachen Regionen fließt, zu ersetzen. Deswegen frage ich Sie: War das Ihre Privatmeinung, die Sie uns hier vorgetragen haben, oder wann hat das Bundeskabinett darüber diskutiert, dass es auf jeden Fall dazu kommen muss, dass die neuen Bundesländer, wenn der Aufbau Ost nicht scheitern bzw. abrupt abgebrochen werden soll, dieses Geld bekommen? Herr Bundesminister, wir fragen uns bei Ihren Ankündigungen immer wieder, ob man sich darauf verlassen kann. Ich möchte als ein Beispiel, weil es in Ihrem Haus ressortiert, das Osteuropazentrum für Wirtschaft und Kultur nennen, wo wir, die Union, Ihnen die Hand gereicht und gesagt haben: Wenn das Konzept stimmt, machen wir mit. Seit über einem Jahr warten die Länder und diejenigen, die die Konzepte geschrieben haben, auf eine Antwort, auf eine Entscheidung. Sie kommen nicht voran. Deswegen stelle ich die für die Strukturpolitik wichtige Frage: Wie verlässlich war Ihre Aussage hier und heute? ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Beantwortung, Herr Minister.

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005306

Herr Kretschmer, Sie wissen ganz genau, dass wir uns diesbezüglich noch in einem Klärungsprozess befinden. Nicht umsonst haben sich die Ministerpräsidenten mit Herrn Monti getroffen und die Frage diskutiert. Dieser Prozess wird vermutlich noch ein paar Monate dauern. Ich habe meine Position hier klar geäußert. Ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung sie deckt. Vorsorglich biete ich Ihnen an, das im Protokoll nachzulesen. Ich bitte Sie aber auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit Zittau Wort gehalten haben. Hier können Sie sich eigentlich nicht beklagen. Wir machen auch bezüglich Leipzig weiter und werden alle angekündigten Maßnahmen durchziehen. Das können Sie jederzeit nachprüfen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So ist es: Die Arbeit kommt, wenn Sie nicht mehr regieren, Herr Küster. ({0}) Herr Präsident! Wir haben die Rede von Bundesminister Stolpe hier vernommen. Herr Bundesminister, ich kann nur sagen: ({1}) Man kann die Ankündigungspolitik der Bundesregierung einfach nicht mehr ertragen. Mit moralischen Appellen und Psychologie sind die Menschen in Ostdeutschland zu Recht nicht mehr zufrieden zu stellen. ({2}) Es war der Bundeskanzler selbst, der mit Regierungsantritt 1998 den Ostdeutschen versprochen hat, der Aufbau Ost werde bei ihm Chefsache. ({3}) Sie haben sich 2002 über das Hochwasser gerettet, aber die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Firmenpleiten in Ostdeutschland sind gestiegen. Das ist die Wahrheit. Sie haben die Menschen in den neuen Ländern verunsichert. Sie haben nicht Zuversicht vermittelt und auch keine neuen Chancen aufgezeigt. Bis heute, Herr Bundesminister Stolpe, fehlt ein Gesamtkonzept für eine wirtschaftliche Strategie in den neuen Bundesländern. Die ist nicht erkennbar. Deswegen meinen wir: Handeln Sie endlich! ({4}) Noch schlimmer, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist, dass Sie Ihrem eigenen Aufbau-Ost-Minister selbst nicht viel zutrauen. Im April dieses Jahres habe ich von Herrn Stephan Hilsberg in der „Financial Times Deutschland“ gelesen: Stolpes Leistungsbilanz als Ministerpräsident lässt nicht erkennen, dass er die Kompetenz für den Aufbau Ost hat. Klaus von Dohnanyi wirft Herrn Stolpe fehlende Konzeption und Durchsetzungsfähigkeit vor. Das stärkt doch bezüglich des Aufbaus Ost nicht das Vertrauen der Menschen im Osten Deutschlands in diese Bundesregierung. Das verunsichert die Menschen. ({5}) Sie, Herr Stolpe, machen den Menschen auch keinen Mut, wenn ich lese, dass Sie erklären, ({6}) der Traum von einer schnellen Angleichung von Ost und West müsse beerdigt werden. Dazu kann ich nur sagen: Die Menschen wissen, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland nicht von heute auf morgen hergestellt werden kann. Sie verlangen aber von Ihnen als Bundesregierung, dass Sie handeln und endlich auch die Vorschläge, die im Übrigen aus den neuen Bundesländern gekommen sind, umsetzen. ({7}) Wissen Sie, was ich Ihnen noch mehr vorwerfe? Ich meine den Umstand, dass im Chor der Ahnungslosen auch noch die Stimmen von SPD-Ministerpräsidenten, von Herrn Steinbrück aus Nordrhein-Westfalen und von Frau Simonis, zu vernehmen sind. Ich kann zwar nicht unbedingt sagen, dass sie zu den kompetentesten Vertretern in Sachen Wirtschaftsaufschwung Ost gehören, ({8}) aber beide forderten - vielleicht darf ich Ihnen das mit einer ihrer Aussagen untersetzen -, die Messlatte für die Verteilung der Mittel solle künftig nicht die Himmelsrichtung, sondern die Bedürftigkeit sein. Sie wissen überhaupt nicht, was los ist und wie die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern ist. Seit 1998 hat die Gründungsintensität dramatisch abgenommen. Die Insolvenzquote ist mit 20,5 Prozent doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. Die Arbeitslosenquote hat seit der deutschen Einheit ihren Höchststand erreicht und beträgt fast 20 Prozent, in einigen Regionen sogar 30 Prozent. Das ist eine dramatische Situation. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen, dass SPD-Ministerpräsidenten auf dem Rücken der Ostdeutschen schon jetzt ihren Wahlkampf für die Landtagswahlen im nächsten Jahr führen. ({9}) Neuerdings bekommen sie auch tatkräftige Wahlkampfunterstützung von Ihrem sonst so mutigen Bundeswirtschaftsminister Clement. Herr Stolpe, ich habe Ihre Ausführungen mit großem Interesse verfolgt, was ich im Übrigen immer tue. Aber am 15. Mai dieses Jahres durften wir im „Tagesspiegel“ lesen - hier bitte ich auch um eine Klarstellung des Bundeswirtschaftsministeriums -, dass sich die neuen Bundesländer in den kommenden drei Jahren auf drastische Kürzungen der Fördergelder für Investitionen einstellen müssen. Allein für das Jahr 2005 will das Ministerium vorläufig nur 35 Prozent der GA-Mittel freigeben. Das bedeutet, dass es wirklich zu einem Abbruch Ost kommt, weil kommunale Straßenprojekte und private Investitionen nicht verwirklicht werden können und dadurch die Arbeitslosigkeit steigen wird. Hierzu verlange ich eine Klarstellung. Ich bzw. die FDP will wissen: In welchem Umfang werden Sie bei der GA kürzen? Oder werden Sie zuverlässig sein und die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ auch weiterhin nicht kürzen? ({10}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, die Fehlleistungen der Bundesregierung, die steigende Verschuldung und die fehlenden Reformen, sind erkennbar und gehen auch zulasten der neuen Bundesländer. Eine Steuerreform, die mittelstandsfeindlich ist, eine Gesundheitsreform, die die Lohnzusatzkosten in die Höhe treibt, eine Erhöhung der Mineral- und Ökosteuer, die die Benzinpreise in Rekordhöhe treibt, die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer und die Ausbildungsplatzsteuer, durch die immer mehr Unternehmen in die Pleite getrieben werden, das alles ist keine Politik, die den neuen Bundesländern hilft. Ich kann Sie nur zu einer Kehrtwende auffordern. ({11}) Dennoch gibt es aus den neuen Bundesländern wirklich ermutigende Signale. Dort sind Wachstumskerne bzw. Leuchttürme entstanden, die sich sehen lassen können und die auf die Initiative der Bundesländer selbst und der Menschen vor Ort zurückgeführt werden können. ({12}) So wurden in den ostdeutschen Ländern ermutigende Zeichen gesetzt: zum Beispiel durch die Halbleitertechnik in Dresden, durch die Polymer-Chemie im Dreieck Bitterfeld-Halle-Leuna und durch den Biotechnologiestandort in Mitteldeutschland, der in ganz Deutschland Spitze ist. ({13}) - Herr Stiegler, Sachsen-Anhalt und Sachsen haben im letzten Jahr Bundesratsinitiativen eingebracht, in denen sie Modellregionen für die neuen Länder fordern. Das tun sie zu Recht; denn sie wollen die Aussetzung von Bundesrecht. ({14}) Wir sind gemeinsam mit den Ostdeutschen der Auffassung: Dadurch, dass die Bürokratie und die Verwaltungsstrukturen 1990 eins zu eins auf die neuen Länder übertragen worden sind, wurden Investitionen und damit auch Arbeitsplätze verhindert. Deswegen wollen wir neue Wege gehen. Wir wollen zum Beispiel eine Lockerung des Kündigungsschutzrechtes und flexiblere Ausbildungsvergütungen, ({15}) damit die jungen Menschen nicht abwandern müssen, sondern in ihrer Heimat einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz finden. ({16}) Klaus von Dohnanyi fordert mit seiner Kommission - Sie selbst haben ihn beauftragt -, dass im Osten ein pragmatisch angepasster Flächentarifvertrag mit breiten Öffnungsklauseln zugelassen werden soll. Recht hat er! Handeln Sie endlich, machen Sie es doch! ({17}) Wir Liberale wollen, dass der Osten zum Reformmotor in Deutschland wird. Die Ostdeutschen zeichnen sich durch eine hohe Bereitschaft aus, neue Wege auszuprobieren und Leistungseinschnitte hinzunehmen, wenn dadurch der Arbeitsplatz erhalten bleibt. Sozial ist, was Arbeit schafft; das ist für die Menschen dort wichtig und für uns auch. ({18}) Wir brauchen einen differenzierten Blick auf die Regionen in Ostdeutschland: nicht die Gießkanne, sondern den Trichter für Förderprogramme. ({19}) Die Zeit ist überfällig für ein Gesamtkonzept und ich ermahne die Bundesregierung noch einmal, eine solche wirtschaftspolitische Strategie vorzulegen. Wir schlagen vor: Erstens. Wir brauchen die Konzentration der Förderung auf gewerbliche Investitionen, insbesondere aber auf die wirtschaftsnahe Forschung und Entwicklung. ({20}) Der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung liegt im Osten bei 16 Prozent, im Westen bei rund 23 Prozent. Der Anteil wertschöpfungsstarker Betriebe ist einfach zu gering. Der Anteil Ostdeutschlands an den gesamtdeutschen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung beträgt lediglich 6 Prozent. Deswegen brauchen wir - zweitens die Konzentration auf Forschungsförderung. Wir schlagen vor, Leistungen für Forschung und Entwicklung im Rahmen der Investitionsförderung stärker zu berücksichtigen und sich auf Wachstumskerne zu konzentrieren. ({21}) Wir wollen die Vernetzung von Wissenschaft, von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, und Unternehmen, damit durch innovative Technologien vermehrt neue Produkte auf den Markt kommen und ostdeutsche Unternehmen exportfähig werden. ({22}) Die Exportquote liegt im Osten bei 25 Prozent, im Westen dagegen bei 38 Prozent. Da muss ein Aufholprozess in Gang kommen. Drittens. Wir brauchen Risikokapital aus einem revolvierenden Fonds für mittelständische Unternehmen, ähnlich dem ERP-Programm, dem Marshall-Plan. Wir wollen eine bessere Liquidität mittelständischer Unternehmen. Deswegen haben wir vorgeschlagen, bis zu einem Umsatz von 2,5 Millionen Euro die Umsatzbesteuerung von der Soll- auf die Ist-Besteuerung umzustellen. ({23}) Das würde dazu beitragen, dass die Liquidität von Unternehmen gestärkt wird und Arbeitsplätze gesichert werden. Wir wollen - viertens - eine Regelung für die grenznahen Regionen in Ostdeutschland ähnlich dem bis 1994 in Kraft gewesenen Zonenrandförderungsgesetz. Wir wollen - fünftens - eine Prioritätensetzung bei der Infrastruktur. Herr Minister Stolpe, das ist Ihr Verantwortungsbereich. Es ist doch einfach nicht mehr hinnehmbar, ({24}) dass wir nach 14 Jahren noch immer nur Brücken und Tunnel in der Landschaft stehen sehen, wo der ICE von Nürnberg über Erfurt, Leipzig/Halle nach Berlin fahren soll. Diese Strecke muss endlich ausgebaut werden. ({25}) Das ist nur ein konkretes Beispiel. ({26}) - Herr Matschie, machen Sie konkrete Vorschläge; Sie haben hier im Bundestag die Möglichkeit dazu. Schreien hilft nicht, hören Sie mir lieber zu - vielleicht lernen Sie dadurch ja. Mein Kollege aus Sachsen erzählt mir von Demonstrationen, Streiks an der Grenze zu Osteuropa, Staus. Das Verkehrsaufkommen ist gewaltig gewachsen. Wir wollen, dass die Bundesregierung im Rahmen der EUOsterweiterung dafür sorgt, dass die Fördermittel aus dem Strukturfonds vordringlich zum Ausbau der grenzüberschreitenden Verkehrsnetze im Osten Deutschlands eingesetzt werden. ({27})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, falls das nicht Ihr Schlusssatz gewesen sein sollte - wofür er sich vorzüglich geeignet hätte -, muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit bereits zu Ende ist. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich finde es bedauerlich, dass hier im Hohen Hause, im Deutschen Bundestag, so wenig Gelegenheit besteht, über die Probleme der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer zu sprechen. ({0}) Machen Sie die neuen Länder doch endlich zur Speerspitze des Wandels, lassen Sie die Menschen unter Beweis stellen, was sie auf dem Kasten haben; dann würden wir alle gewinnen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben im Oktober letzten Jahres in diesem Hause über den Stand der deutschen Einheit debattiert. Damals habe ich gesagt - dazu stehe ich auch heute noch -, dass die Einheit in den Köpfen weit gediehen ist, sehr viel weiter, als es mancher Schwarzmaler noch immer beschwört. Aber ohne eine Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse wird unsere Einheit nur unvollständig bleiben. Die Lösung dieser Aufgabe ist von großer Bedeutung für ganz Deutschland, denn nur durch eine sich selbst tragende nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland können wir Spielräume für weitere dringend notwendige Investitionen in die Zukunft unseres Landes schaffen. Wir haben in den letzten Wochen eine zum Teil unselige öffentliche Debatte über Transferleistungen zwischen West und Ost führen müssen. Ausgehend von einem Artikel mit der reißerischen Überschrift „1 250 Milliarden Euro - Wofür?“ entstand eine Diskussion darüber, ob Ostdeutschland ein Fass ohne Boden sei und ob es sich überhaupt lohne, weiterhin in die neuen Bundesländer zu investieren. Trauriger Höhepunkt war aus meiner Sicht die Behauptung, der Aufbau Ost sei ursächlich für den Absturz West. Umso bedenklicher war sie, da sie von Klaus von Dohnanyi stammte, der mit seinem Praktikerkreis Vorschläge für die weitere Entwicklung in den neuen Bundesländern machen sollte. Diese Aussage war und ist so falsch wie töricht. Herr Dohnanyi hätte als ehemaliger Hamburger Bürgermeister wissen müssen, dass die Probleme des Westens ihren Ursprung in der Zeit lange vor der Wiedervereinigung haben und durch die Euphorie der frühen 90er-Jahre lediglich übertüncht wurden. ({0}) Heute müssen wir für die Folgen einstehen. Dies aber Ostdeutschland bzw. den Ostdeutschen vorzuwerfen ist sachlich falsch und moralisch nicht zu rechtfertigen. ({1}) Eine hervorragende und ernst zu nehmende Analyse der Situation stellen dagegen der erste und zweite Fortschrittsbericht wirtschaftswissenschaftlicher Institute über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland dar. Letztmalig im November 2003 haben die beteiligten Institute eine nüchterne und kritische Bestandsaufnahme der vergangenen Jahre vorgenommen. Die Analysen und Lösungsansätze sind dergestalt, wie ich sie mir für meine tägliche Arbeit als Politiker wünsche, und ich kann sie auch ernst nehmen. Die Arbeitsgruppe Ost der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich in einen intensiven Dialog mit den Autoren begeben. In einem Positionspapier unserer Fraktion hat sie bereits am 30. März Vorschläge vorgelegt, wie wir die künftige wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands gestalten wollen: Förderungen nach dem Gießkannenprinzip sind weder sinnvoll noch vor dem Hintergrund der Haushaltsprobleme von Bund, Ländern und Kommunen dauerhaft leistbar. Um den unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen der Regionen Rechnung zu tragen, sehen wir daher zwei Hauptaufgaben: einerseits die Stärkung der vorhandenen Wachstumsregionen und andererseits die Stabilisierung der anhaltend wirtschaftsschwachen Städte und ländlichen Regionen. Bündnis 90/Die Grünen plädierten bereits in der letzten Legislaturperiode für eine effizientere Förderung, die an den Stärken und Perspektiven der einzelnen Regionen ansetzt. Von wirtschaftlich erstarkenden Regionen strahlen Effekte auf angrenzende strukturschwache Gebiete aus, die dort Entwicklungspotenziale stärken. Wir wollen Zukunftstechnologien besonders in den Regionen fördern, in denen bereits Kerne neuer Industrien vorhanden sind. So schaffen wir am ehesten die Voraussetzungen, dass einzelne Regionen langfristig unabhängig von Transfers werden und eigenständige Entwicklungswege verfolgen. In den Kommunen, Landkreisen und Ländern muss sich die Einsicht durchsetzen, dass eine erfolgreiche Entwicklung nur gemeinsam und nicht gegeneinander erreicht werden kann. Dies bedeutet den Abschied von der Kirchturmpolitik der vergangenen Jahre, die zum Teil zu erheblichen Fehlallokationen zum Beispiel bei der Erschließung und der Vorhaltung von Gewerbe- und Industriegebieten, aber auch in der Wirtschaftsförderung geführt hat. Daher muss sich die Vergabe von Fördermitteln auch künftig an überregionalen und länderübergreifenden Wirtschaftsstrukturen orientieren. Das zentrale Instrument der Wirtschaftsförderung sowie der Förderung der wirtschaftsnahen Infrastruktur in den neuen Ländern ist die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die GA. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Förderung überregionaler Wirtschaftskreisläufe. Die GA ist ein effizientes, arbeitsplatzerhaltendes und arbeitsplatzschaffendes Mittel mit einer sehr hohen Zielgenauigkeit. Wir wollen, dass GA-Mittel stärker in Zukunftsbranchen sowie in Dienstleistungsbereiche fließen. Die von Wirtschaftsminister Clement angestoßene Debatte über die Kürzung der GA-Mittel war in diesem Zusammenhang nicht hilfreich. Aus diesem Grunde habe ich mich in der Öffentlichkeit ungewöhnlich scharf zu diesem Thema geäußert. Ich mache auch an dieser Stelle deutlich: Mit uns wird eine weitere Kürzung nicht zu machen sein. ({2}) Im Zuge der Föderalismusdebatte wird die GA aber von Teilen der Kommissionsmitglieder infrage gestellt, übrigens auch von Ministerpräsident Stoiber. Dem wollen wir entgegenwirken, auch im Hinblick auf die Veränderungen in der EU-Strukturpolitik, die aus der EU-Erweiterung resultieren. Wir wollen die Finanzausstattung der GA in den neuen Ländern im Rahmen der Vorgaben aus dem Solidarpakt II verstärken. Statt die bis 2006 befristete Investitionszulage zu verlängern, schlagen wir vor, die GA zu stärken, da wir sie für die bessere Maßnahme halten. Die Investitionszulage in ihrer jetzigen Form bewirkt zu hohe Mitnahmeeffekte bei den Unternehmen und ist unserer Meinung nach nicht zielgenau. Neue und sichere Arbeitsplätze entstehen vor allem in zukunftsträchtigen Wirtschafts- und Dienstleistungsbranchen. Die Hochschulen in den neuen Ländern müssen noch stärker als bisher auf die Zusammenarbeit mit der regionalen Wirtschaft setzen. Sie können zum Schließen der Unternehmenslücke im Osten beitragen, indem sich wirtschafts- und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge noch konsequenter an der Praxis orientiePeter Hettlich ren und indem sie junge Menschen gezielt auf ein selbstständiges Unternehmertum vorbereiten. Ich möchte an dieser Stelle die deutschen Banken ausdrücklich an ihre Mitverantwortung erinnern und darauf hinweisen, dass ihre restriktive Kreditvergabe vielen Unternehmensgründern den Start unnötig schwer bzw. unmöglich macht. ({3}) Damit werden die positiven Entwicklungen, die wir durch die Gründung der Mittelstandsbank im letzten Jahr angestoßen haben, konterkariert. Auch die Fragen der Besicherung und der nach Auskunft Betroffener viel zu langen Bearbeitungsfristen müssen beantwortet werden. Ich bin der Meinung: Wenn sich hier nicht bald eine Entwicklung zum Besseren zeigt, dann müssen wir auf politischer Ebene entsprechend handeln. Die regionale Vernetzung von Forschung, Hochschulen und Wirtschaft muss weiter vorangetrieben werden. Die wettbewerbliche Vergabe von Forschungsmitteln an Regionen, in denen Wissenschaft und Wirtschaft im Rahmen innovativer Netzwerke kooperieren, hat sich als ein sehr wirksames Instrument erwiesen. So entwickeln sich Kerne, die eine regionale Dynamik entfalten und in denen zusätzliche Arbeitsplätze im Industrie- und Dienstleistungsbereich entstehen. Der 1999 initiierte Inno-Regio-Wettbewerb ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Innovationsförderung in den neuen Ländern und muss daher erhalten, wenn nicht sogar gestärkt werden. ({4}) Die Förderung der technologischen Leistungsfähigkeit ostdeutscher Unternehmen hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik entwickelt. Mit diesen Anreizen ist es gelungen, den Größennachteil ostdeutscher Unternehmen auszugleichen. In der Forschungsintensität stehen ostdeutsche Firmen den westdeutschen Unternehmen kaum nach. Allerdings mangelt es an der Umsetzung der Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte. Auch hier möchte ich noch einmal auf die zu lösenden Probleme in der Finanzierung derartiger Investitionen verweisen. In den vergangenen Jahren ist viel Geld in den Ausbau der technischen Infrastruktur Ostdeutschlands geflossen. Der Anschlussgrad für die Abwasserentsorgung hat das Niveau der alten Bundesländer erreicht und die Telekommunikationsstruktur ist auf dem modernsten Stand der Technik. Auch zukünftig wird der Aus- und Neubau von Verkehrswegen in den neuen Bundesländern überproportional finanziert. Studien belegen allerdings auch, dass der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur allein nicht zu dem erhofften Entstehen neuer Arbeitsplätze führt. ({5}) Eine gute verkehrliche Anbindung von Regionen ist eine Voraussetzung für die Ansiedlung von Unternehmen, sie ist aber nur ein Standortfaktor unter vielen. So genannte weiche Standortfaktoren sind mit dafür ausschlaggebend, ob investiert wird. Sie werden gerade für die Unternehmen immer bedeutender, die hoch qualifizierte und motivierte Mitarbeiter benötigen. Investitionen in die soziale Infrastruktur, in Bildung und Wissenschaft, in Kinderbetreuung und Schulen, in Sport- und Jugendeinrichtungen, in kulturelle Angebote und in die innerstädtische Lebensqualität sind mit entscheidend für die Ansiedlung neuer Betriebe. Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch ein Thema streifen, das in letzter Zeit ebenfalls das öffentliche Interesse erregt hat, nämlich die Fehlverwendung der Solidarpaktmittel. Mir ist zwar bewusst, dass sich die Länder in einer schwierigen Situation befinden, die sie zum Teil - ich denke zum Beispiel an die Leistungen nach den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR - nicht zu verantworten haben. Dennoch macht es keinen Sinn, einfach die Vorgaben zu ignorieren und diese Mittel wie in Berlin zu 0 Prozent oder in Sachsen-Anhalt zu nur 1 Prozent zweckgerichtet zu verwenden. Es würde dadurch zu einer gesamtdeutschen Diskussion kommen, die die Solidarität der alten Bundesländer erheblich strapazieren könnte. Ich habe es schon bei vielen Gelegenheiten gesagt: Bündnis 90/Die Grünen stehen zum Solidarpakt II und auch zur Höhe der vereinbarten Solidarpaktmittel. Wir erwarten aber, dass die ostdeutschen Länder und ihre Ministerpräsidenten ihre Hausaufgaben machen und energische Maßnahmen ergreifen, um künftige Fehlverwendungen zu minimieren oder besser ganz zu vermeiden. ({6}) Aus meiner Sicht und auch aus der Sicht der Praxis wäre eigentlich Folgendes notwendig: Wir müssen die Verwendung der Solidarpaktmittel längerfristig planen, das Parlament muss wirksame Kontrollmechanismen erhalten und wir müssen uns auch darüber unterhalten, ob Sanktionen notwendig sind. Hier stehen wir zwar vor verfassungsrechtlichen Problemen, aber wir sollten das diskutieren; denn es besteht dringender Handlungsbedarf. In den vergangenen 14 Jahren ist in Ostdeutschland viel Positives geschaffen worden, sowohl durch den Fleiß und die Kreativität der Ostdeutschen als auch durch die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger aus den alten Bundesländern. Diese Solidarität ist für uns aber auch die Verpflichtung, Rechenschaft über unser Tun abzulegen und uns auch künftig einem kritischen Dialog zu stellen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Professor Milbradt. ({0}) Dr. Georg Milbradt, Ministerpräsident ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viel Gutes ist gesagt worden. Wenn all das umgesetzt würde, wäre ein Teil meiner heutigen Intervention schon erledigt. ({2}) Aber die bisherige Erfahrung ist, dass zwischen Reden und Handeln ein großer Unterschied besteht. ({3}) Herr Kollege Stolpe, ich hoffe nur, dass das, was Sie gesagt haben, mit den Herren Clement und Eichel abgestimmt ist; denn sie haben etwas anderes verkündet. ({4}) Am Montag vergangener Woche war der Bundeskanzler zum Richtfest der neuen Chipfabrik von AMD in Dresden. Mit einer Investitionssumme von 2,4 Milliarden Euro errichtet das amerikanische Unternehmen in Dresden bereits sein zweites Halbleiterwerk. Insgesamt arbeiten in der Region Dresden 11 000 Menschen in der Mikroelektronikindustrie. Damit ist Dresden innerhalb weniger Jahre zu den Top Fünf der internationalen Mikrochipindustrie aufgestiegen, ({5}) Nummer eins in Europa. Das ist ein Beispiel, wie man beim Aufbau Ost Erfolge erzielen kann. ({6}) - Vorsichtig! Ich bin für die Unterstützung der Bundesregierung in diesen und vielen anderen Fällen ausdrücklich dankbar. ({7}) Es gibt auch viele andere Erfolgsgeschichten beim Aufbau Ost, zum Beispiel die Autoindustrie mit VW, BMW und Porsche in Sachsen, die optische Industrie in Jena, die chemische Industrie in Sachsen-Anhalt und Brandenburg oder auch die Entwicklung des Tourismus in vielen Regionen in Mecklenburg-Vorpommern. All diese Erfolge wären ohne ein wichtiges Instrument der Wirtschaftsförderung nicht möglich gewesen, die so genannte Gemeinschaftsaufgabe. ({8}) Ausgerechnet hier will der Bundeswirtschaftsminister den Rotstift ansetzen. ({9}) - Was heißt denn hier: Stimmt nicht? Uns ist untersagt worden, weitere Zusagen zu machen. ({10}) Wir haben das entsprechende Schreiben vom Bundeswirtschaftsminister im Haus. Die GA-Förderung ist bisher eindeutig das erfolgreichste Instrument beim Wiederaufbau. Auch in dem von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Fortschrittsbericht wird eine Fortführung der GA-Förderung auf hohem Niveau gefordert. In Sachsen wurden dadurch seit 1990 über 18 000 Investitionen von Unternehmen gefördert. Das heißt, seit 1990 wurden allein in Sachsen mit einem GA-Volumen von 7,7 Milliarden Euro Investitionen von über 40 Milliarden Euro angestoßen. Dadurch wurden 224 000 neue Arbeitsplätze geschaffen und noch einmal so viele gesichert. Statt auf diesen Erfolgen weiter aufzubauen, statt dieses Pflänzchen zu pflegen, riskiert die Bundesregierung, dass die Entwicklung abbricht. ({11}) Herr Kollege Stolpe, es kann doch nicht im Interesse der Bundesregierung sein, dass dies eintritt. Auch Sie wollen wie wir alle, dass der Aufbau der Wirtschaft in Ostdeutschland weitergeht. Natürlich - jetzt komme ich zu den öffentlichen Äußerungen - ist die Auszahlung der Barmittel in diesem und im nächsten Jahr gesichert. Das hat uns der Bundeskanzler in Dresden bei AMD erklärt. Dazu sind Sie aber auch verpflichtet, Herr Müntefering. ({12}) Denn dabei geht es nur um die Abfinanzierung für die in der Vergangenheit eingegangenen Verpflichtungen. Es gibt schon seit Jahren keine freien Barmittel mehr. ({13}) Diese Mittel, Herr Müntefering, um beim Thema zu bleiben, sind bereits gebunden. Für Unternehmen, die heute neu investieren, stehen diese Barmittel gar nicht mehr zur Verfügung. Zwischen uns, die wir die Haushaltsthematik kennen, ist das sicher nicht strittig. Oder muss die Einhaltung von Recht und Gesetz schon als besondere Leistung der Bundesregierung angesehen werden? ({14}) Um den Investoren für zukünftige Ansiedlungen - darüber reden wir - Fördermittel zusagen zu können, brauchen wir Verpflichtungsermächtigungen, und zwar die Verpflichtungsermächtigungen, die dieser Bundestag in den Bundeshaushalt 2004 geschrieben hat. ({15}) Genau diese sperren Sie. ({16}) Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt ({17}) Es geht nicht um den Bundeshaushalt des Jahres 2005. Es ist eine andere Diskussion, welche Verpflichtungsermächtigungen dort hineinkommen. Es geht um die Verpflichtungsermächtigung dieses Jahres für die Jahre 2005, 2006 und 2007. Darüber reden wir. Diese Mittel sind zumindest bis zur Stunde im Schnitt zu 45 Prozent gesperrt worden. Damit nehmen Sie uns den entscheidenden Handlungsspielraum, und das zu einem Zeitpunkt, in dem Investitionen in Sachsen und, wie ich vermute, auch in anderen Ländern vor der Tür stehen, wir aber auf der anderen Seite in neue Konkurrenz zu Osteuropa treten. ({18}) Sie setzen für Investoren das völlig falsche Signal. Als der Bundeskanzler in Dresden war, hat mich der Vorstandsvorsitzende von AMD gefragt: Wird denn auch unsere Investition gefördert? Bekommen wir noch unser Geld? - Das sind doch die Fragen, die an uns gerichtet werden. Für mich stellt sich die Frage: Wollen Sie, dass weitere Investitionen und Arbeitsplätze kommen, oder wollen Sie das nicht? ({19}) - Ich habe gesagt: Ja, ({20}) aber diese Mittel sind bisher vom Bund nicht freigegeben worden. Ich habe das auf meine eigene Kappe genommen, Herr Matschie, ({21}) weil ich mich bei einem solchen internationalen Publikum nicht für die Bundesregierung schämen wollte. ({22}) Das ist die Situation. ({23}) - Nein, ich habe zunächst einmal Vertrauen in die eigene Kraft. ({24}) Das Hauptproblem in Ostdeutschland ist der Mangel an industriellen Arbeitsplätzen. Deshalb ist mir die Entscheidung vollkommen unverständlich. Sie widerspricht allem, was bisher über die Parteigrenzen hinweg für den Aufbau Ost galt. Deswegen noch einmal: Wir brauchen von Ihnen, Herr Stolpe, und von der restlichen Bundesregierung das Signal, dass alle Verpflichtungsermächtigungen ab sofort freigegeben werden ({25}) und dass Sie auch im Bundeshaushalt des Jahres 2005 ähnliche Verpflichtungsermächtigungen für die Jahre 2006 bis 2008 ausbringen. ({26}) Dann kann es weitergehen. Ich kann doch nicht sagen: Der Bund zahlt im Augenblick nur ein Drittel. Der Bund weiß nicht, was er will. Da müssen wir noch einen Monat warten, bis vielleicht wieder eine Haushaltsklausur stattgefunden hat. - Das ist Gift für die Investoren. Diese Diskussion sollte man erst gar nicht anfangen. ({27}) Sachsen - das will ich deutlich sagen - ist bereit, alle zur Verfügung stehenden GA-Mittel zu finanzieren. Wir haben Investoren und wir wollen sie nicht nach Osteuropa ziehen lassen. Sollte das eine oder andere Bundesland im Osten keine Investoren haben oder nicht in der Lage sein, die GA-Mittel abzunehmen, so bin ich bereit, diese abzunehmen. ({28}) Nun zu den Koch/Steinbrück-Vorschlägen, die von der Bundesregierung als Begründung für eine eventuelle Streichung herangezogen werden. Das ist Unsinn. Richtig ist, dass sich die ostdeutschen Länder der gesamtdeutschen Solidarität nicht verschlossen haben und bereit waren, auch in ihrem Bereich Kürzungen von 4 Prozent pro Jahr zu akzeptieren. Aber 4 Prozent sind nicht 45 Prozent. ({29}) Der Bundesfinanzminister hat dem Bundeswirtschaftsminister eine Kürzungssumme aufgegeben, die auch die Steinkohle umfasst. Weil er da nicht kürzen kann, kürzt er im einzigen flexiblen Bereich und das ist die GA-Förderung. Das ist doch die Wahrheit. ({30}) - Natürlich! Sie können im Bereich der Steinkohle im Augenblick die Subventionen gar nicht kürzen, Sie können sie nur verschieben, weil die Rechtsbindung bis weit in das nächste Jahrzehnt reicht. ({31}) - Herr Benneter, ich will nicht die Mittel der Ruhrkohleförderung, aber es wäre sicherlich im Sinne des Ruhrgebietes besser, diese Gelder würden für die Ansiedlung zukunftsgerichteter Industrie verwendet statt für die Abwicklung der Vergangenheit. ({32}) Ich mache mir Sorgen um Ostdeutschland. Ich mache mir auch Sorgen um ganz Deutschland, denn ich weiß, wenn der Osten nicht vorankommt, dann leidet ganz Deutschland. Ich kann - das will ich deutlich sagen - bei der Bundesregierung und bei dem, was hier gesagt wurde, keine Strategie für den Aufbau Ost erkennen, ({33}) Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt ({34}) allenfalls das alte Lied: Fahren nach Sicht. Es geht nach dem Motto: Kommt Zeit, kommt Rat. ({35}) - Lassen Sie mich ausreden, Herr Matschie; Sie kommen doch auch gleich zu Wort - Der für die Bundesregierung wenig erfreuliche Bericht zum Stand des Aufbaus Ost vom vergangenen Herbst - er wurde schon zitiert - wurde von der Bundesregierung nur mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen. Herr Kollege Stolpe, wo bleibt die politische Antwort auf die niederschmetternde Analyse der Institute, dass im Zweifel nur eine passive Sanierung übrig bleibt? Wissen Sie, was eine passive Sanierung ist? Sie können eine Region dadurch sanieren, dass Sie den Zähler vergrößern und dass dadurch das Pro-Kopf-Einkommen steigt. Sie können dies aber auch dadurch erreichen, dass der Nenner sinkt. Das nennt sich passive Sanierung oder schlicht Abwanderung. Ist das die Antwort der Bundesregierung hinsichtlich des Aufbaus Ost? Das kann doch nicht richtig sein. Klaus von Dohnanyi, ich selbst und andere haben konkrete Vorschläge vorgelegt, die alle ein und dieselbe Forderung in unterschiedlichen Nuancen umfassen: So wie bisher kann man nicht weiter vorgehen. ({36}) Wir brauchen für den zweiten Teil des Aufbaus Ost einen neuen Anlauf und neue Regeln, aber nicht mehr Geld. ({37}) - Ich habe über das Geld geredet, das uns zugesagt worden ist. Eines werden Sie nicht hinbekommen, Herr Kollege, nämlich dass Sie bezogen auf den Aufbau Ost mit weniger Geld, das für Investitionen zur Verfügung gestellt wird, eine größere Wirkung erzielen können. ({38}) Ich werde zu einigen Punkten noch etwas ausführen. Auch die ostdeutschen Länder haben ihren Beitrag zur Kürzung von Subventionen in einem anderen Bereich geleistet. Die Investitionszulagen sind durch Beschlussfassung des Bundestags im Frühjahr um drei Viertel gekürzt worden. Ich halte das für vertretbar. Auch das ist ein Beitrag zur inneren Solidarität. Der Aufbau Ost ist überall dort gelungen, wo der Staat direkt einwirken konnte und wo die ostdeutschen Länder und Kommunen wie auch der Bund selbst Verantwortung getragen haben. Das gilt zum Beispiel für das Gesundheitswesen, die Altenpflege, Schulen, Umwelt und Altlasten. Aber bei der zentralen Aufgabe der Entwicklung einer sich selbst tragenden Wirtschaftsentwicklung im privaten Sektor kommen wir seit 1997 nicht mehr voran. ({39}) Wir haben erst 60 Prozent der Wirtschaftskraft des Westens erreicht und sind seit Beginn der rot-grünen Bundesregierung auf diesem Stand stehengeblieben. Darüber haben wir zu diskutieren. Unser gemeinsames gesamtdeutsches Ziel muss doch sein, die hohen Transferzahlungen von West nach Ost zu reduzieren. Wir sind bereit, die Förderpraxis der vergangenen Jahre kritisch zu überprüfen. Wir müssen eine Umsteuerung bei der Förderung vornehmen, damit starke industrielle Kerne und nachhaltig sichere Arbeitsplätze entstehen. Ich bin auch bereit, mich einer Diskussion über die Frage der Fehlverwendung von Mitteln zu stellen. Aber Sie wissen aus den Berichten der Bundesregierung, dass zumindest dem Freistaat Sachsen in dieser Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden kann. Ich freue mich, dass Bundesminister Stolpe mittlerweile auf unser sächsisches Modell der Förderung industrieller Wachstumspole - die so genannten Cluster - eingeschwenkt ist. Ich wiederhole: Es geht mir nicht um mehr Geld; wir möchten vielmehr das vorhandene Geld effektiver einsetzen. Angesicht sinkender Mittel brauchen wir eine abgestimmte industriepolitische Förderstrategie. Die Unternehmen, die den Kern der Wachstumspole bilden, funktionieren als starke Lokomotiven. Diese Lokomotiven ziehen eine Vielzahl von kleinen und mittelständischen Waggons nach sich, und zwar nicht nur im unmittelbaren räumlichen Umfeld, sondern weit in das Land ausgreifend, wie man es in Sachsen insbesondere bei der Automobilzulieferindustrie sieht. Deshalb brauchen wir auch ein leistungsfähiges Verkehrsnetz in den schwachen Regionen, um diese an die starken Regionen anzubinden. ({40}) Mit dem Aufbau ist es wie bei einem Rennwagen. Sie können einen Rennwagen doch nicht dadurch schneller machen, dass Sie die Motorleistung drosseln. Natürlich muss der Spritverbrauch sinken, aber darunter darf die Motorleistung nicht leiden. Gefragt sind vielmehr Feintuning, eine bessere und genauere Einspritzung, eine bessere Dynamik und möglicherweise auch ein besserer Fahrer. ({41}) Wichtig ist, dass der Bund endlich den Korb 2 des Solidarpakts II gesetzlich fixiert; denn die GA-Mittel sind Teil des Solidarpakts. ({42}) Hätten wir diese gesetzlich fixiert, wäre die von Herrn Clement angestoßene Diskussion über die Kürzung der GA-Mittel erst gar nicht möglich gewesen. Deswegen fordere ich Sie alle auf, möglichst schnell Klarheit beim Korb 2 des Solidarpaktes II bis 2019 zu schaffen. Dann Dr. Ministerpräsident Georg Milbradt ({43}) können wir uns solche Diskussionen wie die heutige ersparen. ({44}) Ein Punkt ist mir noch besonders wichtig. Wir könnten beim Aufbau Ost viel mehr erreichen, wenn wir mehr Freiheiten hätten. 1990 haben wir in Ostdeutschland ein System übernommen, durch das im Westen Jahr für Jahr viele Tausende industrielle Arbeitsplätze verschwinden. Mit diesem System West können Sie doch die fehlenden Arbeitsplätze im Osten nicht schaffen. Mit „Weiter so wie bisher“, dem Inhalt des vorliegenden Koalitionsantrages, werden wir weiter wie bisher hinterherhinken. Meine Damen und Herren Abgeordneten der Koalitionsfraktionen aus dem Osten, wollen Sie das? Ist das der Auftrag Ihrer Wähler? Wie wollen Sie denn die extrem hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland bekämpfen? Was sagen Sie denjenigen, die abwandern wollen? Sicherlich nicht das, was in Ihrem Antrag steht, den Sie heute beschließen. Sie wissen doch ganz genau, dass dieser Antrag weiße Salbe ist und dass sich mit ihm die Kernprobleme des Ostens nicht lösen lassen. ({45}) Deswegen appelliere ich an Sie: Diskutieren Sie doch mit uns, den Ländern, und meinetwegen auch mit den Oppositionsfraktionen darüber, wie wir mehr Freiheit geben können und wie wir aus den Mitteln mehr machen können. Schauen wir doch einmal über den Tellerrand unserer Nation hinaus und sehen uns an, welche anderen europäischen Länder Erfolge erzielt haben. Irland zum Beispiel hat sich in 30 Jahren durch eine gezielte Wirtschaftspolitik, durch Zukunftsinvestitionen in Bildung und Unternehmen sowie durch flexible Strukturen von einem der ärmsten zu einem der reicheren Länder der EU entwickelt. ({46}) - Doch, Herr Müntefering, genau darum geht es. Wir sollten uns an denjenigen Ländern in Europa orientieren, die Wachstum geschaffen haben, ({47}) und nicht an denjenigen Ländern, die seit Jahren so gut wie kein Wachstum mehr auf die Beine gebracht haben. ({48}) Geben Sie uns, den neuen Bundesländern, doch mehr Freiheit! Was würden Sie denn verlieren? - Gar nichts! ({49}) Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten, wenn Sie uns mehr Freiheit geben: Wir haben entweder Erfolg oder Misserfolg. Im ersten Fall werden uns andere nacheifern und im letzten Fall werden wir die politischen Folgen selbst zu tragen haben. ({50}) Geben Sie uns die Freiheit, die Wachstumsregionen in anderen EU-Ländern haben, mit denen wir konkurrieren. Wir brauchen in Deutschland mehr Mut, mehr Kreativität und eine größere Bereitschaft zum Experimentieren. Die Menschen in Ostdeutschland haben in den vergangenen Jahren Großartiges geleistet. ({51}) Sie haben bewiesen, dass sie Mut, Kreativität und Bereitschaft zum Wandel haben. Jetzt kommt es darauf an, dass der Staat ihnen die Türen öffnet und nicht ständig Steine in den Weg legt. ({52}) Danke sehr. ({53})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph Matschie, SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf die Katastrophenstimmung, die Sie, Frau Pieper und Herr Milbradt, hier verbreitet haben, ({0}) mit Sätzen antworten, die der Vorstandsvorsitzende der Jenoptik AG dem „Stern“ gesagt hat: Ostdeutschland ist besser als sein Ruf. Ich glaube, wir Deutsche neigen dazu, den Standort schlecht zu reden. Statt schnelle Urteile über den Aufbau Ost abzugeben, rate ich, abzuwarten, bis sich die gute Infrastruktur voll auswirkt. Recht hat der Mann! Das sage ich Ihnen, Frau Pieper. ({1}) Herr Milbradt, Sie haben hier über die Gemeinschaftsaufgabe gesprochen. ({2}) Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass dies unser wichtigstes Wirtschaftsförderinstrument ist. Das hat auch Herr Stolpe hier deutlich gemacht. Ich bin dezidiert der Auffassung: Wir brauchen dieses Instrument auch in den nächsten Jahren beim Aufbau Ost, und zwar in dem bisher zugesagten Umfang. ({3}) Aber die von Ihnen hier verbreitete Katastrophenstimmung verschreckt Investoren und trägt nicht zum Aufbau Ost bei, Herr Ministerpräsident. ({4}) Herr Milbradt, zum Mut, Forderungen zu stellen, gehört der Mut, über die Finanzierung der Umsetzung dieser Forderung zu reden. Auch darüber müssen wir hier diskutieren, Herr Milbradt. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Matschie, darf Ihnen die Kollegin Pieper eine Zwischenfrage stellen?

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen kleinen Moment. Ich bin mit Herrn Milbradt gleich fertig. Dann kommt Frau Pieper dran. ({0}) Herr Milbradt, jeder in diesem Haus und auch bei Ihnen weiß: Die Lage der öffentlichen Kassen ist äußerst angespannt. Das gilt für den Bund, für die Länder und für die Gemeinden. ({1}) Wenn man an einer bestimmten Stelle „Hier darf nicht gekürzt werden“ sagt - diese Forderung unterstütze ich; bei Bildung und Forschung darf ebenfalls nicht gekürzt werden -, ({2}) dann muss man sagen, woher das Geld genommen werden soll. Wir haben Vorschläge zum Subventionsabbau gemacht. ({3}) Wir haben beispielsweise vorgeschlagen, die Eigenheimzulage abzuschaffen und das eingesparte Geld an anderen Stellen sinnvoller zu investieren. ({4}) Als wir das taten, da saßen Sie auf der Bank der Blockierer. Sie haben zu diesem Subventionsabbau Nein gesagt. Angesichts dessen sollten Sie sich nicht hierhin stellen, Forderungen erheben und ungedeckte Schecks ausstellen. Auch das gehört zur Wahrheit, Herr Milbradt. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Zwischenfrage bekommt die Kollegin Pieper das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Matschie, Sie haben der Opposition vorgeworfen, den Standort neue Bundesländer schlechtzureden, obwohl wir hier ganz konkrete Vorschläge gemacht haben, wie wir den Aufbau Ost mit einer Gesamtstrategie - Modellregionen etc. - voranbringen können. Wie würden Sie die Äußerungen Ihrer Ministerpräsidenten Steinbrück, Simonis usw. bezeichnen, die den Aufbau Ost ständig schlechtreden und permanent fordern, die Förderprogramme zu kürzen und aufzuhören, die Fördermittel nach Himmelsrichtungen zu verteilen - was noch nie stattgefunden hat? ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Kollegin, ich will hier noch einmal in aller Klarheit deutlich machen: Meine Position ist, dass diese Fördermöglichkeiten nicht beschnitten werden dürfen. ({0}) Diese Position habe ich auch gegenüber SPD-Ministerpräsidenten deutlich gemacht. Sie wissen so gut wie ich, dass es in den Bundesländern unterschiedliche Interessen gibt. Die damit verbundenen Konflikte werden ausgetragen. Meine Position ist hier deutlich geworden. ({1}) Zu dieser Position stehe ich auch. Im Übrigen, Frau Pieper, sollten wir wirklich wahrnehmen, dass der Aufbau in Ostdeutschland zwei Gesichter hat. Man muss sie beide sehen. ({2}) Man muss auf der einen Seite wahrnehmen: Es gibt heute in Ostdeutschland die modernsten Fabriken und die neuesten Forschungslabore. Es gibt Städte, die wieder zum Leben erwacht sind. ({3}) Das ist eine Aufbauleistung von Millionen Menschen in Ostdeutschland, die so gewaltig ist, dass man davor wirklich Respekt haben muss. ({4}) Man darf nicht immer nur schwarz malen, wie Sie, Herr Vaatz, es hier gemacht haben. Natürlich gibt es auch eine andere Seite. Wer aufmerksam durch Ostdeutschland fährt, der sieht diese andere Seite. Neben dem gelungenen Aufbau gibt es die bedrückende, hohe Arbeitslosigkeit. ({5}) In manchen Regionen liegt sie bei über 20 Prozent. ({6}) In diesen Regionen herrscht Angst, weil die jungen Menschen weggehen und weil die Alten allein zurückbleiben. Natürlich gibt es das alles. Es gibt Regionen, in denen die Hoffnung langsam stirbt. ({7}) Aber, Herr Kollege Vaatz, wir müssen doch die Frage stellen: Wie kommen wir an dieser Stelle weiter? ({8}) Wir dürfen nicht nur das Problem beschreiben. Deshalb haben wir auch heute konkrete Vorschläge dazu auf den Tisch gelegt. ({9}) Ostdeutschland war und ist auf Unterstützung angewiesen. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Meine Erfahrung in den letzten Jahren war - ich teile sie mit vielen Kolleginnen und Kollegen, auch aus den alten Bundesländern -, dass eine großartige solidarische Leistung vollbracht worden ist, und zwar von den Ostdeutschen, die den Mut gehabt haben, anzupacken, und von den Westdeutschen, die mitgeholfen haben, dass diese Solidarität finanziert werden kann. ({10}) Natürlich ist auch klar: Die Ungeduld wächst. Sie wächst im Osten, weil es nicht schnell genug vorangeht. Sie wächst auch im Westen, weil da gefragt wird: Was ist in den letzten Jahren passiert? Warum ist es nicht so schnell vorangegangen, wie wir alle uns das erhofft haben? Deshalb müssen wir heute auch darüber diskutieren: Wie setzen wir die Mittel, die wir zur Verfügung haben, möglichst effizient ein? Was machen wir aus den Möglichkeiten, die wir hier haben? Natürlich gehört dazu, auch den Mut zu haben, zu sagen: Wir müssen Mittel stärker auf Wachstumskerne und auf möglichst Erfolg versprechende Entwicklungen konzentrieren. Sie haben einige davon beschrieben, die übrigens in erheblichem Umfang mit Bundesgeld gefördert worden sind. Diese Entwicklung soll auch weitergehen. Wenn junge Leute mobil sind - sie sind es nun einmal -, suchen sie ihre besten Chancen. Wir aber wollen doch, dass sie nicht aus Ostdeutschland nach München, nach Stuttgart oder nach Düsseldorf gehen, sondern dass sie in Dresden, in Leipzig oder in Jena bleiben, weil sie dort die besten Möglichkeiten für sich sehen. Also müssen wir Wachstumskerne fördern. ({11}) Ich bin Manfred Stolpe für seine Initiative dankbar, der das Gespräch mit den Bundesländern aufgenommen hat, um zu klären, wie man die Möglichkeiten, die Bund und Länder haben, besser miteinander koordiniert, wie man Kräfte bündelt und auf solche Erfolg versprechenden Entwicklungen konzentriert. Natürlich kommt es vor allem darauf an, Innovationskraft zu stärken. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat in den letzten Jahren die Mittel für die Innovationsförderung in den neuen Bundesländern quasi verdoppelt - daran hat Edelgard Bulmahn einen ganz großen Anteil -; hier ist eine gigantische Leistung vollbracht worden. ({12}) Jeder, der durchs Land fährt, erkennt: Das Geld ist gut angelegt. Das kann man überall sehen. Vor wenigen Tagen haben wir in Ilmenau ein neues Fraunhofer-Institut auf den Weg gebracht. Ich bin gestern in Hermsdorf gewesen und habe mir angeschaut, welche Früchte die Wachstumskerneförderung dort getragen hat. Man kann das mit Händen greifen. Es wirkt. Das ist auch die Stärke, die wir in den nächsten Jahren gewinnen müssen. Wir müssen Innovations- und Wachstumskräfte stärken. Was sich in Ihrem Antrag wiederfindet - Löhne weiter runter, Niedriglohnsektor ausweiten -, das ist nicht der Weg in Ostdeutschland. ({13}) Schauen Sie sich doch mal um! Schon heute gibt es in vielen Bereichen in Ostdeutschland Löhne, von denen ich sage, dass sie unterhalb der Schamgrenze sind. In Erfurt beispielsweise gehen Menschen mit einem Bruttostundenlohn von 3,30 Euro nach Hause. Von diesem Lohn kann man nicht leben; man muss zusätzliche staatliche Hilfe beantragen. ({14}) Deshalb sage ich Ihnen als Abgeordneter aus Ostdeutschland: Wir brauchen nicht über Niedriglöhne und die Ausweitung des Niedriglohnsektors zu reden. Wir brauchen eine Debatte über einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen Mindeststandards in Ostdeutschland, damit Menschen mit ihrer eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen können. Die Debatte über Mindestlöhne ist die Debatte, die wir heute führen müssen. ({15}) - Nein, das ist kein Quatsch, Frau Pieper. ({16}) Neun Länder in der Europäischen Union haben solche Mindestlohnregelungen eingeführt, weil sie erkannt haben: Wir brauchen eine untere Grenze für die Lohnentwicklung, damit Menschen am Ende auch von ihrer Hände Arbeit leben können und nicht auf zusätzliche staatliche Hilfe angewiesen sind. Für mich ist es auch eine Frage der Würde des Menschen, ({17}) ob man einen angemessenen Lohn für seiner Hände Arbeit bekommt. ({18}) Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Die Entwicklung in Ostdeutschland ist trotz aller Probleme - das ist meine feste Überzeugung - eine Erfolgsgeschichte, an der Millionen von Menschen mitgeschrieben haben. Lassen Sie uns deshalb im Deutschen Bundestag gemeinsam dafür sorgen, dass diese Erfolgsgeschichte in den nächsten Jahren fortgeschrieben werden kann und dass wir auf diesem Weg möglichst alle mitnehmen. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir zum Thema „Zukunft Ostdeutschlands“ eine Kernzeitdebatte am Donnerstagvormittag führen, erfüllt mich durchaus mit Befriedigung, ({0}) zeigt es doch, dass dieses Thema wichtig ist. Ostdeutschland hat noch immer in besonderer Weise an den Folgen der jüngsten Geschichte zu tragen. Es ist gut, dass das Parlament das ganz ernst nimmt. Die CDU/CSU bildet in ihrem Antrag „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ ein weich gezeichnetes Bild der bisherigen Erfolge des Aufbaus Ost ab. ({1}) - Ja. - Ich bin weit davon entfernt, das Erreichte kleinzureden und dem Klischee des ewig unzufriedenen Ostlers zu entsprechen, doch die Bilanz, die dieser Antrag zieht, ist geschönt: kein Wort über die Deindustrialisierung, die wir im Osten erlebt haben, kein Wort über den Wohnungsleerstand und den Verfall von Städten aufgrund drastisch sinkender Bevölkerungszahl, kein Wort über vor sich hin rottende Industrie- und Gewerbebrachen ({2}) und über fehlgeplante überdimensionierte Infrastruktur, kein Wort über gigantische Fehlinvestitionen von Fördermitteln ({3}) und darüber, dass man vor 1990 Arbeitslosigkeit nur vom Erzählen kannte. Neben den vielen Erfolgen gehört auch das zur Realität Ostdeutschlands. Es ist kein Wunder, dass die CDU/CSU das in ihrem Antrag unerwähnt lässt; denn wenn sie es erwähnen würde, müsste sie auch ihre Verantwortung für gewaltige Fehlsteuerungen und Fehlinvestitionen in den 90er-Jahren eingestehen. Die CDU/CSU fordert, fruchtlosen Debatten über Sonderwirtschaftszonen entgegenzutreten. Dem kann ich nur zustimmen. Allerdings frage ich mich, wo die Konsequenz bleibt. Wann hören Sie endlich auf, Sonderregelungen für den Osten zu fordern, zum Beispiel im Planungs- und Genehmigungsrecht? Warum unterliegen Sie noch immer dem Irrglauben, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass durch die Ausschaltung von Bürgerbeteiligung und Verbandsklagerechten Projekte schneller realisiert werden können? ({4}) Hier soll Demokratieabbau als Entbürokratisierung verkauft werden. Jawohl, so sehe ich das. ({5}) Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf der CDU/CSUgeführten Bundesländer zur Streichung des Verbandsklagerechtes für Naturschutzverbände ab. Aus denselben Gründen wird es mit uns auch keine Verlängerung der Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes geben. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU fordert, den Kündigungsschutz in Ostdeutschland auszusetzen. Ich sehe nicht, dass es Ostdeutschland gut bekommen würde, wenn beim Arbeitsrecht niedrigere Standards als in Westdeutschland eingeführt würden. Ob die daraus abgeleiteten vagen Arbeitsplatzerwartungen Realität werden, ist doch sehr zweifelhaft. Welche Zugewinne an Arbeitsplätzen sind uns nicht schon von den Wirtschaftsforschungsinstituten durch Sozialabbau und Deregulierung des Arbeitsrechtes prognostiziert worden! Von diesen Arbeitsplätzen haben wir bisher kaum welche gesehen. Real aber ist die Gefahr, dass mit zunehmendem Sozialabbau die Motivation und damit die Produktivität und Qualität der Arbeit sinken. Das wäre kein Anreiz, in den Standort Ost zu investieren. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ostdeutsche Wirtschaft stärken heißt die regionale Wirtschaft stärken. Ostdeutschland ist keineswegs ein homogenes Gebilde, sondern weist eine Vielfalt von Regionen mit jeweils typischer Ausprägung aus. Das Typische liegt nicht nur in der Wirtschaft, Infrastruktur, Kultur und Natur begründet, sondern auch in der Geschichte und Mentalität der Bevölkerung. Daran müssen sich regionale Entwicklungskonzepte orientieren, die die jeweiligen Wirtschaftspotenziale erschließen sollen. Auch die Lage an der Grenze zu den neu zur EU beigetretenen Ländern Polen und Tschechien ist ein Kapital, mit dem ostdeutsche Regionen wuchern können. Ein tschechischer Kollege verglich unlängst die Euroregionen mit Ökosystemen: je größer die Artenvielfalt, desto stabiler das System. In den Euroregionen hat die Zukunft am 1. Mai dieses Jahres begonnen. Angesichts der Debatte über Wachstumskerne ist es mir besonders wichtig, dass der ländliche Raum nicht abgehängt wird. Auch hier können Wachstumskerne identifiziert werden; denn ländlicher Raum ist mehr als nur Landwirtschaft. Im ländlichen Raum Industrien aufzubauen, für die es dort weder die Rohstoffbasis noch die Zulieferer noch die Absatzmärkte gibt, ist allerdings wenig erfolgversprechend. Industrie und Gewerbe müssen vor allem an das anknüpfen, was dort an Rohstoffen, Arbeitskräftepotenzial und Traditionen vorhanden ist. Wir setzen deshalb zum Beispiel auf den Anbau und die Verarbeitung von nachwachsenden Rohstoffen. Das hat einen dreifachen Effekt: Nachwachsende Rohstoffe können fossile Rohstoffe ersetzen - damit werden Ressourcen geschont -, sie haben in der Regel eine bessere Ökobilanz und sie schaffen zusätzliche Arbeit in Deutschland. Durch den Aufbau von Verarbeitungskapazitäten entstehen noch zusätzliche Arbeitsplätze, zum Beispiel im Anlagenbau. Ein weiteres Potenzial des ländlichen Raums stellt der wachsende Markt für Erholungsleistungen dar. In der Debatte um die wirtschaftliche Entwicklung im Osten gerät die Bedeutung kultureller Angebote und Einrichtungen, von Kulturdenkmälern, sozialer Infrastruktur und Naturschätzen leicht aus dem Blickfeld. ({7}) Sie aber sind ein Kapital Ostdeutschlands, das es für die Entwicklung des Landes zu nutzen gilt. Auf der Basis der Kulturdenkmäler und der Naturschätze gilt es den Tourismus zu entwickeln. Sie sind aber auch Voraussetzung dafür, dass die Menschen gerne hier leben bzw. hierher ziehen. Im Osten Deutschlands liegen ohne Zweifel die meisten strukturschwachen Regionen. Der Auftrag des Grundgesetzes ist eindeutig: Es fordert, gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen. Um diese in Ost und West zu erreichen, bedarf es noch auf längere Sicht erheblicher Anstrengungen. Helmut Kohl hat blühende Landschaften versprochen; wir erinnern uns. Aber er hat an den wirklichen Bedürfnissen dieser Landschaften vorbei regiert. Rot-Grün hat 1998 mit den Versprechungen für den Osten aufgehört. Aber Rot-Grün hat gehandelt. Neben den Gemeinschaftsaufgaben wurden zahlreiche innovations- und wirtschaftsfördernde Programme insbesondere für Ostdeutschland entwickelt. Auf diesem Weg werden wir weitergehen. Mit den Gesetzen zur Modulation, zur Agrarreform und zum EEG sowie mit der Mittelstandsoffensive geben wir nicht nur allen strukturschwachen Regionen eine Entwicklungsperspektive, sondern - um im Bild zu bleiben - Ostdeutschland eine Zukunft. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernward Müller. ({0})

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Matschie, Sie haben Ihren Vortrag vorhin in einer sehr aufgeregten - mir von Ihnen unbekannten -, gekünstelten Art dargeboten und gefragt, wie wir in den neuen Bundesländern weiterkommen können. Die Antwort ist leicht zu finden: Sie können sie in unserem Antrag oder in den Protokollen der heutigen Debatte lesen. Wenn Sie aus diesen nicht nur Worte oder Passagen, die in Ihre Vorstellungswelt passen, herausnehmen, sondern einmal das Ganze lesen - was ich hoffe -, werden Sie in dem, was heute von der Unionsfraktion und der Opposition in diesem Hause insgesamt gesagt worden ist, richtige Antworten finden, die Sie, wenn Sie sie auch nur zum Teil beherzigen, einen großen Schritt nach vorn bringen werden. ({0}) Sie sprechen immer davon, wir würden die Situation in den neuen Bundesländern schlechtreden. ({1}) - Das ist nicht wahr. - Wer die Situation in den neuen Bundesländern kennt, der muss erkennen, dass die Konzepte, die Sie in den letzten Jahren vorgeschlagen haben und die das Land voranbringen sollten, eben nicht greifen. Das betrifft nicht nur die Lage in den neuen Bundesländern, sondern die gesamte politische Situation. Was Sie als Lösungen anbieten, sind keine Lösungen. Es verunsichert die Menschen und es macht Ihr politisches Handeln unglaubwürdig. Damit muss endlich Schluss sein. ({2}) Kollege Hettlich hat vorhin die unsägliche Debatte der letzten Wochen bewertet. Ich schließe mich dieser Bewertung an. Es ist äußerst wichtig, immer zu wiederholen: In den neuen Bundesländern hat es kurzzeitig einen Aufschwung gegeben. Der Beginn war gut, aber die Fortsetzung - das ist das Entscheidende - hätte besser sein müssen. ({3}) Ministerpräsident Milbradt hat ausgeführt, dass dort, wo der Staat eingegriffen und Regie geführt hat, vieles gelungen ist. Die weichen Standortfaktoren sind vorhanden und wirken. Aber mich besorgt, dass es außerhalb dieser so genannten Wirtschaftszentren noch zu viele ungenutzte Flächen in den Gewerbegebieten auf dem flachen Land gibt. Es muss etwas getan werden, damit sich auch dort eine positive Entwicklung einstellt. Wir wollen doch, dass die Menschen in den neuen Bundesländern bleiben, dass beispielsweise Thüringer in Thüringen bleiben. Wir wollen, dass unsere Kinder in unseren Ländern eine gute Ausbildung genießen können, ihre Zukunft gestalten können und eine Perspektive haben. ({4}) Bernward Müller ({5}) Fast jeder Redner hat hier betont, die Menschen hätten sich engagiert. Das ist so. Die Herausforderungen waren riesig; viele haben sich diesen Herausforderungen gestellt und haben Mut bewiesen, indem sie den Weg von einer staatlichen Wirtschaft zum Unternehmertum gegangen sind. Nun liegt es an uns, diesen Mut zu honorieren und diese Menschen zu unterstützen. Man sollte die Mittelständler nicht knebeln und ihnen Fesseln anlegen, sondern man sollte ihnen Chancen eröffnen. Denjenigen, die selbstständig werden wollen, sollte man eine Perspektive eröffnen, damit sie Ideen aufgreifen und sich als Unternehmer betätigen können; denn nur Unternehmer können Arbeitsplätze schaffen. ({6}) Man muss wirklich feststellen, dass die Zeit wie im Fluge vergeht. Den Aufbau Ost zur Chefsache zu machen war eine Drohung für die Menschen in den neuen Bundesländern. In der Zukunft wäre es besser, wenn die verantwortlichen Minister der Bundesregierung nicht in diese Region fahren und nicht versuchen, dort die Entwicklung voranzubringen. Nur dann kann es weitergehen. Die Bundesregierung ist ihrer Aufgabe, für die neuen Bundesländer Entscheidendes voranzubringen, so wie es 1998 angekündigt wurde, in keiner Weise gerecht geworden. Ich will als Beispiel die ICE-Trasse Erfurt-Nürnberg nennen, die heute schon erwähnt wurde. Dieses Projekt ist für Thüringen - aber eben nicht nur für Thüringen - besonders wichtig. Das sind doch die Zeichen, die gesetzt werden müssen, damit Investoren ins Land kommen. Was hat es für einen Schlingerkurs gegeben, als Sie die Verantwortung für dieses Projekt übernommen haben! ({7}) - Natürlich war das ein Schlingerkurs. ({8}) Erst musste alles geprüft werden. Dann haben die Grünen gesagt, das sei nicht wirtschaftlich. Die SPD wiederum hat gesagt, die Strecke werde doch gebaut, aber sie werde halt nicht so schnell gebaut. ({9}) - Für Sie mag das so sein. Aber für uns ist es ganz wichtig.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit. Sie müssen jetzt schnell zum Schluss kommen.

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme ganz schnell zum Schluss. ({0}) Es ist eine Katastrophe, wie Sie dieses Projekt voranbringen. Es herrscht Stillstand. Aber Stillstand ist Rückschritt. Auch wenn sich drei Bagger bewegen, so muss man doch sagen: Es geht nichts voran, sondern es herrscht Stillstand. Herr Matschie, ich sehe nicht, dass diese Strecke unter Ihrer Verantwortung jemals fertig gebaut wird. Ich gebe Ihnen folgende Empfehlung: Stellen Sie die Weichen neu oder machen Sie Platz für eine neue Politik! ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Scheffler.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn man hier teilweise die Reden hört, insbesondere die von Frau Pieper - Herr Vaatz hat sich in seinen Eingangsbemerkungen ein bisschen an die Realität herangepirscht -, ({0}) muss man denken, dass Sie ein bisschen blind durch die Lande stolzieren. Frau Pieper, gerade Ihr Ministerpräsident ({1}) teilt ja immer wieder in Presse, Funk und Fernsehen, aber auch dann, wenn er hier im Bundestag ist, mit, wie erfolgreich seine Politik ist. Dies ist sie insbesondere dann, wenn Bundesmittel ausgegeben werden. Die Leuchttürme, die Sie in Sachsen-Anhalt geschaffen haben, beruhen auf Bundesmitteln. ({2}) Das war bis 1998 nicht so. Vielmehr sind gerade die Akzente, die zum Beispiel Bundesministerin Edelgard Bulmahn gesetzt hat, erfolgreich und auch in Sachsen und Thüringen hochwirksam. Es gibt ja ein gewisses Maß an Übereinstimmung, zum einen was die positiven Dinge, zum anderen aber auch was die wirtschaftlichen Strukturdaten betrifft. Dabei geht es um die Sicht auf den Arbeitsmarkt, aber auch um die Einschätzung und die Wahrnehmung in der Bevölkerung, dass der Weg der letzten Jahre durchaus erfolgreich war. Das können wir doch gar nicht abstreiten. Wir sagen in unserem Antrag doch ganz deutlich: Ein Weiter-so wird es nicht geben. Aber das Bild eines generellen Stillstandes der ostdeutschen Wirtschaft ist schlichtweg falsch; Kollege Vaatz, darin stimme ich ausdrücklich mit Ihnen überein. Der Aufholprozess setzt sich natürlich bei einem zu geringen Wachstum insbeSiegfried Scheffler sondere im industriellen Bereich fort. Der Strukturwandel ist in allen neuen Ländern, von Rostock oder Rügen bis hinunter nach Zittau, sehr sichtbar. Ministerpräsident Milbradt, aber insbesondere unser Kollege Matschie aus Thüringen haben dies eindrucksvoll vorgetragen. ({3}) Gleichwohl vollzieht sich keine selbst tragende Entwicklung. Wir stimmen mit Ihnen auch darin überein, dass die finanzielle Abhängigkeit von Transfers aus Westdeutschland und die Abwanderung aus den neuen Ländern nicht gut sind. Damit werden wir uns als ostdeutsche Landesgruppe in der SPD nicht zufrieden geben. Hier geht es aber nicht nur um regionale Sorgen. Herr Matschie hat es teilweise schon angesprochen: Die Entwicklung in den neuen Ländern ist vielmehr in die Entwicklung in ganz Deutschland eingebettet. Mit Angst und Hysterie, wie das in der Presse geschieht oder auch von Ihnen immer wieder versucht wird - Frau Pieper, Sie haben das eindrucksvoll bestätigt -, ({4}) können wir nichts erreichen. Wir können doch nicht den ungelegten Eiern im Hinblick auf die Haushaltsberatungen 2005 vorgreifen. Wir können uns hier zwar die Köpfe über GA- und Infrastrukturmaßnahmen heiß reden. Entscheidend ist letztendlich, was der Deutsche Bundestag, wir als Parlamentarier mit unseren Haushältern, im Hinblick auf den Haushalt 2005 oder jetzt die GA 2004 entscheidet. Insofern sind für mich viele Dinge - auch Ihre Pressemitteilung gestern aus Weimar - ungelegte Eier, die nur dazu dienen, diesen Standort schlecht zu machen. ({5}) Ich sage Ihnen, dass eine differenzierte Stärkenund Schwächenanalyse, wie es Kollege Matschie hier vorgetragen hat, mit guten Vor-Ort-Kenntnissen - denn ich und andere sind sehr viel im Lande unterwegs - eine Grundlage für neue Ansätze der Förderung schaffen kann. Deshalb beinhaltet unser Antrag nicht einfach ein Weiter-so, sondern eine Neujustierung, wie das Minister Stolpe nicht erst in der heutigen Debatte, sondern schon in der Vergangenheit dargestellt hat. Diese Neujustierung ist sichtbar. Vorhin wurde die Verdoppelung der industrienahen Forschung angesprochen. Diese ist in der Region Berlin-Brandenburg und auch in Mecklenburg-Vorpommern sichtbar, aber natürlich nicht in allen Regionen. Wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass wir nach wie vor eine bessere Infrastruktur und industrienahe Forschung brauchen. Das können wir aber unter den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung nicht sofort erreichen. Noch ein Punkt: Angesichts der Bedingungen kurz nach der Wende, in der Zeit, in der Sie - das wollen Sie heute nicht mehr wissen - eine Deindustrialisierung bewirkt haben, können wir doch nicht so tun, als ob gar nichts zustande gekommen ist. ({6}) Die Europäische Union bestätigt der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag nach wie vor, dass mindestens zwei Drittel der finanziellen Engpässe auf die Deindustrialisierung und die Fehler in der Zeit kurz nach der Wendezeit, zum Beispiel auf den überhitzten Bauboom, zurückzuführen sind. Darunter haben wir noch heute zu leiden. Das blenden Sie vollkommen aus. Das blendet auch Ministerpräsident Milbradt aus. ({7}) Er blendet ebenfalls vollständig aus, dass er 2003, als über das Steuervergünstigungsabbaugesetz verhandelt wurde, auf der anderen Seite des Tisches saß und die unionsregierten Länder vollkommene Blockadepolitik betrieben. Wäre dem nicht so gewesen, hätten die Haushälter des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung viel mehr Spielräume ({8}) in der Frage der Bildungs-, Forschungs- und Verkehrspolitik gehabt. Dann wäre es möglich gewesen, wesentlich mehr für die Schiene, für die Straße und für die Wasserstraßen zu erreichen. ({9}) Diese Tatsachen dürfen Sie nicht ausblenden; darum bitte ich Sie wirklich. Frau Pieper und Herr Milbradt haben die Aspekte der Arbeitsmarktpolitik in den Vordergrund gestellt. Sie müssen dann aber auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sagen, dass Sie nicht nur den Niedriglohnsektor, sondern sogar schon die Schwellenlöhne von Rumänien, Bulgarien oder anderen Staaten durchsetzen wollen. ({10}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wollen hinsichtlich des Kündigungsschutzes Änderungen vornehmen. ({11}) - Das sind keine Unterstellungen. Ich habe das aus Ihren Anträgen herausgelesen. - Diese Forderungen müssen wir von der SPD mit Nachdruck zurückweisen. ({12}) Wir können uns durchaus über Lohnergänzungsleistungen unterhalten. Ihre Ausführungen zum Arbeitsmarkt aber - ich sage das ganz deutlich - sind ein Skandal. Sie wollen - auch das unterstelle ich Ihnen - über den Umweg einer anderen Strukturpolitik in Ostdeutschland die Arbeitnehmerrechte praktisch in ganz Deutschland aushebeln. Dabei machen wir nicht mit. ({13}) Deutschland, insbesondere Ostdeutschland, braucht konkurrenzfähige Arbeitsplätze - teilweise gibt es sie schon -, um international konkurrenzfähig zu sein. Von dieser internationalen Konkurrenzfähigkeit hat Ministerpräsident Milbradt gesprochen. Der Solidarpakt II reicht bis 2019 und wir als Landesgruppe Ost haben von der Regierung GA-Mittel eingefordert. Unser Zeithorizont reicht also bis 2019 und wir dürfen ihn durch Schlechtreden nicht verkürzen und so tun, als sei er bereits 2009 oder 2010 zu Ende. Meines Erachtens sind Ihre Vorschläge teilweise nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch unsinnig. Ihre Wirkung ist teilweise verheerend. Sie können dort, wo die Bundesmittel greifen und durch Bundesmittel finanzierte Programme aufgelegt werden - vorhin wurde das schon genannt -, eine vernünftige Landespolitik machen. Dazu müssen Sie die Kabinette, an denen Unions- oder FDP-Politiker beteiligt sind, auffordern, die ihnen zur Verfügung gestellten Mittel sinnvoll einzusetzen. ({14}) Nehmen wir zum Beispiel die Verwendung der Regionalisierungsmittel in Sachsen-Anhalt. Sie können vor Ort sehen, wo die Mittel für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur angekommen sind. ({15}) Ich bitte darum, hier Ross und Reiter zu nennen. Wir müssen klar sagen, wo die Ursachen liegen, und dürfen nicht immer nur auf den Bund schauen. Die Verantwortung der Länder muss hier ganz deutlich angesprochen werden. ({16}) - Frau Pieper, wir können uns gern über Fragen der Bildungs-, Forschungs-, Verkehrs- und Arbeitsmarktpolitik unterhalten. Wir beschreiten gerade in der Arbeitsmarktpolitik einen anderen Weg als Sie. Wir stellen unsere Hartz-Gesetze Ihren Forderungen nach Lohnersatzleistungen entgegen. Ich denke, damit gehen wir den wesentlich besseren Weg. ({17}) Sie können unserem Antrag mit ruhigem Gewissen zustimmen. Ihre Anträge müssen wir natürlich zurückweisen. Vielen herzlichen Dank. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention, weil er persönlich angesprochen wurde, der Kollege Vaatz.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Scheffler, nach Ihrer Auffassung habe ich mich allmählich an die Realität herangepirscht. Mit „Realität“ nehmen Sie sicher auf die Zwischenfrage Ihres Kollegen Hilsberg Bezug. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Die Aussage des Herrn Kollegen Hilsberg, dass man sich mit einer Firma geeinigt habe, ist richtig. Es geht aber nicht um die Einigung einer Regierung mit einer Firma. Vielmehr hat die Regierung gleiches Recht für alle zu schaffen. In der augenblicklichen Situation werden die mitteldeutsche Braunkohle und die mittelständischen Unternehmen, die in Ostdeutschland unmittelbar nach der Wende ihre Anlagen ertüchtigt haben und Emissionen abgeben, nach wie vor benachteiligt; ({0}) denn noch ist das Referenzjahr bei der Bemessung für die Early Actions das Jahr 1994 und nicht, wie wir fordern, das Jahr 1991. Im Benchmarking wird der technische Wirkungsgrad der Braunkohle gegenüber dem technischen Wirkungsgrad der Steinkohle nach wie vor benachteiligt. Es ist nach wie vor richtig, was ich anfangs gesagt habe, dass nämlich die in Ostdeutschland neu gegründeten Betriebe hinsichtlich ihrer Finanzierung eine Doppelfunktion ausüben: Einerseits finanzieren sie sich selbst, andererseits finanzieren sie die Erneuerung im Westen. Daran hat sich nichts geändert. ({1})

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Vaatz, Ihre Kurzintervention bezog sich nicht auf meine Rede, sondern auf den Beitrag des Kollegen Hilsberg. Ich kann die Aussage des Kollegen Hilsberg aber bestätigen; denn in dieser Woche haben wir uns nach der entscheidenden Nachtsitzung, in der es um die Ausgestaltung des Entwurfs ging, mit den Verantwortlichen von Vattenfall unterhalten. Ich kann nur bestätigen, dass zukünftig sowohl die Investitionen als auch die Senkung der Emissionen Beachtung finden. Insofern muss ich das, was Sie hier vorgetragen haben, zurückweisen; es entspricht nicht den Tatsachen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn. ({0})

Werner Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ostdeutschland eine Zukunft geben“ - das ist die Überschrift unseres Antrags. Das ist auch mit einer Vision verbunden. Diese Debatte heute wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht die Oppositionsfraktionen signalisiert hätten, dass wir über Ostdeutschland reden müssen. ({0}) Die Menschen in der ehemaligen DDR haben mit der friedlichen Revolution selbst das Tor für eine freiheitliche Demokratie und ihre Zukunft aufgestoßen. Wir hatten viele Wegbegleiter und Wegbereiter. Mit Helmut Werner Kuhn ({1}) Kohl hatten wir einen Bundeskanzler, der diese historische Aufgabe der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ganz oben auf seiner Agenda stehen hatte. ({2}) Das steht im Gegensatz zu der Agenda 2010 des jetzigen Bundeskanzlers, für den der Osten nur noch eine Marginalie ist. Man würde am liebsten gar nicht mehr darüber reden, wie die Entwicklung dort unter Rot-Grün letztendlich in die Grütt gefahren worden ist. ({3}) Bei 5 Millionen Arbeitslosen und einer flächendeckenden Unterbeschäftigung von 20 Prozent in Ostdeutschland ist es zwingend notwendig, dass wir diese Debatte führen. Wenn der Osten nicht wieder auf die Beine kommt, wird die Wirtschaft in Deutschland der Entwicklung in Europa im wahrsten Sinne des Wortes weiter hinterherhinken. Wir brauchen uns nicht darüber zu ereifern, wer denn nun die Konzepte für die geringsten Steuersätze oder wer die besten Konzepte für die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland hat. Die Fakten zeigen es eindeutig: Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ist eine zentrale Aufgabe. Ministerpräsident Milbradt hat ganz klare Worte dazu gefunden. Im Osten arbeiten wir mit dem European Recovery Program, weil wir 40 Jahre benachteiligt worden sind. ({4}) Jetzt werden wir durch diese Bundesregierung benachteiligt. Von ursprünglich 750 Millionen Euro sind die Ausgaben für diese Aufgabe auf knapp 200 Millionen Euro gesenkt worden. Das können wir uns einfach nicht bieten lassen. Wie sollen wir denn unseren Investitionsstandort fit machen? Wir brauchen die GA und die Investitionsförderung. Dafür brauchen wir auch Landesmittel. Wir müssen Einnahmen realisieren, um diese Situation in den Griff bekommen zu können. ({5}) - Ja, Herr Stiegler, Sie sind natürlich ein ausgemachter Experte, der die Ostförderung in- und auswendig kennt. ({6}) Sie werden ja zu diesem Tagesordnungspunkt später noch als Wunderwaffe Ihrer Partei eingesetzt. ({7}) Aber Sie müssen sich einmal anschauen, wie die Menschen in den neuen Bundesländern auf ein Hoffnungssignal warten. ({8}) Ich sage: Diese Bundesregierung ist nicht geeignet, ihnen dieses Signal zu geben. Da ich Herrn Matschies Problembeschreibung und die vielen Fragen, die er gestellt hat, gehört habe und beobachtet habe, wie er dann mit Herrn Minister Stolpe in einen Dialog getreten ist, sage ich Ihnen: Sie verhalten sich nicht wie Koalitionsfraktionen, die eine Regierung tragen, bzw. wie ein Minister für den Aufbau Ost. Das hat sich vielmehr angehört wie eine Selbsthilfegruppe, die einfach nur einmal über dieses Thema reden will, die aber gar keine eigenen Konzepte hat. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es handelt sich um Verträge, die in Zukunft in keiner Weise geändert werden können. Bis 2012 sind wir in den Lasten der Steinkohleproduktion im Ruhrgebiet fest verwurzelt. Aber dort finden Wahlen statt. ({10}) In NRW wird es dann heißen, dass man diese Situation leider nicht ändern könne; aber dann werden bis zum Jahre 2012 Förderungen in Milliardenhöhe zugesagt. ({11}) Genau das stand letztendlich auch auf der Agenda: Tausche Westkohle gegen Osthilfe. Dem wird unsere Fraktion in dieser Form aber nicht zustimmen. Das können wir Ihnen versichern. ({12}) Insoweit ist die Sache in Ordnung. Mit der Strategie, die wir heute vorgelegt haben, geben wir Ihnen einen Fingerzeig, wie Sie in Zukunft arbeiten sollen. Ich nenne nur die Stichworte Clusterbildung und universitäre Forschung. Allerdings müssen wir auch die Kosten betrachten, die dadurch auf die Länder zukommen. Sie finanzieren Universitäten und betreiben Produktentwicklung und Produktionseinführung auf einem möglichst hohen Niveau, damit dort auch gut ausgebildete Arbeitskräfte wieder eine Zukunft haben. Wenn Sie es ernst meinen würden, Herr Scheffler, dann müssten Sie sagen: Jawohl, wir wollen den Braindrain gemeinsam verhindern, damit der Zustand, dass die gut ausgebildeten Leute vom Osten in den Westen gehen, weil sie nur dort eine Zukunft haben, endlich gestoppt wird. Aber Sie führen eine Ausbildungsplatzabgabe ein, die dazu führt, dass die Unternehmen Leute ausbilden müssen, obwohl überhaupt keine mehr da sind. So können wir Deutschland nicht fit für die Zukunft machen. ({13}) Werner Kuhn ({14}) Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn gesagt wird - das wurde vom Kollegen Hettlich auf sehr interessante Weise dargestellt -, dass wir natürlich universitäre Forschung, Clusterbildung und Produktentwicklung brauchen, dass wir aber gerade auch für die neuen Bundesländer ein System von Instituten und außeruniversitärer Forschung ins Leben gerufen haben, zum Beispiel die Leibniz-Institute. ({15}) Dann wird gesagt: Jetzt führen wir eine Entflechtungsdebatte. ({16}) Man denkt: Donnerwetter, jetzt wird endlich Bürokratie abgebaut; jetzt werden wir zum Zuge kommen. Aber nein, Herr Kollege Scheffler, diese Entflechtungsdebatte bedeutet nur, dass sich der Bund aus der Finanzierung der außeruniversitären Forschung zurückzieht ({17}) und sie den Ländern, die ohnehin kein Geld haben, auf die Augen drückt. Dadurch wird sich die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zusätzlich verschlechtern. ({18}) Ich kann nur sagen: Herr Stolpe, wir brauchen eine kompetente Administration. Das wissen wir auch aus unseren Regierungserfahrungen bis 1998. Es ist notwendig, dass es eine Stabsstelle, einen Staatssekretär und einen Minister gibt, der für den Aufbau Ost zuständig ist, damit nicht jeder vom Thema Eigenheimzulage bis zur Verwendung der GA-Mittel kreuz und quer quatschen kann. Eine halbe Abteilung in Herrn Stolpes Bundesministerium, eine halbe in Herrn Clements Ministerium und eine halbe Stelle im Kanzleramt - das kann es nicht gewesen sein. Wir müssen den Aufbau Ost wirklich professionell angehen. Dass dies nicht geschieht, kritisiere ich in dieser Debatte; denn der eine weiß nicht, was der andere tut. ({19}) Diese rot-grüne Bundesregierung - das muss ich hinsichtlich des Aufbaus Ost sagen - ist eine Regierung der vertanen Chancen. Das stellt man fest, wenn man die Chancen beim Thema Hochtechnologie im Verkehrsbereich, insbesondere bezüglich der Magnetschwebebahn, Revue passieren lässt oder wenn man den Flugzeugbaustandort Deutschland respektive neue Bundesländer unter die Lupe nimmt. Unser Herz tränt, wenn wir sehen, dass der A3XX und der A380 jetzt in Toulouse gebaut werden. Hier bestand die Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen, damit wir in den neuen Bundesländern einen zusätzlichen Leuchtturm schaffen. ({20}) Ich kann kein privates Automobilunternehmen zwingen, dahin zu kommen und dort ein Werk zu errichten, es sei denn, man verhandelt taktisch so gut und so richtig, wie Ministerpräsident Milbradt das gemacht hat. ({21}) Die erste Aufgabe eines jeden Politikers - danach können Sie die Uhr stellen - ist Wirtschaftsförderung. Wenn ich meine Basis nicht in Ordnung kriege und meinen Leuten keine Zukunft geben kann, habe ich letztendlich überhaupt keine Chance, Wirtschaftsentwicklung und Aufschwung in den neuen Bundesländern zu bekommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, durch Ihre ganzen Regelwerke werde ich immer wieder an alte Zeiten erinnert: immer mehr Durchführungsbestimmungen, immer mehr Gesetzeswerke, immer mehr Initiativen zur Regulierung. Wir sind 1989 auf die Straße gegangen und haben gesagt: Freiheit statt Sozialismus. Und wir lassen uns von Ihnen den Sozialismus nicht durch die Hintertür wieder einführen. Herzlichen Dank. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Berliner Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, Harald Wolf.

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kuhn, ich finde es schon erstaunlich, mit welcher Verve Sie und Ihre Fraktion in der Lage sind, über den Aufbau Ost zu reden und sich über die Bundesregierung zu empören, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass ein Großteil, eine Vielzahl der Probleme in Ostdeutschland, über die wir heute diskutieren, mit Fehlentscheidungen zusammenhängen, die unter der Bundesregierung Kohl getroffen worden sind, ({0}) mit einer verfehlten Politik, die geglaubt hat, der Aufbau Ost lasse sich aus der Portokasse finanzieren, mit einer Förderung über Abschreibungen, die ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass Fehlinvestitionen in Beton stattgefunden haben und eben nicht in die Wachstumskerne, ({1}) über die wir heute diskutieren. ({2}) Wenn wir heute über den Aufbau Ost diskutieren und über die Realität in Ostdeutschland, dann ist es in der Tat so, Herr Matschie, dass es zwei Gesichter gibt: einerseits die Erfolge bei der Modernisierung und beim Aufbau der Infrastruktur, die Erfolge auch bei der Herausbildung international konkurrenzfähiger Wachstumskerne und international konkurrenzfähiger Regionen. Aber es gehört Senator Harald Wolf ({3}) andererseits genauso zur Wahrheit und zur Realität, dass wir nach wie vor eine gravierende Strukturschwäche haben - eine Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent - und dass wir eine anhaltend hohe Abwanderung vor allen Dingen von jungen, gut ausgebildeten Menschen aus Ostdeutschland haben. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, wenn dieser Trend nicht aufgehalten wird, wird er die positive Entwicklung überlagern und dann wird das Gefälle zwischen Ost und West wieder vertieft werden. Das ist das, worüber ich mir Sorgen mache, worüber wir reden müssen und wogegen wir Strategien entwickeln müssen. Ich glaube, es kann nicht in unserem Interesse sein, eine Entwicklung zu haben, bei der der Osten vom Westen weiter abgekoppelt wird. Ich glaube, es ist im Interesse der gesamten Republik und nicht nur im Interesse des Ostens, dass in Ostdeutschland eine selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung eingeleitet wird, durch die Ostdeutschland nicht auf Transfers und Subventionen in dem Maße, wie es zurzeit der Fall ist, angewiesen ist. Deshalb, glaube ich, ist es auch im Interesse des Westens und der westdeutschen Bundesländer, sich intensiv mit den Fragen des Aufbaus und der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten auseinander zu setzen. Eine positive Entwicklung im Osten ist eine Grundvoraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit und Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschland insgesamt. ({4}) Deshalb, glaube ich, brauchen wir in der Tat einen neuen Entwicklungsschub in Ostdeutschland, brauchen wir eine Neubestimmung der Politik in und für Ostdeutschland. Das heißt auch, dass wir für Ostdeutschland weiterhin Sonderregelungen brauchen - wir haben ja schon jetzt Sonderregelungen - und dass wir weiterhin einen Standortvorteil für Ostdeutschland brauchen, weil Ostdeutschland nur so entsprechend aufholen kann. Was wir allerdings nicht gebrauchen können, sind Diskussionen, wie sie in den letzten Wochen geführt wurden, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zusagen über Förderungen wie zum Beispiel der GA-Mittel haben aufkommen lassen. Ich bin sehr froh darüber, dass Minister Stolpe heute von dieser Stelle aus eine Klarstellung hierzu getroffen hat und dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag eine klare Position beziehen. Ich hoffe, dass auch das Bundeskabinett in seiner Sitzung am 23. Juni endgültig eine klare Stellung beziehen wird. Denn wir brauchen Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Das sind die Grundvoraussetzungen, wenn wir über eine Neuausrichtung und eine Kurskorrektur beim Aufbau Ost diskutieren. Die Antwort auf die Forderung, wir müssten von der so genannten Gießkannenpolitik abkommen - das war in Ostdeutschland in den letzten Jahren schon immer mehr der Fall -, kann nicht sein, dass wir auf das Wasser verzichten. Vielmehr muss der Fördermittelstrom gezielter eingesetzt werden. Darüber müssen wir eine Diskussion führen. ({5}) Heute besteht zwischen allen Fraktionen und allen Parteien Übereinstimmung darüber, die Vergabe von Fördermitteln auf die Wachstumskerne zu konzentrieren. Meiner Meinung nach kann das aber nur ein Teil der Antwort sein. Wenn man sich von einer flächendeckenden Förderpolitik zurückzieht, die alle Regionen gleichmäßig bedenkt, muss eine Perspektive für die Regionen in Ostdeutschland formuliert werden, die nicht zu den Wachstumsregionen gehören. Wir müssen deutlich machen, dass es sich nicht um einen ungeregelten Anpassungsprozess handelt, sondern dass es gleichzeitig eine Regionalplanung und -förderung geben wird, durch die der Schrumpfungsprozess sozialverträglich gestaltet wird, und dass diesem gegebenenfalls sogar positive Elemente abgewonnen werden können. Das muss die andere Seite der Medaille sein, wenn wir die Investitionsförderung richtigerweise auf die Wachstumskerne konzentrieren wollen. ({6}) Meine Damen und Herren, wir brauchen für Ostdeutschland auch weiterhin Sonderregelungen, zum Beispiel im Steuerrecht. Wir könnten zum Beispiel der notorischen Eigenkapitalschwäche von kleinen und mittleren Unternehmen in Ostdeutschland begegnen, indem wir die Verbreiterung der Eigenkapitalbasis durch Nichtentnahme von Gewinnen steuerlich begünstigen. Das wäre, wie ich glaube, ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Basis von kleinen und mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland und damit von Ostdeutschland insgesamt. Wir müssen auch über regional begrenzte Sonderregelungen in den Grenzgebieten zu den neuen Beitrittsländern der Europäischen Union nachdenken. Diese müssten sowohl Regelungen zur Freizügigkeit als auch steuerliche Vergünstigungen enthalten, damit die regionalen Kooperationsmöglichkeiten besser genutzt werden. Die Forderung nach einer Förderung von Wachstumskernen basiert auf der Erkenntnis, dass Ostdeutschlands Zukunft von der Entwicklung der modernen hoch produktiven Sektoren in diesen Regionen abhängt. Dabei geht es um Innovation und nicht um Niedriglohn. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wissen doch, dass die Realität in den ostdeutschen Ländern heute bereits so aussieht, dass in einer Vielzahl von Betrieben Billiglöhne gezahlt werden und dass es, wenn die Unternehmen es wollen, häufig möglich ist, Arbeitskräfte für unter 5 Euro pro Stunde zu beschäftigen und sie schnell zu feuern. Leider sind die Kräfte des Marktes oft stärker als Flächentarifverträge und leider oft auch stärker als die Gesetze. Trotz dieser Realität mit einem bestehenden Niedriglohnsektor - ich finde, sie ist beklagenswert - ist der Aufbau Ost nicht weiter vorangekommen. ({7}) Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, Sie wollen die schwierige Lage in Ostdeutschland dazu nutzen, um Dumping, Niedriglöhne und Sozialabbau in Senator Harald Wolf ({8}) der gesamten Republik durchzusetzen. Dagegen muss man sich wehren. Das nutzt nämlich auch dem Osten nichts. Denn je niedrigere Einkommen in den Wachstumssektoren gezahlt werden, desto schwächer fällt die Nachfrage nach einfacher Arbeit aus und umso geringer sind die Aussichten, Arbeitsplätze für gering Qualifizierte zu schaffen. ({9}) Ein Ausbau des Billiglohnbereichs nützt dem Osten nichts, sondern schadet ihm. Niedrige Löhne im Osten verleiten die Menschen geradezu, in die Wachstumsregionen nach Westdeutschland zu gehen. Sie leiten damit einen Teufelskreis ein. Das ist das Gegenteil von dem, was Ostdeutschland braucht. Meine Damen und Herren, es muss in Ostdeutschland einen Neuanfang geben. Angesichts der Schwierigkeiten des Strukturwandels brauchen wir dazu Realismus und vor allen Dingen einen langen Atem. Ich glaube, es wäre ein großer Erfolg, wenn es uns gelingen würde, die wirtschaftliche und soziale Lage in den nächsten zwei bis drei Jahren zu stabilisieren und den Abwanderungsprozess aus Ostdeutschland zu stoppen. Das wäre das Signal dafür, dass die Menschen in Ostdeutschland wieder Vertrauen in ihre Zukunft, in ihr Land und in ihre Region gefasst haben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte möchte ich für die SPD-Bundestagsfraktion festhalten, dass wir, Ost und West, zusammengehören. Wir feiern die Einheit und stehen auch im Alltag dazu. Wir verwahren uns dagegen, dass Sie Ost gegen West und umgekehrt aufhetzen. ({0}) Ich bin Manfred Stolpe dankbar, dass er immer wieder betont: Problemregionen gibt es in ganz Deutschland. Wir lösen die Probleme in ganz Deutschland und jagen die Menschen nicht gegeneinander. - Mit Ihren Eifersüchteleien können Sie in den Wahlkreisen Punkte machen. Die CSU in Bayern kann gegen den Osten schimpfen und Sie können in den Wahlkreisen auf den Westen schimpfen. ({1}) Geholfen ist damit aber niemandem. Lasst uns zusammen unser gesamtdeutsches Problem lösen. ({2}) Ich bin als Wessi für den Aufbau Ost zuständig und betone für die SPD-Fraktion: Wir halten mit den Kolleginnen und Kollegen der Landesgruppe Ost zusammen, aber auch mit denen, die im Ruhrgebiet oder anderswo Probleme haben. Es versucht hier niemand, sich auf Kosten des anderen zu profilieren, weil wir nur gemeinsam Erfolg haben werden. ({3}) - Ja, das ist sehr richtig. Dann müssen Sie aber andere Reden halten. ({4}) Herr Professor Milbradt, Ihre Rede hätte mich fröhlicher gestimmt, ({5}) wenn Sie deutlich gemacht hätten, dass vieles, was Sie zu Hause - in Dresden, Leipzig und sonst wo - feiern, zur Hälfte und mehr vom Bund finanziert wird. ({6}) - Ja, Sie haben sich aber wie ein Kind bedankt, das die Zähne zusammenbeißt, wenn es Danke sagen oder sich entschuldigen muss. So sieht die Begeisterung hier aus. ({7}) Man muss einmal vergleichen, wie die Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten ihre Aufbauleistungen in den jeweiligen Ländern in den Wahlkämpfen zu Hause preisen und rühmen und wie sie nur noch Not und Elend sehen, kaum dass sie die heimatlichen Gefilde verlassen haben und in Berlin angekommen sind. Das grenzt an Bewusstseinsspaltung. Hüten Sie sich! ({8}) Herr Milbradt, Sie sollten sich bei Herrn Stolpe für die Verkehrsinfrastruktur und bei Edelgard Bulmahn für die Forschung und Entwicklung bedanken. Gerade Ihre Hightechindustrie wäre ohne das wirklich engagierte Eintreten von Edelgard Bulmahn gar nicht denkbar gewesen. ({9}) - Da könnt ihr ruhig lachen, ihr habt ihnen nichts gegeben. Ihr habt Steuervergünstigungen für Grundstücksspekulanten und Abschreibungskünstler finanziert und uns Schulden hinterlassen. Das war euer Aufbauwerk in den acht Jahren. ({10}) Meine Damen und Herren, wenn wir das zusammen machen, dann sollen wir auch gemeinsam zu den Erfolgen stehen. Ich halte für die SPD-Bundestagsfraktion am Ende fest: Wir, meine Fraktion und auch die Koalition, stehen zum Solidarpakt. Wer hier daran zweifelt, der redet wider besseres Wissen und verunsichert die Menschen unnötig. ({11}) Wir stehen zu diesem Solidarpakt. ({12}) Diese Koalition steht auch zur Gemeinschaftsaufgabe. ({13}) - Seien Sie vorsichtig! - Es waren die Herren Ministerpräsidenten, die sie vor Jahren einmal abschaffen wollten. Es waren diese Koalition und diese Bundestagsfraktion, die die Beschlüsse gefasst haben, dass die GA erhalten bleibt. So sieht die Situation aus. Das ist die Wahrheit. ({14}) Ich unterstütze Manfred Stolpe bei seinen Bemühungen zur Lösung der gegenwärtigen Probleme. ({15}) Sie sind weiß Gott seltsame Leute: Im Bundesrat verweigern Sie sich Maßnahmen für Steuermehreinnahmen, aber fordern pausenlos Mehrausgaben und dazu einen Sparhaushalt. Das ist die Kubatur des Zirkels, die Sie hier veranstalten. Wer daran glaubt, der gehört in die Psychiatrie, aber nicht hierher. ({16}) Nun hat aber Professor Milbradt in einem Punkt durchaus Recht: Wir haben derzeit bei der Abwicklung der GA Probleme. Da kneift es und daran müssen wir arbeiten. Es ist das System der GA, dass die Mittel für die Zukunft gebunden werden und die Barmittel in jedem Jahr ausgezahlt werden. Im Zuge des Koch/SteinbrückKonzepts und auch anderer Dinge gibt es aber im Verhältnis zu den Barmitteln Probleme. Es wäre falsch, das zu leugnen. Ich sage Ihnen aber zu: Dieser Antrag bedeutet auch, dass wir uns bemühen, diese Probleme zu lösen. Wir wollen nicht, dass Investitionen aufgrund dieser Situation scheitern oder behindert werden. Dabei können Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen. ({17}) Helfen Sie uns mit Ihren Haushältern und in Ihren Ländern! Helfen Sie uns auch dabei, ungerechtfertigte Subventionen abzubauen! Dann brauchen wir nicht so sehr im Haushalt herumzukratzen. ({18}) Wir werden Manfred Stolpe und auch unsere Kolleginnen und Kollegen dabei unterstützen. Herr Professor Milbradt, ich hoffe, dass wir alsbald die notwendige Klarheit schaffen. Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht. Diese Weisheit haben wir aber nicht erst von Ihnen vernommen, sondern von unserem Kollegen Siegfried Scheffler und auch von anderen Kollegen schon vor Wochen gehört. Auch Manfred Stolpe hat es allen, die es hören wollten, und auch denen, die es nicht hören wollten, gesagt. Wir haben aber auch unsere praktischen Aufgaben erledigt. Für die Probleme der vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die - aus welchen Gründen auch immer mit ihrer Eigenkapitaldecke am Ende sind, hat diese Koalition seit dem 1. März mit dem Programm Unternehmerkapital der KfW eine Antwort gefunden. Ich war erst gestern mit Dr. Danckert bei Hunderten von Mittelständlern in Brandenburg und mit Uwe Küster in Magdeburg, wo wir die Programme vorgestellt haben. Damit wird diesen Unternehmen geholfen. Lassen Sie uns zusammen mit den Banken und der KfW dafür sorgen, dass die Unternehmen wachsen können. Das leisten wir. Das ist mindestens genauso wirksam wie die GA. ({19}) Ich bedanke mich bei Manfred Stolpe für seinen Einsatz, der weiß Gott nicht immer leicht ist. Das können auch Sie einmal anerkennen. Viele von Ihnen profitieren davon, dass er Ihnen hilft. Aber Sie sind ein undankbares Volk; das muss man einmal sehen. ({20}) Wenn man laufend in die Hand, die einem Futter gibt, pickt, dann bekommt man irgendwann nichts mehr. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen unserer Fraktion, dass wir die Einheit auch in der Koalition leben und zusammenhalten. Mit Mut und Zuversicht, nicht mit Ihren Jeremiaden, werden wir es schaffen. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt müssen nur noch alle wissen, was eine Jeremiade ist. - Damit sind wir am Ende der Rednerliste. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3047 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf des Bundesrates zur Änderung des Bundesnatur- schutzgesetzes auf Drucksache 15/776. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit emp- fiehlt auf Drucksache 15/2956, den Gesetzentwurf abzu- lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Ge- schäftsordnung die weitere Beratung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/3201, 15/3202 und 15/3203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungspunkt 26 a von der Tagesordnung ab- zusetzen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 26 b bis 26 g sowie die Zusatzpunkte 6 a bis 6 g auf: 26 b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes - Drucksache 15/2722 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0}) Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes - Drucksache 15/3170 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 14. Mai 2003 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Republik Polen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 15/3171 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Juli 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der mazedonischen Regierung über soziale Sicherheit - Drucksache 15/3172 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 14. Oktober 2003 über die Beteiligung der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik am Europäischen Wirtschaftsraum - Drucksache 15/3173 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten - Drucksache 15/3176 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 6a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung - Drucksache 15/3147 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. April 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung - Drucksache 15/3177 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Rechtsausschuss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Wagniskapital - Drucksache 15/3189 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Den Tourismus stärken - Chancen der EU-Erweiterung nutzen - Drucksache 15/3192 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({6}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschus Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Annette Faße, Brunhilde Irber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({7}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Internationale Richtlinien für biologische Vielfalt und Tourismusentwicklung zügig umsetzen - Drucksache 15/3219 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verschiebung des Zeitpunktes für das InKraft-Treten des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ({11}) auf den 1. Januar 2006 - Drucksache 15/3105 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({12}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Selbstverpflichtungserklärung der Deutschen Post AG zur Erbringung bestimmter Postdienstleistungen - Drucksache 15/3186 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({13}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/3176 - Tagesordnungspunkt 26 g - soll zusätzlich an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 27 a bis 27 l sowie Zusatzpunkt 7. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 27 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Rechtsfragen hinsichtlich der Rechtsstellung von Angehörigen der Bundeswehr bei Kooperationen zwischen der Bundeswehr und Wirtschaftsunternehmen sowie zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/2944 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({15}) - Drucksache 15/3124 Berichterstattung: Abgeordnete Rolf Kramer Thomas Kossendey Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3124, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn Sie zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Tagesordnungspunkt 27 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. September 2002 über die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Strafgerichtshofs - Drucksache 15/2723 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({17}) - Drucksache 15/3217 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Ludger Volmer Harald Leibrecht Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3217, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Mai 2003 zum Internationalen Übereinkommen von 1992 über die Errichtung eines Internationalen Fonds zur Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden - Drucksache 15/2947 ({18}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19}) - Drucksache 15/3215 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Dr. Günter Krings Jerzy Montag Rainer Funke Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3215, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie bei Ihrem eben geäußerten Abstimmungsverhalten bleiben wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden durch Seeschiffe - Drucksache 15/2949 ({20}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21}) - Drucksache 15/3220 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Dr. Günter Krings Jerzy Montag Rainer Funke Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3220, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Änderung der Versatzverordnung und zur Zweiten Änderung der Deponieverordnung - Drucksachen 15/2814, 15/2886 Nr. 1, 15/3141 Berichterstattung: Abgeordnete Petra Bierwirth Tanja Gönner Dr. Antje Vogel-Sperl Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/2814 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Wir kommen nun zu den diversen Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 117 zu Petitionen - Drucksache 15/3089 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 117 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 118 zu Petitionen - Drucksache 15/3090 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 118 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 119 zu Petitionen - Drucksache 15/3091 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 119 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 120 zu Petitionen - Drucksache 15/3092 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 120 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 121 zu Petitionen - Drucksache 15/3093 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Sammelübersicht 121 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 122 zu Petitionen - Drucksache 15/3094 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 122 ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 27 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 123 zu Petitionen - Drucksache 15/3095 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Sammelübersicht 123 ist angenommen worden, diesmal mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/ CSU. Wir kommen zu Zusatzpunkt 7: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Den Rechtsweg in der Regulierung des Tele- kommunikationsmarktes ändern - Drucksache 15/3218 - Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenom- men worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und b sowie Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 6. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({30}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({31}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheitspräsenz ({32}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksachen 15/3175, 15/3235 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({33}) Dr. Friedbert Pflüger Dr. Ludger Volmer Dr. Werner Hoyer Bericht des Haushaltsausschusses ({34}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/3236 - Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Mark Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Herbert Frankenhauser Antje Hermenau b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr ({35}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet - Drucksache 15/2860 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({36}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Gert Weisskirchen ({37}), Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck ({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fortsetzung und Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo - Drucksache 15/3204 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, Christian Schmidt ({39}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Der Kosovopolitik eine Perspektive geben - Drucksache 15/3188 Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst zu einem aktuellen Vorgang im Zusammenhang mit der Berichterstattung in der heutigen Ausgabe einer großen Boulevardzeitung Stellung nehmen. Wenn eine große Boulevardzeitung über Bilder folternder deutscher Soldaten berichtet, die sie nicht kennt, die ihr nicht vorliegen und die es nach allem, was unsere Überprüfungen bis zur Stunde ergeben haben, nicht gibt, dann entlarvt das diesen angeblichen Enthüllungsjournalismus. ({0}) Es ist unfair gegenüber unseren Soldaten, die im Kosovo weiß Gott einen schweren Dienst leisten. Ich danke ausdrücklich allen Medien, die sich an dieser Kampagne nicht beteiligt oder sie richtig gestellt haben. ({1}) Allerdings kann ich mir eine Bemerkung gegenüber einer Kollegin aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht ersparen. Ich meine die Kollegin Oßwald, die mir persönlich nicht bekannt ist und die offenbar auch nichts mit Verteidigungspolitik zu tun hat. In der heutigen Ausgabe der „FAZ“ heißt es dazu: Ohne nähere Angaben zu dem Fall machen zu können, äußerte sich die Bundestagsabgeordnete Oßwald ({2}) „zutiefst entsetzt und schockiert über das unmenschliche Verhalten deutscher Soldaten“. ({3}) Die Folterbilder - die ihr nach Angaben ihres Büros aber nicht vorlagen - seien eine „Kriegserklärung an die Grundwerte der Demokratie“. Das ist eine Unverschämtheit. Sie sollte sich bei den Soldatinnen und Soldaten entschuldigen. ({4}) Ich möchte noch etwas zur Sache sagen. Es hat am Dienstag einen Anruf im Ministerium gegeben, in dem der Anrufer behauptete, er habe Bilder, die folternde deutsche Soldaten zeigten. Die zweite Version war, er kenne jemanden, der solche Bilder habe. Die dritte Version war, ihm seien Bilder per E-Mails zugegangen, die er aber für eine Fälschung halte. Aufgefordert, diese E-Mails dem Führungsstab des Heeres zur Verfügung zu stellen, hat er sich nun eingelassen, er habe diese E-Mails gelöscht. ({5}) Das ist die Basis, auf der diese ungeheuerlichen Vorwürfe erhoben werden. Dennoch habe ich nach dem ersten Anruf angeordnet, dass noch einmal alle Vorgesetzten der betreffenden Zeit befragt werden. Diese Prüfung hat bis zur Stunde nichts dergleichen ergeben und ich bin sicher, dass sie auch nichts ergeben wird. ({6}) Herr Kollege Schmidt, ich brauche auch nicht Ihre Belehrung, wie ich zu verfahren habe, zumal dann nicht, wenn ich Ihnen gestern in der Obleuterunde über diesen Vorfall berichtet habe und Ihnen gesagt habe, was ich veranlasst habe. ({7}) So viel zu einer Berichterstattung über nicht vorhandene Bilder. Im Interesse unserer deutschen Soldatinnen und Soldaten sage ich: Sie haben es nicht verdient, in dieser Weise diskreditiert zu werden. ({8}) Nun zum Thema Kosovo und zur Fortsetzung des Mandates. Das Kosovo ist, wie wir alle Mitte März dieses Jahres sehen konnten, noch sehr weit von einer sich selbst tragenden Stabilität entfernt. Eine weitere militärische Unterstützung der politischen Bemühungen um Frieden und gesellschaftliche Normalisierung ist unverzichtbar. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass das Kosovo ein failed state und damit zum Ausgangspunkt organisierter Kriminalität und regionaler Destabilisierung wird. Es gibt zur konsequenten Unterstützung des Kosovo sowie des gesamten Balkans auf dem Weg zurück nach Europa keine Alternative. Es bleibt - in anderen Worten - eine politische Gestaltungsaufgabe von historischer Dimension, der sich die internationale Gemeinschaft und gerade wir Europäer uns weiterhin stellen müssen. Die Gesamtbilanz der vergangenen fünf Jahre im Kosovo ist allerdings überwiegend positiv. Das dürfen wir trotz der Ereignisse im März dieses Jahres nicht vergessen. Der größte Teil der Flüchtlinge ist zurückgekehrt. Verwaltungsstrukturen wurden aufgebaut und Wahlen werden durchgeführt. Allerdings ist das Risiko einer Eskalation im Kosovo nach wie vor gegeben. Dadurch bleibt die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung massiv gefährdet. Nährboden für Gewalt sind die nach wie vor unbefriedigenden wirtschaftlichen Bedingungen, hohe Arbeitslosigkeit sowie insbesondere die fortbestehenden interethnischen Spannungen. Die Unruhen im März haben teilweise Zweifel geweckt, ob der aktuell verfolgte politische Ansatz, wie er in der VN-Sicherheitsresolution 1244 festgeschrieben ist, weiterhin richtig ist. Er lässt den künftigen Status des Kosovo unter Betonung der territorialen Integrität Jugoslawiens bewusst offen, definiert aber die inhaltlichen Voraussetzungen und Standards für eine mögliche spätere Entscheidung über den endgültigen Status. Ich möchte betonen: Die Erfüllung gewisser demokratischer und rechtsstaatlicher Standards muss Voraussetzung für die Eröffnung der für das Jahr 2005 vorgesehenen Statusverhandlungen bleiben. Darin sind sich die Vereinten Nationen, die NATO und die Europäische Union einig. ({9}) KFOR, die Kosovo-Forces, sind integraler Teil eines langfristig angelegten Konsolidierungskurses für das Kosovo unter Führung der Vereinten Nationen. Die KFOR-Kräfte sind unverzichtbar zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes und zur Unterstützung der im Kosovo tätigen internationalen Organisationen. Das gilt auch im Hinblick auf die im Oktober geplanten Wahlen. Aus den Unruhen im März müssen aber Konsequenzen gezogen werden, national und international. Die Zusammenarbeit zwischen den zivil Handelnden und den militärisch Handelnden muss verbessert werden. Es ist auch zwingend notwendig, die richtigen Schlussfolgerungen für die Bundeswehr zu ziehen. Wir sind mit rund 3 900 Soldatinnen und Soldaten der größte Truppensteller im Kosovo und wir haben dementsprechend eine besondere Verantwortung. Zunächst möchte ich feststellen: Durch die rasche Truppenverstärkung im März mit über 2 000 Soldaten aufseiten von KFOR, darunter 600 Soldaten der Bundeswehr aus Hagenow, ist es gelungen, die Situation zu beruhigen. Auch im Hinblick auf Presseveröffentlichungen will ich hier noch einmal ausdrücklich sagen: Vorwürfe, die Bundeswehr habe die internationale Polizei im Stich gelassen, sind nachweislich falsch und eine Herabsetzung der Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten. ({10}) Unsere Soldatinnen und Soldaten haben Menschenleben gerettet in der Stadt Prizren, und zwar in der Kirche und im Kloster. Es ist uns nicht gelungen, das Verbrennen der kirchlichen Gebäude zu verhindern. Aber es war wichtig, dass wir Menschenleben gerettet haben. ({11}) Die meisten Soldaten leisten einen hervorragenden Dienst. Es ist ihrer Professionalität und Besonnenheit zu verdanken, dass die fragile Stabilität dort überhaupt Bestand hat. Ich bin stolz auf das, was die Soldaten im Dienst für den Frieden im Kosovo tun. Auch der Deutsche Bundestag kann das sein. ({12}) Wir müssen trotzdem prüfen, was militärisch erforderlich ist. Klar ist, dass die Aufklärung durch Nachrichtendienste nicht funktioniert hat. Alle wurden durch den Umfang der ausgebrochenen Gewalttaten überrascht, nicht nur die deutschen Soldaten, sondern auch die Partnernationen bei KFOR. Dieser Mangel muss behoben werden. Klar ist auch, dass unseren Soldaten Eskalationseindämmungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle des Schusswaffengebrauchs fehlen. Es ist für die Soldaten ein nicht hinnehmbarer Umstand, dass die einzige Möglichkeit, bei einer Unruhe tätig zu werden, die Abgabe von Warnschüssen in die Luft ist, worauf die Demonstranten mit Beifall reagieren. Damit sind die Möglichkeiten der Bundeswehr erschöpft. Das heißt, die Eindämmung ziviler Unruhen bleibt natürlich vordringlich eine Polizeiaufgabe; aber KFOR kann subsidiär gefordert sein, um Demonstranten auf Distanz zu halten und Unruhen zu kontrollieren. Ich bin der Meinung - das will ich ausdrücklich betonen -, dass der Einsatz von nicht letalen Wirkmitteln in manchen Situationen unerlässlich erscheint, um massive zivile Unruhen kontrollieren zu können, ohne den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verletzen. Ich bin deshalb bestrebt, in Abstimmung mit den anderen Ressorts - die Federführung liegt beim Auswärtigen Amt die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz von solchen Mitteln, also von Reizgasen, durch die Bundeswehr zu schaffen. ({13}) Ich habe darüber hinaus angeordnet, die Anzahl der Ausstattungssätze für riot control - Unruhekontrolle -, also Schild, Stock, Helm, Körperschutzausstattung, Flammen hemmender Schutzanzug, zu erhöhen, sodass dann alle operativen Einsatzkräfte der Bundeswehr im Kosovo damit ausgestattet sind. Abschließend möchte ich betonen: Die Präsenz von KFOR ist unabdingbar. Ich bedanke mich bei den Fraktionen des Deutschen Bundestages, dass sie offenbar einen fraktionsübergreifenden Beschluss fassen. Darauf haben die Soldatinnen und Soldaten einen Anspruch. Ich danke Ihnen. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister, die Opposition erteilt Ihnen keine Belehrungen - ab und zu ist es vielleicht notwendig, dass die Opposition der Regierung Belehrungen erteilt -; allerdings bitte ich Sie darum, das umgekehrt auch nicht zu tun, vor allem bei einem so wichtigen Thema. Bei diesen Nachrichten, die ich für falsch halte, für die es meines Erachtens keinen Grund gibt und die wohl, aus welchen interessierten Kreisen auch immer, zu einer Verleumdung der Bundeswehr beitragen sollen, muss man eines schon erwarten, nämlich Aufklärung. Eigentlich wollte ich Ihnen dafür danken, dass Sie damit begonnen haben, die Dinge wirklich aufzuklären. Das ist wichtig, gerade für die Bundeswehr. An der Bundeswehr darf kein Makel bleiben. Es wird kein Makel an ihr bleiben. Die Fürsorgepflicht von uns allen und von Ihnen, Herr Bundesminister der Verteidigung, muss dazu führen - das muss ebenso klar sein -, dass diejenigen, die solche Dinge bewusst in die Welt setzen, zur Rechenschaft gezogen werden. ({0}) Ich frage mich schon, wie das sein kann. Man bekommt Informationen, nach denen es sich bei diesem Anrufer um einen ehemaligen Bundeswehrsoldaten handeln soll, der fünf Jahre lang irgendwelche Bilder irgendwo gespeichert hat. Wenn ich mich recht entsinne, ist ein Soldat dazu verpflichtet, solche Informationen, wenn er sie denn hat, sofort an seine Vorgesetzten zu melden. Er wird keine gehabt haben und daran wird es scheitern. So wie ich das sehe, ist das ganze Haus insofern einig. Wenn nun jemand einer falschen Information oder einer falschen Interpretation aufsitzt, dann sollten wir das nicht weiter vertiefen. ({1}) - Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie alle sind lange genug in diesem Hause, um zu wissen, wie jemand, der im Umgang mit Medien vielleicht noch nicht die ganz große Erfahrung hat - ({2}) - Ja. Also: Ende! Um eines möchte ich Sie doch bitten, nämlich dass Sie von Ihrem Versuch ablassen, einen parteipolitischen Streit in diese Frage hineinzubringen, obwohl Sie doch daran arbeiten sollten, dass das gesamte deutsche Parlament hinter den Soldaten steht, die im Kosovo einen schweren Dienst leisten. Sie sollten Ihre Taktik ändern. Was Sie hier versuchen, ist unwürdig. ({3}) In einem hat der Bundesminister natürlich - ich sage: natürlich - Recht. Es gibt keine Hasen auf dem Amselfeld, die Bundeswehruniform tragen. Es gibt Soldaten, die auf dem Amselfeld und im Kosovo ihren Dienst tun und die sich nach fünf Jahren da und dort fragen: Wie geht es voran? Was passiert jetzt eigentlich? Was ist unser Dienst? Dass die schrecklichen Ereignisse vom 17./18. März auch dazu führen müssen, den Kosovo in den Mittelpunkt der außenpolitischen und unserer parlamentarischen Befassung zu stellen, ist wohl wahr. Es ist ein brüchiger Friede zwischen den Ethnien. Es ist eigentlich nur ein oberflächlicher Friede. Mehr wird KFOR auch nicht leisten können. Man wird fragen müssen, ob die Ausstattung in Ordnung war, ob die Ausrichtung in Ordnung war und ob die Ausbildung ausreichend war. Der Bundesminister hat einiges dazu gesagt. Wir nehmen gern zur Kenntnis, dass das Ausführungsgesetz zum Chemiewaffenübereinkommen nicht die Notwendigkeit betrifft, Tränengas einzusetzen, um Abstand zu halten. Die Frage, die uns alle bewegt, ist: Wie kann es sein, dass es in einem so gut überwachten und so stark mit NATO-Soldaten besetzten Landstrich gelingt - offensichtlich über Handys, über die sehr viele in der männlichen Bevölkerung dort unten verfügen - einen im Ansatz offensichtlich genau vorbereiteten Plan zu entwickeln, ohne dass dieser aufgedeckt wird? Soldaten können - so sagt das der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe immer - für die Politik Zeit kaufen; sie können nicht das Problem lösen. Je länger die Zeit ist, die die Politik braucht, um ein Problem zu lösen oder zumindest zu mildern, umso schwieriger wird die Rolle der Soldaten. An diesem Punkt stehen wir seit längerem. Soldaten haben einen Anspruch darauf, zu erChristian Schmidt ({4}) fahren, was ihr Auftrag ist und dass ihr Auftrag sinnvoll ist. Da ist die Politik gefragt, nicht das Militär. Ich will das ganz ausdrücklich sagen. Hier liegt doch offensichtlich das Problem im Zusammenhang mit dem KosovoEinsatz. Wir müssen verhindern, dass die Politik hier in eine Sackgasse hineinfährt. Standards vor Status - dieses Prinzip, das UNMIK, die zivile Administration der Vereinten Nationen, entwickelt und zum Teil umgesetzt hat, führt leider dazu, dass zum Beispiel die Privatisierung von Staatsbetrieben, die für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landstrichs wichtig ist, so lange nicht stattfinden kann, wie die völkerrechtliche Statusfrage nicht geklärt ist. Sind diese Gebiete Teil Serbien-Montenegros, sind sie autonom oder sind sie unabhängig? Ich weiß sehr wohl, dass es schwierig ist, die Resolution 1244 weiterzuentwickeln. Dazu braucht man sehr viele Mitstreiter, auch solche, die in Moskau und in Belgrad sitzen. Ich weiß auch, dass sich die serbische Haltung nicht gerade günstig entwickelt. Ich kann nur hoffen, dass die Wahlen in Belgrad nicht dazu führen, dass noch extremere nationalistische Positionen im Präsidentenamt Fuß fassen. Trotzdem sind wir an einem Scheideweg angelangt und müssen von der Politik verlangen - das heißt von der internationalen Ebene, aber auch von Ihnen, Herr Bundesaußenminister, und von der Bundesregierung -, dass sie das bestehende Konzept fortentwickelt. Über wirtschaftliche, soziale und, wenn Sie so wollen, militärische Entwicklung muss dazu beigetragen werden, dass dieser Landstrich, der mit hehren Zielen und großem Aufwand befriedet werden sollte, auch wirklich befriedet wird. Dazu ist natürlich die Beteiligung der Betroffenen selbst notwendig. Ich möchte bei der Gelegenheit bei allem Respekt vor den wunderbaren Leistungen, die Bundeswehrsoldaten dort beispielsweise bei CIMIC, der zivil-militärischen Zusammenarbeit, erbringen, schon fragen, ob es der Sinn des Bundeswehreinsatzes sein kann, Infrastruktur und Gebäude, die von anderen zerstört oder niedergebrannt wurden, wieder aufzubauen. Wir müssen uns fragen, wie wir es schaffen können, dass sich die Bevölkerung vor Ort selbst verantwortlich fühlt, statt die Ersatzhandlungen durch KFOR- bzw. NATO-Truppen ebenso zu beklatschen wie das Abgeben von Warnschüssen. Sie haben ja Ihren Eindruck beschrieben. So steht auch beim Straßenbau der Pioniere der eine oder andere am Rande und klatscht Beifall. Es muss ihm gesagt werden: Du selbst bist für dein Land verantwortlich. Nachdem das multiethnische Konzept ein Stück weit gescheitert ist, müssen wir uns fragen, ob hier nicht ein anderer Ansatz nötig ist als der jetzige, der schon schwer genug umzusetzen ist. Ist es also notwendig, serbische Enklaven im kosovarischen Gebiet zu sichern und nach und nach auf eine Zusammenlegung dieser zu drängen? Solche Fragen kann die Bundeswehr nicht beantworten. Die Bundeswehr hat einen Anspruch darauf, dass ihre Tätigkeit, die sie dort schon seit fünf Jahren ausübt, gewürdigt wird. Das tun wir. Sie hat auch einen Anspruch darauf, entsprechend ausgerüstet und ausgestattet zu werden sowie rechtliche Handhaben zu erhalten, mit denen sie ihrem Auftrag nachkommen kann. Sie hat aber auch einen Anspruch darauf, dass wir nicht im Geiste auf das zehnjährige Jubiläum der Präsenz der Bundeswehr im Kosovo hinarbeiten. Vielmehr müssen wir und die Bundesregierung alles tun, damit die militärische Präsenz baldmöglichst beendet werden kann und es zu einer Konstituierung von Zivilstaatlichkeit - in welchem Rahmen auch immer - von Wirtschafts- und Sozialstrukturen kommt, die zukunftsträchtig sind. Hier liegt das eigentliche Problem. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich bei allen Fraktionen bedanken, die dem Antrag der Bundesregierung zustimmen werden. Bei den zuständigen Ausschüssen möchte ich mich für die faire und intensive Erörterung bedanken, die wir im Zusammenhang mit den Anträgen hatten. Ich kann nur nochmals unterstreichen, dass die Präsenz von KFOR und damit auch der deutschen Soldaten vor Ort unverzichtbar ist. Ich warne aber aus Ehrlichkeitsgründen davor, Kollege Schmidt, hier mit Zeithorizonten zu spielen - sosehr ich das verstehe -, deren Einforderung angesichts der Komplexität der Problematik, auch und gerade im Kosovo politisch belastbare, sich selbst tragende Lösungen zu erreichen, schlicht und einfach nicht seriös ist. Das wissen Sie auch. Ich finde es überhaupt nicht kritisierenswert, dass wir alles tun, um die Dauer der Präsenz unserer Soldaten im Kosovo möglichst kurz zu halten; aber angesichts der Problematik, die ich Ihnen gleich erläutern werde, sind kurze Fristen meines Erachtens irreal. Sollten sie sich dennoch als real erweisen, wäre die Bundesregierung sehr froh; denn das würde bedeuten, dass in dieser Region sehr schnell eine sich selbst tragende, politisch stabile Situation entstünde, was wir uns alle wünschen würden. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Na gut. ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Minister, für Ihre Großzügigkeit. Darf ich Sie fragen, ob Sie nicht bei Ihrer Rede 1999 selber mit solchen Zeitfenstern gespielt haben? Wenn Sie die Rede nachlesen würden, würden Sie genau das finden, was Sie jetzt bei anderen kritisieren.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Na gut, ich werde sie nachlesen. ({0}) - Was soll ich dazu jetzt sagen? Ich werde sie nachlesen; das verspreche ich Ihnen. Aber da Sie 1999 ansprechen, Kollege Koppelin: Ich habe, ehrlich gesagt, die Frage nicht verstanden; ({1}) das muss ich ganz ehrlich bekennen. Das kommt ja vor. Ich verstehe sie nicht, weil zwischen uns über das, was ich gerade gesagt habe, überhaupt kein Dissens besteht, zumindest im Auswärtigen Ausschuss nicht. ({2}) - Ich glaube, ich habe 1999 nicht nur eine Rede zum Kosovo gehalten. Mir geht es um etwas anderes, Herr Kollege Koppelin. Ich bin wirklich bemüht - missverstehen Sie das nicht -, zu verstehen, worauf Sie in diesem Punkt hinauswollen. Wir haben es doch heute noch immer mit den Auswirkungen des Auseinanderbrechens Jugoslawiens 1991 und gewisser politischer Entscheidungen damals zu tun. Gott sei Dank waren wir mit einer Intervention, mit einem militärischen Eingreifen erfolgreich, wobei ich mir nicht sicher bin, ob die FDP dem wirklich immer zugestimmt hat. Zum Beispiel in Mazedonien haben wir über die militärische und polizeiliche Stabilisierung heute in der Tat - hoffentlich bleibt das so - eine sich selbst tragende, stabile Situation erreicht. ({3}) Da gibt es einen engen Zusammenhang mit dem Kosovo. Die Problematik im Kosovo besteht doch auch in einer gewissen Verknotungssituation. Durch das Auseinanderbrechen Jugoslawiens sind eine ganze Fülle von Stabilisierungsaufgaben entstanden. Es gibt nur eine einzige strategische Lösung, die weder zu einem dauerhaften Einfrieren der Konflikte - was meines Erachtens immer noch die zweitschlimmste Lösung wäre - noch zu einem Übereinander-Herfallen - das wäre die schlimmste Lösung - führt. Die Situation in dieser Region ist auch dadurch bedingt, dass etwa die Balkankriege von 1912/13 durch die großen europäischen Katastrophen eingefroren wurden, auch durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Regierung unter Tito in Jugoslawien. Jetzt - man könnte fast sagen, nach einer 80-jährigen Phase des Einfrierens - sind dieselben Konflikte wieder aufgebrochen. Deswegen muss man bei der politischen Lösung die nötige Geduld aufbringen. Das kann nur bedeuten, dass auch die gesamte Region des westlichen Balkans Teil des europäischen Integrationsprozesses wird; denn ansonsten wird wieder versucht werden, die Grenzen entlang von Nationalismus und territorialen Ansprüchen durch furchtbare Gewalttaten mit der Waffe zu ziehen. Das halte ich im 21. Jahrhundert für inakzeptabel. ({4}) Unsere Soldaten leisten in dieser Region zusammen mit anderen meines Erachtens eine unverzichtbare Arbeit. Herr Kollege Schmidt, Sie haben völlig Recht: Die Soldaten haben einen Anspruch auf eine politische Perspektive. Die Ehrlichkeit gebietet aber zu sagen, dass es in dieser Region eine langfristige Perspektive ist. Ich füge hinzu: leider. Denn um einen Konsens herzustellen, brauchen wir - ich verstehe die Forderung, aber es nützt nichts, über diese Tatsache hinwegzugehen - die internationalen und die regionalen Partner. Deswegen führt im Prozess der Standardimplementierung - ob man für Unabhängigkeit, Europäisierung oder welchen Status auch immer ist - kein Weg daran vorbei, dass die Bedingungen im Land dafür geschaffen werden müssen. Ohne die gesellschaftlichen und demokratischen Bedingungen, die Achtung der Minderheiten und eine ökonomische Entwicklung wird meines Erachtens eine Statusentscheidung, egal wie sie ausfallen wird, immer auf Sand oder, noch schlimmer, auf Illusionen gebaut sein. ({5}) Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung - das ist die erste Antwort -, dass wir mit diesem Prozess vorankommen. Wir müssen die Verwirklichung der Standards auf jeden Fall verbessern. Die Ereignisse vom 17./18. März sind ein schwerer Rückschlag. Man braucht gar nicht darum herumzureden. Der UN-Sondergesandte Harri Holkeri ist vor wenigen Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Wir schulden ihm für seine Arbeit und seinen unermüdlichen Einsatz in schwierigen Zeiten großen Dank. ({6}) Jetzt muss über seine Nachfolge entschieden werden. Diese Entscheidung, die vor uns liegt, muss meines Erachtens unter dem Gesichtspunkt einer möglichst effektiven Verwirklichung der Standards getroffen werden. Die zweite Antwort. Das Jahr 2004 ist fast zur Hälfte vorbei. Die Debatten über die Statusfrage haben in den internationalen Gremien begonnen. In dieser Frage brauchen wir einen Konsens. Der Dialog zwischen Pristina und Belgrad muss Teil der Verwirklichung der Standards sein; denn jede Statusfrage bedingt letztendlich die Einbeziehung der Konfliktparteien am Boden. Das heißt, ohne die Mehrheit im Kosovo, also ohne die Kosovaren, wird es nicht gehen. Pristina und auf der anderen Seite Belgrad werden hier von entscheidender Bedeutung sein. Es wird aber auch darum gehen, einen Konsens im Sicherheitsrat zu erreichen. Das wird nicht auf Zuruf des Deutschen Bundestages geschehen. Es ist kein Geheimnis - auch darauf sollte man einmal hinweisen -, dass Russland die Entwicklung unter dem Gesichtspunkten sieht, welche Konsequenzen sich für die Unruhezonen im Kaukasus ergeben. Dort ist die Situation aufgrund des Eskalationspotenzials noch dramatischer. Die Statusfrage ist also extrem schwierig zu beantworten. Ich stimme Ihnen aber zu, dass sie beantwortet werden muss. Die Antwort wird meines Erachtens aber nur perspektivisch sein. Es wird nicht so sein, dass morgen die Unabhängigkeit ausgerufen wird oder dass das Kosovo unter serbische Kontrolle gerät. Ich glaube, beides wird nicht passieren. Wir müssen und werden auf verschiedenen Ebenen politisch agieren. Die Bundesregierung hat im Rahmen der Kontaktgruppe, der Europäischen Union, der NATO und des Sicherheitsrates alles getan und wird weiterhin alles tun, um diese Perspektive voranzubringen. Ich wiederhole: Die Entwicklung hängt auch von der Perspektive der Nachbarstaaten ab. Die Forderung nach Unabhängigkeit für das Kosovo ist kurzschlüssig. Es stellt sich die Frage, ob diese Unabhängigkeit eine stabilisierende oder eher eine destabilisierende Perspektive für die Region bedeutet. Solange nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass daraus etwa eine Destabilisierung Mazedoniens hervorgeht, halte ich Überlegungen in dieser Richtung nicht nur für nicht geeignet, sondern sogar auch für gefährlich. Ich bitte alle, die solche Überlegungen anstellen, sich dieser Konsequenzen bewusst zu sein. ({7}) Wir werden meines Erachtens an der qualitativen Statusverbesserung nicht vorbeikommen. Die notwendige Personalentscheidung ist jetzt zu treffen. Wir werden dann zusammen mit den Konfliktparteien am Boden unter Einbeziehung der Interessen von Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Serbien und Albanien einen entsprechenden Statusansatz entwickeln müssen. Dies muss im Rahmen der Kontaktgruppe unter Berücksichtigung der Frage geschehen, ob auf der Grundlage der UNResolution 1244 ein neuer Konsens erarbeitet werden kann. Ich füge hinzu, dass es sich dabei nicht um eine kurzfristige Perspektive handelt. Herr Schmidt, ich versichere Ihnen: Wir wären heilfroh - das sollte nicht Gegenstand einer parteipolitischen Kontroverse sein -, wenn wir auf einem Weg wie in Mazedonien wären. Dort können wir überwiegend zu einer Polizeimission übergehen. Aber ich glaube, das wird im Kosovo wesentlich zu früh sein. Ich wäre froh, wenn wir wie in Mazedonien sagen könnten: Das Assoziationsabkommen, das der Stabilisierung dient, ist unter Dach und Fach; der Weg nach Europa und in die euro-transatlantischen Strukturen wird energisch beschritten. Ich muss leider hinzufügen, dass wir noch nicht ganz so weit sind. Auch wenn es schmerzhaft sein mag: Bis zu einer Änderung des Bewusstseins und bis - da spielt Belgrad eine entscheidende Rolle - eine neue Form von konstruktiven Beziehungen zwischen der Mehrheit und der Minderheit im Kosovo gefunden wird - das bedeutet die Einbeziehung Serbiens; denn daran lehnt sich die serbische Minderheit im Wesentlichen an -, so lange wird eine starke Sicherheitspräsenz unverzichtbar für eine politische Lösung sein. Deswegen möchte ich mich im Namen der Bundesregierung nochmals bei allen, die unserem Antrag zustimmen werden, bedanken. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir, die FDP-Fraktion, werden heute der Verlängerung des KFOR-Mandates zustimmen. Auch aus unserer Sicht ist gegenwärtig eine weitere militärische Präsenz im Kosovo unabdingbar. Deshalb stimmen wir heute mit dem gesamten übrigen Hause zu. ({0}) Das, was am 17. März dieses Jahres im Kosovo passiert ist, bedauern wir sehr stark. Wir bedauern insbesondere, dass es deutschen Soldaten nicht gelungen ist, die Ausschreitungen dort zu verhindern. Wir haben ja insgesamt vier Regelwerke, die die Arbeit der Soldaten dort bestimmen. Wir haben das UN-Mandat, die Befassung im Bundestag von 1999, die Rules of Engagement der NATO und deutsche Ausführungsbestimmungen, genannt: Taschenkarte. Speziell nach den Ereignissen vom März dieses Jahres zeigt sich aus unserer Sicht sehr deutlich, dass offensichtlich nur zwischen den ersten drei Regelwerken eine Kongruenz besteht. Einschränkungen für deutsche Soldaten bestehen insofern, als sie teilweise gehindert werden, Dinge zu tun, die eigentlich im Rahmen ihres Auftrages notwendig wären. Ich bitte die Bundesregierung ganz herzlich, im Interesse des Auftrages, aber auch unserer Soldaten für zusätzliche Klarheit zu sorgen. Es darf nicht passieren, dass unsere Soldaten am Pranger stehen, weil eventuell Ausführungsbestimmungen unterschiedlich interpretiert werden und entsprechende Anregungen nicht gegeben werden können. Deshalb muss hier mehr Klarheit geschaffen werden. ({1}) Besonders deutlich wird hier und heute: Das Kosovo braucht nicht nur eine militärische Präsenz. Das Kosovo braucht vor allen Dingen eine politische Perspektive. ({2}) Uns allen ist klar: Die drei allgemein diskutierten Optionen, unmittelbare Unabhängigkeit, Rückkehr zu Serbien oder aber Kantonalisierung, was Desintegration bedeutet, sind in Wahrheit keine wirklichen Optionen für dieses Land. Die unausgesprochene Option Nummer vier, nämlich „Weiter so wie bisher“, ist nach unserem Dafürhalten auch keine Option, die dieses Land weiterbringt und verdient. Deshalb sagen wir: Wir brauchen eine politische Perspektive. Wir brauchen sie jetzt, in diesen Monaten, um klar zu machen, wohin der Weg führen soll. ({3}) Wir als FDP haben diesbezüglich einen eigenständigen Antrag mit einer klaren politischen Aussage, mit einer politischen Vision gestellt, nämlich mit einer EU-Treuhandschaft für das Kosovo. Das ist ein eindeutiges politisches und europäisches Signal für diese Region. ({4}) Es ist natürlich unbestritten: Standards müssen erweitert und verbessert werden; das ist keine Frage. Unbestritten ist ebenfalls: Wir müssen mit allen zur Verfügung stehenden zivilgesellschaftlichen Methoden dafür sorgen, dass im Kosovo ein Zusammenleben zwischen Serben und Kosovaren albanischer Nationalität möglich ist. Aber wir brauchen eine politische Perspektive und die lautet: Europa. Unser Vorschlag hat eine ganze Reihe von konkreten Vorteilen: Erstens. Wir beweisen damit, dass wir unsere Sonntagsreden, die sich damit befassen, wie wichtig diese Region für uns strategisch ist, ernst nehmen. Zweitens. Wir nehmen unsere eigene, selbst gesetzte europäische Sicherheitsstrategie ernst, die auch dazu Aussagen trifft. Drittens. Wir zeigen der Welt, dass wir als Europäer Verantwortung für diese europäische Region übernehmen. Dieser Vorschlag, Herr Bundesaußenminister Fischer, ist eine komplementäre Strategie zu dem Thessaloniki-Programm. Er ergänzt das Thessaloniki-Programm für den westlichen Balkan und ist deshalb wichtig. Wir sind der Meinung, dass durch ein gleichmäßiges Heranführen der gesamten Region an Europa die noch bestehenden ethnischen, nationalen und religiösen Konflikte zunehmend weniger bedeutsam werden. Das ist unsere Hoffnung. Dass es möglich ist, haben wir übrigens in Westeuropa gezeigt, das müssen wir auch in Südosteuropa durchsetzen. ({5}) Nur durch die klare politische Perspektive können Investoren, die bitter nötig sind, gewonnen werden. Last, but not least: Diese Perspektive ist aus unserer Sicht auch für Serbien der heute einzig gangbare Weg nach vorn. Wir wissen, es gibt Widerstände. Bei jeder Neuerung gibt es Widerstände, das ist völlig klar. Aber wir brauchen hier und heute ein politisches Signal. Setzen wir gemeinsam ein zweifaches Signal. Machen wir erstens deutlich, dass der Deutsche Bundestag bereit ist, weiterhin für militärische Präsenz zu sorgen, indem er Soldaten schickt und finanzielle Mittel einsetzt. Das ist notwendig und wichtig. Das zweite Signal muss eine politische Botschaft sein. Wir müssen deutlich machen, dass Europa treuhänderisch für diese Region tätig wird und wir dort eine Europäisierung wollen. Wir alle wissen, dass militärische Mittel langfristig Politik nicht ersetzen können, sie können sie nur ergänzen. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie von diesem Tag eine starke Botschaft für das Kosovo und die gesamte Region ausgehen. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wir sind uns in zwei Dingen einig: Erstens, die internationalen Sicherheitspräsenzen im Kosovo sind dringend erforderlich und, zweitens, die Lage im Kosovo ist nicht so, wie wir sie uns wünschen. Die Situation ist nicht ruhig und stabil, sondern äußerst brüchig; wir sind weit von dem Ziel selbsttragender demokratischer Strukturen und der Gewährleistung eines friedlichen Umfeldes für die Menschen entfernt. Wir sind uns darüber hinaus einig, dass die Statusfrage gelöst werden muss. Dafür haben wir allerdings keine Lösung anzubieten, die dem dringenden Handlungsbedarf entspricht. Deshalb werden wir uns darüber noch ein wenig länger unterhalten müssen. Ich denke, das ist wichtig. Vorhin wurde gesagt, dass alle von den Ereignissen des 17. und 18. März überrascht waren. Ich wundere mich über diese Überraschung. Selbst eine Organisation wie die International Crisis Group hat kurz nach dem 18. März gesagt: Wir waren überrascht. Einen Monat später hat sie jedoch einen Bericht vorgelegt, der lauter Indizien für Anspannungen und wachsende Konflikte enthalten hat. Eine Gruppe, die sich Urgent Anthropology nennt - warum sie sich so nennt, weiß ich nicht -, hat vor den Unruhen in den schwierigen Gebieten des Kosovo eine Umfrage durchgeführt. Als Ergebnis der Umfrage wurde ein tiefer Hass in der Bevölkerung konstatiert. Wir müssen daraus eine Lehre ziehen: Wir müssen ein Frühwarnsystem aufbauen. Ein solches gibt es zum Beispiel in Mazedonien. Das ist eine zivile Ebene, auf der die NGOs auf der Grundlage ihrer Kontakte versuchen, bestimmte Entwicklungen sehr schnell zu erkennen. Wir müssen aber natürlich auch entsprechend politisch handeln. Minister Struck hat gesagt, dass von der militärischen Seite reagiert wird. Das ist gut, das unterstützen wir. Bezüglich des Mandats müssen noch einmal die Rules of Engagement geprüft werden. Wir brauchen darüber hinaus natürlich - jetzt bin ich wieder bei den Informationen - eine wesentlich bessere Verknüpfung all derer, die Informationen liefern können, um das Frühwarnsystem auch nach allen Seiten absichern zu können. Das genügt aber noch nicht, es kann nicht genügen. Der Grundsatz „Lessons learnt“ besagt mehr. Es ist schon auf die „Standards before status“-Problematik hingewiesen worden. Diese Problematik ist einer der Gründe dafür, warum es dort zu keiner Konfliktlösung kommt. Das hängt aber auch noch mit anderen Dingen wie zum Beispiel der verheerenden wirtschaftlichen Situation zusammen. Die wirtschaftliche Situation ist in der Tat desolat. Innerhalb des Kosovo erfolgt eine Abwanderung in die Städte. Dort gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung, sondern eher einen Rückschritt. Aus der ungelösten Statusfrage folgt zum Beispiel die Unmöglichkeit, Privatisierungen durchzuführen. Die Privatisierung ist gescheitert. Weil die Statusfrage nicht gelöst ist und keine Privatisierung stattfinden kann, gibt es keine Investoren. Das wiederum führt zum Rückgang der Wirtschaft. Das Bruttosozialprodukt im Kosovo besteht zu 50 Prozent aus internationaler Hilfe. 30 Prozent werden von Auslandsalbanern erwirtschaftet, die wir im Übrigen immer wieder abschieben und in ihre Heimat zurückschicken, obwohl sie zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Kosovo beitragen. Auch darüber müssen wir vielleicht einmal nachdenken. Nur 20 Prozent des Bruttosozialprodukts werden im Land erwirtschaftet und nur 4 Prozent der Importe können von der eigenen Wirtschaft finanziert werden. Das ist eine desolate Situation. Die Bevölkerung dort ist jung. Die Arbeitslosenquote liegt bei 50 Prozent und jedes Jahr drängen 20 000 bis 40 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Das Ganze ist also ein Pulverfass, sodass dort hinsichtlich der sozialen und der wirtschaftlichen Entwicklung schnell etwas geschehen muss. Es gibt einen Verfall bei Bildung und Ausbildung bis hin zum wachsenden Analphabetentum. Die International Crisis Group hat in ihrem Bericht geschrieben: Wir müssen aufpassen, dass das nicht die Westbank Europas wird. ({0}) Wir müssen das ernst nehmen und dürfen die Lösung der Statusfrage, mit der sich ja alle schon beschäftigt haben, nicht wieder beiseite schieben. Herr Außenminister, ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber wir müssen diese Statusfrage so schnell wie möglich lösen. Dazu einige Zitate von Politikern aus Serbien: In dem Satz von Herrn Draskovic „Kosovo ist unser Jerusalem“ ist eine nationale Verhärtung zu spüren, die einen politischen Ansatz nur sehr schwer möglich macht. Herr Zivkovic hat vor einigen Monaten vermutet, dass junge Serben bereit seien, für das Kosovo zur Waffe zu greifen. Das ist auch ein alarmierendes Signal. Ich würde versuchen, ein solches Signal ernst zu nehmen und die Probleme schneller zu bewältigen, als die hier gezogene Linie das erwarten lässt. Herr Stinner, was Sie über das „Nach Europa holen“ sagen, klingt gut. ({1}) Ich klatsche noch nicht, denn der Teufel steckt, wie immer, im Detail. Nicht nur zu dem, was Herr Außenminister Fischer in Bezug auf Russland und die Schwierigkeiten bei der Veränderung der Sicherheitsratsresolution 1244 angedeutet hat, sondern auch zu vielen anderen Fragen müssen an dieser Stelle noch einmal Überlegungen angestellt werden. Der politische Prozess steht in der Tat auf dem Prüfstand. Wir müssen aber auch ein bisschen schneller machen, weil der Balkan brennt. Ich teile im Übrigen nicht ganz die Ansicht von Außenminister Fischer hinsichtlich der Auswirkungen der Unabhängigkeit auf Mazedonien. Ich glaube eher, dass Mazedonien sich insbesondere nach den Präsidentschaftswahlen und nachdem sich erwiesen hat, welche politische Position die Ahmeti-Partei einnimmt, in einem sehr guten, rationalen Stabilisierungsprozess befindet. Die Umsetzung der Ohrid-Modelle wird sehr ernst genommen. Deshalb glaube ich nicht, dass man sich gern ein Problemkind einhandeln würde oder dass die albanischen Gebiete zu Mazedonien streben würden. Allerdings müssen wir natürlich alle Möglichkeiten im Auge behalten, wo neue Konflikte entstehen könnten. Ich kann hierfür keine Lösung anbieten, glaube aber, dass auch Ihre Lösung nicht perfekt ist. Ich finde, wir alle sollten uns in sehr naher Zukunft gemeinsam und ernsthaft mit der Frage beschäftigen, welche Initiativen von uns bzw. der Bundesrepublik Deutschland ausgehen müssen und können; denn auch wir könnten den Sicherheitsrat auf die Notwendigkeit hinweisen, die Resolution 1244 zu verändern. Das heißt, dass wir die europäische Perspektive nicht aus den Augen lassen, dass wir vielmehr, was die Beteiligung anderer an diesem Prozess betrifft, die europäische Realität einbeziehen. Europa allein wird ihn wahrscheinlich nicht schultern können. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr zu Guttenberg.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Struck, seit eben liegt mir die Pressemitteilung der Kollegin Oßwald vor, aus der ich Ihnen vorlese: Ich bin zutiefst entsetzt und schockiert über die angeblichen Bilder von Folterungen seitens deutscher Soldaten im Kosovo. Nun lese ich Ihnen das entsprechende Zitat aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor; denn dort heißt es, dass sich die Bundestagsabgeordnete Oßwald zutiefst entsetzt und schockiert über das unmenschliche Verhalten deutscher Soldaten geäußert habe. Herr Bundesminister, das wurde von der „FAZ“ schlechterdings falsch zitiert. ({0}) Die Kollegin Oßwald spricht sich schockiert über die angeblichen Bilder und nicht über das unmenschliche Verhalten deutscher Soldaten aus. Das ist ein falsches Zitat. Daher darf ich Sie, Herr Bundesminister, bitten, Ihre Äußerungen zurückzunehmen. ({1}) Der Vollständigkeit halber und um wieder etwas Ruhe in die Debatte zu bringen, sage ich für die CDU/CSUBundestagsfraktion, dass auch wir die Verlängerung der Präsenz unserer deutschen Soldaten im Kosovo für unverzichtbar halten, allerdings ebenso die jährliche Überprüfung dieses Mandates, auch um Tendenzen entgegenzuwirken, dass wir uns - wie es aus berufenem Munde hieß - möglicherweise erneut fünf Jahre lang im Kosovo einlullen lassen. Genau deswegen halten wir diese Überprüfung für notwendig. ({2}) Wir müssen dem Eindruck entgegenwirken, mit Worten wie „Hoffnung“ und anderen Ausdrücken, die hoffentlich keine Phrasen sind, die offensichtlichen Dilemmata im Kosovo lediglich zu kaschieren. Damit geben wir unseren Soldaten noch keine Perspektive. Herr Bundesaußenminister, es ist richtig, dass es wahrscheinlich nicht gelingen wird, kurze Zeiträume anzusetzen. Trotzdem müssen wir unseren Soldaten eine Perspektive bieten, damit sie im Kosovo vertrauensvoll arbeiten können. ({3}) Ferner ist es richtig, dass unsere Soldaten dorthin geschickt werden, damit es zu einer politischen Lösung kommt. Aber sie selbst sind nicht die politische Lösung. An einer solchen politischen Lösung - Kollege Stinner hat das angesprochen - müssen wir und muss insbesondere die Bundesregierung arbeiten. Das erfordert ein substanzielles Konzept. Das, was wir heute in dieser Hinsicht gehört haben, war allerdings reichlich dünn. ({4}) Wir brauchen ein schlüssiges Konzept, das den gesamten Balkan umfasst. Hier fordere ich die Bundesregierung auf, sich stärker als bisher für die Entwicklung eines solchen Ansatzes einzusetzen, damit auch hier der Gefahr der Einlullung begegnet werden kann. Im Hinblick auf die Erfüllung der teilweise bereits genannten Standards bedarf es einer gezielteren, kohärenten Zusammenarbeit aller beteiligten Kräfte. Das haben Sie, Herr Bundesminister der Verteidigung, angesprochen. Sie haben aber nicht gesagt, wie das geschehen soll. Selbstverständlich brauchen wir in Absprache mit unseren Partnern auch eine Reform und Stärkung des europäischen Pfeilers der UNMIK, der bisher nicht der stärkste war, und eine Beschleunigung der Entscheidungsprozesse im Kosovo. Auch ist dem von Christian Schwarz-Schilling entwickelten Ansatz einer integrativen Streitbeilegung in Südosteuropa, der auf lokaler, das heißt gemeindlicher Ebene ansetzt, durchaus Beachtung zu schenken. ({5}) Herr Bundesaußenminister, machen Sie Ihren Einfluss geltend, um der Kontaktgruppe, die Sie benannt haben, den Weg zu bereiten. Einer Kontaktgruppe, die über den eigentlichen Kontakt hinaus auch konsens- und koordinierungsfähig ist. Einer Kontaktgruppe, die eben auch Russland mit ins Boot nimmt. Sie haben die entsprechenden Anbindungen gelobt, von daher müssen wir Russland auch lösungsorientiert beteiligen. ({6}) Stichwort: Europäisierung. Natürlich mag es hilfreich sein, sich der Europäisierung anzunehmen. Aber mit der Begrifflichkeit allein ist es eben nicht getan. Wir dürfen über die reine Europäisierung hinaus nicht vergessen, dass wir im Kosovo auch noch auf andere Partner angewiesen sein werden. So schön und gut Europäisierung ist - ich glaube, wir können dankbar sein, dass wir weiterhin Partner auch außerhalb der europäischen Grenzen haben wie die Vereinigten Staaten, die uns dort unter die Arme greifen und uns bei unserem europäischen Problem helfen. ({7}) Wir haben im Vorfeld der Ausschreitungen im März ein eklatantes Versagen der Aufklärung zu beklagen. Sorgen Sie vonseiten der Bundesregierung mit Ihren Partnern bitte dafür, dass die Aufklärungskomponente hinreichend vernetzt, effizient und letztlich auch entsprechend verstärkt wird, ({8}) damit solche Dinge nicht mehr vorkommen können. Herr Bundesaußenminister, setzen Sie Ihr politisches Gewicht ein, damit wir zu einer gezielten Zusammenarbeit unter Zugrundelegung erfüllbarer Standards kommen und uns letztlich - so wie Sie es richtig geschildert haben - der Statusfrage annähern. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Herr Verteidigungsminister hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet. Bitte schön, Herr Minister.

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich nehme Bezug auf den Beitrag des Kollegen Guttenberg. Ich habe aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitiert. Das Zitat lautete: Sie - Kollegin Oßwald - sei zutiefst entsetzt und schockiert „über das unmenschliche Verhalten deutscher Soldaten“. Sie haben gerade erklärt, sie habe in ihrer Presseerklärung gesagt, sie sei entsetzt über die angeblichen Folterbilder. Zunächst einmal hätte ich erwartet, dass die Kollegin, die ja irgendwo hier im Hause sein muss, hierher kommt und selbst klarstellt, dass sie über Bilder redet, die es überhaupt nicht gibt. ({0}) Das Zweite: Ich kann ja verstehen, dass man als junge Abgeordnete solche Fehler mal macht. Aber es geht hier darum, klarzustellen, dass man nicht anfangen kann, über angebliche Bilder, die man selbst nicht gesehen hat, herumzuräsonieren und deutsche Soldaten anzugreifen. ({1}) Darum geht es hier. Sie soll sich entschuldigen; dann ist die Sache erledigt. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Guttenberg, bitte.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, ich darf Sie schon bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ die Kollegin Oßwald falsch zitiert hat. ({0}) Hier handelt es sich um ein falsches Zitat. Die Frau Kollegin Oßwald hat es - laut ihrem Zitat - konkret offen gelassen. Ich bleibe dabei: So wie Sie es gebracht haben, haben auch Sie selbst die Frau Kollegin Oßwald falsch zitiert. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuweilen sind alle Augen auf den Papst gerichtet. Aber die wenigsten Botschaften des Papstes finden Gehör, selbst die richtigen nicht. Deshalb möchte ich heute in dieser Debatte Papst Johannes Paul II. zitieren. Er sagte: Das 20. Jahrhundert hinterlässt uns als Erbschaft vor allem eine Mahnung: Kriege sind häufig Ursachen weiterer Kriege, weil sie tiefe Hassgefühle nähren, Unrechtssituationen schaffen sowie die Würde und Rechte der Menschen mit Füßen treten. Sie lösen im Allgemeinen die Probleme nicht, um deretwillen sie geführt werden. Daher stellen sie sich, außer dass sie schreckliche Schäden anrichten, auch noch als nutzlos heraus. So weit der Papst. ({0}) Die PDS im Bundestag findet: Wo der Papst Recht hat, da hat er Recht. ({1}) Das trifft auch mit Blick auf den Kosovokrieg zu. Wir waren dagegen und wir bleiben dagegen. Ich möchte Sie daran erinnern: Der im Frühjahr 1999 begonnene Krieg der NATO war ein Angriffskrieg. Er wurde unter Bruch des Völkerrechts geführt. Er hat dazu beigetragen, dass sich in der Alltagssprache das schlimme Wort vom Kollateralschaden etabliert hat. Probleme gelöst hat dieser Krieg aber nicht. Für die Bundesrepublik stellte das Kosovomandat eine tief greifende Zäsur dar. Erstmals nach 1945 wurden deutsche Soldaten in einen Krieg geschickt, durch Rot-Grün und als Vorboten einer Strategie, die auf weltweite militärische Einsätze zielt. Das werden wir heute auch im Nachhinein nicht legitimieren. ({2}) Übrigens: Wir werden auch die windigen Wendungen nicht vergessen, mit denen der damalige Verteidigungsminister Scharping versuchte, den Krieg zu begründen. Wer dagegen war, wurde von Bundeskanzler Schröder ganz schnell als „fünfte Kolonne Moskaus“ diffamiert. Scharping stolperte derweil, die Probleme auf dem Balkan sind allerdings geblieben. ({3}) Es gibt Parallelen bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Auf diese Parallelen möchte ich hinweisen: Erstens. Der Marschbefehl war sehr schnell erteilt. Meist wird er ebenso flink erweitert und verlängert. Was fehlt, ist ein glaubwürdiges Ausstiegsszenario. Ich vermute inzwischen, dass es keines gibt. Jedenfalls ist mir keines bekannt. ({4}) Die Bundesregierung hat auch heute in dieser Debatte nicht den Versuch unternommen, ein solches vorzulegen, weder für den Balkan noch für Afghanistan. ({5}) Zweitens. Die nutzlosen und, wie der Papst meint, schädlichen Kriege verschlingen horrende Summen. Allein der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien verschlang 15 Milliarden Euro. Er richtete Schäden von etwa 50 Milliarden Euro an. Die Stationierung der Truppen im Kosovo hat bislang 30 bis 35 Milliarden Euro gekostet. Das macht zusammen insgesamt 100 Milliarden Euro. Sagen Sie mir, wann und wo auf dem Balkan 100 Milliarden Euro in zivile und humanitäre Projekte investiert wurden! ({6}) Sie werden es nicht können, weil das Pendel der aktuellen Politik immer mehr zugunsten des Militärs ausschlägt. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Siegfried Helias, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Helias (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003144, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht im Kosovo nicht nur um Standards und Status, es geht vor allem um die Menschen. ({0}) Vorrangig geht es um die Menschen, die in diesem Gebiet leben und die eine Existenzgrundlage und eine Lebensperspektive so bitter benötigen. Insofern kann ich den Ausführungen des Kollegen Rainer Stinner vollkommen zustimmen. ({1}) Es geht aber auch darum, den Menschen, die von der internationalen Gemeinschaft in das Kosovo entsandt wurden, um beim Wiederaufbau zu helfen, das Gefühl zu geben, dass ihre Arbeit erfolgreich ist. Dazu gehört allerdings ein schlüssiges politisches Konzept. Ein solches ist weit und breit nicht zu sehen. Wir müssen gegenwärtig nicht nur einen Stillstand in der Entwicklung feststellen; Die Menschen im Kosovo befinden sich in einer unheilvollen Abwärtsspirale. Denn auch fünf Jahre nach dem Krieg ist die Lage völlig desolat: humanitär, wirtschaftlich und politisch. Das führt zu einem beständigen Prestigeverlust der internationalen Gemeinschaft, die mit ihren Konzepten für das Kosovo schlichtweg versagt hat. Allein im Rahmen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa wurden rund 2 Milliarden Euro in den Wiederaufbau investiert oder - besser gesagt - verpulvert. Die Arbeitslosigkeit in Höhe von weit über 50 Prozent - das wurde von der Kollegin Uta Zapf bereits angesprochen - ist ein dramatischer Beweis für die Erfolglosigkeit aller bisherigen Bemühungen. Meine Damen und Herren, die unklaren politischen Vorgaben behindern die Verbesserung der ökonomischen Situation in mehrfacher Hinsicht. Wie der Kollege Christian Schmidt sagt - Kollege Stinner und Uta Zapf haben sich dem angeschlossen -, ist es nicht nur eine Frage des allgemeinen Status. Hinzu kommt, dass sich ausländische Investoren rar machen, solange sie ein staatliches Provisorium vor Augen haben. Die Privatisierung der so genannten volkseigenen Betriebe kann nicht anlaufen, solange eine gesetzliche Regelung der Ersatzansprüche von Alteigentümern aussteht. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich die UNMIK hat einfallen lassen, dass potenzielle Investoren bei der Übernahme von Unternehmen für die Altschulden haften müssen. Wer will bei diesem Zustand überhaupt noch investieren? Ohne Eigenstaatlichkeit kann das Kosovo außerdem keine Kredite aufnehmen, um Infrastrukturen aufzubauen. Aufgrund dessen hat sich im Kosovo eine allenfalls labile Dienstleistungsgesellschaft entwickelt, die ohne die hohe internationale Personalpräsenz nicht lebensfähig wäre. Produzierendes Gewerbe gibt es aufgrund der beschriebenen Lage so gut wie gar nicht. Ein Blick auf die Ein- und Ausfuhrzahlen führt zu einer weiteren Ernüchterung. So exportierte das Kosovo im Jahre 2002 Waren im Wert von 27 Millionen Euro und importierte im selben Zeitraum Güter im Wert von fast 1 Milliarde Euro. Die UNMIK ist bei wichtigen Reformen kaum vorangekommen. Steuerrecht, Handelsrecht sowie das Vollstreckungs- und Prozessrecht - alles Meilensteine für eine wirtschaftliche Entwicklung - hinken dem westeuropäischen Standard immer noch hinterher. Hier muss meiner Auffassung nach ein Umdenken beginnen. Wir müssen die Ursachen der wirtschaftlichen Misere und nicht die Symptome bekämpfen. Konkret: Zum einen müssen endlich Anreize geschaffen werden, um die Arbeit der kosovarischen Selbstverwaltung zu dynamisieren und die Arbeit der internationalen Organisationen zu professionalisieren. Geberländer, wie etwa Deutschland, können ihre weitere Unterstützung auf das so genannte State Building fokussieren eine unabdingbare Voraussetzung für ausländische Direktinvestitionen im Kosovo. Zum anderen darf sich die Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit nicht auf das Kosovo beschränken, sondern muss auch an die Adresse Serbiens gerichtet werden. Denkbar wäre beispielsweise die Einrichtung eines Ausgleichsfonds, mit dessen Hilfe man Serben entschädigt, die ihr Eigentum in mehrheitlich albanisch bewohnten Gebieten zurücklassen mussten. Zur Stabilisierung der Region benötigen wir klare politische Vorgaben und Konzepte. Dies ist in erster Linie eine Aufgabe der Bundesregierung. Die CDU/CSU wird sie bei diesen Anstrengungen unterstützen, damit die Menschen im Kosovo eine klare Perspektive haben. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Inter- nationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, Drucksache 15/3235. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3175 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zu dieser Abstimmung liegen mir 39 persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Ge- schäftsordnung - von Kolleginnen und Kollegen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie vom Kol- legen Jürgen Koppelin - vor.1) Ich bitte die Schriftführe- rinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu- nehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ich habe gerade gehört, dass an der Urne, die sich oben rechts bei der Tür „Enthaltung“ befindet, eine Schriftführerin der SPD fehlt. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kol- leginnen und Kollegen, ihre Plätze einzunehmen, damit wir mit den Abstimmungen fortfahren können. Tagesordnungspunkt 6 b: Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2860 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/3204 mit dem Titel „Fortsetzung und Anpassung der Arbeit der Internationalen Sicherheits- präsenz im Kosovo“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3188 mit dem Titel „Der Kosovopolitik eine Perspektive geben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthal- tung der FDP abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 10 auf: 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich Austermann, Friedrich Merz, Steffen Kampeter, 1) Anlagen 2 und 3 2) Ergebnis Seite 10090 weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik Haushaltssicherungsgesetz und Nachtragshaushalt jetzt - Drucksache 15/3096 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungsgesetz zur Korrektur der Bundesfinanzen notwendig - Drucksache 15/3216 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der Union, der ein totales Umsteuern in der Finanz- und Haushaltspolitik fordert. Wenn man sich die Lage im Land ansieht, dann stellt man fest, dass dies auch nötig ist. Das Land befindet sich in der schwierigsten Finanz-, Haushaltsund Arbeitsmarktkrise seit 1949. Die Verantwortung dafür trägt die rot-grüne Bundesregierung. ({0}) Das ist eindeutig zu belegen. Die Daten des Jahres 1998 wiesen alle in eine positive Richtung - was dazu führte, dass der damalige Kanzlerkandidat der SPD davon sprach, dies sei sein Aufschwung -, während heute alle signifikanten Daten in die falsche Richtung zeigen. Wir haben seit drei Jahren eine Stagnation und in diesem Jahr ein Kümmerwachstum. Wenn man sich die Situation in den Ländern ansieht, die uns umgeben, dann stellt man fest, dass dort die Wirtschaft brummt. Nur die deutsche Regierung hat Watte in den Ohren. Das Problem liegt darin, dass seit Jahren eine Vertrauen zerstörende Politik gemacht wird, ({1}) jeden Tag eine wesentliche Fehlentscheidung, ({2}) was dazu führt, dass Investoren und Konsumenten nicht mehr wissen, wohin die Entwicklung geht. Das spiegelt sich auch in den Steuereinnahmen wider. Es ist aber nicht so - wie man denken könnte -, dass die Steuereinnahmen sinken; tatsächlich verharren sie auf einem um 15 Milliarden Euro höheren Niveau als 1998. Sie steigen lediglich nicht in dem Maße an, wie es der Finanzminister in seiner euphorischen Schätzung unterstellt hat. Offensichtlich liegt es also nicht an den Einnahmen, sondern an den Ausgaben, wenn die Regierung die Probleme nicht in den Griff bekommt. ({3}) Infolge der falschen Erwartungen haben die Daten schon bei der Aufstellung des Haushalts für dieses Jahr im Sommer 2003 nicht gestimmt. Es wurden eindeutig Schätzungen unterstellt, die mit der Realität nichts zu tun haben. ({4}) Bei den Ausgaben gab es zu pessimistische und bei den Einnahmen zu optimistische Erwartungen. Das ganze Zahlengerüst, das spätestens zu Beginn dieses Jahres zusammengebrochen ist, hätte dazu führen müssen, dass man eine Remedur macht und gleichzeitig dafür sorgt, dass man den Haushalt der Situation anpasst, in der wir uns tatsächlich befinden. Nichts von dem hat der Herr Bundesfinanzminister getan, obwohl im Vermittlungsausschuss, Herr Eichel, ganz andere Daten gesetzt worden sind. Da ist beispielsweise das Thema Hartz IV auf frühestens den 1. Januar 2005 verschoben worden. ({5}) Man hätte den Haushalt anpassen müssen. Noch viele andere Entwicklungen, die im Februar 2004 erkennbar waren, als hier in dritter Lesung entschieden wurde, sind von Ihnen bei der Haushaltsaufstellung nicht berücksichtigt worden. Das hat mit Haushaltswahrheit, Haushaltsklarheit und Haushaltsvollständigkeit nichts zu tun. ({6}) Lassen Sie mich demonstrieren, in welcher Situation wir uns tatsächlich befinden, und die Situation vor der Steuerschätzung der Situation nach der Steuerschätzung gegenüberstellen. Im Vergleich mit den vorangegangenen Steuerschätzungen ist erkennbar, dass die aktuelle Steuerschätzung gegenüber den Erwartungen um 60 Milliarden Euro zurückgeblieben ist. Davon entfällt ein Minus von 40 Milliarden Euro auf den Bund, ein Minus von 20 Milliarden Euro auf die Länder und Gemeinden. Das heißt, zwei Drittel der Einbußen sind beim Bund zu verzeichnen. Wenn ich allerdings davon ausgehe, dass der Finanzminister mit dem Haushalt für dieses Jahr eine mittelfristige Planung bis zum Jahr 2008 vorgelegt hat, dann muss ich heute feststellen, dass er eine Lücke in der Größenordnung von 67 Milliarden Euro in den nächsten Jahren hat, die bis heute nicht ausgeglichen ist. ({7}) Das Loch ist damit fast doppelt so groß wie die Abweichungen, die gegenüber den bisherigen Steuerschätzungen zu verzeichnen waren. Das hat natürlich dramatische Konsequenzen. Im Jahr 2004 fehlen im Haushalt 15 Milliarden Euro. Die Kollegin Scheel von den Grünen spricht von 18 Milliarden Euro, der Finanzminister von 10 Milliarden Euro und ist wieder dabei, den Haushalt zu schönen. Nun wird man sicherlich sagen, es müsse verstärkt gespart werden werden, aber die Opposition werde das möglicherweise nicht mittragen. Ich will Ihnen dabei ein bisschen auf die Sprünge helfen und konkrete Zahlen nennen. Dieser Bundesfinanzminister ist als „eiserner Hans“ angetreten - wir haben aber gleich festgestellt, dass die Rüstung schon am ersten Tag zu rosten begonnen hat -; dann wurde er durch die UMTS-Milliarden, für die er auch nichts konnte, zum Hans im Glück. Heute ist er ein Hans Guckindieluft; er lässt die Dinge laufen. Dieser Finanzminister sagt immer wieder „Wenn nur die böse Opposition sparen würde!“ und betont, eigentlich habe er ja gespart. Ich darf die Zahlen, die der Kollege Koppelin genannt hat, noch einmal aufgreifen. In der Zeit von 1998 bis zum Ende dieses Jahres wird Finanzminister Eichel neue Schulden in Höhe von 190 Milliarden Euro aufgenommen haben. ({8}) Das bedeutet in den Folgejahren eine zusätzliche Zinsbelastung in Höhe von 9,5 Milliarden Euro. Das entspricht dem Gegenwert aller Infrastrukturprojekte, die im Bundeshaushalt vorgesehen sind. Diese Summe wird für Zinsen verschleudert, weil eine hemmungslose Schuldenpolitik betrieben worden ist. ({9}) Manch einer kann sich noch erinnern, dass der Bundesfinanzminister vor der Wahl 2002 davon sprach, die Opposition genieße gerne das süße Gift der Verschuldung. Angesichts seiner eigenen Politik müsste er eigentlich von dem süßen Gift der Schulden völlig betrunken sein. ({10}) Er verstößt dieses Jahr zum dritten Mal und im nächsten Jahr zum vierten Mal gegen die Maastricht-Kriterien. Die Stabilitätskriterien werden nicht einzuhalten sein; die Maastricht-relevanten Defizite sind offenkundig. Daran hat der Bund - das habe ich anhand der Zahlen deutlich gemacht - den wesentlichen Anteil. Es wird immer wieder auf den nationalen Stabilitätspakt verwiesen. Dieser Stabilitätspakt macht Vorgaben hinsichtlich der Schuldenaufnahme von Bund, Ländern und Gemeinden. Der Bund wollte sich auf 45 Prozent der Schulden der drei Ebenen beschränken; inzwischen trägt er zwei Drittel davon. Insofern ist allein der Bund für den Verstoß gegen den nationalen Stabilitätspakt verantwortlich. ({11}) Ich möchte noch darauf eingehen, dass mein Nachredner, Herr Eichel, uns wahrscheinlich vorhalten wird, wir hätten ihn am Sparen gehindert. ({12}) In diesem Zusammenhang kommt - wie das Ungeheuer von Loch Ness - immer wieder das Thema Eigenheimzulage zur Sprache. Herr Eichel, sind Sie bereit, den Anwesenden heute mitzuteilen, dass wir im Vermittlungsausschuss gemeinsam beschlossen haben, die Eigenheimzulage um 30 Prozent zu reduzieren, nunmehr aber die von Ihnen genannten Beträge - der eine nennt 10 Milliarden; der Bundeskanzler nennt 8,5 Milliarden und auch Sie nennen nicht die tatsächliche Zahl - nicht verfügbar sind? Es ist nicht mehr Geld verfügbar als der Betrag, der durch die Reduktion zusammenkommt; es sei denn, man greift in die Verträge mit den Häuslebauern ein. Dies aber wollen wir nicht. Ähnlich verhält es sich bei der Entfernungspauschale. Sie musste erhöht werden, weil Sie die Ökosteuer erhoben haben und die Pendler nicht über Gebühr benachteiligt werden sollten. Jetzt wollen Sie ihnen einen Teil der Entfernungspauschale wieder wegnehmen, sodass es doch zu der Belastung der Pendler durch die Ökosteuer kommt. Ist das gerecht? Dass wir zögern, einem solchen Vorhaben zuzustimmen, kann uns, glaube ich, niemand vorwerfen. Wir haben die Koch/Steinbrück-Vorschläge gemeinsam beschlossen. Was aber haben Sie gemacht? Nachdem der Beschluss gemeinsam gefasst wurde, haben Sie dem Haushaltsausschuss eine Regelung vorgelegt, in der die Kohle ausgespart wurde. Sie haben Ihre Hand dazu gereicht, dass dem Bergbau in den Jahren 2006 bis 2013 zusätzliche 17 Milliarden Euro zufließen. Wir sind dafür, die Kohlereviere dem Strukturwandel anzupassen und dem Bergbau dabei zu helfen. Angesichts der Entwicklung des Weltmarktpreises frage ich mich aber, ob Zahlungen in diesem Umfang tatsächlich notwendig sind. ({13}) Ich frage mich vor allen Dingen, ob es in dieser Lage dazu kommen muss, dass die Kohleförderung sogar angehoben wird, sodass es statt der bisherigen degressiven Linie auf einmal zu einer Stabilisierung auf hohem Niveau kommt. Sie schlagen an anderer Stelle Einsparungen vor und kündigen an, dass etwas für die Forschung und andere Bereiche getan werden muss. Ich wiederhole: Im Haushaltsausschuss sollten heute zusätzliche Kohlesubventionen in Höhe von 17 Milliarden Euro in den Jahren 2006 bis 2013 beschlossen werden. Wir haben das Gott sei Dank vertagt. Ich hoffe, dass die rot-grüne Koalition in diesem Fall noch zur Einsicht kommt. ({14}) Sie haben noch weitere Vorschläge vorgebracht, die vom Schnittblumenprivileg über die Baumschulen bis zum Katzenfutter reichten. Das waren alles Peanuts im Vergleich zu dem, was für die Kohle herausgeschmissen wird. Sie haben weitere Maßnahmen getroffen, deren Dramatik heute noch nicht zu erkennen ist. Wir sollen mit Ihnen gemeinsam eine Änderung hinsichtlich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ beschließen, die der Bundeswirtschaftsminister anstrebt, und zwar deshalb, weil er bei der Kohle aus dem Vollen schöpft. Das Ergebnis ist, dass in diesem Jahr auf Verpflichtungsermächtigungen in der Größenordnung von 264 Millionen Euro nicht zurückgegriffen werden kann. Das hat zur Folge, dass die neuen und die alten Bundesländer Mittel für die Wirtschaftsförderung in gleicher Höhe nicht zur Verfügung stellen. Alles zusammen macht das etwa 50 Prozent der Mittel für die regionale Wirtschaftsförderung aus. Das bedeutet, dass Investitionen in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, aber auch in strukturschwachen Gebieten in den alten Bundesländern, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, nicht getätigt werden können, weil Sie die Mittel für die regionale Wirtschaftsförderung zugunsten anderer Projekte dramatisch zusammenstreichen. Dass wir dies nicht mitmachen, ist ziemlich klar. ({15}) So können wir jeden Punkt genau begründen, an dem wir gesagt haben: So nicht und vor allen Dingen nicht mit uns! Sie haben des Weiteren die schlechte wirtschaftliche Lage mit dem Zusammenbruch des Konsums begründet. Aber wer macht denn den Konsum? Es ist doch unbestreitbar, dass wesentliche Teile der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes von den politischen Rahmenbedingungen abhängen; das ist doch eindeutig. Ob man einen Zickzackkurs fährt - Agenda Zickzack - oder ob man klare Bedingungen schafft, damit Investoren investieren und Konsumenten konsumieren, das ist die Frage, ob man Vertrauen in die künftige Entwicklung schafft. Insofern beeinflusst das, was die Regierung falsch macht - sie zerstört Vertrauen und bewegt sich wie ein Trampel im Konsumgarten -, wesentlich das Handeln der Menschen in Deutschland. ({16}) Sie beschließen belastende Gesetze, belasten den Kapitalmarkt und diskutieren über Steuererhöhungen. Frau Simonis hat angesichts der Aussicht, die kommende Landtagswahl in Schleswig-Holstein zu verlieren - ich freue mich schon jetzt darauf, im März nächsten Jahres dem neuen Ministerpräsidenten Carstensen die Hand zu schütteln -, ({17}) eine Panikattacke nach der anderen und macht deshalb jeden Tag einen neuen Vorschlag. So soll unter anderem die Mehrwertsteuer erhöht werden, um den Eingangsund Spitzensteuersatz zum 1. Januar 2005 zu senken. Jeden Tag gab es bis jetzt eine neue Irritation, die dazu beiträgt, dass die Menschen gar nicht mehr wissen, wo es tatsächlich langgeht. Ich habe meine Rede mit der Feststellung begonnen, dass wir uns in der schlimmsten Finanz-, Haushalts- und Arbeitsmarktkrise seit 1949 befinden. Aus dieser krisenhaften Situation kommen wir nur dann heraus, wenn wir tatsächlich umsteuern. Wir müssen einen ehrlichen Kassensturz machen, einen Nachtragshaushalt und ein Haushaltsbegleitgesetz verabschieden sowie endlich mit dem Sparen beginnen, zum Beispiel bei den Beraterverträgen, den Verfügungsmitteln und der Öffentlichkeitsarbeit. Wir müssen übrigens auch bei den Kohlesubventionen sofort umsteuern. Aber mit dieser rot-grünen Bundesregierung und insbesondere mit diesem Bundesfinanzminister ist das leider nicht zu machen. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bevor ich dem Bundesfinanzminister das Wort gebe, komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 6 a und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt. Abgegebene Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 574, mit Nein haben gestimmt 7, Enthaltungen 1. Der Antrag ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 582; davon ja: 574 nein: 7 enthalten: 1 Ja SPD Dr. Lale Akgün Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({0}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({1}) Klaus Barthel ({2}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Lothar Binding ({3}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Willi Brase Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Elvira Drobinski-Weiß Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Marga Elser Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({6}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Angelika Graf ({7}) Dieter Grasedieck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl-Hermann Haack ({8}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({9}) Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Gerd Höfer ({10}) Iris Hoffmann ({11}) Frank Hofmann ({12}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Jann-Peter Janssen Klaus-Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Dr. h.c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Heinz Köhler ({13}) Walter Kolbow Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({14}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Hilde Mattheis Markus Meckel Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Michael Müller ({15}) Christian Müller ({16}) Gesine Multhaupt Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({17}) Dietmar Nietan Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Reinhold Robbe Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({18}) Michael Roth ({19}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({20}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({21}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Horst Schild Otto Schily Horst Schmidbauer ({22}) Ulla Schmidt ({23}) Silvia Schmidt ({24}) Dagmar Schmidt ({25}) Wilhelm Schmidt ({26}) Heinz Schmitt ({27}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Brigitte Schulte ({28}) Reinhard Schultz ({29}) Swen Schulz ({30}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({31}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Reinhard Weis ({32}) Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({33}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({34}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({35}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben ({36}) Heidi Wright Manfred Helmut Zöllmer CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({37}) Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({38}) Cajus Julius Caesar ({39}) Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({40}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({41}) Dirk Fischer ({42}) Axel E. Fischer ({43}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({44}) Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Michael Glos Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger-Heinrich Haibach Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Joachim Hörster Hubert Hüppe Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Irmgard Karwatzki Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({45}) Volker Kauder Gerlinde Kaupa Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Kristina Köhler ({46}) Manfred Kolbe Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Günther Krichbaum Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Werner Kuhn ({47}) Dr. Karl A. Lamers ({48}) Helmut Lamp Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Walter Link ({49}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({50}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Stephan Mayer ({51}) Dr. Conny Mayer ({52}) Dr. Martin Mayer ({53}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Friedrich Merz Laurenz Meyer ({54}) Doris Meyer ({55}) Maria Michalk Klaus Minkel Marlene Mortler Stefan Müller ({56}) Bernward Müller ({57}) Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Bernd Neumann ({58}) Henry Nitzsche Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Melanie Oßwald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({59}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz-Xaver Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({60}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({61}) Dr. Wolfgang Schäuble Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({62}) Andreas Schmidt ({63}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Marion Seib Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Erika Steinbach Christian von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({64}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marko Wanderwitz Peter Weiß ({65}) Gerald Weiß ({66}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Matthias Wissmann Werner Wittlich Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({67}) Volker Beck ({68}) Birgitt Bender Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({69}) Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Peter Hettlich Thilo Hoppe Fritz Kuhn Undine Kurth ({70}) Markus Kurth Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({71}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Simone Probst Claudia Roth ({72}) Krista Sager Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt ({73}) Werner Schulz ({74}) Petra Selg Ursula Sowa Rainder Steenblock Jürgen Trittin Marianne Tritz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({75}) FDP Daniel Bahr ({76}) Ernst Burgbacher Helga Daub Jörg van Essen Ulrike Flach Horst Friedrich ({77}) Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({78}) Dr. Karlheinz Guttmacher Christoph Hartmann ({79}) Ulrich Heinrich Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Markus Löning Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting ({80}) Eberhard Otto ({81}) Detlef Parr Gisela Piltz Dr. Andreas Pinkwart Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Fraktionslose Abgeordnete Martin Hohmann Nein CDU/CSU Dr. Wolf Bauer Wolfgang Börnsen ({82}) Herbert Frankenhauser Willy Wimmer ({83}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele Fraktionslose Abgeordnete Petra Pau Enthalten CDU/CSU Manfred Carstens ({84}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nun hat das Wort der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel. ({85})

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat bleibt Ihnen - das werden Sie gleich noch merken - nichts erspart. Richtig ist, dass wir in einer ausgesprochen schwierigen Finanz- und Haushaltslage sind, gar keine Frage. ({0}) Aber, Herr Austermann, es bleibt dabei: Die höchste Zahl an Arbeitslosen nach der Wiedervereinigung, knapp unter 5 Millionen, gab es in Ihrer Regierungszeit. ({1}) - Das hören Sie nicht gerne. - Die höchste Nettoneuverschuldung, rund 40 Milliarden Euro, gab es ebenfalls in Ihrer Regierungszeit, und das bei einem niedrigeren Bruttoinlandsprodukt als heute. Das wollen wir wenigstens festhalten. ({2}) Das erleichtert natürlich nicht die Lösung der Probleme, die wir zweifelsfrei vor uns haben. ({3}) Eine Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik macht - nichts anderes bedeutet das, was Sie uns vorexerziert haben - in der Tat keinen Sinn; denn das hieße, so viele Schulden zu machen wie nie zuvor. Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der Anstieg der gesamtstaatlichen Verschuldung von 40 auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das Ergebnis Ihrer Politik war. Keine Umkehr heißt dann auch, dass es keine Rückkehr zu den Schattenhaushalten gibt. Damit haben wir mit dem Haushalt 1999 Schluss gemacht. ({4}) Es ist unbestritten: Die Lage ist nicht einfach. Das betrifft aber nicht nur uns, sondern auch viele andere. Ihre Beschreibung lautete: Rundherum brummt die Wirtschaft, nur in Deutschland nicht. In Deutschland hat es eine erfreuliche Aufwärtskorrektur gegeben. Aber wahr ist: Sie ist nur exportgetragen. Wahr ist auch, dass die Niederlande, unser Nachbar, eine viel schwierigere Wirtschaftslage haben. Wahr ist außerdem, dass die Wirtschaftslage in Italien eher schwieriger als bei uns ist. Also ist auch diese Beschreibung verkehrt. Wahr ist auch, dass das Haushaltsdefizit der Hälfte aller Staaten der Eurozone in laufender Rechnung oberhalb von 3 Prozent liegt. ({5}) Auch das ist keine erfreuliche Entwicklung. Es zeigt aber, dass Sie keine Berechtigung haben, unsere Probleme - bei allen Schwierigkeiten, die wir haben - als binnengemacht darzustellen, wie Sie es immer wieder versuchen. ({6}) Wir sind - das war das Ziel unserer Arbeit; es ist sicherlich nicht allein durch unsere Arbeit, aber auch nicht ohne sie geschehen - aus der Stagnation heraus. Wir haben ein Wirtschaftswachstum. Es ist höher als gedacht. Aber man muss ebenso klar sagen: Die 0,4 Prozent im ersten Quartal im Vergleich mit dem Vorquartal oder die 1,5 Prozent im Vergleich mit dem Vorjahresquartal sind fragil; denn sie sind - ich wiederhole - ausschließlich exportgetragen. ({7}) Die Entwicklung in der Binnennachfrage ist nach wie vor nicht erfreulich. Der klassische Weg „erst Export, dann Investitionen, dann Binnennachfrage“ hat bisher nicht funktioniert. Davon wird auch die Finanz- und Haushaltspolitik, die ich zu machen habe, bestimmt. Das heißt, wir werden alles unterlassen müssen - das gilt unverändert -, was den Aufschwung beeinträchtigen könnte. Ich denke, dass Christian Schütte in seinem gestrigen Kommentar in der „Financial Times Deutschland“ dazu genau das Richtige gesagt hat: Die deutsche Finanzpolitik ist gut beraten, im Moment ähnlich vorsichtig zu agieren, statt gleich die ersten Zeichen des Aufschwungs für ein Austeritätsprogramm zu nutzen. ({8}) Wir haben noch nicht den Punkt eines konjunkturellen Aufschwungs erreicht - ich sage das mit aller Klarheit; viele vertreten mit Recht diese Auffassung -, von dem an man härter konsolidieren muss, wenn man im Abschwung Defizite hat hinnehmen müssen. Ich wiederhole: Diesen Punkt haben wir noch nicht erreicht. Dafür ist der Aufschwung in der Tat zu fragil. Der Vollzug des Bundeshaushalts 2004 wird im Wesentlichen durch die konjunkturelle Entwicklung geprägt, die langsam an Fahrt gewinnt. Die Mai-Steuerschätzung zeigt - Sie haben es erwähnt - eine Mindereinnahme von 8,3 Milliarden Euro. Aufgrund des im Vermittlungsverfahren vereinbarten nicht vollständigen Vorziehens der Steuerreform haben wir auf der einen Seite zwar mehr Geld zur Verfügung; auf der anderen Seite haben wir für alle Folgejahre wegen des nicht beherzten Abbaus von Steuersubventionen Geld verloren. Dafür sind Sie verantwortlich. ({9}) Auch auf der Ausgabenseite hinterlässt die nach wie vor nicht starke Konjunktur ihre Spuren. Das heißt, wir werden bei der Arbeitslosenhilfe zusätzlich Geld drauflegen müssen, während der Zuschuss für die Bundesagentur für Arbeit nach allem, was wir erkennen können, aufrechterhalten werden kann; sie wird keinen höheren Zuschuss benötigen. ({10}) Der Bundesbankgewinn ist weitaus niedriger ausgefallen als von der Bundesbank selbst erwartet und von uns entsprechend veranschlagt. Heute gibt es keine Möglichkeit, die Nettokreditaufnahme zuverlässig zu prognostizieren. Wie ich deutlich gemacht habe, schätze ich das Risiko gegenwärtig auf 10 bis 11 Milliarden Euro. Ich will bei dieser Gelegenheit aber auch darauf hinweisen - das gehört zu den Aspekten, die ich jetzt nicht weiter bewerten will -, dass wir, was die Steuereinnahmen betrifft, per 30. April bisher nicht die prognostizierten Mindereinnahmen haben; vielmehr befinden wir uns sehr genau im Plan der Novembersteuerschätzung, allerdings mit erheblichen Schwankungen über die Monate, was einen natürlich außerordentlich vorsichtig machen muss. Deswegen bleibe ich vorsichtshalber bei dem, was die Steuerschätzer gesagt haben. Ich weise aber darauf hin, dass es nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss sein muss. Ich erinnere an das Ende des vergangenen Jahres. Herr Austermann, sechs Wochen vor Toresschluss haben Sie sich negativ um 12 Milliarden Euro verschätzt. Ich selbst habe mich sechs Wochen vor Toresschluss ebenfalls negativ verschätzt, und zwar um 5 Milliarden Euro. Es macht im Moment also wenig Sinn, über einen Nachtragshaushalt zu reden. Vernünftiger ist es, wie im vergangenen Jahr die Entwicklung genau zu beobachten und eine Entscheidung nach der Sommerpause zu treffen. ({11}) Angesichts der konjunkturellen Situation, in der wir uns befinden, bin ich strikt gegen eine hektische Verschärfung der Sparmaßnahmen, was eine zusätzliche haushaltswirtschaftliche Sperre oder ein Haushaltssicherungsgesetz bedeuten würde. ({12}) - Wir haben es nicht. Sie müssen genau darauf schauen, Herr Kampeter, was wir seit 1999 - auf die Zahlen komme ich gleich noch zurück - mit der Konsolidierung geleistet haben. Die Wahrheit ist, dass wir in den letzten zehn Jahren den Anteil des Haushalts am Bruttoinlandsprodukt von 13,5 Prozent auf 12,1 Prozent zurückgefahren haben. Das heißt, die Konsolidierung hat auf der Ausgabenseite stattgefunden. Sie vollführen mit Ihren Zahlen Taschenspielertricks, Herr Austermann. ({13}) Der Haushalt 1998 - wir haben das hier oft diskutiert; Sie wissen es - respektive der von Ihnen vorgelegte Entwurf 1999 enthielt doch gar nicht die ganze Wahrheit. Die Postunterstützungskassen waren nicht darin enthalten. Die Hilfen für die Not leidenden Länder Saarland oder Bremen waren nicht darin enthalten. Es war überhaupt kein vollständiger Haushalt. Das können Sie nicht mit einem Haushalt vergleichen, der alles ausweist, was an staatlichen Leistungen erbracht werden muss, wie das unser Haushalt tut. ({14}) Wir werden hart zu tun haben. Es wird alles geleistet werden, und zwar in Solidarität aller Kabinettskollegen. ({15}) Wir werden sowohl die 2 Milliarden Euro, um die ich den Rentenzuschuss gern gesenkt hätte, im Haushalt erwirtschaften als auch die Beschlüsse, die zu Koch/ Steinbrück gefasst worden sind, umsetzen, was nicht heißen muss, dass das genau an den vorgesehenen Stellen geschieht. Ich muss jetzt nicht über den Subventionsbegriff streiten. Wichtig ist der finanzielle Ertrag der Maßnahmen. Das wird sicherlich genau so kommen wie geplant. ({16}) Deswegen wird es kein Haushaltssicherungsgesetz geben. Herr Austermann, Sie fordern ein solches Gesetz. Es wäre schön, wenn Sie auch einmal sagen würden, was Sie damit meinen, damit die Menschen im Lande auch präzise wissen, was das heißt. ({17}) Ich weiß - Sie wissen es auch -, wie viel Geld wir den Menschen im Zuge der Gesundheitsreform inzwischen weggenommen haben. Ich weiß - Sie wissen es auch -, welche Einschränkungen wir im Zuge der Rentenreform - wenn ich mich recht erinnere, haben Sie das alles abgelehnt - kurz-, mittel- und langfristig vorgenommen haben. Ich weiß, dass wir jetzt an einem Punkt sind, an dem wir nicht immer nur auf die Kleinen schlagen dürfen. ({18}) Stellen Sie sich nicht immer vor Ihre Klientel, sondern sorgen Sie dafür, dass sie richtig dabei ist! Ich erinnere an das Thema „Gesundheitsreform und Anbieterseite“; da gibt es in Ihren Reihen ganz ähnliche Vorbehalte. ({19}) Der Kurs, den wir in 1999 eingeleitet haben, hat dazu geführt - ({20}) - Herr Koppelin, es ist doch ganz einfach zu beschreiben: Wenn wir den Kurs nicht eingeleitet hätten, hätten wir jetzt jedes Jahr mindestens 20 Milliarden Euro mehr Schulden. ({21}) Was ist nicht passiert? Was ist nicht eingetreten? ({22}) Die niedrigste Verschuldung fiel in meine Amtszeit, nämlich 1,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2000, 24 Milliarden Euro. ({23}) Eine niedrige Verschuldung des Bundeshaushalts gab es auch noch in 2001. Im vergangenen Jahr waren wir bei 3,9 Prozent und 82 Milliarden Euro. ({24}) Warum? Die Antwort ist einfach: Es hat leider - das ist traurig - drei Jahre lang Stagnation gegeben, nicht nur bei uns, ({25}) aber eben auch bei uns, mit der Folge, dass die Steuereinnahmen nicht in der erwarteten Höhe geflossen sind, mit der Folge, dass wir für den Arbeitsmarkt mehr haben ausgeben müssen. ({26}) Noch einmal: 20 Milliarden Euro mehr Schulden wären es ohne den Konsolidierungskurs, den wir 1999 eingeleitet haben. ({27}) Schauen Sie sich die Entwicklung der Zahlen an; darin liegt die Heuchelei, die Sie betreiben. ({28}) Sie sagen, die Einnahmen flössen doch; wir hätten gegenüber 1999 15 Milliarden Euro Steuereinnahmen mehr. Das ist exakt die Ökosteuer. Anderenfalls hätten wir um zwei Prozentpunkte höhere Rentenversicherungsbeiträge. ({29}) Ansonsten sind die Ausgaben im Bundeshaushalt gefallen. Das ist der Konsolidierungskurs. ({30}) Deswegen kommen Sie mit Ihrer Argumentation ganz gewiss nicht durch. Die Bundesregierung wird ihren finanz- und wirtschaftspolitischen Kurs durchhalten. ({31}) Die eingeleiteten Reformmaßnahmen brauchen natürlich Zeit, um Wirkung zu entfalten. Die langfristig angelegte Konsolidierungspolitik wird dazu beitragen. Eines ist klar: Wachstum und Konsolidierung gehören untrennbar zusammen. Es ist richtig: Es gibt kein nachhaltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen. ({32}) Aber ebenso richtig ist: Es gibt keine Konsolidierung der Staatsfinanzen ohne wirtschaftliches Wachstum. ({33}) Deswegen haben wir all die Maßnahmen eingeleitet, die mit der Agenda 2010 verbunden sind. Mal haben Sie mitgemacht; mal - das ist das Traurige bei dieser Veranstaltung - haben Sie auch wieder nur torpediert. ({34}) Nun, meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung zum Vertrag von Maastricht: Selbstverständlich werden wir alles daransetzen, die Maastricht-Kriterien im Jahre 2005 wieder einzuhalten. Ich habe gesagt: Ich kann angesichts der Steuerschätzung nicht garantieren, dass wir das bei der Haushaltsaufstellung schon leisten können. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir, wenn Sie Ihrer Verantwortung im Bundesrat nur annähernd nachgekommen wären, über diese Frage gar nicht zu reden brauchten. ({35}) Meine Vorschläge, wie man die Staatshaushalte in Ordnung bringen kann, lehnen Sie ja regelmäßig gegen die Interessen der Kommunen und der Länder ab. ({36}) - Das ist eine spannende Frage. Fragen Sie einmal Herrn Koch, ob er den Abbau von Steuersubventionen für eine Steuererhöhung hält. Bei den Koch/Steinbrück-Vorschlägen war genau das Gegenteil der Fall. ({37}) Fragen Sie einmal den Sachverständigenrat, ob er den Abbau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen hält. Fragen Sie einmal die Bundesbank, ob sie den Abbau von Steuersubventionen für Steuererhöhungen hält. Mir hat Professor Wiegard gerade noch einmal ausdrücklich erklärt: Es gibt ökonomisch keinen Unterschied zwischen der Kürzung von Finanzhilfen und dem Abbau von Steuervergünstigungen. ({38}) Meine Damen und Herren, da fängt es dann ja auf beiden Seiten an. Was Sie tun, Herr Austermann, ist nun wirklich der Gipfel der Heuchelei. ({39}) - Nein, das sage ich so. - Man kann über Ihren Vorschlag, die Kohlesubventionen noch weiter zu kürzen, reden. Das würde ich vorher aber gerne einmal schwarz auf weiß sehen. ({40}) Wir fahren übrigens die Förderung von 28 auf 16 Millionen Tonnen im Jahre 2012 herunter, und zwar ohne dass betriebsbedingte Kündigungen notwendig werden. Aber was geschah im letzten Dezember im Vermittlungsverfahren? Herr Stoiber ließ verlauten: Wenn auch nur ein einziger Cent bei den Subventionen für die Landwirtschaft weggenommen wird - also ein Bereich, der gar nicht zustimmungspflichtig ist -, ist das ganze Vermittlungsverfahren von vornherein als gescheitert anzusehen. Das war Ihre Vorgehensweise. Sie sollten also einmal über Ihre eigene politische Glaubwürdigkeit in diesem Punkt nachdenken. ({41}) Nehmen wir jetzt einmal das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen. Ich habe, wie es die Mehrheit des Bundestages dann beschlossen hat, einen nachhaltigen Abbau von Steuersubventionen in Höhe von 15,6 Milliarden Euro vorgeschlagen. Nachdem dieses Gesetz durch den Bundesrat gegangen war, sind gerade einmal 2,4 Milliarden Euro übrig geblieben. Mit anderen Worten: Es geht im Zusammenhang mit Ihrer Blockade des Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen im Bundesrat um 13 Milliarden Euro, die dem Staatshaushalt nicht zur Verfügung stehen. ({42}) Es darf nicht mehr so weitergehen, dass wir Vorschläge machen, die auch zur Sanierung der Länder- und Kommunalhaushalte beitragen, und Sie sie blockieren. Es sind nämlich keine Lösungen für die Probleme in diesem föderalen Staat mehr möglich, wenn nicht alle ihrer Verantwortung nachkommen, und zwar im Bundestag und im Bundesrat. ({43}) Aber erst blockieren, anschließend die Folgen beweinen und dabei uns die Schuld zuschieben ist der Heuchelei zu viel. Das müssen wir uns nicht gefallen lassen. Das lassen wir uns auch nicht gefallen, meine Damen und Herren. ({44})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Otto Fricke, FDP-Fraktion. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe das Gefühl, ich bin hier im falschen Film. ({0}) „Same procedure as every year“: Hans Eichel in der Rolle des James, der deutsche Wähler in der Rolle von Miss Sophie und ein Tigerkopf im Sinne einer 3-Prozent-Hürde mit einem stolpernden Finanzminister. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch einmal ehrlich: Was hier passiert, ist ritualisiert. Es ist bis ins Detail und bis hin zu den ewigen Zwischenrufen ritualisiert. Zum Thema Sparen: Sparen Sie sich doch, Herr Tauss, einmal Ihre ewigen Zwischenrufe. Das wäre auch für uns ein großer Beitrag. ({2}) Ich will gerne zugestehen, Herr Eichel, dass Sie versuchen, in eine Richtung zu gehen, die dem Haushalt hilft. Aber Sie setzen sich doch gar nicht mehr durch. Sie haben um sich herum Ihre Freunde versammelt - manchmal redet man von Parteifreunden; das ist noch viel schlimmer -, die Ihnen regelmäßig die Beine weghauen. ({3}) Das können Sie anhand des Rentenzuschusses in Höhe von 2 Milliarden Euro - Sie haben dieses Thema ja angesprochen - ganz deutlich sehen. Sie sind weg. Da stellt sich die Frage, wie wir das vor dem Hintergrund der Neuverschuldung bewerten sollen und ob die 2 Milliarden Euro nicht eher in einen Nachtragshaushalt gehören, auch wenn Sie behaupten, Sie könnten sie durch allgemeine Einsparungen irgendwie wieder hereinholen. Das beste Beispiel hat ja der Hilfsökonom Joschka Fischer abgegeben. ({4}) Was sich Joschka Fischer mit seinem Spruch, mit der Askese sei es jetzt genug, nicht nur in Bezug auf seine Person, sondern auch in Bezug auf den Haushalt erlaubt hat, ({5}) erzeugt bei den Bürgern einen bestimmten Reflex; und genau der ist das Problem. Der Bürger meint nämlich, wir müssten gar nicht sparen; denn manchmal kann er die Zusammenhänge der Milliarden von Schulden, die wir uns hier regelmäßig an die Köpfe werfen, nicht mehr erkennen. Sobald ein Politiker - gerade der Vizekanzler - sagt, wir müssten nicht mehr so sehr sparen, sagt der Bürger: Siehst du, das habe ich doch gewusst! Es ist gar nicht nötig, und wenn doch, muss es ja nicht mich kleinen Mann treffen. Herr Minister, Sie haben die Niederlande als Beispiel angeführt. Es stimmt: Nachdem Herr Zalm Sie heftigst kritisiert hat, hat er selber einmal die 3-Prozent-Hürde gerissen. Aber hier kommt jetzt der große Unterschied: Die Niederländer versuchen die drei wesentlichen Probleme - Sozialausgaben, Zinsen, Arbeitslosigkeit - in den Griff zu bekommen; die Arbeitslosigkeit haben sie bereits in den Griff bekommen. Die Lösung ist nicht eine Agenda 2010, sondern es sind harte Einschnitte. ({6}) Von solchen harten Einschnitten ist von der Regierungsseite nichts mehr zu hören, auch nicht vonseiten der dazugehörigen Fraktionen. Hier liegt der wesentliche Unterschied zu einer vorausschauenden Finanzpolitik. Sie selber haben gesagt: Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. - Das bedeutet doch, dass wir im Moment dabei sind, jedes Jahr Steuererhöhungen für unsere Kinder zu beschließen. Das kann man einfach nicht verantworten. ({7}) Was kann man dagegen machen? Wir könnten einmal mit dem Fahrrad - früher sind Sie ja noch gerne Fahrrad gefahren - in die Niederlande fahren, mit Herrn Zalm reden und uns die Situation dort anschauen. Ich sehe hier neben der Regierung auch die Gewerkschaftsvertreter. Ich sage ganz bewusst, dass ich es für richtig halte, dass es Abgeordnete gibt, die Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Aber wichtig wäre, einmal mit den Gewerkschaften zu reden und das zu erreichen, was in anderen Ländern erreicht wird, nämlich dass man beschließt, dass es keine weiteren Lohnerhöhungen gibt. Wir werden in diesem Jahr wieder erleben, dass Lohnerhöhungen von 3 oder 4 Prozent beschlossen werden, immer mit der Begründung, dass die jeweiligen Unternehmen doch so gut verdienen. Das kann nicht der Sinn des Ganzen sein. ({8}) Ich habe manchmal das Gefühl, wir machen jetzt denselben Fehler, den wir bei der Rente und im Zusammenhang mit dem Demographiewandel gemacht haben: Wir alle wissen, was am Ende rechnerisch herauskommt, aber alle tun so, als könnte man durch das Verstellen eines kleinen Schräubchens um größere Veränderungen herumkommen. Sie haben im Moment die Verantwortung; Sie sind diejenigen, die deutlich zeigen müssen, wohin der Weg geht. Jetzt zur Frage eines Nachtragshaushalts. Herr Eichel, Sie haben gesagt, wir wüssten es schließlich noch nicht so genau. ({9}) Ich gebe Ihnen Recht: Wir wissen es noch nicht genau. Das ist übrigens auch der Grund, warum die FDP ihren Antrag erst nach der Steuerschätzung eingebracht hat. Wir wissen es nur ungefähr. Wir wissen, dass es um mehrere Milliarden geht, die uns zusätzlich fehlen werden. Wir kennen die Problematik von Hartz IV, die Problematik bei der Kindererziehung der unter Dreijährigen und die Rentenproblematik, die Problematik im Zusammenhang mit der Schwankungsreserve usw. Wäre es deshalb nicht ehrlicher, jetzt einen Nachtragshaushalt aufzustellen, in dem dargestellt wird, dass es nicht so läuft, wie Sie es sich vorgestellt haben? Wenn sich dann letztendlich zeigt, Herr Eichel, dass es besser gelaufen ist als erwartet, dann brauchten Sie sich am Ende dieses Jahres nicht mit dem Nachtragshaushalt hinter dem eigentlichen Haushalt zu verstecken, sondern könnten anhand dieses Nachtragshaushalts zeigen, dass es aufwärts geht. ({10}) Was Sie jetzt machen, wird am Ende zu Folgendem führen: Sie werden - jetzt kehre ich zu dem Bild des „Dinner for One“ zurück - nicht mit Miss Sophie die Treppe hinaufgehen, sondern Sie werden vom Wähler an der untersten Stufe stehen gelassen werden. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/ Die Grünen. ({0})

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Fricke, Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, erst seit zwei Jahren im Bundestag. Deswegen ist Ihnen in den letzten zehn Jahren so manche Plänkelei im Haushaltsausschuss entgangen. Aber wenn Sie das Beispiel der Niederlande bemühen, möchte ich deutlich sagen: Die Niederlande haben in den 90er-Jahren angefangen, ihr Strukturproblem Arbeitsmarkt zu lösen. Da hat hier noch Herr Kohl regiert, unterstützt von Herrn Gerhardt, und da ist nichts passiert - um das einmal auf den Punkt zu bringen. ({0}) Herr Austermann, wir sitzen uns im Ausschuss jetzt schon seit zehn Jahren gegenüber. Ich könnte eigentlich erwarten, dass wir mit der Situation etwas aufrichtiger umgehen, als Sie es hier getan haben. ({1}) Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie andeuten, dass aufgrund der durch die Wahl des Herrn Köhler seit Sonntag veränderten Situation und damit eines in gewisser Weise veränderten politischen Vorgehens der Union jetzt die ersten Angebote bezüglich einer vernünftigen und notwendigen Zusammenarbeit im Bereich der Finanzpolitik in der Bundesrepublik Deutschland kommen. Stattdessen haben Sie hier ein buchhalterisches Klein-Klein bemüht in der Hoffnung, dass das als Finanzdebatte durchgeht. ({2}) Die wirklich dramatischen Zahlen haben Sie ausgespart. Seit 10 Jahren streiten wir darüber. In dieser Zeit haben wir drei Finanzminister und zwei Regierungen erlebt. Herr Austermann, Sie wissen so gut wie ich: Seit 30 Jahren sind die Strukturprobleme in Deutschland angehäuft worden. Das haben alle Parteien gemacht; wir haben das schon ausdiskutiert. Allein die Ausgaben für Zinsen und Alterssicherung machen 140 Milliarden Euro im Jahr aus. Das sind mehr als 60 Prozent des Bundeshaushalts. ({3}) Wenn Sie noch die Ausgaben für Investitionen und Verteidigung hinzunehmen, dann haben Sie in etwa das, was aus Steuereinnahmen finanziert werden kann. Ich wiederhole: Ausgaben für Zinsen, Rentenzuschuss, Investitionen und Ausgaben für Verteidigung können wir uns aus den Steuereinnahmen leisten. Was wir uns nicht leisten können, sind Ausgaben für Bildung, Arbeitsmarktpolitik, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Außenpolitik, für Bau und teilweise Verkehr. ({4}) Das heißt für mich, dass diese Republik schon sehr lange über ihre Verhältnisse lebt, und zwar in allen Bereichen. Nun hat Ihr Kollege Stoiber - er steht der Unionsfraktion politisch sehr nahe - deutlich gemacht, er wäre damit zufrieden, wenn alle Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland um 5 Prozent gekürzt würden. Wir hatten schon im letzten Jahr die so genannte Rasenmäherdiskussion. Erste Erfahrungen mit dem Koch/SteinbrückPapier - dieses Papier bedeutet eine Art Rasenmäher über alle Subventionen - haben gezeigt: Wenn man eine 5-prozentige Kürzung aller Ausgaben durchführt, dann verhindert man, dass in der Politik Entscheidungen getroffen werden. Man zementiert die bestehenden Verhältnisse. Das kann nicht gut sein. ({5}) Nachdem in dieser Debatte deutlich geworden ist, dass die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, nicht zukunftstauglich sind, kann man keine finanzpolitischen Vorschläge machen, die diese falschen Verhältnisse zementieren. Das ist verkehrt. Deswegen kommt eine 5-prozentige Haushaltssperre jetzt nicht mehr infrage. Den Zeitpunkt dafür haben Sie verpasst. Im letzten Jahr hätte es die Möglichkeit gegeben, dass Bundestag und Bundesrat gemeinsam eine finanzpolitische Vollbremsung hingelegt hätten - dann hätten solche Vorschläge vielleicht etwas gebracht -, wenn im Paket mitbeschlossen worden wäre, welche Strukturreformen Bund und Länder, Unionsfraktion und Koalitionsfraktionen gemeinsam anpacken. Aber das ist nicht passiert. Stattdessen haben Sie es vorgezogen, auf eine Palme hochzuklettern und jeden einzelnen Vorschlag zum Abbau von Steuersubventionen als Steuererhöhung zu diffamieren. ({6}) Sie streben doch immer die Regierungsübernahme an. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie in einigen Jahren dann vielleicht von der Palme wieder herunterklettern müssen? Es würde für Sie sehr unbequem. Wenn Sie nämlich später versuchen müssten, den Abbau von Steuersubventionen durchzusetzen, dann müssten Sie der Bevölkerung erklären, dass es sich dabei nicht um eine Steuererhöhung handelt. ({7}) Es langweilt so ungemein, ({8}) immer wieder dasselbe von Ihnen zu hören, obwohl Sie doch genau wissen, wie schwierig die Lage inzwischen ist. Sie finden eigentlich eine günstige Situation vor, die es in Deutschland noch nicht gegeben hat. Es gibt ein öffentliches Problembewusstsein. Die Umfragen zeigen, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass wir sparen müssen und dass es ganz offensichtlich ist, dass es nicht mehr so weitergeht. Die Bevölkerung stellt generell die Struktur der Bundesrepublik Deutschland infrage. Das kann man aus den Umfragen erkennen. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen und eine entsprechende Diskussion öffentlich zu führen, kommt Ihnen nichts anderes in den Sinn, als jede einzelne Maßnahme in der Hoffnung zu diffamieren, mithilfe einer Art Sonthofen-Strategie die Regierung an die Wand fahren zu lassen. Sie haben aber nicht bedacht - so kommt es mir jedenfalls vor -, was Sie, die Sie vor Kraft kaum noch laufen können, in zwei Jahren übernehmen würden. ({9}) Ein zerstörtes Land? Was haben Sie sich dabei gedacht? Wie wollen Sie von dieser Blockadepolitik, die fast schon verfassungswidrig ist, wieder wegkommen? Diese Fragen haben Sie sich offensichtlich nicht gestellt. Sie hätten noch jetzt eine Chance gehabt, Vorschläge zu machen. ({10}) Es gab für ein paar Tage die Möglichkeit, über mehrere Strukturreformen zu diskutieren und zu entscheiden. Am Beispiel Niederlande - Herr Fricke hat es erwähnt wird deutlich, wie viele Jahre es dauert, bis Strukturreformen greifen. Dass die Ergebnisse der Agenda 2010 in diesem Jahr noch nicht zu pflücken sind, ist jedem klar, der ein bisschen von der Sache versteht. Das heißt, es muss jetzt entschieden werden, was in den nächsten Jahren passieren soll. Da verweigern Sie sich wahrscheinlich noch die nächsten zwei Jahre. ({11}) Wir werden uns noch mehrere solcher Debatten anhören müssen, Herr Fricke. Es wird sich wohl nichts ändern. Schade! ({12}) Aus Machtinstinkt spielen Sie mit der Zukunft der Menschen. Sie sitzen in der Machtfalle. Sie haben im Bundesrat eine Nebenregierung gebildet, weil Sie gerne ein bisschen Macht haben wollen. Jetzt sitzen Sie in der Falle. Auf der einen Seite fordern Sie ein Haushaltssicherungsgesetz, ({13}) auf der anderen Seite blockieren Sie jeden einzelnen Schritt im Bundesrat. Im Haushaltsbegleitgesetz 2004 sind viele zustimmungspflichtige Einzelheiten enthalten. Sie hätten die Möglichkeit gehabt zuzustimmen. Wahrscheinlich wird man ein Haushaltsbegleitgesetz 2005 machen müssen. Sie wissen, wie ich darüber denke. Das Entscheidende an dieser Sache ist: Sie werden wieder blockieren; es wird wieder keinen Schritt vorangehen. Deswegen kann ich Ihren Antrag einfach nicht ernst nehmen. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSUFraktion. ({0})

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns mehrfach anhören müssen, dass wir im Bundesrat oder wo auch immer die großen Blockierer seien. ({0}) Ich bin mir ziemlich sicher, dass es selten eine so konstruktive Opposition gegeben hat. ({1}) Was wir alles in der letzten Zeit mitgetragen haben! Ich vergleiche das einmal mit 1996 - zu dieser Zeit war ich zwar noch nicht im Bundestag, aber immerhin schon im Landtag -, mit den Petersberger Beschlüssen. Da haben Ministerpräsident Schröder, Ministerpräsident Eichel und noch ein paar bekannte Persönlichkeiten - Lafontaine war, glaube ich, auch dabei ({2}) alles blockiert. Von Ihnen lasse ich mir nichts vorwerfen. Wir sind sehr konstruktiv. ({3}) Aber nun zum Tagesordnungspunkt. Sie haben bei der Steuerschätzung wieder ein Debakel erlebt. ({4}) Sie hatten, was allein den Bundeshaushalt anbetrifft, einen Einbruch von über 8 Milliarden Euro zu verzeichnen. Dies ist eine enorme Größenordnung. Nebenbei bemerkt: Das ist der komplette Haushalt des Forschungs- und Bildungshaushaltes. Dieser Haushalt umfasst 8,3 Milliarden Euro; nur um Ihnen einmal aufzuzeigen, was Ihnen durch die Lappen gegangen ist. Man muss sich fragen, warum das so ist. Sie geben den Steuerschätzern Vorgaben, wie hoch das Wachstum voraussichtlich wird. Das ist die Grundlage der Berechnung. Seit mindestens drei Jahren prognostizieren Sie jedes Jahr ein wesentlich höheres Wachstum, als es dann tatsächlich ist. ({5}) Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel aus dem Jahr 2002. In der Steuerschätzung von Mai 2002 haben Sie für das Jahr 2003 ein Wachstum von nominal 3,9 Prozent prognostiziert. Wir hatten letztes Jahr ein Minuswachstum von 0,1 Prozent; nur um einmal die Größenordnungen aufzuzeigen. Dass das zu keiner vernünftigen Haushaltspolitik führen kann, ist offensichtlich. Es ist zu fragen, warum wir jetzt und nicht erst im November, also fünf bis sechs Wochen vor Ende des Haushaltsjahres, so wie es letztes Jahr geschehen ist, einen Nachtragshaushalt fordern. Sehr geehrter Herr Minister Eichel, Sie haben gesagt, Sie hätten sich im letzten Jahr um 5 Milliarden Euro verschätzt. Sechs Wochen vor dem Jahresende ist es ziemlich einfach, sich lediglich um diese Summe zu verschätzen. Aber zu Beginn des Jahres hatten Sie sich um 20 Milliarden Euro verrechnet. ({6}) Das ist eine ganz andere Größenordnung. Sie brauchen dem Kollegen Austermann nicht zu sagen, er habe sich um 12 Milliarden Euro verrechnet - abgesehen davon, dass das nicht stimmt. Zu der Frage, warum wir jetzt einen Nachtragshaushalt fordern. Ich nenne ein weiteres Beispiel, weil es für einen normalen Menschen schwer ist, zu begreifen, was ein solcher Haushalt im Einzelnen bedeutet. Man stelle sich einmal einen Menschen mit einem Jahreseinkommen von ungefähr 22 000 Euro vor. Dummerweise sind seine 22 000 Euro schon komplett durch Zinsen, Miete, Versicherungen, Benzin und was sonst noch im täglichen Leben benötigt wird, verplant. Er hat damit gerechnet, zukünftige Ausgaben über eine Lohnsteigerung mitzufinanzieren. Sie ist leider nicht eingetreten; im Mai des Jahres weiß er das. Dann hat er eine Erbschaft in beträchtlicher Größenordnung eingeplant. Das sind Ihre Risiken, die Sie im Haushalt stehen haben. Diese Erbschaft ist dummerweise auch nicht ausgezahlt worden. Das alles weiß er im Mai. Stellen Sie sich vor, dieser Mensch sagt dann: Jetzt mache ich noch keine Neuauflage meiner Planung; das mache ich erst im November. Dann ist es zwar schon zu spät; aber das ist ja egal. Ich mache einfach die Augen zu und riskiere es. ({7}) Dass jemand in einem normalen Privathaushalt so vorgeht, ist überhaupt nicht vorstellbar. ({8}) Ich möchte ein paar Dinge Revue passieren lassen; denn Sie sagen ja, vor 1998 sei alles ganz fürchterlich und schlimm gewesen. Ich nenne Ihnen einmal den Finanzierungssaldo von 1998, der meiner Meinung nach schon damals zu hoch war: Er betrug 1998 28,9 Milliarden Euro. In Ihrem Bericht steht für das Jahr 2003 ein Finanzierungssaldo von 44 Milliarden Euro. Ich kann nur zitieren, was in Ihrem Bericht stand. Die Defizitquote nach den Maastricht-Kriterien betrug 1998 1,7 Prozent und liegt jetzt bei 3,9 Prozent. Was noch viel schlimmer ist: Die Investitionsquote lag 1998 bei 12,5 Prozent. Sie liegt jetzt bei unter 10 Prozent, nämlich bei 9,6 Prozent. Sehr geehrter Herr Eichel, da wir schon bei den Investitionen sind: Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Kanzler Schröder gesagt hat, er wolle die Investitionen in Bildung und Forschung verdoppeln. ({9}) Hier die nackten Zahlen aus dem Haushalt ({10}) - wir können ja einmal schauen -: 1998 wurden im Einzelplan 30 Investitionen in Höhe von 2,65 Milliarden Euro ausgewiesen. Im Jahr 2004 sind im Einzelplan 30 2,18 Milliarden Euro ausgewiesen. ({11}) Eine Verdoppelung ergäbe nach meiner Rechnung immer noch eine Zahl über 5 Milliarden. Selbst wenn ich die Suppenküchen - oder wie Sie das Ganztagsschulprogramm sonst auch immer bezeichnen möchten ({12}) hinzurechne, sind wir noch immer weit von einer Verdoppelung der Investitionen entfernt. ({13}) Im selben Zeitraum haben Sie die Fördermittel für Hochschulbaumaßnahmen - im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe ist das Ihre Aufgabe - um 135 Millionen Euro gekürzt. Stattdessen investieren Sie Geld in Programme, die Sie überhaupt nichts angehen, die allein die Länder etwas angehen. Das halte ich für prinzipiell falsch. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vom Herrn Tauss doch immer. Herr Kollege Tauss, bitte.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin Aigner, würden Sie konstatieren, dass sich der Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung seit 1998 um 30 Prozent erhöht hat, dass der Ansatz für die Hochschulbauförderung erheblich über dem von Ihnen verantworteten Ansatz von 1998 liegt und dass die Kürzungen des Freistaates Bayern im Bereich Bildung und Forschung dem Ausmaß an Kürzungen entsprechen, die Sie während Ihrer Regierungszeit im Bundeshaushalt vorgenommen haben, aber nicht in Korrespondenz mit dem stehen, was wir in den vergangenen Jahren in diesem Bereich geleistet haben? ({0})

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Tauss, die Istausgaben für Hochschulbaumaßnahmen betrugen 1998 920 Millionen Euro. Heute betragen sie 925 Millionen. Das ist eine wesentliche Steigerung um 5 Millionen. Sie können das im Haushalt nachlesen, ich kann es Ihnen aber auch zeigen. ({0}) - Sie haben mich gefragt, wie es ausschaut. So ist es. Ich habe von den investiven Maßnahmen gesprochen. Es gibt einen Unterschied - das sollten Sie sich einmal anschauen - zwischen investiven und konsumtiven Maßnahmen. ({1}) Herr Tauss, ich muss Sie leider darüber aufklären. Sie wollten - das haben Sie schriftlich festgehalten - die Fördermittel für investive Maßnahmen verdoppeln. Es ist ein Unterschied, ob ich die Mittel von 2,65 Milliarden Euro auf 5,3 Milliarden Euro erhöhe oder auf 2,18 Milliarden Euro - so ist es ausgewiesen - kürze. ({2}) Jetzt komme ich zu meiner Rede zurück. ({3}) - Ich habe leider nicht genügend Zeit, um alles zu sagen, was mir auf dem Herzen liegt. Interessant ist für mich nach wie vor, dass alle anderen EU-Länder an uns vorbeiziehen. Dafür sind angeblich die makroökonomischen Bedingungen veranwortlich: 9. November, Weltwirtschaft, Globalisierung, Fixschuld und was weiß ich sonst noch. Früher sagte der damalige Ministerpräsident Schröder, er müsse Bundeskanzler werden, um die makroökonomischen Bedingungen auf Bundesebene ändern zu können. Jetzt sind die makroökonomischen Bedingungen irgendwo anders schuld. Ich glaube, es liegt an der Person, die hier regiert. Das einzig Richtige wäre, aufzuhören zu regieren, damit das Land wieder vorwärts kommt. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sie haben uns, wie üblich, einen Schaufensterantrag vorgelegt. Wir erleben das in jeder Haushaltsausschusssitzung. ({0}) - Lieber Kollege Kampeter, Sie müssen sich schon einmal die Wahrheit anhören. Sie haben im Bundesrat alles Mögliche blockiert: Steuervergünstigungsabbaugesetz, Haushaltsbegleitgesetz; Sie haben es geschafft, die Gemeindefinanzreform zulasten der Kommunen zu verwässern. Auf der anderen Seite gibt es aus Ihren Reihen diverse Vorschläge: von Herrn Merz dieses komische Bierdeckelkonzept; die Kopfprämien; andere wollen das Kindergeld erhöhen usw. Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Horst Seehofer addiert die Belastung bei Umsetzung dieser Vorschläge auf eine Summe von 102 Milliarden Euro. Wie passt das denn zusammen? Erst planen Sie 102 Milliarden Euro zusätzliche Belastungen für den Bundeshaushalt und jetzt verlangen Sie ein Haushaltssicherungsgesetz. Was Sie hier treiben, ist einfach nicht mehr wahr. ({1}) Der Bayerische Ministerpräsident will eine Globalkürzung von 5 Prozent auf alles. Ich will an ein paar Beispielen deutlich machen, was das heißt. ({2}) - 5 Prozent weniger Diäten wäre weniger schlimm, lieber Kollege Fricke, als 5 Prozent weniger im Haushalt für Gesundheit und Soziale Sicherung. Dort müssten nämlich 4 Milliarden Euro eingespart werden, was eine Erhöhung um 0,4 Beitragspunkte oder Rentenkürzungen bedeuten würde. Das wäre nämlich das Ergebnis einer solchen Operation. Wenn Sie das möchten, können Sie das gerne der staunenden Bevölkerung sagen. Wir möchten das auf alle Fälle nicht. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Ferner, wollen Sie mit Ihrer Äußerung sagen, dass überall gespart werden muss, nur nicht bei den Rentnern?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie im letzten halben Jahr gelebt haben, Herr Kollege Fricke, aber wir haben den Rentnern und Rentnerinnen in dieser Republik - das ist immerhin die Generation, die unserer Generation eine deutlich bessere Ausbildung ermöglicht hat, als unsere Eltern sie genießen konnten, die dieses Land aufgebaut haben - eine ganze Menge zugemutet, damit wir für deren Enkelkinder und Töchter das finanzieren können, was die Frau Kollegin Aigner vorhin als „Suppenküchen“ diskreditiert hat, nämlich Ganztagsschulen flächendeckend einzurichten. Ich bin der Auffassung, ({0}) dass zum jetzigen Zeitpunkt eine zusätzliche Belastung der Rentner und Rentnerinnen nicht möglich ist. Das halte ich nicht für akzeptabel. Insbesondere unter den älteren Frauen gibt es viele, die nur über eine sehr kleine Rente verfügen ({1}) und Mühe haben, bis zum Monatsende mit ihrem Geld über die Runden zu kommen. Die CDU/CSU hat nicht nur in der Rentenpolitik, sondern beispielsweise auch bei der Gesundheitsreform ihre Klientel geschont, aber auf der anderen Seite eine Praxisgebühr eingeführt, wie wir sie nicht wollten. Diese ist ein Ding der Union. ({2}) Die Union hat ebenso die Privatisierung des Zahnersatzes und höhere Zuzahlungen zu verantworten. Das trifft wiederum insbesondere ältere Menschen, die öfter zum Arzt müssen, vielleicht auch dauerhaft Medikamente nehmen müssen, härter als unsereins. ({3}) Deshalb glaube ich, dass eine zusätzliche Belastung der Rentner und Rentnerinnen derzeit nicht möglich ist. ({4}) - Das freut mich. Ich danke Ihnen auch, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, diese Ausführungen zu machen. Ich könnte noch das Beispiel Wirtschaftshaushalt anführen. Hier müssten Einschneidungen bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der aktiven Arbeitsmarktpolitik erfolgen. Das wird Ihre Kolleginnen und Kollegen im Osten des Landes mit Sicherheit sehr freuen. ({5}) Sie ziehen immer gleich die Steinkohlehilfe zu Rate. ({6}) - Dazu muss ich Ihnen eines sagen, liebe Frau Kollegin Aigner. Es waren Ihr Kanzler Kohl, Ihr Minister Waigel und Ihr Wirtschaftsminister Rexrodt, die 1997 die Höhe der Kohlebeihilfen bis einschließlich 2005 festgelegt haben. Das waren nicht wir, das waren Sie. ({7}) - Degressiv, natürlich. Bei der Degression wird es auch bleiben. ({8}) Was aber bedeutet das für die Menschen vor Ort - ich komme aus einer Bergbauregion -, ({9}) die nicht mit einer Steinzeittechnologie, sondern mit einer hoch modernen Technologie leben wollen? Die CDU in Nordrhein-Westfalen will ja nicht wirklich einen Totalabbau der Steinkohlesubventionen. ({10}) - Mit Steinkohle kann man aber niemanden totschießen, lieber Herr Kollege Fricke.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage: des Kollegen Kampeter?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Ferner, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in der gestrigen Beratung des Landtages Nordrhein-Westfalen die CDU-Landtagsfraktion vorgeschlagen hat, die Kohlesubventionen zugunsten von Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung im Vergleich zum Regierungsentwurf zu halbieren? Sind Sie bereit, diesem Vorschlag der CDU-Landtagsfraktion auf Bundesebene zu folgen?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich bin nicht dazu bereit, Herr Kollege Kampeter. ({0}) Vorhin ist die Entwicklung der Kohlepreise auf den Weltmärkten angesprochen worden. Ich glaube, es war Herr Austermann. Ich habe beispielsweise von dem Umweltminister des Landes Niedersachsen - FDP - gelesen, der sogar vorgeschlagen hat, alle bestehenden Zechen offen zu halten und keine einzige mehr zu schließen. Ich glaube nicht, dass nur Ausgaben in Bildung und Forschung Zukunftsinvestitionen sind. In NordrheinWestfalen gibt es beispielsweise noch einige Zulieferbetriebe. Sie werden in Nordrhein-Westfalen wahrscheinlich auch einige Kraftwerksbauer haben. ({1}) All das hängt damit zusammen. Zu Ihrem Zwischenruf, Herr Fricke, dazu brauche man keine deutsche Steinkohle, kann ich nur sagen: Die deutsche Stahlindustrie wäre im Moment heilfroh, wenn sie deutsche Kokskohle zu vernünftigen Preisen beziehen könnte ({2}) und sie nicht zu Preisen, die deutlich über den deutschen Förderkosten liegen, auf den Spotmärkten einkaufen müsste. Ich möchte noch ein Beispiel für Ihre Unseriosität anführen. Sie haben in Ihrem Antrag die Einnahmen und Ausgaben der Jahre 1998 und 2003 gegenübergestellt. Da vergleichen Sie aber wirklich Äpfel mit Birnen; denn Sie haben sich nicht die bereinigten Ausgaben angesehen. Allein die Rentenversicherungszuschüsse sind um fast 29 Milliarden Euro höher als im Jahr 1998. ({3}) - Ja, und während Ihrer Regierungszeit sind sie von den Versicherten über Beiträge gezahlt worden. Wenn man diese Summe auf die Beiträge umlegt, entspricht dies einer Beitragserhöhung von knapp 3 Prozentpunkten. Das bedeutet also Rentenversicherungsbeiträge von knapp 22,5 Prozent statt 19,5 Prozent bzw. - andersherum ausgedrückt - eine zusätzliche Belastung für Unternehmen und Versicherte in Höhe von je 14,5 Milliarden Euro. Wenn das Ihre Politik ist, kann ich nur sagen: Prost Mahlzeit! ({4}) Ich möchte Ihnen noch einen letzten Beweis für die „Seriosität“ der CDU-Finanzpolitik geben. ({5}) Man muss sich nur einmal ansehen, was die „grandiose“ Landesregierung des Saarlandes geschafft hat. ({6}) In den Jahren 2000 bis 2004 hat der Bund dem Saarland eine Teilentschuldung von knapp 2 Milliarden Euro zukommen lassen. ({7}) Aber der Schuldenstand des Landes, werter Herr Kampeter, wird Ende dieses Jahres über 1,1 Milliarden Euro höher sein als im Jahr 1999. Das ist CDU-Finanzpolitik. Sie unterscheiden sich leider in keiner Hinsicht von Ihren Kollegen im Saarland. Daher muss ich sagen: Ihre Anträge sind Showanträge, wie Sie sie immer schon eingebracht haben. Wir werden sie ablehnen. Natürlich werden wir sie noch im Ausschuss beraten, aber sie helfen diesem Land überhaupt nicht weiter. Sie sollten sich lieber mit konstruktiven Vorschlägen beteiligen, ({8}) anstatt alles nur mies zu machen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 15/3096 und 15/3216 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts - Drucksache 15/3088 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für. Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit des Saatgutes sicherstellen - Drucksachen 15/2972, 15/3209 Berichterstattung: Abgordnete Gabriele Hiller-Ohm Ulrike Höfken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wir brauchen, ist Sicherheit - Sicherheit für unsere Bäuerinnen und Bauern; denn sie müssen wissen, was auf ihren Feldern los ist, und sie müssen entscheiden können, welche Chancen sie nutzen wollen und welche nicht. Das ist meines Erachtens keine ideologische Frage, sondern schlicht und einfach eine Frage der wirtschaftlichen Existenz. Genau deshalb bringen wir den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts ein. Hierbei geht es nicht nur darum, EU-Recht in materielles Recht umzusetzen, sondern es geht auch um den Schutz von gentechnikfreiem Anbau. ({0}) An dieser Stelle will ich nicht verhehlen, dass es Anlass gibt, die Europäische Kommission zu kritisieren, weil sie aufgrund des Drucks, der auf sie ausgeübt wurde, in Bereichen, die dringend geregelt gehören, einige Fragen offen gelassen hat. Wir sehen - auch das gehört zum Thema Sicherheit für die Landwirtschaft -, dass es derzeit wohl 33 gentechnikfreie Regionen und Landkreise in Deutschland gibt und weitere in Gründung sind. Was beweist das? Das beweist, dass sich die Landwirte sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigen und dass es Bäuerinnen und Bauern gibt, für die in der gentechnikfreien Landwirtschaft große Einkommensvorteile liegen. ({1}) - In Sachen Show kennt sich Ihr Guido ja aus. ({2}) Wahrscheinlich sind seine Schuhe mit der aufgeklebten Zahl 18 - er träumt heute noch davon, dieses Ziel eines Tages zu erreichen; aber es wird wohl nicht gelingen - in einem Heimatmuseum in einer gentechnikfreien Zone untergebracht. Da stehen sie auch gut. ({3}) Es ist doch klar, dass die Landwirte die gentechnikfreie Landwirtschaft wollen. Denn sie sehen darin Einkommensvorteile und Standortvorteile, übrigens auch im Hinblick auf den internationalen Markt. Vergessen Sie nicht: Gerade in den USA haben die Landwirte so viel Druck gemacht, dass das Thema Weizen erst einmal fallen gelassen wurde. ({4}) Meine Damen und Herren, was wir wollen, ist Transparenz und Planungssicherheit, deshalb das Gentechnikgesetz, das man angesichts der Auseinandersetzung quasi als „das Gesetz, das Frieden auf den Feldern schafft“ bezeichnen kann. ({5}) Ich möchte auf vier Punkte eingehen: die Abstandsregeln - die im Sinne einer Vorsorgepflicht zur guten fachlichen Praxis gehören -, die Haftungsfragen, ein für alle zugängliches Standortregister und eine unabhängige Begleitforschung. Bei dem Ersten ist doch eines klar: Wir brauchen Regeln für die Vorsorge, detaillierte Regeln für eine gute fachliche Praxis. Ich halte es für einen normalen Ansatz, zu sagen, dass, wer anbaut, sich auch Gedanken machen muss, wie er Auswirkungen auf die Felder, auf das Eigentum, auf die Ernte seiner bäuerlichen Nachbarn verhindern kann. ({6}) Für mich ist klar: Wir können und wollen Verunreinigungen nicht dulden. Zum Zweiten: Bei den Haftungsfragen ist für mich ganz klar: Wer Schäden verursacht, wer wesentliche Beeinträchtigungen beim Gewerbe, beim Unternehmen eines anderen verursacht, muss dafür zahlen. Deshalb ist auch klar: Wer sich für die Agrogentechnik entscheidet, muss dafür sorgen, dass Nachbarn keinen Schaden haben. Ich sage auch für die weitere Diskussion in den nächsten Tagen und Wochen: Ich denke gar nicht daran, die Folgekosten auf den Rücken der Steuerzahler abzuwälzen. ({7}) Gucken wir uns einmal Sachsen-Anhalt an: Dort hat die Landesregierung mit viel Pomp einen 300-Hektar-Anbauversuch gestartet, mit 240 000 Euro Steuergeldern für einen Haftungsfonds. Ich dachte immer, die Länder haben zu wenig Geld. Wo haben sie es denn plötzlich her? Der Haftungsfonds wird am Ende nur denjenigen nützen, die die Gentechnik verwenden. Tatsächlich soll der Fonds dazu dienen, Landwirte „einzukaufen“, die diese Agrogentechnik aussäen sollen. Wenn man diesen Haftungsfonds von Sachsen-Anhalt übrigens auf die bundesweite Mais-Anbaufläche umrechnet, wäre das eine Haftungssumme von 1,3 Milliarden Euro; das kann man sich in diesen Tagen auf der Zunge zergehen lassen. Da muss ich einmal all die, die im Bundesrat die Meinung unterstützen, wir bräuchten einen solchen Fonds, fragen: Wo bleiben eigentlich Ihre Forderungen nach Subventionsabbau? Gerade eben haben wir hier doch eloquente Forderungen zum Subventionsabbau gehört. Dann kann man einen solchen Haftungsfonds allerdings nicht unterstützen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heiderich?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Ja.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, da Sie eben die Vorschläge des Bundesrates angesprochen haben, darf ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass dieser Vorschlag eines Haftungsfonds meines Wissens von den SPD-geführten Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Rheinland-Pfalz und Bremen unterstützt worden ist, dass das keinesfalls ein Vorschlag aus unserer Richtung ist, wie Sie öfter öffentlich betonen?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Herr Heiderich, Ihre Formulierung war für mein juristisches Herz schon hinreichend präzise: Sie haben „unterstützt“ gesagt. Trotzdem kommt der Vorschlag aus Ihrer Richtung. Er wird von Sachsen-Anhalt verfolgt, die uns zeigen wollen, wie es an der Stelle geht. Wo Sie mich aber gerade auf den Haftungsfonds ansprechen, muss ich sagen: Ich sehe natürlich auch mit einiger Verwunderung, dass hier ein Fonds vorgeschlagen wird, nicht mit einer gesetzlichen Regelung, sondern mit einer Entschließung, in der es heißt: Die Hersteller sollen einen angemessenen Beitrag leisten. Welchen, war man wohl zu feige zu sagen. Den Rest soll der Bund zahlen. Ich diskutiere gerne mit Ihnen über einen Haftungsfonds, wenn die Länder ihn selber zahlen. Aber ich gebe dafür kein Geld aus. Vielleicht tun es die reichen Länder. ({0}) Ich habe zwei Punkte angesprochen. Der dritte ist das Standortregister. Ein öffentlich zugängliches Standortregister ist unabdingbar; das sagt auch das europäische Recht. Ich habe an dieser Stelle kein Verständnis für den FDP-Antrag, in dem es heißt: „Einsicht nur bei konkret begründeten Vorhaben“. Nach dem europäischen Recht brauchen wir ein Standortregister schon deshalb, um die Begleitforschung überhaupt zu ermöglichen: Man kann gemeinhin nur forschen, wenn man weiß, was wo ist und von wo wohin fliegt. Das Standortregister soll für die Bauern ein Anknüpfungspunkt für eine Auskunft sein, um auf dieser Basis zum Beispiel Schadensersatz geltend zu machen. Ich verstehe nicht, warum Sie Einsicht nur bei konkret begründeten Vorhaben gewähren wollen. Nach meinem Verständnis haben Menschen ein Recht auf Information. Ich dachte bisher immer, dass das die Bürgerrechtspartei FDP auch so sieht und sich dafür einsetzt. ({1}) Ich möchte keine Politik des Misstrauens. Genau diese wird gefördert, allen voran durch einen FDP-Landesminister aus Sachsen-Anhalt. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage: der Kollegin Happach-Kasan?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Gerne.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, teilen Sie die Einschätzung, dass denjenigen, die Begleitforschung durchführen wollen, die Sicherheit gegeben werden muss, dass die Versuche nicht zerstört werden? In welcher Weise wollen Sie das sicherstellen? Frau Ministerin, inwieweit haben Sie sich von den Zerstörungen bei Freisetzungsversuchen in Sachsen-Anhalt distanziert, bei denen Weizenpflanzen herausgerissen und Felder zertrampelt wurden? Was haben Sie dafür getan, dass so etwas in Zukunft nicht mehr geschieht?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Frau Kollegin, zu Ihrer Frage, wie die Felder geschützt werden. Auch die FDP achtet in den Sitzungen der Föderalismuskommission sehr darauf, wer welche Aufgaben hat. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass das Polizeirecht Länderaufgabe ist. Die Bundesregierung hat nicht vor, das an sich zu ziehen. ({0}) Zu Ihrer Frage, inwieweit ich mich distanziere. Ich bin lange Zeit im politischen Geschäft. Schon zu Beginn der 80er-Jahre habe ich gelernt, dass ich mich nicht von anderen distanziere, ich distanziere mich höchstens von meinen eigenen Äußerungen. Dazu habe ich in diesem Fall aber keinen Anlass. Sie haben mich nicht gefragt, ob ich mich von dem fehlgeschlagenen Anbauversuch insgesamt distanziere. Wie hätte ich auf eine solche Frage antworten sollen? Die eine Seite wollte alles geheim halten. Die Nachbarn haben sich auf das Grundgesetz und auf ihr Recht auf Eigentum, ihren eingerichteten Betrieb, berufen und wollten eine Vereinbarung treffen, die die Bauern außen vor lässt. Ich distanziere mich von keiner der beiden Seiten. Zu Ihrer Frage, wie man die Forschung sicherstellt: Auch Forschung kann nicht unter der Käseglocke stattfinden. Derjenige, der im Forschungsbereich tätig ist, muss mit den Regeln leben, die es in einem demokratischen Land gibt, und ist gut beraten, den öffentlichen Diskurs zu diesem Thema offen und ehrlich zu führen. Vielleicht wäre man gut beraten gewesen, wenn man mit einem solchen Großanbauversuch nicht ohne Wissen der Nachbarbauern begonnen hätte, wie es aus ideologischen Gründen der Fall gewesen ist. So etwas führt so weit, dass noch nicht einmal der bayerische Minister sagen kann, wo solche Versuche in Bayern stattfinden. Auch Minister Sklenar aus Thüringen weiß nicht mehr. ({1}) Man sollte sich, wenn man in diesem Bereich forscht, intelligenter anstellen, vor allem da man weiß, dass dieser Bereich in der Gesellschaft umstritten ist. Es wissen alle, welche Auswirkungen das hat. Diese Aufgabe kann ich Herrn Katzek nicht auch noch abnehmen. Zum vierten für mich wichtigen Punkt, der Begleitforschung. Begleitforschung, die diesen Namen auch verdient, heißt für mich, dass man nicht nur diejenigen versammelt, die sowieso dafür sind, sondern dass man alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligt, auch unabhängige, dass man alle Fragen von der möglichen gesundheitlichen Folge für Mensch und Tier bis hin zu Auswirkungen auf Biodiversität seriös erforscht und dass man die Diskussion - das kennen wir aus anderen Zusammenhängen - nicht zu eng führt. Wir bauen ein entsprechendes Programm auf. ({2}) Zu der von den CDU/CSU- und FDP-regierten Ländern begonnenen Blockade im Bundesrat liest man in einigen Zeitungen Berichte über all die Auswirkungen und findet Formulierungen wie „Krieg auf den Dörfern“ oder „Bauernkriege“. Das sind nur einige Überschriften. Ich sage Ihnen klar: Was wir brauchen, ist das Gegenteil, nämlich Planungssicherheit. Das ist noch milde ausgedrückt. Das, was hier unter Federführung von SachsenAnhalt angezettelt wurde, ist Chaos. ({3}) - Sehen Sie sich doch einmal die Diskussionen in Ihren Wahlkreisen an. Der Bauernverband, der das ursprünglich mitmachen wollte, fordert jetzt selber, dass die Bauern endlich Auskunft bekommen. Daran sehen Sie, was Sie verursacht haben. Ich weiß nicht, wo Sie stehen. Aber ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass Ihre Interessen mit den Interessen des Bauernverbandes und damit möglicherweise den Interessen der Bauern relativ wenig zu tun haben. Wir stehen auf alle Fälle eindeutig dafür, dass es Haftungsregeln statt einer ungerechten Kostenverteilung gibt. Wir brauchen Abstandsregeln statt misstrauisches Beäugen an den Grundstücksgrenzen. Wir brauchen Standortregister statt Geheimniskrämerei und wir wollen eine umfangreiche Begleitforschung, statt die Ergebnisse der Wissenschaft dem Zufall zu überlassen. ({4}) Das alles dient am Ende der Sicherheit der Bäuerinnen und Bauern und dem Schutz der Gesundheit der Menschen und der Umwelt. Wir brauchen eine zügige Umsetzung dieses Gesetzes. Deshalb erwarte ich von der Opposition - das sage ich ganz klar -, dass Sie Ihre doppelzüngige Politik in diesem Bereich aufgeben. Einmal tun Sie so, als schützten Sie die Bauern, dann reiten Sie wieder mit eifrigem Galopp durch die Säle. Versuchen Sie nicht, an dieser Stelle zu blockieren. Ich sage Ihnen voraus: Gelingen wird es Ihnen sowieso nicht. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe aufmerksam zugehört und hatte die Erwartung, dass wir endlich einmal die Chance für eine der schwierigen Angelegenheit angemessene sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Grüne Gentechnik haben. Ich bin leider wieder enttäuscht worden. Wenn Sie sich die Verlautbarungen der verschiedenen Regierungsmitglieder in den letzten Wochen und Monaten zum Thema Grüne Gentechnik vor Augen halten und wenn Sie die Ankündigungen und die tatsächlichen Gesetzestexte gegenüberstellen, dann wird deutlich: Die Diskussionsgrundlage zur Grünen Gentechnik, die vonseiten der Regierung geboten wird, ist an Widersprüchlichkeit und vor allem an Scheinheiligkeit nicht mehr zu überbieten. ({0}) Ich will Ihnen das auch begründen: Es ist von den Erprobungsanbauten in einigen Ländern - übrigens nicht nur unionsregierte, sondern auch SPD-regierte Länder gesprochen worden. Sie werden von der Ministerin in übelster Weise kritisiert und an den Pranger gestellt. Tatsache ist erstens, dass der Bundeskanzler höchstpersönlich im Jahre 2000 bei der EXPO groß angelegte bundesweite Erprobungsanbauten angekündigt hat. Tatsache ist auch, dass wir bis heute auf die Umsetzung dieser Ankündigung warten. Zweitens. Tatsache ist, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten in den EU-Koexistenzleitlinien aufgefordert werden, derartige Erprobungsanbauten durchzuführen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dies bisher nicht getan, obwohl völlig unumstritten ist, dass derartige Erprobungsanbauten notwendig und sinnvoll sind, um Erfahrungen im Miteinander und Nebeneinander unterschiedlicher Anbauformen, in der so genannten Koexistenz, zu sammeln. Drittens ist Tatsache - auch dies wird von der Regierung verschwiegen -, dass das Bundessortenamt, eine dem Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft unterstehende Bundesbehörde, die entsprechende Maissorte unabhängig davon zum Anbau genehmigt hat, wann, von wem und wo sie angebaut wird. Viertens ist Tatsache, dass vom Robert-Koch-Institut - einem Institut, das dem Bundesgesundheitsministerium untersteht - die Genehmigung zur Inverkehrbringung erteilt wird. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich all das anschauen, dann erkennen Sie, dass hier nichts anderes getan wird, als auf einer völlig sauberen rechtlichen Basis das zu vollziehen, was möglich und notwendig ist, um die Erfahrungen dafür zu sammeln, mit der Grünen Gentechnik wirklich verantwortungsvoll umzugehen, und um eine richtige und fundierte rechtliche Grundlage zu schaffen. ({1}) Ich sage: Wenn dies endlich so getan wird - die Bundesregierung hatte sich bislang verweigert -, dann sollte man das nicht kritisieren. Man sollte die Leute, die die Verantwortung dafür haben, nicht an den Pranger stellen, sondern man sollte sie unterstützen. Man sollte dankbar dafür sein, dass dies in die Hand genommen wird. Nun zu den Fragen der Geheimhaltung. Frau Ministerin, ein Stück weit tragen Sie selber die Verantwortung dafür - und zwar ganz gewaltig -, dass Sie die Beschädigungen an den Feldern toleriert, sich nicht davon distanziert und sie nicht kritisiert haben. ({2}) Sagen Sie bitte: Warum haben Sie eigentlich so lange gebraucht, um die EU-Freisetzungsrichtlinie umzusetzen? Die Freisetzungsrichtlinie, die mit diesem Gesetz umgesetzt wird und in der das Standortregister und die Meldepflicht verankert sind, weil sie EU-rechtlich vorgeschrieben sind, ist im Frühjahr 2001 verabschiedet worden. Heute sind wir im Frühjahr 2004, Frau Minister. Drei Jahre haben Sie nichts gemacht, und jetzt beklagen Sie sich, dass die rechtlichen Grundlagen dafür fehlen. ({3}) Die Frist für die Umsetzung - das wäre Oktober 2002 gewesen - ist sogar schon abgelaufen. ({4}) Wenn Sie die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt hätten, hätten wir heute eine Meldepflicht, die Standortregister, Transparenz und keine Geheimhaltung, die Sie immer beklagen. ({5}) Nun will ich zu den Widersprüchen im Gesetzentwurf selber ein paar Sätze sagen. In Ihrem eigenen Gesetzentwurf schreiben Sie in § 1, dass der Zweck dieses Gesetz unter anderem die Förderung der Grünen Gentechnik ist. ({6}) Die einzelnen Vorschriften gestalten Sie jedoch mit einer überbordenden Bürokratie und mit Haftungsregeln aus, die dazu führen, dass das Ganze behindert, wenn nicht sogar verhindert wird. Das heißt, Sie machen das pure Gegenteil von dem, was Sie in § 1 erklären. ({7}) Das ist natürlich ganz praktisch, weil Sie dann gegenüber Wissenschaftlern und in Sonntagsreden den § 1 zitieren können. Auch können Sie den Bundeskanzler zitieren, der das Jahr 2004 zum Jahr der Innovation ausgerufen hat. In diesem Jahr der Innovation aber werden der Forschungsetat gekürzt und durch ein Gesetz wie dieses die Grundlage für Forschung und Entwicklung im eigenen Land nicht verbessert, sondern verschlechtert. Ich wünsche mir sehr, dass wir diese Diskussion mit Sachargumenten und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die uns allen vorliegen, führen. Ich wünsche mir, dass das Ganze ohne ideologische Verblendung stattfindet. ({8}) Ich wünsche mir auch, dass der Beitrag der Grünen Gentechnik für Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft und Umwelt, der unumstritten ist, nicht nur bei uns, sondern auch in der Dritten Welt einbezogen wird. Es kommt nicht von ungefähr, dass die FAO, die UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung, erst in den letzten Wochen in ihrem Bericht deutlich machte, welchen positiven Beitrag die Grüne Gentechnik gerade auch für die Landwirtschaft in der Dritten Welt leisten kann und leisten wird. ({9}) Natürlich will ich, dass auch die kritischen Bemerkungen in diese Diskussion einfließen. Aber sie müssen alle einfließen und abgewogen werden. Uns geht es nicht darum, dass die Grüne Gentechnik die ökologische und die konventionelle Landwirtschaft oder die klassische Pflanzenzüchtung ersetzt, sondern wir wollen eine sinnvolle Ergänzung der bisherigen Anbauformen erreichen. ({10}) Daraus resultieren die Anforderungen an dieses Gesetz, erstens Koexistenz aller Anbauformen, zweitens echte Wahlfreiheit für die Verbraucher und die Landwirte, drittens keine überflüssige Bürokratie und viertens wirkliche Rechtssicherheit. ({11}) Rechtssicherheit und Planungssicherheit, Frau Minister, taugen nicht nur als Überschrift, sondern sie müssen tatsächlich für die Verbraucher, die Landwirte, die Produzenten, die Wissenschaftler und für alle gelten, die auf diesem Feld arbeiten. Sie alle brauchen dringend Planungs- und Rechtssicherheit. Dem wird der Gesetzentwurf, mit Verlaub, nicht gerecht. Mit diesem Gesetzentwurf ist ein Aufblähen der Bürokratie verbunden. Es wird zu mehr Verunsicherung und damit zu keiner Rechtssicherheit kommen. Die Haftungsregelungen sind willkürlich. ({12}) Es wird nicht gefördert, sondern behindert und verhindert. Deshalb muss der Gesetzentwurf zwingend nachgebessert werden, ({13}) insbesondere in den Fragen der Bürokratie und der Haftung sowie bei der Möglichkeit, den Probeanbau nicht nur zuzulassen, sondern auch wissenschaftlich zu begleiten. ({14}) Es ist schon interessant: Als der Gesetzentwurf vor einigen Monaten im Kabinett eingebracht und öffentlich diskutiert wurde, las man in der Zeitung „Die Zeit“ in einem Artikel über diesen Gesetzentwurf - ich zitiere -: … mit bürokratischen Bremsmanövern allein lässt sich die Zukunft nicht gewinnen. Ich glaube, treffender kann man dieses Gesetz nicht charakterisieren. Lassen Sie uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass wir die Bürokratie in diesem Gesetz und die Bremsklötze beseitigen und die Grundlage dafür schaffen, anhand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir haben, unter Berücksichtigung aller Argumente dafür und dagegen eine sinnvolle Regelung zu finden, auf deren Grundlage wir die Chancen, die die Grüne Gentechnik für die Gesundheit und die Ernährung der Menschen, für die Landwirte, für die wirtschaftliche Entwicklung und für die Innovation in unserem Land bietet, wirklich sinnvoll nutzen können. ({15}) Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beobachten in Fragen der Gentechnologie eine große Verunsicherung. Zum einen lehnen viele Menschen gentechnisch veränderte Lebensmittel ab und fragen daher, warum die unerwünschten gentechnisch veränderten Pflanzen in den Anbau kommen sollen; zum anderen sind aber auch die Bäuerinnen und Bauern verunsichert, da sie, selbst wenn sie selber nicht auf die neuartigen Saatgutangebote zugehen wollen, durch Pollenflug, Aussamung und Vermischung bei Ernte und Transport davon betroffen sein könnten. Das ist ein Zitat aus einem der vielen Schreiben, die wir dieser Tage bekommen. Ich wollte heute nicht über Ideologie sprechen. Das ist Aufgabe der CDU/CSU und der FDP. ({0}) Das ist kein Schreiben von einer ökoradikalen Splittergruppe, sondern dieses Schreiben haben die westfälischen Bundestagsabgeordneten vom Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, erhalten. ({1}) Er hat den Beschluss der Landessynode aus dem letzten Jahr beigefügt, der seinen Gipfel darin findet, auf dem Ackerland der Kirche keinen Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zuzulassen. ({2}) Ich halte diesen Beschluss für richtig, denn auch meine Skepsis bleibt. Die gentechnische Veränderung von Pflanzen ist ein Eingriff in die Evolution, dessen Auswirkungen wir nur sehr schwer beurteilen können, vor allem, wenn wir zum Beispiel ein Gen aus einem Bodenbakterium ausbauen und in eine höhere Pflanze übertragen. Das ist ein Prozess, der in der Natur wahrscheinlich nie vorkommen wird. Wenn er vorgekommen ist oder vorkommt, dann ist das unproblematisch, weil es sich um einen Einzelfall handelt. Wenn aber Myriaden von gezielt veränderten Pflanzen auf einem Feld stehen, dann hat das eine vollkommen andere Qualität. Wir wissen letztlich nicht, was über die Jahre betrachtet an Problemen entstehen kann. Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten der Befürworter der Grünen Gentechnik. Die tauschen wir regelmäßig aus: Hilfe bei der Bekämpfung des Welthungers, höhere Ernteerträge, weniger Chemieeinsatz und Schädlingsbefall usw. ({3}) All diese Argumente sind weder endgültig belegt noch endgültig widerlegt. Ähnlich ist es mit den Argumenten der Gegner oder Skeptiker: größere Abhängigkeit von Konzernen, Schaffung von Resistenzen bei Schädlingen, Schädigung von Nützlingen, Auskreuzungen in die Umwelt, reduzierte Ernteerträge usw. Auch diese Argumente sind weder endgültig belegt noch widerlegt. Das heißt, es findet das übliche Spiel statt, dass Sie mir Ihre Gutachten oder wissenschaftlichen Arbeiten vorlegen, die ich auseinander nehme, und umgekehrt. In allen Fällen gibt es mehr oder weniger gute Hinweise, die ich einfach zur Kenntnis nehme. Aber was ist eigentlich schlimmer? Wenn die Befürworter in einigen Jahren mehr Recht bekommen oder wenn die Gegner Recht behalten? Was ist denn, wenn die Skeptiker in zehn oder 20 Jahren Recht bekommen, ({4}) es aber dann schon zu spät ist, weil sich freigesetzte Pflanzen nicht mehr zurückholen lassen, weil bäuerliche Strukturen zusammengebrochen sind oder weil althergebrachtes Saatgut verloren gegangen ist? Vor diesem Hintergrund sehe ich übrigens auch den Erprobungsanbau von gentechnisch verändertem Mais auf 300 Hektar in 30 Betrieben in Sachsen-Anhalt, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Baden-Württemberg als sehr kritisch an. Ich halte es für falsch und unklug, dass die Standorte nicht mindestens für Landwirte transparent gemacht werden. Frau Künast hat das angedeutet. In einigen der genannten Länder gibt es nämlich Regionen, insgesamt 33, in denen die Bauern ausdrücklich gentechnikfrei produzieren wollen. Ich hoffe, dass kein Freisetzungsversuch in deren Nähe stattfindet, weil sie dann nämlich in Schwierigkeiten kommen. Ich halte es geradezu für fatal, wenn die CDU/CSU in ihrem Antrag auf Drucksache 15/2822 fordert, umgehend einen großflächigen Erprobungsanbau in Deutschland zu starten. Sie sind offenbar nicht in der Lage, zu erkennen, dass wir nicht über die notwendigen Kapazitäten für eine vernünftige Begleitforschung zu einem großflächigen Anbau verfügen. Sie wollen gleich mit der Tür ins Haus fallen und Fakten schaffen. Wenn dies nicht zutrifft, dann müssten Sie das in Ihrem Antrag besser erklären. Insofern ist es richtig und verantwortungsvoll, mit der Gentechnologie vorsichtig voranzugehen. Genau diesen Weg verfolgen wir mit dem Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregierung. Wir haben darauf zu reagieren, dass die EU-Kommission die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen neuerdings genehmigt, und wir müssen europäisches Recht in deutsches Recht umsetzen. Unser Ziel ist es, den Verbrauchern echte Wahlfreiheit zu ermöglichen, und wir wollen eine Koexistenz zwischen den verschiedenen Anbauformen schaffen. ({5}) Eine zentrale Rolle spielt sicherlich die Haftungsfrage. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wir in diesem Punkt keine absolute Gerechtigkeit herstellen können. Entweder schützt man die Landwirte, die Gentechnik nutzen wollen - das ist offenbar die Intention der Opposition -, oder man legt den Schwerpunkt auf den Schutz derjenigen, die auf Gentechnik verzichten wollen. ({6}) Eine solche Entscheidungslage ist aber im täglichen Leben nicht unüblich. Lassen Sie mich das an einem simplen Beispiel aus dem berühmten täglichen Leben verdeutlichen. Ein Hundehalter geht mit seinem Hund spazieren. Der Hund ist gut ausgebildet und hat einen friedlichen Charakter. Er hat noch nie Probleme gemacht und er ist angeleint. Trotzdem springt er ein Kind an und zerreißt dessen Hose. Nach deutschem Recht muss der Hundehalter die Hose ersetzen, obwohl ihn eigentlich keine Schuld trifft. Er hat sich nämlich an alle Regeln gehalten, die ihm auferlegt sind. Eigentlich ist das ungerecht. Es hat aber nichts mit willkürlicher Rechtsprechung zu tun; viel ungerechter wäre es nämlich, das Kind auf seiner zerrissenen Hose sitzen zu lassen und den Schaden nicht zu ersetzen. ({7}) Das deutsche Recht entscheidet sich für den Schutz des Opfers und die Hilfe für den Geschädigten. ({8}) Wir wollen dieses Prinzip auch auf die Gentechnik auf dem Acker übertragen. Ein Landwirt wird sich frei entscheiden können, ob er gentechnisch veränderte Pflanzen anbaut oder auf Gentechnik verzichtet. Wenn aber ein Landwirt, der gentechnikfrei anbauen will, auf seiner Ernte sitzen bleibt, weil vom Gentechnikbauern nebenan die Gentechnikpflanzen in einem Maße „herübergeweht“ sind, dass er seine Ernte nicht mehr als gentechnikfrei verkaufen kann, dann muss dieser Bauer seinen Schaden ersetzt bekommen. In dieser Frage besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Regierung und Opposition. Die FDP fordert in ihrem Antrag auf Drucksache 15/2979: „Es haften nur die Landwirte, die die Koexistenzregeln nicht konsequent einhalten.“ Dieser Vorschlag bedeutet: Wenn der Gentechnikbauer alle Regeln befolgt, dann bleibt der gentechnikfreie Bauer auf seiner verunreinigten Ernte sitzen. Bezogen auf mein Beispiel aus dem alltäglichen Leben bedeutet das: Wenn der Hundehalter alle Regeln befolgt, dann bleibt das Kind auf der zerrissenen Hose sitzen. ({9}) Wir wollen das nicht. ({10}) Rot-Grün will, dass es dabei bleibt, dass der Hundehalter dem Kind eine neue Hose kauft. Wir wollen auch, dass der Schaden des Bauern, der gentechnikfrei produzieren will, ersetzt wird. ({11}) Am Anfang meiner Rede zitierte ich den Brief des Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, der die Unsicherheit auch der Landwirte schilderte. Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf die Wahlfreiheit der Verbraucher stärken und auch die geschilderte Unsicherheit der Landwirte abbauen. Der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen darf nicht zum Nachteil derer geschehen, die darauf verzichten wollen. Ich bin überzeugt, dass die Landwirte und die Verbraucher merken werden, wer wirklich an ihrer Seite steht. Den FDP-Abgeordneten wünsche ich, dass sie keinen Hunden begegnen, die ihre Hosen zerbeißen. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihrer Beruhigung, Herr Röspel: Mein Hund beißt nicht. Insofern besteht keine Gefahr. ({0}) Zu Ihren Ausführungen will ich eines anmerken: Ihr Begriff von Natur schließt menschliche Kreativität aus. ({1}) Ihrem Begriff von Natur zufolge befänden wir uns noch immer in der Steinzeit. ({2}) Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Erdbeeren, die Sie morgen oder übermorgen essen werden, aus Unterarten gezüchtet sind, die aus Südamerika und aus Europa stammen! Sie sind völlig unnatürlich und hätten ohne den Menschen nie eine Chance gehabt, zusammenzukommen. ({3}) Ich möchte nun zu meiner eigentlichen Rede kommen. Im Kampf gegen Hunger und Unterernährung setzt die FAO auf den Einsatz der Grünen Gentechnik. Generaldirektor Jacques Diouf fordert eine Genforschung, die sich an den Bedürfnissen der Kleinbauern in Asien und Afrika ausrichtet. Die Züchtung des Goldenen Reises ist ein Beispiel dafür, dass dies gelingen kann. ({4}) Die Bundesregierung bremst dagegen die Grüne Gentechnik aus. ({5}) Deutschland wird damit seiner globalen Aufgabe nicht gerecht. ({6}) Im Glaubenskampf um die Grüne Gentechnik sind die Gefechtsfelder abgesteckt und die Fronten verhärtet. Die Vernunft ist auf der Strecke geblieben. ({7}) Verantwortlich dafür sind die grünen Minister, insbesondere Frau Künast, und ein Bundeskanzler, der sie gewähren lässt. Das spiegelt sich im Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Novellierung des Gentechnikgesetzes wider. Die Grüne Gentechnik soll verhindert werden. Die Leidtragenden dieser Politik sind junge Menschen, die abwandern werden, Menschen in den neuen Bundesländern, die auf diese Zukunftstechnologie gesetzt haben, und Menschen in den ländlichen Räumen, die neue Einkommensalternativen brauchen, und dies alles, damit die grüne Illusion vom Museumsbauernhof erhalten bleibt. Das will die FDP verhindern. ({8}) Die Ministerin - wir alle haben es gehört - wäscht ihre Hände in Unschuld, wenn es um die Zerstörung von Freisetzungsversuchen geht, obwohl gerade ihre Politik und ihre Äußerungen der Nährboden sind, der die Zerstörung von Freisetzungsversuchen tatsächlich möglich gemacht hat. ({9}) - Frau Ausschussvorsitzende, informieren Sie sich einmal über agrarische Tatbestände! Dann können Sie bei solchen Fragen besser mitreden. ({10}) Der Vorfall in Sachsen-Anhalt steht für die Zerrissenheit in Deutschland, wenn es um die Bewertung der Produkte der Grünen Gentechnik geht. ({11}) Ministerin Bulmahn, SPD, begrüßt das Anbauprogramm der Bundesländer für Bt-Mais, Ministerin Künast lehnt es ab. Es ist gute Tradition, dass wir im Deutschen Bundestag nicht entscheiden, was die Verbraucherinnen und Verbraucher morgens zum Frühstück essen. ({12}) Sie haben Wahlfreiheit. ({13}) Der Deutsche Bundestag entscheidet ausschließlich, welchen Kriterien neue Produkte genügen müssen. ({14}) Daher ist es völlig unerheblich, welche Umfragewerte Produkte der Grünen Gentechnik erzielen. Ulrich Bahnsen titelte in der „Zeit“: „Greenpeace weiß, was Kunden wünschen müssen“. Ich füge hinzu: nicht, was sie wünschen. Nicht Wahlfreiheit ist somit das Ziel Ihrer Politik und von Greenpeace, sondern Bevormundung. ({15}) Die eine Voraussetzung für Wahlfreiheit ist die Kennzeichnung. Sie ist geregelt. Die andere Voraussetzung ist das Angebot von Produkten aus gentechnisch veränderten und anderen Pflanzen. Das wird kommen. Entgegen den Sprüchen von Ministerin Künast sind gentechnisch veränderte Pflanzen sicherer als andere; denn sie sind mehr geprüft. ({16}) Auch die viel zitierte britische Studie Farm Scale Evaluation hat kein wirklich neues Ergebnis erbracht. Das Unkrautmanagement entscheidet über die Biodiversität auf dem Acker; das wissen Landwirte seit Jahrzehnten. Ohne Wildkräuter gibt es auch keine Insekten. Das ist Mittelstufenbiologie. Es gibt keine besondere Gefährdung der Biodiversität durch Pflanzen, die mit einer bestimmten Methode gezüchtet wurden. Das ist im Übrigen ein Ergebnis der Studie zur Technikfolgenabschätzung aus dem Jahre 1993. Vor diesem Hintergrund ist die durch EU-Vorgaben notwendige Novellierung des Gentechnikgesetzes eine lösbare Aufgabe. Die Regierung ist daran gescheitert, weil sie den grünen Ministern Künast und Trittin das Feld überlassen hat. Es ist ein Verhinderungsgesetz herausgekommen. Kanzler Schröder hat klein beigegeben. Seine Innovationsinitiative ist reif für die Tonne. Die Haftungsregelung geht am Kern jeder gerechten Haftung vorbei. Wir müssen den schützen, der sich korrekt verhält, und zwar unabhängig davon, was er anbaut, ob es sich nun um gentechnisch veränderte Pflanzen handelt oder nicht. Die im Gesetz vorgesehene gesamtschuldnerische Haftung leistet dies nicht, weil sie auch dem die Haftung für Schäden aufbürdet, der sie nicht verursacht hat. Das ist ungerecht. Mit Bürokratie - Kollegin Hasselfeldt hat das schon gesagt - lässt sich Zukunft nicht gewinnen. Der Jahresbericht der FAO hat deutlich gemacht, dass die Grüne Gentechnik den Entwicklungsländern Chancen bietet. 4 Millionen Kleinbauern pflanzen in China erfolgreich Bt-Baumwolle an, so Professor Saedler, Direktor am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung. 2 Cent kostet die Produktion eines Antigens in der transgenen Banane, 100 Euro mit herkömmlichen Methoden. Das wollen Sie verhindern? Diese Chancen wollen Sie den Entwicklungsländern wirklich verwehren? ({17}) Ich fordere Sie auf, sich im Interesse der Menschen, die nicht so reich sind wie wir, die in Gesellschaften leben, denen es nicht so gut geht, mehr für eine solche Wissenschaftstechnologie einzusetzen und Entwicklungen möglich zu machen, die wir gerade bei uns in Deutschland brauchen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin, SPD-Fraktion.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir nun auch anlässlich der Beratung dieses Gesetzentwurfs - er ist schon seit Anfang des Jahres in der Welt - über die einzelnen Probleme im Zusammenhang mit der Gentechnik reden. Wir tun das ja schon länger. Die Diskussionen in der Öffentlichkeit werden von diesem Thema beherrscht. Jetzt treten wir in das Gesetzgebungsverfahren ein. Ich wünsche mir, dass dieses Verfahren kurz und knapp ist und, wenn es möglich ist, liebe Frau Hasselfeldt und sehr geehrte Frau Happach-Kasan, ohne diese ständigen Ausfälle, die doch niemanden weiterbringen, ({0}) abläuft, damit die Grundsätze der Europäischen Union, nämlich Koexistenz und Wahlfreiheit, tatsächlich eingehalten werden. ({1}) Ich habe bei Ihnen manchmal das Gefühl, dass Sie sich eigentlich mehr als die Sprecherinnen von Großunternehmen - noch nicht einmal von mittelständischen Unternehmen hier bei uns - verstehen, die mit aller Gewalt irgendwelche genveränderten Pflanzen in den Markt drücken wollen. ({2}) Frau Happach-Kasan, wir sollten über diese Phase jetzt endlich einmal hinwegkommen und uns die Frage stellen: Was ist eigentlich der Grund für die heutige Unsicherheit im Zusammenhang mit der Gentechnik? Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn dazu ein bisschen mehr gesagt worden wäre, auch von Ihnen; schließlich mahne ich das nicht zum ersten Mal an. Die Antwort kann doch nur lauten: Genveränderte Nahrungsmittel müssten für den Menschen mehr oder Besseres bringen. Nur das wäre eine Rechtfertigung, sonst gar nichts. Diese Nachweise gibt es aber nicht. Vielmehr haben wir noch immer ein, wie wir Juristen es nennen, „non liquet“. Es ist also nicht klar, ob diese Nahrungsmittel schaden und Gefährdungen verursachen oder nicht. Diese Unsicherheit wird natürlich auch dadurch genährt, dass Gutachten wie das im Zusammenhang mit der Zulassung des Bt-Mais darauf hinweisen, dass es in bestimmten Bereichen gerade für Tiere sehr wohl Probleme und Gefährdungen geben könnte. Diese Gutachten werden von Ihnen entweder geleugnet oder heruntergespielt. So kommen wir nicht weiter. ({3}) Sie haben vorhin schon einmal von Produkten und Produkthaftung geredet. Würde man dem folgen, was Sie in Bezug auf genveränderte Pflanzen oder genverändertes Saatgut sagen, dann würde heute - das müssten wir vielleicht auch einmal sehen - nicht eine weniger oder nur gleichermaßen begutachtete Komponente eines Fahrzeugs auf den Markt gebracht. Auf diesem Gebiet werden viel mehr Gutachten und sehr viel mehr Haftung vorausgesetzt. Das ist eines der Probleme, die wir in der Anhörung natürlich nochmals prüfen werden. Auf die möchte ich Sie hier jetzt ein weiteres Mal ganz offiziell aufmerksam machen. Wir alle wissen: Die Verbraucher haben Bedenken und sie wollen keine genveränderten Nahrungsmittel. Das EU-Recht besagt - es ist verbindlich -: Es besteht kein Zwang; es soll Wahlfreiheit geben. Auch deswegen haben wir uns mit großem Nachdruck für klare Kennzeichnungsregelungen nicht nur bei Lebensmitteln - da gibt es sie seit dem 19. April -, sondern auch bei Saatgut eingesetzt. Was entdecke ich da bei Ihnen und bei den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU? Frau Hasselfeldt hat zuvor von „Scheinheiligkeit und Heuchelei“ gesprochen. ({4}) Frau Hasselfeldt, ich fände es eigentlich sehr gut, wenn Sie diese Begriffe einmal auf diejenigen anwendeten, auf die sie zutreffen, nämlich auf sich selber, ({5}) und wenn Sie sagten: Wir sind der Meinung, dass die technische Nachweisgrenze beim Saatgut erreicht werden soll. - Wir werden nachher sehr genau aufpassen, wie Sie sich bei der Abstimmung über den heute beratenen Antrag verhalten werden. ({6}) Wir haben ihn auch eingebracht, um endlich einmal in der Öffentlichkeit klarzustellen, wer hier von Scheinheiligkeit und von Heuchelei redet und wer sie praktiziert. ({7}) Sie wissen nämlich ganz genau, dass auch Bauern, die auf Sie zählen, heute von Ihnen erwarten, dass Klarheit und Wahrheit durchgesetzt werden. Wahlfreiheit fängt bei der Kennzeichnung an. ({8}) Das geht übrigens bei der Frage der Koexistenz weiter. Koexistenz - ein Landwirt kann genverändert und ein anderer kann konventionell oder biologisch anbauen - ist ebenfalls ein Rechtsbegriff der Europäischen Union. Deswegen hätten wir es übrigens sehr gern gesehen, Frau Ministerin, wenn die Koexistenz und die Haftungsregelungen europarechtlich verankert worden wären. Auch das Europäische Parlament hat das gefordert. Das haben wir nun nicht. Um jetzt noch einmal zu dem Kapitel „Heuchelei und Scheinheiligkeit“ zurückzukommen: Es ist mehr als ärgerlich, dass Sie immer dann, wenn es darum geht, die Koexistenz rechtlich abzusichern - es bleibt gar nichts anderes übrig, als dies nationalstaatlich zu tun -, ({9}) von Bürokratie, von was weiß ich, von anderen üblen Dingen reden. Man kann Koexistenz nicht anders als durch klare Haftungsregelungen und durch Verantwortlichkeiten absichern. ({10}) Sie haben völlig Recht: Wir alle wollen, dass Landwirte zwar für die gute fachliche Praxis haften, dass aber die Erzeuger für den Rest haften. Deswegen sind wir der Meinung, dass sich jeder Landwirt, der genveränderte Pflanzen anbauen will, vorher - das Gesetz lässt das auch zu - vom Erzeuger haftungsrechtlich freistellen lassen soll. Ich werde in allen Diskussionen mit Landwirten über solche Dinge darauf hinweisen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn auch Sie das täten. Noch einmal zum Kapitel „Heuchelei und Scheinheiligkeit“: Gott sei Dank können bei uns alle über das Internet den Bericht der FAO lesen, liebe Frau HappachKasan, auf den Sie sich berufen haben. Darin steht nicht, dass das, was bei uns in den Industrieländern passiert, von der FAO gewünscht wird. Bei uns geht es um Soja. Bei uns geht es um Mais. Bei uns geht es also um Viehfutter. Das bringt Geld. Dieses Verfahren nützt den Menschen in den Least Developed Countries aber überhaupt nichts. ({11}) Denen würde es etwas nützen, wenn zum Beispiel genveränderte Pflanzen entwickelt würden, die salzresistent sind, die Wasserarmut verkraften können, also für Dürregebiete geeignet wären. ({12}) Darum geht es aber überhaupt nicht. Auf diese Potenzialität verweist die FAO. Jetzt höre ich gerade, das würde jemand verhindern. ({13}) Seien Sie doch so freundlich und informieren Sie sich vor solchen Zwischenrufen erst einmal über den Sachverhalt! Das verhindert überhaupt niemand! ({14}) Das bringt aber kein Geld. Deswegen setzen gerade Sie von der FDP sich nicht dafür ein. - Das ist der Ärger. Das ist einer der Punkte, die uns das Leben hier so schwer machen. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Bitte.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Däubler-Gmelin, Sie erinnern sich vielleicht daran, dass wir schon einmal über das Thema „Goldener Reis“ diskutiert haben. Wir haben dabei gemeinsam festgestellt, dass die Forscher Potrykus und Beyer es immerhin erreicht haben, dass 70 Lizenzen aufgegeben worden sind, dass diese Sorte an das Reisforschungsinstitut übergeben worden ist, sodass daraus Sorten entwickelt werden können, die für die verschiedenen Standorte geeignet sind. Stimmen Sie mir darin zu, dass dies ein Weg ist, auf dem wir den Entwicklungsländern helfen können, ihre Ernährungslage zu verbessern, und somit auch den Menschen dort helfen können? ({0}) Ernährung ist doch die Voraussetzung dafür, dass Menschen Bildung erreichen und bessere Zukunftschancen gewinnen können.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was Bildung und Verteilungsgerechtigkeit angeht, ja. Ich würde niemandem - auch Ihnen nicht, Frau Happach-Kasan - den Willen absprechen, zu erreichen, dass die Menschen in den Least Developed Countries bessere Chancen haben. Das geht aber nur durch Marktöffnung. Das geht durch Wissenstransfer. Das geht nicht dadurch, dass bei uns Soja und vor allem Mais genverändert als Viehfutter auf den Markt gedrückt werden. Sie wissen ganz genau, dass der Vitamin-A-Reis nicht besser ist - er ist vielleicht anders, aber nicht besser - als sehr viele Standortpflanzen, die es in der Natur heute schon gibt. Ich will die Diskussion über diesen Punkt mit Ihnen gern fortsetzen. Ich hätte Sie aber auch gern an der Seite, wenn wir den Landwirten sagen: Das ist etwas, bei dem ihr sehr sorgfältig aufpassen müsst, damit ihr haftungsrechtlich nicht in die Falle von bestimmten Erzeugern geht. Wenn Sie sich nachher dazu durchringen würden - das ist meine letzte Bitte, gerade an die FDP-Fraktion -, wenigstens bei der Frage der Kennzeichnung des Saatguts zu sagen: „Jawohl, wir wollen die Wahlfreiheit durch eine offene und ehrliche Kennzeichnung unterstützen“, dann fände ich das großartig. Ich fürchte, Sie werden das nicht tun. Das finde ich bedauerlich. Lassen Sie mich noch einen letzten Satz anfügen: Die heutige Diskussion ist noch in einem anderen Sinn hochinteressant; wir führen sie ja zum vierten oder fünften Male in der einen oder anderen Weise. Sie zeigt nämlich, dass Sie gar nicht die Absicht hatten, in irgendeiner Weise konstruktiv dazu beizutragen, ({0}) dass vernünftige Haftungsregelungen für die Gentechnik durchgesetzt werden. Falls das wirklich so sein sollte - ich bin sehr gespannt, ob ich von Herrn Heiderich etwas anderes höre -, dann wenden Sie auch hier die Strategie an, die Sie in letzter Zeit sehr häufig benutzen, das heißt: Sie setzen voll auf Blockade. Ich kann Ihnen nur sagen, das ist kein guter Weg. Blockieren wird nicht honoriert. ({1}) Es steht außer Frage, dass wir haftungsrechtliche Regelungen für die Gentechnik im Sinne der Verbraucher und der Landwirte finden müssen. Das sind wir ihnen schuldig und das verlangen auch die europäischen Richtlinien. Wenn Sie aber glauben, hier durch Blockieren irgendetwas verhindern zu können, dann sage ich Ihnen schon jetzt, dass wir das nicht zulassen werden. ({2}) Ich werbe deshalb um Ihre konstruktive Mitarbeit, aber sage Ihnen zugleich sehr deutlich, dass wir nicht bereit sind, uns an irgendeiner Blockadestrategie zu beteiligen. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner ist der Kollege Helmut Heiderich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einmal feststellen, dass die Frist für die Umsetzung der europäischen Vorschriften zur Nutzung der Gentechnik in der Landwirtschaft bereits im Herbst 2002 abgelaufen ist. Lassen Sie mich auch feststellen, dass es gerade die internen Streitereien zwischen den Ministern im Bundeskabinett waren, die dafür gesorgt haben, dass das Gesetz nicht rechtzeitig dem Bundestag zugeleitet wurde. Aufgrund dieser Verzögerungen geraten Sie nun unter den Druck von Brüssel und wir in die Gefahr, von Brüsseler Entscheidungen überrollt zu werden. Deshalb wäre es richtig, dass wir uns zusammenzutun, um die Dinge in der Sache gemeinsam zügig voranzubringen. Ich wundere mich dann aber schon über die Tiraden, die ich von der Frau Ministerin vorhin an dieser Stelle gehört habe. Sie haben offensichtlich überhaupt nicht die Absicht, in irgendeiner Weise politisch hier im Plenum zu kooperieren. Sie wollen spalten sowie die Öffentlichkeit verunsichern und in die Irre leiten. ({0}) Sie wollen damit im Endeffekt nicht, dass wir zu Entscheidungen kommen, die der Sicherheit dienen. ({1}) Ich komme nachher, Frau Däubler-Gmelin, auch noch einmal auf die Frage der Blockade zurück. ({2}) Zunächst möchte ich aber herausstellen, dass Sie selbst, Frau Ministerin, und alle, die an Ihrer Seite agieren, sich ein ums andere Mal in Widersprüche verstricken. In Brüssel haben Sie im Zusammenhang mit der Erteilung der Importgenehmigung für amerikanischen Bt-11-Mais nicht mehr als ein unentschlossenes „Ich weiß nicht“ herausgebracht. Kaum waren Sie zu Hause, haben Sie lautstark von einer Fehlentscheidung und dem damit verbundenen Risiko gesprochen. Da ist es doch kein Wunder, Frau Ministerin, dass Ihnen Kommissar Byrne vor wenigen Tagen in einem Interview im Berliner „Tagesspiegel“ ins Stammbuch geschrieben hat, dass er Ihre Kritik nicht verstehe. Ich zitiere einmal wörtlich, was da steht: Die Ministerin war selbst Mitglied des Agrarministerrats, der im vergangenen Herbst für die neue Gesetzgebung gestimmt hat. Sie hat diese Regelung gewollt, nun sollte sie sich auch daran halten. Verehrte Frau Künast, es wäre hilfreich, wenn Sie sich hierzu einmal in Ihren Reden äußern würden. ({3}) Ebenso hat es die Bundesregierung trotz der langen Anlaufzeit nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass im eigenen Land die notwendigen praktischen Erfahrungen für die Detailregelungen dieses Gesetzes gesammelt wurden. Ich will es noch einmal sagen: Es war der Bundeskanzler selbst, der bereits im Sommer 2000 einen großflächigen Erprobungsanbau zugesagt und die notwendigen Regularien mit den Beteiligten unterschriftsreif ausgehandelt hat. Jetzt frage ich mich, warum die entsprechende Begleitforschung damals möglich war, heute aber nicht möglich sein soll. Ich zitiere einmal, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen: Ziel des Forschungsprogramms ist, zusätzliche Erkenntnisse über die Umweltauswirkungen des großflächigen Anbaus gentechnisch veränderter landwirtschaftlicher Nutzpflanzen unter Praxisbedingungen zu gewinnen. Daher sollte der Anbau schwerpunktmäßig in landwirtschaftlichen Betrieben durchgeführt werden. Dann geht es weiter: Die Bundesregierung - jetzt ist sie verschwunden ({4}) - ich bitte zuzuhören! trägt die Kosten für das Forschungsprogramm. Die Unternehmen der Grünen Gentechnik stellen die erforderlichen Anbauflächen sowie das Saatgut zur Verfügung. Das war Ihr Bundeskanzler, Ihre Regierung, die das schon im Jahre 2000 so vorgelegt haben. Heute sind Sie um Längen hinter den damaligen Stand und die damals erreichten Positionen zurückgefallen. Sie blockieren die weitere Entwicklung in Deutschland, nicht die Opposition. ({5}) Ständig bringen Sie hier Argumente, die weitere Verunsicherung, aber keinen Schritt nach vorn bedeuten. Auf der einen Seite erklären Sie, die Gentechnologie müsse noch weiter erforscht werden. Auch Frau Däubler-Gmelin hat das eben wieder vorgetragen. Die Zulassungsverfahren seien nicht ausreichend, obwohl Sie auf diesem Gebiet nun wirklich so umfassend wissenschaftlich prüfen wie an keiner anderen Stelle des Lebensmittelrechtes sonst. Auf der anderen Seite unterbindet Frau Ministerin höchstpersönlich ein Forschungsprojekt nach dem anderen, ganz gleich, ob Spitzenforschung oder Begleitforschung. Wie passt das zusammen? ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich den Gedanken noch zu Ende bringen. Ich komme gleich auf die Zwischenfrage zurück. Auf der einen Seite reden Sie immer davon, man wolle Monopole internationaler Konzerne verhindern, auf der anderen Seite blockieren Sie gerade für unsere Pflanzenzüchter und für unsere Forscher jeden Fortschritt und nehmen ihnen damit die Chance, gegenüber anderen wettbewerbsfähig zu werden. ({0}) Jetzt kann die Zwischenfrage gestellt werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Höfken, wenn Sie mögen, dürfen Sie jetzt.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Kollege Heiderich, ich finde, Sie reden um den heißen Brei herum. Wir möchten doch von Ihnen eine Antwort auf die Frage haben, wie Sie den Schutz des Eigentums bei nicht Gentechnikpflanzen anbauenden Bauern gewährleisten möchten und welche Art Schutz des Eigentums dieser Betriebe Sie konkret ergreifen wollen. Wir gehen doch beide davon aus, dass nahezu 100 Prozent der deutschen Betriebe keine gentechnisch veränderten Pflanzen anbauen wollen. Die zweite Frage ist, wie Sie die Wahlfreiheit der Verbraucher im Hinblick auf gentechnikfreie Produkte langfristig und sicher gewährleisten wollen und welche konkreten Maßnahmen Sie in diesem Zusammenhang für notwendig halten.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, wenn Sie mir ausreichend Zeit gewähren, um auf Ihre umfassende Frage umfassend zu antworten, will ich das gerne tun. Was die Frage der Kennzeichnung angeht, sind Sie heute hier an der falschen Stelle. Über die Frage der Kennzeichnung haben wir vor Wochen in diesem Hause entschieden und die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften geschaffen. ({0}) Diese Kennzeichnungsvorschriften haben wir damals sehr konstruktiv umgesetzt. Sie haben uns öffentlich Blockade vorgeworfen; daran war kein Wort wahr. ({1}) - Wenn Sie mich ausreden lassen würden. - Wir haben bereits im Jahre 2001 in diesem Hause einen Antrag eingebracht, in dem wir die Kennzeichnung gefordert haben, um Wahlfreiheit für den Verbraucher zu schaffen. Da waren Sie von solchen Gedanken noch meilenweit entfernt. ({2}) [CDU/ CSU]: Ihr wollt doch etwas ganz anderes! Dann sagt das doch! - Ulrike Höfken [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir warten auf die Antwort!)

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Möglichkeit der Zwischenfrage soll die Chance eröffnen, dem Redner über die Gedanken, die er vorbereitet hat und vorträgt, hinaus Fragen zu stellen, die vom Redner beantwortet werden können. Wenn dies allerdings zu polyphonen Stellungnahmen aus der Fraktion des Fragestellers und aus der Fraktion des Redners führt, ist der Zweck dieses Instruments ziemlich eindrucksvoll ad absurdum geführt. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich noch die zweite Hälfte der Frage beantworten? ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ja. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, was die Wahlfreiheit für die Landwirte angeht, so will ich sagen: Wir werden dezidierte Stellungnahmen zu diesem Gesetz einbringen. Über den Bundesrat ist schon ein ganzes Paket von Stellungnahmen abgegeben worden. Es ist unser Ziel - ich werde das gleich noch einmal betonen -, dass wir den Landwirten Wahlfreiheit für ihre Entscheidung gewähren. Jeder Landwirt soll heute und morgen frei entscheiden können, ob er aus betriebswirtschaftlichen Gründen die Möglichkeiten der Biotechnologie nutzen will oder nicht. Das ist unsere Position. ({0}) Ich wehre mich daher gegen jegliche Diffamierung, die an dieser Stelle gegen uns gerichtet wird. Ich möchte gern noch ein paar Punkte zum Thema Erprobungsanbau ansprechen, über den vorhin diskutiert wurde. Frau Künast, Sie selbst haben sieben gentechnisch veränderte Bt-Mais-Sorten per Vorabgenehmigung im Februar und März dieses Jahres zugelassen. Damit haben Sie den Erprobungsanbau überhaupt erst möglich gemacht. Trotzdem kommt von Ihrer Seite eine Tirade gegen die Bundesländer, die die von Ihnen zur Verfügung gestellten Sorten nutzen. ({1}) Das ist schlicht und einfach scheinheilig und falsch. ({2}) Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Wie der Deutsche Bauernverband in den letzten Tagen mitgeteilt hat, ist Ihr Ministerium gebeten worden, dass Ihre Bundeseinrichtungen die Begleitforschung an diesen 29 Standorten übernehmen. ({3}) Wenn Sie das in die Wege geleitet hätten, dann hätten Sie nicht nur von Anfang an sämtliche 29 Standorte gekannt. Sie hätten sogar jeden Tag das weitere Verfahren verfolgen können. Dass Sie diese Bitte abgelehnt haben, ({4}) zeigt wiederum, dass Sie an dem Fortschritt, den Herr Schröder schon im Jahr 2000 haben wollte, nicht interessiert sind. Sie wollen spalten und verunsichern. ({5}) Sie wollen - jetzt benutze ich Ihren Ausdruck von vorhin - Chaos in der öffentlichen Diskussion. ({6}) Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, um den Sie sich vorhin herumgemogelt haben. ({7}) Wir alle sollten einmal gemeinsam öffentlich feststellen, dass die Zerstörung von rechtmäßig ausgewiesenen Versuchs- und Erprobungsfeldern keine heroische Tat unerschrockener Kämpfer ist, sondern schlicht und einfach eine kriminelle Handlung. Das ist die Wahrheit. Das sollten wir einmal öffentlich feststellen. ({8}) Für uns sind die Ziele dieses Gesetzes klar. Ich habe eben schon gesagt, dass wir die Wahlfreiheit für die Landwirte wollen. Wir wollen außerdem die Stärkung der Forschung, und zwar nicht nur hinter verschlossenen Labortüren, sondern auch bei der Anwendung und Produktorientierung. Damit bekommen unsere Pflanzenschützer die Chance - ich habe es vorhin schon einmal gesagt -, den weltweiten Akteuren Paroli bieten zu können. Wir wollen außerdem, Frau Dr. Däubler-Gmelin, die bisherige gute wissenschaftliche Position unserer Universitäten, unserer Institute und unserer Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Gentechnik vor allem für die Zukunftschancen der Dritten Welt nutzen. ({9}) Der FAO-Bericht hat nahezu wörtlich das wiederholt, was wir vor einem halben Jahr in dem Antrag „Verantwortung für die Sicherung der Welternährung übernehmen - Chancen der Grünen Gentechnik nutzen“ gefordert haben. Wir haben damals genau das vorgetragen, was Sie, Frau Dr. Däubler-Gmelin, eben zitiert haben. ({10}) Es geht nicht um Forschung für die Cash Crops, sondern um Forschung für die Produkte, die der Dritten Welt nutzen. Das können wir mit unseren Instituten leisten. ({11}) Wir wollen Deutschland als Innovationsstandort. Wir wollen ihn deshalb mit den Regeln, die dieses Gesetz enthält, nicht blockieren. Wir wollen vielmehr Innovation möglich machen. Schönen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Herzog, ich bitte um Nachsicht. Da der Redner das Rednerpult erst nach Überschreiten der angemeldeten Redezeit verlassen hat, sah ich keine Möglichkeit mehr, durch das Zulassen einer Zwischenfrage die Redezeit zu verlängern. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/3088 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/3209 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit des Saatgutes sicherstellen“. ({0}) - Ich stelle ja fest, wie abgestimmt wird. - Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2972 anzunehmen. Jetzt wird es spannend: Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes - Drucksache 15/3046 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) - Drucksache 15/3223 Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Wolff ({3}) Peter Bleser Hans-Michael Goldmann b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht 2004 der Bundesregierung - Drucksache 15/2457 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede einige Worte zum Gedenken an unseren so plötzlich und unerwartet verstorbenen Kollegen Matthias Weisheit aussprechen. Ich bin der Auffassung: Über die Fraktionsgrenzen hinweg wurde Matthias Weisheit wegen seiner offenen und ehrlichen Art und seines ausgleichenden Charakters geschätzt. Seine Fachkompetenz und sein unermüdlicher Einsatz waren unter anderem Gründe dafür, dass ihm die SPD-Bundestagsfraktion das Vertrauen für die verantwortungsvolle Position des agrar- und verbraucherpolitischen Sprechers entgegengebracht hat. Durch sein großes fachliches Engagement hat Matthias Weisheit sehr viel Anerkennung bei Politikern, in den Berufsverbänden und auch bei den Praktikern erworben. Wir verabschieden heute das Betriebsprämiendurchführungsgesetz und bringen damit die EU-Agrarreform einen ganz entscheidenden Schritt nach vorn. Ich weiß ganz sicher, dass Matthias Weisheit diese zukunftsorientierte Reform als das zentrale Thema dieser Legislaturperiode betrachtet hat. ({0}) Deshalb wünsche ich mir, dass wir, die Abgeordneten aller Parteien, eine gute Regelung erzielen, auf die auch Matthias stolz sein würde. ({1}) Meine Damen und Herren, diese Woche wird der Vermittlungsausschuss tagen und die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik behandeln. Wir stehen an einem historischen Punkt. Uns muss heute bewusst sein, dass mit diesen Reformpaketen die größte Veränderung in der Agrarpolitik der Nachkriegszeit beschlossen wird. Im Wesentlichen wird der Übergang der produktionsbezogenen Prämien hin zu einer einheitlichen Flächenprämie geregelt. Außerdem wird die Produktion stärker an umwelt- und tierschutzrechtliche Standards gekoppelt. Dies ist natürlich auch im Sinne aller Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich hoffe zutiefst, dass sich der Bundesrat und die Bundesregierung auf einen gangbaren Weg einigen. Die Zeichen stehen eigentlich nicht schlecht. In der Vergangenheit konnte durch die konstruktive Zusammenarbeit des Sonderausschusses Landwirtschaft beim Bundesrat bereits eine weit reichende Lösung gefunden werden. Das erarbeitete Kombinationsmodell steht bei der Mehrheit der Bundesländer nicht infrage. Ich setze darauf, dass sich Bund und Länder bezüglich eines zeitlichen Übergangs zu einer einheitlichen Flächenprämie einigen können. An dieser Stelle will ich ganz deutlich sagen, dass nicht alle unionsregierten Bundesländer den Vorschlag des Bundesrates, die Umlegung der Prämie vom Betrieb auf die Fläche nach hinten zu verschieben, begrüßen. Die Agrarministerin meines Bundeslandes SachsenAnhalt, Frau Wernicke, hat geradezu davor gewarnt, angesichts knapper werdender EU-Mittel im Agrarhaushalt die Verschiebung des so genannten Gleitfluges vorzunehmen. Ich teile ihre Auffassung. Ich meine, dass der Aufschub insbesondere wachstumsfähige Betriebe eher behindert als unterstützt. Sachsen-Anhalt kritisiert weiter, dass der Bundesrat die Milchprämie nicht sukzessive auf die Fläche umlegen will. Auch wir Bundespolitiker wollen die Milchprämie eigentlich in den so genannten Gleitflug einbeziehen. Wünschenswert wäre, dass nicht nur SachsenAnhalt, sondern auch andere Bundesländer die Gefahren sehen, die eine Verzögerung für entwicklungsfähige Milchviehbetriebe mit sich bringt. Ich möchte die Damen und Herren des Bundesrates von hier aus auffordern, Vernunft walten zu lassen und die GAP-Reform nicht zu blockieren. Wir diskutieren heute nicht nur über die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, sondern auch über den Agrarbericht 2004. Wenn ich mir die Ergebnisse des diesjährigen Agrarberichts ansehe, wird eines ganz klar: Die Agrarreform ist mehr als notwendig. Es ist sogar dringend erforderlich, dass landwirtschaftliche Produktion endlich unternehmerischer Freiheit unterliegt. ({2}) Nur ein Unternehmer, der sich den tatsächlichen Marktgegebenheiten anpassen kann, hat reale Chancen. Nun wird es möglich sein, Prämiengelder in neue Betriebszweige zu investieren. In Zukunft ist also verstärkt unternehmerisches Kalkül gefragt. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz verweisen, das wir am 2. April dieses Jahres hier verabschiedet haben. Auch diesbezüglich richtet sich mein Appell ganz entschieden an die Länder: Man muss mit der Blockadepolitik aufhören! Natürlich können Sie das Gesetz im Bundesrat verzögern. Aber warum? Welchen Sinn hat Ihr Handeln an dieser Stelle? Blockieren um der Blockade willen, obwohl Sie wissen, dass - kurioserweise - auch Ihre Kolleginnen und Kollegen in den Länderparlamenten beispielsweise auf eine gute Regelung bezüglich der Biomasseverwertung warten? ({3}) Dennoch hat die CDU/CSU-dominierte Mehrheit im Bundesrat das Gesetz zurückgewiesen. Verhindern können Sie es allerdings nicht. Was passiert aber? Welche Konsequenz müssen wir ziehen? Die Landwirte müssen länger auf den Bau ihrer Biogasanlagen warten. Die Investitionen, die wir so dringend benötigen, verzögern Sie auf sinnlose Weise. Noch einmal zurück zur GAP-Reform. Wichtig ist, dass wir ab 2005 eine selbstbestimmte landwirtschaftliche Produktion ermöglichen. Die Betriebe müssen im Rahmen der Agrarreform die Möglichkeit haben, sich neue, sinnvolle Einkommensquellen zu sichern. Der Übergangsprozess der Prämiengestaltung wird natürlich für niemanden - das wissen wir alle hier im Hause ein Zuckerschlecken. Deshalb ist es unsere erste und wichtigste Pflicht und Schuldigkeit, alle, aber auch wirklich alle Chancen zu eröffnen, die unseren Bauern Waltraud Wolff ({4}) auch in Zukunft ein einträgliches Wirtschaften ermöglichen. Deshalb möchte ich Sie von der Opposition ganz eindringlich bitten: Geben Sie sich einen Ruck und lassen Sie uns dieses Gesetz heute gemeinsam verabschieden! Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Albert Deß, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf, der ein weiteres Beispiel für die plan- und ziellose Arbeit dieser rot-grünen Bundesregierung - besser gesagt: Nachbesserungsregierung - ist. Sinnvoller wäre es gewesen, die EU-Agrarreformbeschlüsse vom Juni 2003 und April 2004 in einem Gesetzgebungsgang umzusetzen. Wir diskutieren heute also über die Änderung eines Gesetzes, das noch gar nicht in Kraft ist. Sinnvoll wäre es natürlich auch, in den Änderungsgesetzentwurf die vom Bundesrat geforderten Verbesserungen aufzunehmen, die jetzt Gegenstand des Vermittlungsverfahrens sind. Die Bundesregierung weist auf den von der EU vorgegebenen Umsetzungstermin - 1. August 2004 - hin. Den Zeitdruck hätte sie vermeiden können, wenn sie die Änderungswünsche des Bundesrates im vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt hätte, nämlich die lineare Kürzung der Prämien beim Aufbau der nationalen Reserve für Härtefälle und Neueinsteiger um nur 1 Prozent statt 1,5 Prozent, die betriebsindividuelle Gewährung der Milchprämie bis 2013 statt 2007, ({0}) den Beginn der Abschmelzung der Direktzahlungen in eine einheitliche regionale Flächenprämie erst ab 2010 statt ab 2007, ({1}) die Streichung der Einvernehmensregelung zugunsten des Bundesumweltministeriums und ({2}) keine nationale Verschärfung von Bewirtschaftungsstandards im Rahmen von Cross Compliance. Wenn sie auf diese Vorschläge eingegangen wäre, könnten wir dem Gesetz zustimmen. Ich bin auch der Meinung, dass beim vorliegenden Änderungsgesetzentwurf zu Hopfen und Tabak die Interessen der Hopfen- und Tabakanbauer nicht entsprechend berücksichtigt worden sind. ({3}) Beim Hopfen ist zwar erreicht worden, dass die Erzeugergemeinschaften weiterhin gewisse Prämienanteile erhalten, aber die bayerischen Hopfenanbauer werden trotzdem pro Hektar 60 Euro verlieren. Bei den Tabakanbauern wird es zu einer Existenzgefährdung vieler Betriebe kommen. Wir reden heute auch über den Agrarbericht der Bundesregierung. Es ist schon bezeichnend, dass die Einkommen der deutschen Bauern um 20 Prozent rückläufig sind und auch im laufenden Wirtschaftsjahr mit weiteren dramatischen Einkommenseinbrüchen gerechnet werden muss. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich hätte beinahe gesagt: Nun meldet sich der Kollege Carstensen zu der vereinbarten Zwischenfrage. ({0}) Beabsichtigen Sie, eine solche Zwischenfrage zuzulassen, Herr Kollege Deß?

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, es wäre eine Unterstellung gewesen, wenn Sie das gesagt hätten. ({0}) Darum war es gut, dass Sie es nicht getan haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dann ist es gut, dass ich es nicht gesagt habe. Offenkundig wünscht der Redner, diese Zwischenfrage zuzulassen. Bitte schön, Herr Kollege.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich lasse normalerweise mit mir nichts vereinbaren. ({0}) Ich bin im Moment etwas unsicher: Darf ich die Frage stellen, die ich gerne stellen möchte, Herr Präsident?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ja gerne, zumal sonst der Eindruck entstehen könnte, wir hätten auch den Inhalt der Frage miteinander vereinbart. ({0})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das würde ich gern einmal mit Ihnen machen. Es dient uns allen, wenn jemand etwas von Landwirtschaft versteht. Peter H. Carstensen ({0}) Herr Kollege Deß, können Sie sagen, ob das der seinerzeit von der Frau Künast erwartete Künast-Effekt ist?

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe bereits kurz nach Beginn der Regierungszeit von Frau Künast als Bundeslandwirtschaftsministerin in einer Rede angedeutet, dass die Agrarpolitik, die sie konzipiert und in ersten Überlegungen dargestellt hat, dazu führt, dass in den nächsten Jahren mit massivsten Einkommensverlusten in der deutschen Landwirtschaft zu rechnen ist. Ich habe damals auch ein internes Papier der Arbeitsgruppe Landwirtschaft der SPD zitiert, in dem berechnet worden ist, dass die Auswirkungen dieser Agrarpolitik im Jahre 2003 zu Einkommensverlusten in der deutschen Landwirtschaft von circa 3 Milliarden DM führen. Genau das ist eingetroffen. Ich kann Ihre Frage also mit Ja beantworten. ({0}) Ich möchte den Rest meiner Redezeit nutzen, ein paar persönliche Worte zu sagen. Wenn am 13. Juni ein entsprechendes Wahlergebnis zustande kommt, ist dies meine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag. ({1}) Ich darf seit fast 14 Jahren Mitglied dieses Hohen Hauses sein und möchte einige Worte des Dankes aussprechen. Als Erstes möchte ich mich bei den bayerischen Wählerinnen und Wählern bedanken, die immer wieder mit großer Mehrheit CSU gewählt haben, ({2}) und bei den Delegierten der CSU, die mich viermal mit großer Mehrheit auf die Liste gesetzt haben. ({3}) - Es kommen alle dran. ({4}) Ich möchte mich auch bei der CSU-Landesgruppe bedanken, lieber Peter Ramsauer, in der ich in diesen 14 Jahren gut aufgehoben war und in der die Agrarpolitik, die wir uns vorgestellt haben, immer Unterstützung gefunden hat. Ich möchte mich auch bei der CDU/CSUFraktion bedanken. Die stellvertretende Vorsitzende, Frau Hasselmann, ist ja hier. ({5}) - Frau Hasselfeldt, Entschuldigung. Dieser Fehler ist unverzeihlich. Frau Hasselfeldt, liebe Gerda, ich weiß genau, wie du heißt. Das war ein Versprecher. ({6}) Ich möchte mich recht herzlich bei dir bedanken, dass du dich als stellvertretende Fraktionsvorsitzende massiv für die Anliegen der bäuerlichen Landwirtschaft einsetzt. ({7}) Ich möchte mich auch bei allen Mitgliedern des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft bedanken, die ich in den letzten 14 Jahren erleben durfte. Zwei von ihnen möchte ich namentlich nennen, und zwar Peter Harry Carstensen und Peter Bleser, die seit 1990 ununterbrochen dabei sind, Peter Harry Carstensen sogar schon etwas länger. ({8}) Ich möchte mich aber auch bei der Gegenseite bedanken. Wenn Matthias Weisheit heute hier wäre, hätte ich mich bei ihm auf das Herzlichste bedankt. Ich habe mit ihm über zehn Jahre lang hervorragend zusammenarbeiten dürfen. Welche Wertschätzung er bei uns erfahren hat, sieht man auch daran, dass viele Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion bei seiner Trauerfeier anwesend waren. ({9}) Ich möchte mich bei Gerald Thalheim bedanken, mit dem ich auch seit 1990 sehr gut zusammenarbeite. Zwischen uns ist hoher gegenseitiger Respekt vorhanden. Bedanken möchte ich mich auch bei der FDP. Ich nenne Ulrich Heinrich deswegen stellvertretend, weil auch er ab 1990 dabei war und mit uns zusammen gearbeitet hat. Ich wünsche mir, dass die Interessen der bäuerlichen Landwirtschaft in Deutschland in diesem Hause vertreten werden und dass wir uns für die bäuerlichen Familien einsetzen. Denn ich bin der Meinung, dass die bäuerlichen Familien Leistungsträger in unserer Gesellschaft sind. Sie sind nicht, wie es manchmal dargestellt wird, eine Bürde, sondern Leistungsträger. Ich möchte mir abschließend noch wünschen, dass man damit aufhört, unsere Bauern von früh bis abends durch staatliche Reglementierungen zu bevormunden. Sie haben ihren Beruf erlernt und wissen, wie man das Land bewirtschaftet. Ich behaupte, dass wir in Deutschland eine der in Mitteleuropa und weltweit nachhaltigsten Landwirtschaften haben. Manchmal kommt es mir aber so vor, als behandelte man die Landwirte so wie einen Autofahrer, auf dessen Beifahrersitz ein Polizist ununterbrochen darauf achtet, ob er die Verkehrsregeln einhält. Geben Sie unserer Landwirtschaft und unseren Bauern die Luft zum Atmen. Unsere Bauern werden auch in Zukunft wertvolle Nahrungsmittel für unsere Verbraucherinnen und Verbraucher produzieren. Im Interesse unserer Verbraucherinnen und Verbraucher wünsche ich mir, dass wir nicht in eine Situation geraten, in der wir vom Ausland so abhängig werden, wie wir es zurzeit beim Stahl sind, und höchste Preise zahlen müssen. ({10}) Denn die Verbraucher müssten eine hohe Zeche zahlen, wenn wir in Zukunft keine heimische Landwirtschaft mehr hätten. Ich wünsche Ihnen allen alles Gute und hoffe, dass ich, wenn ich gewählt werde, die einen oder anderen von Ihnen auch einmal in Brüssel oder Straßburg begrüßen kann. Danke schön. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Deß, da wir den viel beschworenen Wählerwillen bekanntlich leider erst dann ganz genau kennen, wenn die Stimmen am jeweiligen Wahlabend ausgezählt sind, wissen wir alle nicht genau, ob dies tatsächlich Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag war. Falls dies so gewesen sein sollte, möchte ich Ihnen auch im Namen des Präsidiums herzlich für Ihre langjährige Arbeit im Deutschen Bundestag danken, verbunden mit dem Hinweis, dass Sie sich in einem anderen Parlament vermutlich noch sehnsüchtig an die Großzügigkeit dieses Präsidiums bei der Bemessung der Redezeiten zurückerinnern werden. ({0}) Nun erteile ich der Kollegin Ulrike Höfken für Bündnis 90/Die Grünen das Wort, die ohne die Aussicht auf Wechsel in ein anderes Parlament mit vier Minuten Redezeit auskommen muss.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte mich zunächst einmal den Worten meiner Kollegin Waltraud Wolff über Matthias Weisheit anschließen. Wir werden ihn auf jeden Fall in Erinnerung behalten und oft, gerade in solchen Situationen wie heute, an ihn denken. Lieber Albert Deß, du hast dich zwar nicht von uns verabschiedet, wir werden uns aber von dir verabschieden; so nachtragend sind wir nicht: Wir hoffen, dass du in Brüssel keinen weiteren Unsinn machst. ({0}) Sehr verehrte Damen und Herren, jetzt zum eigentlichen Thema, der Agrarreform. Mit dem zweiten Paket ist nun ein weiterer Meilenstein gesetzt worden. Die Reformen bei Tabak, Hopfen, Oliven und Baumwolle führen die Agrarreform weiter, die die unsinnige Förderung von Produktionsmengen beendet und Agrarmittel im Sinne der Marktwirtschaft, der Unterstützung gesellschaftlicher Leistungen der Landwirtschaft und der Förderung ländlicher Räume gerechter und besser einsetzt. Der Beschluss ist ein konsequenter Schritt im Rahmen der Vorbereitung der nächsten WTO-Runde und ein wichtiges Signal, um die Glaubwürdigkeit der EU gegenüber den Entwicklungsländern zu stärken. Der Tabak ist im Übrigen ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit der Reformen. Die Tabakmarktordnung umfasst immerhin 1 Milliarde Euro. Deutschland zahlt 250 Millionen Euro in diese Marktordnung ein; davon fließt ein Bruchteil, nämlich 20 Millionen Euro, zurück. Nun sagen gerade wir Grüne: Wir müssen in Europa solidarisch sein; das ist nun einmal die tragende Säule Europas. Aber diese Zahlungen sind nahezu kontraproduktiv - das gilt für viele Elemente der bisherigen Agrarpolitik -: Gerade beim Tabak kann es schon aus gesundheitspolitischen Erwägungen nicht sein, dass einerseits durch Rauchen verursachte Krankheitskosten zu tragen und im Jahr mehr als 110 000 Tote durch Rauchen zu beklagen sind, gleichzeitig der Tabakanbau aber gefördert wird. ({1}) Mit den Übergangsphasen bis 2009 - wir werden darüber diskutieren - verbleibt den Landwirten genügend Zeit für die Umstellung, auch in den Tabakregionen. Wir wissen natürlich - das müssen sich alle immer wieder gegenwärtig machen -, dass das bisherige Fördersystem schlichtweg politisch gewollt war. Wir haben das zwar immer kritisiert, aber man muss auch sehen: Für die Änderung der Politik brauchen wir die Unterstützung der Landwirtschaft und die Unterstützung der entsprechenden Regionen, damit sie diesen gravierenden Systemwechsel schaffen können. Noch einmal bezogen auf das Beispiel Tabak: Allein in Rheinland-Pfalz bauen rund 250 Bauern auf 2 040 Hektar Tabak an. Nun muss klar sein: Ab 2010 ist die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt nicht mehr gegeben. Aber - auch das ist beispielhaft gemeint - mit den Umstrukturierungsmitteln sind die Möglichkeiten der Entwicklung für die ländlichen Regionen gegeben und damit auch die Möglichkeit der Anpassung im Bereich der Arbeitsplätze. Um noch einmal auf den Hopfen zu kommen: Minister Miller hat ja gerade diesen Entscheid gelobt; auch ich sehe, dass das eine gute Entscheidung ist. Wir haben aus Bayern ein positives Signal erfahren; darum ist es umso merkwürdiger, dass Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, beim Hopfen Hü! sagen und bei der Umsetzung der GAP-II-Beschlüsse schon wieder Hott! Ihr Blockade- und Oppositionsfanatismus gefährdet die notwendigen Reformen, genauso wie Rauchen die Gesundheit gefährdet. ({2}) Gerade der Agrarbericht macht im Übrigen deutlich, dass die bisherige EU-Agrarpolitik weder den Betrieben noch den Landwirten noch den ländlichen Räumen Perspektiven für die Zukunft bietet. Albert Deß, auch wenn das deine letzte Rede hier war: Das, was du da gesagt hast, war Blödsinn; ({3}) denn die Berechnungen, die du aufgestellt hast, gründen sich auf irgendeine Haushaltsfiktion, die niemals Realität geworden ist. Man muss diese Aussage von Albert Deß also als Unterstützung dafür ansehen, dass wir mit den Reformen zurande kommen müssen. Meine Schlussbemerkung: Ich hoffe, dass wir morgen in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses eine Einigung finden werden hinsichtlich der Lösungen der Probleme, die wir bei der Umsetzung der Systeme im Bereich Milch, im Bereich der Schaf- und Ziegenhaltung, im Bereich der Mutterkuhhaltung und bei der Ausgestaltung der Cross-Compliance-Lösungen natürlich haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will aber auch ganz klar sagen: Um nach vorne zu kommen, brauchen wir jetzt eine Rahmengesetzgebung und klare Beschlüsse für die Zukunft, damit sich die Wirtschaft darauf einstellen kann. Alles andere wäre Chaos. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die Gedanken der FDP-Fraktion und der Kollegen, die hier sind, sind bei Matthias Weisheit. Wir haben vorgestern an der Trauerfeier teilnehmen können. Ich will sehr ausdrücklich betonen, dass wir in der Arbeitsphase, die jetzt vor uns liegt, Matthias Weisheit sicherlich intensiv vermissen werden. Wir werden uns darum bemühen, in Verantwortung und in Sachlichkeit den Geist, den er in seiner Arbeit immer zum Ausdruck gebracht hat, nämlich den Geist der Zusammenarbeit, zu realisieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute stehen drei agrarpolitische Themen auf der Tagesordnung. Das macht deutlich, welche besondere Bedeutung der Agrarbereich und der ländliche Raum insgesamt in der politischen Arbeit hat. Die Grüne Gentechnik, über die wir schon vorhin gesprochen haben, sehen wir Liberale als eine zusätzliche Chance, um zum Beispiel den negativen Tendenzen, die im Agrarbericht deutlich werden, entgegenzutreten. Ich glaube, dass sich mit der Grünen Gentechnik Chancen ergeben, die wir nutzen können, damit der Agrarbericht für unsere unternehmerischen Landwirte nicht so negativ ausfällt, wie er ausgefallen ist, und damit die Situation für die landwirtschaftlichen Betriebe und für die Ernährungswirtschaft insgesamt ein Stück gestärkt werden kann. ({0}) Wir werden heute Abend noch über das Tierarzneimittelgesetz reden. Auch dabei möchte ich betonen, dass wir größten Wert darauf legen, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das der Fachlichkeit in diesem Bereich Rechnung trägt. Tierärzte wissen, was sie zu tun haben; Bauern wissen, was sie zu tun haben. Dafür braucht es nicht den Gesetzgeber, der bis ins kleinste Detail hinein die Dinge regelt und einen bürokratischen Moloch aufbaut. Das kann nicht die Lösung sein. Wir haben schon jetzt viel zu viel Bürokratie in diesem Bereich. ({1}) Lassen Sie mich auch noch etwas zum Bereich EUAgrarreform sagen. Frau Wolff, ich finde es wohltuend, wie Sie hier Ihre Ausführungen vorgetragen haben. Sie wissen, dass wir in dieser Hinsicht viel Konsens miteinander haben. Es kann aber nicht angehen, dass vorher die Ausschussvorsitzende Roth in ihrer Rede - anscheinend mit Ihrer Unterstützung, Frau Wolff - den Oppositionsfraktionen Scheinheiligkeit und Heuchelei vorhält. Die Ausführungen von Frau Minister Künast haben mich gerade im Hinblick auf die morgige Arbeitsnotwendigkeit - wir müssen die EU-Agrarreform gemeinsam auf den Weg bringen - sehr enttäuscht. ({2}) Wir sind bereit, in vielfältiger Form Perspektiven in Zusammenarbeit zu entwickeln. Wir nehmen aber nicht hin, dass man uns hier Scheinheiligkeit und Heuchelei vorhält und damit im Grunde genommen die Möglichkeit der Zusammenarbeit zerstört. Das wollen wir nicht. Lassen Sie mich, weil es hier angesprochen worden ist, sehr konkret sagen, wie wir das Thema EU-Agrarreform angehen wollen. Wir sind stolz darauf, dass Ulrich Heinrich, der aus der Kulturlandschaft Baden-Württembergs kommt, die Kulturlandschaftsprämie erfunden hat. Als ich vorgestern zur Trauerfeier nach Friedrichshafen flog, habe ich diese Kulturlandschaft aus der Höhe betrachtet. Ich habe dabei wieder das tiefe Empfinden gehabt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir die Landwirte in der Kulturlandschaft Deutschlands erhalten und stützen. Deswegen sind wir für die Flächenprämie. ({3}) Wir sind für die Flächenprämie, weil sie dazu beiträgt, dass der Landwirt unternehmerische Möglichkeiten an den Standorten entwickelt, an denen es in Deutschland notwendig ist. Wir sind auch dafür, dass flexible Regelungen zum Grünlanderhaltungsgebot auf den Weg gebracht werden. Es gibt überhaupt keine Frage: Cross Compliance kann nur eins zu eins umgesetzt werden und keinen Deut darüber hinausgehen. Wir dürfen keine zusätzlichen nationalen Belastungen für unsere landwirtschaftlichen Betriebe und unsere Bauern auf den Weg bringen. ({4}) Eine Studie des Ifo-Instituts hat ganz besonders deutlich gemacht, dass wir gerade beim Agrardiesel und aufgrund der Ökosteuer Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil der deutschen Landwirte im internationalen Wettbewerb haben. Genau das wollen wir nicht. ({5}) Wir wollen, dass unsere tüchtigen Landwirte ihre Fähigkeiten entwickeln und voranbringen können. Ich sage klipp und klar: Eine einvernehmliche Regelung mit Herrn Trittin ist auf dem jetzigen Stand nicht mit uns zu machen - Ende der Durchsage. ({6}) Ich kann für mich erklären: Ich werde mich keinen Deut bewegen. Wir könnten uns vorstellen, im Bereich der Milch Nachbesserungen zu erreichen. Ich sage allerdings auch: Ich könnte mir eine Linie der Vernunft, der Mitte, die sich möglicherweise zwischen 2007 und 2013 einpendelt - man könnte die beiden Zahlen auch zusammenzählen und durch zwei teilen -, als eine gute Lösung vorstellen. Es macht keinen Sinn, der Holzhammermethode von Rot-Grün zu folgen. Es macht aus meiner Sicht aber auch keinen Sinn, der Linie zu folgen, die die CDU/CSU in besonderer Weise vorträgt, nämlich erst 2013 den Gleitflug einzuleiten. Wir halten das nicht für vernünftig, um die deutsche Landwirtschaft im internationalen Wettbewerb zu stärken. ({7}) - Kollege Carstensen, mir sind die besonderen Probleme der Milchwirtschaft bestens bekannt. Wie Sie wissen, komme ich aus einer Region, in der es relativ viele Milchbauern gibt. Ich war gestern bei einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Nähe von Bautzen, dessen landwirtschaftliche Fläche nebenbei bemerkt 8 400 Hektar groß ist. Dieser wird durch die auf verschiedenen Ebenen auf den Weg gebrachte Milchregelung ganz eindeutig leiden; das ist überhaupt keine Frage. Ich denke aber auch: Wenn wir das Jahr 2010 im Auge behalten und dafür sorgen, möglichst schnell zu einer gut ausgestatteten Grünlandprämie zu kommen, dann werden wir diese Probleme auffangen können. ({8}) - Lieber Kollege Carstensen, ich orientiere mich im Hinterkopf manchmal durchaus auch an den Beschlüssen der CDU/CSU und erinnere nur an Husum. In diesem Sinne wünsche ich uns eine Lösung der Probleme, die für die Landwirtschaft anstehen. Ich bin sehr entschieden der Auffassung: Wenn wir zusammenarbeiten, werden wir für den ländlichen Raum und für die Landwirtschaft viel erhalten können. In diesem Sinne sehen wir uns morgen früh um 9 Uhr wieder, um dann diese Arbeit anzugehen. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Jella Teuchner, SPDFraktion.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch ich darf mich zunächst bei Albert Deß dafür bedanken, dass wir trotz unterschiedlicher Auffassung in der Sache immer offen, fair und ehrlich im Ausschuss miteinander gekämpft haben und gut miteinander ausgekommen sind. Lieber Albert, von daher wünsche ich dir für die Zukunft alles Gute. Wir kommen ja beide aus Ostbayern: Ich bin gespannt, wie du versuchen wirst, die Brüsseler Beschlüsse oder Richtlinien in der Öffentlichkeit darzustellen, und welche Diskussion wir dann führen werden, wenn wir uns zukünftig irgendwo in Ostbayern treffen werden. Auf diese Diskussionen freue ich mich schon. ({0}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist ganz klar, dass die Landwirte in Deutschland gute Lebensmittel produzieren. ({1}) Das 2003 veröffentlichte Ergebnis des Lebensmittelmonitorings für das Jahr 2001 hat gezeigt, dass der weit überwiegende Teil der Lebensmittel keine oder nur sehr geringe Spuren von unerwünschten Stoffen enthält. Überschreitungen der Höchstwerte wurden lediglich in 2,2 Prozent der Proben gefunden. Dieses Ergebnis spricht für die Qualität der Lebensmittel, die unsere Landwirte produzieren. ({2}) Dieses Ergebnis spricht aber auch dafür, dass wir mit unserer Politik für sichere Lebensmittel auf dem richtigen Weg sind und auf diesem richtigen Weg fortfahren müssen. Die Landwirte produzieren nicht nur gute Lebensmittel, sie erbringen auch wichtige Leistungen für die Allgemeinheit. Gleichzeitig stellen die Verbraucherinnen und Verbraucher hohe Erwartungen sowohl an die Produktqualität als auch an den Herstellungsprozess. Diese Leistungen werden am Markt jedoch leider nicht honoriert. Im Gegenteil: Der Agrarbericht zeigt deutlich, dass es neben der Witterung gerade die schwachen Märkte waren, die den Landwirten die Bilanz verhagelt haben.Wir aber wollen, dass die Landwirte den Anforderungen auch in Zukunft gerecht werden können. Das heißt, wir müssen die Agrarförderung fortsetzen und auf eine zukunftsfähige Basis stellen. Mit der EU-Agrarreform und der nationalen Umsetzung erreichen wir dies bestimmt. In der letzten Woche haben viele Landwirte gegen die niedrigen Milchpreise protestiert. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht: Der Lebensmittelhandel, insbesondere die Discounter, verschleudern die Milch als Lockvogelangebot. Es ist richtig: Unter Einstandspreis dürfen Lebensmittel nicht verkauft werden. Das Problem ist aber, dass wir zu viel Milch haben. Erst ein Überangebot an Milch schafft die Voraussetzungen für diesen Preiswettbewerb auf dem Rücken der Bauern. Hier müssen wir ansetzen und den Bauern die Möglichkeit geben, auf Marktentwicklungen zu reagieren. Wir brauchen eine Agrarpolitik, die nicht mehr die Produktion von Überschüssen fördert; denn eine solche Agrarförderung wird nicht mehr akzeptiert. Darüber hinaus sollen sich die Landwirte am Markt und nicht an der Förderung ausrichten. Förderung gibt es dafür, dass die Landwirte Leistungen erbringen, die uns allen wichtig sind, die aber am Markt nicht honoriert werden. Deswegen ist es richtig, die Prämien von der Produktion zu entkoppeln. Es ist auch richtig, sie an die Einhaltung der Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit und zum Tierund Umweltschutz zu binden. Auf fast 30 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche wurden 2001 Agrarumweltmaßnahmen gefördert. Die Tendenz ist steigend. Der Flächenanteil des ökologischen Landbaus ist im Jahre 2002 auf 4,1 Prozent angestiegen. Dies zeigt, dass der Einsatz für eine besonders umweltfreundliche Landbewirtschaftung auch bei den Landwirten eine hohe Akzeptanz genießt. Wir wollen aber auch hier noch besser werden. Wir setzen das Bundesprogramm „Ökologischer Landbau“ fort, weil die Ökobetriebe die Betriebe sind, die im Wirtschaftsjahr 2002 und 2003 am besten abgeschnitten haben. Der ökologische Landbau kann für noch mehr Landwirte auch eine ökonomische Chance sein. Diese werden wir ihnen geben. ({3}) Die Lebensmittel aus dem ökologischen Landbau sind seit der Einführung des Biosiegels aus keinem Supermarkt mehr wegzudenken. Es war also richtig, ein gemeinsames Siegel einzuführen, das auch vom Einzelhandel akzeptiert wird. Es zeigt sich, dass sich über besondere Qualität - auch über die Prozessqualität - am Markt durchaus höhere Preise durchsetzen lassen. Es ist allerdings wichtig, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher die Qualität der Produkte nachvollziehen können. Dazu gehört eine verständliche und verlässliche Kennzeichnung. Dazu gehört aber auch eine Ernährungsberatung, die verloren gegangenes Wissen um Ernährung und Lebensmittel wieder aufbaut. Dazu gehört außerdem eine offene Kommunikation zwischen Herstellern und Kunden. Wir wollen deshalb weiterhin ein Verbraucherinformationsgesetz, weil nur Vertrauen in die Qualität höhere Preise ermöglichen kann. Die Landwirte sollen ihre Produktion am Markt ausrichten; das ist heute schon mehrfach angesprochen worden. Dazu bedarf es zum einen einer Agrarpolitik, die nicht die möglichst hohe Produktion von bestimmten Produkten fördert, zum anderen Verbraucher, die auf Basis verlässlicher Informationen die Qualität honorieren. Beides ist meiner Meinung nach möglich. Es bedarf einer Agrarpolitik, die die Qualität stärkt und das Vertrauen in die Landwirtschaft sicherstellt. Die EU-Agrarreform hat die richtigen Weichen gestellt. Es liegt also an uns, die darin liegenden Chancen zu nutzen. Gerade die Union hat schon bei der Agenda 2000 den Untergang der deutschen Landwirtschaft heraufbeschworen. Leider machen Sie dies jetzt wieder. Ihre Vorschläge sind leider inhaltlich nicht so ausgestaltet, dass sie verwertet werden können. Sie versuchen lediglich, zu blockieren und nach Möglichkeit wenig zu ändern, obwohl Sie wissen, dass die derzeitige Agrarpolitik vom Steuerzahler infrage gestellt wird und in der WTO nicht mehr lange durchsetzbar bleibt. Helfen Sie mit, die Chancen der Agrarreform zu nutzen! Hören Sie auf, weiterhin zu blockieren! Viele Landwirte haben schon erkannt, dass eine Fortsetzung der bisherigen Agrarpolitik nicht funktionieren kann. Ich hoffe, Sie zeigen sich hier einmal etwas lernfähiger. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun die Kollegin Gitta Connemann das Wort. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1996 gab es in meinem Heimatkreis noch annähernd 2 700 landwirtschaftliche Betriebe. Inzwischen hat davon mehr als ein Drittel aufgegeben. Wir liegen damit im traurigen Trend des Betriebssterbens. Davon sind Bauernfamilien, Arbeitnehmer, Dörfer und Kulturlandschaften betroffen. Höfe verfallen, Flächen liegen brach und die Talfahrt geht weiter. In den kommenden Jahren werden etwa weitere 40 Prozent der noch verbliebenen Betriebe aufgeben. Jede Betriebsaufgabe ist ein Schicksalsschlag; denn Bauer und Landwirt zu sein ist nicht Beruf, sondern Berufung. Aber vielen bleibt nur dieser Ausweg; denn sie stehen bereits jetzt mit dem Rücken zur Wand. ({0}) Die deutschen Bauernfamilien haben damit gelebt, ideologisch geächtet zu werden, aber sie können nicht mehr mit einem Einkommen leben, das sich seit Jahren im freien Fall befindet, und zwar ohne Aussicht auf Besserung, ganz im Gegenteil - so der Agrarbericht der Bundesregierung. ({1}) Bei der Vorlage dieses Berichts hat die Ministerin von dramatischen Zahlen gesprochen, eine aus meiner Sicht noch geschönte Bezeichnung für den erneuten Einbruch. Frau Kollegin Teuchner, wir reden die Landwirtschaft nicht kaputt, es geht ihr einfach hundsmiserabel schlecht. ({2}) Ein Landwirt erzielt zurzeit für seine Arbeitskraft durchschnittlich nur noch 1 540 Euro brutto, 1 540 Euro für Lebensunterhalt, soziale Sicherung, für Verzinsung des Eigenkapitals und notwendige Zukunftsinvestitionen. Damit verdient er als Betriebsinhaber ein Drittel weniger als jeder gewerbliche Arbeiter, und das mit weiter sinkender Tendenz. Ich bin mir sicher, dass eine solche Einkommensentwicklung in allen anderen Wirtschaftsbereichen zu einem Massenaufschrei in dieser Republik geführt hätte. ({3}) Und hier? Ein großes Schweigen. Dabei muss gerade die Bundesregierung handeln, wenn schon nicht aus Verantwortung für die deutsche Landwirtschaft, dann aber bitte schön infolge eines gesetzlichen Auftrages. Nach § 1 Landwirtschaftsgesetz ist die Bundesregierung nämlich verpflichtet, durch politische Maßnahmen eine Teilnahme der Landwirtschaft an der allgemeinen Einkommensentwicklung sicherzustellen. ({4}) Dieses Ziel ist bei mehr als 80 Prozent der Betriebe verfehlt, und zwar deutlich. Damit ist die Bundesregierung verpflichtet, politisch zu helfen, und sie könnte einiges tun. ({5}) Sicher trägt sie keine Verantwortung für Ernteausfälle, aber ihre Politik hat zu einem Anstieg der Produktionskosten geführt, der in Europa einmalig ist, Frau Kollegin Höfken. Dies zeigt sich schon am Beispiel Agrardiesel. Die Steuerbelastung deutscher Landwirte ist um ein Vielfaches höher als die ihrer europäischen Nachbarn, in der Spitze 25-mal so hoch. Nationale Alleingänge wie zum Beispiel im Bereich von Immissionsschutz und Umweltverträglichkeitsprüfung führen zu weiteren Wettbewerbsnachteilen. So gelten kleinste Betriebe in Deutschland als Betriebe im Sinne des Bundes-Immissions-Schutzgesetzes. Ein Landwirt, der seinen Betrieb erweitern will, hat sich damit Anforderungen zu stellen, als plane er den Bau eines Chemiewerks. ({6}) Diese Liste ließe sich fortführen. Ich nenne hier nur praxisfremde Regelungen wie die Bestandsbuchverordnung oder die Viehverkehrsverordnung. Dies alles kostet nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch Geld, das den Bauern fehlt, was sie im europäischen Wettbewerb zurückwirft. Vor diesem Hintergrund ist es ein Schlag ins Gesicht, wenn die Ministerin erklärt, dass sich die deutschen Bauern mehr am Markt orientieren müssen. ({7}) Wie denn, bitte schön? Leider droht aber nach dem Agrarbericht noch mehr Gängelung seitens der Bundesregierung. Da erscheinen die Pläne zur Verbesserung der Haltung von Mastkaninchen noch harmlos. Anders ist dies schon bei dem geplanten Ackerbauverbot in Überschwemmungsgebieten. Auf einen Streich würden circa 900 000 Hektar kalt enteignet. Der nun vorliegende Entwurf zur Novelle der Düngeverordnung ist an Regelungsdichte kaum zu überbieten. Auf den Landwirt kommt damit ein noch nie gewesenes Maß an Aufzeichnungspflichten zu. Verstöße gegen diese Pflichten lösen nicht nur die Sanktionen nach der Düngeverordnungen aus, im Rahmen der nationalen Umsetzung von Cross Compliance würde dies auch zu einer Kürzung der Prämie führen. Im Rahmen der nationalen Umsetzung von Cross Compliance würde dies auch zu einer Kürzung der Prämien führen. Eine solche Mehrfachbestrafung ist in allen anderen Bereichen undenkbar, aber in der Landwirtschaft ist sie wie immer möglich. ({8}) Die Liste der Grausamkeiten ließe sich fortsetzen. Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist mir unbegreiflich, warum Sie immer weiter draufsatteln müssen und damit unseren Betrieben schaden. Ändern Sie Ihre Politik und machen Sie damit die deutsche Landwirtschaft wettbewerbsfähig! Dann kann sie auch in Konkurrenz zu unseren neuen Nachbarn treten. Denn von dieser Seite wird der Wettbewerb deutlich zunehmen. Unsere Agrarexporte in die neuen Beitrittsländer sinken, während die Importe aus diesen Ländern in 2003 um 15 Prozent gestiegen sind. In dem härter werdenden Wettbewerb sind den Beitrittsländern zahlreiche Ausnahmeregelungen eingeräumt worden. Das ist bedenklich. Jedes fünfte Ei, das zurzeit in Tschechien produziert wird, stammt aus Betrieben, die den EU-Standards im Tierschutz nicht genügen. ({9}) Dem hat die Ministerin zugestimmt. Voraussetzung für einen fairen Wettbewerb sind aber gleiche Standards für Hygiene, Umwelt und Tierschutz. Es gibt also viel zu tun. Ohne entsprechende Maßnahmen sind unsere Bauern hilflos. Die Ministerin hat vor kurzem gesagt, dass sie unsere bäuerlichen Betriebe wieder in die Mitte der Gesellschaft holen will. Dies wollen und können unsere Betriebe selbst schaffen. Aber dann geben Sie ihnen bitte auch die Chance dazu. Das setzt eine Änderung Ihrer Politik voraus. Es geht nicht darum, zu verordnen, sondern zu gestalten, und zwar gemeinsam. ({10}) Lassen Sie uns doch einen Agrarvertrag mit und zugunsten der Landwirtschaft und damit auch zugunsten unseres Landes abschließen! Denn die Landwirtschaft betrifft in existenzieller Weise die langfristige Lebensqualität aller Bürgerinnen und Bürger. Lassen Sie uns unseren Bauern wieder eine Perspektive geben! Wir von der CDU/CSU sind dazu bereit. Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger das Wort. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als unlängst der chinesische Ministerpräsident Deutschland besuchte, reiste er zunächst nach Bayern. Im Bild war ein stolz wie ein Honigkuchenpferd grinsender bayerischer Ministerpräsident zu sehen, ({0}) der mit dem chinesischen Besucher einen Bauernhof besucht und dort eine Biogasanlage des Herrn Pellmeyer besichtigt hat. Diese Biogasanlage ist vorbildlich und Herr Pellmeyer ist uns allen als einer der Vorkämpfer für das Erneuerbare-Energien-Gesetz gut bekannt. Ich weiß auch, warum Sie sich so aufregen. Dieses Gesetz, das vielen Landwirten in Deutschland ein zusätzliches Einkommen bringen und dafür sorgen soll, dass mit dem entsprechenden Know-how der Landwirtschaft die neuen Energieträger CO2-neutral mobilisiert werden, wird von der Union im Bundesrat in schamloser Weise blockiert. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, darf Ihnen der Kollege Carstensen eine Zwischenfrage stellen? Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Selbstverständlich.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, habe ich damals in dem „Spiegel“-Bericht richtig gelesen, dass es auch in Amerika Leute gab, die wie Honigkuchenpferde grinsten, als Sie dort die dicken Kinder besichtigt haben? ({0}) Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Wir kennen Peter Harry Carstensen. Weil er angegriffen wurde, versucht er jetzt, unter die Gürtellinie zu zielen. Lenken wir aber nicht von dem entscheidenden Punkt ab, lieber Herr Kollege, dass Sie eine wesentliche neue Einkommensquelle für die Landwirte in Deutschland blockieren. Der Kollege Deß muss sich künftig nicht mehr auf seine Hände setzen; denn er trägt - das wissen wir aus privaten Gesprächen - eine solche Reform durchaus mit. ({1}) Lassen Sie mich eines festhalten: Frau Bundesministerin Künast wird in der nächsten Sitzungswoche eine Regierungserklärung zum Thema Kinder und Ernährung abgeben. Es handelt sich dabei um ein ernst zu nehmendes Problem. ({2}) Wenn immer mehr 11-jährige, 12-jährige oder 13-jährige Kinder an Altersdiabetes erkranken, dann ist es dieses Thema wert, dass sich die Bundesregierung damit beschäftigt. ({3}) Wenn der gute Herr Kollege Carstensen meint, er müsse sich in dieser, wie ich finde, unflätigen Weise über entsprechende Berichte aufregen, dann soll er das machen. Aber ein solcher Stil lässt uns sicherlich nicht zu Freunden werden. ({4}) Zurück zum Agrarbericht. Im vergangenen Jahr machte sich ein weiterer Vorbote der Klimaveränderung bemerkbar. Es war ein Jahr absoluter Trockenheit. Gerade die Landwirtschaft ist von den Witterungsbedingungen abhängig. Die extreme Trockenheit hat die Ernte in vielen Regionen verdorren lassen und zu erheblichen Einnahmeausfällen geführt. Frau Connemann hat angegeben, dass die Einkommen der Landwirte kontinuierlich gesunken seien. Sie wissen es besser, werte Kollegin. 2001/2002 sind die Einkommen der Landwirte erheblich gewachsen. ({5}) - Stimmt, auf niedrigstem Niveau. Allerdings waren Sie da noch an der Regierung. ({6}) Deshalb sollten Sie lieber ganz still sein. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Folgendes hinweisen: Wenn wir über Durchschnittszahlen reden, dann müssen wir auch bedenken, dass die Einkommen in Parl. Staatssekretär Matthias Berninger der Landwirtschaft höchst ungleich verteilt sind. Einigen landwirtschaftlichen Betrieben geht es noch schlechter, als es die Durchschnittszahlen zum Ausdruck bringen, während andere Betriebe relativ gut dastehen. Hier geht es darum, mit der Reform der Agrarpolitik allen Landwirten eine Chance zu geben und Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Agrarsubventionen zu nivellieren. Aber auch diese Reform blockieren Sie im Bundesrat. ({7}) Wir werden der Landwirtschaft künftig Bedingungen schaffen, die sie marktnäher produzieren lässt. Es wird keine Silomaisprämien mehr geben, die dazu führen, dass die Bauern in bestimmten Regionen Mais anbauen, obwohl der Boden den Anbau von anderen Pflanzen besser zuließe. Wir werden die Landwirte von vielen Bevormundungen im Zusammenhang mit der Subventionierung erlösen und ihnen mehr Freiheit geben. Das unterstützt die FDP ebenso wie die Regierungsfraktionen. Das wird übrigens auch - das ist spannend - von einer Mehrheit der Länder mitgetragen. Auffällig ist: Während hier ein Zerrbild der Landwirtschaft gezeichnet wird - man behauptet, dass alles den Bach hinuntergehe -, trägt die Mehrheit der Länder im Bundesrat regelmäßig die Beschlüsse des Deutschen Bundestages mit. Ich erinnere nur daran, dass wir uns im Dezember letzten Jahres auf eine Stärkung der ländlichen Räume verständigen und neue Fördergrundsätze bei der Gemeinschaftsaufgabe verabschieden konnten. Besonders leise sind Sie, wenn die unionsgeführten Bundesländer die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ fordern. Wenn diese abgeschafft wird, dann wird gerade das Einkommen der Kleinbauern ganz massiv den Bach hinuntergehen. Auch hier wünsche ich mir von Ihnen mehr Mut. ({8}) Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. In der ersten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Marktordnung in den Bereichen Hopfen, Tabak und Oliven hat Herr Weisheit zum letzten Mal hier geredet. Wir haben auf dem Weg zu seiner Beerdigung mitbekommen, dass Matthias Weisheit in einer Hopfenregion lebt. Alle haben gesagt, dass er jemand gewesen ist, der sich intensiv mit den Landwirten auseinander gesetzt hat und dem die Familienbetriebe besonders am Herzen gelegen haben. Darin sind wir uns alle sicherlich einig. In seiner letzten Rede, die er in diesem Hause gehalten hat, hat er gesagt, dass unsere Reform von den Bauern in seiner Region mitgetragen werde und dass sie ihnen eine Perspektive gebe. Die Reform ist also gar nicht so schlecht, wie hier immer getan wird. Im Gegenteil: Sie gibt den Bauern eine langfristige Perspektive. Ich bin stolz darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Mehrheit in Europa für die Abschaffung der Tabaksubventionen gewinnen konnte und dass wir künftig auf sozialverträgliche Art und Weise die ländlichen Räume unterstützen, statt den Anbau von Tabak zu fördern, dessen Konsum zu erheblichen Gesundheitsgefährdungen führt. ({9}) Die Güte unserer Agrarpolitik wird nicht durch die Miesmacherei der CDU/CSU beeinträchtigt, sondern durch die gemeinsam von Bundestag und Bundesrat getragenen Beschlüsse und die Mehrheitsbeschlüsse, die wir auf europäischer Ebene durchsetzen, unter Beweis gestellt. Auch der Deutsche Bauernverband gibt gegenüber den Landesbauernverbänden immer mehr zu, dass die Reform kommen wird. Die einzigen ewig gestrigen Blockierer sitzen hier und werden demnächst teilweise auch im Europaparlament vertreten sein. Ich danke Ihnen herzlich. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Peter Jahr für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Jahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003560, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Berninger, Ihr Vorwurf, die CDU/CSU und die Liberalen blockierten die gemeinsame Reform der Agrarpolitik, geht völlig am Thema vorbei. ({0}) Sie haben einen engen Zeitplan vorgegeben. Wir und die Bundesländer sind bereit, die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss unter Einhaltung dieses Zeitplans zum Erfolg zu führen und eine gemeinsame Agrarreform zu beschließen und durchzusetzen. Natürlich machen solche Äußerungen wie diejenigen, die Sie eben gemacht haben, die Sache nicht leichter. Aber wir stehen natürlich dazu, dass man eine Reform, die man begonnen hat, auch zu Ende bringen muss. Bitte werfen Sie uns nicht vor, dass wir nicht bereit sind, Verantwortung für die deutsche Landwirtschaft zu übernehmen. Wir tun das, auch wenn es uns bei Ihren Vorgaben manchmal schwer fällt. Bei vielen Gesetzen von Rot-Grün haben wir immer wieder das Problem, dass nur die Überschrift gut ist, aber nicht der Inhalt. Ich mag den Agrarbericht, denn er enthält Zahlen und an denen kann man sich nicht so einfach vorbeimogeln. Wenn der Haushalt die in Zahlen gegossene Politik einer Regierung darstellt, dann ist der Agrarbericht der Bundesregierung eine Art Zwischenprüfung. Wenn man den vorliegenden Bericht von seinen lyrischen Elementen befreit, dann stellt man fest, dass der Inhalt wenig schmeichelhaft ist. Das Positive steht nur im Text und lässt sich zahlenmäßig nicht nachweisen. ({1}) Die Kollegin Connemann hat schon darauf hingewiesen, dass der Gewinn pro Arbeitskraft in den letzten Jahren immer weiter gesunken ist. Das durchschnittliche Einkommen der Betriebe beträgt zurzeit ungefähr 20 000 Euro im Jahr. Das entspricht 1 667 Euro im Monat. Diese Rechnung kann man natürlich fortführen: Zieht man diesem Bruttowert noch die Sozialkosten ab, dann kommt man auf einen Nettowert von circa 1 200 Euro im Monat. Irgendwann landen wir bei einem Nettolohn von 5 Euro pro Stunde. Diese Zahl sagt manchen nicht viel. Allerdings fragen mich viele Landwirte: Braucht man bei solch einem Einkommensniveau überhaupt noch einen Minister? 5 Euro pro Stunde: Sieht so eine erfolgreiche Agrarwende aus? Das nächste Beispiel ist die so genannte Vergleichsrechnung im Agrarbericht. Ich finde in jedem Agrarbericht den Abschnitt „Vergleichsrechnung nach § 4 Landwirtschaftsgesetz“ ziemlich interessant. Manche mögen schon vergessen haben: Nach § 4 des Landwirtschaftsgesetzes ist ein Vergleich der Einkommenssituation mit anderen Wirtschaftszweigen vorzunehmen. Die Ergebnisse sind zahlenmäßig so vernichtend, dass die Bundesregierung einfach feststellt - ich zitiere aus Seite 33 dieses Berichts -: Die Vergleichsrechnung nach dem LwG ist heute kaum noch aussagefähig. Gewerbliche Arbeitnehmer- und Tarifgruppen, die mit landwirtschaftlichen Unternehmen uneingeschränkt vergleichbar sind, gibt es nicht. ({2}) Das ist also eine Problemlösung à la Rot-Grün: Wenn das Ergebnis zahlenmäßig nicht stimmt, dann wird es einfach wegredigiert. ({3}) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in der Tat arbeiten viele Landwirte de facto unter Mindestlohn. Nur noch 17 Prozent der Betriebe erreichen eine den Vergleichsansätzen entsprechende Faktorenentlohnung. Noch ein drittes Beispiel. Abstand verhilft manchmal zu neuem Weitblick. Auf Seite 41 dieses Berichts steht das erscheint mir sehr hilfreich -: Als makroökonomischer Indikator für die Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft der EUMitgliedstaaten wird u. a. die Nettowertschöpfung je Arbeitskraft verwendet. Aus diesem Zahlenmaterial gehen zwei interessante Tatsachen hervor. Erstens. Deutschland nimmt Platz neun in der Europäischen Union der 15 ein, das heißt, wie mittlerweile überall, hinteres Mittelfeld. Man könnte bezogen auf Ihre Agrarpolitik auch sagen: Die Drei ist die Eins des kleinen Mannes. Zweitens. Deutschland ist im Jahr 2003 in der Landwirtschaft bei der Nettowertschöpfung von 1995 angelangt. Meine Damen und Herren von RotGrün, das heißt doch schlicht und ergreifend: Ihre Agrarpolitik, Ihre „berühmte“ Agrarwende, hat die deutsche Landwirtschaft in das Jahr 1995 zurückgebombt. ({4}) - Angesichts des Kampfes gegen die Bürokratie, gegen die Verwaltungsvorschriften und gegen andere rot-grüne Segnungen, den unsere Landwirte täglich bestehen müssen, kommt es manchmal zu kriegsähnlichen Erscheinungen. ({5}) Ich wiederhole: Gesetzeslyrik kann schön sein; aber die Zahlen sprechen halt eine andere Sprache. ({6}) Diese Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht, sondern sie stehen in Ihrem Agrarbericht. Fakt ist: Seit 1995 hat sich für die deutschen Landwirte nichts bewegt. ({7}) Was ist zu tun? Erstens. Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, nehmen Sie sich eine kurze Auszeit und lesen Sie sich nochmals Ihren eigenen Ernährungs- und Agrarbericht durch! ({8}) Zweitens. Fühlen Sie sich, zumal im Teilbereich Landwirtschaft, endlich als Wirtschaftsministerium, das in einer gemeinsamen europäischen Agrarpolitik agiert! ({9}) Drittens. Beseitigen Sie jegliche Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Europäischen Union! ({10}) Denn Wettbewerbsverzerrungen bringen den Landwirten direkte Einkommenseinbußen. Noch einfacher: Setzen Sie alle EU-Richtlinien eins zu eins um ({11}) und verzichten Sie auf das deutsche Sahnehäubchen! ({12}) Schaffen Sie endlich Wettbewerbsgleichheit und lassen Sie die Landwirte endlich etwas unternehmen: frei, anerkannt, ohne Wettbewerbsverzerrungen! Wenn es um die deutsche Landwirtschaft und wenn es um die deutschen Bäuerinnen und Bauern geht, werden wir Sie, wenn es sein muss, unterstützen. Schlussbemerkung: Wenn der agrarpolitische Bericht eine politische Zwischenprüfung darstellt, dann sind Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, glatt durchgefallen. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie auch das Examen vermasseln. Der Termin der Abschlussprüfung steht übrigens schon fest: die Bundestagswahl 2006. Ich danke Ihnen. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen einge- brachten Gesetzentwurf zur Änderung des Betriebsprämi- endurchführungsgesetzes auf Drucksache 15/3046. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/3223, den Ge- setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Mehr- heit angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu er- heben. - Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Damit ist der Ge- setzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 9 b: Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 15/2457 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. - Darüber besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für ein höheres Liberalisierungsniveau beim Welthandel mit Dienstleistungen - GATS-Verhandlungen zügig voranbringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Internationale Rechtssicherheit und trans- parente Regeln für den Dienstleistungshan- del - GATS-Verhandlungen voranbringen - Drucksachen 15/1008, 15/1010, 15/3101 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G. Fritz, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern von Cancun konstruktiv und zügig voranbringen - Drucksachen 15/1567, 15/3222 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Qualitätssicherung im Bildungswesen und kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren - Drucksachen 15/1095, 15/1844 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Flach Ulla Burchardt Thomas Rachel Ursula Sowa Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hat in seine Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3222 den Antrag der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1931 mit dem Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen - Mehr Entwicklung, Armutsbekämpfung und Wohlstand durch Freihandel“ einbezogen. Über diesen Antrag soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache. Die Kollegin SkarpelisSperk, die diese Debattenrunde für die SPD-Fraktion beginnen sollte, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte heute gern auf Frau Skarpelis-Sperk geantwortet. Cancun, die WTO-Ministerkonferenz, deren Scheitern allseits beklagt worden ist, liegt etwa ein halbes Jahr zurück. Mittlerweile hat man den Eindruck: Es war vielleicht doch nicht nur ein Scheitern; es haben sich einige neue Entwicklungen ergeben. Die Entwicklungsländer sind organisationsfähig und artikulationsfähig geworden. Der Zeitablauf hat dazu geführt, dass an vielen Stellen ein Nachdenken über die Frage eingesetzt hat, ob man die Tagesordnung in der Weise überfrachtet halten muss, wie das der Fall war, ob es Dinge gibt, auf die man sich konzentrieren kann, und ob man in den Bereichen, die das Scheitern vor allem verursacht haben, zum Beispiel im Agrarbereich, weiterkommen kann. Jetzt stellen wir fest: Es kommt Bewegung in die WTO-Verhandlungen. Nach der Enttäuschung sind jetzt wieder ein Stück Aufbruch und der Wille, gemeinsam weiterzukommen, zu spüren. Wirklich substanzielle Fortschritte gibt es natürlich noch nicht, aber die Genfer Verhandlungen haben gezeigt, dass an vielen Stellen Beiträge geliefert werden. Die Europäer haben sich in vielen Punkten bewegt und die USA haben deutlich signalisiert, dass sie zumindest an einer Fortsetzung der multilateralen Verhandlungen interessiert sind und daran, dass man in Doha zum Erfolg kommt. Das war ja nicht immer klar, gab es doch nach den Verhandlungen in Cancun deutliche Anzeichen dafür, dass man den Weg über bilaterale Verhandlungen einschlägt, weil dieser attraktiver zu sein schien. Tatsächlich gibt es Bemühungen um weitere bilaterale Abkommen, nicht nur vonseiten der USA mit südamerikanischen Staaten, sondern zum Beispiel auch vonseiten Australiens mit südostasiatischen Staaten. Zum aktuellen Optimismus hat insbesondere die EUInitiative vom 9. Mai beigetragen. Sie beinhaltet ein deutliches Signal für den Abbau von Agrarexportsubventionen. ({0}) - Ja, aber die hätte das auch akzeptiert. Ich denke an eine sehr interessante Anhörung, Frau Kollegin, die heute Morgen von der CDU/CSU-Fraktion zu dieser Frage durchgeführt wurde. Hier beschäftigte man sich auch mit der fehlenden Kohärenz zwischen Entwicklungs- und Agrarpolitik. ({1}) Es wurde ganz klar, dass diese ein Haupthindernis für Fortschritte ist. Zugleich darf man nicht übersehen, dass bei einem allgemeinen Abbau von Subventionen nicht nur bei uns, sondern auch in manchen Entwicklungsländern neue Verwerfungen entstehen. Deshalb muss man natürlich sehr sorgfältig mit solchen Forderungen umgehen. ({2}) Die Singapur-Themen haben sich als ein Hindernis für Fortschritte herausgestellt. Mittlerweile sind die Europäer zu der Überzeugung gekommen, dass man die Singapur-Themen auf Handelserleichterungen und Reform der Zollverfahren reduzieren kann. Das ist gut so, denn die Hoffnung der Europäer, man könne sich für Kompromisse bei den ursprünglichen Themen ein substanzielles Entgegenkommen anderer Staaten einhandeln, hat sich als Illusion erwiesen. In Wirklichkeit geht es also in den übrig gebliebenen Punkten nicht mehr um Kompensationsgeschäfte, sondern darum, welche Vorbedingungen für eine sich organisierende Dritte Welt, die man wahrnehmen und ernst nehmen muss, erfüllt werden können. Hier müssen Lösungen gefunden werden. Bei den GATS-Verhandlungen in Genf hat sich in der Zwischenzeit nichts bewegt. Das ist auch nicht verwunderlich, denn alle wissen, dass die Bereitschaft vieler Länder, sich in den anderen in Doha vereinbarten Bereichen zu bewegen, ausschließlich davon abhängt, ob sich bei den entscheidenden Fragen wie Agrarsubventionen und Marktzugang vorher etwas tut. Da bestehen gute Chancen. Immerhin hat Herr Zoellick angekündigt, dass auch die Vereinigten Staaten über die Frage der Subventionen, der Lebensmittelhilfe und der damit verbundenen Stützung der eigenen Märkte sprechen werden. Ob sich in den USA im Wahljahr etwas bewegen lässt, werden wir sehen. ({3}) Es gibt immerhin Signale, dass es so viel Entgegenkommen gibt, dass im Juli in Genf der Prozess weitergeht und im nächsten Jahr, wenn die Kommission neu bestellt ist und die USA gewählt haben, die Verhandlungen erfolgreich vorangebracht werden können und auf einer der nächsten Ministerkonferenzen ein, wenn auch abgespecktes, Ergebnis vorliegen wird. Durch weiteren Abbau von Zöllen und weitere Liberalisierung rücken dann die Wohlfahrtsgewinne, die wir uns alle aus diesen Verhandlungen erhoffen, in greifbare Nähe. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in letzter Zeit den Abgeordneten regelmäßige Berichte über den Stand der Verhandlungen zukommen lassen. Dafür bedanken wir uns ausdrücklich. Wir sind allerdings der Meinung, dass das das Mindeste ist, was sie tun kann. Wir würden uns darüber freuen, wenn die früher geübte Praxis regelmäßiger Konsultationen der Regierung mit den Parlamentsberichterstattern wieder aufgenommen würde. Eines ist ganz klar: Es ist unsere Aufgabe, über die bestehenden Netzwerke dazu beizutragen, dass ein positives Klima für die weiteren Gespräche entsteht. Das können Sie nicht alleine. Deshalb tun Sie bitte diesen Schritt, auch wenn er ein wenig Arbeit bereitet. Es gibt also keinen Grund zum Pessimismus. Vielmehr gibt es Ansatzpunkte für einen neuen Optimismus. Wir hoffen auch im Sinne der Entwicklung unserer Wirtschaft, dass die nächsten Verhandlungen erfolgreich sein werden. Vielen Dank. ({4}) Das Präsidium bedankt sich für die punktgenaue Einhaltung der Redezeit. ({5}) Ich erteile das Wort nun der Kollegin Gudrun Kopp für die FDP-Fraktion. ({6})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das kann gar nicht falsch sein. ({0}) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es ist auch in diesem Haus noch notwendig, darauf hinzuweisen, dass Marktöffnung und Liberalisierung des Welthandels zu mehr Wohlstand, mehr Bildung, mehr Gesundheitsvorsorge und insgesamt besseren Lebensverhältnissen weltweit führen. ({1}) Dies ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Globalisierung birgt, bei aller Skepsis und bei allen negativen Seiten, aus Sicht der Liberalen eindeutig mehr Chancen als Risiken. Wir sollten diese Chancen unbedingt nutzen. Der Kollege Fritz sprach eben davon, dass wir seit der Doha-Konferenz im vergangenen September in Cancun nicht sehr viel weitergekommen seien. Trotzdem bezeichnen Sie die Entwicklung als positiv. Ich denke, dass im Augenblick auf allen zu beratenden Themenfeldern die Politik der kleinen Schritte angesagt ist. Das ist auch gut so. Wir kommen voran, wenn auch nicht mit der großen Agenda, die wir uns vorgenommen haben. Sei’s drum, es wird vorangehen. Ich glaube allerdings nicht, dass es vor den Wahlen in den USA zu irgendwelchen Ergebnissen kommen wird; so lange werden wir leider abwarten müssen. Wir haben auf der Tagesordnung unter anderem den Welthandel mit Dienstleistungen, die so genannten GATS-Verhandlungen. Wenn man sich einmal anschaut, um welche Daten und Fakten es dabei geht, kann man erkennen, wie wichtig der gesamte Bereich ist. Gemäß der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bank standen im Jahr 2002 den Erlösen aus dem Dienstleistungsexport in Höhe von 110 Milliarden Euro Ausgaben für Dienstleistungsimporte in Höhe von 140 Milliarden Euro gegenüber. Zwei Drittel der deutschen Direktinvestitionsbestände im Ausland entfallen auf die Dienstleistungsbereiche. 1,6 Millionen Mitarbeiter erwirtschaften in 21 000 Dienstleistungsniederlassungen deutscher Unternehmen einen Umsatz von 640 Milliarden Euro im Jahr. Es geht also um eine riesengroße Branche, die es zu liberalisieren gilt. Nun geht es uns Liberalen - ich glaube, da sind wir uns in diesem Haus auch einig - darum, dass für mehr internationale Rechtssicherheit, Transparenz und fairere Chancen für die Entwicklungsländer gesorgt wird. Dabei ist es absolut notwendig, die Parlamente enger einzubinden. ({2}) Dies ist unabdingbar. Aber ich weiß auch, dass gerade beim Thema Dienstleistungen in diesem Haus, insbesondere bei Rot-Grün, Vorbehalte und Ängste bestehen und die Tendenz, bestimmte Bereiche immer weiter abzuschotten. Deswegen verweise ich noch einmal darauf, dass die Verpflichtungen in den GATS-Abkommen nur auf bereits privatisierte, unstreitige Dienstleistungen zielen. Darüber ist zu verhandeln. Es geht nicht darum, in hoheitliche Aufgaben einzugreifen, und auch nicht um Eingriffe ins Einreise- oder Arbeitsgenehmigungsrecht oder gar ins Tarifrecht. Ich betone ausdrücklich, dass es um eine notwendige Öffnung in bestimmten Bereichen geht, und zwar unter Wahrung der hoheitlichen Kompetenzen, und nicht darum,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- Dienstleistungsbereiche quasi einem ungehinderten Austausch zu öffnen. ({0}) Ich wünsche mir, dass die Anträge der FDP-Bundestagsfraktion von diesem Haus positiv beschieden werden und dass die Doha-Runde recht bald erfolgreich abgeschlossen werden kann. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Michaele Hustedt für Bündnis 90/Die Grünen, die ich um Nachsicht dafür bitte, dass sie nicht schon vorher das Wort bekommen hat. Das kann hoffentlich durch einen leichten Zuschlag bei der Redezeit kompensiert werden.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle sind besorgt über das Scheitern von Cancun und wünschen uns natürlich einen Neuanfang für die Welthandelskonferenz. Es gibt aus meiner Sicht keine Alternative für ein multilaterales System. Wir als Exportnation Nummer eins haben ein Interesse daran, nicht nur bilaterale und regional gültige Verträge abzuschließen, die dazu führen würden, dass unsere Handelsbeziehungen, wie man so schön sagt, einem Teller Spaghetti gleichen. Aber auch die Entwicklungsländer haben in einem multilateralen System bessere Chancen, ihre Interessen durchzusetzen, als im Falle von bilateralen Verträgen. Nicht zuletzt gilt: Multilaterale Verhandlungen sind transparenter und damit demokratischer als bilaterale Verträge. Deswegen wünschen auch wir, dass der Faden von Cancun wieder aufgenommen wird und dass es eine Fortsetzung der Welthandelskonferenz gibt. Man muss fragen: Woran ist Cancun gescheitert? Was war das Problem? Meine Einschätzung ist - da gehe ich mit Ihnen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, einigermaßen konform -, dass die Entwicklungsländer nicht mehr die armen Länder sind, die nur „Bitte, bitte“ sagen. Das Kräfteverhältnis hat sich ein Stück verschoben. Die Entwicklungsländer besitzen einen Anteil am Welthandel von 30 Prozent. Deswegen wollen sie mitreden und durchsetzen, dass diese Runde, wie versprochen, zu einem echten Benefit für sie wird. ({0}) Mit Blick auf die vorliegenden Anträge muss ich auf drei Fehler aufmerksam machen, die gemacht wurden. Die FDP spricht in ihrem Antrag davon, dass auch nach dem Scheitern von Cancun die Singapur-Themen ganz oben stehen sollen und dass eine Diskussion darüber mit Vehemenz eingefordert werden soll. Diese Haltung wird aber von mehr als 100 Staaten nicht akzeptiert, was eine der Ursachen für das Scheitern von Cancun war. Dass man auf der einen Seite sagt, man wünsche sich, dass die WTO-Verhandlungen wieder in Gang kommen, und auf der anderen Seite davon spricht, die Singapur-Themen dürften nicht aufgegeben werden, ist nach meiner Ansicht ein Fehler. Hinzu kommt, dass die FDP in ihrem Antrag wieder einmal viel zu schematisch argumentiert - das gilt auch für Ihre Rede, Frau Kopp -, dass eine Öffnung der Märkte immer positiv ist. Inzwischen sind wir in der weltweiten Debatte viel weiter. Selbst die Weltbank und der IWF räumen ein, dass es die asiatischen Tigerstaaten richtig gemacht haben. Teilweise haben sie ihre Märkte geöffnet und teilweise haben sie sie unter Beachtung ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen geschützt. Der richtige Weg ist die schrittweise Öffnung zum Weltmarkt und nicht der Weg, den Sie vorschlagen und der früher Argentinien aufgedrängt wurde. Für Argentinien führte dieser Weg ins Verderben. Noch eine Bemerkung zum Antrag der CDU/CSU. Herr Fritz, ich freue mich, dass Sie Gespräche mit Ihren Kollegen aus dem Agrarausschuss führen. Das ist allemal nötig. Im Ausschuss haben Ihre Kollegen den Vorschlag der EU eindeutig abgelehnt. Die Agrarlobby hat nicht eingesehen - damit bin ich bei einem weiteren Fehler, einem Fehler, den Europa auf der WTO-Konferenz gemacht hat -, dass wir tatsächlich bereit sein müssen, den Entwicklungsländern Zugeständnisse zu machen. Ich weiß, Sie sehen das anders. Dem entgegne ich: Die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, hätten bei den Gesprächen dabei sein müssen, um sich dementsprechend äußern zu können. Die EU hat jetzt ein gutes Angebot gemacht. Sie hat sehr deutlich gesagt, dass sie das Auslaufen aller Agrarsubventionen akzeptiert, dass im Rahmen der SingapurThemen nur noch Verhandlungen über Handelserleichterungen aufzunehmen sind und dass den bedürftigen Entwicklungsländern zugestanden wird, dass sie im Rahmen dieser Runde keinerlei Zollsenkungen vornehmen müssen. Das ist ein sehr guter Vorschlag. Dass Frankreich so heftig dagegen protestiert, bestätigt mich in meiner Auffassung, dass es ein ambitionierter Vorschlag ist. Es ist ein echtes Angebot - das haben wir Grünen schon vor Cancun gefordert -, mit dem die EU auf dem richtigen Weg ist. Die Bundesregierung hat sehr eindeutig diesen Schritt der EU-Kommission gefordert und unterstützt ihn. Ich hoffe, dass diese Chance genutzt wird. Unter dem Scheitern von Cancun - das ist das eigentliche Thema unserer heutigen Debatte - haben die GATS-Verhandlungen gelitten, die im März zwar wieder aufgenommen wurden, die aber noch keine große Dynamik entfaltet haben, weil alles von materiellen Verhandlungsfortschritten auf dem Agrarsektor abhängig gemacht wird. Bei den GATS-Verhandlungen wird es keine Fortschritte geben, wenn es nicht vonseiten der entwickelten Industrienationen auf WTO-Ebene bei den Agrarverhandlungen echte Angebote gibt. Ich möchte für uns Grüne sehr deutlich machen, dass die Liberalisierung von Dienstleistungen für uns als Exportnation natürlich ein wichtiger Schritt ist, wir uns davon Chancen versprechen und wir deswegen diese Verhandlungen unterstützen. Es gibt allerdings ein paar Ausnahmen, über die wir im Bundestag schon mehrmals diskutiert haben. Dazu gehören die Themen Wasser, Bildung, Gesundheit und Kultur. Hierzu haben wir im Bundestag schon einige Anträge verabschiedet. Abschließend exemplarisch zum Thema Kultur, weil das in einigen vorliegenden Anträgen eine Rolle spielt. Die CDU/CSU hat einen Antrag zur Qualitätssicherung im Bildungswesen und zu kultureller Vielfalt gestellt. Im Grunde haben Sie unseren Antrag fast wortwörtlich abgeschrieben. Damals haben Sie unseren Antrag abgelehnt. Sie haben gesagt, dass das eine Überschätzung des Themas in der Öffentlichkeit bedeute. ({1}) Wir freuen uns, dass Sie sich inzwischen ein Stück weit bewegt haben. Kultur ist ein Lebenselixier unserer Gesellschaft. Die Erfolge des deutschen Films zeigen, dass es wichtig ist, die eigene Geschichte zu erzählen. Sie zeigen auch, dass die Vielfalt in der Europäischen Union erhalten bleiben und man nicht riskieren sollte, dass alles plattgemacht wird und es auch in Europa zu einer „Hollywoodisierung“ kommt. Deswegen ist die Förderung, die Finanzierung von Kultur durch uns kein Subventionstatbestand. Wir möchten, dass das auch so bleibt. Wir wissen, die EU hat hierzu keine Angebote gemacht. Ich möchte ganz klar sagen: Diese und andere Bereiche sind für uns im Rahmen von GATS nicht verhandelbar. Danke schön. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Hustedt, ich hoffe, wir beide sind jetzt quitt ({0}) und Sie bitten mich nicht bei jeder weiteren Debatte, später aufgerufen zu werden, um auf diese Weise die Redezeit verlängert zu bekommen. Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die Kollegin Marion Seib das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Marion Seib (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern haben die verehrten Kollegen von Rot-Grün im Ausschuss für Bildung und Forschung mit Begeisterung über die UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ diskutiert. Dabei geht es um eine möglichst weltumspannende Einbringung von politisch korrekten Zielen wie dem Nachhaltigkeitsprinzip in alle Ebenen der Bildung. Die Frage sei erlaubt: Würden Sie private Bildungsprogramme aus Nicht-EU-Ländern, die dieses Ziel befördern, in Deutschland zulassen oder ablehnen? Oder: Würden Sie deutsche Bildungsprogramme, die dieses Ziel verfolgen, am Export hindern? Bildungsdienstleistungen sind in das GATS-Abkommen als einer von zwölf Dienstleistungssektoren einbezogen worden. Öffentliche Bildungsdienstleistungen sind aber von den EU-Forderungen nicht erfasst. Das hat endlich auch die SPD verstanden. Deshalb begrüßen Sie in Ihrem zweiten Antrag, dass die Europäische Union in ihrer Verhandlungsposition die Bereiche Bildung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen von den Liberalisierungsverhandlungen ausgenommen hat. Dies ist dem ersten Antrag Ihrer Fraktion noch nicht zu entnehmen. Bildung und der Handel mit Bildung sind, wie sich am Beispiel der USA zeigt, ein bedeutsamer volkswirtschaftlicher Faktor. ({0}) Allein die Vereinigten Staaten erwirtschaften jährlich rund 10 Milliarden Dollar in diesem Bereich. Wichtig ist, dass bewährte Strukturen der öffentlichen Bildungs- und Kulturförderung in Deutschland durch GATS nicht infrage gestellt werden. ({1}) Im Bildungsbereich ist die Verantwortung des Staates besonders groß. Bildung gehört zu den Kernaufgaben einer demokratischen Gemeinschaft und darf nicht ausschließlich kommerziellen Gesichtspunkten untergeordnet werden. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungssystems in Deutschland darf deshalb nicht generell zur Disposition gestellt werden, auch nicht durch eine Subventionsabbaudiskussion. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir ausländische Bildungsanbieter subventionieren. Die Regeln zur Inländerbehandlung gemäß Art. XII des GATS-Vertrages dürfen deshalb nicht so ausgelegt werden, dass eine generelle Verpflichtung zur staatlichen Subventionierung auch privater Anbieter entsteht. Die staatliche Finanzierung von Bildungs- und Kultureinrichtungen in Deutschland darf keine Subventionsansprüche ausländischer Anbieter erzwingen. Ausländische Bildungsanbieter sind uns aber sehr willkommen. Sie tragen zu mehr Wettbewerb zwischen den Bildungsanbietern und damit zu mehr Leistungsorientierung und zur Qualitätssteigerung bei. Das Gleiche muss auch für die Kultur gelten. Die von den Bundesländern wahrgenommene Kulturhoheit darf durch das GATS-Abkommen nicht beeinträchtigt werden. Da ich gerade über die Länder spreche: Ich vermisse auch in Ihrem neuen Antrag eine Aussage zur Rolle der Länder. Diese hätten etwas mehr Aufmerksamkeit von Ihnen verdient. Bildung ist und bleibt überwiegend Aufgabe der Länder. Hinter GATS verbergen sich für die Bildungseinrichtungen nicht nur Risiken, sondern auch erhebliche Chancen im In- und Ausland. Beispielsweise gibt es über 16 000 Kooperationsvereinbarungen zwischen deutschen Hochschulen und ausländischen Einrichtungen. Ich bin zuversichtlich, dass diese Entwicklung anhalten und sich intensivieren wird. Durch den Bologna-Prozess entsteht ein europäischer Hochschulraum, der sich vor der Konkurrenz aus den Vereinigten Staaten, Australien oder anderen Ländern nicht zu verstecken braucht. Der Bologna-Prozess hat im Hochschulbereich eine gewaltige Dynamik entwickelt. Die Chancen, die sich durch ihn ergeben, gilt es auch in den GATS-Verhandlungen umzusetzen und durch neue Regelungen zu nutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Liberalisierungsverhandlungen so transparent wie möglich gestaltet werden. Dazu gehört, dem Deutschen Bundestag mit seinen Fachausschüssen und den Bundesländern im Vorfeld der weiteren Verhandlungsstufen im Rahmen des GATS Planungsstand, Veränderungen und weitere Liberalisierungsangebote umfassend und rechtzeitig zur Beratung vorzulegen. ({2}) Ich appelliere an Sie, keine Ängste zu schüren. Wozu das führt, haben wir bereits in Cancun erlebt. Wir können uns der Globalisierung unserer Welt nicht entziehen. Der einmal begonnene Weg ist nicht mehr umkehrbar. Unsere Aufgabe ist es, unsere kulturellen und bildungspolitischen Besonderheiten in diese Entwicklung einzubringen und abzusichern. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen. Besten Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/ 3101. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1008 mit dem Titel „Für ein höheres Liberalisierungsniveau beim Welthandel mit Dienstleistungen - GATS-Verhandlungen zügig voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1010 mit dem Titel „Internationale Rechtssicherheit und transparente Regeln für den Dienstleistungshandel - GATS-Verhandlungen voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 10 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache Vizepräsident Dr. Norbert Lammert 15/3222. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1567 mit dem Titel „Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern von Cancun konstruktiv und zügig voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1931 mit dem Titel „Doha-Runde bis 2005 zum Erfolg führen - Mehr Entwicklung, Armutsbekämpfung und Wohlstand durch Freihandel“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 10 c: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1844 zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/1095 mit dem Titel „Qualitätssicherung im Bildungswesen und kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren“. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Mit gleicher Mehrheit ist diese Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Passagierdatensammlungen und Datenschutzrechte - EU-Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika - Drucksachen 15/2761, 15/3120 Berichterstattung: Abgeordnete Frank Hofmann ({1}) Silke Stokar von Neuforn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von einem bin ich überzeugt: Der internationale Terrorismus kann nur gemeinsam von der internationalen Staatengemeinschaft erfolgreich bekämpft werden. Aufklärung im Vorfeld ist dabei unsere stärkste Waffe. Ein entscheidender Aspekt der vorbeugenden Terrorismusbekämpfung ist eben der Austausch von Daten, um möglichen Attentätern von vornherein auf die Spur zu kommen und sie daran zu hindern, terroristische Anschläge zu begehen. Vor diesem Hintergrund ist auch das Verlangen der USBehörden zu sehen, bereits vor dem Start eines Passagierflugzeuges in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika Zugriff auf Buchungsdaten der Passagiere zu erhalten. Auch auf EU-Ebene sind unter dem Aspekt der Grenzkontrolle mit der Einigung des Rates auf eine Richtlinie zur Verpflichtung von Fluggesellschaften, bestimmte Passagierdaten vorab zu übermitteln, bereits erste Schritte getan worden. Dabei dürfen selbstverständlich Datenschutz und Bürgerrechte nicht außer Acht bleiben. ({0}) - Hören Sie doch einmal zu! - Das Lösungspaket der Kommission - davon bin auch ich überzeugt - berücksichtigt ebendiese von mir erwähnten Rechte. Frau Stokar, ich möchte auch sagen: Es ist ausgewogen. Die Bundesregierung hat deshalb im Außenministerrat am 17. Mai dieses Jahres wie alle anderen EU-Mitgliedstaaten dem von der Europäischen Kommission ausgehandelten Abkommen zugestimmt. Ebenso hat die Kommission zwischenzeitlich ihren Beschluss zur Angemessenheitsfeststellung in Bezug auf die Verarbeitung der so genannten PNR-Daten durch die US-Zoll- und Grenzkontrollbehörden gefasst. Meine Bewertung entspricht der aus unserer Debatte vom 1. April dieses Jahres: Der gefundene Kompromiss ist eindeutig dem Status quo vorzuziehen. ({1}) Er entspricht in vielen Punkten dem Anliegen des Antrages, das die Bundesregierung durchaus teilt, oder kommt diesem, Herr Burgbacher, zumindest sehr nah. Entscheidend ist, dass die Bürgerrechte mit Abschluss des Passagierdatenabkommens deutlich besser geschützt werden, als dies für USA-Reisende bisher der Fall war. ({2}) Der rechtliche Ausgangspunkt ist klar: Das Bundesdatenschutzgesetz verlangt für Datenübermittlungen in das nicht europäische Ausland ein angemessenes Datenschutzniveau; es verlangt keine Gleichwertigkeit. Die Kommission hat in ihren Verhandlungen mit den USA hinsichtlich der Behandlung dieser Daten Zusagen erhalten, die unter Berücksichtigung des transatlantischen Interesses an einem verbesserten Informationsaustausch ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleisten. Wenn teilweise der Eindruck erweckt wird, die Kommission habe einseitig den Wünschen der USA nachgegeben, ist dies schlichtweg unzutreffend. Auch die USA haben im Laufe der Verhandlungen Zugeständnisse gemacht. Hierbei sind zu nennen: die enge Beschränkung des Verwendungszwecks - Herr Burgbacher, auch das ist von Ihnen eingefordert worden - auf die Bekämpfung des Terrorismus und insbesondere der internationalen organisierten Kriminalität, die erhebliche Verkürzung der Speicherungsdauer - auch das ist auf dem Verhandlungswege erzielt worden -, der Verzicht auf bestimmte sensible Daten sowie - auch das darf nicht vergessen werden - die Einrichtung eines förmlichen Beschwerdeverfahrens. Positiv zu bewerten ist auch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika einer fortlaufenden jährlichen Evaluierung unter Beteiligung von EU-Datenschutzbeauftragten zugestimmt haben. Wer für die Ablehnung des erreichten Ergebnisses eintritt, muss realistische Alternativen benennen. Genau das - das muss ich doch noch einmal sagen, Herr Burgbacher - leistet der von Ihnen eingebrachte Antrag aber nicht. Die Passagiere mit Reiseziel USA erwarten jedoch nicht nur eine Problembeschreibung, sondern auch eine tatsächliche Verbesserung der bisherigen, unbefriedigenden Situation. Sie sehen es nicht als Überraschung an, dass ich aus der Sicht der Bundesregierung die Empfehlung abgebe, diesen Antrag abzulehnen. ({3}) Ich biete jedoch weiterhin ausdrücklich den konstruktiven Dialog über das an, was inhaltlich vereinbart worden ist, und über die Befürchtungen, die Ihrerseits hier und da artikuliert worden sind, die sich in der Praxis jedoch nicht so darstellen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für die CDU/CSU-Fraktion.

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist selten genug der Fall - das habe ich schon einmal gesagt -, dass Herr Körper bzw. die Bundesregierung und wir uns so einig sind. Aber in diesem Fall ist das so, weil es vernünftig ist. Deswegen haben wir auch gar keine Schwierigkeiten, das zum Ausdruck zu bringen. ({0}) Wir sind uns darin einig - ich denke, das trifft auch für die FDP zu -, dass nur eine gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus sinnvoll ist. Auch müsste es die Meinung der FDP sein - das denke jedenfalls ich -, dass dazu Aufklärung im Vorfeld nötig ist. ({1}) Herr Burgbacher, zu dieser Aufklärung im Vorfeld gehört, dass Daten ausgetauscht werden, zumal es sich - darauf komme ich gleich noch im Einzelnen zu sprechen - um solche Daten handelt, die jeder auch bisher schon immer und ganz selbstverständlich abgegeben hat. Es mutet schon ein wenig seltsam an, dass wir hier darüber streiten, ob Fluggesellschaften, die Amerika anfliegen, Daten, die jeder Fluggast seit jeher angegeben hat, an die amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehörden weitergeben dürfen, wenn zeitgleich, also in diesen Stunden, in den USA nach sieben al-Qaida-Mitgliedern gesucht wird und der Justizminister Ashcroft gestern vor klaren und aktuellen Gefahren für Großereignisse in diesem Sommer gewarnt hat. Auch der bayerische Innenminister - Herr Burgbacher, das haben auch Sie sicherlich zur Kenntnis genommen hat diese Warnungen nicht nur sehr ernst genommen, sondern auch von Warnungen an die deutsche Adresse gesprochen. Das heißt, dass wir uns in einem nicht neuen, aber doch sehr ernsten Abwägungsprozess befinden: zwischen dem, was an Prävention in Bezug auf die Terrorismusbekämpfung zu leisten ist, und dem Datenschutz und den Bürgerrechten, die, wie Sie eben richtigerweise gesagt haben, zweifellos nicht außen vor bleiben dürfen. Herr Staatssekretär Körper hat eben schon darauf hingewiesen, dass der jetzt gefundene Kompromiss eine deutliche Verbesserung ist, weil die Vereinigten Staaten für die Erteilung der Landeerlaubnis seit März letzten Jahres den unmittelbaren Zugriff auf die Buchungssysteme der betroffenen Fluggesellschaft verlangt haben. Er ist ihnen - das wissen Sie alle -, ohne dass es eine Rechtsgrundlage oder konkrete Absprachen gegeben hat, gewährt worden. Wäre das Abkommen, wie von der FDP beantragt, gestoppt worden, wäre dieser regelungslose Zustand - das finde ich jedenfalls sehr logisch - erhalten geblieben. Ich sage noch einmal, weil ja fürchterliche Szenarien beschrieben wurden: Es handelt sich um völlig normale und übliche Angaben, die für die Buchung eines Flugtickets auch von Ihnen, Herr Burgbacher, von mir und allen anderen erforderlich sind und die jeder Reisende ganz selbstverständlich angibt. Dazu gehören zum Beispiel: Name, Adresse, Abflugdaten und Rechnungsanschrift. ({2}) Hinzu kommen Daten, die die Fluggesellschaft braucht, ({3}) wie - das würde ich mir zum Beispiel wünschen - die Sitzplatznummer. Wenn, wie unlängst in Düsseldorf, Seuchengefahren bestehen, wäre es sehr interessant zu wissen, wer wo gesessen hat bzw. wer neben demjenigen, der infektiös angekommen ist, gesessen hat. ({4}) Das können wir im Moment nicht nachvollziehen. Vielleicht wäre es ja eine Anregung, dies demnächst zu regeln. Zu diesen Daten gehören auch die Nummer des Flugscheins und so spektakuläre Angaben wie die Nummern der Gepäckanhänger. Wie gesagt, jeder kann sich die 34 Daten, die gar nicht insgesamt erhoben werden, anschauen. Dann wird er die Aufregung, die hier zum Teil erzeugt wird, überhaupt nicht verstehen. Nun geht es noch um so genannte sensible Daten, die sofort gelöscht werden sollen. Das sind Daten, die gar nicht erhoben werden, sondern die der Fluggast von sich aus gerne kundtut, weil es vielleicht während des Fluges wichtig werden kann: ({5}) wenn er behindert ist, wenn er besonderes Essen bevorzugt. Wer keine E-Mail-Adresse hat, braucht keine anzugeben; wer bar bezahlt hat, gibt keine Bankverbindung an usw. Ich will das nicht weiter vertiefen. Wie gesagt: Es ist ein Kompromiss. Sieben Punkte scheinen mir besonders wichtig, weil sie eine deutliche Verbesserung sind: Ich nenne erstens: eine ausdrückliche Zweckbindung an die Bekämpfung des Terrorismus und von damit im Zusammenhang stehenden Straftaten sowie an die Bekämpfung schwerer, länderübergreifender Straftaten. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, weil Sie mich das letzte Mal gefragt haben, habe ich natürlich aufmerksam gelesen, wie Sie sich geäußert haben. Gegenüber der „Tagesschau“ haben Sie erklärt: Abermillionen Daten landen künftig in amerikanischen Behörden, wo wir überhaupt nicht wissen, was damit gemacht wird. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie die Verpflichtungserklärung, von der wir eben gesprochen haben, überhaupt lesen konnten. Zweitens. Die Speicherfristen wurden auf drei Jahre und sechs Monate verkürzt. Wenn wir von Prävention im Bereich von Terrorismus reden, müssen wir zugestehen, dass das eine absolut akzeptable Zeit ist. Drittens. Für Fälle des Datenmissbrauchs durch Mitarbeiter der zuständigen US-Behörden sind in der Verpflichtung strenge Sanktionen - von Entlassung bis hin zu Freiheitsstrafen - vorgesehen; auch das ist ein Verhandlungsergebnis. Viertens. Bis zur Einführung des Filter-und-PushSystems ist die sofortige Löschung der sensiblen Daten zugesagt; darauf habe ich eben schon hingewiesen. Fünftens. Die Beschwerdemöglichkeit der Passagiere durch ihren nationalen Datenschützer oder direkt bei der US-Zoll- und Grenzschutzbehörde ist ein weiteres Verhandlungsergebnis. Sechstens. Die jährliche gemeinsame Überprüfung der Umsetzung der Verpflichtung in den USA durch ein EU-Team ist vereinbart. Siebtens. Die Festschreibung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Vereinbarung. Da zeigt sich deutlich, dass es den Amerikanern um ernsthafte und gemeinsame Terrorismusbekämpfung geht, so wie der Herr Staatssekretär das eingangs erwähnt hat. ({6}) Nun stellt sich wirklich ernsthaft die Frage, welches konkrete Ziel diejenigen verfolgen, die auch diesem Kompromiss nicht zustimmen können; das ist mir nicht erkennbar. Die Übermittlungsmethode hat sich schließlich geändert: weg von Pull, hin zu Push. Ich bin optimistisch, dass die Fluggesellschaften das sehr schnell umsetzen werden, da die Verbesserung des Übermittlungsverfahrens auch in ihrem eigenen Interesse liegt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einem zweiten Schritt strebt die EU-Kommission die Datenübertragung durch eine zentrale Einrichtung der EU an. Auch diesen Schritt halte ich für richtig, weil er die Datenübermittlung in einen hoheitlichen Zusammenhang stellt, bei dem sich die Partner auf Augenhöhe, wie das heute so schön heißt, begegnen werden. Weiterhin - wir haben das gestern in einem anderen Zusammenhang, im Rahmen einer Anhörung, besprochen - wird es einen weltweiten Standard für die Fluggastdatenübermittlung geben; die Initiative der ICAO, die auf einheitliche Datenschutzstandards abzielt, stellt auch im Interesse unserer Luftverkehrswirtschaft einen Schritt zu mehr Sicherheit in der Zukunft dar. Auch das finde ich richtig: Wir haben zur Kenntnis genommen, dass es sich bei diesem Kompromiss um eine zunächst auf dreieinhalb Jahre befristete Zwischenlösung handelt. Schließlich noch etwas ganz Praktisches: Diejenigen, die glauben, dass sie mit einer Nichtanerkennung dieses Kompromisses die deutschen Fluggäste schützen, erweisen ihnen in Wahrheit einen Bärendienst. Denn die Daten werden sie angeben müssen: Wenn sie das nicht hier tun - bei der Buchung ihres Fluges, im Reisebüro oder wo auch immer -, dann werden sie sich an einer langen Schlange bei der Einreise anstellen und dort ihre Daten abgeben müssen. Dass ihnen Letzteres angenehmer ist, kann ich mir nicht vorstellen. ({7}) Ferner gibt es, wie Sie wissen, eine privilegierte Behandlung von EU-Bürgern, trotz der heftigen Bemühungen von Rot-Grün, Frau Stokar, Sand ins Getriebe zu streuen. Ich kann nur wiederholen, was ich bei der letzten Debatte bereits ausgeführt habe: Wir haben den Datenschutz der USA überhaupt nicht zu bewerten. Es war schon immer so, dass die Besucher eines Landes sich den Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten. Deswegen haben sie die entsprechenden Einreisebestimmungen zu akzeptieren. ({8}) - Sehr richtig, Herr Winkler, und diese Angemessenheit ist zweifellos gegeben. Ich weiß nicht, ob es Ihnen möglich war, einmal genau zu schauen, wie dieser Kompromiss hinsichtlich der 34 Daten, auf die wir uns beziehen, aussieht. Unsere heutige Debatte kann sich also nur auf die auf europäischer Seite rechtmäßig zu erhebenden und zu übermittelnden Daten beziehen. ({9}) Ich weise noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass der Datenschutz kein Selbstzweck ist, sondern es, wie Herr Winkler eben richtigerweise gesagt hat, um eine Verhältnismäßigkeitsabwägung geht. Diese hat hier stattgefunden. Selbst der Bundesbeauftragte für den Datenschutz sagt, dass wir hier in Deutschland im Augenblick eine derartige Normenvielfalt, ein solches Durcheinander im Bereich des Datenschutzes haben, dass er die Zahl der Regelungen deutlich reduzieren möchte - eine Hausaufgabe für die nächsten Jahre, denke ich einmal - und eine Reform für dringend notwendig hält. Ich denke also, dass auch im Bereich des Datenschutzes weniger oft mehr wäre. ({10}) Meine Damen und Herren, es bleibt Ihr Problem, wie Sie die unterschiedlichen Abstimmungen im Europäischen Parlament und hier im Deutschen Bundestag unter eine Mütze bekommen. ({11}) Jedenfalls werden Sie sich damit in nächster Zeit sicherlich ausführlich auseinander setzen müssen. ({12}) Zum Abschluss möchte ich mich gerne noch an Herrn Burgbacher wenden - vielleicht kann er gleich in seiner Rede darauf eingehen -: Ich habe natürlich auch auf der Homepage der FDP nachgeschaut. Dort heißt es: Die EU-Kommission und die EU-Außenminister haben den Ausverkauf der Bürgerrechte in Europa eingeläutet. Herr Burgbacher, es ist mir völlig schleierhaft, wie Sie diese Aussage vor dem Hintergrund des eben hier erwähnten Kompromisses aufrechterhalten können. Ich meine, dass der Wert der Europäischen Gemeinschaft - nach dem Prinzip „Gemeinsam sind wir stark!“ durch die Verhandlungsleistung der EU-Kommission eindrucksvoll bewiesen wurde. Ich möchte mich im Namen der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich dafür bedanken, dass es zu diesem Kompromiss gekommen ist. Ich wünsche mir, dass es weitere gemeinsam erzielte Ergebnisse bei solchen internationalen Verhandlungen gibt, und bedauere natürlich ausdrücklich, dass wir aus sachlichen Gründen dem Antrag der FDP nicht zustimmen können. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin nach wie vor der FDP durchaus dankbar, dass sie diesen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Ich möchte das auch begründen. Das, was ich besonders kritisiere, ist das Verfahren. Ohne den Antrag der FDP hätten wir nicht die geringste Chance gehabt, über dieses Thema, das von großem öffentlichen Interesse in den Medien gewesen ist, hier im Deutschen Bundestag oder im Innenausschuss überhaupt zu diskutieren. Höchstens die ganz fleißigen Abgeordneten, ({0}) die die Berichte der EU-Kommission von vorne bis hinten durchlesen - ich weiß, dass das niemand schaffen kann -, hätten irgendwann im Nachhinein bemerkt, dass es dieses Abkommen gegeben hat. An Frau Philipp gerichtet möchte ich sagen: Ihre Hoffnung, dass es hier in irgendeiner Weise zu unterschiedlichem Abstimmungsverhalten bei Rot-Grün kommt, ist völlig unbegründet. Wir haben Unterschiede in der inhaltlichen Bewertung dieses Abkommens - das ist in den Redebeiträgen hier und auch in der Diskussion im Innenausschuss deutlich geworden -, aber auch die FDP wird mittlerweile festgestellt haben, dass es heute eigentlich gar nicht mehr um die Frage geht, ob wir ihrem Antrag zustimmen oder nicht. Der Antrag hat sich erledigt, weil man gehandelt hat. Ich möchte in meiner Kritik hier noch etwas zu dem Verfahrensverlauf sagen. Am 17. Mai hat der Rat der Außenminister den Vertragstext angenommen. Ich persönlich kann noch nicht einmal eine Kritik an unserem Bundesinnenminister anbringen; denn wie gesagt waren es die Außenminister, die dem Vertragstext zugestimmt haben. Im Zuge dieses Verfahrens hat das Europäische Parlament mit einem Mehrheitsbeschluss die Kritik an diesem Verfahren noch einmal inhaltlich begründet und sehr kluge Änderungsanträge gemacht. In diesen Änderungsanträgen hat es noch einmal deutlich gemacht, dass es zwischen dem berechtigten Sicherheitsinteresse der USA und dem Datenschutz einen besseren Kompromiss hätte geben können. Dies war eine Mehrheitsentscheidung des Europäischen Parlaments, das ein Gutachtenverfahren angestrengt hat, um die Frage zu stellen, ob das Abkommen mit EG-Recht, also mit dem europäischen Datenschutzrecht, vereinbar ist. Ich meine, es wäre im Sinne einer bürgerfreundlichen Politik gewesen, wenn die Außenund die Innenminister einfach abgewartet, den Mehrheitsbeschluss des Europäischen Parlaments respektiert und dieses Gutachtenverfahren zugelassen hätten. Dann müssten wir uns hier und heute nicht über die Angemessenheit und Rechtmäßigkeit dieses Abkommens unterhalten. ({1}) Wir sind jetzt in der Situation, dass das Europäische Parlament regelrecht ausgebootet ist. Das Europäische Parlament müsste nämlich innerhalb von zwei Monaten nach dem Beschluss des Rates eine Überprüfung vor dem Europäischen Gerichtshof beantragen. Dies ginge nur noch mit einer Sondersitzung, weil das Europäische Parlament erst am 19. Juli 2004, dann also in neuer Zusammensetzung, wieder zusammentritt. Ich möchte hier auch sagen, dass ich die Position der Grünen im Europäischen Parlament, die sich im Moment für die Einberufung einer außerordentlichen Sitzung des Rechtsausschusses einsetzen, ausdrücklich unterstütze. ({2}) Ich weiß, dass auch Europaabgeordnete der Liberalen an unserer Seite sind. Es gibt in diesem europäischen Verfahren ein ganz klares Demokratiedefizit. Ich denke, es würde ein gutes Bild abgeben, wenn die Regierungskommission - sie kann das entscheiden, weil es noch keine europäische Verfassung gibt - bereit wäre, eine solche Überprüfung zuzulassen. Ich kritisiere, dass der Vertragstext im Wissen um die Auseinandersetzungen im Europäischen Parlament in dieser Eile unterzeichnet worden ist ({3}) und wir als Parlamentarier dadurch handlungsunfähig geworden sind. Ich denke, dass wir alle ein Interesse daran haben sollten, die europäische Innen- und Rechtspolitik wieder stärker an nationale Parlamente und an das Europäische Parlament zu koppeln. Dann müssten wir hier auch nicht solche Auseinandersetzungen über Verfahren führen. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission einen Vertrag mit den USA vereinbart. Demnach werden von Passagieren, die die Vereinigten Staaten an- oder überfliegen, 30 und mehr persönliche Daten übermittelt. Das hat meines Erachtens weder etwas mit Bürgerrechten noch mit Datenschutz zu tun. Die USA wollen den gläsernen Bürger oder Reisenden und die EU-Kommission ist ihnen dabei zu Diensten. Es geht um den größten Datendeal der Neuzeit. Die PDS lehnt dies ab. Die Verhandlungen zwischen der EUKommission und den USA liefen schon länger und sie waren von Anfang an umstritten. Das EU-Parlament hat vor den Folgen eines solchen Vertrages gewarnt und mit Mehrheit beschlossen, vor dem Europäischen Gerichtshof dagegen zu klagen. Umso unglaublicher - wenn es denn stimmt - finde ich das, was im „Spiegel“ steht, nämlich dass Bundesinnenminister Schily schon vorab, auch vor den Kompromissverhandlungen, ebendiesem Datendeal zugestimmt hat und dass der Bundesaußenminister, wie von meiner Vorrednerin beschrieben, hier Tatsachen geschaffen hat. Deshalb finde ich auch: Das Problem ist eine echte Chefsache. Entweder haben die beiden Minister eigenmächtig gehandelt - dann ist es höchste Zeit für ein Kanzlerwort oder aber sie haben in Absprache agiert; dann steht die gesamte rot-grüne Regierung am Pranger. Liebe Kollegin Stokar von Neuforn, dann hilft auch das „einerseits“ oder „andererseits“ nichts, weil die Tatsachen auch durch Regierungsmitglieder der Bundesrepublik geschaffen wurden. ({0}) Nun komme ich zu den Versuchen, den Datenschutzbruch zu verharmlosen. Die USA hätten sich verpflichtet, heißt es, die Daten nur drei Jahre zu speichern und dann zu löschen. Ich finde, wer im Internetzeitalter und angesichts anhaltender Wortbrüche an solche Versprechen glaubt, der glaubt wirklich an den Weihnachtsmann. Außerdem hätten sich die USA verpflichtet, die EU zu informieren, falls sie gesammelte Daten an Dritte weitergeben. Das ist aber nichts anderes als ein Freibrief zum internationalen und geschäftstüchtigen Handel mit persönlichen Daten von Bürgerinnen und Bürgern. Man muss dieses Geschäft lediglich anzeigen - als ginge es um die Eröffnung einer neuen Imbissbude. Wir reden hier aber nicht über Würstchen oder Döner, sondern es geht um ein verbrieftes Grundrecht, das der informationellen Selbstbestimmung. Deshalb hat die FDP-Fraktion Recht, wenn sie hier im Bundestag mit ihrem Antrag die gelbe Karte gezeigt hat. Ich gebe für die PDS noch die rote Karte dazu. Dass die Opposition zur Rechten mit Ausnahme der FDP mit all dem kein Problem hat, wird niemanden verwundern. Ginge es nach Ihnen, dann gäbe es keinen Datenschutz mehr, das Demonstrationsrecht wäre längst kastriert und wir bekämen einen Überwachungsstaat neuer Prägung. Wenn es dafür eines Beleges bedurft hätte, so wurde er im Zuge der Einwanderungsdebatte geliefert. CDU und CSU haben aus einer Zuwanderungs- und Asyldebatte inzwischen eine Polizei- und Geheimdienstdebatte gemacht. ({1}) Das hilft der Bundesrepublik nicht und das vergiftet das gesellschaftliche Klima. Das hat auch nichts mit einer modern verfassten Europäischen Union zu tun. Ich sage Ihnen: Das hilft Ihnen auch nicht im notwendigen Kampf gegen den Terror.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann, SPD-Fraktion.

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte nach der letzten Rede sprachlos sein, aber ich bin es nicht geworden. Ich möchte mich auch nicht mehr auf das beziehen, was wir im Ausschuss und in der ersten Lesung besprochen haben. Mir geht es um einen anderen Punkt, nämlich um den Hintergrund. Die Auseinandersetzung, die wir führen, ist eigentlich eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Philosophien im Bereich der Sicherheit und des Datenschutzes. Als wir im Dezember des letzten Jahres gelesen haben, was mit den Daten passieren soll, da ging es mir wie vielen anderen so, dass wir wenig Verständnis dafür hatten. Die Frage war: Warum sollen meine Daten an die USA weitergegeben werden? Das ist aber nur unsere Sichtweise. Herr Burgbacher, versetzen Sie sich einmal in die Lage der US-Amerikaner und beziehen Sie deren kulturellen Hintergrund und deren Befürchtungen ein: Sie werden feststellen, dass das Verhandlungsergebnis - auch wenn es nicht mein und sicherlich auch nicht Ihr Wunschergebnis ist - der Kompromiss von autarken Staaten und Staatengemeinschaften ist. Inhaltlich finden sich darin unsere Grundzüge von Sicherheitsphilosophie und Datenschutzrecht wieder. Es ist nicht mein Wunschergebnis, aber es ist ein realistisches Ergebnis, das aus meiner Sicht den Datenschutz angemessen einbezieht. Ich wünsche und hoffe, dass sich in Zukunft die EU und das Heimatschutzministerium der USA in Konfliktfällen zusammensetzen, so wie es vorgesehen ist, um im beiderseitigen Einverständnis zu besseren Lösungen zu kommen. Der Weg dafür ist vorgezeichnet. Es wird ein internationales Abkommen geben. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass wir mit diesem internationalen Abkommen weiterkommen, und dabei unsere Interessen und unsere Datenschutz- und Sicherheitsphilosophie vertreten. Ihr Antrag hat bei uns durchaus zu mehr Sensibilität geführt, aber wir können mit dem Ergebnis der EUKommission durchaus gut leben - genauso wie die Fluggesellschaften und die Passagiere damit leben können -, weil es Rechtssicherheit gibt. Was die internationalen Standards betrifft, werden wir in Zukunft mitarbeiten und aufpassen, dass sich unsere Sicherheitsphilosophien darin wiederfinden. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Hofmann, ich möchte mich bei Ihnen ausdrücklich für die nachdenklichen Worte bedanken. Frau Kollegin Philipp hat vorhin gesagt, es handele sich um einen Abwägungsprozess. Es ist wirklich ein Abwägungsprozess. Wir alle haben das Interesse, Terrorismus zu bekämpfen. Darin sind wir uns alle in diesem Hause einig. Aber wir von der FDP wehren uns dagegen, dass unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung Datenschutz und Persönlichkeitsrechte geschleift werden. Das werden wir nicht mitmachen. ({0}) Liebe Kollegin Philipp, Sie haben sich stets darauf bezogen, was für die Zukunft geplant ist. Wir halten uns an das, was im Augenblick vereinbart ist. Mit dieser Lösung können wir nicht leben, um das klar zu sagen, sowohl aus inhaltlichen als auch formalen Gründen. Die EU-Kommission hat gegen den Widerstand des Europäischen Parlaments diese Angemessenheitsentscheidung in Verbindung mit dem „light agreement“ getroffen. Wir wollen den Abschluss eines internationalen Übereinkommens mit klar festgelegten Grundsätzen, das auf Gegenseitigkeit beruht. Was in die eine Richtung gilt, muss in die andere Richtung genauso gelten. ({1}) Sie wissen doch ganz genau, dass es Vorbehalte von allen Seiten gab. Die EU-Kommission selbst hat im Juni 2002 Vorbehalte geäußert. Auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion hat die Bundesregierung im Januar geantwortet - ich zitiere -: Im Hinblick auf den Datenschutz schließt sich die Bundesregierung der Bewertung durch die Europäische Kommission an. Die Europäische Kommission hat im Juni 2002 zum Online-Zugriff auf PNRDaten festgestellt, dass die entsprechende Verpflichtung der Fluggesellschaften mit den infolge der EG-Datenschutzrichtlinie 96/46/EG erlassenen Datenschutzgesetzen der EU-Mitgliedstaaten in Widerspruch stehen kann. ({2}) Das war ein Stand, den wir nachvollziehen können. Dann ging alles ganz schnell. Der deutsche Innenminister hatte nichts anderes zu tun, als ohne Befragung des Parlaments und gegen den Widerstand der eigenen Koalition nach Brüssel zu gehen und zu sagen: Wir tragen alles mit. - Das kann nicht unsere Politik sein. ({3}) Sie wissen, dass das Europäische Parlament den Gerichtshof angerufen hat und diese Entscheidung auch bestätigt wurde. Meine Damen und Herren von den Grünen, der Tiefpunkt des Ganzen war aber, dass dann der grüne Außenminister am 17. Mai den Beschluss der EUAußenminister mitgetragen und damit Tatsachen geschaffen hat. Damit müssen Sie sich schon auseinander setzen. ({4}) Selbstverständlich unterstützen wir, dass Daten abgeglichen werden. Wir fordern aber, dass der Grundsatz der Zweckbindung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Deshalb, Frau Kollegin Philipp, bringen wir unsere eigenen Ansprüche ein. Ich war in den USA. Wir haben eine Woche lang Gespräche mit Vertretern der Homeland Security geführt. Dort kannte gar niemand die Datenschutzbeauftragten, die es offensichtlich gibt. Wir müssen uns doch mit den Realitäten vertraut machen und nicht immer sagen: Vielleicht so, vielleicht anders. ({5}) Wir sind zu jedem konstruktiven Dialog bereit, aber wir werden immer darauf achten, dass auch bei der Terrorismusbekämpfung Persönlichkeitsrechte und Datenschutz gewahrt werden. Das entspricht übrigens der Meinung des neu gewählten Datenschutzbeauftragten, Herrn Schaar, der genau dies im Innenausschuss geäußert hat. Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt ansprechen. Frau Stokar hat schon in der Beratung im Ausschuss zum Ausdruck gebracht, dass ihre Fraktion die Position der FDP unterstützt. Aber nachher werden Sie gegen unseren Antrag stimmen. Eine solche Politik kann man nicht mittragen. ({6}) Sie lehnen unseren Antrag ab, Ihr Spitzenkandidat Cohn-Bendit stimmt im Europäischen Parlament wieder anders. Das ist Schizophrenie! Ich hoffe nur, dass der Wähler erkennt, dass eine solche Partei schlichtweg nicht wählbar ist, und dem am 13. Juni Rechnung trägt. ({7}) Die Wähler haben nichts davon, dass Ankündigungen gemacht werden. Sie haben nur dann etwas davon, wenn diese auch umgesetzt werden. Beim Zuwanderungsgesetz machen Sie derzeit exakt dasselbe. ({8}) Die nächste Kostprobe werden wir morgen früh in diesem Hohen Hause erleben: Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem wir einen Volksentscheid zur europäischen Verfassung - eine Forderung, die die Grünen immer wieder erhoben haben - anmahnen. Das beraten wir morgen erneut und Sie werden den Gesetzentwurf wieder ablehnen. Die Materie ist aber viel zu ernst, um ein Spiel damit zu treiben, wie es die Grünen tun. Ich bin sicher, Sie werden von den Wählern dafür die Quittung bekommen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/3120 zu dem Antrag der FDP mit dem Titel „Passagierdatensammlungen und Datenschutzrechte - EU-Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2761 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP und der Abgeordneten der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Anlegerschutzes ({0}) - Drucksache 15/3174 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Florian Pronold, SPD-Fraktion.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße den von der Bundesregierung erarbeiteten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Anlegerschutzes. ({0}) Wir schaffen es damit, das Vertrauen in die Märkte wieder zu stärken und den Missbrauch zu bekämpfen. ({1}) - Ja, wir unterstützen ihn, keine Sorge. Ich nehme an, Sie tun das auch. ({2}) - Das ist schön. Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass wir mit dem Gesetzentwurf eine Prospektpflicht für den so genannten grauen Kapitalmarkt einführen, der in der Vergangenheit dadurch aufgefallen ist, dass es einen erheblichen Missbrauch gegeben hat, dass sehr hohe Schadensummen entstanden sind und dass viele Anleger Totalverluste erlitten haben. Schätzungen zufolge sind in den vergangenen Jahren zwischen 1 Milliarde und 30 Milliarden Euro vernichtet worden. Der graue Markt ist bisher nicht reguliert worden. Mit der Prospektpflicht, die mit dem Gesetzentwurf eingeführt wird, werden dem Anleger mehr Informationen zur Verfügung gestellt. Dadurch können bessere Anlageentscheidungen getroffen werden. Insgesamt wird die Beweislage für den Anleger im Falle von Schadenersatzprozessen verbessert. Neu ist auch die Erfassung von Treuhandvermögen und Unternehmensbeteiligungen - einschließlich Immobilienfonds - durch die Prospektpflicht. Die Anlageformen auf dem grauen Kapitalmarkt sind nicht per se illegal. Es werden viele sinnvolle Vorhaben finanziert, zum Beispiel in den Bereichen Umweltschutz und Windkraft, und auch für die Kapitalbeschaffung kleinerer und mittlerer Unternehmen spielt dieser Markt eine Rolle. Aber leider gibt es auch viele unseriöse Anbieter. Deshalb hoffe ich - auch aus eigener Erfahrung mit der CSU - auf die Zustimmung der CSU zu dem Gesetzentwurf. Denn wie wir kürzlich den Medien entnommen haben, hat die bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier im Zusammenhang mit der WABAG-Affäre ({3}) auf dem grauen Kapitalmarkt selber einen Schaden in Höhe von 27 000 Euro erlitten. Dieser Verlust ist ihr sinnigerweise unter Beihilfe ihres Bruders, Max Strauß, entstanden. ({4}) Es ist wichtig, solche Formen von Anlagebetrug an dieser Stelle gemeinsam zu bekämpfen. Ich muss allerdings einräumen, dass selbst unser Gesetz nicht vollständig vor solchen Formen des Anlagebetrugs schützen kann, durch den Tausende von Anlegern um rund 150 Millionen Euro geprellt worden sind. Gleichwohl stellt unser Gesetzentwurf einen gerechten Interessenausgleich zwischen den Anlegern und den Anbietern von Produkten auf dem grauen Markt dar. Die geplante Genehmigungsfrist von 20 Tagen, die für Anbieter gilt, bevor sie ihren Prospekt auf den Markt bringen können, ist angemessen, weil es sich im Regelfall um langfristige Anlageentscheidungen handelt. Die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen stellen auch keine Belastung für diejenigen Anbieter dar, die keine schwarzen Schafe sind. Damit mich die Frau Präsidentin nicht rügt, füge ich hinzu, dass ich mit schwarzen Schafen natürlich nicht den ehemaligen CSU-Ortsvorsitzenden Max Strauß gemeint habe. Zudem sind bestimmte Anlageformen, für die bereits ein hinreichender Schutz besteht, generell von der Prospektpflicht ausgenommen. Dazu gehören Versicherungsund Genossenschaftsprodukte sowie Produkte von Kreditinstituten, die der Aufsicht nach dem Kreditwesengesetz unterliegen. Des Weiteren sind alle Produkte, die unter eine Bagatellgrenze fallen, und Angebote ausgenommen, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt sind. Mit unserem Gesetzentwurf setzen wir die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie, die der Bekämpfung von Insiderhandel und Marktmissbrauch dient, in nationales Recht um. Hervorzuheben ist, dass Personen, die beruflich für Dritte Finanzanalysen erstellen, zukünftig Interessenkonflikte offen legen müssen. Der Gesetzentwurf lässt im Falle von Journalisten, die im Bereich des Finanzmarktes tätig sind, Spielraum für eine entsprechende Selbstregulierung. Wir wissen anhand von vielen Beispielen aus der Vergangenheit, dass gerade Journalistinnen und Journalisten durch Marktmanipulationen Schindluder getrieben haben, mit entsprechenden Empfehlungen Geschäfte gemacht und Gewinne selbst eingesackt haben. Bisher war in Europa nur der Insiderhandel verboten. Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie, die auch Kursmanipulationen sanktioniert, wird eine einheitliche, europaweite Regelung geschaffen. Die Bundesregierung hat hier durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz bereits wertvolle Vorarbeiten geleistet. Die Marktmissbrauchsrichtlinie ist bis zum 12. Oktober 2004 in nationales Recht umzusetzen. Das werden wir auch machen. Damit werden wir gleichzeitig drei weitere Richtlinien und eine Verordnung umsetzen. ({5}) Unser Gesetzentwurf ist gut und findet breite Zustimmung bei vielen Verbänden. Deswegen appelliere ich an Sie: Tun Sie mit uns gemeinsam etwas dafür, um die schwarzen Schafe zu bekämpfen, die grauen Märkte trockenzulegen und die weißen Westen zu stärken. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Stefan Müller, CDU/CSUFraktion.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Da nur noch eine sehr überschaubare Anzahl von Kolleginnen und Kollegen anwesend ist, kann man ruhig auch einmal über schwarze Schafe philosophieren, wenngleich ich unterstelle, dass das Gesetz nicht speziell für einzelne Personen aus dem Freistaat Bayern gemacht worden ist. In der Tat - hierin bin ich mit dem Kollegen Pronold ausnahmsweise einig - gibt es noch immer Anlagebetrüger, die jedes Jahr einen enormen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Wenn man sich anschaut, welchen Schaden so genannte schwarze Schafe oder windige Geschäftemacher in den letzten Jahren angerichtet haben, dann stellt man fest, dass wir Handlungsbedarf haben. Insofern begrüßen wir grundsätzlich jeden Ansatz, der dazu dient, den Anlegerschutz weiter zu verbessern. Auch meiner Fraktion ist es ein wesentliches Anliegen, hier tätig zu werden. Wir unterstützen jede Maßnahme, die geeignet ist, windigen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Stefan Müller ({0}) Aber natürlich ist es unsere Aufgabe, klare und verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Das gilt sowohl für den Anleger- und Verbraucherschutz als auch für die berechtigten Anliegen der Finanzwirtschaft. Unser gemeinsames Ziel muss es doch sein - wir haben im vergangenen Jahr das eine oder andere hier vorangebracht -, die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes im Allgemeinen und die Wettbewerbsfähigkeit der Finanzdienstleister im Besonderen zu stärken. Gut gemeinter Anlegerschutz darf in der letzten Konsequenz aber nicht dazu führen, dass sinnvolle Kapitalmarktgeschäfte verhindert werden. Ich meine damit insbesondere Kapitalmarktgeschäfte, die im europäischen Ausland völlig selbstverständlich getätigt werden können, bei uns aber nicht möglich sind. ({1}) Andernfalls werden deutsche Kapitalanleger gezwungen, ihr Geld legal ins Ausland zu transferieren und dort anzulegen, und Finanzdienstleistungsunternehmen aus Deutschland werden gezwungen, im Ausland entsprechende Produkte aufzulegen. Das kann nicht im Sinne deutscher Finanzmarktpolitik sein. ({2}) Wir müssen also bei jeder Reform des Anlegerschutzes noch stärker als bisher mit Augenmaß vorgehen. Wir müssen vor allem das Leitbild des mündigen Anlegers walten lassen, der durchaus imstande ist, selbst zu entscheiden, was für ihn gut und richtig ist. ({3}) Insofern ist natürlich zu berücksichtigen, welcher Nutzen einerseits und welche Kosten andererseits durch neue gesetzliche Regelungen entstehen. Übermäßige administrative Auflagen müssen insgesamt vermieden werden und jede neue Regelung muss auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden. Wir müssen dabei schon berücksichtigen, dass es gerade die Finanzdienstleistungsbranche in Deutschland ist, die wie keine andere Branche reglementiert und reguliert wird. Allein die deutsche Kreditwirtschaft muss jedes Jahr nur für die Erfüllung von Kontroll- und Meldevorschriften 1 Milliarde Euro ausgeben. Diese Zahl haben wir schon des Öfteren gehört, auch im vergangenen Jahr, als wir über die Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland gesprochen haben. Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, dass es letztlich die Verbraucher und die Anleger sind, die diese Kosten tragen müssen; insofern haben wir durchaus unser Augenmerk darauf zu richten. ({4}) Übermäßige Haftungsregeln schaden der Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit des Finanzplatzes genauso wie ein zu oberflächliches Haftungsregime. Das gilt selbstverständlich sowohl für die Wirtschaft als auch für die Anleger. Das heißt, wir brauchen einen leistungsfähigen Finanzplatz, damit Anlegern und Verbrauchern gute und attraktive Anlagemöglichkeiten überhaupt angeboten werden können. Mit dem nunmehr vorliegenden Gesetzentwurf wird unter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie umgesetzt. Ich möchte im Zusammenhang mit der Umsetzung dieser EU-Richtlinie eines deutlich festhalten: Ich halte es schon für wichtig, dass es bei der Umsetzung von Rechtsetzungsakten der EU nicht zu strengeren Regeln als in den anderen europäischen Ländern kommt, weil Regeln, die im Inland schärfer als im europäischen Ausland sind, der Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland selbstverständlich Schaden zufügen. Schaut man sich diesen Gesetzentwurf an, hat man den Eindruck, dass das Prinzip, dass in Deutschland keine schärferen Regeln gelten sollen und dass die nationale Umsetzung von EU-Richtlinien nicht mit zusätzlichen Regelungen befrachtet werden soll, an der einen oder anderen Stelle nicht eingehalten worden ist. Als Beispiel möchte ich die weit reichenden Kompetenzerweiterungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nennen. Die Eingriffs- und Auskunftsbefugnisse der BaFin werden insgesamt deutlich erweitert, ohne dass das in der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie ausdrücklich so gefordert worden wäre. Das gilt insbesondere für den neuen § 4 des Wertpapierhandelsgesetzes. In der Begründung des Gesetzentwurfs ist von einer Generalbefugnisnorm die Rede. Man könnte bei genauerem Hinsehen auch den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um eine Art „Die-BaFin-darf-alles-Vorschrift“ handelt. ({5}) Ähnliches gilt im Übrigen im Hinblick auf die Vielzahl von Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverordnungen. Auch da wird die Möglichkeit, Rechtsverordnungen umzusetzen, vom Bundesfinanzministerium direkt an die BaFin delegiert. Das erscheint vor dem Hintergrund europäischer Vorgaben vielleicht dann sinnvoll, wenn eine zeitnahe Umsetzung erfolgen muss. Was aber nicht passieren darf, ist, dass die BaFin über die Umsetzung von EU-Richtlinien hinaus die Möglichkeit bekommt, diese Rechtsverordnungen einseitig auf den Weg zu bringen. ({6}) Über diese Themen müssen wir im weiteren gesetzgeberischen Verfahren reden. Insgesamt darf sich die BaFin eben nicht nur als Regulierer und als Aufseher verstehen; vielmehr muss sie sich auch als Partner der Finanzdienstleister verstehen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - das möchte ich noch einmal betonen - setzt sich auch weiterhin für eine Verbesserung des Anlegerschutzes und eine Fortentwicklung des Finanzplatzes ein. In diesem Sinne, Herr Kollege Pronold, werden wir uns an der Beratung dieses Gesetzentwurfs selbstverständlich konstruktiv beteiligen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/ Die Grünen.

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie eben bereits gesagt wurde, reden wir heute über das Anlegerschutzverbesserungsgesetz. Dieses Gesetz dient der sinnvollen Weiterentwicklung der Funktionalität des Finanzplatzes Deutschland. An dieser Stelle will ich die Gelegenheit ergreifen, noch einmal auf die Bedeutung des Finanzplatzes Deutschland hinzuweisen, weil das in diesen Zusammenhängen immer ein bisschen aus dem Blickwinkel gerät. Dabei muss man sich zwei wesentliche Eckwerte vor Augen führen. Man muss sich klar machen, dass die Finanzbranche in Deutschland rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze zur Verfügung stellt - im Vergleich beispielsweise zu 1 Million Arbeitsplätzen in der auch sehr wichtigen Automobilindustrie. Die Wertschöpfung der Finanzbranche, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, beträgt rund 4,6 Prozent - im Vergleich zu 3 Prozent in der Automobilindustrie. Das macht deutlich: Die positive Entwicklung des Finanzplatzes Deutschland ist ein bedeutender Baustein zur Stärkung der bundesdeutschen Wirtschaft. Natürlich bedeutet ein gesunder Finanzplatz Deutschland - darüber muss man reden - auch eine gute Kapitalausstattung unserer Unternehmen. Die Diskussion über die zu geringe Eigenkapitalausstattung insbesondere unserer bundesdeutschen kleinen und mittleren Unternehmen ist bekannt. Gerade vor dem Hintergrund der Zurückhaltung der deutschen Banken bei der Vergabe von Krediten an diese Unternehmen, und zwar eher der Privatbanken als der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, gewinnt der freie Kapitalmarkt in Deutschland immer größere Bedeutung. Ein gut funktionierender Kapitalmarkt bedeutet ein Mehr an Wirtschaftskraft, ein Mehr an Arbeitsplätzen, automatisch dann auch ein Mehr an Wohlstand. Das Anlegerschutzverbesserungsgesetz ist praktisch eine Weiterentwicklung des von der rot-grünen Bundesregierung auf den Weg gebrachten Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes. Dieses Vierte Finanzmarktförderungsgesetz - das sollte die Opposition einmal zur Kenntnis nehmen; auch das wird von Ihnen immer gern beiseite gewischt - war einer der wirklich großen Erfolge der rot-grünen Bundesregierung, was von allen Seiten, insbesondere auch von der Fachwelt, anerkannt wurde. ({0}) Das heute zur Debatte stehende Anlegerschutzverbesserungsgesetz ist auch ein bedeutender Teil des im Februar 2003 vorgestellten Zehnpunkteprogramms der Bundesregierung zur Verbesserung der Unternehmensintegrität und zur Stärkung des Anlegerschutzes. Zu einem funktionierenden Finanzplatz gehört natürlich ein gutes Instrumentarium zu dessen Kontrolle. Was hier zur Debatte steht, ist im Wesentlichen eine Umsetzung der eben bereits erwähnten Marktmissbrauchsrichtlinie der Europäischen Union. Ein wichtiger Punkt ist der Insiderhandel. Man muss sich klar machen: Die Insiderhandelstraftatbestände werden in Zukunft so verschärft, dass bereits der Versuch des Insiderhandels strafbar ist. Vor allem nimmt der Gesetzgeber das Umfeld eines Unternehmens ebenfalls mit in den Blick, um auch dort die Dinge ans Tageslicht zu bringen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Marktmanipulation. Bisher muss den entsprechenden Leuten der Versuch der Marktmanipulation nachgewiesen werden. In Zukunft soll bereits die reine Tatsache genügen, dass der Markt manipuliert war, um strafrechtliche Ermittlungen gegen den entsprechenden Personenkreis einleiten zu können. Die Offenlegungspflichten werden auf alle die Personenkreise ausgeweitet, die beruflich Finanzanalysen erstellen oder weitergeben; hiervon sind auch Journalisten betroffen. Die Prospektpflicht wird auf die Produkte des so genannten grauen Kapitalmarktes erweitert. Diese Prospekte werden - das ist auch eine Neuerung - von der BaFin geprüft. In Zukunft wird die BaFin auch die Prospekte des allgemeinen Kapitalmarktes prüfen. Hierfür sind die Jahre 2008 bis 2013 ins Auge gefasst. ({1}) Heute kontrolliert hier noch die Deutsche Börse. Wichtig für diese Prüfungen - das wurde eben bereits angesprochen - ist die Prüfdauer. Im Gesetzentwurf steht zurzeit, dass der BaFin ein konkreter Prüfungszeitraum von ungefähr 20 Tagen vorgegeben werden soll; diese Frist ist aber fließend. Das bedeutet allerdings für die Emittenten keine Rechtssicherheit. Bei anderen Wertpapieren liegt heute die Genehmigungsfiktion bei zehn Tagen. Genehmigungsfiktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Produkt, wenn nach zehn Tagen keine Ablehnung erfolgt ist, als genehmigt gilt. Über die Aufnahme einer solchen Zehntagefrist in den Gesetzentwurf für Prospekte des grauen Kapitalmarkts sollte man meiner Meinung nach nachdenken. ({2}) Alle diese Dinge - diesen Punkt möchte ich abschließend noch einmal ansprechen - brauchen natürlich auch eine Kontrolle durch die entsprechenden Staatsanwaltschaften. ({3}) Es ist ein großes Defizit, dass es immer noch nicht gelungen ist, eine zentrale Schwerpunktstaatsanwaltschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Hier sind insbesondere die unionsgeführten Länder in der Pflicht, weil sie bis heute verhindert haben, dass eine solche zentrale Schwerpunktstaatsanwaltschaft geschafHubert Ulrich fen wird. Ich appelliere noch einmal an Sie, darüber ernsthaft nachzudenken. Die Skandale der Vergangenheit auch in Deutschland - ich erinnere an Flow-Tex, Comroad und EM-TV - geben genug Anlass, über eine solche Institution nachzudenken. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein Schlusssatz: Der Gesetzentwurf stellt insgesamt einen gelungenen Kompromiss zwischen den Forderungen nach Freiheit des Marktes und dem dringend gebotenen Schutz der Anleger vor Marktmissbrauch dar. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDPFraktion.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf des Anlegerschutzverbesserungsgesetzes versucht die Bundesregierung einen Spagat zwischen Anlegerschutz und Überregulierung. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfes liegt in der Umsetzung der europäischen Marktmissbrauchsrichtlinie, die bis Oktober umgesetzt werden muss. Bei der Umsetzung zeigt sich jedoch wieder der Hang von Rot-Grün, die deutschen Bürger zu bevormunden, denn der Gesetzentwurf geht deutlich über die Vorgaben der Marktmissbrauchsrichtlinie hinaus. ({0}) Das Gesetz enthält im Grundsatz gute Ideen. Der Versuch, das gebeutelte Anlegervertrauen zu stärken, ist richtig. Die Anleger haben den Kurssturz an den Aktienmärkten nach dem Platzen der New-Economy-Blase immer noch nicht verdaut. Außerdem haben Bilanzmanipulationen von Unternehmen wie Enron, Worldcom in den USA, aber auch Unternehmen des Neuen Marktes wie Comroad und Flow-Tex Spuren im Vertrauen der Anleger hinterlassen. Die FDP begrüßt und unterstützt alle Versuche, dieses verloren gegangene Vertrauen wieder zu stärken. Ein besseres Insiderrecht ist notwendig, um Insidergeschäfte an den Kapitalmärkten einzudämmen und so die Anleger zu schützen. Es kann nicht sein, dass sich Unternehmensführer auf Kosten von Kleinanlegern die Taschen füllen. Allerdings schießt der Gesetzentwurf der Bundesregierung hier über das Ziel der Marktmissbrauchsrichtlinie hinaus. ({1}) Er sieht eine flächendeckende Sanktionierung des unerlaubten Umgangs mit Insiderinformationen vor, obwohl dieses von der Richtlinie nicht gefordert wird. So soll es zum Beispiel in Zukunft auf die Eignung der Information zu erheblicher Kursbeeinflussung überhaupt nicht mehr ankommen, sondern es soll genügen, dass ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. Auch bei der Überwachung und Verfolgung von Verstößen geht der Gesetzentwurf deutlich über die Vorgaben hinaus. So sollen Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Kreditinstitute zur Anzeige von Verdachtsfällen an die BaFin verpflichtet werden. Die BaFin wiederum soll zur Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft verpflichtet werden. So entwickelt sich die BaFin aber zu einer Art Strafverfolgungsbehörde. Da sie aber schon jetzt überlastet ist, ist zu befürchten, dass damit zusätzliche Probleme entstehen und auch das Vertrauen der beaufsichtigten Institute in den Umgang mit ihr nicht unbedingt gestärkt wird. ({2}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, neben einer Verschärfung des Insiderrechtes ist im Gesetzentwurf die Einführung einer Prospektpflicht für nicht in Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungen vorgesehen. Das ist ein Schwerpunkt des so genannten grauen Kapitalmarktes, der damit schärfer reguliert werden soll. Nach der Statistik des Finanzministeriums hat es am grauen Kapitalmarkt allein im Jahr 2002 über 15 000 Betrugsfälle gegeben. Laut Kriminalstatistik sollen allein durch Anlagebetrug Schäden in Höhe von über 220 Millionen Euro entstanden sein; die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Aber gerade Kleinanleger sind die Dummen. Ihr Vertrauen muss wieder gewonnen werden. Die Schritte, die dazu unternommen werden, begrüßen wir. ({3}) Deshalb begrüßen wir auch die Prospektpflicht für nicht in Wertpapieren verbriefte Unternehmensbeteiligungen. Herr Ulrich, Sie haben es angesprochen: In der Vergangenheit haben wir gerade im Bereich des Finanzmarktes Wert darauf gelegt, möglichst übereinstimmend, sachgerecht und ohne Parteipolitik zu Ergebnissen zu kommen. ({4}) Wir setzen uns bei den Beratungen weiter dafür ein; denn es ist gut, dass ein so wichtiger Bereich nicht in das parteipolitische Gezänk gerät, sondern so sachlich behandelt wird, dass am Ende ein Kompromiss stehen kann, der von allen getragen wird und durch den Probleme ausgeräumt werden können. Wir werden uns bei den Beratungen des Gesetzes in dieser Form verhalten und freuen uns auf eine Zusammenarbeit. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion.

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Unser europäisches Haus nimmt immer mehr Gestalt an. Das zeigt nicht nur die erfolgte Aufnahme von zehn neuen Ländern in unsere Gemeinschaft, sondern auch die Gesetzesharmonisierung auf vielen Gebieten. Heute beschäftigen wir uns mit einem Gesetzentwurf, der unter anderem die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie auch in Deutschland umsetzt. ({0}) Damit wird der Finanzplatz Deutschland weiter gestärkt, was sich neben einem erhöhten Anlegerschutz auch auf Wachstum und Beschäftigung auswirkt. Denn wenn Anlegerinnen und Anleger sich sicher fühlen, dann sind sie vermehrt bereit, ihr Kapital wieder verstärkt in unsere Wirtschaft zu investieren. Leider werden sie auch hier bei uns durch internationale, aber ebenso durch nationale Missbrauchsvorfälle verunsichert. Daher ist es notwendig, die Transparenz im Kapitalmarkt weiter zu erhöhen. Damit kann der Schutz vor unzulässigen Marktpraktiken weiter verbessert werden. Das hat natürlich auch positive Auswirkungen auf unsere Marktintegrität und Markteffizienz. Mit dem Anlegerschutzverbesserungsgesetz leisten wir unseren Beitrag zu einem europaweiten Standard zur Bekämpfung von Insiderhandel und Marktmissbrauch. ({1}) - Ich habe kein Problem, darüber hinauszugehen, wenn unsere Anlegerinnen und Anleger dadurch besser geschützt werden. ({2}) In einem enger zusammenrückenden Europa ist das ein unerlässlicher Faktor einer umfassenden Missbrauchsbekämpfung und des Schutzes der Anlegerinnen und Anleger. Unerlässlich ist in diesem Zusammenhang die auch im Gesetzentwurf aufgeführte Prospektpflicht für Produkte im so genannten grauen Kapitalmarkt in Verbindung mit einer entsprechenden Haftung. Viele Anlegerinnen und Anleger fühlen sich aufgrund der Entwicklung am Kapitalmarkt in den letzten Jahren tief verunsichert. ({3}) Es ist selbstverständlich, dass Bürgerinnen und Bürger, die ihr Geld am Kapitalmarkt einsetzen, auch dem Risiko von negativen Kursentwicklungen ausgesetzt sind. Das ist den meisten auch durchaus bewusst. Aber natürlich muss sich jeder, der sein Geld in diesen Kreislauf einbringt, der Seriosität des Produktes sicher sein können. Es ist im Interesse der Anlegerinnen und Anleger, aber auch aller ehrlichen Anbieter im Markt, dass der Marktzugang für schwarze Schafe wesentlich verschärft und damit wesentlich schwerer wird. ({4}) Das erhöht auch die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes. Denn der so genannte graue Markt beinhaltet Teile des Kapitalmarktes, die nicht unter den Wertpapierbegriff fallen. Das sind zum Beispiel Unternehmerbeteiligungen, die nicht börsennotiert sind. Bisher gab es in diesem Bereich nur unzureichende verbindliche Regelungen und kaum Produkttransparenz. Daher war hier die Gefahr finanzieller Schäden bis hin zum Totalverlust besonders hoch. Herr Thiele und Herr Pronold haben bereits ausführlich auf Fallzahlen und die Höhe der Verluste hingewiesen. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist diese Form der Kapitalbeschaffung besonders interessant. Daher ist es in beidseitigem Interesse, wenn hier Verbesserungen geschaffen werden können. Ich bin mir sicher, dass eine wesentliche Verbesserung des Anlegerschutzes in diesem Bereich solide Unternehmen für Investoren noch attraktiver macht. Ich bin mir deshalb so sicher, weil ich selbst aus einem Unternehmen stamme, in dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Investoren und damit als Mitgesellschafter erfolgreich betätigen. Hätten wir 1996 hinsichtlich der Finanzierung nicht diese Entscheidung getroffen, würde es die Union Werkzeugmaschinen GmbH heute nicht mehr geben. ({5}) Natürlich war diese Entscheidung nicht ohne Risiko. Aber wenn man den nötigen Einblick in ein Unternehmen hat und sicher sein kann, dass alle Zahlen in korrekter Weise vorliegen, kann man sein persönliches Risiko besser einschätzen und eine fundierte Entscheidung treffen. Ich denke, dass eine solche Kapitalbeschaffung durchaus akzeptabel und unterstützenswert ist und dass solide Unternehmen nicht durch Betrüger in ein schlechtes Licht gerückt werden dürfen. ({6}) Das gelingt aber nur durch einen umfassenden Schutz, unter anderem durch eine Prospektpflicht, und eine wesentliche Verbesserung der rechtlichen Aufsicht. Ich kann nicht ganz nachvollziehen - dieser Punkt ist schon angesprochen worden -, dass bemängelt wird, die Aufsicht sei zu intensiv; denn jeder Unternehmer in diesem Land, der korrekt handelt, hat keine intensive Untersuchung zu befürchten. ({7}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir EUVorgaben um. Wir reagieren aber auch in geeigneter Weise auf eine lange Reihe von Unternehmensskandalen im In- und Ausland. Wir müssen die Krise an den Finanzmärkten überwinden und die Rahmenbedingungen des Finanzplatzes Deutschland weiter verbessern. Davon profitieren alle Seiten. Ich freue mich, wenn auch vonseiten der Opposition gesagt wird, dass wir gemeinsam dieses Ziel erreichen können. Dass das möglich ist, haben wir in der letzten Finanzausschusssitzung gemerkt, als aus einem Entschließungsantrag von Rot-Grün plötzlich ein von allen Fraktionen getragener Antrag zum Thema Girokonto wurde. ({8}) Ich wünsche mir hier das gleiche Ergebnis wie bei diesem Antrag. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Deutschen Bundestag herrscht in zwei Punkten weitgehende Einigkeit. Zum einen stimmen wir darin überein, dass der Finanzplatz Deutschland gute und flexible Rahmenbedingungen benötigt, um seine volkswirtschaftlich wichtige Rolle erfüllen zu können. Zum anderen sind wir uns alle bewusst, dass die Integration der europäischen Finanzmärkte weiter voranschreiten muss, wenn wir die potenziellen Vorteile der Wirtschafts- und Währungsunion voll nutzen wollen. ({0}) Vor diesem Hintergrund hat die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag von Anfang an die jüngsten Initiativen der Europäischen Kommission - Stichwort ist hier der Aktionsplan Finanzdienstleistungen, abgekürzt FSAP - unterstützt. Auch das Zehnpunkteprogramm der Bundesregierung wurde und wird kritisch, aber sehr konstruktiv von uns begleitet. Es ist damit vor allem der Union zu verdanken, dass sich Deutschland zu einem attraktiven Finanzplatz entwickelt hat und noch weiter entwickeln wird. ({1}) Damit diese Entwicklung anhält, müssen wir auch weiterhin genau die Details der von uns angestrebten gesetzlichen Regelungen prüfen. Dies gilt auch dann, wenn ein Gesetzentwurf im Großen und Ganzen in die richtige Richtung geht, wie dies beim Anlegerschutzverbesserungsgesetz ohne Zweifel der Fall ist. Zunächst zur Gesamtbetrachtung. Die Flexibilisierung der Zusammensetzung des Börsenrates ist uneingeschränkt zu begrüßen. Die Änderungen im Wertpapierhandelsgesetz setzen weitgehend die Vorgaben der europäischen Marktmissbrauchsrichtlinie um. Zudem schafft die Einbeziehung des so genannten grauen Kapitalmarktes in die Regelungen des Verkaufsprospektgesetzes sicherlich ein höheres Maß an Transparenz und damit mehr Anlegerschutz und Markteffizienz. Beim Einbezug des grauen Kapitalmarktes in das Verkaufsprospektgesetz fällt vor allem die Regelung in § 8 i Abs. 2 auf. Dieser räumt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, 20 Tage zur Prüfung von Prospekten ein, die sich auf öffentlich angebotene, nicht in Wertpapieren verbriefte Anteile beziehen. Nach Ablauf von 20 Tagen gilt keine Genehmigungsfiktion. Für Verkaufsprospekte, die sich auf Wertpapiere beziehen, gilt hingegen nach maximal zehn Tagen der Prospekt als genehmigt, wenn sich die BaFin bis dahin nicht gegenteilig geäußert hat. Die in der Gesetzesbegründung gegebene Erklärung, dass Produkte des grauen Kapitalmarktes komplexer seien als andere, kann mit Blick auf die Vielzahl individueller Wertpapiere nicht überzeugen. Wir sollten Investmentformen jenseits der Wertpapiere nicht stigmatisieren. Ein funktionsfähiger grauer Kapitalmarkt stellt heutzutage trotz der vielleicht etwas unglücklichen Bezeichnung einen wichtigen Bestandteil eines guten Finanzplatzes dar. Wir sollten hier seriöse Anbieter nicht schlechter behandeln als solche in anderen Finanzmarktsegmenten. ({2}) Weiterhin sollte ein Bestandsschutz respektive eine Übergangsfrist für Angebote gefunden werden, deren Platzierung bereits läuft. Anderenfalls könnten Unterbrechungen im Vertrieb unnötigerweise ganze Fondskonzepte gefährden. ({3}) Im Bereich des Wertpapierhandelsgesetzes sind vor allem folgende Kritikpunkte zu nennen - auf einige wurde schon hingewiesen -: Dies betrifft die Befugnisse der BaFin im geplanten § 4 Abs. 2 - Einschränkung von Handelsaktivitäten im Einzelfall - und Abs. 3 des Wertpapierhandelsgesetzes, wonach vorgesehen ist, dass im Grunde genommen jedermann mitwirken soll, wenn die BaFin etwas untersucht. Das müsste darauf beschränkt werden, dass nur dann eine Mitwirkung vorgesehen wird, wenn es der Funktionsfähigkeit des Marktes dient. Verordnungsermächtigungen der BaFin und des BMF sind auf Fälle einzugrenzen, die den fachlichen Level II beinhalten und nicht darüber hinausgehen, also auf Fälle, für die die Fachleute der Ministerialbürokratie der einzelnen europäischen Länder Normen entwickelt haben. Diese müssen so umgesetzt werden, dass sie den Vorgaben der EU entsprechen und nicht darüber hinausgehen. ({4}) Sonst werden nämlich europäische Harmonisierungsbestrebungen durch die nationale Gesetzgebung und Normensetzung wiederum konterkariert. Das gilt auch für einzelne Punkte des so genannten Insiderhandels, für Insiderinformationen. Dort gibt es schon bisher einen großen Chinese Wall zwischen dem Investmentbanking und den Anlagestrategen. Diese Bereiche sind ja schon getrennt. Wir sollten diese Situation nicht durch zusätzliche Normen so erschweren, dass internationale Normen des europäischen Marktes konterkariert werden. ({5}) Weitere Einzelpunkte sollten noch geschliffen werden, insbesondere wenn es um die Definition von „Marktpraxis“ geht. Da muss die BaFin die Definitionen übernehmen, die sich auf dem Markt bewährt haben. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns hinsichtlich der genannten Punkte weitgehend einigen werden. Die Rahmenbedingungen am Finanzplatz Deutschland würden so weiter verbessert. Die CDU/CSU-Fraktion wird hierzu ihren Beitrag leisten. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/3174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kinder und Jugendliche wirksam vor sexueller Gewalt und Ausbeutung schützen - Drucksache 15/3211 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahr 2003 stellte die Kriminalpolizei im Kreis Calw 68 Fälle sexueller Ausbeutung von Kindern fest. Im Landkreis Freudenstadt waren davon 28 Kinder betroffen. Die Aufklärungsquote der Polizei liegt in beiden Landkreisen bei 80 bzw. 90 Prozent. Allein in meiner ländlichen Region im Schwarzwald sind im vergangenen Jahr 96 Kinder Opfer sexueller Gewalt geworden. Bundesweit - das ist immer wieder einmal thematisiert worden - sind circa 20 000 Kinder davon betroffen. Wir wissen aber, dass die Dunkelziffer ungleich höher ist. Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, fällt mir auf, dass nur ganz selten sensibel mit diesem Thema umgegangen wurde. Entweder versucht man, es zu verharmlosen, oder es wird unangemessen und reißerisch darüber berichtet. Nicht selten ist die Berichterstattung auch nicht auf der Höhe der aktuellen Gesetzeslage. Der Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung ist beispielhaft, ({0}) weil er ressortübergreifend ist und ein nachhaltiges Gesamtkonzept verfolgt. Er hat vier zentrale Ziele: den strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln, den Opferschutz und die Prävention zu stärken, die internationale Strafverfolgung und die Zusammenarbeit sicherzustellen sowie die Vernetzung der Hilfs- und Beratungsangebote zu fördern. Durch den Aktionsplan, der erst am 29. Januar 2003 verabschiedet wurde, wurde bis heute viel auf den Weg gebracht: ({1}) Das Sexualstrafrecht wurde verschärft, Lücken wurden geschlossen, vor allem, wenn es um die Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie gegen Menschen mit Behinderungen geht. In diesem Zusammenhang ist es mir besonders wichtig, daran zu erinnern, dass ein neuer Straftatbestand für Kinderpornographie geschaffen wurde, durch den insbesondere geschlossene Tätergruppen im Bereich des Internets verfolgt werden können. ({2}) Außerdem gilt - das ist leider nicht überall bekannt -: Wer sich kinderpornographische Schriften beschafft oder sie besitzt, wird bestraft, und zwar stärker als in der Vergangenheit. Bei der jüngst verabschiedeten Opferrechtsreform wurden die Rechte der Opfer in wesentlichen Punkten gestärkt. Das Ziel, Mehrfachvernehmungen zu vermeiden, ist weitgehend erreicht worden. Die Opfer werden stärker am Verfahren beteiligt. Für mich als Politikerin ist es wichtig und selbstverständlich, dass die Täter angemessen bestraft werden. Mein und unser aller politisches Ziel ist es - dafür arbeiten wir -, dass in Zukunft weniger Kinder Opfer sexueller Gewalt werden. ({3}) Das Kindeswohl hat dabei für mich und für uns alle oberste Priorität. Es bedarf noch enormer Anstrengungen im Bereich der Prävention. „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ - mit diesem einprägsamen Motto hat das Bundesfamilienministerium am 20. April dieses Jahres eine Präventionskampagne gestartet. Ein Kampagnenbus veranstaltet 18 Aktionstage vor Ort. Bürgerinnen und Bürger können sich informieren. Die Beratungseinrichtungen haben die Möglichkeit, ihre Arbeit umfassend darzustellen. Eingerichtet wurden außerdem eine Internetseite und ein Servicetelefon; eine Broschüre mit dem Titel „Mutig fragen - besonnen handeln“ wurde aufgelegt. ({4}) Zum Handeln und zur Zivilcourage fordert auch die Informationskampagne gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Tourismus von Terre des Hommes auf, die ebenfalls vom Bundesministerium unterstützt wird. An dieser Stelle gratuliere ich ausdrücklich und ganz herzlich dem Kinderhilfswerk zu einer hohen Auszeichnung für die beste „langfristige PR-Strategie“, die unter anderem den Inflightspot „Toys“, die Internetplattform „www.child-hood.com“ und den Spot „Words“ umfasst. Die Internetplattform wurde bisher von Menschen aus 82 Ländern genutzt. Das ist doch ein schöner Erfolg. ({5}) Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die SPDgeführte Bundesregierung bei der Umsetzung des Aktionsplans unterstützen. Es gilt, diesen im Zusammenhang mit allen Beteiligten stetig weiterzuentwickeln. Meine Vorstellung, unsere Vorstellung - ich glaube, in diesem Hause sind wir uns diesbezüglich einig - von einer kindgerechten Welt und von einer kinderfreundlichen Gesellschaft beinhaltet, dass sich Kinder und Jugendliche auf Erwachsene verlassen können müssen. Sie sind darauf angewiesen, ihnen zu vertrauen. Zwei Drittel der sexuellen Gewalthandlungen gegen Kinder werden im familiären Umfeld begangen. Ein nicht unbeachtlicher Teil der Taten wird auch im Rahmen medizinisch-therapeutischer Abhängigkeitsverhältnisse verübt oder durch Personen, die Kinder und Jugendliche haupt- oder ehrenamtlich betreuen. Von potenziellen Sexualstraftätern ist bekannt, dass sie sich ganz bewusst auch Arbeit in solchen Feldern suchen, die ihnen den Zugang zu Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Hier sind insbesondere alle Organisationen und Institutionen gefordert, die für das Wohl der Kinder Verantwortung tragen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen dringend Handlungsanleitungen und intensive Schulungen, um sexuelle Ausbeutung überhaupt erkennen zu können und um geeignete Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen zu sein. Anonym, vertraulich und kostenlos können Kinder und Jugendliche in Not bei bundesweit 95 Kinder- und Jugendtelefonen anrufen. Diese werden und wurden auch unglaublich oft genutzt: Mit 7 Millionen Anrufen im Jahr 2003 ist das Kinder- und Jugendtelefon zu einer der meistgenutzten Anlaufstellen junger Menschen geworden. Deshalb müssen diese Telefone - das ist eine Forderung aus unserem Antrag - weiter ausgebaut und gefördert werden. ({6}) Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung bei den Ländern dafür eintritt, zusätzlichen Fortbildungsbedarf bei der Polizei, aber auch insbesondere im Bereich der Justiz zu prüfen. Gerade diese Bitte wird immer wieder an uns Abgeordnete herangetragen. Außerdem müssen auch die 14- bis 18-Jährigen vor pornographischen Abbildungen strafrechtlich geschützt werden. Das heißt, das Schutzalter muss heraufgesetzt werden. Ein solcher strafrechtlicher Schutz wird durch die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie erreicht. Die Bundesregierung bereitet diese derzeit vor. Ganz besonderer Sorgfalt bedarf die Arbeit für die sexuell ausgebeuteten Kinder im Grenzbereich von Deutschland, Tschechien und Polen. Es geht hierbei um ein grenzübergreifendes Problem, das nur in Zusammenarbeit zwischen den Ländern gelöst werden kann. Hierfür wurde eine trilaterale Arbeitsgruppe eingerichtet. Die zusätzliche Aufnahme Österreichs halten wir für sinnvoll und prüfenswert. Außerdem sehe ich - sehen wir - Aus- und Fortbildungsbedarf beim Auswärtigen Amt. Das Thema „sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen“ muss hier ein dauerhafter Bestandteil des Programms werden. Zusätzlich ist eine Handreichung für den Einsatz bei den deutschen Auslandsvertretungen notwendig. Die Thematik der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen muss in die Lageberichte der Länder dauerhaft integriert werden. ({7}) - Danke für den Applaus. - Davon versprechen wir uns eine größere Sensibilität für die Kinder in Not. In den Schattenberichten von ECPAT und Terre des Femmes zum CEDAW-Bericht der Bundesregierung wird kritisiert, dass es sich bei der sexuellen Ausbeutung von Kindern durch Deutsche im Ausland bisher nicht um ein Delikt aus dem Katalog der organisierten Kriminalität handelt. Somit stehen den Ermittlern keine erweiterten Ermittlungsbefugnisse, Sonderzuständigkeiten und Zeuginnenschutzprogramme zur Verfügung. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Aufnahme in den Katalog der organisierten Kriminalität zu prüfen. ({8}) Um die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Tourismus effektiver bekämpfen zu können - das passt dazu; deshalb füge ich es hinzu -, ist der Einsatz von weiteren Verbindungsbeamten in den Herkunftsländern zu prüfen. Auch hier geht die Bitte an die Bundesregierung, diesen Prüfauftrag zu unterstützen. ({9}) Wir - ich spreche hier auch als SPD-Tourismuspolitikerin - erwarten, dass sich die deutsche Tourismusbranche an ihren Verhaltenskodex erinnert und ihn endlich Schritt für Schritt erkennbar umsetzt. So kann auch diese Branche ihrer Verantwortung gerecht werden und dabei helfen, Kinder und Jugendliche vor sexueller Ausbeutung zu schützen. „Gemeinsam aktiv für eine gewaltfreie Zukunft der Kinder“, so steht es im Flyer „Kleine Seelen, große Gefahr...“. Wir hätten uns gewünscht, dass ihn viel mehr Menschen kennen lernen. Ich meine - damit schließe ich -: Angesichts der zunehmenden Unverfrorenheit der Täter setze ich - dafür bitte ich um Unterstützung - auch auf praktizierte Zivilcourage. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/ CSU-Fraktion.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in der Zielsetzung des Antrags, der uns heute vorliegt, sind wir uns alle einig. Welches Thema kann für uns wichtiger sein als der Schutz unserer Kinder? Wer, wenn nicht wir, sollte sich für die Kinder einsetzen, um dafür zu sorgen, dass ihr Schutz verbessert wird und sie wirklich geschützt werden? Ich persönlich - ich glaube, alle anderen auch - empfinde es als unerträglich, dass heute noch - die Kollegin hat es gerade gesagt - fast 16 000 Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs werden. Die Dunkelziffer - auch darin sind wir uns einig - ist sehr viel höher. Das kann nicht sein und darf auch nicht sein, schon gar nicht, wenn wir sehen, dass die Fälle von schwerem sexuellen Missbrauch sogar um fast 5 Prozent zugenommen haben. Das macht deutlich, dass das, was bisher getan wurde, nicht ausreicht und wir eine ganze Menge mehr tun müssen. ({0}) Deshalb sage ich ganz deutlich: In der Zielsetzung sind wir uns einig. Auch wir wollen den strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern und weiterentwickeln, Prävention und Opferschutz stärken, die Hilfs- und Beratungsangebote vernetzen und - was auch Sie als vierten Aspekt genannt haben - die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich fördern. Aber in der Vorgehensweise sind wir unterschiedlicher Meinung. Ich bin schon darüber erstaunt, diesen Antrag zum jetzigen Zeitpunkt auf dem Tisch zu haben, weil ich auch persönlich betroffen bin. Denn Sie erinnern sich vielleicht, werte Frau Kollegin, dass ich bereits im Jahre 2001 einen Antrag zu genau diesem Thema eingereicht habe. Die Forderungen, die Sie heute stellen, waren in diesem Antrag in ähnlicher Weise formuliert. Wenn ich mich recht erinnere - ich habe noch einmal ins Protokoll gesehen -, haben Sie ihn seinerzeit abgelehnt, weil der Antrag in vielen Punkten überholt gewesen sei, ({1}) da Sie schon viel aufgearbeitet hätten, ({2}) und da die Regierungskoalition durch Ihre Anträge schon in viel größerem Umfang tätig geworden sei. ({3}) Heute stehen - ich könnte es Ihnen an einigen Punkten aufzeigen - fast genau dieselben Forderungen wieder auf dem Papier. Man könnte fast meinen, wir hätten drei wichtige Jahre zum Schutze unserer Kinder verpasst. Es wäre mir wichtig gewesen, wenn wir diese drei Jahre schon an der einen oder anderen Stelle genutzt hätten, um unsere Kinder zu schützen. ({4}) Auf einige Punkte Ihres Antrags möchte ich mich kurz beziehen. Sie sagen, dass der Nationale Aktionsplan weiterentwickelt werden muss. Das haben wir bereits 2001 gefordert. ({5}) - Lassen Sie mich doch ausreden. - Wir wollten ein vernünftiges Konzept, um ihn umzusetzen. Wir haben gesagt, dass wir dieses Thema angehen müssen. Nun sind drei Jahre vergangen, in denen es gute, aber nicht ausreichende Entwicklungen gab. Das geben Sie ja selbst zu. Insofern müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir an diesem Punkt weiterarbeiten. Sie erwähnen in Ihrem Antrag den Wunsch nach einem Ausbau der Kinder- und Jugendtelefone. Das ist vollkommen richtig. Sie schreiben, dass es derzeit 95 dieser Telefone gibt und dass es viel mehr werden müssen. Auch an dieser Stelle möchte ich nur daran erinnern, dass es 1998 bereits 80 solcher Telefone gab. Von 1998 bis jetzt sind also lediglich 15 Telefone hinzugekommen. Das ist zu wenig. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass es mehr werden. Das kann nicht sein. Sie loben und begrüßen, dass die Bundesregierung das Informationszentrum zu Kindesmissbrauch und Kindesvernachlässigung fördert und es an das Deutsche Jugendinstitut angegliedert hat. Das finde ich toll. Sie loben dafür die Bundesregierung. Aber auch diese Leistung wurde bereits im Januar 1998 erbracht. Insofern freuen wir uns, dass Sie auch die Leistung der alten Bundesregierung in Ihrem neuen Antrag lobend erwähnen. ({6}) Wir nehmen es zur Kenntnis und ich denke, das ist auch der richtige Weg: dass wir gemeinsam nach vorn gehen, und wenn gute Dinge geleistet worden sind, darf man sie auch beim Namen nennen. ({7}) Gut finde ich - das ist neu in Ihrem Antrag -, dass Sie auf die berufsethischen Standards hinweisen und auch hier einen Verhaltenskodex fordern; das ist neu und das ist richtig. Denn wir wissen, dass Menschen, die Kinder missbrauchen, sich gerade im Familienumfeld aufhalten oder in Bereichen, wo sie Kontakt mit jungen Menschen haben, ein entsprechendes Arbeitsfeld suchen. Hier auf einen Verhaltenskodex hinzuwirken, berufsethische Standards zu benennen finde ich sehr gut. Das ist begrüßenswert, das kann man nur unterstützen. An dieser Stelle kann man auch sagen, dass das, was die deutsche Tourismusbranche mit ihrem Verhaltenskodex auf den Weg gebracht hat, begrüßenswert und unterstützenswert ist. Es ist wichtig, deutlich zu machen, was da eigentlich passiert, und zu sensibilisieren; dahin müssen wir kommen: dass es in die Köpfe geht. Wir unterstützen dieses Anliegen auf jeden Fall. Internationale Zusammenarbeit kann nur gestärkt werden; es ist nicht ein deutsches Problem. Wir müssen natürlich mit den Nachbarstaaten in Europa und weltweit dieses Thema angehen; insofern begrüßen wir auch, dass Deutschland im Juli den Vorsitz der Ostseeratskooperation übernimmt. Wir werden in den Beratungen - wir befinden uns ja jetzt in der ersten Lesung - natürlich wissen wollen: Welche Visionen haben Sie dafür, welche Konzepte verfolgen Sie, welche Strategien will Deutschland unter seinem Vorsitz umsetzen und wo sollen wir hin? Was ich allerdings in Ihrem Antrag ein wenig vermisse, ist eine stärkere Begleitung der Opfer, das heißt der Kinder, die Opfer geworden sind. Ich glaube nicht, dass es ausreicht, auf die Bundesländer einzuwirken, dass sie entsprechende Mittel zur Verfügung stellen, um die Beratungsstellen aufrechtzuerhalten - im Sinne von Konnexität müsste es eigentlich so sein, dass der Bund Mittel zur Verfügung stellt, um diese Projekte wirklich vor Ort weiterführen zu können, um den Opfern Hilfe zu geben. Ganz zum Schluss ein Satz - darauf geht meine Kollegin Noll gleich noch ein -: Sie haben deutlich gemacht, Kollegin Gradistanac, wie sich der Täterkreis zunehmend verändert. Wir kommen nicht umhin, konsequenter strafrechtliche Schritte einzuleiten und zu gehen. ({8}) Was Sie machen, reicht nicht aus. Ich wünschte mir schon an der einen oder anderen Stelle eine konsequentere, präzisere Vorgehensweise, etwa wenn es um die nachträgliche Sicherungsverwahrung geht,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern? Sie wollten zum Schluss kommen.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- um die Überwachung der Telekommunikation oder die DNA-Analyse. Das ist der letzte Punkt: Ich wünschte mir eine konsequentere Anwendungsweise. Sie haben uns an Ihrer Seite, aber bitte nicht nur weich formulieren, sondern auch Tacheles reden; dann sind wir dabei. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung von sexueller Gewalt und Ausbeutung ist eine Aufgabe, der wir uns kontinuierlich und mit großem Engagement stellen müssen und auch stellen. Sexuelle Gewalt und Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen sind brutal, sie sind monströs, nicht nur schlimm, sondern ein Verbrechen. Aber - genau das ist die Herausforderung für uns Politiker - wir müssen es einfach schaffen, an dieses Thema nicht nur emotional heranzugehen, sondern vor allem rational und differenziert, um unsere Ziele überhaupt effektiv erreichen zu können. Es gibt kein einfaches Patentrezept zum Schutz der Kinder und es gibt auch keine einfachen Lösungen zur Bekämpfung solcher Gewalt gegen Kinder. Auch die Antworten, die wir darauf geben können, sind komplex; sie sind nicht einfach: Es gibt ein ganzes Sammelsurium von Handlungsansätzen und Instrumenten, die wir anwenden müssen und die wir vor allem aufeinander abgestimmt zum Einsatz bringen müssen. Genau an diesem Punkt nimmt die rot-grüne Koalition auch mit diesem Antrag heute diese Aufgabe wahr. Unsere Kernbotschaft ist: Wir haben eine ganze Menge dazu gemacht, wir sind gerade dabei, möglichst niedrigschwellig eine ganze Reihe von Maßnahmen in Gang zu bringen, und werden es auch in Zukunft energisch angehen. Frau Fischbach, jetzt würde ich gerne zu Ihnen etwas sagen. Was haben Sie in den drei Jahren gemacht? Wir haben das Strafrecht verschärft. Wir haben es sehr hart verschärft. Meine Kollegin Gradistanac ist schon darauf eingegangen. Wir haben eine ganz deutliche Verschärfung, nur leider ohne Ihre Stimme. Wir haben zum Beispiel auch noch im Jahre 2000 zum ersten Mal ein Gesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht, das die Rechte der Kinder als subjektive Rechte im Grundgesetz verankert und in dem wir das Recht auf gewaltfreie Erziehung eingeführt haben, ({0}) nur leider ohne Ihre Zustimmung. Dennoch möchte ich jetzt genau auf dieses Beispiel eingehen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nur zu. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Deligöz, ich weiß nicht, zum wie vielten Male ich das jetzt wiederhole, ({0}) weil Sie immer eine verkürzte Sichtweise der Abstimmung wiedergeben. Ich frage Sie: Ist es Ihnen noch in Erinnerung, dass Sie damals die Abstimmung zur gewaltfreien Erziehung verbunden haben mit Änderungen im Unterhaltsrecht und dass wir hier im Bundestag nicht über die einzelnen Punkte abstimmen konnten, sondern nur über das Gesamtpaket? Wir haben also gar nicht im Einzelnen über die gewaltfreie Erziehung abgestimmt, sondern haben darüber in Kombination mit Unterhaltsrechtsänderungen, bei denen wir erhebliche Bedenken hatten, abgestimmt. Ist Ihnen das noch bekannt?

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Fischbach, ich freue mich richtig, dass Sie mir diese Frage stellen. Ich war damals dabei und war eine der Hauptverhandlerinnen. Von daher kenne ich die Reihenfolge der Ereignisse ganz genau. Ich bin damals für meine Fraktion durch alle Fraktionen gegangen, weil ich die Meinung vertreten habe, dass es wichtig wäre, dass wir hier im Bundestag eine einstimmige Meinung zu diesem Thema haben, weil es eine sehr hohe symbolische Bedeutung hat und weil das ein Signal nach außen gewesen wäre, das ich für sehr wichtig gehalten habe. An Ihren Rechtspolitikern - ich gebe zu, nicht an Ihnen persönlich - bin ich gescheitert: Sie wollten kein subjektives Recht, sie wollten es nicht in diesem Paragraphen, sondern im allgemeinen Teil, möglichst unbestimmt und ohne Rechtskonsequenzen. ({0}) Das war der Punkt, an dem wir gesagt haben: Schnitt! Wir nehmen das, was wir machen, ernst - wenn wir es nicht ernst nehmen, dann machen wir es erst gar nicht. Deshalb ist dieses Gesetz dort, wo es jetzt steht, und es ist sehr wirksam. Dazu komme ich noch. ({1}) Zweitens - ich bin noch nicht fertig - zum Huckepackgesetz: Ja, es war noch eine Unterhaltsrechtsklausel dabei. Diese Klausel ist zu einem Zeitpunkt in das Gesetz gekommen, zu dem wir bereits wussten, dass eindeutig von Ihrer Fraktion beschieden worden ist, dass Sie sowieso nicht mitmachen. ({2}) Diese Klausel zum Unterhaltsrecht besagte nichts anderes, als dass ein Anspruch auf das gesamte Kindergeld besteht, wenn Kinder bei einem Elternteil leben und der andere Elternteil keinen oder zu wenig Unterhalt zahlt. Wenn keine Unterhaltszahlungen erfolgen, soll das Kindergeld dorthin, wo die Kinder leben. ({3}) Wenn Sie dagegen sind, dann erklären Sie das einmal den Müttern, die alleine ihre Kinder erziehen. Genau dagegen haben Sie gestimmt, gegen nichts anderes. ({4}) Jetzt bin ich am Ende meiner Antwort. Wir haben dieses Recht im Jahr 2000 vereinbart. Ich möchte Ihnen sagen, warum es wichtig war, nicht nur das Gesetz zu verändern, sondern auch eine Kampagne dazu durchzuführen. Unsere Kampagne hat dazu geführt, dass ein Paradigmenwechsel in diesem Land eingeleitet wurde. 80 Prozent der Eltern in diesem Land bescheinigen, dass sie darüber erfahren haben, und erklären, dass sie in Zukunft von alleine darauf verzichten wollen, Gewalt in der Erziehung anzuwenden. Noch eine Zahl: Noch im Jahre 1992 war eine Ohrfeige völlig legitim, völlig normal. Heute sagen die meisten Eltern, nämlich 86 Prozent: Nein, darauf will ich verzichten. Lediglich 14 Prozent können das noch vertreten. Im Jahre 1992 meinten 41 Prozent der Eltern, ein Kind mit dem Stock zu schlagen sei doch kein großes Problem, das sei ein Teil der Erziehung. Heute sind es nur noch 5 Prozent. Das ist das Ergebnis unserer Kampagne, die ich als wirklich erfolgreich bezeichne. ({5}) Nichts anderes zählt; denn eines wissen wir: Gewalt erzeugt Gewalt. Dagegen müssen wir uns auflehnen. Wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen. Es geht um den Schutz unserer Kinder; es geht um unsere Kinder und um nichts anderes. Deshalb gibt es auch heute wieder nicht nur eine Gesetzesänderung - diese haben wir hinter uns gebracht -, sondern auch einen Aktionsplan, eine Kampagne, um die Eltern, um die Kinder, um die Menschen, um unsere Gesellschaft zu erreichen. Es geht dabei um Prävention, um Intervention und natürlich auch um Aufklärung. Noch ein Punkt: die Verschärfung des Strafrechts. Ja, die Verschärfung ist an diesem Punkt berechtigt. Nur, mit Strafrecht alleine schrecken Sie keinen Täter ab; denn die Täter wissen alle schon, dass es verboten ist, und tun es trotzdem. Eine große Dunkelziffer der Täter kommt aus dem Nahbereich des Kindes. Es sind die Familienmitglieder - Tanten und Onkel - und die Nachbarn. Sie wissen, dass das verboten ist, es schreckt sie aber nicht ab. Gerade deshalb ist es wichtig, möglichst niedrigschwellig Angebote zu machen, die Eltern zu ermutigen und die Offenheit zu wecken, zu diesem Telefon zu greifen. Es reicht nicht aus, dass diese Telefone existieren. Es muss auch die Aufmunterung geben, sie zu benutzen. ({6}) Es geht darum, national und international zu handeln und nicht nur darüber zu reden. Es geht um eine gesellschaftliche Sensibilität. Wir wissen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Deshalb fordern wir vonseiten der Grünen gerade an der deutsch-tschechischen Grenze, aber nicht nur dort, auch eine Forschung in diesem Bereich, um genau das zu durchbrechen. Wir wollen eine Forschung, die uns gesicherte Erkenntnisse zur Argumentation und zum Handeln gibt. Wir wollen mit diesen Erkenntnissen weg von der reinen Skandalisierung und Emotionalisierung hin zu Wegen, durch die wir unsere Kinder schützen. Eines möchte ich noch einmal betonen: Die Zukunft unserer Kinder ist die Zukunft unserer Gesellschaft. ({7}) Wenn wir es nicht schaffen, die Gewalt zu durchbrechen, dann wird das auf unsere Gesellschaft zurückschlagen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Klaus Haupt, FDP-Fraktion.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Kinder gehört zu den abscheulichsten Verbrechen auf dieser Welt. Kinderprostitution, Kinderhandel und Kinderpornographie sind ein gigantisches verbrecherisches Geschäft geworden. UNICEF schätzt den Umsatz weltweit auf 6 Milliarden Euro jährlich. 2 Millionen Kinder weltweit sind von Kinderprostitution betroffen. Das heißt, 3 000 Kinder werden täglich neue Opfer sexueller Gewalt. Als damaliger Vorsitzender der Kinderkommission habe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen an der Konferenz in Yokahama teilgenommen. Dort wurde eines sehr deutlich: Das Problem der sexuellen Ausbeutung ist sowohl in den armen als auch in den reichen Ländern ein zunehmendes Übel. Man schätzt, dass sich jährlich 10 000 Deutsche an Kindern im Ausland sexuell vergehen. In Deutschland kommen jährlich etwa 20 000 Fälle vor Gericht, bei denen Kinder Opfer sexueller Gewalt sind. Die Dunkelziffer liegt nach Schätzungen sechsmal so hoch. Sexuelle Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch fügen Kindern schwersten Schaden an Leib und Seele zu. Die seelischen und womöglich auch körperlichen Narben bleiben lebenslang bestehen. Das Grundvertrauen der betroffenen Kinder in andere Menschen wird zerstört. Deshalb begrüßt die FDP-Fraktion den vorliegenden Antrag grundsätzlich. Sexuelle Gewalt gegen Kinder darf kein Tabuthema sein. Es muss immer wieder in das öffentliche Bewusstsein gerufen werden. ({0}) Dazu dient auch die heutige Debatte. Sie ist ein gemeinsames Anliegen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages und wir sollten auch über einen gemeinsamen Antrag nachdenken, um die Bedeutung des Anliegens zu unterstreichen. ({1}) Die stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit ist ein wichtiger Aspekt. Viele Missbrauchsfälle könnten verhindert werden, wenn sexuelle Übergriffe nicht übersehen und bagatellisiert, sondern wahrgenommen und angezeigt würden. Das Problem ist nie weit weg, es ist überall. Meist stammen die Täter aus der Familie oder dem engeren Bekanntenkreis. Hier ist jeder Einzelne gefragt. Die Gesellschaft darf nicht wegsehen, wenn es um sexuelle Gewalt gegen Kinder geht. Nationales Handeln allein ist nicht ausreichend. Innerhalb der Europäischen Union und auch weltweit muss die Zusammenarbeit zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern intensiviert werden. Besonders im Bereich der Kinderpornographie ist es notwendig, zu einem die Landesgrenzen überschreitenden, wirksamen europaweiten Rechtsstandard zu kommen. In diesem Zusammenhang hat sich das Internet nicht nur als Segen, sondern eben auch als Fluch erwiesen: Per Mausklick sind hunderttausend einschlägige Adressen und Hunderte von Webseiten täglich abrufbar - und das im Schutze der Anonymität, die solche Perversionen begünstigt. Deshalb muss das Problem auf allen Ebenen energisch angegangen und müssen wirksame Strategien international angelegt werden; denn das schmutzige Geschäft mit Kindersex ist grenzüberschreitend. Der Missbrauch der Schwächsten der Gesellschaft, der Kinder, ist ein Verbrechen an der Zukunft unserer Gesellschaft und an der Menschheit. Danke. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle meine Vorredner hatten das Glück, schon vorher Mitglieder des Bundestages zu sein. Was will ich damit sagen? Sie haben bereits von meiner Kollegin Ingrid Fischbach gehört - ich glaube, sie hat es wirklich dezidiert dargelegt -, dass wir das, was Sie jetzt hier fordern, bereits vor Jahren gefordert haben und Sie unsere Anträge immer abgelehnt haben. Die 16 000 Fälle von Kindesmissbrauch jährlich, die die Kollegin Fischbach erwähnt hat, zwingen uns, weiter zu handeln. Tatsache ist, dass immer mehr Pädophile gezielt Chatrooms nutzen, um minderjährige Opfer anzusprechen. Mein Kollege Klaus Haupt hat auch schon von den Kinderpornos gesprochen. Diese dürfen nicht verharmlost werden. Ich komme gerade aus einem Gespräch mit Strafvollzugsbediensteten. Wenn man mit ihnen gesprochen hat, dann weiß man, was draußen los ist. Sie haben mir klipp und klar gesagt: Die Zahl der gefährlichen, gewaltbereiten und behandlungsresistenten Strafgefangenen steigt jährlich. Das geht zulasten der Kinder. Die Opfer leiden unter schwerwiegenden Folgen für Seele und Körper. Kollege Haupt hat auch richtig dargestellt - ich glaube, das sehen wir alle so -, dass dies zunehmend zu einem grenzüberschreitenden Problem wird; denn Kinderprostitution macht an Grenzen nicht Halt. Obwohl der Besitz von Kinderpornographie und deren Austausch im Internet seit dem 1. April schärfer bestraft wird, besteht meiner Meinung nach nach wie vor die Gefahr, dass die Machenschaften der Triebtäter in der virtuellen Welt meistens ungestraft bleiben. Deshalb sage ich an diesem Punkt: Dieser Antrag geht in die richtige Richtung, denn ohne eine umfassende internationale Zusammenarbeit aller Länder werden wir nichts erreichen. Es ist auch richtig, dass sich internationale Organisationen mit dieser Problematik befassen; denn sexuelle Ausbeutung von Kindern findet eben nicht nur in Deutschland statt. Aber um das wirksam zu bekämpfen, müssen alle betroffenen Länder die Strafverfolgungsmöglichkeiten verbessern. Trotzdem: Diese Forderungen sind nicht neu. Das waren unsere Forderungen. Sehr geehrte Frau Kollegin Gradistanac, ich kann Ihnen eine kritische Bemerkung zu Ihrem Antrag leider nicht ersparen; denn das gerade in Kraft getretene Gesetz zur angeblich umfassenden Verschärfung im Sexualstrafrecht ist halbherzig und unzureichend. Da ich in allen Debatten zur Verschärfung des Sexualstrafrechts, zur Opferrechtsreform, zum Opferschutzgesetz und zur nachträglichen Sicherungsverwahrung für die Schwachen dieser Gesellschaft gekämpft habe, glaube ich schon, dass ich dies gut beurteilen kann. In vielen Punkten haben Sie sich mit wichtigen Maßnahmen zurückgehalten. Kindesmissbrauch und vor allem sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen bleiben Vergehen und werden nicht als Verbrechen geahndet. Was heißt das für einen Nichtjuristen? Der Versuch ist nicht strafbar. Das aber haben wir gefordert. Das gleiche Problem stellt sich bei der Überwachung des Fernmeldeverkehrs, die für die vielen Fälle von Kindesmissbrauch und der Verbreitung von Kinderpornographie wichtig wäre. Auch da haben Sie uns nicht zugestimmt, geschweige denn die Zulässigkeit der DNAAnalyse unterstützt. Viele wissen aus der Presse, dass die DNA-Analyse wesentlich dazu beigetragen hat, dass viele Täter überführt werden konnten. In Ihrem Antrag steht, massiv traumatisierte Kinder sollen dabei unterstützt werden, eigene Interessen wahrzunehmen, damit sie Subjekte des Geschehens werden. Liebe Kollegin Deligöz, als ich das in dem Antrag gelesen habe, war ich - gelinde gesagt - sehr enttäuscht und betroffen. Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Ich habe für das Mainzer Modell im Strafverfahren gekämpft. Opferschutz heißt für die CDU/CSU-Fraktion, sich am Wohl des Kindes zu orientieren. Für alle die, die nicht wissen, was das Mainzer Modell beinhaltet, sage ich: Es geht darum, dass kindliche Opfer im Strafverfahren sich in einem gesonderten Raum mit dem Vorsitzenden befinden und eben nicht nur in eine Kamera sprechen müssen. Das hat etwas mit Kindeswohl zu tun. ({0}) Ich habe es noch einmal erklärt, weil dieses Mal die Familienpolitiker hier sitzen. Mein Appell an die Familienpolitiker geht dahin, hin und wieder Einfluss auf Rechtspolitiker zu nehmen, damit diese ihr Herz und ihren Verstand für die Kinder öffnen. ({1}) In diesem Punkt haben Sie leider kein deutliches Signal für kindlichen Opferschutz im Strafverfahren gesetzt. In Bezug auf die grenzüberschreitenden Maßnahmen - ich muss Sie einmal direkt ansprechen - rate ich Ihnen, über die Grenze zu schauen, was Österreich gemacht hat. Österreich hat das Mainzer Modell bereits eingeführt. Können wir uns nicht vielleicht einmal daran annähern? Das Gleiche betrifft die nachträgliche Sicherungsverwahrung. Kollege Ströbele ist leider nicht mehr hier. Mit dem habe ich an diesem Punkt heftig gestritten. Wir wollten genau das tun, was notwendig ist, nämlich die Bevölkerung und vor allem die Kinder vor hochgefährlichen Gewaltverbrechern schützen. Wir haben Sie an dieser Stelle mehrfach zum gesetzgeberischen Handeln aufgefordert. Was haben wir dazu von den Rechtspolitikern gehört? - Es sei Ländersache. Dann kam die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Da haben Sie sich ein bisschen bewegt. Die Anhörung dazu im Rechtsausschuss hat ergeben, dass der Regierungsentwurf viele kritische Punkte enthält, die geklärt werden müssen. Was heißt das wiederum? - Das heißt, dass das Zeitfenster, das das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, nämlich der 30. September, vielleicht nicht eingehalten werden kann. Was das heißt, muss ich Ihnen, glaube ich, nicht erklären. Das heißt, dass die hochgefährlichen Kinderschänder, die jetzt einsitzen, dann rausgelassen werden. Dass wir viel Zeit verloren haben, müssen Sie sich selber anlasten. Ich glaube, gut gemeinte Kampagnen allein nützen nichts, wenn der Gesetzgeber selbst diese Wertung nicht ernsthaft ausspricht. Fazit: Ihre gut gemeinten Forderungen in dem Antrag beinhalten die Ziele, Projekte und weltweite Standards zu entwickeln, zu fördern, Maßnahmen zu prüfen, aber Sie fordern nicht eine einzige konkrete gesetzliche Regelung. Dennoch: Ich mache Ihnen ein Angebot. Es ist ein gutes Signal, aber damit allein ist es nicht getan. Lassen Sie mit uns gemeinsam den guten Ansätzen Taten folgen. Es liegt jetzt an Ihnen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der Tagesordnung soll die Vorlage jedoch nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Lietz, Anita Schäfer ({0}), Christa Reichard ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Frauen und Familien in der Bundeswehr stärken und fördern - Drucksache 15/3049 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ursula Lietz, CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 11. Januar 2000 hat der Europäische Gerichtshof in seinem Grundsatzurteil die Bundesrepublik aufgefordert, alle Bereiche und Teilstreitkräfte der Bundeswehr für Frauen grundsätzlich zu öffnen. Mit der Überarbeitung unter anderem des Grundgesetzes haben wir in diesem Hohen Hause die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen und dem somit zugestimmt. Seitdem hat sich eine beachtliche Anzahl von jungen Frauen für die Bundeswehr entschieden. Diese Soldatinnen tun dort sehr selbstbewusst und sehr zielsicher ihren Dienst. Es ist eine gute Gelegenheit, ihnen an dieser Stelle dafür ganz herzlich zu danken. ({0}) Um die Bedingungen für Frauen und Soldatenfamilien den neuen Gegebenheiten anzupassen, hat die Fraktion der CDU/CSU den Antrag mit dem Titel „Frauen und Familien in der Bundeswehr stärken und fördern“ gestellt, der im Vorfeld mit betroffenen Frauen abgesprochen worden ist und von Frauen des Bundeswehrverbandes unterstützt wird. Zurzeit dienen immerhin 9 800 Frauen als Soldatinnen in der Bundeswehr. Knapp 700 sind bereits Offiziere und 4 900 sind Unteroffiziere. Das sind insgesamt 5 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten. Nach den Erfahrungen verbündeter Armeen wissen wir, dass damit zu rechnen ist, dass sich der Anteil weiblicher Soldaten bei circa 10 Prozent stabilisieren könnte. Wenn wir davon ausgehen, dass dies so sein wird, dann müssen einige Konsequenzen gezogen werden, die ich Ihnen hier gerne darstellen möchte. Der Verteidigungsminister ist aufgefordert, dreieinhalb Jahre nach Öffnung der Bundeswehr für Frauen endlich ein Gesetz für deren Gleichstellung zu schaffen. ({1}) Ankündigungen haben wir mittlerweile genug gehört. Schwierigkeiten scheint es im Verhältnis zwischen dem Familienministerium und dem Verteidigungsministerium zu geben. Fakten sind bis jetzt keine geschaffen worden. Dass so etwas möglich und nötig ist, zeigen in vorbildlicher Weise andere Streitkräfte. Ich möchte hier in besonderer Weise die Niederlande erwähnen. Ein Gleichstellungsgesetz allein reicht jedoch nicht aus. Folgende Punkte, die unsere besondere Aufmerksamkeit brauchen, möchte ich Ihnen im Einzelnen vorstellen: Aufstiegsmöglichkeiten und Beförderungschancen müssen für Männer und Frauen in der Bundeswehr gleichermaßen vorhanden und attraktiv sein. Das hört sich zwar banal an und sicherlich wird Ihnen jeder versichern, dass dies der Fall ist, aber es ist leider nicht so. Das werden Sie feststellen, wenn Sie mit Soldatinnen sprechen. Deshalb sollten in der Nachwuchsgewinnung und in der Wehrdienstberatung verstärkt erfahrene Soldatinnen eingesetzt werden. Teilzeitarbeit für Soldatinnen und Soldaten ist speziell während der Elternzeit oder der Pflege von Angehörigen zu ermöglichen. Das ist möglich und wird in anderen Ländern bereits so gehandhabt. Ich bin dem Wehrbeauftragten, Herrn Dr. Penner, sehr dankbar dafür, dass er in der Vergangenheit im Ausschuss immer wieder bestätigt hat, dass dies möglich ist. ({2}) In Zukunft wird es eine steigende Zahl von Soldatenehen geben. Damit meine ich Ehen, in denen beide Ehepartner bei der Bundeswehr dienen. Dem ist unsererseits mit einer entsprechenden Entwicklung der Bedingungen zugunsten einer familienfreundlichen Ausgestaltung des Dienstes Rechnung zu tragen. Die Personalplanung der Bundeswehr sollte hierbei die notwendige Flexibilität zeigen. Dazu gehört selbstverständlich - es ist kaum zu glauben, aber derzeit ist das noch nicht selbstverständlich -, dass bei einer Inlandsverwendung beide Ehepartner möglichst am selben Standort eingesetzt werden. Auch das gehört zur Familienfreundlichkeit. Wenn die Politik in allen Bereichen der Gesellschaft für mehr Familienfreundlichkeit und damit für mehr Kinder plädiert, die wir uns alle für die Zukunft wünschen, dann muss das auch für die Bundeswehr gelten. Denn sie ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. ({3}) Dazu gehört auch, dass Eltern von Kleinkindern nicht gleichzeitig in Auslandseinsätze geschickt werden. Das ist derzeit nicht sicher. Dass Alleinerziehende mit kleinen Kindern den Einsatz in anderen Ländern auf einen späteren Zeitpunkt verlegen können sollten, ist wohl auch selbstverständlich. Kinderbetreuung zu organisieren ist ebenfalls eine Aufgabe des Arbeitgebers Bundeswehr. Das muss nicht heißen, dass die Bundeswehr in jeder Kaserne eigene Kindergärten einrichtet. Aber zumindest die Kooperation mit kommunalen Einrichtungen - deren Schließungen zum Teil bereits diskutiert wird, weil es zu wenig Kinder gibt - wie auch mit konfessionellen Einrichtungen - ich bin mir sicher, dass sich die Kirchen sehr schnell für die Bundeswehr öffnen würden - mit einer bestimmten Anzahl von Plätzen für Bundeswehrkinder bei möglicherweise flexibleren Öffnungszeiten, die zu verhandeln sind, ist kein unüberwindbares Problem. In dem Zusammenhang erwähne ich noch einmal die zügige und schon seit längerer Zeit angekündigte Verkürzung der Einsatzdauer auf vier Monate. Ich wäre dankbar, wenn der Herr Verteidigungsminister diese Ankündigung endlich in die Tat umsetzen würde. Aus einem Papier geht hervor, dass dies im Rahmen der Verteidigungspolitischen Richtlinien vorgesehen ist. Diese werden allerdings bis 2010 umgesetzt. So lange können unsere Familien nicht warten, denke ich. ({4}) Des Weiteren ist die Einrichtung von 31 Familienbetreuungszentren mit fünf hauptamtlichen Beschäftigten - darunter sollte immer eine Frau sein - angekündigt worden. 19 davon sind bis jetzt verwirklicht worden. Ich hoffe sehr, dass mit der Reduzierung der Zahl der Soldaten nicht auch die Zahl der Familienbetreuungszentren reduziert wird. Denn deren Notwendigkeit richtet sich nach den Einsatzkonditionen im Ausland und nicht nach der Anzahl der Soldaten in der Bundeswehr. ({5}) Wir müssen insofern auch weiterhin darauf achten, dass die Familienbetreuungszentren errichtet werden. Ich möchte Sie alle sehr herzlich darum bitten, sich mit dafür einzusetzen, dass neben den hauptamtlichen Mitarbeitern auch auf die Erfahrung von Ehrenamtlichen - meist Soldatenfrauen - zurückgegriffen wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang das wunderschöne Projekt „Von Frau zu Frau“ in Coesfeld erwähnen, in dem sich erfahrene Soldatenfrauen um Frauen kümmern, deren Männer zum ersten Mal im Ausland eingesetzt werden und die damit noch Probleme haben. Zur Familienfreundlichkeit gehört aber viel mehr als das Angebot von Teilzeitarbeit und Kindergartenplätzen. Wir möchten, dass sich qualifizierte junge Frauen weiterhin für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden. Sie nehmen für uns Aufgaben wahr, die dem Frieden und der Freiheit der Bundesrepublik Deutschland dienen. Sie verteidigen uns und unsere Verbündeten. Ich denke, für diese Soldatenfamilien, Soldaten und Soldatinnen müssen wir unsere Hausaufgaben machen. ({6}) Ich weiß, dass wir uns in diesem Bereich nicht in allen Punkten mit anderen Nationen vergleichen können. Die USA oder andere befreundete Nationen haben wirklich nachahmenswerte Modelle. Wir müssen uns dagegen noch immer auf die Anforderungen weltweiter Einsätze einstellen, weil wir erst seit einigen Jahren über entsprechende Erfahrungen verfügen. Finanzielle Investitionen sind auf jeden Fall notwendig. Aber sie werden sich in Grenzen halten und werden überschaubar sein. Wer mehr Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft einfordert, sollte nicht nur entsprechende Sonntagsreden halten, sondern auch konkret etwas dafür tun. ({7}) Lassen Sie mich noch ganz kurz ein Wort zu den Auslandseinsätzen und den Konsequenzen sagen, die für die Bundeswehr daraus zu ziehen sind. Die Bundeswehr war früher eine reine Verteidigungsarmee. Sie alle wissen, dass das nicht mehr der Fall ist. Heute ist sie zu einer weltweit einsatzfähigen Interventions- und Krisenpräventionsarmee geworden. Wir haben die weltweiten Auslandseinsätze der Bundeswehr immer gemeinsam beschlossen. - Herr Nachtwei, Sie schütteln den Kopf. Auch ich wünsche mir ein Weißbuch, in dem die deutschen Interessen im Hinblick auf Auslandseinsätze ein bisschen deutlicher formuliert sind. Das steht leider noch immer aus. ({8}) Nachdem wir gemeinsam beschlossen haben, unsere Soldatinnen und Soldaten in weltweite Auslandseinsätze zu schicken, würde ich mich sehr freuen, wenn wir auch gemeinsam die Rahmenbedingungen verabschieden würden. Es wäre gut, wenn wir alle hinter unseren Soldaten stehen. Damit meine ich nicht nur die bestmögliche technische Ausrüstung, die eigentlich selbstverständlich sein sollte - hier gibt es ja gelegentlich Kritik -, sondern auch die sozialen Rahmenbedingungen. Es gibt Studien eines Instituts der Bundeswehr, die klar besagen, dass es entscheidenden Einfluss auf den Einsatz hat, wenn die Soldaten nicht wissen, ob ihre Familien gut versorgt sind. Wenn sie sorgenfrei, beruhigt und motiviert in den Einsatz gehen können, dann ist das für sie selber angenehmer und - das behaupte ich einmal - möglicherweise kostengünstiger, weil sie nicht aus der einen oder anderen Not heraus früher nach Hause fahren wollen und im Einsatz nicht falsch reagieren. Für mich ist wichtig, festzuhalten, dass Frauen in der Bundeswehr die Chancen bekommen, die sie erwarten, und dass Soldatenfamilien genauso wie Alleinerziehende das Gefühl haben, dass sie uns am Herzen liegen, dass wir uns um sie kümmern. Dazu sollten wir alle bereit sein. Dieses Ziel verfolgt der heute von der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion eingebrachte Antrag. Die Schritte, mit denen wir dieses Ziel erreichen können, habe ich Ihnen aufgezeigt. Ich würde mich - ich wiederhole das ausdrücklich - über einen gemeinsamen Beschluss betreffend diese Themen freuen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion.

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lietz, es fehlt heute bei diesem wichtigen Thema an Präsenz. ({0}) Sie ist aber nicht aus mangelndem Interesse, sondern aufgrund der mangelnden Substanz Ihres Antrages dürftig. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung und zur Förderung von Frauen und Familien in der Bundeswehr entspricht im Wesentlichen den Anliegen und den Initiativen, die das Bundesministerium der Verteidigung seit langem verfolgt und in vielen Bereichen bereits umgesetzt hat. Unsere Soldatinnen erfahren innerhalb der Bundeswehr nicht nur eine gute Aufnahme, sondern auch eine sehr große Akzeptanz. Sie sind hoch qualifiziert und motiviert und zeichnen sich durch Engagement und Leistungsbereitschaft aus. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein ganz praktisches Beispiel nennen. Die Jahrgangsbesten der Marineschule Mürwik waren im vorletzten und im letzten Jahr Frauen. ({1}) Wie mir in vielen Gesprächen versichert wurde, hat sich mit dem Eintritt von Frauen in die Bundeswehr gerade die Motivation ihrer männlichen Kameraden erhöht, die durch die sehr guten Leistungen der Soldatinnen angespornt werden, es ihnen gleichzutun. Auch der bekanntermaßen manchmal etwas raue Umgangston innerhalb der Bundeswehr hat sich seit der Öffnung für Frauen sehr zum Positiven gewendet. Natürlich gibt es wie im zivilen Bereich auch in der Bundeswehr noch Bedarf, die Integration von Frauen weiter zu verbessern. Daran arbeiten wir. ({2}) Das geplante Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung für Soldatinnen und Soldaten, dessen Entwurf sich zurzeit in der Ressortabstimmung befindet, zeigt dies eindrucksvoll. Wir werden den Gesetzentwurf - ich komme damit auf Ihre Frage zurück - noch in diesem Jahr einbringen, damit das Gesetz 2005 in Kraft treten kann. ({3}) Ihr Vorwurf, die Bundesregierung belasse es diesbezüglich bei Ankündigungen, ist somit schlichtweg falsch. Das Soldatengleichstellungsgesetz wird unseren Soldatinnen und Soldaten einen gesetzlichen Anspruch an die Hand geben, den Angehörige im zivilen Bereich bereits seit Jahren durch das Frauenfördergesetz und das Bundesgleichstellungsgesetz genießen. Die Integration von Frauen in die Bundeswehr wird somit weiter vorangetrieben werden. Besonders hervorheben möchte ich hierbei, dass im Gesetz künftig festgeschrieben sein wird, dass eine Unterrepräsentierung von Frauen dann vorliegt, wenn ihr Anteil in den einzelnen Streitkräften unter 15 Prozent und im Sanitätsdienst unter 50 Prozent liegt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gut.

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Für die Praxis ist relevant, dass Bewerberinnen bei gleicher Leistung, bei gleicher Eignung und bei gleicher Befähigung wie ihre männlichen Bewerber bevorzugt eingestellt werden, wenn in ihrem Bereich nicht die erforderlichen 15 bzw. 50 Prozent erreicht werden. Das Gleiche gilt für den beruflichen Aufstieg von Soldatinnen und Soldaten. Ist auch hier die entsprechende Quote nicht erreicht, werden Soldatinnen gegenüber ihren männlichen Kameraden bei gleicher Qualifikation bevorzugt. Das Gleichstellungsgesetz schafft künftig auch die Möglichkeit zur Teilzeitbeschäftigung von Soldatinnen und Soldaten mit Familienpflichten. Damit wird ein Meilenstein für die Durchsetzung der Gleichstellung und die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Dienst in den Streitkräften erreicht. ({0}) Betrachtet man diese und weitere Regelungen im geplanten Gesetz, lässt sich feststellen, dass mit diesem Gesetzentwurf die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundeswehr konsequent vorangetrieben wird. Wie ernst der CDU/CSU die Forderungen in ihrem Antrag wirklich sind, kann sie dieses Jahr unter Beweis stellen, indem sie zusammen mit der Regierungskoalition das Gesetz zur Durchsetzung der Gleichstellung von Soldatinnen und Soldaten verabschiedet. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, hinsichtlich der Forderung in Ihrem Antrag, künftig mehr Soldatinnen in den Nachwuchsgewinnungszentren und mehr Frauen als Wehrdienstberaterinnen einzusetzen, kann ich Ihnen sagen, dass diese Entwicklung bereits eingesetzt hat - für mich ist das ein ganz natürlicher Prozess - und sich in Zukunft noch verstärken wird. ({2}) - Sie müssten vielleicht einmal in die Nachwuchsgewinnungszentren oder in die Wehrdienstberatungszentren gehen. ({3}) Seit nunmehr 1991 verrichten Frauen ihren Dienst in der Bundeswehr. Wir sind froh darüber, dass sich immer mehr Frauen für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Anteil der Frauen an der Gesamtgröße der Bundeswehr zurzeit bei gerade einmal 5 Prozent liegt. ({4}) Es ist momentan also gar nicht so leicht, eine entsprechend hohe Anzahl erfahrener Soldatinnen für diese Dienstposten zu finden. Aber ich bin mir sicher, dass sich dies in den nächsten Jahren wirklich sichtbar verändern wird. Die Bundeswehr hat im Übrigen ein ureigenes Interesse daran, Soldatinnen im Bereich der Nachwuchsgewinnung einzusetzen, ({5}) um gerade weiblichen Interessenten den Einstieg in die Bundeswehr zu erleichtern. ({6}) - Da stimme ich Ihnen zu. Probleme gibt es, wenn Alleinerziehende mit kleinen Kindern in den Einsatz sollen. Ich denke, dem kommt man mit der momentan gängigen Praxis entgegen, Alleinerziehende auf Wunsch von Auslandseinsätzen freizustellen. ({7}) - Das haben Nachfragen ergeben. Ihre Forderungen zu den Maßnahmen für spezielle Kinderbetreuungsangebote sind meines Erachtens sehr unspezifisch. Gerade hier gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was gut für Kinder ist, was den Soldatinnen und Soldaten zuzumuten ist und wie die Ausgestaltung im Einzelnen aussehen könnte. Der Bedarf wird derzeit abgefragt. Wenn ich eines nicht will - ich glaube, das wollen auch Sie nicht -, dann das, dass es zukünftig eine Kasernierung von Kindern in Bundeswehrstandorten gibt. ({8}) Es wird deshalb keine Lex Bundeswehr geben. An dieser Stelle ist nach wie vor eine enge Zusammenarbeit mit den Kommunen gefordert und gefragt. Die Bundesregierung hat ihrerseits gehandelt und ein Milliardenprogramm für die Kommunen aufgelegt, welches eine Ganztagsbetreuung in Kindertagesstätten und Schulen künftig erleichtern und in einigen Regionen ermöglichen wird. Jedem Kommunalpolitiker ist klar, dass die Bereitstellung von Kindertagesstättenplätzen die Attraktivität eines Bundeswehrstandortes erhöht. An dieser Stelle könnte man eine ganze Anzahl positiver Beispiele, insbesondere aus den neuen Bundesländern, anführen. Aber auch Kooperationen an großen Bundeswehrstandorten haben sich bewährt. Es bleibt festzustellen: Ganztagsbetreuung, Kindertagesstätten sind und bleiben Ländersache. Der Bund kann und wird die Betreuungsreform auch künftig begleiten und unterstützen. Wie überholt der Antrag der CDU/CSU zur Stärkung und Förderung von Frauen und Familien in der Bundeswehr ist, zeigt sich einmal mehr an der Forderung nach Einrichtung von 31 Familienbetreuungszentren. Wer sich wirklich ernsthaft mit der Materie befasst, weiß, dass es diese Familienbetreuungszentren bereits gibt, ({9}) einige mitunter seit zwei Jahren. Einige arbeiten im Moment noch ehrenamtlich. Bis zum Jahresende sollen diese 31 Familienbetreuungszentren aber mit hauptamtlichem Personal besetzt werden. ({10}) Zurzeit wird der STAN erstellt, der dazu erforderlich ist. Ich bin mir sicher, dass wir am 31. Dezember ein sehr gutes Resümee werden ziehen können. Unser gemeinsames Ziel sollte hierbei sein, dass in jedem der Familienbetreuungszentren ein Dienstposten durch eine Frau zu besetzen ist. Davon, welch hervorragende Arbeit in den Familienbetreuungszentren geleistet wird, konnte ich mich bei mehreren Besuchen vor Ort - wie Sie offensichtlich auch - überzeugen. Wir hatten zum Beispiel vor einigen Monaten Angehörige von im Ausland stationierten Soldaten und Soldatinnen als Gäste im Kanzleramt bzw. im Bundestag. Diese Angehörigen haben uns bestätigt, dass die Familienbetreuungszentren wirklich eine ausgesprochen gute Arbeit leisten. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die dort ihren Dienst tun, vor allem bei den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die oftmals Soldatenfrauen sind - Sie haben es vorhin schon erwähnt -, ganz herzlich zu bedanken; denn sie leisten dort eine ausgezeichnete und fachlich sehr qualifizierte Arbeit. ({11}) Die Forderung in Ihrem Antrag nach geeigneten Maßnahmen zur Förderung der Akzeptanz von Soldatinnen und Soldaten mit Kindern ist zu unspezifisch ({12}) und wirkt ein bisschen konzeptionslos. ({13}) Die Berücksichtigung von so genannten Soldatenehen erfolgt in der Bundeswehr bereits weitestgehend. Es ist gängige Praxis, dass Verheiratete ihren Dienst gemeinsam an einem Standort leisten können bzw. eine entsprechende Versetzung erfolgt, wenn es der Wunsch beider ist. ({14}) Des Weiteren ist die Forderung nach einem Bericht über den Stand der Integration der Soldatinnen in der Bundeswehr nicht mehr aktuell. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr - Sie wissen das - hat bereits einen Auftrag vom Bundesverteidigungsministerium erhalten. ({15}) Die entsprechenden Fragebögen sind entworfen worden. Sie werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt versandt. ({16}) Diese Befragung findet also zurzeit statt. Mit der Verkürzung der Einsatzdauer von sechs auf vier Monate ist das Verteidigungsministerium den Bedürfnissen der Soldatinnen und Soldaten entgegengekommen. ({17}) Dementsprechend gut wird diese Änderung von der Truppe angenommen. Diese Änderung erfolgt noch nicht überall, denn sie wird schrittweise umgesetzt. Die kürzeren Stehzeiten - das können Sie sicherlich nachvollziehen - bedeuten aber eine enorme Kraftanstrengung für die Bundeswehr. Gerade auch für unsere einheimischen Truppen, die die Einsätze vorbereiten, ist das eine enorme Kraftanstrengung. Ein großer Rückhalt sind hierbei unsere Wehrpflichtigen, die nach ihrer Ausbildung in großem Umfang für eben diese Einsatzvorbereitung eingesetzt werden. Würde die Bundeswehr nicht über dieses große Potenzial verfügen, könnten unsere jetzigen Auslandseinsätze in diesem Umfang nicht fortgeführt werden. ({18}) Ganz abgesehen davon sind es gerade unsere Wehrpflichtigen gewesen, die bei den Hochwasserkatastrophen in den letzten Jahren Großartiges geleistet haben. ({19}) Ich bitte daher alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, dies auch in der aktuellen Debatte über die Wehrpflicht zu bedenken. Die intensive Beschäftigung mit dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion bestätigte leider den Eindruck, der sich mir schon bei der ersten Lektüre aufdrängte. Daher lautet mein Fazit: Hier wurde ein Antrag hervorgekramt, ({20}) der bereits seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren in irgendeiner Schublade schlummerte; denn viele Feststellungen und Forderungen sind inzwischen wirklich überholt. ({21}) Dabei ist das Thema von einer enormen Bedeutung, die keineswegs unterschätzt werden darf. Ich komme nicht umhin, festzustellen, ({22}) dass der Antrag der Union dieser Bedeutung nicht gerecht wird. ({23}) Erlauben Sie mir am Ende eine ganz persönliche Bemerkung. Ich finde es insgesamt äußerst bedauerlich, dass ein so brandaktuelles Thema dermaßen altbacken aufgearbeitet wurde. ({24}) Eine Erörterung der im Antrag enthaltenen Vorschläge als Denkanstöße halte ich somit für nicht erforderlich. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin, ich schätze Sie wirklich sehr, aber bitte kritisieren Sie nicht andere Anträge, wenn Sie einerseits zugestehen, dass das Thema brandaktuell ist, aber andererseits dazu noch nichts vorgelegt haben. In diesem Punkt möchte ich die CDU/CSU jetzt einmal in Schutz nehmen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich begrüße die Initiative der CDU/CSU-Fraktion zur Stärkung und Förderung von Frauen und Familien in der Bundeswehr; denn der Antrag - das wissen Sie - greift nicht nur Diagnosen aus dem aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten auf, sondern vor allem auch Ergebnisse aus der Kleinen Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion zur Situation von Frauen in der Bundeswehr. ({1}) Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Anfrage zeigen, dass es die gläsernen Decken, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, für Frauen beim beruflichen Aufstieg auch in der Bundeswehr gibt. Erinnern Sie sich: Seit 1975 werden Frauen als Ärztinnen, Zahnärztinnen, Apothekerinnen und Veterinärinnen eingestellt. In der Laufbahn der Offiziere des Sanitätsdienstes gibt es aber, obwohl sie seit 1975 für Frauen geöffnet ist, nur fünf Soldatinnen mit der Besoldungsstufe A16 und höher, dagegen gibt es 245 männliche Soldaten in den Besoldungsstufen A16 und höher. Derzeit sieht es nicht so aus, als würde sich dieser Zustand ändern: Im Bereich der Nachwuchsgewinnung und der Ansprache junger Menschen für die Bundeswehr - das ist vonseiten der CDU/CSU ja auch zum Ausdruck gekommen - spielen Frauen nämlich keine Rolle. Ich fordere die Bundesregierung auf - hier sitzt ja auch der Staatssekretär -, umgehend eine Lösung für dieses Problem zu finden. Ich weiß, dass es lange dauert, bevor man im Rahmen der Nachwuchsgewinnung vor jungen Leuten sprechen darf, aber es gibt sicherlich eine Möglichkeit, Frauen schneller zu qualifizieren und sie im Rahmen der Nachwuchsgewinnung einzusetzen. ({2}) Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewinnen für Soldatinnen und Soldaten immer größere Bedeutung. Das sage nicht ich, sondern das hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages gesagt. ({3}) Er sagt weiter, die Truppe warte auf strukturelle Verbesserungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Leider muss er dazu feststellen, dass der Bundesverteidigungsminister konkrete Konsequenzen aus den herrschenden Missständen nicht gezogen hat. Meine Kolleginnen und Kollegen, selbst die Bundesregierung hat mittlerweile bemerkt, dass die Karrierechancen von Frauen in der Truppe nicht so gut sind, wie sie eigentlich sein sollten. Und siehe da: Schon steht ein Gleichstellungsgesetz vor der Tür. Aus Sicht der FDP will ich Ihnen sagen: Quoten werden weder der besonderen Situation der Bundeswehr noch den Interessen der Soldatinnen gerecht. Unsere Soldatinnen - auch ich habe diesbezüglich persönliche Gespräche geführt - wollen nach dem Grundsatz von Eignung, Befähigung und Leistung behandelt werden. ({4}) Sie wollen nicht bevorzugt werden. Sie wollen nur, dass spezielle Situationen, zum Beispiel der Fall, dass sie Kinder haben, berücksichtigt werden. Die FDP - das kündige ich hier schon an - wird in einem eigenen Antrag aufzeigen, wie wir uns vorstellen, dass Soldatinnen und auch Soldaten in der Bundeswehr, die Familienarbeit übernehmen, unterstützt werden. Wir wollen, dass die Bundeswehr für Frauen ein attraktiver Arbeitgeber wird. Das ist sie bis heute nicht. In einigen wenigen Jahren - das wissen wir beide, Herr Nachtwei, der Sie als einziger Grüner hier sitzen - wird die Bundeswehr nämlich eine Berufsarmee sein, die mit Wirtschaft und öffentlichem Dienst um Arbeitskräfte konkurrieren muss. Die FDP im Deutschen Bundestag hat mit als erste Partei Soldatinnen in der Truppe gefordert. ({5}) Gerade haben Sie, liebe Kollegin von der SPD, gesagt, was Sie alles Tolles machen wollen. Denken Sie einmal an die früheren Diskussionen: Die SPD hat sich bis zum Schluss dagegen gewehrt, dass Frauen als Soldatinnen in der Bundeswehr zugelassen werden. Erst als es das Urteil vom Europäischen Gerichtshof gab, haben Sie sich bequemt, etwas zu machen. ({6}) Es steht also fest: Liberale waren wieder einmal an der Spitze der Bewegung. Zur Bundesregierung sage ich Folgendes: Sie muss noch stark daran arbeiten, dass endlich etwas für Frauen in der Bundeswehr geschieht und ihnen gemäß ihrer Eignung, Befähigung und Leistung Aufstiegsmöglichkeiten in der Bundeswehr eröffnet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen, tun Sie etwas und warten Sie nicht auf die Bundesregierung, die sich dafür seit Monaten und Jahren Zeit lässt. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede der Kollegin Marianne Tritz vom Bündnis 90/ Die Grünen soll zu Protokoll gegeben werden.1) - Gut, wir nehmen sie zu Protokoll. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3049 an die in der Tagesordnung aufge- 1) Anlage 5 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19 a bis 19 c: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Rudolf Bindig, Lothar Binding ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Unterstützung der neuen Regierung Boliviens bei der demokratischen Stabilisierung des Landes - Drucksache 15/2975 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Weiß ({3}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Chance zum demokratischen Neubeginn in Haiti unterstützen - Drucksache 15/2746 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß ({6}), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Nach der Neuwahl in Argentinien: Entwicklungszusammenarbeit mit Argentinien und Uruguay zielgerichtet fortführen - Drucksachen 15/1015, 15/2706 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Sascha Raabe Peter Weiß ({7}) Hans-Christian Ströbele Markus Löning Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re- den der Kolleginnen und Kollegen Karin Kortmann von der SPD-Fraktion, Peter Weiß von der CDU/CSU-Frak- tion, Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, und Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.1) Eine Aussprache findet also nicht statt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2975 und 15/2746 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 15/2706 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Nach der Neuwahl in Argenti- nien: Entwicklungszusammenarbeit mit Argentinien und Uruguay zielgerichtet fortführen“. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1015 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({8}), Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Das gemeinsame historische Erbe für die Zukunft bewahren - Drucksache 15/2819 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({9}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in den Jahren 2001 und 2002 - Drucksache 15/2967 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Erwin Marschewski von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine eigenartige Furcht geht offenbar bei Rot- Grün um: die Furcht vor den Landsmannschaften der 1) Anlage 6 Erwin Marschewski ({0}) Vertriebenen und der Flüchtlinge, vor denen aus Ostpreußen, Schlesien, dem Sudetenland, Pommern oder anderswo. ({1}) - Die Reaktion zeigt es ja. - Was ich bei Ihnen sehe, ist keine feine Dosierung. Es ist Unverständnis, zumindest Skepsis, im Ergebnis Ablehnung. Dabei ist doch das Recht auf die Heimat ein Menschenrecht. ({2}) Dabei sind und bleiben Vertreibungen großes Unrecht. Dabei ist kulturelle Besinnung, ist Austausch Verständigungspolitik im umfassenden Sinne, weil Austausch und Verständigung historische Vergewisserung verlangen und eben nicht Verdrängung, meine Damen und Herren. Wenn dies nun richtig ist, warum dann die Ablehnung der Bundesregierung gegenüber denjenigen, die für dies alles stehen, eben die Vertriebenen, die Flüchtlinge und deren Verbände, die seit der Vertreibung an die jahrhundertealte Kultur und Geschichte erinnern, die - ich war im Französischen Dom selbst dabei - Kants „Kritik der reinen Vernunft“ oder „Kritik der Urteilskraft“ wieder aktuell machen oder die bei Hauptmanns „Weber“ oder Eichendorffs „Oh Täler weit, oh Höhen“ ihre Heimat Schlesien nicht vergessen? Warum diese Ablehnung, warum diese Negierung? ({3}) Nur ein Zitat aus der „Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ der Bundesregierung, die alles zum Nachteil der Vertriebenen und Flüchtlinge verändert hat: In dem Bericht heißt es - hören Sie gut zu -, der Kulturaustausch und die Aufarbeitung der Siedlungs- und Kulturgeschichte dürfe nicht „Domäne einzelner Interessengruppen der Vertriebenenverbände sein“. Schon die Wortwahl stößt bei mir auf Ablehnung. ({4}) - Ich komme aus dem Bereich des Sports. Ich muss Sie fragen: Würden Sie einen Sportverein oder eine Sportbewegung genauso gängeln? So darf man nicht mit den Menschen umgehen, die in diesem Bereich jahrzehntelang segensreich gewirkt haben. ({5}) Erst recht auf Ablehnung stößt die Folgerung, nämlich der Versuch von Rot-Grün, den Einfluss der Vertriebenenverbände auf die bundesgeförderte Kulturarbeit weitgehend auszuschalten und somit die Autonomie zu beeinträchtigen. Meine Damen und Herren von der SPD, alle Landsmannschaften, aber auch die Menschen in den ehemals deutschen Gebieten haben mir dies gesagt. Ich meine, was Sie machen, ist falsch; denn Sie verzichten auf den Sachverstand derer, die sehr lange das deutsche Kulturerbe im Bewusstsein gehalten haben. Das ist nicht richtig. ({6}) Die Vertriebenen haben in ihrer Stuttgarter Erklärung auf Rache und Vergeltung verzichtet. Deswegen sage ich Ihnen - ich muss es jetzt etwas härter ausdrücken -: Ihr so genanntes Erforschungspräsentationskonzept ist eine Demontage des Wirkens von 2 Millionen Flüchtlingen, Vertriebenen, Spätaussiedlern und deren 21 Landsmannschaften innerhalb des Bundes der Vertriebenen. ({7}) - Herr Kollege, alle 21 Vertriebenenverbände - ich war in Oberschlesien und Schlesien - bestätigen mir das. Sie erheben den Vorwurf, dass der Bundeskanzler, wenn er nach Schlesien kommt, lieber in die Kneipe nach nebenan geht, anstatt mit den Menschen dort zu sprechen. Das ist das Problem. ({8}) Wir müssen uns der Menschen annehmen, wie es zum Beispiel der polnische Staatspräsident in Litauen oder anderswo tut. Das wäre richtig. ({9}) Sie haben viel gekürzt im Bereich der Kulturreferenten, im Bereich der institutionellen Förderung und im Bereich der grenzüberschreitenden Arbeit, was für mich das Maß übervoll macht. Auch die Erinnerungen an Lebens- und Herkunftsstätten großer Deutscher aus Kunst, Literatur und Wissenschaft aus den früheren ostdeutschen Regionen werden kaum noch gefördert. Neben den bereits genannten Kant und Hauptmann denke ich an die Ostpreußen Herder, E. T. A. Hoffmann, Ernst Wichert, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, um nur ein paar Künstler aus der Heimat meiner Eltern zu nennen, wo doch gerade die Erinnerung, das Gedächtnis und das aktuelle Sich-Auseinander-Setzen mit diesen großen Deutschen Bewusstsein schafft, auch Verbindung in neuer politisch-europäischer Beziehung. So nicht, meine Damen und Herren von Rot-Grün! Sie werden es nicht schaffen, die Vertriebenen und die Jahrhunderte alte deutsche Kultur in Ost- und Südosteuropa in die Museen zu verbannen. Vertriebenenkulturarbeit bedeutet eben nicht bloße Erinnerungsarbeit. Sie ist vielmehr aktuelle Suche nach den Wurzeln und Kontinuitäten unserer Nationalgeschichte. Darüber hinaus ist sie gesetzliche Verpflichtung. § 96 des Bundesvertriebenengesetzes besagt dies ausdrücklich. Ich hoffe, dass Sie zumindest lesen können. ({10}) - Hören Sie zu und machen Sie nicht so unqualifizierte Zwischenrufe, lieber Herr Kollege. ({11}) Erwin Marschewski ({12}) Ich zitiere aus § 96: ... das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten ... ({13}) - Dann müssen Sie sich danach richten und daraus die Konsequenzen ziehen. Vielleicht tun Sie es persönlich. Aber die Bundesregierung tut es nicht. Sie wissen, das ist hochrangiges Recht. Sie wissen, Herr Kollege Dr. Küster, dass es Inhalt des Einigungsvertrages ist. Deswegen entspricht es nicht dem Wesensgehalt dieser Vorschrift, die Förderung um 40 Prozent auf nur noch 15 Millionen Euro weitgehend zusammenzustreichen, was Sie leider tun. Dies wollen wir ändern. Deswegen haben wir eine neue Konzeption unterbreitet. Wir wollen die Erhaltung und Weiterentwicklung ostdeutscher Kultur. Wir wollen die Heimatvertriebenen mit einbeziehen und wir wollen vor allem weg vom rot-grünen Zentralismus wieder hin zur dezentralen Förderung. ({14}) Ich verspreche schon jetzt den Vertriebenen und Flüchtlingen, dass wir, wenn wir dann in zwei Jahren die Regierung übernehmen, die Politik der rot-grünen Bundesregierung umkehren und sie wieder vom Kopfe auf die Füße stellen. ({15}) - Sie haben wirklich überhaupt keine Kenntnis; deswegen, Herr Kollege Küster, mein Einwand gegen diesen hochqualifizierten Zuruf Ihres Kollegen. ({16}) Kulturelles Schaffen und dessen Teilhabe sind zutiefst Handeln in Freiheit, die es zu beachten gilt, was mir bei Vertriebenen und Flüchtlingen besonders leicht fällt; denn sie sind Brücken und Botschafter für Aussöhnung und Verständigung. Nicht zuletzt meine gerade angesprochene Reise nach Schlesien und Oberschlesien hat mir dies noch einmal in aller Breite deutlich gemacht. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Kollegin Antje Vollmer vom Bündnis 90/Die Grünen hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Deswegen ändere ich jetzt entsprechend die Reihenfolge. 1) Anlage 7 Das Wort hat die Staatsministerin Christina Weiss.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt den Bericht über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz zu einem Zeitpunkt vor, der gerade für die hiervon angesprochenen Menschen und Regionen von historischer Bedeutung ist. Unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn kehren nach Europa zurück, das sie - ihrem eigenen Selbstverständnis nach - nie verlassen haben. Sie entdecken es neu und sie entdecken es für uns neu. Nach und nach erkennen wir wieder, was uns einst verbunden hat. Wenn wir uns bewusst machen und wenn wir bereit sind, sowohl die vergessenen Schätze als auch die verbrannten Trümmer zu heben, dann werden wir die Frage beantworten können, wo Europa aufhört, nämlich dort, wo die Grenzen unserer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung verlaufen. ({0}) Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag im Jahr 2000 die Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa zugeleitet. Damit wurde die Grundlage geschaffen, deutsche Kulturtraditionen im östlichen Europa zu bewahren und auch zu pflegen. Wir haben natürlich ein großes Interesse daran, die vielfältige Kulturarbeit in erster Linie zu professionalisieren und effizienter zu gestalten. ({1}) Zudem soll sie nicht im Verborgenen geschehen. Sie braucht eine breite Öffentlichkeit und sie muss diese breite Öffentlichkeit erreichen. Dabei wird von einem aufrichtigen Geschichts- und Kulturverständnis ausgegangen, das weder die historischen Belastungen ausklammert noch die unterschiedlichen nationalen und regionalen Traditionen vernachlässigt. Die Neukonzeption hat im Berichtszeitraum zu erfreulichen Ergebnissen geführt. ({2}) - Das hörte sich etwas anders an. - Zunächst einmal konnte im Berichtszeitraum das finanzielle Niveau gehalten werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit in diesen Zeiten. Mein Haus hat es zudem ermöglicht, dass sich einige Einrichtungen zu wirklich renommierten wissenschaftlichen Institutionen entwickeln konnten. ({3}) Ich denke etwa an die früheren Kulturwerke, die nun als Institute für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa, in Lüneburg, und in Südosteuropa, in München, als universitäre An-Institute mit einer wirklich wichtigen Multiplikatorenfunktion wirken können. Sie folgen damit dem Vorbild des Oldenburger Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, das in Kooperation mit der Universität Oldenburg von Anfang an den grenzübergreifenden wissenschaftlichen Dialog zur Grundlage seiner Arbeit gemacht hat. Die von uns geförderten Stiftungslehrstühle für Geschichte an den Universitäten Stuttgart und Erfurt sowie für Kunstgeschichte in Leipzig haben sich inzwischen etabliert. Vor zwei Jahren konnte zudem im Rahmen der internationalen Kooperation in Olmütz, in Tschechien, ein Stiftungslehrstuhl für deutsch-mährische Literaturgeschichte entstehen. Außerdem wurde in diesen Tagen ein vergleichbares Vorhaben an der Universität Klausenburg in Rumänien aus der Taufe gehoben. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Museen zu den historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten eine ganz hervorragende Arbeit leisten, wenn es darum geht, das Bewusstsein für das kulturelle Erbe wach zu halten. Besonders bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, dass es mit der deutschen Einheit gelungen ist, zusätzliche Einrichtungen in den neuen Bundesländern zu eröffnen. ({4}) Die Kooperation mit Partnerinstitutionen in Ostmitteleuropa ist mittlerweile für alle Museen zur Selbstverständlichkeit geworden. Sie funktioniert sehr gut und ist dort anerkannt. Auch die Arbeit der Kulturreferenten in den Landesmuseen hat sich bewährt. Sie gestalten Begleitprogramme zu den Aktivitäten der jeweiligen Museen und entwickeln eigene Initiativen speziell zur kulturellen Breitenarbeit. Zur Verbreitung von Kenntnissen über deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa soll auch das Deutsche Kulturforum östliches Europa mit Sitz in Potsdam beitragen, das seit 2002 institutionell vom Bund gefördert wird und sich bislang durch große Aktivitäten - Vorträge, Tagungen, Ausstellungen und Publikationen - hervortat. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen wir, was für den Erhalt von Kulturdenkmälern getan wird, die von deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa zeugen. Hier zeichnet sich eine sehr gute, enge Kooperation mit den örtlichen Institutionen der Denkmalpflege ab, die wir finanziell unterstützen, deren Unterstützung wir aber auch brauchen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die neue Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn leistet. ({5}) Wir wissen alle, dass das wichtig, notwendig und fundamental ist. Das wird sich im Übrigen auch in den deutsch-polnischen Kulturbegegnungen im nächsten Jahr zeigen, die wir derzeit vorbereiten. Ähnliche Kulturbegegnungen sind mit Ungarn, Tschechien und den baltischen Staaten geplant, die ebenfalls gemäß § 96 BVFG gefördert werden. Um ihre Zukunft in Vielfalt geeint zu gestalten, müssen sich die Völker Europas ihrer Geschichte erinnern, der gemeinsamen und der trennenden. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass die Kulturminister aus sechs Ländern noch vor der EU-Erweiterung damit begonnen haben, ein europäisches Netzwerk für Zwangsmigration und Vertreibung zu knüpfen. Es gibt in allen Völkern Europas vielfältige Varianten des Leidens. Dieses Netzwerk soll die vielen Geschichtswerkstätten, Museen, Archive und Denkmäler in ganz Europa miteinander verbinden. Wir wollen auf interessengeleitete Aktionen mit einer aufrichtigen europäischen Initiative antworten und damit verdeutlichen, dass es nicht reicht, das nationale Gedenken zu organisieren, sondern dass wir die europäische Forschung zu diesem Thema voranbringen müssen. Wir behandeln heute auch den Antrag der CDU/CSUFraktion „Das gemeinsame historisches Erbe … bewahren“. Wenn Sie meine Ausführungen und den Bericht zur Kenntnis nehmen, dann sehen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dass Ihr Antrag einer konstruktiven Grundlage entbehrt. Die Bundesregierung nimmt ihre Verpflichtungen sehr ernst. ({6}) Mit ihrer konzeptionellen Arbeit sichert sie den Erfolg für eine Modernisierung und für eine Zukunftsorientierung im Geist der europäischen Verständigung. Sie wird dies auch künftig tun. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto von der FDP-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist doch immer wieder eine Freude, unserer Staatsministerin zuzuhören. ({0}) Sie versteht es in vorbildlicher Weise, schwierige, traurige Sachverhalte mit glänzenden Worten zu ummänteln. Ich möchte Ihnen ausdrücklich zubilligen, dass es schön ist, Ihnen zuzuhören; mit der Wirklichkeit hat das aber leider nicht immer viel zu tun. ({1}) Ich möchte Ihnen eingangs zwei Zahlen entgegenhalten. Zahlen sind etwas objektiver als schöne Beschreibungen. Im Jahre 1998 hatte der Bundeshaushalt für die Mittel im Zusammenhang mit § 96 BVFG noch umgerechnet 22 Millionen Euro im Ansatz, die auch umgeHans-Joachim Otto ({2}) setzt wurden. Im Jahre 2004 betragen diese Titel nur noch 15,7 Millionen Euro. In einer Zeit, in der andere Haushaltspositionen dramatisch gestiegen sind, gibt es in diesem Bereich Kürzungen um rund 30 Prozent. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ich verstehe, dass Sie vorhin aufgeregt den Ausführungen von Herrn Marschewski gefolgt sind und dies jetzt auch bei meiner Rede tun, aber das hat natürlich seinen Grund. Mir fällt auf, mit welcher Aggressivität Sie in diesen Bereich hineingehen. ({3}) - Machen Sie nur so weiter! Ich glaube, das disqualifiziert Sie. Wir ringen hier um Lösungen für einen wichtigen Bereich der Kultur und Sie machen solche Äußerungen. Das finde ich nicht gut. ({4}) Die Konzeption der Bundesregierung aus dem Jahre 2000 sollte eine Neuausrichtung der Kulturarbeit bewirken. Es gab sicherlich gute Ansätze - das können wir feststellen -: Straffung der institutionellen Förderung, Orientierung an einem Regionalprinzip, internationale Kooperation und kulturelle Breitenarbeit. Das sind Leitlinien, die im Grunde gut klingen. Der Bericht zeigt aber, dass es lediglich bei Ansätzen blieb. Institutionelle Straffung und Regionalisierung haben oft zu einer Zentralisierung musealer Darstellung geführt, zahlreichen kleinen Einrichtungen wurde die Förderung gestrichen und Zentralmuseen wurden ausgebaut. Dem Grundsatz der kulturellen Breitenarbeit entspricht dies nicht. Ich plädiere für eine intensive Zusammenarbeit zwischen allen Einrichtungen, zum Beispiel durch Wanderausstellungen. Wenn nämlich die Kulturpflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, sollte auch die gesamte Gesellschaft Zugang zur Kultur haben. Im Zusammenhang mit dem angesprochenen Regionalprinzip möchte ich das völlige Fehlen eines Museums für die russlanddeutsche Kultur ansprechen. Eine entsprechende Einrichtung würde nicht nur eine bestehende Lücke in der derzeitigen Kulturpflege schließen, sondern sich mit Sicherheit auch positiv auf die Integration von Spätaussiedlern auswirken. ({5}) Die Kulturpflege muss in einem europäischen Kontext gesehen werden. Nur so wird es uns langfristig gelingen, geschichtliche Tabus und Vorurteile, die es leider gibt, abzubauen. Jugendaustausch an der Schnittstelle zur auswärtigen Kulturpolitik und gemeinschaftliche wissenschaftliche Forschung mit unseren Nachbarn sind daher unerlässlich und werden von den Verbänden befürwortet. Was die Bundesregierung in ihrer Konzeption aus dem Jahre 2000 als Neuorientierung verkauft, ist - das erweist sich in der Praxis leider immer deutlicher - im Grunde eine reine Etatkürzung. Ich will an dieser Stelle, liebe Frau Dr. Weiss, ausdrücklich sagen, dass Ihre Worte sehr viel sensibler sind als die Ihres Vorgängers Naumann, der hier in einer Weise über die Vertriebenenkultur hergezogen ist, dass es einen schaudern konnte. Aber er war der Begründer einer Entwicklung, der Sie leider nichts entgegensetzen konnten. Die Kürzungen schreiten fort. In diesem Bereich ist gekürzt worden wie in kaum einem anderen im Haushalt des Bundes. Deswegen kann ich nur sagen, dass Ihren schönen Worten jetzt wirklich Taten folgen müssen. ({6}) Das sind wir gerade in einem zusammenwachsenden Europa auch der Integrationsleistung, die die Vertriebenen in den letzten Jahren gezeigt haben, schuldig. Ich möchte ausdrücklich sagen: Es hat Zeiten gegeben, in denen wir als FDP-Fraktion manche Äußerungen aus diesem Bereich mit Skepsis betrachtet haben. Frau Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, ist nicht anwesend. Ich möchte betonen: Es hat in den letzten Jahren politische Veränderungen gegeben, die auf Aussöhnung und Brückenbau - Herr Marschewski hat es schon angesprochen - gesetzt haben. Ich meine, wir als Bundestag sollten die Aussöhnungs- und Integrationsleistung der Vertriebenen honorieren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Otto, denken Sie bitte an die Redezeit.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deswegen ist mein letzter Satz ein Appell an die Kollegen von der SPD und von den Grünen, dass wir uns aus den alten Schützengräben lösen, unsere Aufgaben nach § 96 Bundesvertriebenengesetz wahrnehmen und gemeinsam mehr als diese Geplänkel, die es hier gelegentlich gegeben hat, erreichen. Es ist eine Aufgabe der Zukunft, dieses kulturelle Erbe zu pflegen. Es geht nicht nur um die betroffenen Menschen, sondern es geht auch um ein kulturelles Erbe, das bewahrt werden muss. In diesem Sinne möchte ich darum bitten, dass der Antrag der CDU/CSU in aufgeschlossener und fairer Weise behandelt wird. Vielleicht kommen wir dann auf diesem Feld ein bisschen weiter. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Hilbrecht von der SPD-Fraktion.

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Otto, Sie wissen, dass wir im Kulturausschuss immer sehr ernsthaft und qualifiziert diskutieren. Ich bin der Ansicht, das werden wir sicherlich auch über diesen Antrag tun. Aber lassen Sie mich eines bitte gleich klarstellen: Wir sind weder gegen die Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen noch sind wir gegen die Kulturarbeit, die die Vertriebenen leisten. Auch wollen wir niemanden aus der geförderten Kulturarbeit drängen. Im Gegenteil, wir halten es für eine wichtige Aufgabe, die kulturellen Leistungen, die in den Vertreibungsgebieten auch von Deutschen erbracht wurden - Herr Marschewski hat wichtige Namen genannt -, zu würdigen und sie im gemeinsamen Gedächtnis zu erhalten. Denn dieses Kulturgut ist Zeugnis eines wichtigen Teils unserer deutschen und auch unserer europäischen Geschichte. In diesem Punkt sind wir uns, denke ich, alle einig. ({0}) Genau deshalb nehmen wir unseren gesetzlichen Auftrag, der uns in § 96 des Bundesvertriebenengesetzes aufgegeben ist, sehr ernst. Ich gehe so weit zu sagen: Erst, seitdem wir diese Kulturförderung vor vier Jahren auf eine neue Grundlage gestellt haben, werden wir unserer Verpflichtung wirklich gerecht. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken wir bitte einmal an Folgendes: ({2}) - Lassen Sie mich bitte weiterreden. - Wir mussten im Wesentlichen aus zwei Gründen umsteuern - Herr Otto, Sie waren damals dabei; auch Sie saßen im Kulturausschuss -: Erstens haben sich die Rahmenbedingungen - ich denke, das bestreitet niemand - seit Anfang der 90er-Jahre grundlegend verändert, und zwar nicht nur die haushaltspolitischen Bedingungen, sondern vor allem auch die außenpolitischen. Durch letztere sind ganz neue Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Kooperation entstanden. Das wird doch niemand bestreiten. ({3}) - Hören Sie mir doch weiter zu. ({4}) Zweitens hat es im Bereich der geförderten Kulturarbeit über die Jahre hinweg Entwicklungen gegeben, die sowohl ihre Qualität als auch ihre Effizienz grundsätzlich infrage stellten. Ich erinnere Sie daran: 1997 - damals waren Herr Marschewski und ich Mitglieder des Innenausschusses - hat der Bundesrechnungshof Doppelförderungen und Mittelverschwendung beanstandet. Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht dabei waren, möchte ich das in Erinnerung rufen. Er hat die damalige Bundesregierung - zuständig war damals Innenminister Kanther - aufgefordert, eine grundlegende Umorientierung und Straffung dieser Förderung vorzunehmen. Auf all diese Notwendigkeiten haben wir mit unserer neuen Konzeption reagiert. Sie wurde gründlich vorbereitet und ausführlich beraten. Damals, im Oktober 1999, fand in unserem Ausschuss eine große Anhörung statt, zu der auch die betroffenen Verbände eingeladen waren. Der Bericht der Bundesregierung, der heute zur Beratung vorliegt, befasst sich mit der - ich will betonen: behutsamen - Umsetzung dieser Neukonzeption. Hier wurde nichts über das Knie gebrochen. Wir alle wissen: Auch heute ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. Aber ich denke, dieses Ergebnis kann sich nach vier Jahren sehen lassen. Ganz besonders freut mich, dass ich jedenfalls in meiner Region merke, dass dieses Konzept in der Zwischenzeit bei vielen Verbänden zunehmend auf Akzeptanz stößt. Da passt es eigentlich gar nicht ins Bild, dass die CDU/CSU-Fraktion einen Antrag vorlegt, mit dem sie das Rad einfach wieder zurückdrehen will: ({5}) zurück zu der Förderpraxis, die vom Bundesrechnungshof kritisiert wurde. Zugleich fordert sie aber eine stärkere Zukunftsorientierung. Genau das wollen wir mit unserem Konzept erreichen. Ich denke, auch darüber wurde schon gesprochen. Es geht um den grenzüberschreitenden Austausch mit unseren osteuropäischen Nachbarländern. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die geförderte Kulturarbeit und das kann man im Bericht der Bundesregierung anhand zahlreicher Beispiele nachlesen. Schwerpunkt ist die gemeinsame Aufarbeitung des gemeinsamen kulturellen Erbes als Teil unserer europäischen Geschichte; das ist der wichtigste Pfeiler für eine friedliche und gutnachbarliche Zukunft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Neukonzeption ist ein Erfolg: Die Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge hat eine neue Qualität gewonnen, die weit höheren Ansprüchen gerecht wird und - ich denke - wirklich zeitgemäß ist. Das, was der Unionsantrag will, passt nicht zusammen: Er fordert eine auf die Zukunft gerichtete Förderung, will aber gleichzeitig die alten, überlebten Strukturen wiederherstellen; ich denke, die Zeiten sind längst darüber hinweggegangen. Zum Schluss noch: Ich kann mich eigentlich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir diesen Antrag schlicht dem Kalender zu verdanken haben: Pfingsten steht nämlich mit seinen zahlreichen Treffen der Landsmannschaften vor der Tür und da scheint es angesagt zu sein, nicht das, was wir von den Landsmannschaften heute als positive Akzeptanz unserer Kulturarbeit leisten, hervorzuheben, sondern das Rad wieder ein Stück zurückzudrehen. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling von der CDU/CSU-Fraktion.

Matthias Sehling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003634, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Wohl wir alle empfinden den Beitritt unserer unmittelbaren Nachbarstaaten zur Europäischen Union als Rückkehr nach Europa. Unter ihnen sind auch Länder, in denen lange Zeit Deutsche lebten, die in ihnen über Jahrhunderte Heimatrecht erwarben, diese Länder aber 1945/46 durch Flucht und Vertreibung verlassen mussten. Fast 15 Millionen Menschen haben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren, aber sie haben wenigstens ihr geistiges Fluchtgepäck mitnehmen können: ihre Kultur, ihre Eigenart, ihr handwerkliches und technisches Können, ihr Brauchtum und ihren Dialekt. Die Bundesregierung will die Kulturarbeit der Vertreibungsgebiete heute ins Museum verbannen, sie bestenfalls als Aufgabe der Heimatvertriebenen selbst verstehen, aber bitte ja nicht ihrer Landsmannschaften oder sonstigen Verbände. Ich halte das für einen Riesenfehler. Die Kultur der Vertreibungsgebiete ist - das ist vorher zu Recht gesagt worden - Teil der Kultur aller Deutschen und sie ist auch Teil der Kultur aller Europäer. ({0}) Das ist nicht nur so, weil es im Gesetz steht und im Einigungsvertrag ausdrücklich bestätigt wurde, das ist auch sachlich so: Hat etwa Gerhart Hauptmanns „Die Weber“, die Geschichte vom Weberaufstand von 1844 im Zeitalter der industriellen Revolution, nicht gesamtdeutsche wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung? ({1}) Steht sein Drama nicht auch für die Industriegeschichte ganz Europas? Hat der im böhmischen Eger geborene Balthasar Neumann nicht Architekturgeschichte weit über die Grenzen seiner engeren Heimat hinaus geschrieben? Und gehört nicht Franz Kafkas literarisches Erbe ebenso zur böhmischen Wirklichkeit wie zum jüdisch-deutschen Kulturerbe Prags, jener Stadt, in deren Mauern 1348 die erste deutschsprachige Universität errichtet wurde? Das kulturelle Erbe der Vertreibungsgebiete sollte deshalb heute als europäisches Kulturerbe verstanden und weiterentwickelt werden ({2}) - ich freue mich, Herr Kollege Kubatschka, dass Sie mir zustimmen; vielleicht finden wir eine Einigung -, ohne dass wir Deutschen die Verantwortung für die Pflege und Weiterentwicklung dieses Erbes von uns weisen. Zu Recht werden deshalb von den Bundesländern derzeit lagerübergreifend Überlegungen angestellt, die Europäische Union auf ihre neue Verantwortung für die Kulturpflege dieser Vertreibungsräume hinzuweisen und auch finanziell in Anspruch zu nehmen. An die Bundesregierung aber muss sich heute unser Appell - von CDU und CSU - richten, den eigenständigen Wert der Kulturpflege der Vertreibungsgebiete endlich anzuerkennen. Die jetzt schon mehrfach zitierte so genannte Neukonzeption aus dem Jahre 2000 hat unter dem Vorwand der Professionalisierung zu einer Entmenschlichung dieser Kulturarbeit geführt, zu einer gewollten Musealisierung. Die Tausenden, die in der Breitenarbeit bis heute ehrenamtlich in privaten Heimatstuben, in Heimatarchiven und kleinen Vereinsmuseen die Erinnerung an die alte Heimat und ihre kulturellen Eigenheiten wachhalten, leisten in Wahrheit vorbildliches bürgerschaftliches Kulturengagement. ({3}) Diese soziokulturelle Breitenarbeit - es ist nicht die einzige, aber es ist auch eine - muss endlich anerkannt und ideell, aber auch materiell gefördert werden und darf nicht länger politisch ins Abseits gedrängt werden. ({4}) Sehr verehrte Damen und Herren, leisten wir doch jetzt, da aus Altersgründen immer weniger Menschen diese praktische Kulturarbeit leisten können, eine gemeinsame Anstrengung. Die Opposition bietet Ihnen Zusammenarbeit an bei einer Neukonzeption der Neukonzeption, bei der fachlichen Überprüfung der Wirkungen dieser Maßnahme aus dem Jahr 2000 und bei der Suche nach einer Neuregelung, die die jetzigen Hauptaktiven in dieser Arbeit, die Heimatvertriebenen selbst und ihre Nachkommen, wieder aktiv in diese Arbeit mit einbezieht. Danke. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2819 und 15/2967 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia Klöckner, Peter H. Carstensen ({0}), Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Dreizehntes Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes für Tierärzte und Landwirte praxisgerecht und verbraucherfreundlich gestalten - Drucksache 15/3112 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Julia Klöckner von der CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor dreieinhalb Monaten habe ich mich schon einmal hier in diesem Plenum an Sie wegen der dringend notwendigen Novellierung des Tierarzneimittelrechtes gewandt. Über ein Jahr ist es mittlerweile her, dass wir im Ausschuss darüber debattiert hatten. Damals war ich sehr hoffnungsfroh; denn die Einsichten in der Debatte waren doch sehr klug. Ich war sehr überrascht, dass wir mit den Vertretern der Grünen und der SPD Einvernehmlichkeit erzielen konnten. Seinerzeit hatte gerade die CDU/CSU-Fraktion - auch aufgrund des Antrages von Bayern im Bundesrat - im Sinne des Verbraucherschutzes und im Sinne des Tierschutzes die Notwendigkeit der Erarbeitung einer sachgerechten und vor allen Dingen praktikablen Lösung unterstrichen. Wir hatten angemahnt, praktikabel vorzugehen. Wir haben eine Zusammenarbeit ausdrücklich angeboten. Ich danke hier auch den Berichterstattern der anderen Parteien für die Bereitschaft und für die anfängliche Initiative dazu. ({0}) Ich danke deshalb auch dem Kollegen Goldmann, dem Kollegen Priesmeier und dem Kollegen Ostendorff. In der Haut der letzten beiden möchte ich natürlich nicht stecken. Manchmal wünscht man sich sicherlich auch an Ihrer Stelle, man würde die Regierung nicht stellen, wenn einem untersagt wird, miteinander zu arbeiten. ({1}) - Es tut mir sehr Leid, aber das wurde eben abgelehnt; so war es leider. ({2}) - Sie waren leider nicht dabei, Sie können das aber gerne im Protokoll nachlesen. Auch wenn es schmerzhaft ist, muss man das zur Kenntnis nehmen. Ich danke dennoch für die anfänglichen Initiativen. ({3}) - Das ist so ein bisschen das schlechte Gewissen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Meine Herren, seien Sie doch Kavaliere.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Weil das dann leider ins Stocken geriet und weil letztlich den Tierhaltern, den Tierärzten, aber auch den Tieren nicht geholfen war, mussten wir dann das Heft in die Hand nehmen. Das haben wir getan und einen entsprechenden Antrag vorgelegt. ({0}) - Wir haben einen Antrag vorgelegt, vielleicht sollten Sie ihn einmal durchlesen. Leider warten wir seit langem vergeblich auf den Gesetzentwurf, der durchaus von Frau Ministerin Künast angekündigt wurde und der eigentlich kurz vor der Verabschiedung stehen sollte. Es kommt aber nichts. ({1}) - Vielleicht schreiben sie gerade an dem Antrag. - Sie müssen bedenken, es geht hier nicht um eine Spielerei. Es geht darum, dass Tiere leiden, dass Tierärzte unpraktikabel arbeiten müssen, dass Tierhalter schikaniert werden und dass letztlich überhaupt keinem geholfen ist. So können wir nicht miteinander umgehen. Wir erkennen doch wirklich alle, dass diese Dinge so nicht praktikabel sind. Ich denke, es ist nicht lauter, das so auf die lange Bank zu schieben. ({2}) Ich bitte Sie daher, den Ball, den wir Ihnen jetzt zuspielen, auch aufzunehmen ({3}) und endlich mit vereinten Kräften an einer konstruktiven Lösung zu arbeiten. Ganz klar feststeht: Wir halten an den vorrangigen Zielen - zum einen dem Verbraucherschutz und zum anderem dem Tierschutz - fest und wir sind ihnen auch heute noch verpflichtet. Ich glaube, hier gibt es zwischen uns keinen Dissens, sondern einen Konsens. Dieser verbesserte Verbraucher- und Tierschutz ist mit dem jetzigen Arzneimittelgesetz nicht zu erreichen und nicht vereinbar. Sie erinnern sich noch an die Aussagen der Sachverständigen. Ich denke, Anhörungen werden nicht aus Spaß durchgeführt und sind nicht dazu da, dass sich Sachverständige auf lange Wege nach Berlin machen. Die Ergebnisse von Anhörungen sollte man ernst nehmen und in Gesetzesentwürfe und Anträge einarbeiten. Wir haben das im Gegensatz zu Ihnen getan. Bisher liegt kein Antrag von Ihnen vor. ({4}) - Herr Kollege Ostendorff, ich weiß nicht, ob Sie über den Ablauf des parlamentarischen Verfahrens Bescheid wissen. Ich kann nicht in Ihre Köpfe schauen und ich kann auch nicht nachsehen, was in Ihren Schubläden liegt und Sie nicht rausholen. Wir würden gerne sehen, was vorliegt. ({5}) - Wir werden nichts finden, das ist das Tragische. - Wir haben einen Antrag vorgelegt. Erst dann, wenn etwas vorliegt, kann man auch darüber debattieren. Die Folge - ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Entschuldigung, Frau Klöckner. Meine Herren - es sind ja so wenige und Herr Ostendorff kommt nachher noch zu Wort - : Halten Sie sich ein wenig zurück und lassen Sie Frau Klöckner ihre Rede halten. - Bitte schön. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist eben das schlechte Gewissen. Ich weiß, es tut weh, wenn man selbst nichts zu bieten hat und andere haben etwas vorgelegt. ({0}) Sehen Sie das doch einfach mal im Sinne derjenigen, die es betrifft. Wir sagen ganz klar: Ein zentrales Problem ist der mangelnde Tierschutz. Ein anderes zentrales Problem - das haben Sie damals auch gesagt; es steht im Protokoll - ist die 7-Tage-Regelung. Ich weiß nicht, welches Tier sich mit seiner Krankheit plötzlich an die Regelung der Beamten hält und sagt: Okay, sieben Tage sind herum, also ist auch meine Krankheit überstanden. Wer das glaubt und annimmt, dass Praktiker damit umgehen können, der war noch nie im Stall und der hat sich noch nie mit der Klientel befasst, die er hier vertreten soll. ({1}) Um zu verhindern, gegen das Gesetz zu verstoßen, müsste der Tierarzt, wenn er sich daran hielte, wie es jetzt geregelt ist, jedem kranken Tier einen persönlichen Krankenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Behandlungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalter die nötige Behandlung durchführen darf. Solange leidet das Tier eben. Würde der Tierarzt dann noch vor und nach jedem Stallbesuch durch die Hygieneschleuse geführt, geduscht und umgekleidet, um nicht mehr Krankheiten zu verschleppen als zu bekämpfen, dann wäre dieses Unterfangen endgültig undurchführbar. Das Ergebnis - der Tierschutz steht im Grundgesetz wäre eine himmelschreiende Tierquälerei. Wir müssen schon versuchen, verschiedene Ziele unter einen Hut zu bringen und nicht immer neu zu definieren. Einmal - wenn wir zum Beispiel über die Legehennenverordnung und die Größe von Ställen reden - ist Ihnen der Tierschutz sehr wichtig und steht ganz oben und hier spielt der Tierschutz auf einmal keine Rolle mehr. Ich bitte hier doch um Stringenz und einen roten Faden. ({2}) Die Abschaffung der 7-Tage-Regelung ist aber noch längst nicht alles. Wenn durch das Arzneimittelgesetz mehr Verbraucherschutz erbracht werden soll ohne Tierquälerei - wir müssen eben Behandlungen untersagen, damit ein Tierarzt und ein Tierhalter nicht das Gesetz übertreten; das muss man sich einmal vorstellen - zu verursachen, dann müssen wir folgende Punkte, die auch in unserem Antrag stehen, beherzigen: Erstens. Um einer etwaigen Vorratshaltung von Tierarzneien in den landwirtschaftlichen Betrieben vorzubeugen und eine einfache, aber effiziente Überwachung gewährleisten zu können, brauchen wir statt der 7-TageRegelung, die sehr willkürlich ist - das sagen wir hier explizit -, tierärztliche Behandlungspläne als ein geeignetes Instrument. Eine reine Veränderung der zeitlichen Anforderungen wäre nicht akzeptabel, da eine starre Frist - egal, wie lang sie auch ist - der Vielfalt der Tiererkrankungen und deren Verläufe nicht gerecht werden kann. Zweitens fordern wir: Durch eine entsprechende Ergänzung des bisherigen Voraussetzungskataloges für die Abgabe von Tierarzneimitteln muss der Behandlungsplan als neuer zentraler Begriff und als Bedingung für die Arzneimittelabgabe in den Mittelpunkt der tierärztlichen Betreuung treten. ({3}) Drittens. Die Menge der an den Tierhalter abzugebenden Arzneimittel richtet sich zum einen nach der festgelegten Anwendungsdauer für das zum Zeitpunkt der Untersuchung als behandlungswürdig eingestufte Tier und zum anderen - das ist ganz wichtig - nach dem Stand der tierärztlichen Wissenschaft. Die Tierärzte haben ihren Beruf nicht in einem kurzen Abendkurs erlernt. Kollege Priesmeier, ich schätze Sie und Ihr Wissen als Tierarzt sehr. Sie selbst wissen, dass Tierärzte aufgrund ihrer Erfahrungen nicht immer in einem Handbuch nachschlagen müssen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass hier der Stand der tierärztlichen Wissenschaft eine Rolle spielt. ({4}) Diese Regelung führt zu einer Vermeidung der Abgabe von Arzneimitteln für noch nicht erkrankte Tiere, wie sie unter der bestehenden 7-Tage-Regelung häufig praktiziert wird. Das heißt, der Behandlungsplan ist wichtig. Es ist klar, dass der Tierarzt nicht willkürlich handeln kann. Der Tierarzt muss einen Bestand vor Augen haben, ihn prüfen und dann sagen, wie zu behandeln ist. Ganz entscheidend für uns ist, dass zwischen den Gesellschafts- und Sporttieren sowie den Lebensmittel liefernden Tieren eine Grenze gezogen wird. ({5}) - Das stellt hier aber ein Problem dar. Reden Sie mal mit Tierhaltern und Tierärzten. Dann werden Sie feststellen, dass diese Zuordnung nicht gewährleistet ist. - Eine Begriffsbestimmung der Lebensmittel liefernden Tiere ist erforderlich, da sich in der Praxis eine Zuordnung bestimmter Tiere und die damit verbundene Arzneimittelabgabe als sehr schwierig erwiesen hat. Es ist schon sinnvoll, bei der Behandlung von Tieren abzuwägen, was sie an Medikamenten bekommen, wenn diese nachher verzehrt werden sollen. Das ist der Unterschied zu einem Hamster, den ich nicht vorhabe zu verzehren. Bei uns Menschen geht es ausschließlich darum, wie wir Schmerzen lindern und Krankheiten behandeln. Das ist für uns wichtig. Warum müssen wir Tierärzten und Tierhaltern unnötig Steine in den Weg legen? Um eine bedarfsgerechte Abgabe von Tierarzneimitteln zu gewährleisten, ist auch zu prüfen, ob es den Tierärzten künftig ermöglicht werden kann, Arzneien aus fertigen Gebinden umzufüllen, fachgerecht neu zu verpacken und an den Tierhalter abzugeben. ({6}) - Referentenentwurf hin oder her, aber ich habe noch keine Drucksache gesehen. Auch ich könnte jetzt ausführen, welche Papiere wir schon vorbereitet haben. Wir möchten gerne etwas auf dem Tisch liegen sehen. Im Moment werden wir nur hingehalten. ({7}) Die ganze Zeit wird gesagt, dass dieser Antrag der Union zur Unzeit kommt. Wenn Dinge geregelt werden müssen, dann gibt es keine Unzeit. Wir hatten schon Jahre Zeit, etwas zu machen. Wenn man sich bei der Erarbeitung des Referentenentwurfs nicht einig war und deshalb nichts vorliegt, dann ist das nicht unser Problem. Wir nehmen uns dieser Sache an. Das, was in unserem Antrag steht, können Sie gerne übernehmen. Es kann nicht sein, dass für die Behandlung eines kleinen Hamsters eine große Arzneimittelpackung abgegeben wird, die normalerweise für die Behandlung einer Kuh oder eines Schweins nötig ist. Das ist aus ökonomischen und ökologischen Gründen nicht sinnvoll. Bisher ist es so, dass der Tierhalter selbst bei Kleinsttieren die Großpackung abnehmen muss, aber den Rest nicht mehr verwerten darf und kann. Es gibt keinen Grund, nicht unseren Vorschlägen zuzustimmen. Es gilt, die Tierärzte aus der Grauzone herauszuführen. Es geht nicht darum, irgendwelche Hygienevorschriften nicht mehr einzuhalten. Das ist nicht der Fall. Wir müssen uns darüber einig werden, wie das Ganze später im Gesetzestext formuliert wird. Im Verlauf der Arbeit an dieser Novelle habe ich mich mit anderen Kollegen der Unionsfraktion wiederholt mit Vertretern aller beteiligten Kreise zusammengesetzt. Im Verlauf der Gespräche zeigte sich schnell, dass die Interessen der Länder, der Tierärzte und der Tierhalter sicherlich nicht einfach unter einen Hut zu bekommen sind. Aber ich bin mir sicher, dass wir eine einvernehmliche Lösung vorgelegt und Ihnen einen verwertbaren Lösungsansatz an die Hand gegeben haben. Wir sind weiterhin daran interessiert, mit Ihnen zusammen an einer praktikablen Lösung zu arbeiten. Anfangs war der gemeinsame Wille vorhanden, fraktionsübergreifend zusammenzuarbeiten. Warum das nicht mehr möglich war, möchte ich jetzt nicht erwähnen. Das ist Fakt. Diejenigen, die nicht mit dabei waren, können darüber gerne den Kopf schütteln. Aber das ist nun einmal so. Mir tut es um die Kollegen Leid, die bereit waren, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir bieten Ihnen eine gute Vorlage. Erlauben Sie mir, an Ihre politische Vernunft zu appellieren. Es gibt keinen Grund, diesem Antrag nicht zuzustimmen. Über alle Punkte hatten wir schon einmal Einvernehmen erzielt. Sie haben Ihr Einvernehmen leider zurückgezogen. Ich verstehe auch nicht, warum die Ministerin nicht da ist. ({8}) - Wie ich sehe, ist Herr Berninger etwas verspätet hinzugekommen. Ich denke, er wird den Antrag lesen und ihn weiterreichen, damit er als gute Grundlage dienen kann. Stimmen Sie zu! Es gibt keinen Grund, dagegen zu sein. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier von der SPD-Fraktion.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es nützt wenig, wenn hier Sperrfeuer geschossen wird. In der Diskussion über den Referentenentwurf, der bereits seit Oktober vorliegt, ({0}) ist in den letzten Monaten vieles weiterentwickelt worden. ({1}) - Über die Zeitschiene kann man sich unterhalten. Die beteiligten Verbände haben vorgetragen, dass man sich gerne auf eine gemeinsame Position einigen wollte. Das erfordert naturgemäß Zeit. Die Zeit haben wir den Verbänden eingeräumt. Mittlerweile liegt dort eine gemeinsame Position vor. ({2}) Es hat erhebliche Diskussionen im Hintergrund gegeben, die noch lange nicht abgeschlossen sind. In dem Zusammenhang ist Ihr Antrag heute, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, weder zeitgemäß noch passend. In der Analyse des Problems sind wir uns im Wesentlichen einig, auch nach der Anhörung im letzten Juni. ({3}) Die gemeinsame Position, die hier im Verlauf der Diskussionen gefunden worden ist, trägt auch noch. Wenn man meint, aus nahe liegenden Gründen - das mag bei Ihnen aus einem gewissen Populismus resultieren - jetzt einen Antrag stellen zu müssen, dann ist das wenig zweckdienlich. Ich glaube, alle Beteiligten sind daran interessiert, eine praxisnahe und vernünftige Regelung zu finden. ({4}) Gerade Sie, verehrte Frau Kollegin Klöckner, haben in den letzten Monaten auch in den Gesprächen mit der Länderebene gemerkt, wo dort die Befindlichkeiten liegen und dass es nicht ganz so einfach ist, ein einfaches Konzept in einem Antrag zu formulieren, das hinterher auch noch juristisch tragen und eine einfache Regelung enthalten soll, damit alle Beteiligten zufrieden sind. Die anfängliche Forderung, die 7-Tage-Frist ersatzlos zu streichen, findet auf der Länderebene überhaupt keinen Wiederhall. ({5}) Bei der Anhörung zum Referentenentwurf im BMVEL wurde von zehn anwesenden Ländern, mindestens aber von acht, signalisiert, dass sie mit der Streichung mit Sicherheit nicht einverstanden sind. Auch das Instrumentarium, das Sie auf den Tisch gelegt haben, ist ein durchaus anerkennenswerter Diskussionsansatz. Das Instrument Behandlungsplan ist schon bei den Beratungen zur elften Novelle diskutiert worden, dann aber nicht zum Tragen gekommen. ({6}) Die Ursache für das eigentliche Problem und für den Handlungsdruck, den man vor der elften Novelle verspürt hat, liegt in der mangelnden Kontrolle und in den Schwächen des bisherigen Kontrollsystems. Da kann ich als jemand, der davon direkt betroffen ist, zumindest im Augenblick auf der Länderebene keine wesentliche Verbesserung erkennen. Weder sind die personellen Ressourcen vorhanden, um eine effiziente Kontrolle zu gewährleisten, noch das dafür notwendige Instrumentarium. Auch ist die Bereitschaft dazu in vielen Bereichen nicht vorhanden. Die gegenwärtige Situation mit all den Schwierigkeiten, die wir im Augenblick mit der Umsetzung bzw. der Rechtswirklichkeit der elften Novelle haben, hält einige Bundesländer davon ab, intensiv zu kontrollieren. In Bayern sind vor der Landtagswahl keine Kontrollen erfolgt. ({7}) Warum wohl? Die Frage ist berechtigterweise zu stellen. Auch das von Bayern auf den Tisch gelegte Instrumentarium des Behandlungsplans ist wieder aus den Diskussionen verschwunden. Das ist heute kein Thema mehr. ({8}) Kein Bundesland fühlt sich bemüßigt, in diesem Zusammenhang die im Referentenentwurf unter Umständen gewährte Möglichkeit einer eigenständigen Regelung in dem Bereich umzusetzen. Darum drückt man sich. Aus diesem Grunde ist es vernünftig, unter Umständen an dem Instrument des Behandlungsplanes weiterzuarbeiten und dieses weiterzuentwickeln. Im Referentenentwurf ist der Behandlungsplan als eine Möglichkeit vorgesehen, eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung unter der Maßgabe zuzulassen, dass das für einen ganz bestimmten Indikationenkatalog von Erkrankungen gilt. Das sind in der Hauptsache Bestandserkrankungen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Priesmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Klöckner?

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Klöckner.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Priesmeier, was mich und sicherlich auch die Tierhalter und Tierärzte interessiert, ist die Frage, wann ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, aus dem hervorgeht, welche Richtung eingeschlagen werden soll. Es reicht nicht, festzustellen, was alles nicht möglich ist. Wir müssen vielmehr wissen, welche Möglichkeiten bestehen. Dafür sind wir als Politiker schließlich an dem Verfahren beteiligt. Ich möchte konkret wissen, wann die Betroffenen endlich aufatmen können.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gehe davon aus, dass die Beratungen in absehbarer Zeit so weit gediehen sind, ({0}) dass ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt werden kann, der auch beratungsfähig ist. ({1}) - Zurzeit kann ich Ihnen keinen konkreten Zeitpunkt nennen, aber ich gehe davon aus, dass im Ministerium fleißig daran gearbeitet wird. Der Gesetzentwurf wird eine entsprechende Qualität haben. ({2}) Das würde ich nicht in Abrede stellen. In diesem Zusammenhang wird von verschiedenen interessierten Seiten unter Umständen ein Popanz aufgebaut. Sie kennen vielleicht den gemeinsamen offenen Brief der vier beteiligten Verbände, den ich in dieser Situation für wenig zweckdienlich halte. Damit wird eine politische Linie verfolgt, die offensichtlich auf Profilierung ausgelegt und der Diskussion wenig förderlich ist. Ich glaube, wir sollten wieder zur Sachlichkeit zurückkehren ({3}) und unter dieser Maßgabe versuchen, eine Lösung zu finden. Dazu sind wir auch bereit. ({4}) Mein Gesprächsangebot in diesem Zusammenhang gilt weiterhin. Ich habe vorhin mit Freude zur Kenntnis genommen, dass auch Ihr Angebot weiter gilt. Insofern sind die besten Voraussetzungen gegeben, um eine vernünftige Lösung zu finden, die auch auf die Befindlichkeiten der Länder abstellt. Denn was nützt uns ein Gesetz, das im Bundestag beschlossen wird, aber anschließend im Bundesrat keinen Bestand hat? ({5}) - Sie wissen genau, verehrter Kollege Goldmann, dass die Einschätzung des richtigen Instrumentariums in diesem Zusammenhang nicht davon abhängig ist, von welchem politischen Lager die Landesregierungen derzeit gestellt werden. ({6}) Das ist eine klare Erkenntnis; das wissen Sie so gut wie ich. ({7}) - Nicht nur NRW. Ich habe in den vergangenen Wochen und Monaten mit den Vertretern der Länder in der LAGV gesprochen, und zwar nicht nur aus NRW oder Bayern, sondern unter anderem auch aus BadenWürttemberg und meinem Heimatland Niedersachsen, das bekanntlich von dieser Problematik in besonderer Weise betroffen ist. Es gibt durchaus einen vernünftigen Ansatz, der kompromissfähig ist. Ich bin bereit, auch weiterhin an einer konstruktiven Lösung zu arbeiten, die auch langfristig tragbar ist und länger Bestand hat als das, was uns mit der Elften Novelle des Arzneimittelgesetzes vorgelegt worden ist. Dabei nützt es nichts, sich gegenseitig die Schuld zuzuweisen. Denn wie jeder weiß, ist die Elfte Novelle mit 16 : 0 im Bundesrat beschlossen worden. Der Bundesregierung bzw. dem BMVEL die Schuld daran zuzuweisen ist weder korrekt noch fair. ({8}) Denn sie haben weitere wesentliche Erschwernisse, die unter Umständen in die Elfte Novelle Eingang gefunden hätten, verhindert. ({9}) In diesem Zusammenhang lohnt es sich nicht, alte Kamellen aufzuwärmen. ({10}) Meines Erachtens sind die in Ihrem Antrag enthaltenen Forderungen bereits in wesentlichen Teilen Bestandteil des Referentenentwurfs. ({11}) Das Umverpacken wird dort einwandfrei eingeräumt. Das ist auch unbestritten. ({12}) - Das ist in Ordnung. Wenn Sie dem zustimmen, dann verfolgen wir wieder eine gemeinsame Linie, die sich wahrscheinlich auch als tragfähig erweisen wird. Ich appelliere an Sie, wieder auf den Boden des Konsenses zurückzukehren und gemeinsame Gespräche zu führen. Ich sehe in diesem Zusammenhang keine Alternative, wenn wir sinnvoll gestalten wollen. Das Angebot der Fraktionen von SPD und - das nehme ich an - Grünen, in einem konstruktiven Dialog zu einer Lösung zu kommen, gilt auf jeden Fall weiter. Ein Modell, das ich auch auf der Länderebene für kompromiss- und konsensfähig halte, könnte sich wie folgt darstellen: Der Behandlungsplan wird zur Grundlage gemacht, um Ausnahmen von der 7-Tage-Regelung zuzulassen. Darüber hinaus sollte ein Expertengremium geschaffen werden, das Leitlinien zur Anwendung von Antibiotika und Voraussetzungen für Ausnahmen von der Siebentageregelung definiert. Das soll kein statischer Prozess per Verordnung sein. Vielmehr soll dieses Gremium, besetzt mit Fachleuten und Praktikern, ein dynamisches Instrument sein, mit dessen Hilfe man letztendlich in der Lage ist, den Stand der tierärztlichen Wissenschaft zu definieren. Ich glaube, dass diese Lösung bei allen Kolleginnen und Kollegen konsensfähig ist, sofern ich das als Tierarzt beurteilen kann. Das können Sie vielleicht nicht so gut, Herr Kollege Goldmann. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht mehr so stark im täglichen Dialog mit den Kollegen involviert sind wie ich. Ich appelliere an Sie, die gemeinsame Linie nicht auf Dauer zu verlassen, wie Sie das in Ihrem Antrag bereits tun. Wir sollten weiterhin versuchen, gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So ungerecht ist die Welt: Mein Vorredner hat zwölf MinuHans-Michael Goldmann ten hier herumgeblubbert und nichts gesagt, während ich leider nur drei Minuten habe. ({0}) Die Sache ist eigentlich ganz einfach. Wilhelm Priesmeier, bei dir ist es immer das Gleiche: In populistischen Botschaften bist du allererste Sahne. Du plusterst dich zum Tierschutzbeauftragten auf und lässt seit geraumer Zeit ein Arzneimittelgesetz gelten, von dem du als Praktiker genau weißt, dass sich jeder, der dieses Gesetz befolgt, am Tierschutz sowie an den Interessen der Bauern und im Grunde genommen auch der Tierärzte vergeht. ({1}) Die Tiere sind aufgrund dieses Gesetzes - um in der Agrarsprache zu bleiben - traurig und beschissen dran. Die Bauern leiden darunter. Es kostet sie eine Menge Geld. Aber es kommt nichts dabei herum. ({2}) - Herr Kollege, Sie haben keine Ahnung davon. Sie haben wahrscheinlich noch nie bei einem Tier gestanden. ({3}) - Im Schreien sind Sie ziemlich gut. Wahrscheinlich sitzen Sie deshalb in der ersten Reihe. Manche sitzen dort wegen ihrer guten fachlichen Qualität. Aber das, was Sie eben von sich gegeben haben, war nur in der Lautstärke überzeugend. Sie sollten einmal zuhören. ({4}) Ich finde es beeindruckend, welche Rolle Sie hier spielen. Ich bin todsicher, dass Sie kein einziges Mal in den Antrag der CDU/CSU hineingeschaut haben. ({5}) Ich kann Ihnen nur sagen: Dieser Antrag ist allererste Sahne. ({6}) Das weiß auch Kollege Priesmeier genau. Herr Küster, Sie brauchen nicht noch die Hände an den Mund zu legen, um einen Trichter zu bilden. Ich verstehe auch so alles bestens, was Sie sagen, oder - besser gesagt - es kommt akustisch einiges bei mir an. ({7}) - Frau Hiller-Ohm, ich verstehe euch nicht. Zuerst wolltet ihr doch gar nicht reden. Dann habt ihr dafür gesorgt, dass diese Debatte in die Nachtstunden verschoben wird, damit nicht auffällt, dass ihr im Grunde genommen seit anderthalb Jahren eurer Verpflichtung nicht nachkommt. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Entschuldigen Sie, aber der Redner hat das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Küster, wenn Sie meinen, dass Sie sich weiter disqualifizieren müssen, dann bitte. Ich fände es aber besser, wenn wir unsere Auseinandersetzung auf privater Ebene fortsetzen würden. Dann bräuchten Sie auch nicht mehr so zu schreien. ({0}) Wenn Sie informiert sind, dann wissen Sie, dass alle, vor allen Dingen Herr Kollege Priesmeier von Ihrer Fraktion, Herr Küster, und Herr Kollege Ostendorff, in der Ausschussanhörung erklärt haben, dass dieses Gesetz dringend verbessert werden müsse. Daraufhin haben Frau Klöckner und ich gemeinsam einen Brief aufgesetzt - wir hatten den Auftrag dafür - und versucht, die Unterschriften von Herrn Priesmeier und Herrn Ostendorff für diesen Brief zu bekommen. Doch leider sind Herr Ostendorff und Herr Priesmeier vom Ministerium vorher angerufen worden, woraufhin sie nicht mehr unterschreiben durften, obwohl wir alle uns einig waren, dass es in dieser Frage Verbesserungsbedarf gibt. ({1}) Daraufhin sind wir einen eigenen Weg gegangen. Genau so ist es, Herr Kollege. Das kann ich Ihnen auch belegen. ({2}) Wenn Sie nachschauen, werden Sie feststellen, dass wir einen eigenen Antrag eingebracht haben. Dank der hervorragenden Arbeit von Frau Julia Klöckner hat auch die CDU/CSU einen eigenen Antrag eingebracht. ({3}) - Sie hat nicht bei mir abgeschrieben. Wie du genau weißt, ist meiner nämlich etwas kürzer; aber in den Inhalten stimmen wir sehr wohl weitestgehend überein. Im Grunde genommen wisst ihr beide ganz genau, dass es, wenn ihr nur dürftet, ein Leichtes wäre, den parlamentarischen Mut aufzubringen und zu sagen: Jawohl, wir wissen, dass das derzeitige Arzneimittelgesetz für die in der Praxis Tätigen verbessert werden muss. Es wurde völlig zu Recht bemerkt, dass dieses Gesetz damals mit den Stimmen des ganzen Hauses auf den Weg gebracht worden ist. Heute wissen aber alle, dass bei dem Zustandekommen dieses Gesetzes einige wenige gravierende Fehler passiert sind. Diese Fehler könnte man mit ein bisschen gutem Willen zum Wohle der Bauern, der Tierärzte und vor allen Dingen der Tiere, Herr Tierschutzbeauftragter, beseitigen - wenn man es nur wollte. Kollege Priesmeier weiß hundertprozentig, dass es dort Probleme gibt. Das sagen ihm nämlich seine Kollegen, wenn er mit ihnen spricht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Goldmann, bitte.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Lieber Kollege Priesmeier, wenn du als praktizierender Tierarzt mit einer pharmakologischen Ausbildung, der auch Fortbildungen absolviert hat, wirklich der Meinung bist, dass wir eine Kommission brauchen, um hoch qualifizierten Tierärzten zu sagen, was sie mit den Bauern zu tun und zu lassen haben, dann kann ich nur sagen: Du hast dein Studienziel verfehlt. Wir wollen, dass es im Ausschuss zu einer Lösung kommt. Legt in der nächsten Sitzung euren Referentenentwurf auf den Tisch! Kein Thema, wir setzen uns zusammen und innerhalb von einer Stunde ist die Sache erledigt, wenn ihr nur wollt oder, besser gesagt, wenn ihr dürft. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Friedrich Ostendorff vom Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mich erstaunt schon, was ich hier in Berlin alles lerne: dass der Bauer Ostendorff und auch der Tierarzt Priesmeier vom Ministerium ferngesteuert sind. ({0}) Ich habe heute Abend eine ganz neue Erkenntnis gewonnen. Das hat schon einen gewissen Unterhaltungswert. Aber wir wollen uns darauf gar nicht weiter einlassen; denn diesem Thema gebührt Sachlichkeit. Die Behandlung von erkrankten Tieren mit Arzneimitteln ist ein sensibler Bereich mit direktem Bezug zum Tier- und Verbraucherschutz. Alle arzneimittelrechtlichen und tiergesundheitlichen Maßnahmen in diesem Tätigkeitsfeld müssen also mit Blick auf Verbraucherschutz und Tierschutz abgewogen werden. Wir haben uns interfraktionell viele Male getroffen, ({1}) um eine einvernehmliche Regelung zu erarbeiten. Frau Klöckner hat das ja gerade bestätigt. Umso mehr erstaunt es uns, Frau Klöckner, dass die Opposition in ihrem Antrag zum Arzneimittelgesetz für Tierärzte und Landwirte fordert, dass verbraucherschutzpolitische Herzstück der Elften Arzneimittelgesetzesnovelle, die so genannte 7-Tage-Regelung zur Befristung der Abgabe von Arzneimitteln, vor allem von Antibiotika, an Tierhalter einfach zu streichen. ({2}) Frau Klöckner, dafür haben wir überhaupt kein Verständnis. Beim Umgang mit Tierarzneimitteln ist eine verantwortungsvolle Vorgehensweise sowohl vom Tierarzt als auch vom Tierhalter essenziell. Für Tierärzte gilt dies in besonderem Maße, da sie - als Ausnahme vom Apothekenmonopol - das Dispensierrecht haben. Das heißt, dass Tierärzte Arzneimittel direkt abgeben dürfen. Am Beispiel des Schweinemastskandals 2001 - ich erinnere an die vielen mit den Autobahntierärzten verbundenen Skandale - wurde uns allen doch deutlich, dass es immer wieder Missbrauchsfälle gegeben hat. Die darauf folgende Ländergesetzesinitiative, die in der Elften AMG-Novelle mündete, führte zu einer deutlichen Verschärfung der Vorschriften über den Verkehr mit Tierarzneimitteln. Ich denke, daran sollte sich Herr Carstensen erinnern. Die Elften AMG-Novelle wurde vom Bundesrat einstimmig verabschiedet. Auch die maßgeblichen Verbände waren einverstanden. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte keine Fragen zulassen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Keine Zwischenfragen. Gut.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte gerne fertig werden. ({0}) - Ich sage Ihnen auch, warum. Dieses Thema eignet sich meiner Meinung nach nicht für dieses Spielchen. Dazu ist es viel zu ernst. ({1}) Mit diesem Gesetz und insbesondere der 7-Tage-Regelung wurde ein Fortschritt für den Verbraucherschutz erreicht, da die Regelungen entscheidend zur Minimierung des Arzneimittelbestandes beim Tierhalter beigetragen haben. Eine restriktive Anwendung von Antibiotika ist auch ein wichtiger Beitrag zur Beschränkung der Ausbreitung der Antibiotikaresistenz. So wird möglichem Missbrauch durch klare Verbotsnormen entgegengewirkt. Nicht zuletzt ist die enge Bindung der Arnzeimittelanwendung an die tierärztliche Untersuchung auch ein Beitrag zum Tierschutz. ({2}) Dies alles will die Opposition durch die vollständige Streichung der 7-Tage-Regelung offenkundig aufs Spiel setzen. ({3}) Die in dem Antrag genannten Voraussetzungen, die an die Stelle der 7-Tage-Regelung treten sollen, sind als Kriterien zur Befristung der Abgabe ungeeignet. ({4}) Was die Opposition will, würde im Ergebnis dazu führen, dass für jede Krankheit Arzneimittel in unbegrenzter Menge abgegeben werden können, da eine Kopplung an bestimmte Behandlungsarten keinerlei Kontrolle ermöglicht. ({5}) Vermeintlich praxisgerecht zu sein, Frau Klöckner, hat dort seine Grenzen, wo die Belange des Verbraucherschutzes berührt sind, und das ist hier eindeutig der Fall. ({6}) Zu dem in der Presseerklärung der CDU/CSU geäußerten Vorwurf, die Bundesregierung sei nicht tätig geworden, um bestimmten Schwierigkeiten bei der Anwendung der Vorschriften der Elften AMG-Novelle abzuhelfen, ist festzustellen: ({7}) Das BMVEL hat unter Wahrung der 7-Tage-Regelung für Antibiotika - das ist die einzig richtige Deutung längst einen Entwurf zur Änderung des Arzneimittelgesetzes erarbeitet, der eine Flexibilisierung bestimmter Verkehrsregelungen enthält, und intensiv mit den Ländern und den Verbänden, aber auch mit den Fraktionen - Sie haben es selbst bestätigt - diskutiert. ({8}) Dies erfolgte allerdings erst nach eingehender Prüfung der Frage, ob die vonseiten der Praktiker und der Bauern herangetragenen Anliegen fachlich gerechtfertigt und mit dem Verbraucherschutz vereinbar sind. Ergebnis ist eine fachlich konsistente Regelung, die bei bestimmten Krankheiten, bei denen dies sinnvoll ist, eine Ausnahme von der 7-Tage-Regelung - 31 Tage vorsieht. ({9}) Damit ist den Hinweisen aus der Praxis präzise Rechnung getragen worden. Gleichzeitig wird gewährleistet, dass die zuvor skizzierten Ziele der Elften AMGNovelle erreicht werden. Zu den übrigen Punkten des CDU/CSU-Antrags: Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich um Themen handelt, die erstens entweder bereits im Entwurf des BMVEL enthalten sind oder zweitens nur im Rahmen der EU geregelt werden können ({10}) oder drittens gar nichts im Arzneimittelgesetz zu suchen haben. Der im Antrag eine so wichtige Rolle spielende Begriff der Behandlung ist in der Verordnung über tierärztliche Hausapotheken geregelt; berücksichtigt werden neben der Einzeltierbehandlung längst auch die Behandlung von Tierbeständen. ({11}) Dies alles ist also nichts Neues. Im Übrigen waren sechs der neun Punkte des Antrags bereits wortgleich im Antrag der FDP, ({12}) den der VEL-Ausschuss gerade abgelehnt hat. Das alles heißt schlussfolgernd: Dieser Antrag kann nur abgelehnt werden. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3112 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar Mark, Ute Kumpf, Dr. Christine Lucyga, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Dr. Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Intensivierung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik - Drucksache 15/3205 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen wer- den. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Lothar Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Mark, SPD, Claudia Nolte, CDU/CSU, Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Claudia Winterstein, FDP.1) Da eine Aussprache nicht stattgefunden hat, brauche ich sie auch nicht zu schließen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3205 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit 1) Anlage 8 einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Mai 2004, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.