Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Gernot Erler feierte am 3. Mai seinen
60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses
nachträglich sehr herzlich.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP gemäß
Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen in Drucksache 15/3037 ({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Griefahn,
Eckhardt Barthel ({3}), Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Antje Vollmer, Volker Beck ({4}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Schaffung eines internationalen
Instruments zum Schutz der kulturellen Vielfalt unterstützen
- Drucksache 15/3054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zum Übereinkommen
Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation ({6})
über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis
- Drucksache 15/3053 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({8}), Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation ({9}) über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis
- Drucksache 15/3043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Horst Friedrich ({11}), Daniel Bahr
({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen
Arbeitsorganisation ({13}) über Ausweise für Seeleute
und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis
- Drucksache 15/3057 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({14})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Jörg
Tauss, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grietje
Bettin, Volker Beck ({15}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aufbruch in
den Nanokosmos - Chancen nutzen, Risiken abschätzen
- Drucksache 15/3051 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({17}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung und
Entwicklung in der Nanotechnologie voranbringen
- Drucksache 15/3074 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich,
Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Völkermord im Sudan verhindern
- Drucksache 15/3040 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({19})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper,
Christoph Hartmann ({20}), Ulrike Flach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes
- Drucksache 15/3042 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicolette Kressl,
Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea
Dückert, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ausbildungschancen für alle jungen Frauen und Männer sichern - durch einen konzertierten Ausbildungspakt
- Drucksache 15/3055 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Dr. Volker
Wissing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Projekt des Umweltbundesamtes zur so genannten verdeckten Feldbeobachtung stoppen
- Drucksache 15/2668 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({22})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Ferner sollen der Tagesordnungspunkt 19 - Flächendeckende Postdienstleistungen - abgesetzt und der
Tagesordnungspunkt 20 - 60. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2005 - ohne Debatte aufgerufen werden.
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Kollegin Lötzsch erhebt Widerspruch. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Um genau 8.33 Uhr
({0})
erreichte mich ein Fax, aus dem hervorging, dass der Tagesordnungspunkt 20 zum 60. Jahrestag der Befreiung
vom Faschismus - so formuliere ich es - ohne Debatte
behandelt werden soll. Ich meine zwar, dass die ursprünglich vorgesehene späte Platzierung auf der Tagesordnung um etwa 21.45 Uhr dem Thema ebenfalls nicht
unbedingt angemessen war, denke aber, dass es diesem
Parlament drei Tage vor dem 59. Jahrestag der Befreiung
Deutschlands vom Hitler-Faschismus gut angestanden
hätte, über den vorliegenden Antrag des Bündnisses 90/
Die Grünen und der SPD zu debattieren, die Positionen
auszutauschen und sich vor allen Dingen in einer solchen Debatte zu fragen, welche aktuellen Bezüge wir
herstellen, welche Lehren wir daraus ziehen und wie wir
die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu mehr Zivilcourage auffordern können.
Dass Zivilcourage erforderlich ist, haben gerade die
Ereignisse am 1. Mai gezeigt. Die NPD hatte zu einem
Aufmarsch in Berlin aufgerufen. Viele Bürgerinnen und
Bürger und sicherlich auch Gäste der Stadt haben sich
diesem Aufmarsch entgegengestellt. Der Naziaufmarsch, der in meinem Wahlkreis Lichtenberg erfolgreich gestoppt werden konnte, hat aber auf sehr beunruhigende Weise gezeigt, dass das braune Gedankengut
noch vorhanden ist.
Nicht nur aus diesem Grunde hätte es dem Bundestag
heute - ich wiederhole: drei Tage vor dem 59. Jahrestag
der Befreiung Deutschlands vom Hitler-Faschismus gut angestanden, über dieses Thema zu debattieren, statt
den Tagesordnungspunkt 20 ohne Debatte zu behandeln.
Ich beantrage eine Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt.
Vielen Dank.
({1})
Gibt es dazu weitere Wortmeldungen? - Dann stimmen wir über diesen Antrag ab. Wer ist damit einverstanden, dass Tagesordnungspunkt 20, wie vorgesehen,
ohne Debatte aufgerufen wird? - Wer stimmt dagegen? Damit ist so beschlossen mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Grünen und FDP gegen die Stimmen der
beiden fraktionslosen Abgeordneten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Präsident Wolfgang Thierse
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Bekämpfung der
Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung
- Drucksache 15/2573 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Intensivierung der Bekämpfung der
Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung
- Drucksache 15/2948 ({1})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksachen 15/3077, 15/3079 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({3})
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/3078 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Walter Schöler
Antje Hermenau
Dr. Günter Rexrodt
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach den aufgeregten Diskussionen der letzten
Tage haben wir heute Gelegenheit, zur Sacharbeit zurückzukehren. Unser Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit
zusammenhängender Steuerhinterziehung ist ein weiterer Reformbaustein im Rahmen unserer Politik für mehr
Beschäftigung. Mehr Beschäftigung zu schaffen ist die
zentrale Herausforderung für Deutschland. Mit der
Agenda 2010 hat die Bundesregierung deshalb lange
überfällige Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den
sozialen Sicherungssystemen auf den Weg gebracht.
({0})
Für viele Bürgerinnen und Bürger sind diese Reformen mit spürbaren Einschnitten und Belastungen
verbunden. Aber sie sind notwendig, um vor dem Hintergrund des sich intensivierenden internationalen Wettbewerbs unseren Wohlstand zu sichern und - ich betone
das - wieder zu mehren. Ich bin zuversichtlich, dass der
Arbeitsmarkt bald von der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Erholung profitieren wird. Er ist - wie übrigens auch die Steuern - immer ein nachlaufender Indikator der wirtschaftlichen Entwicklung: Wenn es abwärts
geht, verläuft die Entwicklung bei den Steuereinnahmen
und auf dem Arbeitsmarkt noch eine Weile geradeaus.
Wenn es aufwärts geht, vollzieht sich in diesen Bereichen eine ähnliche Entwicklung, allerdings zuerst auf
einem unteren Level. Später machen sich die Auswirkungen der anspringenden Konjunktur dann auch bei
den Steuereinnahmen und auf dem Arbeitsmarkt richtig
bemerkbar. Weitere Erfolge bei der Schaffung zusätzlicher legaler Beschäftigung hängen aber davon ab, ob es
uns gelingt, die illegale Beschäftigung wirksamer als
bisher zurückzudrängen. Dazu dient der vorliegende Gesetzentwurf.
Wenn wir Schwarzarbeit intensiver bekämpfen können, gewinnen alle: Bürger, Unternehmen und das Gemeinwesen. Es ist sehr schwierig, den Umfang der
Schwarzarbeit - darüber ist auch in den Anhörungen diskutiert worden - exakt abzuschätzen. Das liegt ja gerade
im Wesen dieser Sache. Dass es sich aber um einen sehr
hohen Milliardenbetrag handelt, ist nicht zuletzt - ich
beziehe mich hier nicht auf die Erkenntnisse von Herrn
Professor Schneider, sondern auf unsere eigenen - auf
der Basis der regelmäßig durch die Bundeszollverwaltung durchgeführten Schwerpunktkontrollen offensichtlich, die immer erfolgreicher werden. Danach ergaben sich bei aktuellen Prüfungen in vielen Branchen
15 bis 20 Prozent Verdachtsfälle. Das bedeutet erhebliche Ausfälle an Steuern und Sozialabgaben. Das bedeutet aber auch, dass die Ehrlichen höhere Steuern und Abgaben zahlen müssen. Das ist volkswirtschaftlich
schädlich.
Schwarzarbeit schädigt gesetzestreue Unternehmer
und Arbeitnehmer ganz konkret. Sie drängt ehrliche Unternehmer gerade in der Bauwirtschaft aus den Märkten.
Dies zerstört viele legale Jobs. Aber auch die Schwarzarbeiter sind zum Teil mehr Opfer als Täter; denn
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung gehen oft mit
Arbeitsbedingungen einher, die eindeutig als menschenverachtende Ausbeutung zu bezeichnen sind. Hier gibt
es nichts zu beschönigen.
Einen Aspekt möchte ich noch besonders hervorheben: Schwarzarbeit schwächt die Chancen gerade für gering qualifizierte Arbeitskräfte, einen neuen, legalen Arbeitsplatz zu finden.
Wenn vor diesem Hintergrund prominente - Gott sei
dank sind es nur wenige - Politiker Schwarzarbeit als
Steuernotwehr gegen den Staat verharmlosen, dann kann
man sich über so viel Torheit nur wundern.
({1})
Sie können ja über einzelne Gesetze denken, was sie
wollen. Wir haben zum Beispiel eine Menge getan - ich
komme darauf gleich zurück -, um die Steuern zu senken. Aber eines darf doch nicht sein: dass in einem demokratischen Staat demokratisch beschlossene Gesetze
nicht angewandt und durchgesetzt werden. Das kann
doch auch nicht im Interesse derjenigen liegen, die mit
den konkreten Regelungsinhalten möglicherweise nicht
einverstanden sind.
Es wird in einer Gesellschaft immer welche geben
- vielleicht sogar einige große Unternehmen -, die das
anders sehen.
({2})
Zu einem Rechtsstaat gehört aber, dass beschlossene Gesetze auch durchgesetzt werden. Wer das als Politiker
nicht einsieht - das will ich ganz deutlich sagen; Sie wissen schon, wen ich meine -, der untergräbt die Basis, auf
der wir gemeinsam stehen. Das kann niemand wollen.
({3})
Mit der eben zitierten Aussage wird wissentlich
unterschlagen, dass die Bundesregierung bereits in den
vergangenen Jahren die Besteuerung und wesentliche
Regelungen betreffend den Arbeitsmarkt deutlich beschäftigungsfreundlicher ausgestaltet hat, als sie zu Zeiten der Vorgängerregierung jemals waren. Dank der
Steuerreform 2000 gibt es inzwischen historisch niedrige Steuersätze bei der Einkommensteuer. Im Unternehmensteuerbereich haben wir die Körperschaftsteuer für
thesaurierte und ausgeschüttete Gewinne deutlich reduziert. Mit einer Steuerquote von knapp über 20 Prozent
ist Deutschland in der Europäischen Union der Fünfzehn
das Land mit der niedrigsten Steuerquote. Selbst in der
Europäischen Union der Fünfundzwanzig gibt es nur
wenige Länder, die eine niedrigere Steuerquote als wir
haben.
Wenn wir uns die um die Sozialversicherungsabgaben
erweiterte Abgabenquote anschauen, erkennen wir ebenfalls: Wir liegen mit 36,2 Prozent im europäischen Mittelfeld. Die Bundesregierung hat zudem die Arbeitsmärkte modernisiert und sie hat durch die Regelungen
zur Ich-AG sowie vor allem durch die Minijobs eine unbürokratische Möglichkeit für mehr legale Beschäftigung geschaffen. Die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt
ist deutlich verbreitert worden.
Diese Strukturreformen müssen und werden wir konsequent fortsetzen; aber wir dürfen nicht übersehen, dass
mehr legale Beschäftigung durch die gewerbsmäßige
und organisierte Schwarzarbeit gefährdet wird, die sich
nur mit verstärkter Kontrolle wirksam zurückdrängen
lässt.
Im Interesse aller steuerehrlichen Bürger und Unternehmer haben wir deshalb eine abgestimmte Strategie
zur Bekämpfung der Schwarzarbeit entwickelt. Sie hat
drei Säulen: eine Brücke in die Legalität für die Bürgerinnen und Bürger, die Schaffung leistungsfähiger Strukturen im Zoll zur Bekämpfung der gewerbsmäßigen
Schwarzarbeit und die transparente Bündelung der
Rechtsvorschriften zur Schwarzarbeit, wobei auch Regelungslücken geschlossen werden.
Die leistungsfähige Kontrolle und Ahndung richten
sich dabei gegen die gewerbsmäßige Schwarzarbeit. Es
geht zum Teil um organisierte Wirtschaftskriminalität,
die wir nicht verniedlichen dürfen.
Außerhalb des Gesetzentwurfs haben wir im organisatorischen Bereich bereits Änderungen vorgenommen,
mit denen moderne und schlagkräftige Strukturen aufgebaut werden. Dafür haben wir das gemeinsame Dach
„Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ geschaffen. In der
„Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ arbeiten nach Zusammenführung des in diesem Bereich tätigen Personals der
Bundesagentur für Arbeit und der Zollverwaltung derzeit über 5 000 Personen. Künftig werden es 7 000 sein.
Die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ ist flächendeckend
an 113 Standorten vertreten. Bei der Oberfinanzdirektion
Köln haben wir eine zentrale Abteilung als serviceorientierten Ansprechpartner für alle Bürger und alle betroffenen Behörden eingerichtet.
Durch dieses Gesetz werden die Regelungen zur Verfolgung von Schwarzarbeit und der damit einhergehenden Steuerhinterziehung auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt. Um künftig deutlich zu beschreiben, was
Schwarzarbeit tatsächlich ist, definiert das Gesetz erstmals den Begriff der Schwarzarbeit entsprechend dem
allgemeinen Sprachgebrauch.
Außerdem werden erstmals die Kontrollregelungen
aus den verschiedenen Vorschriften, insbesondere des
Sozialgesetzbuchs, inhaltlich zusammengeführt. Dabei
werden die Prüfungs- und Ermittlungsrechte der Zollverwaltung erweitert, damit die Verfolgung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung noch effektiver
und effizienter durchgeführt werden kann. Die Zusammenarbeit der Zollverwaltung mit den Länderfinanzbehörden wird ebenfalls weiter ausgebaut.
Bereits heute wird Schwarzarbeit strafrechtlich verfolgt. Sie ist regelmäßig mit Steuerhinterziehung, Betrug
zulasten der Leistungsträger, der sozialen Sicherungssysteme, oder Verstößen gegen das Ausländerrecht verbunden und insoweit strafbar. Einige Strafbarkeitslücken
werden durch das Gesetz geschlossen, damit ganz deutlich wird, dass Schwarzarbeit kein Kavaliersdelikt ist.
Noch eine weitere Klarstellung: Wir wollen nicht die
Hilfeleistungen durch Angehörige und Nachbarschaftshilfe in den Mittelpunkt rücken und diese schon gar
nicht kriminalisieren. Das war auch nie ein Ansatzpunkt
dieses Gesetzes. Wie Sie wissen, haben wir - ich habe
darauf hingewiesen, dass es uns darum geht, den Bürgerinnen und Bürgern den Weg in die Legalität zu erleichtern - mit den Minijobs gerade für die Privathaushalte
ganz einfache und im Übrigen auch preiswerte legale
Regelungen geschaffen. Ich kann nur hoffen - daran
müssen wir alle arbeiten -, dass diese Regelungen in Anspruch genommen werden. Nachbarschaftshilfe ist
selbstverständlich zulässig, solange keine nachhaltige
Gewinnerzielungsabsicht vorliegt.
Schwarzarbeit muss im Interesse aller Steuerehrlichen
bekämpft werden, um wieder mehr Raum für legale Beschäftigung zu schaffen. Wir alle in diesem Hause - ich
sage das auch in Richtung Gewerkschaften und WirtBundesminister Hans Eichel
schaftsverbände - sollten deswegen an einem Strang ziehen, auch wenn wir in Einzelheiten unterschiedlicher
Meinung ist.
({4})
7 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zollverwaltung, die für die Kontrolle zuständig sind, können
zwar mehr als bisher tun. Schwerpunktmäßig muss auch
viel mehr getan werden, zum Beispiel auf Baustellen, wo
es vielfach besonders kriminell zugeht, oder in Branchen, über die ich vorhin gesprochen habe. Letzten Endes hängt der Erfolg all dessen, was wir hier diskutieren
und beschließen, davon ab, ob wir ein gesellschaftliches
Klima haben, in dem der gesetzestreue und steuerehrliche Bürger nicht der Dumme ist. Mit anderen Worten:
Das normale Verhalten unserer Gesellschaft sollte sein,
den Gesetzen zu entsprechen. Es nutzt am Schluss allen.
({5})
Ich erteile Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie Politik für mehr Beschäftigung machen oder machen wollen. Ich habe heute Morgen die
Arbeitslosenzahlen gesehen. Daran kann man das nicht
so richtig ablesen. Auch an der Erwerbstätigenstatistik
kann man das nicht so richtig ablesen. Ich habe vielmehr
das Gefühl, dass der einzige Wirtschaftszweig, der wirklich wächst, die Schattenwirtschaft ist.
({0})
Betrug der geschätzte Umsatz 1998 noch 280 Milliarden
Euro, so lag er im Jahr 2003 schon bei 370 Milliarden
Euro. Das ist eine Steigerung um 32 Prozent in sechs
Jahren rot-grüner Bundesregierung.
Sie haben zwar immer wieder den untauglichen Versuch unternommen, mit höheren Strafen und mit mehr
Bürokratie die Schattenwirtschaft und die Schwarzarbeit
zu bekämpfen; aber man hat fast das Gefühl: Je mehr
Sanktionen Sie erfunden haben, desto stärker wuchs die
Schattenwirtschaft.
Zum 1. Januar 1999 haben Sie das ArbeitnehmerEntsendegesetz - das war noch ein Gesetz aus unserer
Regierungszeit - verschärft. Vom 30. August 2001 ist
Ihr Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im
Baugewerbe, das uns die unsägliche Bauabzugsteuer gebracht hat.
({1})
- Ich bin mit meinem Vortrag doch noch gar nicht fertig,
Frau Scheel.
({2})
Das mit der Bauabzugsteuer war für uns ein Aha-Erlebnis. Ich war damals Berichterstatterin und war darüber
erschrocken, wie es gewirkt hat. Es war so, wie Sie das
immer wieder machen: Sie überziehen 100 Prozent der
Unternehmen mit einer Riesenbürokratie. Dann stellen
Sie fest, dass vielleicht ein Bruchteil wirklich illegal arbeitet.
Vom September 2001 ist Ihr Gesetz zur Bekämpfung
der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr. Am 1. August 2002 ist das Gesetz zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und
Schwarzarbeit in Kraft getreten. Die Generalunternehmerhaftung ist darin enthalten; der Straf- und Bußgeldrahmen wurde erhöht.
Zum 1. Januar 2004 gab es noch ein Gesetz, nämlich
das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, das der Zollverwaltung die Aufgabe der Bekämpfung der Schwarzarbeit zuwies. Damit ist auch das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz unter Ihrer Regierung
zum dritten Mal geändert worden.
Ich will damit sagen: Wir haben in fünf Jahren das
sechste Gesetz gegen die Schattenwirtschaft, und zwar
mit dem bezeichnenden Namen „Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung“, weil alle anderen Gesetze anscheinend nichts gebracht haben.
Nun will der Bundesfinanzminister hierdurch gern
1 Milliarde Euro einfahren. Das Geld ist im Haushalt
schon verbraten. Der Personalaufwand wird immer höher. 7 000 Beamte von Zoll- und Arbeitsverwaltung sollen in einer Bundesstrafverfolgungsbehörde mit einer
Bundesdatenbank jetzt so richtig auf die Menschen losgelassen werden. Das heißt, die Kosten des Kontrollstaates steigen stark.
({3})
- Das interessiert Sie vielleicht nicht so sehr. - Die
Mehreinnahmen, die man sich davon erwartet, stehen
weiter in den Sternen.
Nach dieser Erfahrung von fünf ziemlich unwirksamen Gesetzen ist der rot-grünen Bundesregierung anscheinend immer noch nicht bewusst, weswegen die
Schattenwirtschaft zurzeit der einzig stark wachsende
Wirtschaftszweig ist. Der Hauptgrund der wachsenden
Schattenwirtschaft ist die zu hohe Belastung der Bruttolöhne mit Steuern und Abgaben.
({4})
Hohe Beitragslasten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber
und nach wie vor zu hohe Steuersätze scheinen bei vielen Bürgern zunehmend die Auffassung zu verstärken,
dass man sich irgendwie dem Zugriff des Staates entziehen dürfte.
Es liegt aber auch daran, dass der Abgabenkeil zwischen den Kosten des Auftraggebers und dem Nettoeinkommen der Ausführenden einfach zu hoch ist. Hieraus
entsteht für beide Seiten der Anreiz, Lösungen zu finden,
die, ganz marktwirtschaftlich, für beide Seiten einen
Vorteil bieten, zumeist, indem Fiskus und Sozialkassen
außen vor gelassen werden. Woran liegt das? Man
braucht sich nur einmal ein Beispiel anzuschauen: 1966
musste ein Malergeselle 1,7 Stunden arbeiten, um seine
eigene Handwerksstunde bezahlen zu können. 1980 waren es schon vier Stunden und im Jahr 2002 dann
schließlich ganze sechs Stunden. Daran liegt es, dass legale Arbeit durch Schwarzarbeit ersetzt wird. Je höher
die Steuer- und Abgabenlast ist, umso stärker ist die Abwanderung von legaler Arbeit in die Schwarzarbeit.
({5})
Nun hatte sich diese Bundesregierung ja freundlicherweise vorgenommen und auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben, die Sozialabgabenquote auf unter 40 Prozent zu senken. Das ist ihr leider nicht gelungen.
({6})
Zwar haben Sie mithilfe einer viermaligen Erhöhung der
Ökosteuer versucht, immer mehr Steuergelder in die Sozialversicherungen hineinzupumpen. Aber warum haben
Sie es gemacht? Weil Sie den Menschen nicht erklären
wollten, dass unsere Sozialversicherungssysteme dringend reformbedürftig sind. Genutzt hat es Ihnen auch
nichts; denn die Abgabenquote ist wieder bei 42 Prozent
angelangt. Das heißt, auf jedem Arbeitsverhältnis in
Deutschland lasten weiterhin brutto zu hohe Kosten und
netto bleibt dem Arbeitnehmer zu wenig übrig. Das fördert Schwarzarbeit.
Außerdem sind natürlich übertriebene Regulierungen
des Arbeitsmarktes ein weiterer Grund für das Anwachsen der Schwarzarbeit, denn diese kennt keine Regulierungen. Die Ausführung legaler Tätigkeiten erfordert
kaum noch zumutbare Kenntnisse. Fragen Sie einmal
Gastwirte, wie es ihnen geht. Es ist erforderlich, dass
man eine riesige Zahl von Vorschriften überblickt; das
kann aber kaum einer. Diese Regierung hat dazu beigetragen, aber natürlich auch die Tarifparteien. Schauen
Sie sich einmal einen Tarifvertrag an: Den werden auch
Sie nicht von vorne bis hinten verstehen. Schließlich haben auch die Gerichte gerade durch Urteile zu arbeitsrechtlichen Vorschriften dazu beigetragen. All dies stößt
auf fehlendes Verständnis und mangelnde Akzeptanz.
Deswegen sinkt die Bereitschaft der Bürger, Steuern und
Abgaben zu zahlen, immer weiter. Wir brauchen deshalb
dringend ein neues Arbeitsrecht, damit sich legale Arbeit
endlich wieder lohnt.
({7})
Das gilt natürlich auch für Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfänger. Es müssen Kombilöhne für Geringverdiener und einfach strukturierte Arbeit eingeführt
werden. Es ist nämlich nicht zu erklären, warum ein arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger pro Kind 50 Euro im
Monat verliert, wenn er eine Arbeit aufnimmt. Das
macht Beschäftigung gegenüber der Sozialhilfe unattraktiv und führt ebenfalls zur Schwarzarbeit. All diese
Ursachen machen deutlich, dass die Schattenwirtschaft
unweigerlich steigen musste. Sie wird weiter steigen,
wenn die Anreizsysteme von dieser rot-grünen Bundesregierung weiterhin so falsch gestaltet werden, wie es
zurzeit geschieht.
({8})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt Wert darauf,
zu betonen, dass wir das Ziel dieses Gesetzes selbstverständlich begrüßen. Wer würde das nicht tun?
({9})
- Ich bin noch nicht fertig. Ich habe immer noch zweieinhalb Minuten Zeit.
Der Gesetzentwurf selber setzt jedoch einseitig auf
Repression - wie alle seine Vorgänger - und bekämpft
nicht die wirklichen Ursachen der Schwarzarbeit. Die repressiven Maßnahmen stoßen an die Grenzen ihrer
Wirksamkeit; denn ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein kann bei dieser Politik der rot-grünen Bundesregierung nicht vorhanden sein.
({10})
- Sehr geehrter Herr Pronold, Sie werden wahrscheinlich gleich Gelegenheit haben, sich hier hinzustellen und
einmal zu begründen, warum Sie die Menschen mit immer mehr Repression belasten wollen, statt sie von
Lohnzusatzkosten und Lohnnebenkosten zu entlasten,
damit den Arbeitnehmern endlich mehr Geld in der Tasche bleibt und der Arbeitsplatz in Deutschland brutto
nicht mehr so teuer ist.
({11})
An der Berechtigung der Kritik an dem Gesetzentwurf gibt es gar keinen Zweifel; denn - die Anhörung
hat es sehr deutlich gemacht - er ist ganz offensichtlich
ein ziemliches Sammelsurium. Wenn Sie ihn mit den
Ländern besser abgestimmt hätten, dann wäre es gut gewesen. Aber Sie haben in 43 Änderungsanträgen selber
festgestellt, dass die Zusammenarbeit zwischen Zoll, Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Finanzbehörden offensichtlich nicht in Ordnung ist. In Ihren Anträgen wird
höchstens zum Teil auf die organisierte Kriminalität
und die Geldwäsche - Punkte, auf die wir großen Wert
legen und immer großen Wert gelegt haben - eingegangen. Genau diese Kriminalität ist aber das Problem und
nicht die Menschen, die Schwarzarbeit leisten.
({12})
In diesem Punkt sind Sie unseren Anträgen nicht wirklich gefolgt. Auch deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Außerdem scheint Ihnen Folgendes Spaß zu machen:
Sie haben unter Clement eine neue Handwerksordnung
geschaffen. Was machen Sie jetzt mit diesem Gesetz?
Die neue Handwerksordnung - dazu wird sicher Herr
Hinsken, der in dieser Debatte ebenfalls noch sprechen
wird, einiges sagen wollen - wird von Ihnen von innen
ausgehöhlt; denn eine fehlende Eintragung in die Handwerksrolle oder ins Gewerberegister soll von Ihnen von
der Schwarzarbeit ausgenommen werden. Das schadet
dem Handwerk und fördert die Ich-AGs. Mit uns nicht,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
({13})
Außerdem verletzten Sie den Grundsatz „in dubio pro
reo“, „im Zweifel für den Angeklagten“, indem Sie Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausschließen
wollen, wenn es nur ein Verdachtsmoment gibt.
({14})
So steht es im Gesetz. Wir sind nicht der Meinung, dass
das richtig ist. Ich denke, ein Unternehmen muss erst
verurteilt worden sein, ehe es von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden darf. Das hat unser Rechtssystem so vorgesehen.
({15})
Besonders kurios ist die Pflicht zur zweijährigen Aufbewahrung von Rechnungen für private Auftraggeber.
({16})
Dazu möchte ich nur eines anführen. Professor Reiß von
der Uni Erlangen hat uns dazu in seiner Stellungnahme
zu der Anhörung deutliche Worte ins Gewissen geschrieben. Ich will Ihnen das nicht vorenthalten; es ist zu
schön:
Die Einführung einer bußgeldbewehrten Aufbewahrungspflicht für private Auftraggeber ist trotz
des hehren Zieles schlicht lächerlich. Von solchen
Mätzchen sollte ein Gesetzgeber Abstand nehmen,
wenn er noch den Anspruch erhebt, ernst genommen zu werden.
Das ist alles Zitat, nicht meine Erfindung.
Man darf gespannt sein, welche Aufklärungsmaßnahmen der Gesetzgeber noch vorschlagen wird,
damit die geneigte Bevölkerung wenigstens von
dieser völlig neuartigen Verpflichtung erfährt. Oder
soll sie erst durch die Verhängung von Bußgeldern
aufgeklärt werden?
Ich brauche dem nichts hinzuzufügen
({17})
als das, was unsere Fraktionsvorsitzende, Angela
Merkel, zu solchen Themen immer sagt: Sie können hinter jeden Bürger einen Kontrolleur stellen, der Bürger
wird sich immer eine Finte ausdenken, wie er sich dieser
Kontrolle entziehen kann. - Ich finde, wo sie Recht hat,
hat sie Recht, und sie hat fast immer Recht, in allen Bereichen, zu denen sie sich äußert.
({18})
Sie äußert sich sehr oft und ich bin sehr, sehr glücklich
darüber.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf ab. Sie macht allerdings sehr deutlich, dass
wir ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung der Schwarzarbeit brauchen. Bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit
darf man aber nicht in einseitiger Art und Weise auf repressive Maßnahmen setzen, sondern man muss präventive und repressive Maßnahmen in ausgewogener Weise
miteinander verbinden.
Des Weiteren müssen wir die Staatsausgaben endlich
in den Griff bekommen, Herr Eichel. Die Staatsquote
muss mittelfristig wieder geringer als 40 Prozent sein.
Dann haben wir Spielraum für Steuersenkungen.
Da wir beim Steuerkonzept sind, möchte ich herzlich
darum bitten, dass Sie sich unser „Konzept 21“ einmal
anschauen. Ich denke, diesem Konzept könnten Sie gut
folgen.
({19})
Wir brauchen unbedingt ein steuerpolitisches Gesamtkonzept; denn unsere Steuern sind weiterhin zu
hoch. Wir brauchen außerdem die Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes.
Liebe Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
({0})
Danke für den Hinweis.
Ich denke, dass der Gesetzentwurf zu Recht deutlich
kritisiert worden ist. Trotzdem danken wir den Kolleginnen und Kollegen für die faire Beratung und auch den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die viele Arbeit.
Wir lehnen den Gesetzentwurf aus den genannten
Gründen ab. Wir brauchen ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Es darf nicht
allein so sein, dass die Bürger bestraft werden. Sie müssen auch von Lohnzusatzkosten entlastet werden. Dann
wird die Schwarzarbeit zurückgehen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Wülfing, es geht nicht um die Frage: Repressionen,
ja oder nein?
({0})
Es geht hier und heute vielmehr darum, einen gesetzlichen Beitrag zur Bekämpfung der organisierten und
vor allem der gewerblichen Schwarzarbeit zu leisten.
Darum geht es und um nichts anderes.
({1})
Es ist die typische Nummer der Union, die wir schon
aus anderen Zusammenhängen kennen: Mit fadenscheinigen und an den Haaren herbeigezogenen Begründungen wird versucht, ein Gesetz schlechtzureden, weil man
nicht weiß, wie man sich verhalten soll.
({2})
Das ist Ihr Spiel: Auf der einen Seite wollen Sie
Schwarzarbeit bekämpfen, fügen jedoch hinzu: Aber
nicht so. Auf der anderen Seite gibt es keine Vorschläge
von Ihnen, wie es besser geht.
({3})
Heute liegt ein Gesetz vor, mit dem das Problem der
großen Schattenwirtschaft in der Bundesrepublik
Deutschland angegangen wird. Es ist spannend, zu beobachten, wie selbst Gesetze diffamiert werden, die aus
unionsregierten Ländern kommen. Frau Kollegin
Wülfing, die Bauabzugsteuer ist eine Erfindung von
Herrn Koch aus Hessen und Herrn Stoiber aus Bayern.
Wir haben diese Idee aufgenommen, sie verbessert und
umgesetzt, teilweise gegen die Stimmen der Union. Es
ist schon interessant: Zuerst bringen Ihre eigenen Ministerpräsidenten, die Sie sehr schätzen, Gesetzentwürfe
ein. Aber wenn es konkret wird, dann tauchen Sie jedesmal ab.
({4})
Das verstehe ich unter Scheinheiligkeit. Wir müssen deshalb sagen: So, wie sich die Opposition in diesem Land
verhält, kommen wir - auch bei dem Thema, über das
wir heute reden - keinen Schritt weiter.
({5})
Es ist ein sehr ernstes Thema, über das wir heute reden; denn organisierte gewerbliche Schwarzarbeit ist
kein Kavaliersdelikt, sondern organisierte Wirtschaftskriminalität. In dem heute zu verabschiedenden Gesetz
zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit
und auch der damit verbundenen Steuerhinterziehung,
die man nicht unterschätzen darf, definieren wir
Schwarzarbeit und grenzen sie von der Nachbarschaftshilfe und Selbsthilfe ab. Wir wollen die Bereiche treffen,
die für unsere Wirtschaft schädlich sind; darüber haben
wir in diesem Hohen Hause immer wieder gesprochen.
Wir müssen aus Wettbewerbsgründen dafür sorgen, dass
diejenigen, die sich in diesem Land bereichern und die
dem Wettbewerb schaden, strafrechtlich besser verfolgt
werden können, als es bisher der Fall gewesen ist.
({6})
Ziel dieses Gesetzes ist es, alle Versuche - auch die
strafrechtlichen Regelungen - zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit, die bislang unternommen worden sind, in
einem Gesetz zusammenzuführen. Es werden Prüfaufgaben beim Zoll zusammengefasst. Wir haben im Rahmen
der Ausschussberatungen von den Sachverständigen, die
in diesem Betrugsbekämpfungsbereich arbeiten, Anregungen aufgenommen, die Zusammenarbeit der ermittelnden Behörden, der Kriminalpolizei, des Zolls, der
Steuerfahndung sowie der Staatsanwaltschaften, besser
und gezielt zu regeln. Das liegt im Interesse dieser Behörden. Dies liegt auch im Interesse der Politik und
müsste auch im Interesse der Opposition liegen. Das
sollte man nicht kleinreden.
({7})
Man sollte vielmehr Farbe bekennen, ob man will, dass
all diese Behörden besser zusammenarbeiten. Wenn man
das will, sollte man diesem Gesetzentwurf auch zustimmen.
({8})
Es wird gemeinsame Ermittlungsgruppen der Behörden gegen die organisierte gewerbliche Schwarzarbeit
geben. Der Personaleinsatz beim Zoll wird erheblich
verbessert. Die im Gesetzentwurf zusammengeführten
und zum Teil erhöhten Strafmaße zur Bekämpfung der
gewerblichen Schwarzarbeit sollen auf der einen Seite
das Unrechtsbewusstsein verstärken und von der Organisierung gewerblicher Schwarzarbeit abschrecken. Auf
der anderen Seite wollen wir den Weg zu einer unternehmerischen Entscheidung für legales Verhalten stärker betonen.
Das ist der Sinn und Zweck dieses ganzen Unterfangens; denn wir alle wissen doch, dass gerade der Konkurrenzkampf im Rahmen privater oder öffentlicher
Vergabeverfahren - ich denke beispielsweise an Bauaufträge - sehr häufig zu illegalem Verhalten verleitet.
Deswegen brauchen wir in Deutschland bei Vergabeverfahren einen fairen Kostenwettbewerb, der unter Ausschluss von illegalem Verhalten erreichbar ist. Auch dem
dient dieses Gesetz. Wir wollen illegales Verhalten beenChristine Scheel
den und dafür sorgen, dass das strafrechtliche Risiko erhöht wird, bei der Organisierung von Schwarzarbeit entdeckt und dann auch bestraft zu werden.
Ich bin mir bewusst, dass legales Verhalten angesichts
erheblicher Gewinnvorteile durch illegales Verhalten allein durch Strafandrohungen nicht erreichbar ist; das ist
natürlich richtig. Aber die Steigerung des Entdeckungsrisikos mit erheblichen strafrechtlichen Folgen und mit
der Androhung von finanziellen Vermögensverlusten
kann den Prozess hin zu mehr Ehrlichkeit im Wettbewerb verbessern. Es geht darum, dass man diesen Prozess insgesamt verbessert, dass man sagt: Wir sind für
Ehrlichkeit im Wettbewerb, und zwar zum Schutz derjenigen Unternehmen, die in diesem Staat einen ordentlichen Beitrag zum Sozialversicherungsaufkommen, aber
auch zu den Steuereinnahmen leisten. Das ist ein richtiges Ansinnen. Deswegen kann ich nur sagen: Ich verstehe wirklich nicht,
({9})
dass sich die Union diesem Anliegen nicht anschließen
kann.
({10})
Es geht auch um die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und vielem mehr.
Natürlich bleibt das ordnungspolitische Ziel eines fairen, funktionsfähigen Wettbewerbs und niedrigerer
Lohnnebenkosten bestehen; das ist völlig richtig. Das
hat aber mit diesem Gesetz nichts zu tun; das muss man
an anderen Stellen regeln. Wir tun dies teilweise mit großen Anstrengungen. Aber all die Reformbemühungen
und Reformvorschläge, die in der Vergangenheit auf
dem Tisch gelegen haben, um dieses Ziel zu erreichen,
haben Sie abgelehnt.
({11})
Es ist scheinheilig, andere Gesetze anzuführen, Forderungen aufzustellen, zu glauben, dass man mit diesen
Begründungen ein so gutes Gesetz ablehnen kann, und
dann, wenn Maßnahmen auf dem Tisch liegen, diese immer wieder abzulehnen.
Ich kann Sie nur auffordern: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu! Wir erfüllen damit eine ordnungspolitische Aufgabe. Wir leisten hiermit einen weiteren Beitrag
zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Ich hoffe, dass sich
die Opposition dem - ich muss es wirklich noch einmal
sagen - nicht entzieht und Sie dieses Gesetz nicht
schlechtreden, sondern Ihren Beitrag leisten, indem Sie
sagen: Das ist gut so. Auch wir wollen daran arbeiten.
Deswegen unterstützen wir in dieser Frage die Regierung.
Danke schön.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Ludwig Thiele,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Herr
Finanzminister Eichel: Ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu, dass wir eine Politik für mehr Beschäftigung in
Deutschland benötigen. Ich muss aber gleichzeitig feststellen: Sie sind seit fünfeinhalb Jahren mit Rot-Grün an
der Regierung und die Arbeitslosigkeit in Deutschland
hat einen noch nie da gewesenen Höchststand erreicht.
({0})
Wir teilen zwar alle Ihre Zielsetzung, aber die als Folge
Ihrer Politik eingetretene Wirklichkeit ist das genaue
Gegenteil dieser Zielsetzung.
({1})
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Wir sind
alle darüber froh, dass sich im Bereich der geringer bezahlten Tätigkeiten durch die Regelung der Minijobs für
Millionen von Menschen in unserem Land die Möglichkeit eröffnet hat, sich etwas weiß, also durch legale Tätigkeit, hinzuverdienen zu können.
Ich möchte allerdings an die Vorgeschichte dieses Gesetzes erinnern: Es war die rot-grüne Regierung, die
1998/99 die damalige 630-Mark-Regelung abgeschafft
hat.
({2})
Jetzt möchte ich mich ganz konkret an Sie, Herr Finanzminister Eichel, wenden. Das Land Hessen hatte damals
eine neue Landesregierung und Sie aus dem Amt gewählt. Sie haben dann zu Recht gesagt, Sie akzeptierten
die Entscheidung des Wählers. Keine Entscheidung, die
im Bundesrat auf die Stimmen des Landes Hessen angewiesen ist, solle mithilfe Hessens zum Gesetz werden.
Danach haben Sie Ihre Eintrittskarte ins Kabinett dadurch gezogen, dass Sie dafür gesorgt haben, dass die
630-Mark-Arbeitsverhältnisse mit den Stimmen Hessens
abgeschafft wurden. Das hat Millionen von Menschen in
unserem Land massiv betroffen.
({3})
Und es bedurfte wirklich jahrelanger Anstrengungen, bis
sich ein Teilerkenntnisprozess bei Ihnen - von der FDP
und der Union getrieben - im Vermittlungsverfahren
konkretisieren konnte, sodass die 400-Euro-Minijobregelung eingeführt wurde. Hier haben Sie Verantwortung getragen und wir haben versucht, Korrekturen
vorzunehmen. Je stärker wir über den Bundesrat die Gelegenheit bekommen, Ihre Politik zu korrigieren, desto
besser ist das für unser Land. Das hat man auch an dieser
Regelung gesehen.
({4})
Schwarzarbeit ist Realität in Deutschland. Naturgemäß lässt sie sich statistisch nicht erfassen. In der
Antwort auf eine Anfrage der FDP wurde im Frühjahr
letzten Jahres bereits darauf hingewiesen, dass gut
350 Milliarden Euro - das sind mehr als 16 Prozent dessen, was in unserem Land pro Jahr erwirtschaftet wird durch Schwarzarbeit erwirtschaftet werden. Weit mehr
als 9 Millionen Menschen sollen zumindest teilweise in
der Schattenwirtschaft tätig sein.
Die FDP tritt dafür ein, dass schwere Fälle von gewerblicher Schwarzarbeit konsequent, auch durch Zollfahnder, verfolgt werden. Hierbei geht es häufig um organisierte Wirtschaftskriminalität. Dadurch werden die
Firmen im Wettbewerb benachteiligt, schlechter gestellt
und möglicherweise aus dem Markt gedrängt, Firmen,
die ihre Steuern und Abgaben gesetzmäßig zahlen. Deshalb ist es richtig, dass schon jetzt Schwarzarbeit verboten ist. Verstöße dagegen werden auch schon jetzt strafrechtlich verfolgt.
Die FDP begrüßt daher die Zielsetzung des Gesetzentwurfs, Schwarzarbeit, insbesondere in banden- und
gewerbsmäßig organisierter Form, zu bekämpfen. Allerdings ist die FDP der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf nicht geeignet ist, zur Umsetzung dieses Ziels entscheidend beizutragen. Der Gesetzentwurf spiegelt
Lösungsmöglichkeiten vor, die die Schwarzarbeit nicht
nennenswert bekämpfen können; denn solange nicht an
die Ursachen der Schwarzarbeit gegangen wird, bleiben
alle diese Gesetzesvorhaben nur an der Oberfläche.
({5})
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es, dass
ein neues Unrechtsbewusstsein gegenüber Schwarzarbeit geschaffen und durch Hilfestellungen für die Bürgerinnen und Bürger rechtmäßiges Verhalten gefördert
werden soll. Von Hilfestellungen für die Bürger finde ich
in diesem Gesetzentwurf nichts. Durch noch mehr Ordnungsmaßnahmen und noch mehr Bürokratie werden
keine weiteren Anreize gesetzt, statt schwarz weiß zu arbeiten.
Seit 1998 hat Rot-Grün eine Gesetzesinitiative nach
der anderen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit beschlossen: das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte, das
Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe, das Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr, das Gesetz zur Erleichterung der Bekämpfung der illegalen
Beschäftigung und Schwarzarbeit und das Dritte Gesetz
für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt.
Dies sind nur die Gesetze, die sich konkret damit beschäftigt haben. Dabei habe ich noch die einzelnen Vorschriften in anderen Gesetzen außer Acht gelassen, die
zusätzlich beschlossen worden sind. Nur können wir an
dieser Stelle keine Effekte feststellen. Wir können aber
feststellen, dass die Schwarzarbeit in Deutschland trotz
dieser weiteren Regulierungswut zunimmt.
({6})
Wir haben an dieser Stelle nämlich kein Gesetzes-,
sondern ein Vollzugsdefizit. Daher werden noch mehr
Gesetze gegen illegale Betätigung und Beschäftigung
die Probleme nicht lösen.
({7})
Sie werden vor allen Dingen nicht gelöst, solange Sie
nicht an die Ursachen der Schwarzarbeit gehen. Der
Staat kann mit schärferen Kontrollen und neuen Befugnissen für die Zollbehörden zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit kein neues Unrechtsbewusstsein bei den
Bürgern schaffen. Dieses wird nicht eintreten, solange es
in unserem Lande bei zu hohen Steuern und Abgaben
und einer überbordenden Bürokratie bleibt. Man muss
deshalb an die Ursachen der Schwarzarbeit gehen. Man
muss die Gesetze der sozialen Marktwirtschaft wieder
entdecken, damit sich unser Land von sich heraus wieder
entwickeln kann.
Worin liegen denn die Ursachen der Schwarzarbeit? Wir haben eine viel zu hohe Steuer- und Abgabenbelastung. Der viel wirksamere Weg zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit wäre eine Rückführung der Steuerund Abgabenbelastung. Hier muss angesetzt werden. Es
ist doch für einen Kfz-Gesellen oder Maler überhaupt
nicht verständlich, dass er, gemessen an seinem Bruttolohn, sechs Stunden arbeiten muss, um sich eine einzige
Stunde seiner eigenen Arbeitszeit überhaupt leisten zu
können.
({8})
Das Problem besteht doch darin, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von dem, was sie brutto erarbeiten, netto zu wenig verbleibt. Das liegt daran, dass die
Steuer- und Abgabenquote, vor allem aber die Staatsquote in unserem Land viel zu hoch ist. Dieses bezieht
sich gerade auch auf die einfachen Tätigkeiten.
Deshalb ist es gut, dass wir mit den 400-Euro-Jobs
- auf die bin ich schon eingegangen - eine Regelung gefunden haben. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch an der Stelle könnte mehr geschehen.
({9})
Warum sind Sie eigentlich nicht bereit, im Bereich der
privaten Haushalte das Übel an der Wurzel zu packen?
Warum lehnen Sie die von der FDP immer wieder geforderte Regelung ab, hauswirtschaftliche Arbeitsverhältnisse dadurch anzuerkennen, dass die Abzugsfähigkeit
dieser Kosten für einen privaten Haushalt bis zu
12 000 Euro im Jahr sichergestellt wird? An dieser Stelle
ist pure Ideologie im Spiel, mit der Sie eine vernünftige
Regelung verhindern.
({10})
In dem Gesetzentwurf der FDP zur Einführung einer
neuen Einkommensteuer haben wir in § 26 vorgesehen,
dass im Kalenderjahr nachgewiesene Aufwendungen
von bis zu 12 000 Euro vom Gesamtbetrag der Einkünfte
abgezogen werden können, wenn eine Person in einem
hauswirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnis, insbesondere zur Pflege des Steuerbürgers, seiner Kinder oder
sonstiger Angehörigen, tätig ist. Voraussetzung dafür ist
aber, dass das Arbeitsverhältnis sozialversicherungspflichtig ist und eine Lohnsteuerkarte vorliegt. Wir wollen, dass der private Haushalt in diesem Rahmen als
Arbeitgeber offiziell anerkannt wird, weil dies ein wirksamer Weg ist, vielen Menschen aus der Schattenwirtschaft, aus der Schwarzarbeit herauszuhelfen.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von RotGrün, wann lernen Sie endlich, dass es andere Möglichkeiten als nur repressive Maßnahmen der Strafverfolgung gibt, Bürger steuerehrlich zu machen? Sie haben
hier - das muss der Öffentlichkeit vielleicht doch noch
etwas bekannter werden - in § 14 Umsatzsteuergesetz
eine Regelung vorgesehen, die jeden Grundstückseigentümer verpflichtet, seine Rechnungen zwei Jahre aufzubewahren, was es bisher überhaupt nicht gegeben hat. In
der Begründung dazu heißt es:
Um eine bessere Kontrolle der Versteuerung dieser
Umsätze zu ermöglichen, wird der private Empfänger einer … sonstigen Leistung im Zusammenhang
mit einem Grundstück zur Aufbewahrung der erhaltenen Rechung verpflichtet.
Es heißt weiter: Das
soll eine umfassende Kontrolle der Versteuerung
der Umsätze durch den leistenden Unternehmer ermöglichen.
Wollen Sie denn wirklich jedem Gartenarbeiter hinterhergehen und den Grundstückseigentümer verpflichten, die Rechnung für die Leistung, die der Gärtner in
seinem Garten erbracht hat, aufzubewahren? Wo leben
wir denn? Dadurch werden wir zu einem Überwachungsstaat, den ich wirklich für total falsch halte.
Wir fordern eine drastische Vereinfachung des Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts. Die Arbeitskosten müssen gesenkt werden. Wir benötigen eine umfassende Reform der Arbeitsmarktbedingungen. Die
Steuerbelastung muss gesenkt werden. Hier muss angesetzt werden.
Wenn man in Ihrem Gesetzentwurf dann noch liest,
dass dadurch in diesem Jahr zusätzliche Einnahmen für
den Staat in Höhe von 1 Milliarde Euro erzielt werden
sollen, stellt man fest, dass sich an dieser Stelle doch nur
das Chaos der Luftbuchungen des Finanzministers fortsetzt. Ihr Haushalt stimmt vorne und hinten nicht; Sie
müssen einen Nachtragshaushalt aufstellen. Aber die
Mehreinnahmen von 1 Milliarde Euro dürfen Sie getrost
wieder herausrechnen, weil Sie sie durch dieses Gesetz
nicht bekommen werden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
Rot-Grün, ich kann Sie nur bitten: Stellen Sie sich der
Wirklichkeit in unserem Lande, nehmen Sie sie zur
Kenntnis und bringen Sie Reformen voran, die in unserem Land zu mehr Arbeit, mehr Beschäftigung, mehr
Sozialabgaben und mehr Steuereinnahmen führen! Dann
kann es aufwärts gehen. Das bedeutet aber, dass wir einen anderen Politikstil brauchen, als Sie ihn bisher an
den Tag gelegt haben.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Schultz,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das waren ja große Töne, die hier bereits am
frühen Vormittag zu hören waren. Sie alle liefen darauf
hinaus, die Probleme der illegalen Beschäftigung, der
Schwarzarbeit, der Schattenwirtschaft und der Hinterziehung von Steuern und Sozialbeiträgen in gigantischem
Umfang eher zu verniedlichen, als wirklich den Finger
darauf zu legen, welch ein Krebsgeschwür das für unsere
Gesellschaft bedeutet.
({0})
Ich verstehe es gut, dass Sie, Frau Wülfing, und auch
Sie, lieber Herr Kollege Thiele, so vorgehen. Denn das,
was Sie in Ihrer Regierungsverantwortung auf diesem
Gebiet zustande gebracht haben, war nur durch Verniedlichung gekennzeichnet. Lassen Sie mich an das von Ihnen zitierte Entsendegesetz erinnern, das Norbert Blüm
unter dem Druck der Öffentlichkeit im allerletzten Moment gerade noch durch das Parlament gebracht hat, als
es auf allen Regierungsgroßbaustellen von Kolonnen
ausländischer Arbeiter wimmelte und der Einzige, der
dort Deutsch verstand, der holländische Bauleiter war.
({1})
Diese Situation gab es hier in Berlin. Gleichzeitig waren
Hunderttausende Bauarbeiter arbeitslos. Das haben Sie
organisiert.
({2})
Die Umsetzung der europäischen Entsenderichtlinie
durch die Verabschiedung des Entsendegesetzes so lange
hinauszuzögern lag unmittelbar in Ihrem eigenen Interesse. Das war schändlich. Darüber ist damals auch öffentlich diskutiert worden. Jetzt können Sie nicht so tun,
als hätten Sie auf diesem Gebiet eine glorreiche Vergangenheit - im Gegenteil.
({3})
Sie haben uns hier einen Riesennachholbedarf hinterlassen.
Herr Thiele, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,
dass während unserer Regierungsverantwortung eine
Reihe von Gesetzen verabschiedet wurde; denn es ist ein
Reinhard Schultz ({4})
Riesenproblem, eine mafiös organisierte Struktur am
Bau und in anderen Bereichen zu packen.
({5})
In diesem Bereich stellen sich die beteiligten Personen ja
nicht etwa und entschuldigen sich, wie es der zerknirschte Autofahrer tut, der dabei erwischt worden ist,
dass er bei Rot über die Ampel gefahren ist. Hier bestehen vielmehr Strukturen, deren Drahtzieher meistens
überhaupt nicht erwischt werden können, und die dadurch gekennzeichnet sind, dass in einer Kette von Verschachtelungen von Subunternehmertätigkeiten am Ende
eine illegale Kolonne steht, die durch Schwarzarbeit,
vorbei am Fiskus und an den Sozialsystemen, riesige
Gewinne macht. Darum geht es.
Da wir derzeit eine heftige Diskussion über den angeblichen Widerspruch zwischen einer auf Wachstum
ausgerichteten Haushalts- und Finanzpolitik auf der einen Seite und der Notwendigkeit der Konsolidierung
der Staatsfinanzen auf der anderen Seite führen, kann ich
nur feststellen: Im Lichte unserer heutigen Diskussion
besteht dieser Widerspruch eigentlich nicht. Denn wenn
wir eine sparsame Haushaltsführung, den Abbau überkommener Subventionen, eine richtige Schwerpunktsetzung auf der Ausgabenseite und eine Senkung der
Steuer- und Abgabenlast im Rahmen des Möglichen betreiben und gleichzeitig alle Einnahmen, auf die der
Staat und die Sozialversicherungen Anspruch haben,
mobilisieren, dann, so denke ich, ist es möglich, sowohl
die Finanzen zu konsolidieren als auch Wachstum zu finanzieren. Darum geht es hier.
Es geht um Beträge von mehreren Milliarden Euro,
die am Fiskus und an den Sozialversicherungssystemen
vorbeigeschleust werden, die uns schlicht und einfach
fehlen und die uns in steigendem Maße in eine finanzielle Notlage bringen. Wenn wir diese Mittel mobilisieren könnten, wäre so manche schwierige Diskussion
über Einschnitte in das soziale Netz genauso wenig erforderlich wie die immer wiederkehrende Diskussion
über Senkungen auf der Ausgabenseite, was beispielsweise die Investitionen im Bundeshaushalt, in den Haushalten der Länder und in denen der Städte und Gemeinden betrifft.
Das ist der richtige volkswirtschaftliche bzw. gesamtwirtschaftliche Zusammenhang, über den hier diskutiert
werden muss. Dazu gehört erstens der Kampf gegen den
zunehmenden Umsatzsteuerbetrug, den wir auf europäischer Ebene führen. Dazu gehört zweitens, dass Maßnahmen gegen die Flucht vor der Zinsbesteuerung in das
Ausland durchgeführt werden.
Mit unseren Maßnahmen, die eine Brücke hin zur Steuerehrlichkeit beinhalten, haben wir einen ersten Schritt
getan. Aber wir müssen das sicherlich weiterentwickeln.
Drittens gehört dazu der Kampf gegen Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung. Ich erinnere daran - Minister Eichel hat es gesagt -: Ein Gesamtumsatz zwischen
350 und 400 Milliarden Euro wird illegal erwirtschaftet.
Einen Bruchteil davon durch eine gezielte Strategie zu
mobilisieren würde uns schon deutlich weiterhelfen. Allein wenn wir 20 Prozent dieser Arbeitsverhältnisse in
eine legale Beschäftigung überführen könnten, würde
zumindest zunächst einmal ein großer Teil der Haushaltsprobleme bei uns, in den Städten und Gemeinden, in
den Ländern, bei den Sozialsystemen deutlich besser gelöst werden können als bisher.
Allein wenn wir eine langfristige Strategie gegen mafiös organisierte Schwarzarbeit am Bau verfolgten, wären - bei vorsichtigem Optimismus - etwa 40 Milliarden
Euro für die Sozialsysteme und den Fiskus mobilisierbar. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, aber
auf mittlere Sicht. Um diese Größenordnung geht es,
nicht um die 2,5 Milliarden Euro, die im Zusammenhang
mit der Streichung des Sparerfreibetrags genannt werden. Diese 40 Milliarden Euro sind die Dimension, um
die es hier geht, sage ich einmal - etwas ironisch - aus
aktuellem Anlass. Das ist eine große Chance.
Wir wissen ganz genau, dass besonders im Bereich
der haushaltsnahen Dienstleistungen, der kleineren
Handwerksleistungen rund ums Eigenheim, im Wesentlichen nicht kriminelle Energie der Beweggrund für
Schwarzarbeit ist. Natürlich spielen dabei hohe Preise
für Handwerker und die fehlende Bereitschaft oder das
fehlende Bewusstsein eine Rolle, die modernen Möglichkeiten geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse
- das ist fast kostenneutral für den Privathaushalt - zu
nutzen. Da muss Aufklärung geleistet werden. Ich bin
überzeugt, dass wir auf dem Gebiet weiterkommen.
Im Bereich der Schwarzgastronomie sind wir weitergekommen: Gerade aus dem Bereich der Gastronomie
kommt der höchste Anteil von Anmeldungen bei der Minijobzentrale. Die haben sich umgestellt, weil bei ihnen
das Entdeckungsrisiko verhältnismäßig hoch ist. Wenn
wir in anderen Bereichen das Entdeckungsrisiko erhöhen
würden, würden auch die sich umstellen. Um aber die
gesamte Dimension aufzuzeigen: Lediglich 15 Prozent
aller geleisteten Schwarzarbeit entstehen im Zusammenhang mit privaten Haushalten - 85 Prozent sind gewerblich und organisiert. Das sind die Dimensionen, um die
es hier tatsächlich geht. Deswegen ist es natürlich richtig
zu sagen: Wir wollen die Leistungen rund um die privaten Haushalte nicht kriminalisieren. Da wird auch kein
Zollbeamter hinter den Zaun gestellt.
({6})
Es geht nicht um den Rentner, der den Zaun anstreicht;
es geht nicht um den Nachhilfelehrer und es geht nicht
um die Putzfrau. Dort wird nicht mit dem Strafrecht zugeschlagen; das sind nach wie vor Bußgeldtatbestände.
Vielmehr geht es uns um die organisierte kriminelle
Schwarzarbeit. Diese muss stärker strafrechtlich verfolgt werden
({7})
und dazu müssen wir eine angemessene Organisation der
für die Verfolgung zuständigen Behörden aufbauen.
({8})
Reinhard Schultz ({9})
Organisierte Schwarzarbeit geht häufig mit anderen
Formen organisierter Kriminalität einher: Geldwäsche,
Menschenhandel, Steuerbetrug in großem Umfang. Ich
widerspreche Ihnen, Frau Wülfing, und der Opposition
ausdrücklich, wenn Sie versuchen, auch diese Formen
schwerer Kriminalität mit dem Hinweis auf zu hohe
Steuern, Sozialabgaben oder sogar zu hohe Löhne zu erklären.
({10})
Diejenigen, die auf Baustellen, im Unterhaltungsgewerbe oder anderswo, häufig in einer Kette von kriminellen Beziehungen, Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung nutzen oder anbieten, würden das auch bei
Niedrigsteuersätzen und auch dann tun, wenn wir die
Sozialbeiträge halbieren würden. Sie werden es weiterhin machen, solange es im Einzelfall auch nur einen geringfügigen illegalen Ertrag bringt. Denn die Grundlage
für das massenhafte Auftreten von Schwarzarbeit bildet
der Umstand, dass es sich rechnet, und nicht die absolute
Höhe der Sozialversicherungsbeiträge. Solange es überhaupt Sozialversicherungsbeiträge gibt, lohnt es sich,
massenhaft Schwarzarbeit zu organisieren. Insofern ist
es ein Irrglaube und folgen Sie einer falschen Spur, wenn
Sie auf angeblich zu hohe Sozialabgaben, zu hohe Steuern verweisen. Es geht hier um kriminelle Energie und
die Abschöpfung eines nicht kontrollierten Marktes.
({11})
Das ist mit dem Steuerrecht oder mit dem Sozialversicherungsrecht nicht zu bekämpfen. Da hilft nur ein
flächendeckender robuster Kampf mit allen möglichen
polizeilichen Mitteln;
({12})
darum geht es, wie in anderen Fällen organisierter Kriminalität auch.
Wir haben mit diesem Gesetz sichergestellt, dass alle
Formen gewerbsmäßiger Schwarzarbeit ausdrücklich
Straftatbestände sind, die der Strafverfolgung unterliegen. Die Strafen werden empfindlich sein. Daten von
Unternehmen oder Einzelpersonen, die Schwarzarbeit in
großem Umfang durchführen oder zulassen, werden in
einer zentralen Erfassungsstelle zusammengeführt.
Wer als Unternehmer Schwarzarbeiter oder illegal Beschäftigte einsetzt und dabei erwischt wird, wird von der
Teilnahme an Ausschreibungen öffentlicher Aufträge für
längere Zeit ausgeschlossen. Sie weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der arme Organisator von
Schwarzarbeit so schnell ja gar nicht verurteilt werden
könne. - Ja, während der fünf Jahre, die das Verfahren
dauert - weil er mit einer halben Kompanie von Rechtsanwälten bis in die dritte Instanz geht -, organisiert er
weiter Schwarzarbeit. Diesen Missstand wollen wir
nicht.
({13})
Wenn gesichert ist, dass derjenige verurteilt werden
wird, wird er von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen.
Wir müssen leider noch immer das Phänomen beobachten - das richte ich besonders an die Adresse der
öffentlichen Auftraggeber -, dass der Zoll, der offensichtlich sehr wirksam kontrolliert, auch auf öffentlichen
Baustellen Schwarzarbeiter und illegal Beschäftigte entdeckt; es waren in den letzten Wochen einige Fernsehsendungen dazu zu sehen. Der Grund ist natürlich, dass
bei der Angebotsausgestaltung ein Preisdumping in
Schwung kommt, bei dem sich, da nach dem niedrigsten
Preis gegangen wird, nur derjenige durchsetzen kann,
der illegal Beschäftigte arbeiten lässt. Das darf nicht
sein. Wir von Bund, Ländern und Kommunen müssen
als öffentliche Hand Vorbild sein. Wir müssen bei uns
eine Selbstkontrolle einbauen, damit künftig auch darauf
geachtet wird, wie im Rahmen von Bauaufträgen die Arbeiten abgewickelt werden. Das ist wichtig, damit wir
glaubwürdig sind.
({14})
Ich habe bereits in der ersten Lesung angekündigt,
dass wir vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der
Praxis des Zolls, der Arbeitsverwaltung, der Kriminalpolizei, der Gewerkschaften, des Handwerks und der Industrie das Gesetz im Rahmen des parlamentarischen
Verfahrens weiter verbessern und die Einwände und Anregungen des Bundesrats berücksichtigen werden. Ich
will, weil Sie hier die stolze Opposition geben, auf Folgendes hinweisen: Wir haben - mit Ausnahme eines einzigen, relativ unbedeutenden Tatbestandes - alle Anregungen der Bundesländer in diesem Gesetz umgesetzt.
Sie dagegen haben sich aus dem allgemeinen Konsens
populistisch herausgestohlen. Zwischen Bundesrat und
der Mehrheit in diesem Haus besteht eine große Gemeinsamkeit, was die Notwendigkeit des Kampfes gegen organisierte Schwarzarbeit angeht - bis hin zum Wortlaut
des Gesetzes. Denn wir wissen, dass wir beim Vollzug
vor Ort diesen Konsens brauchen.
({15})
Wir haben aus eigenem Antrieb sichergestellt, dass
zwischen Zoll, Steuerfahndung und Polizei im Kampf
gegen gewerbliche Schwarzarbeit und andere Formen
organisierter Kriminalität eine lückenlose Zusammenarbeit erfolgt, dass alle wichtigen Informationen wechselseitig weitergegeben werden, dass gemeinsame Ermittlungsteams aufgestellt werden können und dass alle
Beteiligten Zugriff auf die bestehenden oder neu einzurichtenden Datenbanken haben, wenn das für ihre Ermittlungen notwendig ist. Wir haben darüber hinaus sichergestellt, dass sich die Zollbeamten Zutritt zu
Baustellen, Fahrzeugen und Räumlichkeiten verschaffen
können, in denen sie Personen oder Unterlagen vermuten, die für die Ermittlungen wichtig sind. Auch hier gab
es in der Vergangenheit Lücken.
Wir haben - entgegen dem ursprünglichen Gesetzentwurf - daran festgehalten, dass Bauarbeiter, Arbeitnehmer ihren Sozialversicherungsausweis bei sich führen
müssen. Wir wissen, dass der Sozialversicherungsausweis ein fälschungsanfälliges Dokument ist. Aber in
Reinhard Schultz ({16})
Verbindung mit einem anderen, fälschungssicheren Personaldokument, zum Beispiel dem Personalausweis, hat
er natürlich eine Aussagekraft. Wir appellieren, so
schnell wie möglich eine elektronisch lesbare Jobcard
einzuführen, die auch die notwendigen Sozialversicherungsdaten enthält. Das würde die Kontrolle auf den
Baustellen natürlich sehr erleichtern.
({17})
Wir haben festgestellt, dass die Gerichte bei der Bemessung der Bußgelder, die sie bisher für Schwarzarbeit
verhängt haben, häufig an der unteren Grenze geblieben
sind. Damit haben sie mit dazu beigetragen, dass
Schwarzarbeit im gesellschaftlichen Bewusstsein eher
als eine Petitesse, als ein Kavaliersdelikt angesehen
wird. Wir haben jetzt sichergestellt, dass die Bundesregierung durch Rechtsverordnung den Bußgeldrahmen
für Schwarzarbeit festlegt und das Strafmaß für bestimmte Tatbestände nicht unterschritten werden darf.
Die Höhe der Bußgelder sorgt dafür, dass es empfindliche Strafen gibt, die eine abschreckende Wirkung entfalten werden.
Inzwischen gibt es neue Formen von Menschenhandel - auch darüber haben wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens diskutiert -, der nicht mehr nur zum
Zwecke der Prostitution oder des Mädchenhandels
durchgeführt wird, sondern bei dem Menschen zu dem
Zweck verschleppt werden, in Deutschland ohne Entgelt
arbeiten zu müssen. Sie erhalten lediglich Frühstück,
müssen in Baufahrzeugen übernachten, werden dort eingeschlossen und müssen ansonsten Stunde um Stunde
malochen. Das ist kein seltenes Phänomen. Deswegen
weiten wir - nicht in diesem Gesetz, sondern in einem
Gesetz, das morgen auf der Grundlage einer EU-Richtlinie in erster Lesung eingebracht wird - den Begriff des
Menschenhandels rechtlich aus: Die Strafverfolgung
wird auf Tatbestände wie den Menschenhandel zum
Zweck der erpressten Arbeit ausgedehnt, damit diese
besser als in der Vergangenheit verfolgt werden können.
({18})
Die organisatorischen Voraussetzungen sind bereits
zum 1. Januar dieses Jahres geschaffen worden. Die Zuständigkeiten bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit
und illegaler Beschäftigung wurden auf den Zoll verlagert. Durch die Zusammenführung von 2 500 Bediensteten der Arbeitsverwaltung und 2 500 Bediensteten des
Zolls entsteht - Minister Eichel hat darauf hingewiesen eine schlagkräftige Struktur. Weitere 2 000 Bedienstete
sollen mobilisiert werden. Mit 133 Standorten entsteht
ein dichtes Netz.
Das ist eine stattliche Polizeimacht. Wenn sie die
technischen Mittel an die Hand bekommt - mit diesem
Gesetz geben wir sie ihr an die Hand -, dann kann man
in die Schlacht gegen organisierte Schwarzarbeit und
illegale Beschäftigung ziehen und dabei auch Erfolg haben. Die gesetzlichen, organisatorischen und personellen
Voraussetzungen sind geschaffen. Ich bin überzeugt davon, dass wir Erfolg haben werden.
Wir wollen, dass ehrliche Unternehmen mit ehrlichen
Preisen wieder eine Chance im Wettbewerb bekommen.
Das ist auch für das Rechtsbewusstsein in den Wettbewerbs- und Marktbeziehungen ganz wichtig. Wir wollen, dass den Sozialversicherungen und dem Fiskus, dem
Bund, den Ländern und den Gemeinden, durch die Austrocknung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit
Milliardenbeträge zur Finanzierung von Wachstum und
Zukunftsaufgaben zufließen. Ich bin überzeugt davon,
dass dieses Gesetz einen Beitrag dazu leistet, diese ganz
wichtige Schlacht zu gewinnen.
({19})
Das Wort hat nun Kollege Stefan Müller, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Herr Kollege Schultz, niemand von
der CDU/CSU bestreitet, dass Schwarzarbeit in
Deutschland Besorgnis erregende Ausmaße angenommen hat. Richtig ist, die Schattenwirtschaft hat in
Deutschland mittlerweile ein Volumen von - wir haben
die Zahlen des Öfteren schon gehört - rund 370 Milliarden Euro erreicht. Das entspricht in etwa 16 Prozent des
offiziellen Bruttoinlandsproduktes.
Richtig ist auch, dass analog zu dem weiteren Anstieg
der Schwarzarbeit die Bereitschaft, in der Schwarzarbeit
tätig zu sein, weiter gestiegen ist. Schwarzarbeit wird
von vielen Privaten - ob uns das gefällt oder nicht - zunehmend als Korrekturmöglichkeit des kleinen Mannes
verstanden und leider Gottes akzeptiert. Eine aus dem
vergangenen Jahr stammende Umfrage zeigt, dass mehr
als die Hälfte der Deutschen Verständnis dafür zeigt,
dass Privatleute Schwarzarbeiter beschäftigen.
Die Folgen für die öffentlichen Kassen sind natürlich
enorm. Durch die Schwarzarbeit entstehen dem deutschen Staat jedes Jahr immense Einnahmeausfälle. Die
vom Zoll für das Jahr 2003 ermittelte Schadensumme
beläuft sich auf knapp 350 Millionen Euro. Insofern ist
die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe unbestritten.
In den Beratungen Ihres Gesetzentwurfes haben wir
immer wieder deutlich gemacht: Das mit dem Gesetzentwurf verfolgte Ziel, nämlich die Schwarzarbeit nachhaltig zu bekämpfen, wird von uns ausdrücklich begrüßt
und findet unsere Unterstützung. Allerdings, meine Damen und Herren von Rot-Grün, erschien der Gesetzentwurf von vornherein nicht geeignet, das von Ihnen selbst
gesteckte Ziel zu erreichen.
({0})
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wurde versucht, zwei Dinge miteinander zu verbinden. In der Anhörung hat einer der Sachverständigen davon gesprochen, dass es sich um ein Gesetz „zur Bekämpfung von
Raubtieren und Mäusen“ handelt. Sie haben mit dem
Gesetzentwurf versucht, einerseits die gewerbsmäßige
Schwarzarbeit - sie hat in einigen Branchen, beispielsweise der Bauwirtschaft, zugegebenermaßen bedrohliStefan Müller ({1})
che Ausmaße angenommen - zurückzudrängen und andererseits das rechtmäßige Verhalten im Privatbereich zu
fördern.
({2})
Dass gewerbliche Schwarzarbeit zurückgedrängt und
bekämpft werden muss, ist unbestritten.
({3})
Dass Instrumente zur Bekämpfung der gewerblichen
Schwarzarbeit notwendig sind, ist ebenso unbestritten; das
wird auch von uns nicht infrage gestellt. Aber die Instrumente, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, mit diesem Gesetzentwurf an die Hand nehmen, führen zu keiner Verbesserung der Strafverfolgung für gewerbliche Delikte. Im Gegenteil: Sie erschweren in einigen Teilbereichen sogar die Kriminalitätsbekämpfung.
({4})
Andererseits sind die im Gesetzentwurf festgelegten
Vorschriften nicht dazu geeignet, das Unrechtsbewusstsein der Privatleute tatsächlich herzustellen. Es reicht
nicht aus, Rechtsvorschriften in einem neuen Gesetz zu
bündeln und Regelungslücken zu schließen. Es reicht
eben nicht aus, neue Straftatbestände zu schaffen. Es
reicht auch nicht aus, in großen Tageszeitungen und Magazinen ganzseitige Anzeigen zu schalten, um auf die
Auswirkungen von Schwarzarbeit hinzuweisen.
({5})
Herr Schultz, Sie haben gerade davon gesprochen,
dass nur 15 Prozent der Schwarzarbeit auf Private entfällt. Insofern ist es doch erst recht kontraproduktiv,
wenn Sie gerade private Haushalte mit einem Mehr an
Bürokratie überziehen, so wie es jetzt geschieht. Die
bußgeldbewehrte Aufbewahrungspflicht von zwei Jahren für Privatleute bedeutet einen immensen Bürokratieaufwand.
({6})
Ich möchte darauf hinweisen, dass es Ihr Bundeswirtschaftsminister ist, der hier ständig über Bürokratieabbau philosophiert. Wenn aufgrund falscher Politik das
Unrechtsbewusstsein nicht vorhanden ist, dann stoßen
repressive Maßnahmen des Staates an die Grenzen ihrer
Wirksamkeit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schultz?
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Müller, ich möchte von Ihnen
- trotz Ihres jugendlichen Alters - gerne wissen, wie Sie
persönlich es handhaben, wenn Sie eine Rechnung für
ein Gewerk erhalten, für das in der Regel zwei Jahre Gewährleistung gilt: Werfen Sie dann diese Rechnung weg
oder bewahren Sie sie auf? Fühlen Sie sich dadurch, dass
Sie dies tun, zusätzlich belastet, nur weil es jetzt außerdem gesetzlich vorgeschrieben ist?
Ich stelle Ihnen eine Gegenfrage:
({0})
Wenn es nach Ihrer Anschauung ohnehin gemacht wird,
warum müssen Sie es dann überhaupt gesetzlich regeln?
({1})
Ich rede hier von hohen Rechnungsbeträgen. Wir haben
im Gesetzgebungsverfahren angeregt, für geringe Beträge eine Bagatellgrenze einzuführen. Warum haben Sie
sich dem verschlossen? Warum brauchen Sie eine gesetzliche Regelung für etwas, das nach Ihrer Meinung
ohnehin schon gemacht wird? Das leuchtet mir beim
besten Willen nicht ein.
({2})
Dieser Gesetzentwurf - das ist schon angesprochen
worden - steht in einer fragwürdigen Tradition von fünf
vorhergehenden Gesetzen zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit. All diesen Gesetzen sind zwei Dinge gemeinsam: Erstens. Bei allen gesetzgeberischen Maßnahmen in der Vergangenheit haben Sie immer ausschließlich auf Repression und Strafe gesetzt.
({3})
Zweitens. Alle Gesetze sind in ihrer beabsichtigten Wirkung, die Schwarzarbeit nachhaltig zu bekämpfen,
schlicht und ergreifend gescheitert. Die Schattenwirtschaft ist in den letzten Jahren immer weiter angestiegen.
({4})
Alle bisherigen Gesetze haben den Anstieg deswegen
nicht bremsen können, weil sie ausschließlich auf Strafe
und Verfolgung gesetzt und an den Ursachen des Problems nichts geändert haben.
({5})
Wir haben im Finanzausschuss eine mehrstündige Anhörung durchgeführt. Dabei ist deutlich geworden, dass
die Ursachen für Schwarzarbeit sind: eine zu hohe Steuerund Abgabenbelastung, eine zu hohe Regulierungsdichte und Bürokratie und eine zu hohe Verunsicherung
aufgrund der Steuer- und Sozialgesetzgebung. Kurz gesagt: ein Versagen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Meine Damen und Herren Kollegen von Rot-Grün, das ist
Ihr Versagen. Wie erklären Sie sich sonst, dass allein in
den letzten vier Jahren die Wertschöpfung in der Schattenwirtschaft um 25 Prozent gestiegen ist?
({6})
Stefan Müller ({7})
Fehlende Planungssicherheit aufgrund politischer Entscheidungen, eine daraus folgende hohe Verunsicherung
in der Bevölkerung und zudem das seit langem bestehende Gefühl der Ungerechtigkeit vor allem durch die
Steuerbelastung - daran haben Sie nichts geändert. Das
alles sind Gründe für die Zunahme der Schwarzarbeit in
unserem Land.
({8})
In den Gesetzesberatungen ist deutlich geworden, dass
eine Strategie, die ausschließlich auf Abschreckung und
Verfolgung ausgerichtet ist, nicht zum Ziel führt. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen immer wieder, dass
verschärfte Razzien und höhere Strafen regelmäßig ins
Leere laufen
({9})
und allenfalls dem harten Kern der Schwarzarbeit zu
Leibe rücken.
Eine Bekämpfung der Symptome alleine über eine intensivere Strafverfolgung verursacht vor allem höhere
Kosten. Wir haben dankenswerterweise eine Aufzeichnung des Bundesfinanzministeriums bekommen. Danach sind allein zwischen 1998 und 2002 die Personalund Sachkosten im Bereich der Bekämpfung der
Schwarzarbeit um fast 44 Prozent gestiegen. Eine Bekämpfung der Symptome führt aber nicht zu höheren
Einnahmen, zumindest dann nicht, wenn die Bekämpfung der Ursachen außen vor bleibt. Herr Bundesfinanzminister, insofern sind die Mehreinnahmen von
1 Milliarde Euro, die Sie ansetzen, mit einem großen
Fragezeichen zu versehen.
({10})
Auch das ist eines der Haushaltsrisiken, mit denen sie
kalkulieren müssen.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von RotGrün, das von Ihnen vorgelegte Gesetz ist ein Etikettenschwindel und findet daher nicht unsere Zustimmung.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Jerzy Montag, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Schwarzarbeit in Deutschland - gewerbliche, organisierte, bandenmäßig verfasste
Schwarzarbeit in Deutschland - ist kein Kavaliersdelikt.
({0})
Diese Kriminalität verursacht uns allen, der Gesellschaft, immense, in die Milliarden gehende Schäden.
Deswegen ist es völlig richtig, dass diese gewerbliche,
organisierte, bandenmäßig verfasste Schwarzarbeit tatkräftig bekämpft wird.
({1})
Das Gesetz, über das wir heute entscheiden, geht insofern den völlig richtigen Weg, als sein Ziel die Schaffung leistungsfähiger Strukturen im Zoll zur Bekämpfung dieser gewerbsmäßigen Schwarzarbeit ist. Das
Gesetz erfüllt dieses Ziel und ist daher richtig. Deswegen ist es aber auch völlig unverständlich, warum Sie,
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sonntagsreden gegen die Schwarzarbeit halten, aber diesem
Gesetz nicht zustimmen wollen.
({2})
Es gibt nicht nur Gesetze, die zu 100 Prozent richtig
sind. Wir müssen uns darauf konzentrieren - das sage
ich in allem Ernst und in aller Sachlichkeit auch zu Ihnen von der Opposition -, was die Zielrichtung ist und
was mit dem Gesetz tatsächlich erreicht wird. Die bandenmäßig verfasste, gewerbliche Schwarzarbeit wollen
Sie alle - wie wir - bekämpfen und Sie behaupten auch
gar nicht, dass dieses Gesetz ein falsches Argument sei.
Es ist auch kein falsches, sondern ein richtiges Argument, und deswegen ist es nicht in Ordnung, dass Sie
Fensterreden gegen die Schwarzarbeit halten, aber dem
Gesetz nicht zustimmen wollen.
({3})
Meine Damen und Herren von der Opposition, genauso wie es keinen Sinn macht, auf Biegen und Brechen gute Gesetze schlechtreden zu wollen, muss es in
diesem Hause erlaubt sein, dieses Gesetz auch bei Zustimmung nicht auf Biegen und Brechen in allen Punkten gutheißen zu müssen. Deswegen erlauben Sie mir,
dass ich einige kritische Anmerkungen zu diesem Gesetz mache.
({4})
Es trifft zu, was der Kollege Schultz ausgeführt hat:
Die so genannte kleine Arbeit im privaten Bereich, die,
wenn sie legal wäre, in den Bereich der Minijobs fiele,
macht ungefähr 15 Prozent aus. Bei denjenigen, die einer solchen Beschäftigung nachgehen, ist ein fehlendes
Unrechtsbewusstsein festzustellen; allerdings möchte
ich ihnen nicht mit erhobenem Finger beibringen, dass
dies höchst kriminell ist. Solche Dienst- und Werkleistungen sind auch nach der derzeitigen Gesetzeslage nicht
in Ordnung; sie sollen und müssen legal ausgeübt werden. Dafür gibt es bereits ein entsprechendes Instrumentarium.
({5})
Es ist aber meiner Meinung nach sowohl bei der Definition der Schwarzarbeit als auch bei der Beschreibung
der Aufgaben der Zollverwaltung in den §§ 1 und 2 des
Gesetzentwurfs nicht ausreichend gelungen, die so genannte kleine Arbeit, die - ich wiederhole mich -, wenn
sie in legalen Beschäftigungsverhältnissen verrichtet
würde, den Minijobs entspräche, von der großen Zahl
von Handlungen im Bereich der Wirtschaftskriminalität
abzugrenzen, die wir gemeinsam bekämpfen wollen.
({6})
Dies ist meiner Meinung nach ein bedauerlicher Fehler
im Gesetzentwurf.
({7})
- Es bringt nichts, an dieser Stelle Beifall zu klatschen,
Frau Kollegin; denn Sie haben im Gesetzgebungsverfahren keinerlei konstruktive Verbesserungsvorschläge dazu
unterbreitet.
({8})
Ihre Zustimmung in diesem Zusammenhang ist für mich
ein Lob von falscher Seite.
Zu einem zweiten Punkt möchte ich kritisch Stellung
nehmen: Es ist völlig richtig gewesen, dass
§ 266 a StGB - bisher die Bestrafung von Arbeitgebern,
die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung vorenthalten - ausgeweitet wird, um die Strafbarkeit auch in
den Fällen zu schaffen, in denen die Arbeitgeber ihre eigenen Verpflichtungen bezüglich der Arbeitgeberanteile
nicht erfüllen. An dieser Stelle gab es eine Gesetzeslücke und es war völlig richtig, sie zu schließen. Dazu
stehe ich.
Aber im Falle des vorliegenden Gesetzentwurfs verbirgt sich die Ausnahme in den Tiefen der Sozialgesetzgebung. Arbeitgeber machen sich nicht schon mit dem
ersten Cent strafbar, den sie vorenthalten; vielmehr greift
die Strafbarkeit erst bei einer höheren Summe. Auch in
dieser Ausnahme, die in der Sache richtig ist, ist es nicht
gelungen, den Bereich der Minijobs von der gewerblichen Schwarzarbeit abzugrenzen.
Insgesamt ist meines Erachtens festzustellen, dass mit
dem Gesetz die richtige Richtung eingeschlagen wird.
Die 85 Prozent, von denen der Kollege Schultz gesprochen hat, werden mit diesem Gesetz ins Visier genommen. Die Milliardenschäden, die die Schwarzarbeit im
gewerblichen Bereich verursacht, können damit - das
hoffe ich sehr - effektiv bekämpft werden. Die Zollverwaltung braucht dafür Kompetenzen, die ihr mit diesem
Gesetz zugewiesen werden.
Wir werden aber in Zukunft sehr sorgfältig prüfen
müssen, ob in der Praxis - wie Sie es geschildert haben,
Herr Kollege Schultz, und wie ich es hoffe - diejenigen
in kleinen Arbeitsverhältnissen, auf die das Gesetz nicht
angewendet werden soll, tatsächlich von den Kontrollmaßnahmen des Zolls verschont bleiben. Wenn dies der
Fall ist - wie ich es hoffe -, dann würden wir mit dem
Gesetz das richtige Ziel verfolgen und auch erreichen.
Wenn wir hinsichtlich der Abgrenzung Nachbesserungsbedarf erkennen sollten, dann können wir dem noch
Rechnung tragen. Deswegen erfolgt auch von meiner
Seite die volle Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Danke.
({9})
Ich erteile Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesagentur für Arbeit hat die aktuelle Statistik zur
Arbeitslosigkeit vorgestellt. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Die Zahl der Erwerbslosen hat - saisonbereinigt - zugenommen. Der Beschäftigungsabbau hat
sich beschleunigt. Die rot-grünen Hartz-Versprechen
sind wie eine Seifenblase geplatzt.
({0})
Die PDS hatte es prophezeit, weil die so genannte Arbeitsmarktreform die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosigkeit bekämpft. Deshalb haben wir hier eine grundlegende Differenz zu Rot-Grün, aber auch zur Opposition
zur Rechten.
({1})
Keine grundlegende Differenz haben wir, wenn es darum geht, die wuchernde Schwarzarbeit zurückzudrängen. Das habe ich hier schon vor Wochen betont und ich
wiederhole: Schwarzarbeit ist weder ausgleichende
Gerechtigkeit noch selbst bestimmter Widerstand.
Schwarzarbeit ist unter dem Strich asozial. Der Schaden
für die Sozialsysteme ist enorm, und nicht nur für diese.
Allerdings - auch das wiederhole ich -: Asozial sind vor
allem jene, die aus organisierter Schwarzarbeit Kapital
schlagen, und erst in zweiter Linie jene, die sich zu
Dumpinglöhnen verdingen. Deshalb muss es bei der
Ahndung von Schwarzarbeit auch entsprechende Prioritäten geben.
Nun hat der neue Entwurf eines Gesetzes gegen
Schwarzarbeit den Bundesrat durchlaufen und wir beraten über ihn heute erneut und abschließend. Wie Sie wissen, haben auch die rot-rot regierten Bundesländer Berlin und Mecklenburg-Vorpommern dem Gesetzentwurf
grundsätzlich zugestimmt. Aber es gab auch Kritik. In
diesem Zusammenhang möchte ich noch zwei Punkte
anmerken. Erstens. Es gibt in nahezu allen Bundesländern interdisziplinäre Ermittlungsgruppen gegen
Schwarzarbeit. Zu den anerkannt erfolgreichen gehört
die Berliner Ermittlungsgruppe. Umso unverständlicher
ist es, wenn dieser regionale Sachverstand künftig weniger wichtig sein soll, als es nötig wäre. Das versteht niemand.
({2})
Mein zweiter Kritikpunkt betrifft die Prioritäten. So
richtig es ist, Schwarzarbeit zu ahnden, so wichtig ist es
auch, Schwarzarbeit zu vermeiden.
({3})
Es gibt aber Hunderttausende Menschen, die regelrecht
in Schwarzarbeit gedrängt werden, weil ihnen legale
Arbeit in der Bundesrepublik verwehrt wird. Das hat viel
mit dem Ausländerrecht bzw. -unrecht zu tun. Das
hängt aber auch mit den Hängepartien beim EU-Recht
zusammen. Ich möchte dazu nur anmerken: Die Grünen
haben zu Recht die Verhandlungen mit der CDU/CSU
über ein modernes Einwanderungsrecht aufgegeben;
denn egal worum es geht, CDU und CSU verstehen eigentlich immer nur Polizei oder Terrorabwehr.
({4})
Nun noch eine abschließende Bemerkung: Die Ächtung von Schwarzarbeit hat viel damit zu tun, ob es allgemein gerecht oder ungerecht zugeht. Obsiegt das Gefühl „Jeder ist sich selbst der Nächste“ und „Wer hat, der
hat“, dann findet auch Schwarzarbeit bereitwillige Geber
und Nehmer. Das Gefühl von Ungerechtigkeit ist aber
weit verbreitet. Das Schlimme ist: Es ist nicht nur ein
Gefühl. Die rot-grüne Agenda 2010 nährt Unrecht und
die Programme der Unionsparteien sowie der FDP lassen sogar noch Schlimmeres befürchten. Das ist ein tiefer Widerspruch; denn Sie können nicht Wasser predigen
und die Weintrinker belohnen.
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, auf die heute
veröffentlichten Schätzungen zu schauen, wie viele
Menschen vom 1. Januar 2005 an vom Arbeitslosengeld II, diesem arm machenden Geld, betroffen sein werden bzw. überhaupt keine Bezüge mehr bekommen
werden. Was sagen Sie eigentlich diesen Menschen im
Hinblick auf ihre Zukunftsperspektiven?
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Hinsken, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst möchte ich ganz kurz auf das eingehen, was Sie,
Herr Kollege Montag, ausgeführt haben. Ihre Rede ist
voller Widersprüche gewesen. Einerseits haben Sie die
Kriminalität angesprochen, die auf dem hier zur Diskussion stehenden Gebiet zu verzeichnen ist, und wollen die
entsprechenden Vorschriften verschärfen und mehr reglementieren. Andererseits wollen Sie - wie beim Handwerksrecht - bewährte Regelungen ändern. Dagegen
sind wir; das machen wir nicht mit.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Welt,
in der wir leben, ist schon seltsam: Die Wirtschaft stagniert und die Schwarzarbeit galoppiert. Allein in den
letzten sechs Jahren hatte die Schwarzarbeit einen Zuwachs um 32 Prozent zu verzeichnen. Das gab es in keinem anderen Land der Europäischen Union. Folgende
Feststellung muss uns allen doch zu denken geben: Es
gibt in Deutschland nur eine einzige Wachstumsbranche,
nämlich die Schwarzarbeit. Sie ist obendrein der am
schnellsten wachsende Wirtschaftsbereich in der Bundesrepublik Deutschland. Neueste Arbeitsmarktstatistiken zeigen - das ist das Schlimmste dabei -: Die Zahl
der legal Erwerbstätigen sinkt, während die Zahl der
Schwarzarbeiter steigt.
Für uns alle ist es sehr wichtig, festzustellen: Für fast
jeden zweiten Mitbürger ist die Schwarzarbeit ein Kavaliersdelikt. Es ist Aufgabe der gesamten Politik, Zusammenhänge verstärkt klar zu machen; denn den meisten
Mitbürgern ist nicht bewusst, dass die Schwarzarbeit einer der Totengräber für den ehrlich arbeitenden kleinen
und mittleren Unternehmer und für den Arbeitslosen ist,
die gern arbeiten würden.
({0})
Der Anteil der Schattenwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt ist seit 1998 in 17 OECD-Mitgliedstaaten
zurückgegangen, zum Beispiel in Italien, in Großbritannien, in Frankreich, in den USA und in Japan. Diese
Länder machen uns vor, wie man es macht. Unter den
weltweit führenden Industriestaaten ist Deutschland zusammen mit Österreich, was die Zunahme der Schwarzarbeit angeht, in der Zwischenzeit - das wollten wir eigentlich nur bei der Fußballweltmeisterschaft 2006
werden - Weltmeister geworden. Das ist wahrlich ein
trauriger Rekord.
({1})
Unbestritten ist: Schwarzarbeit muss entschieden bekämpft werden. Das wurde bereits von den Vorrednern,
Frau Wülfing, Herrn Müller und anderen, gesagt. Auch
in unserem Staat muss gelten: Gib dem Kaiser, was des
Kaisers ist, und Gott, was Gott gebührt. Es geht auf
Dauer nicht, dass der Ehrliche der Dumme ist.
Man muss aber richtig ansetzen. Sie würden dann
richtig ansetzen, wenn Sie sich Verschiedenes von dem
zu Eigen gemacht hätten, was dem heutigen Entschließungsantrag unserer Fraktion zu entnehmen ist.
Der renommierte Wirtschaftsprofessor Schneider aus
Linz sagte in einem Interview mit dem „Straubinger
Tagblatt/Landshuter Zeitung“ von gestern, dass dem
Staat durch Schwarzarbeit jährlich Steuereinnahmen
mindestens in Höhe von 50 Milliarden Euro entgehen.
Was die Sozialsysteme der Bundesrepublik Deutschland
angeht, ist dieser Betrag mindestens genauso hoch.
Ich muss noch einmal sagen: Sie von Rot-Grün packen die Sache falsch an. Statt nur auf Repression zu setErnst Hinsken
zen, müssen die Ursachen der Schwarzarbeit viel stärker
bekämpft werden.
({2})
Dazu gehören in erster Linie die Senkung von Steuern
und Abgaben, die Flexibilisierung und Entrümpelung
des Arbeitsmarktes und der Abbau von Bürokratie.
Wenn der Bürger wieder mehr in der Tasche hat, dann
wird er nicht in die Schwarzarbeit getrieben. Herr Finanzminister Eichel, auch das muss berücksichtigt werden.
({3})
Rot-Grün stellt Bürger und Unternehmen unter den
Generalverdacht der Schwarzarbeit. Das ist für sie ein
Schlag ins Gesicht. Die Mehrzahl verhält sich nämlich
gesetzestreu. Herr Eichel, je länger diese Bundesregierung aber nicht in der Lage ist, die Probleme unseres
Landes zu lösen, desto weniger werden sich die Bürger
mit dem Staat identifizieren. Die Bürger wollen nicht,
dass der Staat alles bis ins Kleinste regelt und sie als unmündig hinstellt.
Rot-Grün plant jetzt unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Schwarzarbeit einen weiteren Angriff auf
das Handwerksrecht. Das zeigt doch deutlich, worum
es Ihnen überhaupt geht: Das Handwerk soll weiter zerschlagen werden. Ich sage Ihnen: Mit uns nicht!
({4})
Durch die Ich-AGs wird der Schwarzarbeit in diesem
Bereich doch bereits Tür und Tor geöffnet. Alle Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Wie viele Kontrolleure will die Bundesregierung eigentlich beschäftigen,
um nachzuprüfen, ob jeder einzelne Ich-AGler wirklich
nur 25 000 Euro Arbeitseinkommen im Jahr hat?
Völlig unverständlich ist auch, dass die Bundesregierung Verletzungen der handwerklichen Eintragungspflichten und der gewerberechtlichen Anzeigepflichten
nicht mehr als Schwarzarbeit verfolgen will. Bewährte
Vorschriften, Herr Kollege Montag, die seit 1957 gelten,
sollen abgeschafft werden. Sie von Rot-Grün vergessen
- das möchte ich Ihnen noch einmal zurufen; damit will
ich Ihnen ins Gewissen reden -: Wer sich nicht richtig
beim Gewerbeamt anmeldet, der ist auch bereit schwarzzuarbeiten.
Ihr Hü und Hott ist nicht nachvollziehbar. Erst Mitte
2002 wurden die bestehenden Bußgeldvorschriften in
einem Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit erheblich verschärft. Jetzt sollen sie auf einmal nicht mehr
notwendig sein. Das versteht in den Betrieben niemand.
So etwas ist auch nicht nachvollziehbar. Ich nenne nur
ein Beispiel: Wenn jemand ohne Führerschein oder ohne
Anmeldung des Autos fährt, wird er bestraft. Hier dagegen sagt man: Kavaliersdelikt; das ist nicht erforderlich.
- Das versteht wirklich niemand mehr. Machen Sie doch
endlich eine Politik, die die Leute noch nachvollziehen
können, die sie kapieren!
({5})
Ganz gefährlich wird es bei der von Rot-Grün geplanten Bußgeldbewehrung für den Fall, dass jemand mit
Schwarzarbeit gegen die Zulassungspflicht bei gefahrengeneigten Handwerken verstößt. Gerade die Gefahrengeneigtheit war doch für Bundesminister Clement im
letzten Jahr noch das wichtigste Kriterium für die Einstufung von Gewerken in die Anlage A. Nach der Gewerbeordnung werden Verstöße als Straftatbestand mit
Freiheitsstrafe oder einer saftigen Geldstrafe geahndet.
Schließlich geht es hier um Gefahren für die Gesundheit
oder das Leben Dritter. Das alles wird von Ihnen vergessen. Das ist für Sie von vorgestern. Sie schlagen das alles
in den Wind. Eine Bußgeldbewehrung soll die Schwarzarbeit eindämmen. Geht das nicht völlig an der Realität
vorbei und gefährdet das nicht die Existenz Zehntausender von Betrieben?
Ich sage Ihnen von der Bundesregierung voraus: Dieses Gesetz ist völlig ungeeignet, die Schwarzarbeit wirksam zu bekämpfen.
({6})
Es ist eine Binsenweisheit: Eine Krankheit heilt man
nicht, indem man an den Symptomen herumdoktert.
Man wird nur gesund, wenn den Ursachen der Leiden
entschlossen zu Leibe gerückt wird. - So ist es auch bei
der Schwarzarbeit. Wir brauchen einen Mix aus Repression und Prävention; denn Schwarzarbeit geht nur zurück, wenn die Anreize dafür verschwinden. Die Devise
muss deshalb lauten: Legale Arbeit muss sich endlich
wieder lohnen. Mit dem Gesetzentwurf, den Sie mehrheitlich durchdrücken werden, werden Sie das nicht
schaffen. Es ist höchste Zeit, dass wir wieder das Ruder
in die Hand bekommen,
({7})
um hier danach zu trachten, dass es auch für diejenigen,
die von der Schwarzarbeit negativ betroffen sind, wieder
besser wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile Kollegen Florian Pronold, SPD-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Hinsken, wenn jeder zweite Bürger Schwarzarbeit für ein Kavaliersdelikt hält, dann
kann das etwas damit zu tun haben, welche Reden im
Deutschen Bundestag vonseiten der Opposition gehalten
werden.
({0})
Sie alle geben hier nur Lippenbekenntnisse ab. Sie sagen, Sie stimmten mit uns in der Zielsetzung überein und
wollten mit uns gemeinsam die Schwarzarbeit bekämpfen, aber dann klingen 99 Prozent Ihrer Redeinhalte so,
als würde ein Rechtsanwalt irgendwo vor Gericht jemanden verteidigen, der gerade wegen Schwarzarbeit angeklagt ist.
({1})
Liebe Frau Kollegin Wülfing, ich hatte fast den Eindruck, dass Sie hier in einem neuen Wettbewerb antreten
und Schutzheilige werden möchten: Elke, die Schutzheilige für die Schwarzarbeiter und die Steuerhinterzieher.
Anders kann man Ihren Redebeitrag nicht werten.
({2})
Wenn ich mir vor Augen führe, was vonseiten der
FDP außerhalb dieses Hauses geäußert wird, nämlich
dass Schwarzarbeit sozusagen Notwehr gegenüber dem
Staat ist, dann frage ich mich wirklich: Welches Rechtsbewusstsein wird den Bürgerinnen und Bürgern vermittelt? Wie kann man sich ernsthaft darüber wundern,
wenn in diesem Haus solche Redebeiträge gehalten werden? Wundern muss man sich dann eher darüber, dass
nur jeder zweite Bürger Schwarzarbeit für ein Kavaliersdelikt hält.
({3})
Wenn die Höhe der Steuerbelastung ausschlaggebend
für die Höhe des Anteils der Schwarzarbeit wäre, dann
müsste die Schwarzarbeit doch zurückgehen, weil wir
im Vergleich zu Ihrer Regierungszeit die Bürgerinnen
und Bürger und die Unternehmen massiv und deutlich
steuerlich entlastet haben.
({4})
Wenn dieser einfache Wirkungszusammenhang richtig
wäre, dürften wir momentan überhaupt kein Problem haben.
Dann sagen Sie, die Sozialabgabenquote sei zu hoch.
Rechnen Sie doch einmal an einem konkreten Beispiel
unter Zugrundelegung der derzeit gezahlten Löhne für
eine Handwerkerstunde durch, wie hoch die Entlastung
wäre, wenn Ihr Vorschlag, die Quote auf 40 Prozent zu
senken, umgesetzt würde! Dann kostet eine Handwerkerstunde - da gibt Ihnen der Kollege Dreßen gerne
Nachhilfe; er hat es nämlich einmal ausgerechnet 20 Cent weniger. Sie aber glauben allen Ernstes, dass
das einen Anreiz zu mehr legaler Beschäftigung geben
würde. Glauben Sie angesichts der unterschiedlichen
Lohnstruktur zwischen dem, was schwarz gezahlt wird,
und dem, was bei legaler Beschäftigung zu verdienen ist,
wirklich, dass eine Verbilligung einer Handwerkerstunde
um 20 Cent zu einer massenhaften Bewegung von
Schwarzarbeit hin zu legaler Beschäftigung führen
würde? Es gibt nur zwei Wege dorthin:
Erstens müssen wir Politiker alle gemeinsam deutlich
machen, dass jede Form von Schwarzarbeit eine gesellschaftliche Fehlentwicklung ist, die es zu verurteilen
gilt, und alles, was in diesem Bereich passiert, massiv
abgelehnt wird.
Zweitens muss auch wirklich kontrolliert werden.
({5})
Denn dort, wo keine Kontrolle stattfindet, ist dem Missbrauch immer Tür und Tor geöffnet. Es wundert mich,
dass Sie, die Sie sonst immer so vehement für Recht und
Ordnung kämpfen, dann, wenn es darum geht, Recht und
Ordnung auch wirklich durchzusetzen - das kann man
nur über Kontrolle -,
({6})
hier anführen, dass eine Mordsbürokratie entstehe. Das
passt doch hinten und vorne nicht zusammen.
({7})
Die Union muss wirklich aufpassen. Wenn im Sozialkundeunterricht gefragt wird, warum man denn die
Unionspolitiker als die Schwarzen bezeichnet, würde
heute wohl geantwortet werden: weil die immer schwarz
sehen und alles nur schwarz malen, oder: wegen des vielen Schwarzgeldes in Hessen.
({8})
Zukünftig wird vielleicht auch noch geantwortet: weil
die für die Schwarzarbeit sind.
({9})
Sie müssen auch im eigenen Interesse darauf aufpassen,
in welchem Licht Sie in Zukunft selber stehen.
({10})
Ich bitte Sie inständig: Wenn Sie das von uns vertretene Ziel wirklich ernsthaft mittragen, dann stimmen Sie
dem vorliegenden Gesetzentwurf zu, in dem wir fast alle
Vorschläge des Bundesrates, in dem Sie die Mehrheit haben, eingearbeitet haben.
({11})
Machen Sie deutlich, dass Sie Schwarzarbeit wirklich
bekämpfen wollen, und geben Sie nicht irgendwelche
Lippenbekenntnisse ab. Zeigen Sie auch mit Ihrem Abstimmungsverhalten hier der Schwarzarbeit die rote
Karte und geben Sie nicht immer nur Lippenbekenntnisse ab.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Roland Gewalt, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine
Damen und Herren Kollegen von der rot-grünen Koalition, wenn man Ihre Wortbeiträge Revue passieren lässt,
kommt man zu der Feststellung, dass Sie offensichtlich
unsere Änderungsanträge, die wir im Innenausschuss
und im Finanzausschuss gestellt haben, nicht einmal gelesen haben.
({0})
Wir, meine Damen und Herren, haben eine Verschärfung
der Strafvorschriften gefordert. Diese haben Sie abgelehnt. Wir haben für die Bekämpfung der Schwarzarbeit
die Zulassung der Überwachung der Telekommunikation
gefordert. Auch das haben Sie abgelehnt. Hier von einer
Zurückhaltung der Union zu sprechen ist nun wirklich
deplatziert.
Herr Minister Eichel hat heute noch einmal das Ziel
formuliert, das er mit diesem Gesetz verfolgt. Er hat gesagt, dass für ihn die Bekämpfung der organisierten
Kriminalität im Zusammenhang mit Schwarzarbeit im
Vordergrund steht. In diesem Gesetzesziel stimmen wir
nahtlos mit der Bundesregierung überein. Nur, meine
Damen und Herren, dieses Gesetzesziel erreicht Ihr
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz nicht.
({1})
Ganz im Gegenteil: Es erschwert sogar die Bekämpfung
der organisierten Kriminalität.
({2})
Experten aus den Landeskriminalämtern, Herr Montag,
und Innenminister der SPD - gar nicht einmal von uns haben immer wieder auf die gravierenden Schwachstellen dieses Gesetzentwurfes hingewiesen.
({3})
Sie sind damit im Bundesfinanzministerium auf taube
Ohren gestoßen. Offenbar war der Finanzpolitiker Eichel
der Auffassung, bei der Bekämpfung der organisierten
Kriminalität im Bereich der Schwarzarbeit den Rat von
Fachleuten nicht zu benötigen.
Es verwundert daher nicht, dass der Berliner Innensenator, Dr. Ehrhart Körting, ein Parteifreund von Ihnen,
seine geharnischte Kritik am rot-grünen Gesetzentwurf
über die Berliner Presse artikulierte. Der Berliner „Tagesspiegel“ titelte: „Innensenator kritisiert Gesetzentwurf zur illegalen Beschäftigung: Kampf gegen organisierte Kriminalität wird erschwert“.
({4})
In der Tat bremst der rot-grüne Gesetzentwurf vor allem die Landeskriminalämter in ihrem Kampf gegen die
organisierte Kriminalität regelrecht aus. Datenschutzrechtliche Vorschriften verhindern, dass der Zoll wichtige Erkenntnisse über Menschenschmuggel, Urkundenfälschung und Subventionsbetrug an die hierfür nach wie
vor zuständigen Landeskriminalämter unbürokratisch
weiterleiten kann. Selbst bei einem so wichtigen Anliegen wie der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
überzieht die Bundesregierung den Datenschutz derart,
dass er letztlich zum Täterschutz wird.
({5})
Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat Sie fast
einstimmig aufgefordert, den Informationsaustausch
zwischen Polizei und Zoll im Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz deutlich zu erleichtern. Auch bei einer Anhörung im Finanzausschuss wurde von den Experten der
Kriminalpolizei bis hin zum Zoll unisono eine vollständige - ich betone: vollständige - Rücknahme der datenschutzrechtlichen Bestimmungen eingefordert. Zumindest in der SPD-Fraktion scheint das - Herr Kollege
Schultz, Sie haben in der Anhörung darauf hingewiesen - Wirkung gezeigt zu haben. Mit Ihren Änderungsanträgen, mit denen der Gesetzentwurf der Bundesregierung nachgebessert wurde, nähern Sie sich den Änderungswünschen der CDU/CSU-Fraktion wenigstens in
Teilbereichen an. Aber Ihr grüner Koalitionspartner verhindert offensichtlich, gerade was die datenschutzrechtlichen Bestimmungen angeht, noch immer ein akzeptables Ergebnis. Die Polizei hat zwar jetzt Zugang zur
Datenbank „Schwarzarbeit“ des Zolls, aber nur mit massiven Beschränkungen, die die Arbeit behindern. Dies
macht gerade eine Fortführung der Arbeit der ausgesprochen erfolgreich tätigen gemeinsamen Ermittlungsgruppen von Zoll und Kriminalpolizei äußerst schwierig. Es
ist doch geradezu grotesk, wenn der Kriminalpolizeibeamte einer solchen Ermittlungsgruppe nicht auf die gleiche Datenbank Zugriff nehmen kann wie der neben ihm
arbeitende Mitarbeiter des Zolls, der im gleichen Fall ermittelt. Das geht nicht.
({6})
Wer die organisierte Kriminalität im Bereich der
Schwarzarbeit bekämpft, hat es zwangsläufig auch mit
anderen schweren Straftaten wie Menschenschmuggel
oder Drogendelikten zu tun, die nicht in den Zuständigkeitsbereichs des Zolls fallen. Deshalb besteht die Notwendigkeit einer entsprechenden Datenübermittlung.
Nur dann ist es den gemeinsamen Ermittlungsgruppen
möglich, ihre Arbeit zu tun. Diese Arbeit wird durch den
Gesetzentwurf behindert. Deshalb werden wir ihm auch
nicht zustimmen.
Ein weiterer Schwachpunkt des rot-grünen Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes ist, dass Täter, die Schwarzarbeit in großem Stil organisieren, strafrechtlich kaum
anders eingeordnet werden als Gelegenheitstäter. So
sieht es der rot-grüne Gesetzentwurf vor. Wenn man, wie
es ein Experte bei der Anhörung formulierte, „Raubtiere
zur Strecke bringen will“, dann muss man auch bei der
Formulierung des Gesetzestextes ein größeres Kaliber
wählen. Wer gewerbsmäßig Schwarzarbeit organisiert,
wer in großem Ausmaß Leistungen zu Unrecht erlangt,
wer professionell Belege fälscht oder wer die Mithilfe
eines Amtsträgers ausnutzt, der darf nicht mit einer
Geldstrafe davonkommen, wie es Ihr Gesetzentwurf vorsieht. Hier muss, auch zur Abschreckung, eine Mindestfreiheitsstrafe ins Gesetz, die Sie aber abgelehnt haben.
({7})
Auch der Referentenentwurf des Finanzministeriums,
der der Gesetzesvorlage vorausging, sah noch im Oktober letzten Jahres eine entsprechende Strafschärfung vor.
Auf wundersame Weise ist diese sehr sinnvolle Regelung dann aber in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung herausgestrichen worden. Änderungsanträge der
CDU/CSU, die strafschärfenden Tatbestände in das Gesetz wieder aufzunehmen - sie waren im Referentenentwurf ursprünglich enthalten -, wurden von Ihnen abgelehnt. Es reicht eben nicht - wie Sie es heute hier blumig
getan haben -, mit starken Worten der organisierten Kriminalität bei der Schwarzarbeit den Kampf anzusagen.
Es müssen im Gesetzgebungsverfahren dann auch die
notwendigen Strafvorschriften geschaffen werden, die
Sie aber nicht eingeführt haben.
({8})
Lieber Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Bei Berufsverbrechern werden Sie mit dem erhobenen Zeigefinger wenig Eindruck hinterlassen.
Die CDU/CSU-Fraktion wird Ihren Gesetzentwurf
ablehnen, weil er Berufsverbrechern keine Schranken
setzt, was aber notwendig wäre, um die organisierte Kriminalität zu bekämpfen.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen so-
wie von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent-
würfe zur Intensivierung der Bekämpfung der
Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuer-
hinterziehung, Drucksachen 15/2573 und 15/2948. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung, die genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur In-
tensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und da-
mit zusammenhängender Steuerhinterziehung in der
Ausschussfassung anzunehmen, Drucksachen 15/3077
und 15/3079. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimment-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom-
men.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Dazu liegt eine persönliche Er-
klärung der Kollegen Montag, Winkler und Dümpe-
Krüger vor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der beiden fraktionslosen Abgeordneten gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3081?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3080? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der anderen Abgeordneten des Hauses abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje
Blumenthal, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten
Buches Sozialgesetzbuch ({0})
- Drucksache 15/1114 ({1})
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Sozialgesetzbuches - Achtes
Buch - ({2})
- Drucksache 15/1406 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({4})
- Drucksache 15/3000 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Rupprecht ({5})
Jutta Dümpe-Krüger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Kin-
der- und Jugendhilfegesetz, das nun schon über zehn
Jahre besteht, hat sich bewährt und zu einer Qualifizie-
rung der Angebote im Interesse der Kinder, der Jugendli-
1) Anlage 2
chen und der Familien beigetragen. Die Kommunen,
aber auch die Träger der Jugendhilfe haben seither viel
geleistet.
Allerdings müssen wir feststellen, dass die Ausgaben
enorm angestiegen sind. Ständig neue Ausgabenbelastungen und wiederholte Eingriffe in die Einnahmenseite
drohen die kommunale Selbstverwaltung auszuhöhlen.
Die Finanzlage der Kommunen hat sich so zugespitzt,
dass manche Städte und Gemeinden nicht mehr in der
Lage sind, einen ordnungsgemäßen Haushalt vorzulegen.
({0})
Der Kostenanstieg in der Kinder- und Jugendhilfe hat
daran leider einen großen Anteil. Innerhalb von zehn
Jahren, von 1992 bis 2002, sind die Kosten um rund
6 Milliarden Euro - das sind 41 Prozent - gestiegen.
Dem können wir nicht tatenlos zusehen. Zahlreiche Hilferufe von Landräten, Oberbürgermeistern und Bürgermeistern erreichen uns.
Der Bayerische Landkreistag hat eine Reihe von Fällen gesammelt, die der Gesetzgeber so nicht gewollt hat.
Gute Ansätze des Kinder- und Jugendhilfegesetzes führen in einigen Fällen zu einem Missbrauch von Leistungen. Das können wir nicht hinnehmen. Die Union hat daher einen Antrag zur Beseitigung der Auswüchse in den
Bundestag eingebracht.
In einem Zeitungsartikel vom 29. Februar dieses Jahres hat Frau Ministerin Renate Schmidt Handlungsbedarf eingeräumt. Es kam sogar im März zu einem gemeinsamen Entschließungsantrag der Länder Bayern
und Nordrhein-Westfalen. - Die Ministerin ist leider
nicht da. Ich sehe auch keine Staatssekretärin. ({1})
Diese beiden Länder, Nordrhein-Westfalen und Bayern,
hatten sich stellvertretend für die B- und die A-Länder
immerhin in zehn Punkten geeinigt und dabei Forderungen unseres Antrages aufgegriffen. Umso unverständlicher und unbegreiflicher ist es daher, dass Rot-Grün unseren Gesetzentwurf im Ausschuss abgelehnt hat.
Die Ziele des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sind
erstens die Befähigung der Eltern, Kinder zu eigenverantwortlichen Menschen zu erziehen, zweitens die Unterstützung der Eltern in schwierigen Erziehungssituationen und drittens die nachhaltige Förderung der
Erziehung in Familien. Das SGB VIII verlangt erheblich
mehr als die Gewährung von Hilfen. Es verpflichtet uns
vor allem zu einer nachhaltigen Förderung der Erziehung in den Familien. Der Leistungsbereich der Förderung der Erziehung stagniert, weil ihm die Aufgaben der
Jugendhilfe kaum Entwicklungsmöglichkeiten lassen.
Dabei wissen wir alle: Prävention hilft, Probleme zu verhindern.
Die Jugendämter sind aber immer weniger in der
Lage, diagnostische und pädagogische Hilfe zu leisten
und als Fachbehörde Eltern und Erziehern beizustehen.
Sie werden in erster Linie nur noch als Kostenträger gesehen. Dies gilt insbesondere für die Eingliederungshilfe. Daher wollen wir mit unserem Gesetzentwurf insbesondere eine Änderung der §§ 35 a und 41 SGB VIII
erreichen. Die Jugendämter erhoffen sich von einer Änderung des SGB VIII klare gesetzliche Regelungen. Die
Erfahrung aus der Praxis zeigt, dass eindeutige Altersgrenzen und klar geregelte Zuständigkeiten dabei die
wichtigsten Instrumente sind.
In Zeiten knapper Gelder müssen die Leistungen nach
dem Kinder- und Jugendhilfegesetz verstärkt nach Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen hinterfragt werden. Eltern, die wirtschaftlich dazu in der Lage
sind, ist es durchaus zuzumuten, sich an den Kosten der
Kinder- und Jugendhilfe zu beteiligen.
Ein besonderer Handlungsbedarf besteht bei § 35 a
SGB VIII. Hier haben sich innerhalb von nur fünf
Jahren, von 1997 bis 2002, die Ausgaben mehr als verdoppelt. So werden aufgrund des Tatbestandes einer
seelischen Behinderung Jugendämter derzeit per Gerichtsbeschluss zur Finanzierung einer teuren Eliteprivatschule im Ausland verpflichtet.
({2})
Dies führt zu Mitnahmeeffekten und falschen Anreizwirkungen. Von bestimmten Interessengruppen wird diese
Vorschrift sogar als freier Markt verstanden.
Die Jugendämter und letztlich der Steuerzahler dürfen
nicht als goldener Esel missbraucht werden. Es geht darum, bei den Paragraphen, welche zu einem erheblichen
Kostenanstieg geführt haben, klar abzugrenzen.
Bei der Beratung des Gesetzentwurfs im Ausschuss
wurde von Ihnen, meine Damen und Herren von RotGrün, ein Änderungsbedarf bei den §§ 35 a und 41
SGB VIII mit dem Hinweis verneint, dass die Zahl der
Hilfen nur gering sei.
({3})
Sie haben aber in der Anhörung erlebt, dass zum Beispiel der Jugendamtsleiter der Stadt Regensburg mit
konkreten Beispielen das Gegenteil bewiesen hat. Eine
Kostensteigerung bei den teilstationären Hilfen innerhalb von zwei Jahren um 340 Prozent - Sie haben richtig
gehört - ist wahrlich kein geringer Anstieg.
({4})
Jetzt werden Sie sagen: Das ist ja nur ein Einzelfall. Es ist aber kein Einzelfall, wie uns zahlreiche Kommunalpolitiker bestätigen.
({5})
Hier wird eine Regelung missbraucht und diesen Missbrauch müssen wir verhindern.
({6})
In der ersten Lesung hat Frau Staatssekretärin
Riemann-Hanewinckel Gesprächsbereitschaft signalisiert. Aber was hilft die Gesprächsbereitschaft, ja sogar
ein gemeinsames Papier von Nordrhein-Westfalen und
Bayern, wenn Ihre konkreten Beschlüsse fehlen? Sie haben die Zustimmung aus taktischen Gründen verweigert;
({7})
denn wie man hört und wie Ihre Ministerin im Ausschuss bestätigt hat, wollen Sie in einem anstehenden
Gesetz zur Kinderbetreuung einige von uns gemachte
Vorschläge aufgreifen.
({8})
Warum stimmen Sie dann diesem Gesetzentwurf nicht
schon heute zu? Wir würden wertvolle Zeit für die Kommunen gewinnen
({9})
und den Kommunen Kosten sparen helfen, wenn Sie hier
und heute unserem Gesetzentwurf zustimmten.
({10})
Taktische Finessen sind angesichts der katastrophalen
Haushaltslage der Kommunen völlig unverständlich und
unmoralisch. Wir wollen auch in Zukunft jungen Menschen eine Chance auf positive Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Daher gilt es stärker als bisher, die knapper werdenden Ressourcen ziel- und zweckgerichtet
einzusetzen. Die Kernaufgabe der Jugendhilfe, nämlich
die Förderung der Erziehung in der Familie, muss wieder in den Mittelpunkt des Gesetzes und der Aufgaben
der Jugendämter gestellt werden.
({11})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Marlene
Rupprecht, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle, die Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, des
Bundesrates - eine Vertreterin aus Bayern ist da - und
der Bundesregierung und alle Fachleute, sind uns einig
- das wurde in der Anhörung im Dezember deutlich -,
dass sich das Kinder- und Jugendhilfegesetz - SGB VIII grundsätzlich bewährt hat.
({0})
Es war und ist auch nach 13 Jahren immer noch ein
sehr modernes Gesetz. Es stellt nämlich die Interessen
der Kinder und Jugendlichen und deren Familien in den
Mittelpunkt. Beginnend schon in verschiedenen Absätzen des § 1 bis hin zu den letzten Paragraphen stehen
immer die Interessen der Kinder und Jugendlichen im
Zentrum des Gesetzes. Das ist das Moderne und Erhaltenswerte an diesem Gesetz.
({1})
Durch dieses Gesetz werden dem Träger der Jugendhilfe und dem Jugendamt Aufgabenfelder zugewiesen.
Sie sind Gestalter, Dienstleister und Wächter mit hoheitlichen Pflichten zum Schutz der Kinder. Diese Aufgaben
sind im Gesetz eindeutig geregelt.
Wir diskutieren heute vor dem Hintergrund öffentlicher Medienkampagnen, anders kann ich das nicht bezeichnen. So wie vor einem Jahr der Sozialhilfeempfänger Florida-Rolf werden jetzt die Intensivpädagogik in
Griechenland und das Internat in Schottland - es geht
um Millionärskinder, die unberechtigt von der Jugendhilfe finanziert wurden - von den Medien aufgegriffen.
Es sind also Skandale und sicher auch einige Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit gelangt, wobei ich
mich allerdings immer frage, wie in diesen Fällen der
Datenschutz gewahrt wird, der im Kinder- und Jugendhilfegesetz eindeutig festgeschrieben ist.
Vor dem Hintergrund dieser Medienkampagnen haben wir heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates und
einen der CDU/CSU zur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zu beraten. Jedem steht es frei - das
ist völlig legitim -, zu überprüfen, ob das, was vor
13 Jahren beschlossen und als Zielsetzung festgelegt
wurde, den heutigen Ansprüchen und Gegebenheiten
noch entspricht, ob die Ziele, die wir damals festgelegt
haben, tatsächlich noch erreicht werden können.
Die hier vorliegenden Gesetzentwürfe müssen daraufhin überprüft werden, ob die vorgesehenen Änderungen dem Sinn und Gehalt des Gesetzes entsprechen oder
ob sie das Kinder- und Jugendhilfegesetz in der Substanz
verändern. Diese Frage müssen Sie beantworten.
In der Begründung des CDU/CSU-Gesetzentwurfs
- das ist nicht von mir - heißt es:
Angesichts der prekären Finanznot der öffentlichen
Kostenträger werden von den Kommunen deshalb
bundesweit seit längerem u. a. gesetzliche Änderungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz mit dem
Ziel der Kostendämpfung massiv reklamiert.
Die Kostendämpfung ist das einzige Ziel Ihres Entwurfes.
({2})
Sie stellen nicht die Frage, ob mit den Hilfen, die bisher gewährt wurden, das Ziel des Kinder- und Jugendhilfegesetzes erfüllt worden ist.
({3})
Ist es tatsächlich so umgesetzt worden? Darüber reden
wir heute. Ich werde mir Ihre Entwürfe daraufhin genau
anschauen. Sie enthalten einige ganz tolle Punkte.
An einigen Stellen sind die Vorgaben des Gesetzes
bisher erfüllt worden. In § 80 SGB VIII - Jugendhilfeplanung - heißt es: Man muss im Rahmen der Jugendhilfeplanung den Bestand feststellen, den Bedarf ermitMarlene Rupprecht ({4})
teln und ein Angebot vorhalten, das nicht nur kurz-,
sondern auch mittelfristig den Bedarf deckt.
({5})
Das, was bisher gemacht worden ist, muss kontinuierlich
fortgeführt werden.
Gehen Sie raus in die Lande. Die Jugendhilfeplanung
ist in der Praxis sehr unterschiedlich umgesetzt worden.
Deshalb sind auch bei den Angaben zur Kostenexplosion
keine Gründe, Ursachen und Fallzahlen genannt worden.
Da müssen Sie alle passen und können das nicht angeben. Jeder einzelne Jugendamtschef kann das machen,
wie er will, kann vorgeben, was er will. Erfüllen Sie deshalb die im Gesetz vorgeschriebene Aufgabe der Jugendhilfeplanung - und das kontinuierlich.
({6})
Weiterhin ist in Ihrem Gesetzentwurf die Einführung
von Altersbegrenzungen enthalten. Dahinter steckt folgendes Menschenbild - das findet man immer wieder -:
Als sei der Mensch geklont, lernt er im gleichen Rhythmus, entwickelt sich im gleichen Rhythmus und ist mit
18 schlagartig erwachsen.
({7})
Das entspricht schlicht und ergreifend nicht der Realität. Deshalb ist im bestehenden Gesetz in § 41 SGB VIII
die Regelung enthalten, dass Jugendhilfemaßnahmen
über das 18. Lebensjahr hinaus bis maximal zum 21. Lebensjahr fortgesetzt werden können.
({8})
Selbst danach können noch Beratung und Unterstützung
gewährt werden, wenn sie beim Übergang ins Erwachsenenleben benötigt werden. Dies geht von einem Menschenbild aus, das nicht geklont ist, sondern orientiert
sich an dem tatsächlichen Leben der Menschen. Das ist
immer noch das Moderne an dem Gesetz.
Nun komme ich zu § 35 a SGB VIII. Sie schlagen
vor, die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte
Kinder und Jugendliche wesentlich einzuschränken.
Wenn Sie dem bisherigen § 35 a SGB VIII Schwammigkeit vorwerfen, gilt das für die neue Regelung noch
mehr.
({9})
Denn § 35 a SGB VIII beinhaltet eindeutig Leistungen
aufgrund seelischer Behinderungen, die nach internationalen Standards, also nach festgelegten Klassifikationen,
gewährt werden. Wer sie nicht kennt, kann sich im Internet darüber informieren. Dort findet man alle Klassifikationen, nach denen sich ein Facharzt richten muss. Daher
ist Ihr Vorschlag bezüglich § 35 a SGB VIII nicht zielführend.
Frau Kollegin Rupprecht, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichhorn?
Aber natürlich.
Bitte schön, Frau Eichhorn.
Frau Kollegin, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass
es in § 35 a SGB VIII darum gehen soll, die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche an die im Sozialhilfegesetz bestehende Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behinderte Kinder
und Jugendliche anzugleichen, um einen einheitlichen
Standard zu schaffen, damit es nicht, wie dies derzeit der
Fall ist, zu Missbrauch kommt?
Frau Eichhorn, ich weiß nicht, an welchen Stellen Sie
Missbrauch feststellen.
({0})
- Ja, Schottland. - Wenn das Jugendamt Hilfe gewährt,
muss für Maßnahmen nach den §§ 27 bis 35 SGB VIII in
jedem Fall ein Hilfeplan erstellt werden. Wenn das tatsächlich geschieht, wäre eine Überweisung nach Schottland theoretisch möglich. Aber das wäre allerdings nur
eine Alternative. Die Entscheidungshoheit hat das Jugendamt. Wenn das Jugendamt allerdings nicht den Mut
hat, zu sagen: „Diese Maßnahme ist nicht geeignet und
es ist deshalb eine andere vorzuschlagen“, dann ist es
nicht Sache des Gesetzgebers, dieses Vollzugsdefizit zu
beseitigen.
({1})
Ich möchte auf einen weiteren Aspekt des § 35 a
SGB VIII eingehen, der immer geflissentlich übersehen
wird - deshalb müssten wir den Gesetzentwurf des Bundesrates eigentlich an die Länder zurückverweisen -: In
§ 35 a SGB VIII haben Sie all das aufgenommen, was
eigentlich die ursächliche Aufgabe anderer Institutionen, zum Beispiel der Schule, ist.
({2})
Mit Ihrem Menschenbild gehen Sie davon aus, dass ein
Kind, das eingeschult wird, alles perfekt kann; wenn es
das nicht kann, wird es ausgesondert. Wenn man aber
das Menschenbild hat, dass man einem Kind - egal, wie
es ist - alle Förderungen zukommen lässt, die es
braucht, damit es die Schule erfolgreich bewältigen
kann, dann können in der Schule die Kinder, die dort
Marlene Rupprecht ({3})
nicht hineinpassen, nicht aussortiert werden. Ich meine
Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, mit LeseRechtschreib-Schwäche, mit Rechenschwäche und
Hochbegabte. Das ist übrigens eine tolle Mischung; das
muss ich wirklich sagen.
Wie ich gestern von einem Fachmann gehört habe,
werden in den Förderschulen für Hör- und Sprachbehinderte inzwischen sogar die Einzeltherapiestunden abgesetzt, weil man für Einzeltherapeuten kein Geld mehr
hat. Man setzt diese Stunden ab und bemüht sich darum,
dass die Krankenkasse das finanziert. Das heißt, wir
müssen die Länder auffordern, ihren Pflichtaufgaben im
Schulbereich nachzukommen.
({4})
Dann fällt ein großes Problem weg, das sich heute aufgrund des § 35 a SGB VIII stellt. Ein Kind mit LeseRechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche, das
nicht behandelt wird, kann auffällig werden, ihm kann
eine seelische Behinderung drohen. Nur dann erfüllen
diese Kinder die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII.
Ich glaube, Sie wollen, dass das eine Aufgabe der Länder ist.
Zu Ihren Vorschlägen. Die Kostendämpfung, die Sie
wollen, ist nur durch Streichungen zu erreichen. Wenn
ich Leistungen streichen möchte, gehe ich davon aus,
dass Maßnahmen durchgeführt wurden, die nicht notwendig waren, dass also auch Kinder, die keinen Hilfebedarf hatten, Leistungen erhalten haben. In solchen Fällen sind Streichungen gerechtfertigt. Oder Sie gehen
davon aus, dass zum Beispiel die Schule diese Leistung
hätte erbringen müssen. Dann muss man sich mit den
dortigen Verantwortlichen streiten oder billigend in Kauf
nehmen, dass diese Kinder keine Hilfe bekommen, dass
sie zukünftig Problemfälle auf dem Arbeitsmarkt sind
und dass sie später von der Jugendgerichtshilfe Leistungen erhalten, die sie vorher nicht bekommen haben.
Wenn Sie Kindern Hilfsmaßnahmen verweigern, die
dringend Hilfe brauchen, muss ich sagen, dass Sie
schlicht und ergreifend eine Sünde an zukünftigen Generationen begehen. Was ist also zu tun? Nur so wird ein
Schuh daraus: Wir müssen die Vollzugsdefizite abbauen. Das heißt, wir müssen in der Jugendhilfeplanung
Strukturen schaffen und Familienleitbilder erstellen. All
dies müssen wir tun, damit Familien und Kinder die
Strukturen bekommen, die sie brauchen, und damit für
die Kinder, die Einzelfallhilfe benötigen, tatsächlich
Geld da ist.
({5})
Dann muss ein Hilfeplan für den Einzelfall erstellt werden.
Frau Kollegin Rupprecht, erlauben Sie noch eine
Zwischenfrage? - Dann bitte ich Sie, anschließend zum
Schluss zu kommen.
Ja.
Frau Kollegin Rupprecht, verstehe ich Sie richtig,
dass bei den von Ihnen zitierten Paragraphen kein Änderungsbedarf besteht? Wie begründen Sie dann die von
Ihnen geäußerte Meinung, dass in eben diesen Paragraphen, die Sie zu zerpflücken versuchen, Änderungsbedarf besteht?
Frau Eichhorn, wunderbar! Wenn Sie noch zwei Sätze
gewartet hätten! Ich hätte das gleich angefügt. Als Erstes
habe ich genannt: Strukturen aufbauen, wo das noch
nicht geschehen ist, wo die Jugendhilfeplanung noch
nicht gemacht worden ist. Dann wird weniger Einzelfallhilfe gebraucht. Das Zweite ist: originäre Aufgaben anderer Institutionen zurückzuverweisen, siehe das Beispiel Schule. Das Dritte ist: Da, wo man im Vollzug
glaubt, dass das Gesetz nicht präzise genug ist, müssen
wir als Gesetzgeber vielleicht so präzise formulieren,
({0})
dass auch nicht der leiseste Hauch eines Missverständnisses aufkommen kann,
({1})
beispielsweise dann, wenn das Jugendamt eine Entscheidung trifft. Wir wollen aber keine Veränderungen, die zu
einem Abbau von Leistungen, die Kinder dringend brauchen, führen. Das ist an der verkehrten Stelle gespart!
Ein Kind, das einen Knochenbruch hat, schicken Sie
auch nicht wieder heim statt zum Chirurgen, sondern Sie
sagen: Jawohl, da muss etwas getan werden. - Ich finde,
ob ein Knochenbruch oder eine Wunde an der Seele, das
ist egal. Hauptsache, das Kind wird gesund und wächst
gesund auf, als eigenständige Persönlichkeit. Dann können wir mit ihm als Erwachsenem auch etwas in unserer
Demokratie anfangen. Alles andere ist nicht zielführend,
deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Haupt von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwölf Jahre nach dem In-Kraft-Treten des Kinder- und
Jugendhilfegesetzes ist eine kritische Überprüfung
sicherlich sinnvoll. Das gilt besonders, wenn Kostendämpfung möglich erscheint. Wer jedoch bei der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen, dass Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen Investitionen in
die Zukunft unserer Gesellschaft sind
({0})
und falsches Sparen an dieser Stelle schlimme Folgen
haben kann. Außerdem ist im Blick zu behalten, dass die
Kinder- und Jugendhilfe im Ausgabenblock des SozialKlaus Haupt
budgets unseres Landes ohnehin einen eher bescheidenen Anteil einnimmt und auch ihr Anteil an den Ausgaben der Kommunalhaushalte keineswegs hoch liegt. Vor
diesem Hintergrund sind Vorschläge zu Leistungseinschränkungen bei der Jugendhilfe stets kritisch zu prüfen.
Die auf Initiative der FDP durchgeführte Ausschussanhörung hat wertvolle und aus meiner Sicht differenzierte Beiträge zur Meinungsbildung geliefert.
({1})
Ich möchte mich bei den Fachleuten bedanken, die mit
sehr hilfreichen, sachkundigen Informationen zur Bewertung der vorgeschlagenen Änderungen beigetragen
haben.
({2})
Die Mehrheit der Sachverständigen hat gegen mehrere
Änderungsansätze des Gesetzentwurfes überzeugende
Argumente angeführt, weshalb wir im Ausschuss die
Streichung der betreffenden Artikel beantragt haben.
So können die vorgesehenen Einschränkungen der
Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche
sowie die Verlagerung dieses Leistungsbereiches in die
Sozialhilfe von der FDP nicht mitgetragen werden.
({3})
Sie würden zu einer Verschlechterung der Hilfen und zu
einer Kostenverlagerung, aber kaum zu einer Einsparung
führen, vielleicht sogar zu zusätzlichen Folgekosten,
wenn die Aufgaben weniger zielgruppengerecht erfüllt
werden. Die bisherige Unterscheidung der Zuständigkeiten für geistig und körperlich Behinderte auf der einen
und seelisch Behinderte auf der anderen Seite ist zwar
nicht vollends überzeugend, es ist aber nach Anhörung
der Experten zu bezweifeln, dass aus dem System der
Sozialhilfe heraus mit gleicher Qualität Hilfen für die
betroffenen Kinder und Jugendlichen erbracht werden
könnten wie bisher durch die Kinder- und Jugendhilfe
und ihre Rehaträger.
Sehr wohl wären durch den Gesetzentwurf Leistungseinschränkungen für seelisch behinderte oder von einer
solchen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche
zu befürchten und damit ihre Integration gefährdet. Kostenreduzierungen in diesem Bereich sind, wie sich in einigen Kommunen gezeigt hat, durch Verbesserung und
Vereinheitlichung der Auslegung sowie durch Professionalisierung der Gesetzesanwendung insgesamt möglich.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene Änderung des
§ 41 SGB VIII lehnen wir ab. Grundsätzlich sollte der
Schwerpunkt der Jugendhilfe auf der Förderung von
Kindern und Jugendlichen liegen.
({4})
Schon heute ist rechtlich sichergestellt, dass die Maßnahmen vor der Volljährigkeit beginnen müssen. Allerdings müssen Jugendhilfemaßnahmen für junge Volljährige in Ausnahmefällen auch künftig über die
Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus fortgesetzt werden können. In vielen Fällen kann eine Fortsetzung von
Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe über das
21. Lebensjahr hinaus sinnvoll sein, etwa bei Jugendlichen, die Strafvollzug oder Psychiatrie hinter sich haben,
oder bei Frauen im Falle ungewollter Schwangerschaft
oder von Zwangsheirat.
({5})
Eine erfolgreiche pädagogische Arbeit auch mit jungen
Erwachsenen ist, wie man Studien entnehmen kann, sehr
wohl möglich. Im Übrigen ist die im Gesetzentwurf getroffene Feststellung, dass Maßnahmen für junge Erwachsene zur Regel und zum enormen Kostenfaktor geworden seien, nicht generell zutreffend.
Die Einführung von Landesrechtsvorbehalten zur
Verlagerung von Aufsichtskompetenzen, die Veränderung von Zuständigkeitsregelungen und die Erhebung
von Gebühren wären aus unserer Sicht zu befürworten.
Auch die stärkere Heranziehung zu den Kosten bei stationären Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe sieht
die FDP positiv. Diese Thematik hat eine Kleine Anfrage der FDP vertieft.
Dem Gedanken, das Kindergeld bei der Erhebung eines Kostenbeitrages für Jugendhilfeleistungen anzurechnen, wenn das Jugendamt den Lebensunterhalt für Kinder trägt, stehe ich ebenfalls aufgeschlossen gegenüber.
Es gibt keinen Grund, die bisherige relative Schlechterstellung der Eltern, die ihre Kinder selbst erziehen, beizubehalten.
({6})
Die FDP begrüßt den Vorschlag der Aufwertung der
Jugendhilfeplanung im Hinblick auf einen kontinuierlichen Prozess und einen höheren Gesamtstellenwert.
Der Vorschlag, durch Landesrecht veränderte Zuständigkeiten für die Aufsicht über Tageseinrichtungen für
Kinder zu ermöglichen, kann einen positiven Beitrag zur
Verwaltungsvereinfachung leisten. Allerdings darf es
nicht zu Interessenkollisionen auf der Ebene der örtlichen Träger der Jugendhilfe kommen.
({7})
Meine Damen und Herren, die FDP hat im Ausschuss
in diesem Sinne zahlreiche Änderungsanträge zu dem
vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht, um das in der
Anhörung vermittelte Expertenwissen in den Gesetzgebungsprozess einfließen zu lassen. Diese Änderungsanträge sind nicht berücksichtigt worden. In der Gesamtabwägung enthält der Gesetzentwurf aus unserer Sicht
schwerwiegende Defizite, die zu einer erheblichen Verschlechterung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe
führen, ohne dass im Endeffekt sicher mit echten Einsparungen zu rechnen wäre. Die FDP lehnt den Gesetzentwurf daher trotz einiger guter und sinnvoller Gedanken ab.
Danke.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein modernes und gutes
Gesetz, und zwar deshalb, weil es die Hilfen leistet, die
notwendig sind.
({0})
Was wir nicht gebrauchen können, ist ein KJHG light
unter ausschließlich finanziellen und nicht unter fachlichen Gesichtspunkten.
Zu § 35 a: Der Gesetzentwurf von CDU/CSU sieht
vor, dass die Leistungen für seelisch Behinderte oder
von Behinderungen bedrohte Kinder und Jugendliche an
die Anspruchsvoraussetzungen des Bundessozialhilfegesetzes angeglichen werden sollen. Warum das aus fachlicher Sicht der falsche Weg wäre, ist sehr deutlich geworden: Die Zuweisung von seelisch behinderten jungen
Menschen in die Sozialhilfe ist nicht angemessen.
({1})
Grund dafür ist, dass es im Bereich der Sozialhilfe eine
völlig andere Logik der Hilfeplanung gibt als im KJHG.
Wenn es um rein materielle Versorgung geht, dann ist
das Sozialamt zuständig. Wenn es aber um pädagogische
und erzieherische Hilfen geht, dann ist die Jugendhilfe
zuständig, und das aus gutem Grund: Sie kann das am
besten. Sie erbringt die Hilfe, die speziell auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten ist.
Aus fachlicher Sicht gibt es also keinen Grund für eine
Veränderung. Warum will die Union trotzdem eine?
Meine Kollegin Rupprecht hat schon darauf hingewiesen: ausschließlich aus Kosteneinsparungsgründen.
Die Einführung eines so genannten Wesentlichkeitskriteriums, wie ihn der Gesetzentwurf der Union vorsieht, würde bedeuten, dass Kinder und Jugendliche von
einer wesentlichen Behinderung bedroht sein müssen,
dass ihre Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft wesentlich eingeschränkt sein muss, dass der Eintritt einer
seelischen Behinderung „mit hoher Wahrscheinlichkeit
zu erwarten“ sein muss und anderen Kindern und Jugendlichen mit einer seelischen Behinderung Eingliederungshilfe gewährt werden „kann“.
Die Einführung des Begriffs der wesentlichen Behinderung würde keine Klärung, sondern Unklarheiten mit
sich bringen. Der Versuch, in wesentliche, nicht wesentliche oder weniger wesentliche Behinderungen zu
unterscheiden, würde die Schwelle der Anspruchsvoraussetzungen erhöhen und es würde zu Abgrenzungsschwierigkeiten kommen. Wir alle müssten befürchten,
dass eine solche Gesetzesänderung der Vorwand für undifferenzierte Leistungskürzungen wäre. Das heißt, für
Kinder und Jugendliche ginge unter Umständen wertvolle Zeit verloren, weil Eltern Hilfen für ihre Kinder
vor Gericht erst einklagen müssten, und zwar weil wir,
der Gesetzgeber, diese Unklarheiten geschaffen hätten.
Das darf nicht passieren.
Eine in der Anhörung gemachte Aussage möchte ich
hier besonders unterstreichen: Die Jugendhilfe darf nicht
zur „behindertenfreien Zone“ werden.
({2})
Was den Bereich der Teilleistungsstörungen angeht
- Stichwörter „Legasthenie“ und „Dyskalkulie“ - ist
klar: In erster Linie ist natürlich die Schule dafür zuständig, Kindern Lesen und Rechnen beizubringen. Die
Schulen unterstehen der Länderhoheit. Das funktioniert
mal mehr und mal weniger gut. Wir haben gelernt, dass
eine gute örtliche Kooperation zwischen dem Jugendhilfesystem und der Schule das Wichtigste ist. Ich habe die
Expertenmahnung noch sehr gut im Ohr, dass es in diesem Bereich einen großen Forschungsbedarf gibt und
dass wir uns, weil wir in diesem Bereich relativ wenig
wissen, davor hüten sollten, einschneidende Änderungen
vorzunehmen.
({3})
In Bezug auf § 41 KJHG - Hilfen für junge Volljährige - beabsichtigt die Union folgende Neuregelungen:
ein generelles Maßnahmeende von Jugendhilfeleistungen mit Vollendung des 21. Lebensjahres, keine Ersthilfe mehr ab dem 18. Lebensjahr und die Weiterführung
einer Maßnahme über das 18. Lebensjahr hinaus nur
noch als Kannleistung. Die Mehrheit der Experten in unserer Anhörung war der Ansicht, dass die Einführung
des § 41 eine wichtige Errungenschaft des KJHG ist.
Aus der Praxis wissen wir, dass die Jugendämter
diese Hilfegewährung restriktiv handhaben. Es gibt zwei
Wege, um Kosten einzusparen: entweder die Hilfen im
Standard reduzieren oder überhaupt keine Hilfen mehr
anbieten. Wenn zum Beispiel die jungen Volljährigen
nicht mehr von der Jugendhilfe betreut werden, dann
werden sie überhaupt nicht mehr betreut. Damit ist diese
Hilfeart vom Tisch. Trotzdem brauchen diese Jugendlichen noch Hilfe. Wenn wir all diese Jugendliche durch
das Sieb fallen lassen, dann ist das im ersten Moment sicherlich billiger. Langfristig sind aber nicht nur die Folgekosten höher, sondern auch der gesellschaftliche Schaden ist riesig.
({4})
Die Aufwendung öffentlicher Mittel für Jugendhilfe
- das sage ich klipp und klar - ist keine Wohltat des
Staates. Hilfeleistungen für Jugendliche sind Ausdruck
der öffentlichen Mitverantwortung für das Heranwachsen junger Menschen. Alle Leistungskürzungen, die nur
dazu führen, dass bestehende Problemlagen verschärft
werden, sind abzulehnen.
({5})
Zu § 10 KJHG: Die Union will, dass Leistungen für
junge Volljährige nur noch als Folgeleistung des
§ 27 SGB VIII, nicht aber des § 35 a SGB VIII möglich
sein sollen. Damit wäre der Vorrang der Jugendhilfe aufgehoben und in den Zuständigkeitsbereich des Bundessozialhilfegesetzes verschoben. Dieser Vorstoß ist mir
schon allein deshalb unverständlich, weil es nur sehr wenige dieser Fälle gibt.
Ich appelliere an Sie, noch einmal über die Frage
nachzudenken, warum erzieherische Hilfen auch für
junge Volljährige notwendig und wichtig sind. Sie sind
wichtig, weil sich von diesen Leistungen betroffene
junge Menschen häufig in einer sehr kritischen
Lebensphase befinden. Wenn es dann zu einem Zuständigkeitswechsel des Rehaträgers käme, wäre das gleichzeitig mit einem Einrichtungswechsel verbunden. Das
würde Effekte begonnener Hilfe in hohem Maß infrage
stellen. Wir wissen, dass besonders Mädchen davon betroffen wären.
Ich habe folgendes Beispiel aus der Anhörung im
Kopf: Ein Mädchen kommt in die Klinik, weil es sexuell
missbraucht wurde und daraufhin versucht hat, sich das
Leben zu nehmen. Die junge Frau steht kurz vor ihrem
18. Lebensjahr und wollte eigentlich Abitur machen.
Wenn sie nun in der Klinik 18 Jahre alt wird und der Sozialhilfeträger für sie zuständig würde, dann käme sie
anschließend in ein Wohnheim für psychisch Kranke, die
mit 40, 50 oder noch mehr Jahren sehr viel älter als sie
sind. Das ist nicht die Hilfe, die diese junge Frau benötigt.
({6})
Was sie braucht, sind geeignete Hilfen, speziell auf
junge Menschen ausgerichtet, damit sie ihr Leben wieder in den Griff bekommt, ihren Schulabschluss machen
kann und anschließend hoffentlich einen guten Start in
ihr weiteres Leben findet.
({7})
Ich möchte abschließend feststellen: Jugendhilfe darf
man nicht nach Kassenlage betreiben. Finanznot darf
nicht dazu führen, dass Rechtsansprüche und Qualitätsstandards in der Kinder- und Jugendhilfe eingeschränkt
werden.
({8})
Unser gemeinsames Ziel muss es sein, junge Menschen
zu fördern und dafür zu sorgen, dass alle annähernd die
gleichen Chancen haben. Wir sind in der Pflicht, sie bei
der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen,
damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Scheuer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Diskussion um die Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes hat im Laufe der Beratungen einige
sehr überraschende Entwicklungen und Wendungen genommen. Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
sahen noch in der ersten Lesung am 3. Juli 2003 keinen
Handlungsbedarf. Sie blockten ab. Die Frau Staatssekretärin Riemann-Hanewinckel wies in der Debatte sogar
darauf hin, dass die Bundesregierung Gespräche darüber
grundsätzlich ablehne. Sie wollten auf diesem Gebiet
nichts reformieren und zeitgemäß anpassen.
Sie versuchten, die Problembereiche mit dem Argument - wir haben es auch heute wieder gehört - einfach
wegzuwischen, dass für Kostensteigerungen im Kinderund Jugendhilfebereich die Jugendämter selbst verantwortlich sind, weil diese mit dem KJHG falsch umgehen. Sie sehen bei den Missbrauchsfällen weg und ignorieren, dass die Jugendämter nur noch Auszahlstellen
sind, wodurch keine freien Mittel für die wichtige Prävention übrig bleiben.
({0})
Dann folgte am 10. Dezember 2003 eine Anhörung.
Oh Wunder, plötzlich kamen leichte Signale in Richtung
Änderungswillen. Es mag an den von uns vorgeschlagenen Experten aus der Praxis gelegen haben, dass Sie sich
in der Folge für das Thema erwärmen konnten. Ein sehr
erfahrener Jugendamtsleiter - er selbst ist sogar SPDParteimitglied - bestätigte uns die richtige Richtung unseres Vorschlags.
({1})
- Frau Humme, sehr viele Experten bestätigten uns die
Richtigkeit unseres Vorschlags. ({2})
Es mag vielleicht auch an den SPD-Bürgermeistern und
SPD-Landräten liegen - es soll ja noch einige geben,
aber nach den anstehenden Kommunalwahlen in diesem
Jahr werden es wieder etwas weniger sein -,
({3})
die Druck machten, hier etwas voranzutreiben.
({4})
Dann kam die Ausschussberatung, bei der kleinere
Kompromisslinien zu erkennen waren. Man konnte also
hoffen, dass durch die Anhörung ein Anflug von Erleuchtung bei Ihnen Einzug gehalten hatte. Ob das dazu
führt, dass die Hilfe zielgenau bei den Kindern, Jugendlichen und Jugendämtern ankommt, glaube ich nicht;
denn die bei Ihnen zu erkennenden Reförmchen werden
wieder an der Praxis vorbeigehen.
Auch ein Entschließungsantrag von Bayern und Nordrhein-Westfalen im Bundesrat hat Sie dann wohl im weiteren Verlauf zum Meinungsumschwung gezwungen. Da
kann man nur sagen: Es geht doch. Wenn der Druck von
allen Seiten kommt, dann können Sie sich anscheinend
doch bewegen. Dies geschieht zwar langsam, aber ich
halte mich an die Devise: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Frau Kollegin Rupprecht, jetzt komme ich zu Ihnen.
Ich durfte mit Ihnen, hoch geschätzte Frau Kollegin, eine
Podiumsdiskussion in Kelheim im schönen Niederbayern bestreiten. Dort waren nicht die Kämmerer und nicht
die Finanzexperten der Kommunen unsere Ansprechpartner, sondern die Jugendamtsleiter, die Praktiker,
({5})
die Kommunalpolitiker und die Jugendpolitiker aus Bayern. Ich hätte eigentlich nach meinen Erläuterungen unseres Vorschlags gleich nach Hause fahren können, denn
die Union wurde in allen Punkten bestätigt. Sie aber,
Frau Kollegin, mussten die sehr bescheidenen und realitätsfernen Vorschläge der Koalition vortragen, was allgemeine Heiterkeit bei den beteiligten Experten auslöste.
({6})
Grundtenor dieser Jugendamtsleiter war: Die Vorstellungen von Rot-Grün gehen völlig an der Praxis vorbei.
Wenn Sie nicht einmal die guten Ratschläge der Jugendamtsleiter, der Praktiker aufnehmen, dann machen
Sie wie gewohnt Politik an den Menschen vorbei. Deshalb brauchen Sie sich auch nicht darüber zu beklagen,
dass Sie bei Umfragen in diesem Land so mies dastehen.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben
in diesem Punkt keine Achtung vor der Eigenverantwortung der Kommunen und damit werden Sie zum Totengräber der kommunalen Selbstverwaltung. Das ist Fakt.
({7})
Kommen Sie nicht mit dem Argument - das haben
wir heute wieder gehört -, das sei ein sozialer Kahlschlag, oder mit ähnlichen Phrasen. Das ist plump und
billig. Wenn ich mir die Stellungnahmen der Jugendamtsleiter bzw. der Kommunen ansehe, dann stelle ich
fest, dass wir mit unserem Vorschlag völlig Recht haben.
({8})
- Ganz ruhig, Frau Kollegin Rupprecht, Blutdruck herunterfahren!
Sie, Frau Kollegin Rupprecht, setzen jetzt noch eins
drauf und kommen mit einem Tagesbetreuungsausbaugesetz. Sie sagen, es gebe keinen Reformbedarf, das Gesetz habe sich bewährt und Sie machten so weiter. Der
Entwurf liegt aber schon in der Schublade des Ministeriums. Tagesbetreuungsausbaugesetz ist wieder so ein
durchgestyltes Mammutmarketingwort. Mit dem Entwurf wollen Sie noch schnell die Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes mit einigen kosmetischen
Änderungen abarbeiten. Wie stümperhaft Sie arbeiten,
beweist dieser Entwurf. Sie wollen dieses Gesetz draufpacken, das auf den falschen Zahlen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe - Hartz IV basiert. Die Finanzierung ist unsicher.
Herr Kollege Scheuer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rupprecht?
Den Absatz will ich noch beenden, danach gerne.
Bitte schön.
Darüber hinaus weiß mittlerweile jedes Kind über das
Desaster von Hartz IV, das Hickhack und die Verschiebung Bescheid. Die Umsetzung ist unsicher und fraglich.
Die Ministerin hat im Ausschuss Auskunft gegeben. Sie
präsentieren uns Phantombuchungen und einen Entwurf
zur Tagesbetreuung und auch noch zum SGB VIII, um
das Ziel von Rot-Grün doch noch in dieser Legislaturperiode zu erreichen - Sie wissen, diesen Ausspruch zitiere ich sehr gerne -: die Lufthoheit über den Kinderbetten.
({0})
Bitte.
Frau Kollegin Rupprecht, bitte schön.
Herr Kollege Scheuer, ich habe gerne mit Ihnen die
Podiumsdiskussion geführt, weil Fachwissen gefragt
war, nicht nur die Präsentation von Bildzeitungszitaten.
Ich kann auf eine Erfahrung von zwölf Jahren in der Jugendhilfeplanung in meiner kommunalen Gebietskörperschaft zurückblicken und habe deshalb eine fundierte
Basis.
Nun zu Ihrer Aussage, dass wir etwas nachschieben,
weil das Bestehende schlecht ist. Wenn gerade Sie in
Bayern geprüft hätten, ob Sie bezüglich der Tagesbetreuung und der Tagespflege Ihrer Verpflichtung nachgekommen sind, nach § 80 SGB VIII - Jugendhilfeplanung - den Bestand festzustellen, dann hätten Sie
bemerkt, dass Sie die Augen zumachen, dass Sie sich ins
Eckchen hocken und sich schämen müssten, weil Sie
nichts dergleichen gemacht haben. Sie haben weder den
Bedarf noch den Bestand festgestellt. Und Sie wollen
uns unterstellen, dass wir etwas schlecht gemacht haben!
Deshalb meine Frage.
Ach, doch noch eine Frage?
Ja, Herr Scheuer, die Frage kommt jetzt: Warum glauben Sie, dass Sie mit Ihren Maßnahmen die Umsetzung
des Kinder- und Jugendhilfegesetzes präzisieren?
Meine zweite Frage lautet: Können Sie uns detailliert
vortragen, wie Sie mit den §§ 35 a und 41 SGB VIII die
Einführung der so genannten Maßnahmen der Schule im
Rahmen der Jugendhilfe wieder rückgängig machen
wollen? Wie wollen Sie das in Ihrer Reform mit dem
§ 35 a erreichen? Denn der Bund ist dafür der falsche
Ansprechpartner.
Frau Kollegin, angesichts der Tatsache, dass die Podiumsdiskussion in Kelheim drei Stunden gedauert hat,
könnte ich mir jetzt den Spaß erlauben, ausgiebig über
den § 35 a zu diskutieren. Ich hoffe, dass sehr viele
Landräte, Bürgermeister und Jugendamtsleiter die heutige Debatte vor dem Fernsehgerät verfolgen. Denn
wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie doch zugeben, dass
die Podiumsdiskussion für Sie katastrophal verlaufen ist.
Die Jugendamtsleiter bestätigen nämlich, dass unser
Vorschlag richtig ist.
Für uns ist nichts Besseres vorstellbar - das ist uns in
der Anhörung bestätigt worden -, als den Wortlaut des
§ 35 a zusammen mit den Praktikern zu erarbeiten und
entsprechend umzusetzen. Hier diskutieren wir zunächst
über unseren Vorschlag wie auch über Ihren Entwurf eines Reformgesetzes, in dem Sie den § 35 a kosmetisch
etwas verändern. Sie werden sicherlich auf einen Kuhhandel hinauswollen. Wir werden sehen, wie Sie sich im
Zusammenhang mit dem § 35 a winden und zu einer Einigung kommen wollen.
({0})
- Herr Schmidt, vielleicht kennen Sie den vom Ministerium erarbeiteten Gesetzentwurf noch nicht. Aber weil
Sie die Verantwortung und die Kosten immer wieder auf
die unteren Ebenen abschieben - Sie schreiben die Gesetzentwürfe und die anderen sollen zahlen -, erlauben
Sie mir eine Randbemerkung. Dem Entwurf des TAG ist
hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte zu entnehmen, dass dem Bund
keine Kosten entstehen würden. Für die Länder und
Kommunen werden Kosten in Höhe von 1,61 Milliarden
Euro erwartet.
({1})
Die Einsparungen belaufen sich auf 219 Millionen Euro.
Da muss doch jedem Kommunalpolitiker die Farbe aus
dem Gesicht weichen, wenn er von solchen Plänen erfährt.
({2})
Im Deutschen Bundestag findet kein Wunschkonzert
der Maßnahmen statt; wir müssen vielmehr positiv und
realitätsnah agieren. Die Debatte über die Novellierung
des SGB VIII hat eines bewirkt, nämlich dass auch Sie
endlich den Handlungsbedarf sehen.
Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf erreichen,
dass mit dem KJHG einerseits weniger Mitnahmeeffekte, weniger Missbrauchsfälle, weniger Gutachteritis
und Rechtsstreitigkeiten und andererseits mehr Transparenz, mehr Klarheit der Strukturen, mehr Effizienz, mehr
Eigenverantwortung für die Kommunen, mehr Möglichkeiten hinsichtlich der fachlichen Kompetenz der Jugendämter, mehr Gerechtigkeit und mehr Geld für die
präventiven Maßnahmen unserer Jugendämter einhergehen. Das würde mit unserem Gesetz erreicht. Deshalb
muss jeder, der den Kindern und Jugendlichen helfen
will, unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Herzlichen Dank.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich meine Rede beginne, muss ich Ihnen mitteilen,
dass die Ministerin in der heutigen Debatte nicht anwesend sein kann, weil sie an der Beerdigung ihres Fahrers
teilnimmt. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass
Staatssekretärin Beck seit Beginn der Debatte anwesend
ist.
Nun zu unserem Thema. In dieser Debatte geht es um
eine gute Kinder- und Jugendpolitik, deren Zielsetzung
ist, dass Kindern und Jugendlichen Chancen geboten
und dass sie frühzeitig gefördert werden. Unser Ziel als
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es, Familien zu stärken und zu unterstützen, damit Kinder und
Jugendliche gut aufwachsen können. Dafür haben wir
eine öffentliche Verantwortung, der wir mit dem Kinderund Jugendhilfegesetz nachkommen. Dabei handelt es
sich um einen bewährten und wichtigen Baustein in der
Kinder- und Jugendhilfepolitik. Ich freue mich, dass wir
uns zumindest darüber einig sind, dass es sich dabei um
einen Erfolg handelt.
Mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen Sie aber das Ziel
einer guten Kinder- und Jugendpolitik nicht, Herr
Scheuer.
({0})
Sie schaffen damit einzig und allein einen Verschiebebahnhof zulasten der betroffenen Kindern und Jugendlichen. Das begründen Sie mit den gestiegenen Kosten bei
den kommunalen Leistungen, also mit rein fiskalischen
Argumenten. Uns geht es aber darum, zu erkennen, wo
wir qualitative und strukturelle Verbesserungen und Veränderungen vornehmen müssen und wo wir bewährte
Strukturen erhalten können.
Lassen Sie mich etwas zu den Kostensteigerungen
anführen; denn Sie, Frau Eichhorn, haben auch wieder
von einer Kostenexplosion gesprochen. Mehr als die
Hälfte der Kostensteigerungen in den vergangenen zehn
Jahren ist auf den seinerzeit geschaffenen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zurückzuführen, den
wir sicherlich alle befürworten.
({1})
Die andere Hälfte der Kostensteigerungen ist auf den
von uns Fachpolitikern gemeinsam gewollten Ausbau
der familienunterstützenden Erziehungshilfen zurückzuführen. Das ist der Hintergrund und das sollte man bedenken, bevor man von einer Kostenexplosion spricht.
({2})
Die Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie für junge Volljährige, um die es hier
hauptsächlich geht, sind zwei Herzstücke des Kinderund Jugendhilfegesetzes. Das sieht auch die Fachwelt so.
Herr Scheuer, bei der von Ihnen angesprochenen Anhörung war ich sowohl körperlich als auch geistig anwesend. Ich habe sie sogar geleitet und sehr genau zugehört. Nahezu alle Sachverständigen haben sich negativ
zu dem Vorhaben der Union geäußert. Nur drei Ihrer
Sachverständigen haben sich etwas positiver dazu geäußert.
({3})
Es liegen uns auch sehr viele Stellungnahmen vor. Ich
möchte nur auf die schriftliche Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes verweisen, der der Meinung ist,
dass Ihre Vorschläge sachlich und jugendpolitisch nicht
vertretbar seien. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten wörtlich aus dieser Stellungnahme:
Die beabsichtigten Leistungseinschnitte würden
insbesondere jene Kinder und Jugendliche treffen,
die auf fachliche Hilfe und ein sozialpädagogisches
bzw. jugendhilfespezifisches Setting für ihre positive Entwicklung angewiesen sind.
Auch der Deutsche Caritasverband hat Ihnen also seine
Ablehnung Ihres Vorhabens deutlich gemacht.
In der Anhörung haben die Sachverständigen bestimmte Fragen gestellt, über die Sie noch einmal nachdenken sollten. Zum Beispiel wurde gefragt, was es den
Kommunen eigentlich nutzt, wenn die Kosten vom Jugendamt auf das Sozialamt verlagert werden, oder was
es ihnen eigentlich nutzt, wenn in einem Bereich Kosten
eingespart werden, in dem - wenn Kinder und Jugendliche ohne Hilfe bleiben - dann noch weit kostenintensivere Maßnahmen von Staat und Gesellschaft notwendig
werden. In der Anhörung hat zum Beispiel der Vertreter
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter
deutlich gesagt, dass Ihr Gesetzentwurf nicht zielführend
ist und dass er ihn deshalb nicht unterstützt. So viel zu
Ihrem Argument, dass alle Jugendämter eigentlich für
Ihren Vorschlag seien.
Mir ist es ganz wichtig, dass wir uns die in der Kinder- und Jugendhilfe vorhandene Qualität nicht von denjenigen beschädigen oder sogar zerstören lassen, die sich
darauf verstehen, das System auszunutzen. Deshalb sind
wir auch zu Änderungen bereit, die die Zielgenauigkeit
verbessern und eine verstärkte Heranziehung der Eltern
bei den Kosten ermöglichen. Bei stationärer Hilfe - auch
das muss deutlich gesagt werden, weil hier so getan
wird, als ob es das noch nicht gäbe - müssen die Eltern
schon heute Kostenbeiträge in Höhe von bis zu 800 Euro
im Monat zahlen. Wir wollen das entbürokratisieren und
vermögende Eltern stärker fordern.
Ich warne vor dem Populismus einiger Boulevardzeitungen und auch davor, sich deren Argumentation zu Eigen zu machen. Es ist zwar richtig, dass es einzelne Fälle
gegeben hat, in denen geschickte Eltern, die nicht zu den
finanziell und sozial Schwachen gehören, das System
ausgenutzt haben. Aber die übergroße Mehrheit derjenigen Kinder, die in den Maßnahmen sind, brauchen Hilfe.
Es sind sogar eher die finanziell oder sozial schwachen
Familien, deren Kinder eine bessere Unterstützung
bräuchten und die oft nicht die juristischen Kniffe kennen, um an die entsprechenden Hilfen heranzukommen.
Noch eine Bemerkung zu der Dokumentation des
Bayerischen Landkreistages, in der 25 Fälle aufgeführt
sind, in denen die Kinder- und Jugendhilfe angeblich unberechtigterweise gewährt worden ist. Wenn Sie sich die
Fälle genau ansehen - das geht vor allen Dingen an die
Adresse der bayerischen Kolleginnen und Kollegen -,
dann stellen Sie fest, wo das eigentliche Problem liegt:
Die Schule ist ihren Aufgaben nicht gerecht geworden.
Das Jugendamt hätte sich um die Hälfte der Fälle gar
nicht kümmern müssen, wenn die Schule die Fördermöglichkeiten wahrgenommen hätte. Insofern ist der
Weg falsch, beim Kinder- und Jugendhilfegesetz anzusetzen.
({4})
Mir ist es wichtig, sachlich klarzustellen - ich bin
dem Kollegen Haupt ausdrücklich dankbar, dass er das
an Beispielen aufgezeigt hat -, dass es sich bei Ihren
Vorschlägen nur um einen reinen Verschiebebahnhof
handelt: von der Schule in die Jugendhilfe, dann in die
Sozialhilfe oder in die Hilfen zur Erziehung, was wieder
nur den Kinder- und Jugendhilfeetat beanspruchen
würde. Mit einem reinen Verschiebebahnhof kommen
wir nicht weiter. Wir brauchen kompetente Ansprechpartner. Bei der seelischen Behinderung von Kindern
und Jugendlichen sind das die Jugendämter und nicht die
Sozialämter. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie die Nachhaltigkeit der Maßnahmen fordern. Im Ziel sind wir uns
also völlig einig. Aber Nachhaltigkeit der Maßnahmen
bedeutet auch, dass man dort ansetzen muss, wo die
kompetenten Ansprechpartner sind. Am besten wäre es,
die Probleme dort zu lösen, wo sie in den meisten Fällen
auftauchen, nämlich in der Schule.
Unser Ziel ist, öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu übernehmen.
Das steht auch so im 11. Kinder- und Jugendbericht. Wir
sollten uns in dieser Debatte vor Augen führen, dass in
der PISA-Studie unter anderem festgestellt worden ist,
dass in Deutschland die Bildungschancen noch immer
massiv von der sozialen Herkunft abhängig sind. Das
zeigt aber auch: Unsere Politik, die dort ansetzt, wo es
darum geht, die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, ist richtig.
({5})
Das Motto der Ministerin „Auf den Anfang kommt es
an“ ist richtig; denn gerade bei den Kleinen und den
Kleinsten muss man für bessere Chancen und für mehr
Förderung sorgen. Auch die Familien werden so gestärkt. Das hilft den Kindern und Jugendlichen in diesem
Land eindeutig mehr als Kürzungen der Maßnahmen
und irgendwelche Verschiebebahnhöfe.
({6})
Mit uns wird es keine Kinder- und Jugendhilfe nach
Kassenlage, sondern nur eine qualitative und realitätsnahe Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts geben. Wir machen deutlich - das finde ich wichtig -, dass Staat und Gesellschaft Verantwortung für das
Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen tragen,
({7})
und zwar gerade dann, wenn es sich um Kinder mit besonderen Problemen handelt, die zu Hause wenig gefördert werden. Diese Verantwortung sollten wir wahrnehmen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Wir als Abgeordnete der PDS
lehnen den Gesetzentwurf von CDU und CSU ab. Sie
von der CDU und der CSU machen gern Steuersenkungsvorschläge, aber recht selten Sparvorschläge. Diesen Sparvorschlag - endlich kommt einmal einer von
Ihnen - machen Sie ausgerechnet an der falschen Stelle:
Sie wollen ausgerechnet bei Kindern und Jugendlichen
150 Millionen Euro bis 250 Millionen Euro - das haben
Sie ausgerechnet - einsparen.
Ich will Ihren Sparvorschlägen einmal eine andere
Zahl entgegensetzen, damit wir alle wissen, worüber wir
hier reden. Der Kollege Friedrich Merz aus den Reihen
der CDU hat ein Steuerkonzept vorgelegt, dessen Umsetzung zur Folge hätte, dass 32 Milliarden Euro in den
öffentlichen Kassen fehlten. Sie sollten sich lieber Gedanken darüber machen, wie Sie die öffentlichen Kassen
füllen, als darüber, wie sie bei Kindern und Jugendlichen
sparen können.
({0})
Sie wollen ausgerechnet bei denjenigen Kindern und
Jugendlichen sparen, die es besonders schwer haben, ihren Weg in die Gesellschaft zu finden, die es besonders
schwer haben, sich zu entwickeln und zu bilden. Ich
finde, das hat mit christlicher oder sozialer Politik wenig
zu tun.
({1})
Richtig ist, dass die Kommunen stöhnen. Richtig ist,
dass vielen Kommunen das Wasser bis zum Hals steht.
Nicht umsonst haben Bürgermeisterinnen und Bürgermeister vor dem Bundesrat und an anderen Stellen demonstriert. Aber die Schlussfolgerung kann doch nicht
darin bestehen, nun bei Kindern und Jugendlichen zu
sparen; sie muss vielmehr darin bestehen, die Reform
der Kommunalfinanzen endlich auf den Weg zu bringen
und den Kommunen wieder Finanzmittel in die Hand zu
geben, damit man eben nicht auf solche Ideen kommt.
Wir dürfen aber nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass wir in Zukunft sicherlich noch mehr
Geld für Kinder- und Jugendhilfe brauchen werden.
Meine Kollegin Petra Pau ist schon in der Debatte heute
Morgen darauf eingegangen, dass das Portemonnaie vieler Familien aufgrund der Agenda 2010 und insbesondere des Hartz-IV-Gesetzes noch dünner werden wird,
als es jetzt schon ist. Wir alle wissen, dass schlechte materielle Verhältnisse, also wenig Geld in der Familienkasse, nicht gerade dazu beitragen, dass Kinder problemlos aufwachsen können.
Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz hat die Bundesrepublik Deutschland ein sehr gutes Gesetz. Sie von
der CDU/CSU würden den Kindern und Jugendlichen in
unserem Land einen sehr schlechten Dienst erweisen,
wenn es Ihnen gelänge, für Ihren Gesetzentwurf eine
Mehrheit zu finden. Ich hoffe und gehe davon aus, dass
es Ihnen nicht gelingen wird. Wir von der PDS lehnen
den Gesetzentwurf der CDU/CSU entschieden ab.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Dörflinger
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen
die heutige Debatte nicht isoliert, sondern in einem Kontext. Dieser Kontext ist beispielsweise in der von Union
und FDP gemeinsam beantragten gestrigen Aktuellen
Stunde deutlich geworden. Zu diesem Kontext gehört,
dass jeder in diesem Hohen Hause, egal für welche fachpolitische Richtung er steht, die Aufgabe hat, mit Bezug
auf die gesamtstaatliche Finanzierbarkeit unseres Gemeinwesens einen Gedanken daran zu verschwenden,
was - erstens - wünschenswert, was - zweitens - notwendig und was - drittens; das ist das Entscheidende finanzierbar ist.
Die Zeiten, in denen wir uns zwischen Regierung und
Opposition - unabhängig davon, er regiert - darüber
streiten konnten, wer denn nun die höchsten Ausgaben
vorschlägt und wer die besten und kostenintensivsten
Vorschläge für eine ganz bestimmte Fachrichtung machen kann, sind ein für alle Mal vorbei.
({0})
Deswegen kann ich den Tenor von manchem Beitrag in
der heutigen Debatte nicht verstehen.
Der Kollege Scheuer sagt zu Recht, dass der Beratungsverlauf zwischen der Einbringung unseres Gesetzentwurfs vom 3. Juni des vergangenen Jahres und dem
heutigen Tag doch erstaunliche Wendungen genommen
hat. Nur frage ich mich nach dem einen oder anderen
Beitrag heute, insbesondere von Ihrer Seite, meine Damen und Herren, ob wir mittlerweile nicht wieder am
Ausgangspunkt angekommen sind.
Wenn ich das, was Sie und insbesondere Kollegin
Rupprecht heute vertreten haben, mit dem in Übereinstimmung zu bringen suche, was im Referentenentwurf
zum TAG - ich habe ihn dabei - zum Thema SGB VIII
steht, dann gibt es zwei Möglichkeiten:
({1})
Entweder ist das richtig, was Sie heute vorgetragen haben, oder das, was darin steht.
({2})
Beides zusammen geht nicht.
({3})
Mehrere Redner von Ihnen haben gesagt, die Kostensteigerung sei nicht dramatisch. Das hat auch Staatssekretär Ruhenstroth-Bauer im Bundesrat vorgetragen. Die
zuständige Fachministerin aus Nordrhein-Westfalen
sagt, die Kosten seien zwischen 1995 und 2001 von
780 Millionen Euro auf 1 Milliarde Euro gestiegen. Das
liegt nicht nur am Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz.
({4})
Dazu gehören noch einige andere Faktoren.
Sie reden davon, dass mit unserem Gesetzentwurf ein
Kahlschlag verbunden ist. Ausweislich der Begründung
kalkulieren wir Einsparungen zwischen 150 und
250 Millionen Euro. Ausweislich Ihres TAG sind Ihre
Vorschläge 219 Millionen Euro schwer. Wenn die von
uns genannte obere Grenze zum Tragen kommt - nehmen wir das einmal an -, dann besteht zwischen der vernünftigen Lösung nach Ihren Vorstellungen mit 219 Millionen Euro und dem Kahlschlag, den Sie uns vorwerfen,
eine Differenz von 31 Millionen Euro.
({5})
Das erschließt sich mir nicht.
Sie tragen mit großen Worten vor, beim SGB VIII bestehe kein Änderungsbedarf. Das haben Sie in der ersten
Lesung gesagt, das haben Sie bei der Anhörung im Ausschuss weitgehend vertreten und das haben Sie heute
wiederholt. Wieso machen Sie jetzt im Zusammenhang
mit dem Ausbau der Tagespflege Änderungsvorschläge
zum SGB VIII, zum Kinder- und Jugendhilfegesetz,
wenn doch kein Änderungsbedarf besteht?
({6})
Nur eines von beiden kann richtig sein. Beides zusammen geht nicht.
({7})
Ich bin jetzt auf etwas gespannt. Wenn Sie den
Entwurf zum Ausbau der Tagespflege in den Deutschen Bundestag eingebracht haben werden - ich muss
dazusagen: unter der Voraussetzung, dass Sie die Finanzierung geklärt haben -, werden wir eine Anhörung dazu
durchführen. Ich mache Ihnen jetzt einmal den folgenden Vorschlag: Wir laden die gleichen Expertinnen und
Experten, die Sie und wir zum Gesetzentwurf der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion und zu der Bundesratsinitiative
eingeladen haben, wieder ein und konfrontieren sie mit
Ihren Vorschlägen zum KJHG. Ich will von dem Professor, der von Ihnen eingeladen wurde und in der Anhörung gesagt hat - ich verzichte jetzt auf die Namensnennung - es gebe keinen Änderungsbedarf bei § 35 a, es
gebe in weiten Teilen des KJHG keinen Änderungsbedarf, dann hören, wie er Ihren Gesetzentwurf beurteilt, in
dem genau zu diesen Bereichen Änderungsbedarf signalisiert und formuliert wird, was zumindest teilweise mit
dem identisch ist, was wir vorschlagen.
({8})
Nun war die Rede davon, dass wir den Kommunen
etwas Handlungspielraum zurückgeben wollen,
({9})
und zwar nicht nur unter finanziellen, sondern auch unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten. Ich traue den
Jugendämtern in den beiden Landkreisen in meinem
Wahlkreis, den dort beschäftigten Damen und Herren
nämlich einen gewissen Sachverstand zu. Ich traue ihnen
zu, zu differenzieren, wann eine wesentliche Behinderung nach der Formulierung unseres Gesetzentwurfes
vorliegt und wann nicht.
Jetzt lese ich Ihnen den § 35 a in der Neufassung nach
Ihrem Gesetzentwurf vor:
Hinsichtlich der Voraussetzungen nach Absatz 1
Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen JugendThomas Dörflinger
hilfe die Stellungnahme eines Arztes, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer
Störungen verfügt, eines psychologischen Psychotherapeuten oder eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten einzuholen. Diese ist auf der
Grundlage der Internationalen Klassifikation der
Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei
ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Die
Leistung darf nicht von der Person oder dem Dienst
oder der Einrichtung, der die Person angehört, die
die Stellungnahme abgibt, erbracht werden.
Man hätte auch das Blatt Papier und den Stift, mit dem
die Stellungnahme geschrieben wird, noch detailliert beschreiben können.
({10})
Da dokumentiert sich Ihr tiefes Misstrauen gegenüber
den Fachleuten vor Ort.
({11})
Geben Sie dem Jugendamt doch Handlungs- und Entscheidungsfreiheit!
({12})
- Entscheidungsfreiheit vor Ort, Frau Rupprecht, ist das
Gebot der Stunde, und zwar nicht nur unter finanziellen
Gesichtspunkten, sondern auch deswegen, weil eine Behörde vor Ort in der Regel besser zu entscheiden vermag
als ein Bundesgesetzgeber in Berlin.
({13})
Der sollte sich darauf beschränken, Rahmenbedingungen zu schaffen, während die untergeordneten Dienststellen bzw. Länder- oder Regionalebenen dann anschließend die Ausführung übernehmen.
Lassen Sie mich eine Schlussbemerkung machen,
meine Damen und Herren: Mitglieder aus allen Fraktionen befinden sich in einem Diskussionsprozess - Stichwort Föderalismuskommission -, in dem wir darüber
nachdenken, wie wir die Zuständigkeiten zwischen
Bund und Ländern neu regeln können. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es unabhängig davon, wer in den
einzelnen Bundesländern regiert, durchaus Bestrebungen gibt, beispielsweise den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vom Bund auf die Länder zu verlagern. Wir
sind uns wahrscheinlich unter den Fachpolitikerinnen
und Fachpolitikern aller Fraktionen dieses Hohen Hauses einig,
({14})
dass idealerweise weiterhin der Bund zuständig sein
sollte. Aber, meine Damen und Herren, dann müssen wir
uns im Benehmen mit den Ländern - mit den A-Ländern
genauso wie mit den B-Ländern - auch in der Weise als
reformfähig erweisen, dass wir berechtigte Anliegen, die
von Ländern und Kommunen an uns herangetragen werden, nicht einfach aus ideologischen Gründen ignorieren,
sondern sie in ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren einbringen und anschließend auch umsetzen.
({15})
Ansonsten tun wir unserem eigenen Anliegen, die Zuständigkeit beim Bund zu belassen, keinen Gefallen.
Herzlichen Dank.
({16})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Christel Humme von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Es ist schon erstaunlich, meine Herren und Damen von
der Union, dass Sie nach der Anhörung, die wir durchgeführt haben, und den vielen fachlichen Diskussionen, die
wir geführt haben, Ihrer Linie treu bleiben: Sie täuschen
nämlich die Öffentlichkeit bewusst und nehmen dabei in
Kauf, dass die gesamte gute Jugendhilfe vor Ort in Misskredit gebracht wird.
({0})
Ich bringe noch einmal kurz in Erinnerung, worüber
wir eigentlich reden: Wir reden über einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der aus Bayern stammt und den
sich die Oppositionsfraktion CDU/CSU zu Eigen gemacht hat. Bezüglich der von Ihnen in diesem Gesetzentwurf unterbreiteten Vorschläge kann man nur feststellen, dass sie nicht zur Problemlösung beitragen, sondern
die Kinder- und Jugendhilfe ins Mark treffen.
({1})
Die heutige Debatte hat deutlich gemacht - dafür bin
ich Frau Dümpe-Krüger und den anderen Vorrednerinnen dankbar -, dass Kinder- und Jugendhilfe eine Daueraufgabe sein muss und nicht nach Kassenlage der kommunalen Haushalte gestaltet werden darf.
({2})
Das hat auch die Anhörung der Fachleute ganz klar vor
Augen geführt.
({3})
Darum danke ich Ihnen, Herr Haupt, dass die FDP zusammen mit uns im Ausschuss den Gesetzentwurf der
CDU/CSU abgelehnt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Versachlichung der Debatte geleistet hat. Ich
denke, das ist ein guter Ansatz für die weitere Diskussion, die wir hier noch führen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
behaupten, Sie wollten die Kommunen entlasten. Dieses Argument zieht sich als roter Faden durch all Ihre
Reden. Wenn wir aber genauer hinsehen, stellen wir fest,
dass Ihre Vorschläge weder dem Kassenwohl noch dem
Kindeswohl dienlich sind. Ihre Vorschläge sind - das
konnte man in den Boulevardzeitungen ja auch nachlesen - sehr populistisch. Mehr noch - das behaupte ich
noch einmal -: Sie täuschen die Öffentlichkeit in mehrfacher Hinsicht. Das will ich Ihnen jetzt an einigen
Punkten deutlich machen.
({4})
Sie argumentieren - auch Sie, Frau Eichhorn - nach
wie vor, die Kosten der Kinder- und Jugendhilfe seien
stark gestiegen
({5})
und deshalb sei es Zeit für Einschnitte. Was Sie verschweigen - das hat auch meine Kollegin Griese gerade
noch einmal deutlich gemacht -, sind die Gründe für
diese Kostensteigerung. Allein 50 Prozent des Kostenanstiegs gehen auf das Konto des Rechtsanspruchs auf
einen Kindergartenplatz.
({6})
Das heißt, Sie kritisieren die Kostenexplosion und verschweigen, dass einer der wesentlichen Gründe der von
uns allen gewollte und sinnvolle Ausbau der Betreuung war. Das nenne ich Täuschung der Öffentlichkeit
Nummer eins.
({7})
Auch der Grund für die zweiten 50 Prozent des Kostenanstiegs wurde eben schon dargelegt. Es gibt in unserem Land leider immer mehr Kinder, die Hilfe bei der
Integration in die Gesellschaft brauchen, beispielsweise Kinder und Jugendliche mit Lernschwächen; Frau
Rupprecht hat das sehr deutlich gemacht. Sie und alle
anderen haben auch deutlich gemacht, dass es eigentlich
Aufgabe der Schulen wäre, hier zu helfen.
Sie fordern aber nicht - darum sind wir strikt gegen
Ihren Gesetzentwurf; wir reden hier nicht über irgendwelche zukünftigen Gesetze, sondern über Ihren Gesetzentwurf -,
({8})
dass die Länder helfen, die Schulen zu stärken, sondern
im Gegenteil: Sie sehen einen Verschiebebahnhof vor,
und zwar in Richtung Sozialhilfe. Das gefährdet meiner
Ansicht nach die Qualität der Jugendhilfe und entlastet
die Kommunen in keiner Weise.
({9})
Dies ist meiner Meinung nach die Täuschung der Öffentlichkeit Nummer zwei.
({10})
Sie kritisieren die teure Unterbringung in einem
Internat im Ausland auf Kosten des Staates und beklagen, dass Eltern, die über ein hohes Einkommen verfügen, nicht zur Kasse gebeten werden. Ich frage Sie allen
Ernstes: Warum nutzen die Jugendämter nicht die Möglichkeit, die bereits heute im Kinder- und Jugendhilfegesetz besteht, die Eltern an den Kosten zu beteiligen? Das
wäre - wir haben es gerade gehört - bis zu 800 Euro im
Monat möglich. Warum tun sie das nicht?
({11})
Das ist Ihre Täuschung der Öffentlichkeit Nummer drei.
({12})
Sie sagen weiterhin, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, Sie möchten die Maßnahmen für
junge Volljährige einschränken. Aber was würde passieren, wenn hilfebedürftige Jugendliche künftig ohne
Hilfe blieben? Die Folge wäre nicht eine Kosteneinsparung, sondern eine Kostenexplosion an anderer Stelle;
Herr Haupt hat darauf hingewiesen. Denn jedes Kind,
dem wir heute die nötige Hilfe verwehren, bekommt
morgen vielleicht keinen Ausbildungsplatz, hat übermorgen keine Arbeit und schließlich keinen eigenen
Rentenanspruch. Das verursacht das Vielfache der Kosten einer Jugendhilfemaßnahme, Kosten, die dann wiederum bei den Kommunen anfallen. Mit Ihren Vorschlägen entlasten Sie nicht die Kommunen, sondern Sie
erweisen ihnen einen Bärendienst. Das ist die Täuschung
der Öffentlichkeit Nummer vier.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, mit
Ihrem Gesetzentwurf spielen Sie sich als Anwalt der
Kommunen auf. Sie haben ja die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Landräte heute vor den Bildschirmen sitzen.
({14})
Tatsächlich aber haben Sie in den vergangenen Monaten
jeden von uns eingebrachten vernünftigen Vorschlag zur
Entlastung der Kommunen verhindert.
({15})
Einen kleinen Moment, diesen Gedanken möchte ich
noch zu Ende führen.
Bitte.
Wir wollten mit der Weiterentwicklung der Gewerbesteuer die kommunalen Finanzen nachhaltig verbessern. Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben das im Vermittlungsausschuss verhindert.
({0})
Außerdem verweise ich auf das 10-Milliarden-Euro-Defizit des merzschen Steuerkonzepts.
Sie predigen also die Entlastung der Kommunen, aber
wenn es darauf ankommt, verhindern Sie sie. Das ist die
Täuschung der Öffentlichkeit Nummer fünf.
Frau Kollegin Humme, darf ich Sie jetzt trotzdem unterbrechen? Die Frau Kollegin Eichhorn möchte gern
eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie das genehmigen.
Gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Humme, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass die beabsichtigte Änderung des § 41 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes auf folgendem Tatbestand
beruht: Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten Jugendhilfeleistungen für Jugendliche über 21 Jahren
die Ausnahme sein; mittlerweile ist aber genau das Gegenteil der Fall, es ist nämlich zum Regelfall geworden.
({0})
Diesen Missbrauch und diese vom Gesetzgeber nicht gewollte Entwicklung wollen wir wieder ins Lot bringen,
nicht mehr und nicht weniger.
Denn die Fachleute, die die Praxis kennen, sagen uns,
dass nach dem 21. Lebensjahr Hilfen nach dem Kinderund Jugendhilfegesetz zwar sehr viel Aufwand erfordern, aber wenig Erfolg bringen.
({1})
Frau Eichhorn, wir müssen in der Tat an unterschiedlichen Anhörungen teilgenommen haben.
({0})
Denn in der Anhörung wurde sehr deutlich gemacht,
dass die Hilfen für junge Volljährige, die von den Jugendämtern gewährt werden, auch heute durchaus eine
Ausnahme darstellen.
({1})
Ich bin der Meinung: Wenn diese jungen Menschen
unsere Hilfe brauchen - dazu zählen auch die, die
21 Jahre und älter sind; denn nach dem Gesetz liegt die
Grenze bei 27 Jahren -, dann haben wir die verdammte
Pflicht und Schuldigkeit, ihnen diese Hilfe zu gewähren.
Ich glaube, die Fachleute haben uns deutlich gemacht,
dass wir dorthin auf dem richtigen Weg sind.
({2})
Frau Eichhorn, ich glaube schon, dass die Menschen
merken, wenn sie getäuscht werden.
({3})
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Bayern, das ursprünglich den Gesetzentwurf über den Bundesrat eingebracht hatte, zusammen mit Nordrhein-Westfalen am
2. April einen Antrag zur Änderung des KJHG in den
Bundesrat eingebracht hat. Schauen Sie sich diesen Antrag an! Die wesentlichen Punkte Ihres Gesetzentwurfs
sind darin nicht enthalten. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz soll vielmehr weiterentwickelt werden, um die
Qualität der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern, aber
auch um die Mittel effizient einzusetzen. Manchmal
lohnt es sich, einen Zeitraum von einem Jahr für die Diskussion zu nutzen, um zu sinnvollen Ergebnissen zu
kommen.
Nachdem wir Ihren Gesetzentwurf entsprechend beschieden haben, lassen Sie uns jetzt im Bundestag an
dem gemeinsamen Ziel arbeiten, die Qualität der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern.
({4})
- Es ist besser, weil es die Kinder und Jugendlichen und
nicht die Kassenlage in den Vordergrund stellt. Unsere
beiden Fraktionen verfolgen da einen ganz unterschiedlichen Ansatz.
({5})
Wir wollen die Kommunen da entlasten, wo es sinnvoll und richtig ist. Wir wollen mehr Investitionen in
Bildung, Infrastruktur und Familien.
Schönen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache 15/1114.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3000, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
- bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Ablehnung aller anderen Fraktionen - abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Sozialgesetzbuches, Achtes Buch,
auf Drucksache 15/1406. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3000, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung - bei Zustimmung der
CDU/CSU-Fraktion und Ablehnung aller anderen Fraktionen und Abgeordneten - abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Vermittlungsausschusses. Nach einer interfraktionellen
Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung von fünf Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen
jetzt als Zusatzpunkte 9 bis 13 aufgerufen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Zusatzpunkt 9:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Vierunddreißigsten
Gesetz zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({1})
- Drucksachen 15/1854, 15/2230, 15/2558,
15/3058 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Berichterstatter im Bundesrat:
Staatsminister Gernot Mittler
Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Berichterstattung nicht gewünscht wird. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag
über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3058? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 10:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundsetzes ({2}) zu dem Gesetz zur Durchführung von Verordnungen der Europäischen
Gemeinschaft auf dem Gebiet der Gentechnik
und zur Änderung der Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung
- Drucksachen 15/2397, 15/2520, 15/2597,
15/2669, 15/2902, 15/3059 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Wilhelm Schmidt ({3})
Berichterstatter im Bundesrat:
Minister Rudolf Köberle
Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht?
({4})
- Danke schön. - Das ist also nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 15/3059? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 11:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({5}) zu dem Gesetz zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die
Bevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die
Wohnsituation der Haushalte ({6})
- Drucksachen 15/2543, 15/2673, 15/2904,
15/3060 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Dr. Dieter Wiefelspütz
Berichterstatter im Bundesrat:
Staatsminister Dr. Thomas de Maizière
Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Das ist
nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die
Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch
für die folgenden beiden Beschlussempfehlungen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/3060? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 12:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({7}) zu dem Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren
({8})
- Drucksachen 15/1976, 15/2536, 15/2609,
15/2906, 15/3062 Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Jörg van Essen
Berichterstatter im Bundesrat:
Staatsminister Dr. Thomas de Maizière
Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 15/3062? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Zusatzpunkt 13:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Telekommunikationsgesetz ({10})
- Drucksachen 15/2316, 15/2345, 15/2674,
15/2679, 15/2907, 15/3063 -
Berichterstatter im Bundestag:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
Berichterstatter im Bundesrat:
Staatsminister Gernot Mittler
Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Das ist
nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 15/3063? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 i und
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d sowie Tagesordnungs-
punkt 20 auf:
27 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 15/3044 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/2989 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung des Mietrechts und
zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur
Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen
- Drucksache 15/2133 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der
Kronzeugenregelungen im Strafrecht und zur
Wiedereinführung einer Kronzeugenregelung
bei terroristischen Straftaten ({14})
- Drucksache 15/2771 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({15})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Fleischhygienegesetzes und der Fleischhygiene-Verordnung
- Drucksache 15/2772 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({16})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 15/2773 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({17})
Innenausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Mai 2003 zum Internationalen
Übereinkommen von 1992 über die Errichtung eines Internationalen Fonds zur Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden
- Drucksache 15/2947 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({18})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Entschädigung
für Ölverschmutzungsschäden durch Seeschiffe
- Drucksache 15/2949 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({19})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des VN-Waffenübereinkommens
- Drucksache 15/2926 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({20})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Griefahn, Eckhardt Barthel ({21}), Ulla
Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Volker Beck ({22}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schaffung eines internationalen Instruments
zum Schutz der kulturellen Vielfalt unterstützen
- Drucksache 15/3054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({23})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation ({24}) über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis
- Drucksache 15/3053 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({25})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({26}), Karl-Josef
Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation ({27}) über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis
- Drucksache 15/3043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({28})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({29}),
Daniel Bahr ({30}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation ({31}) über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis
- Drucksache 15/3057 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({32})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
20 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Krüger-Leißner, Rainer Arnold,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Volker Beck ({33}),
Claudia Roth ({34}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Der 60. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr
- Drucksache 15/2974 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({35})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/3044,
Tagesordnungspunkt 27 a, soll zusätzlich an den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 i auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
27. März 2003 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Tadschikistan
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen
- Drucksache 15/2925 ({36})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({37})
- Drucksache 15/3070 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Heinz Seiffert
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3070,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Sicherung von Verkehrsleistungen ({38})
- Drucksache 15/2769 ({39})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({40})
- Drucksache 15/3024 Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Brunnhuber
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3024, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Maasübereinkommen vom 3. Dezember 2002
- Drucksache 15/2147 ({41})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({42})
- Drucksache 15/2959 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Ulrich Petzold
Winfried Hermann
Michael Kauch
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/2959, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({43}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verbringung von Abfällen KOM ({44}) 379 endg.;
Ratsdok. 11145/03
- Drucksachen 15/1547 Nr. 2.53, 15/2957 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Tanja Gönner
Dr. Antje Vogel-Sperl
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrichtung durch
die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, in Kenntnis der Unterrichtung durch die
Bundesregierung eine weitere Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({45}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern
und zur Änderung der Richtlinien 84/450/EWG,
97/7/EG und 98/27/EG ({46}) KOM ({47}) 356 endg.;
Ratsdok. 10904/03
- Drucksachen 15/1547 Nr. 2.61, 15/3056 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Michael Grosse-Brömer
Sibylle Laurischk
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48})
Sammelübersicht 113 zu Petitionen
- Drucksache 15/2982 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 113 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({49})
Sammelübersicht 114 zu Petitionen
- Drucksache 15/2983 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 114 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({50})
Sammelübersicht 115 zu Petitionen
- Drucksache 15/2984 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 115 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({51})
Sammelübersicht 116 zu Petitionen
- Drucksache 15/2985 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Sammelübersicht 116 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktio-
nen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Reinhard Schultz ({52}), Marion
Caspers-Merk, Klaus Kirschner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den
Abgeordneten Birgitt Bender, Ulrike Höfken,
Michaele Hustedt, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes junger Menschen
vor Gefahren des Alkohol- und Tabakkonsums
- Drucksache 15/2587 ({53})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({54})
- Drucksache 15/3084 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({55})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({56})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula
Heinen, Gerlinde Kaupa, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Verbesserung der Maßnahmen zum Schutze
der Kinder und Jugendlichen vor Alkoholsucht
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt,
Detlef Parr, Daniel Bahr ({57}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Besserer Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Missbrauch von Alcopops und anderen alkoholischen Ready-to-drink-Getränken
- Drucksachen 15/2646, 15/2619, 15/3085 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Bätzing
Jutta Dümpe-Krüger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der SPDFraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir beraten heute ein Gesetz zur
Verbesserung des Schutzes junger Menschen vor Gefahren des Alkohol- und Tabakkonsums. Ich denke, das
liegt uns allen sehr am Herzen. Es geht dabei um alkoholhaltige Süßgetränke, so genannte Alcopops. Der
Begriff ist meiner Meinung nach sehr verharmlosend;
ich werde ihn der Einfachheit halber trotzdem verwenden. Es geht um branntweinsteuerpflichtige Waren mit
einem Zusatz von Limonaden und Zucker oder anderen
Süßgetränken, wie zum Beispiel Cola.
Wir reden hier von einer Gruppe Kinder und Jugendlicher, die sich diese Getränke ganz normal in Geschäften besorgen, bei Feten trinken und noch nicht einmal den Eindruck haben, dass sie hochprozentigen
Alkohohl getrunken haben. Wir reden von einer Gruppe,
die altersmäßig ungefähr bei zwölf Jahren beginnt. Wir
reden von Getränken, die hauptsächlich Mädchen ansprechen. Wir reden also von Dingen, die für das, was
wir normalerweise bei Jugendalkoholismus vor Augen
haben, eigentlich recht untypisch sind. Ich denke, hier
liegt das Problem.
In den letzen Jahren hat sich durch Werbung eine
ganz bestimmte Produktgruppe herauskristallisiert. Ähnlich wie Lifestyleprodukte für Erwachsene attraktiv geworden sind, ist es für Kinder und Jugendliche attraktiv
geworden, diese Alcopops zu konsumieren. Man muss
sich vorstellen: Es kommen ungefähr zwei Gläschen
Schnaps auf eine kleine limonadenähnlich aufgepeppte
Flasche. Auch der Geschmack ist ähnlich und das Getränk ist relativ günstig zu erwerben.
Genau hier lag der Ansatz für unser Gesetz. Wir haben uns überlegt, was wir tun können, um diese Getränke unattraktiver zu machen. Es gibt eine ganze Reihe
von Möglichkeiten, präventiv etwas zu tun. Das wird
auch getan. Es laufen erstens Untersuchungen, um die
Gruppe der Konsumenten herauszukristallisieren. Es
laufen zweitens Aufklärungskampagnen. All das hat
aber noch nicht zu dem Erfolg geführt, den wir haben
wollten.
Deswegen haben wir eine Alcopopsteuer auf die
Agenda gesetzt und werden heute über sie abstimmen.
({0})
Diese Steuer führt zu einer Verteuerung um circa
84 Cent pro kleiner Flasche. Ich denke, das ist für einen
12-, 14- oder 15-Jährigen eine ganze Menge und wird
dazu führen, dass diese Alcopops weniger stark konsumiert werden.
({1})
- Hier kam gerade der Hinweis auf das Jugendschutzgesetz. Natürlich haben wir ein Jugendschutzgesetz. Das
Problem ist aber, dass die Verkäuferin an der Kasse diese
Produkte momentan kaum von irgendwelchen Energydrinks oder ähnlichen Getränken unterscheiden kann.
({2})
Deswegen werden wir diese Produkte verstärkt dort platzieren lassen, wo die hochprozentigen Alkoholprodukte
stehen. Wir werden sie auch besonders für die Verkäuferinnen und auch für die Eltern mit einer Warnmarkierung
kennzeichnen lassen, die darauf hinweist, dass der Verkauf an Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nicht
gestattet ist. Sie darüber hinaus noch mit einem Totenkopf und einer roten Plakette zu markieren fanden wir
nicht sinnvoll, weil dann eine Art Trophäensammlung
einsetzen könnte und abends auf den Feten geschaut
wird, wer die meisten Totenkopfflaschen gesammelt hat.
Das halten wir für keinen sinnvollen Ansatz.
({3})
Allerdings besteht das grundsätzliche Problem, das
man angehen muss, in der Tolerierung von Alkohol in
der Gesellschaft. Mein Landkreis liegt in einem ländlichen Bereich an der niederländischen Grenze. Ich werde
immer wieder gerade von Jugendlichen gefragt, ob ich
für die Legalisierung von weichen Drogen bin. Meine
Antwort ist immer: Wenn wir vernünftig mit Alkohol
umgehen können, können wir danach auch über alles andere reden. Wir sehen in unserem Staat Alkohol als normales Konsummittel an und stellen die Gefährdung, die
im Alkoholismus liegt, nicht besonders heraus.
({4})
Das Problem ist, dass heute bereits bei Kindergartenfesten der Bierwagen auf dem Hof steht, dass es ganz
normal ist, bei Schulfeten Alkohol zu konsumieren. Alkoholkonsum wird von den Erwachsenen toleriert, auch
wenn Jugendliche dabei sind. Ich denke, wir müssen uns
immer vor Augen führen, dass der Alkoholismus in den
meisten Fällen in jungen Jahren angelegt wird, dass die
Leute in jungen Jahren anfangen, ganz normal Alkohol
zu trinken, sich an den Geschmack zu gewöhnen und in
Problemzeiten auf den Alkohol als Problemlöser zurückzukommen. Das ist ein gesellschaftliches Problem, das
wir unbedingt angehen müssen.
({5})
Es liegt noch eine weitere Aufgabe vor uns - damit beschäftigen wir uns im zweiten Teil des Gesetzentwurfs -,
was vor allem die kostenlose Abgabe von Zigaretten
bzw. den Verkauf von Kleinstpackungen angeht. Auch
hier besteht das Problem, dass Jugendliche, wenn sie etwas kostenlos oder günstig bekommen, leicht anzuwerben sind. Dann geraten sie in Suchtgefahr, aus der sie ihr
Leben lang nicht mehr ohne Probleme herausfinden.
Deshalb haben wir in unseren Gesetzentwurf ein Verbot
von Kleinpackungen aufgenommen. Ebenfalls wird verboten, Zigaretten zu verschenken. Ich denke, auch das ist
ein ganz wichtiger Part, um etwas für die Jugendlichen
und vor allem für die Kinder zu tun.
({6})
Ich möchte noch einmal Folgendes ansprechen: Das
Mittel, in diesem Fall eine Steuer zu erheben - die
Steuereinnahmen werden laut Schätzungen zwischen
6 und 12 Millionen Euro pro Jahr betragen -, ist für uns
nur eine Möglichkeit.
({7})
- Die Steuereinnahmen sind auch nicht unser Ziel. Mir
wäre es am liebsten, wenn wir aus dieser Steuer gar
keine Einnahmen erzielten,
({8})
wenn die Jugendlichen diese Getränke also überhaupt
nicht mehr konsumierten, sondern stattdessen andere
Getränke, zum Beispiel Cola oder Limo pur.
({9})
Dadurch, dass wir die Preise für Alcopops erhöhen,
werden sie genauso teuer wie alkoholische Getränke. Es
wird nicht mehr attraktiver sein, diese Getränke zu konsumieren. Daher denke ich, dass das der richtige Weg ist.
Wenn wir aus dieser Steuer kein Geld einnehmen, haben wir das Problem gelöst; denn dann ist der Markt ausgetrocknet. Frankreich hat uns das vorgemacht. Dort hat
dieses Vorgehen sehr gut funktioniert. Die Schweiz hat
mit diesem Verfahren begonnen. Wenn wir es schaffen,
den Markt auszutrocknen, ist die Situation in Ordnung;
wenn nicht, wird das Geld, das wir einnehmen, für Präventionsmaßnahmen verwendet. Bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird extra für diese
Maßnahmen ein bestimmter Topf ausgewiesen. Wir werden ein Sonderprogramm für Prävention auflegen, mit
dem wir insbesondere Jugendliche ansprechen werden.
Denn ich denke, hier ist noch einiges im Argen und hier
muss noch einiges passieren. Jugendliche dürfen nicht
nur von der Werbung angesprochen werden, sondern sie
müssen dort, wo sie sich befinden - in den Schulen, Jugendklubs und Diskotheken -, auch von anderen Stellen
aufgeklärt werden.
Das ist ein sehr guter Gesetzentwurf, dem Sie alle zustimmen müssten.
({10})
Ich denke, auch Ihnen liegt der Schutz von Kindern und
Jugendlichen am Herzen.
({11})
Viele von Ihnen haben Kinder, vielleicht auch schon Enkelkinder. Daher denke ich, dass es Ihnen so ähnlich
geht, wie es mir gegangen ist: Ich muss sagen, dass ich
wenig Alkohol trinke. Ich habe vier Kinder im Alter von
13 bis 19 Jahren.
({12})
Bis vor einem Jahr war mir das Problem mit Alcopops in
diesem Umfang nicht bekannt,
({13})
weil die Kinder und Jugendlichen natürlich nicht mit
diesen Flaschen nach Hause kommen und diese Getränke zu Hause vor ihren Eltern konsumieren; dies tun
sie woanders. Von diesen Getränken bekommt man
keine Fahne. Die Eltern merken also nicht, dass Alkohol
getrunken wurde. Wenn beispielsweise ein Mädchen
- 12 Jahre alt, 48 Kilogramm schwer - zwei kleine Flaschen der Alcopops getrunken hat, hat es ungefähr
0,9 Promille. Die Kinder schwanken daher auch nicht.
Das ist ein schleichender Einstieg in die Sucht. Ich
finde, das müssen wir alle gemeinsam verhindern. Hier
haben wir eine Gesamtverantwortung. Daher sollten Sie
sich nicht über eine Etikettierung mit uns streiten, sondern im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen diesen
vernünftigen Weg einschlagen.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn dieser Debatte gilt es, zunächst einmal zwei Punkte festzustellen: Zum Ersten. Für die
CDU/CSU-Fraktion steht außer Zweifel, dass der Alkoholkonsum von Jugendlichen in den letzten Jahren massiv zugenommen hat. Wir arbeiten gerne daran mit, etwas dagegen zu unternehmen.
({0})
Zum Zweiten steht für die CDU/CSU-Fraktion auch außer Zweifel, dass insbesondere der Konsum von alkoholischen Mixgetränken, den so genannten Alcopops, ein
zentrales Problem darstellt; ich glaube, wir sind uns im
ganzen Haus darüber einig. Wir haben unsere Zuarbeit
geleistet: Ein entsprechender Entschließungsantrag der
CDU/CSU-Fraktion liegt vor.
Der entscheidende Unterschied zwischen Rot-Grün
einerseits und uns andererseits besteht aber darin, dass
Sie entweder dem Problem nicht ganz auf den Grund gegangen sind oder wieder einmal mit der für Sie typischen
Art und Weise eine Art Placebo-Politik betreiben. Sie legen einen Gesetzentwurf vor, dessen Ziel es sein soll,
mittels einer Sondersteuer auf spirituosenhaltige Mischgetränke Kinder und Jugendliche von den so genannten
Alcopops fernzuhalten. Eine ehrenvolle Absicht, aber
hinter dieser ehrenvollen Absicht verbirgt sich blanker
Etikettenschwindel; denn mit der von Ihnen gewählten
Definition von Alcopops als alkoholhaltige Mischgetränke auf Branntweinbasis erfassen Sie lediglich einen
minimalen Bruchteil des Mischgetränkemarktes, den
kleinsten Teil: Spirituosenhaltige Mischgetränke, die Sie
mit der Sondersteuer belegen wollen, machten 2003 nur
86 Millionen Liter aus
({1})
- hören Sie sich einmal die Zahlen an, bevor Sie zwischenrufen! -, 275 Millionen Liter waren dagegen auf
der Basis von Bier und Wein. Da verharmlosen wir
nicht, sondern wir stellen fest, dass Sie am Ziel vorbeiarbeiten.
({2})
Sie lassen mit der Ihrem Gesetzentwurf zugrunde liegenden Definition über 76 Prozent des Mixgetränkemarktes
einfach unter den Tisch fallen. Bei diesen Größenverhältnissen ist Ihr Gesetz ein Treppenwitz. Es ist
unredlich, darüber zu sprechen, dass Sie den Jugendschutz verbessern würden.
({3})
Darüber hinaus bringen Sie auch noch das Ordnungsrecht durcheinander; denn Ihr Gesetzentwurf bedeutet
faktisch eine Absenkung der Altersfreigabe für allgemeine Alcopops von 18 auf 16 Jahre. Die besondere Ironie Ihres Entwurfs liegt doch in Folgendem: Sie klammern den wesentlichen Teil des Marktes für alkoholische
Mischgetränke von der geplanten Steuer aus. Diese von
Ihnen steuerrechtlich quasi geschützten Alcopops auf
Bier- und Weinbasis dürfen bereits heute preiswerter
und legal ab einem Alter von 16 Jahren gekauft werden.
Im Gegensatz dazu dürfen die Branntweincocktails, die
Sie mit einer Sondersteuer belegen wollen, eigentlich
erst an über 18-Jährige verkauft werden. Sie subventionieren faktisch die Wein- und Biermischgetränke und
manifestieren die daraus resultierende Marktverschiebung zulasten des Jugendschutzes.
({4})
Herr Kollege Fahrenschon, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Violka?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Fahrenschon, wären Sie bereit, zumal
das Bier unter die Länderkompetenz fällt und wir aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat auf Ihre
Stimmen angewiesen sind, mit uns gemeinsam einen
Antrag einzubringen, der auch diese Getränke erfasst?
({0})
Frau Kollegin Violka, wir haben schon in der ersten
Lesung darauf hingewiesen, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf einen wesentlichen Webfehler, einen Kardinalfehler haben. Wenn Sie heute Ihren Gesetzentwurf zurückziehen, sind wir durchaus bereit, mit Ihnen über eine
Behebung dieses Problems zu reden.
({0})
Sie haben uns nie dazu eingeladen. Sie haben von Anfang an darauf bestanden,
({1})
sich nur mit spirituosenhaltigen Mischgetränken auseinanderzusetzen und Produkte auf Wein- und Bierbasis
auszuklammern. Solange Sie das tun, können wir Ihrem
Entwurf nicht zustimmen.
({2})
Langsam erkennen Sie Ihr Problem ja. In Ihrem eigenen Entschließungsantrag schreiben Sie:
Frankreich hat 1996 eine Sondersteuer auf PremixGetränke … eingeführt. … Das Beispiel Frankreich
zeigt auch, dass die Steuer zu kurz greift, da sich
entlang der Steuer ein neuer Markt etabliert hat.
({3})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
Sie haben Recht, es wird ein neuer Markt etabliert, aber
er ist eigentlich schon da: Er besteht aus den wein- und
bierhaltigen Mischgetränken. Deshalb müssen Sie sich
den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie, anstatt das Problem zu lösen, einen neuen Schub in diesen Markt
bringen werden. Statt den Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen zu bekämpfen, organisieren Sie über das
Steuerrecht eine gewaltige Nachfrageverschiebung in
Richtung wein- und bierbasierter Produkte.
({4})
Es wird aber noch besser. Sie gehen sogar so weit,
dass Sie von der Bundesregierung fordern - diese
jüngste Änderung haben Sie gestern im Finanzausschuss
beschlossen -, am 1. Juli 2005, also ein Jahr nach der
Einführung Ihrer Sondersteuer auf Spirituosenmixgetränke, einen Bericht vorzulegen, der - ich zitiere „über die Auswirkungen des Gesetzes auf den Alkoholkonsum von Jugendlichen unter 18 Jahren sowie die
Marktentwicklung von Alcopops und vergleichbaren
Getränken berichtet“. Man muss sich schon fragen, warum Sie ein Gesetz vorlegen, von dem Sie selber wissen,
dass es nicht zu den gewünschten Verbesserungen beim
Jugendschutz führen wird,
({5})
sondern zu einer Verschiebung der Nachfrage am Markt
auf die andere Seite der Produktpalette. Warum hören
Sie eigentlich nicht auf die Union? Wir haben Ihnen den
Vorschlag gemacht, umfassende Präventionsarbeit und
die konsequente Umsetzung des bestehenden Jugendschutzgesetzes in den Mittelpunkt der Initiative zu stellen.
Sie vergessen oder lassen außer Acht, dass jeder Minderjährige beim Erwerb eines branntweinhaltigen Produkts in die Situation gerät, dass er dieses Produkt illegal
erwirbt, und dass der Verkäufer gemäß § 28 Abs. 1 Jugendschutzgesetz eine Ordnungswidrigkeit begeht. Eine
solche Alkoholabgabe wird dadurch illegal, dass sich die
Regelungen des Jugendschutzgesetzes auf die Alkoholbasis beziehen und nicht auf den Alkoholgehalt. Konsequent wäre daher eine Gleichbehandlung aller
Mischgetränke bzw. eine Abgabebeschränkung dieser
Getränkekategorien, gleich welchen alkoholischen Gehalts, an Volljährige.
({6})
Die Wahrheit aber ist: Um eine Änderung des Jugendschutzgesetzes hinsichtlich der Alkoholabgabe an Jugendliche durchzusetzen, fehlt Rot-Grün die Kraft. Stattdessen schießen Sie mit dem Steuerrecht auf Spatzen.
Herr Kollege Fahrenschon, beantworten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Violka?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Fahrenschon, beantworten Sie mir bitte folgende
Frage: Wie kann nach Ihren Vorstellungen das Jugendschutzgesetz durchgesetzt werden, wenn die alkoholischen Getränke von älteren Geschwistern oder Freunden
gekauft und dann an die jüngeren Geschwister weitergegeben werden? In diesem Fall sind die Verkäufer und der
Wirt nicht in der Pflicht. Schließlich können sie nicht
den Weg der Flasche verfolgen und überprüfen, in wessen Hände sie gelangt.
({0})
Liebe Frau Kollegin Violka, mir ist dieses Problem
durchaus bekannt. Im Zentrum steht aber doch die Frage,
was wir tun können, damit ein Jugendlicher unter
18 Jahren an der Kasse keine auf Branntwein basierenden Mischgetränke bzw. Branntweingetränke insgesamt
erhält. Sie werden mir zugestehen müssen, dass das
Steuerrecht mitnichten der richtige Weg ist, um dieses
Problem zu beseitigen.
({0})
Wir haben Ihnen einen Vorschlag zu einer besseren
Kennzeichnungspflicht der spirituosenhaltigen Mischgetränke unterbreitet. In einem Änderungsantrag haben
wir beispielsweise die Einführung eines deutlich sichtbaren Warnhinweises auf einem leuchtend roten Kronkorken vorgeschlagen. Wie Sie auf einen Totenkopf kommen, liebe Frau Kollegin, weiß ich nicht. Vielleicht war
das ein freudscher Versprecher vor dem Bild Ihres Bundesfinanzministers. Das müssen wir hier aber nicht weiter vertiefen.
Unserer Meinung nach ist dies eine sinnvolle Maßnahme zur Verbesserung des Jugendschutzes, auch wenn
Sie behaupten, die Kinder könnten dadurch noch einfacher alkoholartige Spirituosenmixgetränke erkennen. Sicher: Durch einen roten Kronkorken wäre für jedermann
schnell und einfach auf den ersten Blick erkennbar, dass
dieses Getränk erst für Erwachsene ab 18 Jahren ist.
Aber gerade durch das schnelle und einfache Erkennen
kommt es an der Kasse und damit am neuralgischen
Punkt der Handelskette nicht zum Verkauf an Jugendliche. Missverständnisse beim Verkauf der Ware könnten
dadurch minimiert bzw. völlig ausgeräumt werden. Im
Übrigen bietet diese Farbe eine effektive Kontrollmöglichkeit für die Eltern; denn Flaschen mit roten Kronkorken gehören nicht auf eine Party bei Kindern unter
18 Jahren.
({1})
Diese Maßnahme wäre einfach und praktikabel.
({2})
Meine Damen und Herren, die Union stellt außer
Zweifel, dass der Alkoholkonsum von Jugendlichen in
den letzten Jahren massiv zugenommen hat und dass dagegen unbedingt etwas unternommen werden muss. Wir
müssen uns dabei vor allem die Frage stellen, warum
Kinder trinken. Neben dem Gesetzgeber sind auch die
Eltern, die Lehrer und die Gesellschaft aufgefordert, die
Ursachen zu suchen und zu beheben. Eine einseitige
Sondersteuer, wie Sie sie in Ihrem Gesetz vorschlagen
und heute durchdrücken werden, ist keine Lösung und
wird dem Problem nicht gerecht.
Sind Sie sich eigentlich nicht im Klaren darüber, dass
durch Ihre willkürliche Definition einer Sondersteuer für
Alcopops ausschließlich auf Spirituosenbasis allen
Händlern, Wirten und vor allem den Jugendlichen suggeriert wird, Bier- und Weinmixgetränke seien trotz
überwiegend gleichen bzw. ähnlich hohen Alkoholgehalts harmloser? Ist nicht Alkohol gleich Alkohol, egal
auf welcher Basis er hergestellt wird?
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir klare Abgaberegeln brauchen. Wir müssen gemeinsam mit Eltern und Schule Kinder und Jugendliche über die Gefahren des Alkoholmissbrauchs aufklären und sie warnen.
Dabei werden Sie von unserer Seite jegliche Unterstützung erfahren. Wir sprechen uns aber ausdrücklich gegen eine willkürliche Strafsteuer aus, die das Jugendschutzgesetz letztlich ad absurdum führt. Für uns ist klar
- ich zitiere den französischen Filmregisseur Jean
Cocteau -:
Wer der Jugend vorangehen will, muss gerade
Wege gehen.
Willkür ist fehl am Platze.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Fahrenschon, aus irgendeinem Grunde
habe ich Ihnen Ihre Rede nicht abgenommen. Ich hatte
den Eindruck, dass Sie nicht dahinter standen, als Sie
sagten: Wir dürfen keine Steuer auf Alcopops erheben,
weil wir dadurch eine Substitution in andere Bereiche ermöglichen würden. Es würde nur funktionieren, wenn
wir auch auf diese anderen Getränke eine Steuer erheben. - Das ist eine krude Argumentation.
({0})
Die Sachverständigen haben bei der Anhörung deutlich gemacht, dass Alcopops Einstiegsdrogen sind, weil
sie verharmlosend sind und Kinder und Jugendliche an
den Genuss von Alkohol gewöhnen. Aufgrund des Geschmacks wissen sie nicht, dass sie sich betrinken. Sie
haben den Bericht des Krankenhausleiters gehört, der
von jungen Mädchen erzählt hat, die sturzbetrunken,
quasi im Koma, zu ihm ins Krankenhaus kommen. Diese
Mädchen wissen nicht, dass sie nach dem Konsum von
fünf Flaschen Alcopops einen Alkoholgehalt im Blut haben, den sie mit Radler oder Cola-Bier nie erreichen
könnten, weil ihnen vorher schlecht würde.
({1})
Es geht um den Gewöhnungsprozess, um den gewohnheitsmäßigen Konsum. Wir haben, ebenso wie Eltern und Schule, eine Verantwortung wahrzunehmen.
Dadurch, dass Sie sich hier verweigern, nehmen Sie
diese Verantwortung nicht wahr.
({2})
- Auf die Alternativen komme ich gleich garantiert zu
sprechen. Von diesen Alternativen halte ich nicht sehr
viel.
Wir haben die Zielgruppe vor Augen: Jugendliche,
Kinder, vor allem junge Mädchen, weil sie imageorientiert sind. In dem Bericht der Suchtbeauftragten konnten
wir lesen, dass sich der Alkoholkonsum junger Mädchen
dort, wo Alcopops beworben wurden, drastisch erhöht.
Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Man kann
doch nicht so tun, als sei dem nicht so.
({3})
Deswegen ist die Steuer keine Strafsteuer, sondern eine
Schutzsteuer. Wir wollen schützen.
({4})
Die Union gibt - wie eigentlich immer - Kontra und
sagt: Nein, das machen wir nicht. Sie behaupten, über
die Zielsetzung herrsche Einigkeit. Sie stellten, wie ich
finde, wirklich legitime Fragen: Wie erreicht man den
besten Jugendschutz? Wie kann man das gemeinsame
Ziel erreichen? Erzielt diese Steuer die Lenkungswirkung? Bei der dreistündigen Anhörung haben Sie doch
mitbekommen, dass die Experten aus dem Sucht- und
Drogenbereich einhellig der Meinung sind, dass Preissteigerungen ein wirksames Mittel sind. Ich kann nicht
verstehen, wie Sie sich trotzdem hier hinstellen und behaupten können, eine Preissteigerung würde nicht funktionieren. Das geht mir nicht in den Kopf.
({5})
Sie befürchten Substitutionseffekte. Was ist da wirklich dran? Auch diesbezüglich waren sich die Experten
bei der Anhörung doch einig: Substitution funktioniert in
der von Ihnen beschriebenen Form nicht, weil die Alcopops süß, klebrig und bunt sind, weil man den Alkohol
nicht schmeckt und sie mit einer Imagekampagne heftig
vermarktet werden. Da kann ein Radler nicht mithalten.
Deshalb existiert die Substitutionsgefahr, die Sie formuliert haben, nicht.
({6})
Die Studie hat gezeigt, dass ein langfristiger Trend zum
Rückgang zu normalen Alkoholika erkennbar ist. Langfristig wird weniger Alkohol getrunken, außer beim
Alcopopkonsum junger Mädchen. Sie können nicht so
tun, als sei das nicht so.
({7})
Sie können nicht nur das hören, was Sie hören wollen.
Das funktioniert nicht.
({8})
Jetzt komme ich zu der Preissteigerung durch eine
Steuer. Ich gebe Ihnen völlig Recht: Wir brauchen einen
Strategiemix. Wir brauchen eine bessere Kontrolle im
Jugendschutz und Präventionsmaßnahmen. Wir brauchen aber auch diese Steuer, um einen Lenkungseffekt
zu erzielen. Wir brauchen übrigens auch Motivation zur
Verhaltensänderung. Hier ist die BZgA die richtige Institution, um die Kampagne zur Prävention auf den Weg zu
bringen. Deswegen soll die BZgA dieses Programm auflegen.
({9})
Frau Kollegin Andreae, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Andreae, ich möchte Sie an dieser
Stelle ganz herzlich bitten, Namen und Textstellen zu
nennen für Ihre Annahme, dass wir die Gefahr, die von
Alcopops für Kinder und Jugendliche ausgeht, verharmlosen.
({0})
Ich habe mir Ihre Ausführungen fünf Minuten lang angehört. Meine Frage ist: Wo steht, dass wir die Gefahr verharmlosen? Nennen Sie bitte Ross und Reiter. Dann können wir das ausdiskutieren.
({1})
Das kann ich gerne tun, Frau Fischbach. Ich bin der
Meinung, dass die Maßnahmen, die Sie in Ihrem Antrag
zur Eindämmung des Alcopopkonsums vorschlagen,
nicht ausreichend greifen würden. Die Maßnahmen, die
wir vorschlagen, sind besser.
({0})
Der Vorschlag, den ich wirklich absurd finde, ist
die Einführung von roten Kronkorken. Herr
Fahrenschon, ich glaube, Sie sind ein halbes Jahr älter
als ich. Kennen Sie noch das Prämiensammeln? Ihr Vorschlag würde darauf hinauslaufen; denn so würden die
Jugendlichen am Abend zusammensitzen und die Anzahl ihrer Kronkorken vergleichen. Dann würde des heißen: Mench, ich habe schon sechs Kronkoren. Ich bin
viel toller. - Diese Maßnahme greift nicht. Deswegen
fordere ich Sie auf, einer nachweislich wirksamen Maßnahme zuzustimmen. Sie hat in Frankreich und in der
Schweiz gewirkt und wird auch bei uns Wirkung entfalten.
({1})
Ich behaupte: Sie verharmlosen dieses Problem, weil Sie
nicht bereit sind, die entscheidenden Maßnahmen mitzutragen.
({2})
Frau Kollegin Andreae, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fahrenschon?
Bitte schön.
({0})
Frau Kollegin Andreae, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass unser wesentliches Problem bei der Abgabe
von Branntwein an Jugendliche die Tatsache ist - darauf
hat der Einzelhandel hingewiesen -, dass in der Stresssituation an Kassen in Deutschland eine Kontrolle nicht
stattfinden kann? Vor diesem Hintergrund sind wir der
festen Überzeugung, dass uns eine Kennzeichnung an
markanter Stelle an dem neutralen Punkt der Handelskette deutlich weiterhelfen würde.
Abgesehen davon möchte ich Sie bitten, sich darüber
Gedanken zu machen, ob nicht auch die Eltern einbezogen werden müssen. Ihre Kollegin von der SPD-Fraktion
hat selber darauf hingewiesen, dass sie diese Produkte
vorab gar nicht kannte. Wir schaffen mit einer klaren
Kennzeichnung an markanter Stelle, am Korken, auch
für die Eltern ein Signal.
({0})
Sie sollten sich überlegen, ob Ihr Vorwurf, wir könnten
damit eine Sammelwut auslösen, nicht ein Tritt unter
dem Tisch ist und sachlich in keiner Weise nachvollzogen werden kann.
({1})
Herr Kollege Fahrenschon, ich habe gerade bereits
gesagt: Erstens. Ich bin der Meinung, dass auch die Eltern in der Pflicht stehen. Zweitens. Ich bin ebenso der
Meinung, dass im Rahmen eines Mixes verschiedene
Einzelmaßnahmen, die insgesamt zu einem guten Ergebnis führen, ergriffen werden müssen. Drittens. Ich bin
durchaus der Meinung, dass auch der Einzelhandel in
der Verantwortung steht. Das hat damit zu tun, wo die
Getränke stehen. Sie dürfen nicht neben Cola und Limonade stehen, sondern müssen neben Schnaps und Doppelkorn stehen, wo sie hingehören. Das hat ebenfalls damit zu tun, wie die Kassiererinnen diese Getränke
erkennen können.
Es ist jedoch lebensfremd, zu glauben, dass ein
18-Jähriger nicht in der Lage ist, sich an der Tankstelle
oder im Supermarkt die Tüte mit Alcopops zu füllen, um
diese danach seinen Kumpels im Alter von 15, 16 oder
17 Jahren zu geben.
({0})
So ist das nun einmal. Dieser Lebenswirklichkeit muss
man sich stellen. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie dies nicht
tun.
({1})
Ich will noch zu einem kuriosen Punkt aus der Anhörung kommen. Der Einzelhandel - das haben wir schon
gehört - hat sich in dieser Angelegenheit positiv geäußert und erklärt, seiner Verantwortung dadurch nachzukommen, dass die Produkte nicht bei der Limonade
stehen und die Kassiererinnen stärker in die Pflicht genommen werden. Vonseiten der FDP gab es die Überlegung, den Barcode so zu ändern, dass an der Kasse eine
Meldung erscheint, das Produkt nur an Jugendliche über
18 Jahren auszugeben. Das finde ich gar nicht so unklug.
Das kann man sich im Rahmen eines Mixes verschiedener Maßnahmen überlegen.
Der Einzelhandel hat aber auch gesagt, es werde über
die Einführung einer Kundenkarte nachgedacht. Was
aber heißt das? Dann sieht man, welche Tütensuppen
man kauft, ob die Hühner, deren Eier man kauft, glücklich waren und welche Getränke man trinkt. Dieser Vorschlag erscheint mir sehr dubios. In die Richtung wollen
wir nicht gehen. Damit hätte sicherlich auch die FDP
große Probleme.
({2})
Fazit: 19,5 Prozent der Todesfälle in Deutschland - so
ist uns in der Anhörung gesagt worden und das kann
man in den Berichten lesen - haben inzwischen als Ursache Alkohol- und Tabakkonsum. Die Union hätte jetzt
die Chance, den Expertinnen und Experten der Anhörung zu folgen und mit uns zusammen dieses Gesetz auf
den Weg zu bringen. Eine Ablehnung ist verantwortungslos.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Haupt von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! In der Anhörung zum Gesetzentwurf wurde von
den Experten eindrucksvoll bestätigt, dass alkoholische
Mixgetränke gerade bei Kindern und Jugendlichen einen
Konsumtrend und damit bedenklichen Alkoholmissbrauch ausgelöst haben. Deutlich wurde aber auch: Das
Konsumverhalten von Jugendlichen unterliegt oft
schnelllebigen Trends.
({0})
Es ist weder möglich noch sinnvoll, jedem aktuellen Jugendtrend eine Sondersteuer entgegenzustellen.
({1})
Es ist naiv, zu glauben, mit einer einseitigen Besteuerung
bestimmter Getränke könne man Jugendliche vom Alkoholkonsum abbringen. Sie steigen einfach auf andere
Getränke um. Sie kennen die Alternativen.
Der vorliegende Gesetzentwurf eröffnet gleich mehrere Möglichkeiten: Erstens. Kinder und Jugendliche
werden von Markengetränken auf Produkte der Billighersteller umsteigen.
({2})
Zweitens. Sie werden die nicht gesondert besteuerten
und billigeren Mixgetränke auf Wein- und Bierbasis
kaufen.
({3})
Schon heute sind die wein- und bierbasierten Mixgetränke ganz klar marktbeherrschend. Hören Sie bitte zu:
Rund 30 Produkte dieser Kategorie haben einen höheren
Alkoholgehalt als die durchschnittlichen spirituosenbasierten Mixgetränke.
({4})
Drittens. Schließlich sagen mir Jugendliche in jeder
Diskussion: Wir mixen unsere Drinks selber.
Aber nicht nur die Jugendlichen steigen um, auch
viele Hersteller werden das tun. Schon heute produziert
ein führender Markenhersteller sein in Deutschland auf
Branntweinbasis angebotenes Mixgetränk in den USA
auf Bierbasis mit gleichem Geschmack und mit gleichem Alkoholgehalt. Unter diesen Umständen ist eine
Sondersteuer absurd.
({5})
Zudem ist angesichts der Zahl der Minderjährigen, die in
den Tabakkonsum einsteigen, fraglich, inwieweit das
Problem realistisch über den Preis bekämpft werden
kann; denn die Erhöhung der Tabaksteuer hat in den vergangenen Jahren in keiner Weise zur Eindämmung des
Tabakkonsums bei Jugendlichen geführt.
Für die Liberalen hat gerade die konsequente Durchsetzung der bestehenden Gesetze Vorrang.
({6})
Ein Vollzugsdefizit darf kein Anlass zur Schaffung neuer
Steuertatbestände werden. Gegen die selektive Besteuerung nur der spirituosenbasierten Alcopops wurden zudem
in der Anhörung verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. So sieht eben das Ergebnis aus, wenn man Jugendschutz unter Federführung des Finanzministers macht.
Angesichts der relativ neuen Situation mit den Alcopops werden neue Fragen aufgeworfen, die mir als Jugendpolitiker wichtig sind; der Kollege Fahrenschon hat
darauf hingewiesen. Die heutigen Verbote einer Abgabe
von alkoholischen Produkten an Kinder und Jugendliche
treffen die Gefährdung nur noch ungenau. Die Anhörung
hat erneut bestätigt: Das für Kinder und Jugendliche Gefährliche an den Fertigmixgetränken ist, dass der Alkoholgeschmack verdeckt und der Kindergeschmack genau getroffen wird.
Die Unterscheidung zwischen den zwei Altersgrenzen von 16 und 18 Jahren im Jugendschutzgesetz wird
dieser Problematik jedoch nicht gerecht, weil sie sich auf
die Alkoholbasis - für Bier bzw. Biermix gilt die Altersgrenze von 16 Jahren, für Spirituosen bzw. Spirituosenmix die von 18 Jahren - und nicht auf den Alkoholgehalt
bezieht. Bier- und weinbasierte Alcopops haben aber einen ähnlichen Alkoholgehalt und sind nicht minder gefährlich für Kinder und Jugendliche. Wir müssen insofern gemeinsam überlegen, wie die Regelungen des
Jugendschutzgesetzes geändert werden können, damit
sie Kinder und Jugendliche zielgenauer vor Alkoholmissbrauch schützen.
({7})
Dass das Gesetz allein den Jugendschutz nicht garantieren kann, ist uns allen klar. Aber ich kann mich nicht
damit abfinden, dass es bei Alkohol und Tabakwaren
nicht ausreichend umgesetzt wird. Daher plädiert die
FDP mit ihrem Antrag genau dafür und für einen Maßnahmemix aus Information, Aufklärung, Kontrolle, Verantwortung von Eltern und Schule, veränderter Werbung
und weiteren Selbstverpflichtungen von Herstellern,
Handel und Gastronomie.
({8})
Auch technische Vorrichtungen zur Abgabekontrolle an den Kassensystemen können einen wirksamen
Beitrag zum Jugendschutz leisten. Frau Staatssekretärin,
Sie haben sich darüber in der ersten Lesung belustigt geäußert.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Abgeordneten Caspers-Merk?
Ich würde das gerne noch fortsetzen; dann können Sie
zielgerichteter fragen.
({0})
Bei einer großen Schweizer Einzelhandelskette muss
seit einiger Zeit bei jedem Alkoholverkauf das Personal
gegenüber der Kassenanzeige bestätigen, dass es das Alter des Käufers überprüft hat. Auch an den SB-Kassen
einer deutschen Einkaufsmarktkette, bei denen kein Personal mehr eingesetzt wird, gibt es wohl schon technische Kontrollen für den Alkoholverkauf, wie aus der
Antwort der Bundesregierung auf meine schriftliche Anfrage zu entnehmen ist. Auch erste Tankstellen in
Deutschland arbeiten nach diesem Prinzip.
Frau Staatssekretärin, ein Mautdebakel ist nicht zu
befürchten, wenn, wie von den Liberalen gefordert, die
betroffenen Wirtschaftszweige selbst die Chance haben,
solche Systeme zu entwickeln.
({1})
Herr Kollege, ich kann die Zwischenfrage nicht mehr
zulassen. Sie haben Ihre Redezeit überschritten.
Ich komme zum Schluss.
({0})
- Es gibt angesichts des Alcopopproblems viele Erfolg
versprechende Ansätze, den Jugendschutz zu verbessern.
Die Einführung einer Sondersteuer gehört offenkundig
nicht dazu.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren“ und „Auf einem Bein kann man nicht stehen“:
Diese Art weinseliger Sprüche sind uns allen - auch uns
Abgeordneten - bestens bekannt. Denn leider ist der Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit und wird entsprechend verharmlost.
Wir verabschieden heute ein Gesetz, das Kinder und
Jugendliche vor den Gefahren des Alkoholkonsums
schützen soll. Denn im Gegensatz zu Erwachsenen können sie die Auswirkungen, die Alkohol auf ihren Körper
und auf ihre Entwicklung hat, nicht einschätzen. Sie sind
sich des Risikos, dass Alkohol auch schon im frühen Alter zur Abhängigkeit führen kann, nicht bewusst.
Kinder und Jugendliche orientieren sich am Verhalten
von Erwachsenen. Außerdem sind sie noch viel stärker
als Erwachsene Gruppenzwängen ausgesetzt.
Junge Menschen haben eine natürliche Hemmschwelle
gegenüber Spirituosen. Würde man einem 13-jährigen
Mädchen einen Schnaps anbieten, so würde es bereits der
stechende Geruch allein vom Probieren abhalten. Deshalb stellt sich die Frage, warum der Alkoholkonsum
bzw. der Alcopopkonsum bei Kindern und Jugendlichen
dennoch so rasant gestiegen ist.
Alcopops basieren auf Branntwein. Genau genommen
- die Kollegin Arndt-Brauer hat es bereits erwähnt - enthält eine Flasche eines handelsüblichen Branntweinmixgetränkes durchschnittlich zwei Gläser puren Schnaps.
Diesen Schnaps schmeckt man aber nicht. Denn durch
den Zusatz von Limonaden, Zucker oder Saft verschwindet der Alkoholgeschmack fast vollständig. Dies funktioniert bei Branntwein. Bei Mischgetränken, die zum
Beispiel auf Bier oder Wein basieren, wird man dagegen
noch immer einen leichten, bitteren Alkoholgeschmack
herausschmecken. Deshalb sind diese Getränke für
junge Menschen und insbesondere für Kinder bei weitem nicht so interessant wie die auf Branntwein basierenden Alcopops. Die natürliche Hemmschwelle, die
junge Menschen bei Alkohol haben, wird durch den
Konsum von Alcopops herabgesetzt. Wenn Kinder und
Jugendliche Alcopops konsumieren, dann tun sie das
nicht, um Schnaps zu trinken. Sie wollen damit vielmehr
erwachsen wirken und dem von der Werbung suggerierten Zeitgeist entsprechen.
({0})
Um die bunt verpackten und süß schmeckenden Alcopops ist mittlerweile ein wachsender Markt entstanden;
denn hier wird nicht Schnaps, sondern ein Image verkauft. Coole Menschen konsumieren aus der Flasche
coole Getränke. So lautet die Werbebotschaft. Diese
Strategie zeigt Wirkung. Der Alcopopkonsum hat sich
seit 1998 vervierfacht. Dies, verehrter Kollege Haupt,
als Jugendtrend zu bezeichnen ist falsch und verharmlosend.
({1})
Die Alcopops zählen zu den beliebtesten alkoholischen
Getränken der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen
({2})
- Sie haben richtig gehört: zu den beliebtesten alkoholischen Getränke der 14- bis 17-Jährigen! -, und das, obwohl sie eigentlich nur an Erwachsene verkauft werden
dürfen. Hier wird gegen unser Jugendschutzgesetz, ein
gutes Gesetz, verstoßen. Aber wir alle wissen: Die besten Gesetze sind wirkungslos, wenn sie nicht eingehalten
werden.
({3})
- Prima, dass Sie mir zustimmen. Dann können Sie
gleich auch unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Gerade der Jugendschutz kann nur dann funktionieren, wenn sich alle in der Gesellschaft an die diesbezüglichen Bestimmungen halten und sich verantwortlich
fühlen.
Die verschärfte Kennzeichnungspflicht, die unser Gesetzentwurf vorsieht, soll unter anderem das Verkaufspersonal dazu anhalten, keine Alcopops an Minderjährige abzugeben. Aber - hier appelliere ich an Sie alle es sollte jeden von uns angehen, wenn wir sehen, wie
vor uns an der Kasse ein 13-Jähriger Alkohol oder eine
11-Jährige Zigaretten kauft. Hier muss man hinschauen
und handeln und darf das nicht einfach hinnehmen.
({4})
Die Kennzeichnungspflicht - um diese geht es in
dem neuen Paragraphen des Jugendschutzgesetzes - hilft
uns dabei, die Erziehungskompetenz der Eltern zu stärken; denn auch sie müssen lernen, dass nicht alles harmlos ist, was als harmlos verkauft wird. Gerade weil Alcopops durch ihre Aufmachung eher an Fruchtschorlen
oder an bunte Limonaden erinnern und in den Supermarktregalen direkt neben den Fruchtsäften aufgereiht
sind, vermuten Eltern, das Verkaufspersonal und auch
die Jugendlichen keinen oder zumindest keinen derartig
hohen Alkoholgehalt. Deshalb brauchen wir eine Kennzeichnungspflicht für Alcopops, die diesen Namen auch
verdient. Das bedeutet, dass wir eine Debatte über rote
Kronkorken lieber nicht führen sollten. Wir meinen es
ernst mit dem Jugendschutz. Die sichtbare Kennzeichnung von Alcopops ist auch nur ein Mosaikstein unserer
gesamten Strategie.
Übrigens, die Tatsache, dass sich an der Erarbeitung
des Gesetzentwurfs verschiedene Ressorts beteiligt haben, sehe ich nicht als Nachteil an. Im Gegenteil: Hier
begreifen wir Jugendschutz als eine gemeinsame Aufgabe und nehmen sie auch ernst.
({5})
Mit der geplanten Sonderabgabe auf Alcopops wird
nicht nur ein Lenkungseffekt in Bezug auf das Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen erzielt. Die
Einnahmen aus der Abgabe werden vielmehr auch in
eine gesonderte, groß angelegte Aufklärungs- und Präventionskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fließen. Darüber hinaus - auch das ist
ein weiterer Mosaikstein unserer Strategie - werden wir
bereits zum 1. Juli 2005 überprüfen, wie sich der Alkoholkonsum bzw. der Markt der alkoholischen Mixgetränke nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes entwickelt
hat.
({6})
Nicht zuletzt hat auch diese intensive Debatte - wir
führen sie schon seit einigen Monaten - zu einer Sensibilisierung in der Gesellschaft beigetragen. Viele reden
über Alcopops. Wir wollen mit diesem Gesetz dafür sorgen, dass sie nicht in aller Munde sind.
Herzlichen Dank.
({7})
Mir liegen zwei Wünsche zu einer Kurzintervention
vor.
Zuerst gebe ich der Kollegin Marion Caspers-Merk
das Wort, die auf die Rede des Kollegen Haupt eingehen
möchte.
Herr Kollege Haupt, Sie haben mich vorhin direkt angesprochen. Ich will zu den Einlassungen der FDP drei
Bemerkungen machen.
Erstens. Sie sind gegen das Erheben einer Steuer, weil
Sie glauben, man könne das Ziel allein durch mehr Jugendschutz und durch die Einführung eines Barcodemodells erreichen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass
man gerade in der Schweiz, die die Barcodemodelle erprobt, zu dem Ergebnis gekommen ist, dies reiche nicht
aus und man müsse eine Sondersteuer erheben, weil es
darum gehe, diese Produkte gezielt zu verteuern, damit
keine falschen Anreizstrukturen entstünden. Zur Besteuerung gibt es keine Alternative; der Geldbeutel ist ein
wichtiges Erziehungsinstrument.
Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass Ihre Einlassungen unzutreffend waren. Zum Beispiel geht überall
dort, wo die Tabaksteuer deutlich erhöht worden ist, insbesondere der Anteil jugendlicher Raucher zurück. Das
können Sie in zahlreichen WHO-Studien nachlesen. Die
Tauglichkeit dieses Instruments ist weltweit deutlich geworden. Auch wir haben mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass gerade Jugendliche auf die deutliche Verteuerung eines Produktes reagieren, also preissensibel sind.
Zweitens. Sie haben verfassungsrechtliche Bedenken
geäußert. Auch die beteiligte Industrie weist darauf immer wieder hin. Bei uns ist niemand daran gehindert, das
Verfassungsgericht anzurufen. Dieser Weg ist frei von
Kosten und öffentlichkeitswirksam. Tatsache ist: Bislang
ist es völlig legal, eine Sondersteuer auf Sondertatbestände zu erheben. Wenn diese Getränke nicht speziell
für unter 18-Jährige designt worden wären, wenn mit der
Werbung nicht speziell unter 18-Jährige angesprochen
würden, dann müssten wir dieses Problem jetzt nicht lösen. Es ist richtig, dass eine Schutzsteuer gerade diese
Hersteller trifft; denn es geht nicht mehr an, dass die eine
Seite den Profit macht, während die öffentlichen Hände
und die Sozial- und Krankenkassen hinterher die Suchtprobleme vieler bewältigen müssen.
({0})
Drittens. In dieser Debatte wurde zwischen der Steuer
auf Branntwein und der auf bier- und weinhaltige Getränke unterschieden. Auch in dieser Hinsicht sind die
Zahlen vernebelnd. Die Argumentationen, die auf halbseitigen Anzeigen in großen Tageszeitungen zu lesen
waren, sind unzutreffend. Die überwiegende Anzahl der
Probleme besteht bei Markenprodukten, die auf Branntwein beruhen. In Analysen, gerade in Amerika, wurde
nachgewiesen - auch davon war die Rede -, dass fast
alle Produkte, die vergorene Bestandteile enthalten, also
Bier und Wein, auch Branntwein enthalten. Die Vorlage,
die an genau dieser Stelle ansetzte, ist aufgegriffen worden; deswegen wird es in Zukunft keine Umgehungstatbestände geben.
({1})
Zur Erwiderung Herr Kollege Haupt.
Frau Staatssekretärin, wir sind uns einig: Es gibt
keine Maßnahme, mit der man dieses gewaltige Problem
gewissermaßen per Knopfdruck lösen kann; notwendig
ist ein Maßnahmenmix. Da uns diese Sache sehr ernst
ist, will ich jede Polemik vermeiden, wie ich es auch zuvor, als ich auf Sie eingegangen bin, getan habe.
Es geht darum, dass wir auf die Frage des Alkoholkonsums von Jugendlichen eine Antwort finden. Wir
sind uns einig, dass es einen bestimmten Trend - Stichworte „süß“, „verführerisch“; er wurde hier charakterisiert - gibt, auf den man nicht mit einer Maßnahme reagieren kann. Sie glauben an eine Wundermaßnahme, das
heißt an eine Wundersteuer. Da liegen unsere Positionen
weit auseinander.
({0})
- Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass ich in Bezug
auf die Umsteigemöglichkeiten sachlich argumentiert
habe! Sie können diese Möglichkeiten nicht wegdiskutieren.
({1})
Sie können nicht bestreiten, dass ein führender Weltproduzent in Amerika schon heute entsprechende Produkte mit demselben Alkoholgehalt auf Bierbasis herstellt - man kann heutzutage alles mit einem
entsprechenden Aroma versehen -, die er in Deutschland
mit der Aufschrift „weinbrandhaltig“ verkauft. Gegenüber diesen Umsteigevarianten darf man doch nicht
blind sein; man darf die Möglichkeit nicht einfach wegschieben.
({2})
Frau Staatssekretärin, wir unterscheiden uns wahrscheinlich in einem weiteren Punkt. Ich bin Jugendpolitiker. Ich denke zuallererst an das Jugendschutzgesetz.
Ich denke zuallererst daran, wie man dieses Jugendschutzgesetz besser ausschöpfen kann. Ich will es nicht
hinnehmen, dass dieses Gesetz massiv unterwandert
wird und wir dann mit einer Steuer etwas nachlegen. Das
ist nicht Jugendschutzpolitik, wie ich sie verstehe.
({3})
Was die Verfassungsklage angeht, haben Sie in der
Aufregung wahrscheinlich nicht ganz richtig zugehört.
Ich habe darauf hingewiesen, dass eine Verfassungsklage von einigen erwogen wird. Sie wird nicht von mir
und nicht von der FDP erwogen. Für mich war das nur
noch ein weiteres Argument, um deutlich zu machen:
Wenn Jugendschutz unter Federführung des Finanzministers gemacht wird, sollten alle Jugendschutzpolitiker allergisch reagieren.
({4})
Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Parr das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte auf Frau Bätzing eingehen.
Erstens. Frau Bätzing, Sie haben erwähnt, dass die
Steuermehreinnahmen in einen Sondertopf für Kampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kommen sollen. Die Debatte bisher hat das zu
erwartende Ausweichverhalten sowohl der Hersteller als
auch der Jugendlichen noch einmal sehr deutlich gemacht. Was tun wir, wenn die Mehreinnahmen nicht ausreichen? Sie selbst haben im Gesetzentwurf einen Prüfauftrag formuliert. Sie sind sich wohl selbst nicht sicher,
ob das angepeilte Ziel zu erreichen ist.
Wir sind uns darin einig, dass die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung sehr gute Kampagnen
macht. Sie macht zum Beispiel die Kampagne „Kinder
stark machen“. Es ist wichtig, dass die Persönlichkeit der
Jugendlichen gestärkt wird, damit sie für die Verführung
durch die Werbung oder für den Gruppendruck Gleichaltriger weniger anfällig werden. Ich frage mich, was Sie
tun, wenn die Steuermehreinnahmen für eine Kampagne
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nicht
reichen. Werden Sie die Aufstockung der Mittel dann anders hinbekommen?
Zweite Bemerkung. Es ist über die Werbung gesprochen worden. Mir fehlt der Hinweis darauf, dass die Hersteller und Importeure von Spirituosen aufgefordert werden sollten, die freiwilligen Verhaltensregeln für die
Werbung mit alkoholischen Getränken, die sie schon
1976 in einer Vereinbarung mit dem Zentralverband der
deutschen Werbewirtschaft erarbeitet haben, zu aktualisieren. Es ist ganz wichtig, denke ich, dass Werbespots
nicht leichtfertig auf Zielgruppen gerichtet werden dürfen, die dem Jugendschutz unterliegen. Gegebenenfalls
muss der Deutsche Werberat eingreifen.
Dritter Punkt. Sie setzen auf die Steuerung über den
Preis. Ich kann Ihnen nur in einem Fall zustimmen: Es
muss in der Gastronomie zur Regel werden, dass neben
Kaffee und Tee mindestens ein nicht alkoholisches Getränk deutlich billiger angeboten wird als die alkoholischen Getränke. Wir haben vorhin über Coca-Cola und
Limonaden gesprochen. Gehen Sie mal in Kneipen! Sie
werden feststellen, dass die Cola häufig teurer angeboten
wird als das Bier. Das ist nicht akzeptabel. Hier müssten
positive Anreize gesetzt werden. Sie wären allemal besser als eine Strafsteuer, wie Sie sie hier zur Abstimmung
stellen.
({0})
Frau Kollegin Bätzing.
Herr Kollege Parr, Sie sprechen den Bericht an, den
wir von der Bundesregierung zum 1. Juli 2005 verlangen. Dabei handelt es sich nicht um einen Prüfauftrag.
Vielmehr soll eine Evaluierung stattfinden, damit man
sieht, wie sich das Gesetz ausgewirkt hat. Deswegen
muss das Gesetz noch lange nicht negativ sein. Wir können mit unseren jugendpolitischen und finanzpolitischen
Maßnahmen durchaus bestätigt werden. Wir machen ja
ein Gesetz, weil wir davon überzeugt sind. Von daher
werden wir den Bericht abwarten und sehen, zu welchem Ergebnis er kommt.
Sie sprachen darüber hinaus die Werbung an. Die Getränkeindustrie - da stimme ich mit Ihnen überein; ich
habe es auch angesprochen - macht mit Werbekampagnen im Internet und mit Merchandise-Artikeln ganz
gezielt Werbung, die sich an Jugendliche richtet. Ich widerspreche Ihnen auch nicht, wenn Sie sagen, dass man
dagegen vorgehen muss. Den Jugendlichen soll mit der
Werbung nicht der Schnaps verkauft werden, sondern
- ich habe es vorhin erwähnt; auch da stimmen wir sicherlich überein - das Image des coolen jungen Menschen.
Was die Preisregulierung angeht, so haben Sie vielleicht übersehen, dass es bereits ein so genanntes Apfelsaftgesetz gibt, nach dem in einer Kneipe oder in einem
Restaurant ein alkoholfreies Getränk günstiger angeboten werden muss als die alkoholhaltigen Getränke. Es
würde mich schon stark verwundern, wenn Sie einen
Alcopop in einer Kneipe oder in einem Restaurant bekommen könnten, der günstiger wäre als zum Beispiel
ein Wasser oder eine Cola. Ich denke, da haben wir unsere Hausaufgaben sicherlich gemacht.
Danke schön.
({0})
Jetzt gebe ich das Wort der Kollegin Ingrid
Fischbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Andreae, ich muss sagen, Sie haben mich
sehr betroffen gemacht, und zwar insofern, als Sie in ein
wichtiges Thema - über das hiermit verbundene Ziel
herrscht ja in diesem Haus vollkommene Einigkeit eine Polemik und einen Zungenschlag hereingebracht
haben, die ich so nicht im Raum stehen lassen kann. Das
möchte ich hier ganz deutlich sagen.
({0})
Die Antwort auf meine Frage, woran Sie Ihre Auffassungen festmachen, war wirklich sehr billig. Nur weil
wir einer Steuererhöhung bzw. einer Sondersteuer nicht
zustimmen, zu sagen, wir nehmen das Problem nicht
ernst, wir verharmlosen es und verweigern uns, ist eine
Unverschämtheit. Das möchte ich an dieser Stelle ganz
deutlich sagen.
({1})
- Sie bleiben dabei. Sie könnten das dann noch einmal
bestätigen, nachdem ich Ihnen unser Vorhaben, Aufklärungskampagnen etc., die ich Ihnen gleich als Alternativen vorschlagen werde, einzuführen, vorgestellt habe.
Wir verweigern uns nämlich nicht.
({2})
Wir machen Ihnen Vorschläge, wie man es besser machen kann.
({3})
- Sie sind schon so oft auf unsere Vorschläge eingegangen, wenn auch nach langer Zeit. Manchmal brauchten
Sie ein Jahr, manchmal zwei. Aber Sie kommen ja doch
dahin. Deswegen könnte ich jetzt ganz glücklich sein
und sagen: Irgendwann machen Sie es und folgen unserem Weg.
({4})
Meine Damen und Herren, das Problem, das uns
heute beschäftigt, ist, wie ich glaube, sehr bedrückend.
Man kann sich gar nicht vorstellen, dass Alcopops - ({5})
- Wenn Sie etwas sagen wollen, dann melden Sie sich!
Dann antworte ich Ihnen gerne.
({6})
- Frau Präsidentin, ich würde gerne ausreden können.
Alcopops und Kinder gehören eigentlich gar nicht zusammen. Das sehen Sie wahrscheinlich genauso wie ich.
Hierbei handelt es sich um ein Problem, das uns beschäftigen sollte. Darauf müssen wir eine Antwort finden. Es
verhält sich nicht nur so, dass der Alkoholkonsum seit
1998 insgesamt gestiegen ist - allein das macht schon
betroffen -, sondern unser Problem ist, dass der Konsum
gerade in der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen und
hier speziell in der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen
extrem zugenommen hat. Dieser Problemlage müssen
wir uns stellen. Hierauf müssen wir Antworten finden
und diese sollten wir gemeinsam suchen.
({7})
17 Prozent der 14- bis 19-Jährigen trinken mindestens
einmal pro Woche und teilweise mehrmals im Monat alkoholische Premixgetränke. Für mich unfassbar, aber
leider bitterer Alltag sind folgende Zahlen: Wenn man
Jugendliche befragt, was sie im letzten Monat getrunken
haben, sagen 42 Prozent der 14- bis 17-Jährigen, dass sie
mehr als einmal bzw. sogar mehrmals diese Getränke getrunken haben. Das ist für mich ein Wert, der einfach
nicht so stehen bleiben kann. Ob Sie das Problem einzig
und allein mit der von Ihnen postulierten Steuer lösen,
das wage ich zu bezweifeln.
({8})
Es zeichnet sich für mich folgende eindeutige Entwicklung ab: Wenn die jungen Leute in diesem Alter
diese Getränke trinken, werden sie schneller in Abhängigkeit geraten als sonst. Auch das ist ein Problem; denn
- das hat die Kollegin Bätzing sehr richtig gesagt - Alcopops enthalten 5 bis 6 Prozent Alkohol. Das entspricht
einem Alkoholgehalt von mehr als zwei Schnapsgläsern
Korn pro Flasche. Das muss man sich einfach einmal
vorstellen: In so einer Flasche ist wirklich der Alkoholgehalt von zwei Schnapsgläsern Korn. Das Problem dabei ist, dass Geschmack und Farbe suggerieren, dass es
sich um harmlose Limonade handele, die man so trinken
könne. Ich gebe ehrlich zu: Auch ich habe es schon einmal getrunken und habe nicht erst nachgeschaut, wie
viel Alkohol darin enthalten ist. Es war gekühlt und hat
geschmeckt. Nach der dritten Flasche habe ich dann gemerkt, das kann keine Limonade gewesen sein.
Deshalb ist es wichtig - das ist auch unsere Forderung -, die Kennzeichnung wesentlich effektiver zu gestalten. Die Polemik, die Sie an den roten Korken festgemacht haben, halte ich wirklich für übertrieben. Ich weiß
nicht, ob Sie einmal in ganz normalen Geschäften in
Stoßzeiten einkaufen, also dann, wenn viel zu tun ist.
Die Kassiererinnen haben überhaupt nicht die Zeit, sich
jede Flasche anzusehen. Ich glaube, es wäre wirklich
eine echte Hilfe für das Verkaufspersonal, wenn sie anhand einer knalligen Farbe erkennen könnten, dass sie
aufpassen müssen, ob derjenige, der diese Flasche kauft,
schon 18 ist. Wenn er sich nicht ausweisen kann, bekommt er sie dann eben im Zweifelsfall nicht.
Ich finde, Sie machen es sich wirklich zu einfach,
wenn Sie sagen, dass Sie die roten Korken nicht wollen.
Auch ich hätte lieber eine andere Farbe als Rot, das können Sie sich sicherlich vorstellen; aber Rot ist eine Signalfarbe und deshalb habe ich mich darauf einlassen
können.
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch - das
ist sicher - eine gezielte, sofortige Aufklärungskampagne, in die wir nicht nur die Jugendlichen einbeziehen
sollten - ich gebe dem Herrn Kollegen Haupt Recht,
dass wir die Jugendlichen stark machen müssen; denn
nur starke Jugendliche können widerstehen -, sondern
auch die Eltern.
Frau Bätzing, an dieser Stelle muss ich noch einmal
widersprechen. Sie haben gesagt, wir alle seien gefordert. Natürlich, aber in erster Linie sind die Eltern gefordert,
({9})
ihre Kinder zu informieren und mit ihnen zusammen das
Thema anzugehen. Selbst wenn die Kinder nicht mit den
Flaschen nach Hause kommen - wenn mein Kind Alkohol getrunken hätte, würde ich das riechen und es auch
am Verhalten merken; denn wir haben noch Kontakt.
Wir sollten die Eltern nicht aus der Verantwortung entlassen; denn die Eltern sind die ersten Anlaufstellen und
Gesprächspartner unserer Kinder.
({10})
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass wir
ein sehr gutes Jugendschutzgesetz haben. Ich hätte mir
- auch von der Koalition, liebe Frau Andreae - an der einen oder anderen Stelle, wenn wir über Jugendschutz reden, eine ebenso intensive Hingabe von Ihnen gewünscht wie heute; denn Sie gehen manchmal doch sehr
locker und eher leichtfertig mit dem Jugendschutz um.
Darf ich den Gedanken eben zu Ende führen. - Denn
wenn wir die Jugendlichen schützen wollen und davon
reden, dass es gerade die jungen Menschen sind, die dieses Thema betrifft, dann müssen wir auch überlegen, inwieweit wir die Ausgehzeiten verlängern oder Begleitung als nicht notwendig regeln sollten. In diesen
Punkten haben Sie ja das Jugendschutzgesetz geändert.
Das passt nicht, wenn Sie auf der anderen Seite strenge
Regeln wollen.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Höfken?
Ja.
Ich bin durchaus an einer Erklärung interessiert, wie
das mit dem roten Korken ist, einmal abgesehen davon,
dass die Alcopopflaschen keine Korken, sondern
Schraubverschlüsse haben.
({0})
Sie sagen, die Kennzeichnung müsse deutlicher sein und
die geltenden Gesetze müssten eingehalten werden.
Auch wir erwarten, dass Verkäuferinnen und Geschäftsleiter das tun. Aber wenn Sie sagen, in den Geschäften
müsse genauer überprüft werden, welches Alter ein Käufer von Alkohol hat, dann müsste das doch konsequenterweise nicht nur bei den branntweinhaltigen Getränken, sondern auch bei den bier- und weinhaltigen
Getränken gelten. Planen Sie also einen gefärbten Korken
({1})
auch für Bier- und Weinflaschen und - das ist die spannende Frage, die wir uns stellen - welche Farbe soll dieser haben?
Liebe Frau Kollegin, Ihre Äußerung macht deutlich,
dass Sie der Ernsthaftigkeit dieses Themas überhaupt
nicht gerecht werden.
({0})
Ich glaube nicht, dass das im Sinne des Jugendschutzes
ist. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob Sie den
jungen Menschen mit einer solchen Frage gerecht werden.
Meine Damen und Herren, wir haben ein wirklich gutes Jugendschutzgesetz. Was fehlt, sind die Umsetzungsmechanismen, das heißt die klare Anwendung.
Eine deutliche Umsetzung muss erfolgen. Das heißt, wir
müssen stärker kontrollieren und denjenigen, die Verantwortung tragen, Unterstützung bei der Kontrolle anbieten. Ebenso müssen wir - das ist der zweite wichtige
Punkt - dafür sorgen, dass bei Missachtung entsprechende Strafmechanismen einsetzen. Das heißt - meine
Kollegin Heinen wird gleich noch darauf eingehen -, wir
müssen deutlich machen: Wer diese Jugendschutzbestimmungen missachtet, hat mit Strafen zu rechnen. Das
können Bußgeldzahlungen sein; es kann im Bedarfsfall
aber auch die Schließung von Kiosken oder Gaststätten
bedeuten.
Sie wollen das Problem durch eine Sondersteuer lösen. Mich hat erstaunt - da habe ich dieselbe Wellenlänge wie der Kollege Haupt -, dass Jugendschutzregelungen jetzt ins Finanzministerium übergeleitet werden
sollen. Ich glaube, wir sollten sie dort belassen, wo sie
hingehören, nämlich in unseren Händen. Die Anhörung
hat ergeben, dass die Sondersteuer, die Sie planen, neue
Probleme aufwerfen kann.
Ich wiederhole, was möglich ist, wovor gewarnt
wurde und wofür es Belege gibt: Die jungen Leute werden auf preiswertere Varianten zurückgreifen. Sie werden stärker bei Discountern kaufen oder sie werden mixen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Eine Substitution durch andere Mixgetränke wäre
ebenfalls möglich. Andere Formen der Beschaffung - auf
die drohende Kleinkriminalität wurde schon hingewiesen - könnten sich entwickeln.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von François de Fénélon
enden:
Man darf nie vergessen, dass man bei der Jugend
nur das in die Seele legen darf, von dem man
wünscht, dass es immer darin bleibe.
Legen wir unseren Respekt hinein, verbunden mit unserer Verantwortung für den Schutz der Jugend!
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Reinhard Schultz.
Liebe Kollegin Fischbach, ich habe Ihre Rede aufmerksam verfolgt. Ich wundere mich allerdings über einige Punkte; denn ich gehe davon aus, dass Sie an der
Anhörung teilgenommen haben.
Unser Gesetz hat vier wesentliche Elemente. Erstens
versuchen wir, die für Kinder attraktiven alkoholischen
Mixgetränke über eine Verteuerung unattraktiv zu machen. Zweitens wollen wir die Kontrolle an der Ladentheke und in der Kneipe. Drittens soll das Geld aus
den Steuereinnahmen für die Prävention verwendet werden. Viertens und letztendlich soll es - auch das gehört
zu einer verantwortungsvollen Politik - einen Bericht
und damit eine Erfolgskontrolle dieser politischen Maßnahme geben.
Wir haben in der Anhörung gehört, dass gerade die
gut organisierte Spirituosenindustrie angesichts der
rückgängigen Umsätze bei jungen und älteren Erwachsenen mithilfe riesiger Werbeetats - ähnlich wie die Zigarettenindustrie - gezielt Kinder ansprechen und sie auf
Reinhard Schultz ({0})
diese Weise zum Suff bringen will. Das ist der Sinn dieser Kampagne. Ich halte das für geradezu kriminell. Eine
solche Werbestrategie, nämlich die Nachwuchsförderung sozusagen durch Anfüttern mit angesüßtem Branntwein, muss durch besondere Maßnahmen, die der Dreistigkeit dieses Vorgehens entsprechen, beantwortet
werden. Deswegen ist die Sondersteuer gerechtfertigt.
({1})
Wir haben in der Anhörung ebenfalls gehört, dass es
nicht so ist, wie Sie eben vorgetragen haben, nämlich
dass man den Genuss dieser Getränke bei Kindern sofort
riechen würde. Ich habe einen 11-jährigen Sohn und
sage Ihnen: Man riecht es natürlich nicht, wenn Kinder
Alcopops getrunken haben. Viele Kollegen wissen - sie
sind vielleicht gar nicht im Saal -, dass man Wodka
nicht riecht. Man riecht ihn erst recht nicht, wenn er gemixt wird. Ein großer Teil der Alcopopgetränke basiert
nun einmal auf Wodka, Tequila und Rum, die nicht zu
riechen sind, wenn sie gemixt werden.
Bei den Biermixgetränken verhält es sich anders. Man
kann hineinkippen, was man will: Die Fahne riecht man
früher oder später. Abgesehen davon ist es so, dass solche Getränke immer nach Bier schmecken. Das ist ein
großer Unterschied zu den Alcopopgetränken. Ein Getränk mit einem bitteren Biergeschmack ist für 10-, 11oder 12-Jährige nicht das Getränk der Wahl. Ich glaube
daher, dass ein Umsteigen auf Biermix- oder Weinmixgetränke auszuschließen ist - das hat im Übrigen auch
die Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung in der Anhörung erklärt -, zumal der Lifestyle-Charakter, der in der Werbung für Bacardi und für
andere Getränke vermittelt wird, den Bier- und Weinprodukten fehlt.
Ich glaube daher, dass wir richtig und Sie falsch liegen.
({2})
Frau Kollegin Fischbach, bitte.
Herr Kollege, wenn es nur so einfach wäre: Sie liegen
richtig und wir liegen falsch. Dann wäre die Politik etwas einfacher; wir könnten uns die Polemik sparen und
die Gesetzgebungsverfahren würden ganz schnell über
die Bühne gehen.
Ich möchte an zwei Stellen einhaken. Erstens. Sie
schlagen Prävention vor und machen sie von Steuereinnahmen, die Sie erwarten, abhängig. Anfangs haben Sie
12 Millionen Euro Einnahmen erwartet. Mittlerweile
sind Sie auf 6 bis 12 Millionen Euro heruntergegangen.
Vielleicht gibt es auch keine Einnahmen.
({0})
Wenn es keine Einnahmen gibt, bedeutet das im Umkehrschluss, dass es keine Prävention gibt. Das ist der
falsche Weg; das kann es nicht sein. Sie wollen die Steuereinnahmen für die Prävention verwenden. Also noch
einmal: Wenn es keine Einnahmen gibt, dann gibt es, so
vermute ich, keine Prävention.
Zweitens. Wir wissen, dass in Ländern, in denen der
Alkohol sehr teuer ist, das nicht erreicht wird, was wir
alle wollen: dass der Alkoholkonsum zurückgeht. Im
Gegenteil: Nehmen Sie die skandinavischen Länder; da
haben wir die höchsten Alkoholgefährdungen,
({1})
obwohl Alkohol sehr teuer ist.
Sie haben die finanzielle Situation angesprochen.
Wenn Sie in Diskotheken oder Gaststätten, in denen sich
die jungen Leute aufhalten, ein solches Getränk bestellen,
dann zahlen Sie im Durchschnitt zwischen 4 und 6 Euro.
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass 80 Cent mehr die
jungen Leute davon abhalten würden, ein solches Getränk zu bestellen bzw. zu trinken. Wir halten diesen
Weg für falsch. Es muss doch in diesem Hohen Hause
erlaubt sein, einen falschen Weg, den Sie einschlagen
wollen, zu benennen.
Wenn wir uns in der Sache einig sind, dann können
Sie doch unserem Antrag zustimmen; denn Sie haben
gerade gesagt, dass Sie all die Punkte, die wir nennen,
unterstützen. Dann dürfte es für Sie keine Schwierigkeit
sein, unserem Antrag zuzustimmen.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Fischbach, Sie haben gesagt, dass es
bei uns im Hinblick auf die erwarteten Mehreinnahmen
eine Bandbreite zwischen 12 und 6 Millionen Euro gebe.
({0})
Ich möchte zunächst einmal klarstellen, dass bei dem
Betrag von 12 Millionen Euro von Jahreseinnahmen gesprochen wurde. Die 6 Millionen Euro beziehen sich auf
den Zeitraum vom 1. Juli bis zum Ende des Jahres, also
auf den Halbjahreszeitraum. Von daher schwanken wir
nicht zwischen 12 und 6 Millionen Euro. Hier findet
vielmehr eine klare Abgrenzung statt.
({1})
Ich möchte mit einem Zitat aus einem Aufsatz beginnen, der mit dem Titel „Warum unsere Kinder Wein und
Bier nicht haben sollen“ überschrieben ist. Dieser Aufsatz stammt von Dr. Wilhelm Bode. Dort heißt es:
Der Alkohol ist ein Gehirn- und Nervengift und
wirkt als solches bei Kindern viel schlimmer als bei
Erwachsenen, da ihr Gehirn erst noch sich bilden
und erstarken muss. Zuweilen werden Kinder durch
dieses Gift getötet.
({2})
Die mir vorliegende Ausgabe stammt aus dem Jahre
1908. 1908 hat Wilhelm Bode versucht, dem ganz gewöhnlichen Alkoholkonsum bei Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken. Damals haben viele geglaubt,
Alkohol stärke insbesondere schwache Kinder. Ich
denke mir, wir alle wissen es heute besser.
Trotzdem hat die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung festgestellt, dass Jugendliche immer mehr Alkohol trinken. Insbesondere der Konsum von Alcopops
ist in den letzten Jahren gestiegen. Der süße Geschmack
überdeckt den Alkohol. Die poppige Aufmachung und
die Werbung sprechen gerade Jugendliche an. All das ist
heute von vielen Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt
worden.
Aber wollen wir wirklich, dass Jugendliche dadurch
zu einem expandierenden Markt für alkoholische Getränke werden? Ich bin froh, dass wir uns alle in der
Frage einig sind, dass wir dies gerade nicht wollen. Gerade deshalb müssen wir handeln und tun wir dies auch.
Das heißt, wir müssen Maßnahmen treffen, die auch wirken. Es geht nicht darum, sich verbal möglichst weit aus
dem Fenster zu lehnen, sondern darum, dass alkoholische Getränke nicht zum normalen Schlummertrunk von
Jugendlichen werden.
({3})
Dazu reicht es allerdings nicht, wohlfeile Forderungen
nach einer besseren Durchsetzung der Jugendschutzgesetze
zu erheben. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen,
dass das zum Teil nichts bringt.
({4})
Sicher brauchen wir in diesem Bereich Prävention. Die
Forderung nach mehr Prävention darf aber nicht zu einer
Entschuldigung für das Nichtstun werden. Gerade das
versuchen Sie.
({5})
Herr Kollege Fahrenschon, Sie hatten § 28 Abs. 1 Jugendschutzgesetz angesprochen, in dem es um die illegale Abgabe von Alkohol geht. Logischerweise ist diese
Abgabe illegal. Aber logischerweise ist die Kontrolle der
Durchführungsbestimmungen Aufgabe der Länder. Hier
sind gerade die Länder gefordert, für eine bessere Kontrolle zu sorgen.
Wenn Sie schon unseren Gesetzentwurf ansprechen,
dann möchte ich Sie bitten, diesen richtig zu lesen. Sie
dürfen nicht immer nur den letzten Satz eines Absatzes
lesen, weil das besonders bequem ist.
({6})
Sie sollten vielmehr den Gesetzentwurf insgesamt
durchlesen. Dann sehen Sie: Darin wird klar und deutlich davon gesprochen, dass es eine Lenkungswirkung
gibt. Das hat auch die Anhörung ergeben. Aber zu den
Inhalten der Anhörung hat die Kollegin Andreae schon
einiges gesagt.
Es ist scheinheilig, wenn die Spirituosenhersteller
als Zeichen ihrer Verantwortung die Abgabe von Alkohol generell erst an Personen ab 18 Jahre erlauben wollen. Das ist eine Forderung, die wir gestern in allen großen Zeitungen in halbseitigen Anzeigen lesen konnten.
Es verwundert mich allerdings schon, dass die von der
Initiative „Verantwortungsbewusster Umgang mit Alkohol“ angegebene E-Mail-Adresse von einer Person angemeldet wurde, die als Kommunikationsberater bei
Diageo arbeitet. Diageo ist eine Marketing- und Vertriebsgesellschaft, zu deren Sortiment unter anderem
„Smirnoff“ gehört. Ist das Zufall oder der Versuch, die
Öffentlichkeit zu täuschen? Sei es, wie es sei.
({7})
Die Unternehmen sind auf alle Fälle gefordert. Sie
müssen ihre Produkte und ihre Marketingaktivitäten so
gestalten, dass sie nicht zu steigendem Alkoholkonsum
bei Jugendlichen und zu einem früheren Einstiegsalter in
das Alkoholtrinken führen.
Die Anhörung im Finanzausschuss hat nachdrücklich
gezeigt, dass die gewünschte Lenkungswirkung von einer Steuer auf Alcopops ausgehen wird. Die meisten
Sachverständigen haben unseren Weg unterstützt, und
zwar insbesondere auch deshalb, weil die Mehreinnahmen für die Prävention verwendet werden sollen. Wir
brauchen einen Mix von verschiedenen Maßnahmen, wir
brauchen die Lenkungswirkung der Steuern und vor allem eine stärkere Prävention. Beides erreichen wir mit
unserem Gesetzentwurf.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Jens Spahn.
({0})
Frau Kollegin, wir haben kein schlechtes Gewissen.
Mich stört während der ganzen Beratung, so auch in der
Ausschusssitzung, Ihr Verhältnis zu Bundesgesetzen. Es
gibt das Jugendschutzgesetz und es kann nicht sein, dass
wir sagen: Das Jugendschutzgesetz wird nicht umgesetzt
und deswegen müssen wir etwas anderes machen. Das
ist mir als Mitglied des Bundestags - wir sind der Bundesgesetzgeber - zu wenig. Wir müssen die Exekutive,
diejenigen, die die Gesetze ausführen, auffordern, dafür
zu sorgen, dass die Gesetze, die wir hier beschließen
- ich glaube, das Jugendschutzgesetz will keiner infrage
stellen -, auch um- und durchgesetzt werden. Mit einem
lapidaren „Das passiert halt nicht, da müssen wir etwas
anderes tun“ ist es nicht getan. Die Bundesregierung ist
in der Verantwortung, sie muss zusammen mit den Ländern dafür sorgen, dass die Bundesgesetze auch eingehalten werden.
({0})
Herrr Kollege, eine Kurzintervention ist dazu da, auf
die Rede der Vorgängerin oder des Vorgängers einzugehen.
Genau das tue ich. Frau Teuchner hat sehr viel zum
Jugendschutzgesetz gesagt. Sie hat vor allem davon gesprochen, wie wenig es eingehalten wird.
Eines möchte ich aufgrund meiner Erfahrungen in
meiner Heimatstadt Ahaus abschließend sagen: Wenn
die Einhaltung des Jugendschutzgesetzes nur halb so viel
kontrolliert würde wie das Falschparken, dann hätten wir
das Problem schon gut im Griff. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kontrollen und Bußgelder zur Verhaltensänderung von Gastwirten, des Einzelhandels und
von Gastgebern von Partys führen. Ich denke, das wäre
der richtige Weg, statt immer über neue Maßnahmen
nachzudenken. Wir dürfen nicht so tun, als sei das Nichteinhalten von Gesetzen normal.
({0})
Frau Kollegin Teuchner, bitte.
Herr Kollege Spahn, ich habe das Gefühl, dass Ihre
Ausführungen nicht sonderlich zielführend waren.
({0})
Es ist uns natürlich ein Anliegen, dass das bestehende
Jugendschutzgesetz eingehalten wird. Sie haben sich
wahrscheinlich den Satz gemerkt, dass die Länder die
Einhaltung kontrollieren müssen und die Kontrolle stärker gefordert ist.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Ich war vor
14 Tagen an einer Tankstelle. Während ich meine Tankrechnung bezahlte, kam ein offensichtlich jugendlicher
Kunde mit einem Alcopop-Sixpack in der Hand an die
Kasse. Die Dame an der Kasse fragte ihn: Bist du schon
18? Daraufhin fuhr der Jugendliche die Verkäuferin an:
Wie könne sie sich überhaupt erlauben, ihn zu fragen, ob
er schon 18 sei. Er könne selber entscheiden, was er trinken dürfe.
({1})
Sein Auftreten und seine Wortwahl führten dazu, dass
die Verkäuferin nicht weiter nachfragte, sondern ihm die
Ware verkaufte.
({2})
Ich denke, das ist auch in einigen anderen Bereichen so.
So etwas muss durch die Länder kontrolliert werden.
Und nur wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen
und uns nicht einseitig etwas vorwerfen, können wir die
Probleme lösen.
({3})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ulla Heinen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kurz nach der ersten Lesung des Gesetzentwurfes
zur Alcopopsteuer Mitte März hier im Bundestag hat
mich eine Gruppe von fast 100 Schülern aus den zehnten
Klassen eines Gymnasiums in meiner Heimatstadt Köln
besucht. Was meinten die Jugendlichen zu dieser Debatte? Sie sagten, sie würden sich von einer Preissteigerung bei Alcopops überhaupt nicht beeinflussen lassen,
sondern diese oder andere Drinks weiter konsumieren.
Eine Umfrage unseres lokalen Radiosenders unter Jugendlichen hat ein ähnliches Bild ergeben. Bei einem
Besuch der Polizei in vier siebten Klassen eines Gymnasiums in Stuttgart haben die Schüler, die gerade einmal
13 Jahre alt sind, zugegeben, dass die Hälfte von ihnen
schon einmal Alcopops probiert und konsumiert hat.
Warum ist das so? Das Konsumbewusstsein und das
Konsumverhalten der Jugendlichen haben sich erheblich
gewandelt. Fast jeder hat mittlerweile ein Handy und es
ist fast schon normal, für einen Kinobesuch mit Popcorn
und allem Drum und Dran an einem Abend 8 bis
10 Euro auszugeben. Alles, was trendy und cool ist, wird
mitgemacht und durch das entsprechende Taschengeld
finanziert.
Die Untersuchungen zum Alkoholkonsum von Jugendlichen im Rahmen einer WHO-Studie zeigen, dass
gesundheitsgefährdender Alkoholkonsum zurzeit vor allem und in steigendem Maße von Jugendlichen aus sozial besser gestellten Familien praktiziert wird, denen
also, die über eine ausreichende Menge an Taschengeld
verfügen. Es sei daher ebenfalls zu befürchten - so diese
Studie -, dass der Konsum dieser Getränke bei Jugendlichen als sozial wirksames Statussymbol eingesetzt
werde.
Wenn diese Ergebnisse zutreffen, ist eine Besteuerung der Alcopops kein geeignetes Mittel, um bei Jugendlichen einen veränderten Umgang mit Alkohol zu
bewirken, im Gegenteil. Ich befürchte, dass dadurch die
Alcopops für Jugendliche interessanter werden.
Wir meinen - das haben wir ausgeführt -: Wir brauchen andere Instrumente bzw. müssen vorhandene Instrumente - die es ja gibt - vernünftig anwenden. Wir
haben ein Jugendschutzgesetz, das die Abgabe von
branntweinhaltigem Alkohol an unter 18-Jährige verbietet. Warum aber steht das nicht an erster Stelle der Diskussion? Die Einführung einer Alcopopsteuer ist doch
die Kapitulation des Gesetzgebers vor der Durchsetzungskraft seiner eigenen Gesetze!
({0})
Diese Kapitulation geben Sie ja in einer in der Beschlussempfehlung erwähnten Entschließung - Frau
Teuchner hat es gerade noch einmal erwähnt - zu. Ich zitiere den ersten Satz des zweiten Absatzes in der Entschließung:
Das Jugendschutzgesetz greift bei Alcopops nicht.
Warum denn nicht? So einfach dürfen Sie es sich nicht
machen. Wenn bestehende Gesetze nicht wirken, müssen
sie verändert oder abgeschafft werden. Einfach nur zu
sagen, ein Gesetz wirkt nicht, ist doch wirklich nicht der
richtige Weg. Es ist ein Zeichen Ihrer Hilflosigkeit.
({1})
Wir haben deutlich gemacht, welche Maßnahmen wir
verfolgen. An erster Stelle stehen die Durchsetzung und
die Anwendung des Jugendschutzgesetzes. Das Kölner
Beispiel aus dem Karneval, bei dem über
100 Jugendliche erwischt worden sind und sogar Kioske
über die umsatzstarken Karnevaltage geschlossen wurden, hat gezeigt, dass es geht.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf?
Ja.
Sehr geehrte Frau Kollegin Heinen, würden Sie bitte
freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass es - das
hat auch die Frau Kollegin Fischbach eben angemahnt sich bei uns nicht um ein Entweder-oder handelt, also
entweder Jugendschutzgesetz oder Steuer, sondern um
ein Sowohl-als-auch?
({0})
Würden Sie uns bitte erklären, was für die Betroffenen
- für diejenigen, die wir durch den Jugendschutz schützen wollen - daran schädlich ist, wenn wir die Mehreinnahmen aus der Steuer einsetzen, um junge Menschen
davor zu bewahren, zu Alkohol zu greifen und alkoholabhängig zu werden? Würden Sie uns freundlicherweise
erklären, wodurch dieses Gesetz den jungen Menschen,
die wir schützen wollen, schadet?
({1})
Wenn Sie es mit dem Jugendschutz tatsächlich ernst
meinen, dann kann ich Ihnen nur raten, Ihren Entschließungsantrag heute wieder von der Tagesordnung zu nehmen und nicht darüber abstimmen zu lassen;
({0})
denn darin steht das glatte Gegenteil von dem, was Sie
gerade behauptet haben. Ich möchte gerne einmal wissen, was Sie meinen, wenn Sie dort schreiben: Jugendschutz greift nicht.
({1})
- Ich hatte Beispiele erwähnt, unter anderem das aus
Köln.
Aber es gibt noch weitere: In Neumarkt, in Bayern,
hat sich ein Festwirt entschlossen, gar keine Alcopops
auszuschenken. Das scheint in Bayern um sich zu greifen. Denn meine Kollegin Kaupa, unsere Drogenbeauftragte, hat mir gerade erzählt, dass sich auch in Passau
ein Tankstellenpächter entschieden hat, gar keine Alcopops mehr zu verkaufen, weil ihm die Regelungen der
Abgabe zu kompliziert sind.
({2})
In Sindelfingen hat die örtliche Polizei bei Schülern,
Eltern, Lehrern und Herstellern eine Präventionskampagne durchgeführt. Dazu hat es mittlerweile von Polizeidienststellen aus dem gesamten Bundesgebiet über
100 Anfragen gegeben. Diese Beispiele zeigen, wie man
vorgehen könnte und wie unsinnig letztlich Ihre Behauptung ist, dass der Jugendschutz nicht greift. Man muss
ihn nur greifen lassen. Man muss ihn wollen und auch
anwenden.
Lassen Sie mich noch auf ein Problem zu sprechen
kommen, das hier schon angesprochen worden ist, das
durch die Steuer aber überhaupt nicht gelöst wird.
({3})
- Es wäre schön, wenn Sie zuhören würden; denn ich
glaube, es gibt noch zusätzliche Möglichkeiten, etwas zu
tun. Dann merken Sie vielleicht auch, dass die Steuer
nicht der richtige Weg ist.
Das Problem, das nicht gelöst ist, besteht im Erfindungsreichtum bzw. - neudeutsch formuliert - in der Innovationsfähigkeit von Jugendlichen und Industrie gleichermaßen. Auch die Anhörung hat ganz deutlich
ergeben, dass sich Jugendliche ihre Getränke häufig selber mixen. Zum Beispiel mixen sie in Schnullerflaschen
Amaretto mit Orangensaft oder ähnliche Kombinationen.
Aber es gibt auch schon erste Belege für die Ideenvielfalt der Getränkeindustrie bzw. der Hersteller,
({4})
beispielsweise durch eine Änderung der Zutaten.
({5})
„Malternatives“ heißt das Zauberwort. Gemeint ist das
Verfahren, aus Malz nicht gebrannten Alkohol herzustellen. In den USA sind diese Drinks schon gang und gäbe.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Produkte infolge
der Alcopopsteuer auch bei uns auf den Markt kommen.
Andere Produkte sind „Mudshakes“, Milchmixgetränke mit - man höre - Wodka, die aus Neuseeland
kommen. Bisher gibt es die Geschmacksrichtungen
Schokolade, Karamell und Eiskaffee. Wegen ihres hohen
Milchgehalts unterliegen diese Produkte bei uns noch
nicht einmal der Pfandpflicht. Es wird also in die eine
Tasche das gegeben, was aus der anderen Tasche genommen wurde.
({6})
Was ist das Fazit? - Das Gesetz wird den Alkoholkonsum von Jugendlichen nicht eindämmen, sondern ihn
wahrscheinlich auf andere Produkte lenken, wie es auch
in Frankreich infolge der Einführung der ersten Alcopopsteuer geschehen ist. Das hat auch eine repräsentative Forsa-Umfrage ergeben, bei der 700 junge Menschen zwischen 14 und 20 Jahren befragt wurden: Über
63 Prozent der Befragten würden bei einer Sondersteuer
auf Alcopops andere alkoholische Getränke konsumieren. Über 39 Prozent der Befragten würden bei einer
Alcopopsondersteuer Bier- und Biermischgetränke trinken. Nur 5 Prozent der Befragten zwischen 14 und
17 Jahren würden bei einer Sondersteuer gar nichts mehr
trinken.
({7})
Ihre Antwort darauf - man muss Ihren Text ja auch weiter lesen - besteht darin, die Steuer auf Alcopops auf andere Produkte auszudehnen.
Meine Damen und Herren, das ist nicht der richtige
Weg. Lassen Sie uns an die Wurzel des Problems gehen,
das Jugendschutzgesetz besser anwenden, vor allem aber
auch bestehende Straf- und Bußgeldvorschriften durchsetzen. Kapitulieren Sie nicht; die Steuer hilft höchstens
kurzfristig.
Ich bin mir sicher: Wenn Sie im nächsten Jahr Ihren
Bericht über die Marktentwicklung von Alcopops und
vergleichbaren Getränken vorlegen, werden wir sehen,
welche Verschiebungen oder sogar Intensivierungen des
Konsums es gegeben hat. Lassen Sie uns den Alkoholkonsum von Jugendlichen wirksam bekämpfen! Lassen
Sie uns die bestehenden Gesetze anwenden und nicht
ständig neue erfinden!
Danke.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung
des Schutzes junger Menschen vor Gefahren des Alko-
hol- und Tabakkonsums, Drucksache 15/2587.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 15/3084, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-
men der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3084 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit demselben Stimmen-
verhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auf Drucksache 15/3085. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 15/2646 mit dem Titel: „Verbesserung der Maß-
nahmen zum Schutze der Kinder und Jugendlichen vor
Alkoholsucht“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ange-
nommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/2619 mit dem Titel: „Besse-
rer Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Miss-
brauch von Alcopops und anderen alkoholischen Ready-
To-Drink-Getränken“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/
CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel E.
Fischer ({0}), Katherina Reiche,
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Nanotechnologische Forschung und Anwendungen in Deutschland stärken
- Drucksache 15/2650 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({2}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt - Nanotechnologie
- Drucksache 15/2713 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Jörg Tauss, Rainer Arnold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grietje Bettin,
Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Aufbruch in den Nanokosmos - Chancen nutzen, Risiken abschätzen
- Drucksache 15/3051 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forschung und Entwicklung in der Nanotechnologie voranbringen
- Drucksache 15/3074 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer sich dem Nanokosmos nähert, der Welt dieses fast unvorstellbar Kleinen, muss einfach fasziniert
sein - mir zumindest geht das so. Wovon reden wir? Wie
klein ist diese Dimension? Um der Vorstellung auf die
Sprünge zu helfen, finde ich, nützt mehr als Zahlen ein
illustrierender Vergleich des Nanoforschers Heckl. Er
hat beschrieben:
… ein Nanoteilchen verhält sich … zu einem Fußball wie ein Fußball zur Erdkugel.
Experten prognostizieren: Die Nanotechnologie wird
in den nächsten zehn bis 20 Jahren die nächste industrielle Revolution hervorbringen und sie wird unser Leben
mehr verändern, als es die Mikroelektronik bislang vermocht hat, die uns den PC, das Internet und andere
Dinge gebracht hat. Das wird plausibel, wenn man sich
vorstellt, dass mit Hilfe der Nanotechnologie zum Beispiel Millionen von Bits an Information auf einem
Stecknadelkopf unterzubringen sein werden oder bei
Produkten so extreme Einsparungen an Rohstoff, Gewicht und Material möglich sind, dass die ökologische
Effizienzrevolution in greifbare Nähe rückt. Maßgeschneiderte Medikamente oder gar die direkte Behandlung kranker Zellen könnten möglich werden.
Doch bei aller Faszination plädiere ich sehr dafür, auf
dem Boden der Tatsachen zu bleiben: Viele Anwendungen befinden sich noch im Reich der Ideen. Und wie jeder technische Fortschritt ist auch der nanotechnologische janusköpfig: Unerwünschte Folgen für Umwelt und
Gesundheit sind möglich, sie sind bislang weitgehend
unerforscht. Experten der Bundeswehr befürchten schon
jetzt neue Risiken für die internationale Sicherheit, etwa
das In-Gang-Setzen einer neuen Rüstungsspirale und
eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen militärischen
Erstschlag. Das alles haben interessierte Leserinnen und
Leser schon im letzten Jahr in der „Welt“ nachlesen können.
Angesichts der wirtschaftlichen Potenziale der Nanotechnologie, vor allen Dingen aber wegen ihrer weit reichenden Wirkungen auf das individuelle wie soziale Leben halten wir von der SPD-Bundestagsfraktion und von
der Koalition insgesamt eine breite gesellschaftliche Debatte für absolut überfällig.
({0})
Wir sagen: Nanotechnologie muss raus aus den reinen
Expertenzirkeln. Deswegen haben wir SPD-Forschungspolitiker zusammen mit unseren Kollegen aus den Bereichen Wirtschaft, Umwelt, Sicherheit, Verbraucherpolitik
und anderen relevanten Arbeitsgruppen einen Antrag erarbeitet und eingebracht. Wir knüpfen in der SPD-Bundestagsfraktion sozusagen ein Nanonetzwerk
({1})
und werden die Entwicklung kontinuierlich begleiten.
Der Deutsche Bundestag hat sich gut beraten lassen:
Vor drei Jahren hat der Forschungsausschuss beim Büro
für Technikfolgenabschätzung die erste umfassende systematische Bestandsaufnahme in Auftrag gegeben. Das
Ergebnis liegt vor. Die TAB-Studie stellt in hervorragender Weise dar, was Nanotechnologie ist, kann und möglich machen könnte. Sie gibt einen Überblick über aktuelle und potenzielle Anwendungen in wichtigen Feldern
wie Medizin, Energienutzung, Rüstung sowie in allen relevanten Branchen im Lowtech- und Hightechbereich.
Sie stellt die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten
Deutschlands im internationalen Vergleich ebenso dar
wie den Stand der öffentlichen Debatte, die in anderen
Ländern längst begonnen hat. Sie setzt sich - das ist ganz
wichtig, um der Nanotechnologie wirklich zum Durchbruch zu verhelfen - mit den Heils- und Horrorvisionen
auseinander, die durch die Gegend geistern. Sie liefert
eine rationale Bewertung der Chancen ebenso wie der
Risiken und sie identifiziert den weiteren politischen
Handlungsbedarf.
({2})
Als wir vom Forschungsausschuss im Herbst letzten
Jahres diese Studie präsentiert haben, haben alle Fraktionen dieses Hauses gesagt, das sei eine prima Sache, und
die Studie für ihre Ausgewogenheit gelobt. Wenn ich mir
aber nun die Anträge von Union und FDP ansehe, dann
finde ich es erstaunlich, wie selektiv die FDP mit den
Handlungsempfehlungen umgeht.
({3})
Zum Antrag der CDU/CSU muss ich sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie fallen weit hinter den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zurück.
({4})
Wir von der Koalition greifen dagegen die Empfehlungen der TAB-Studie in allen Teilen auf.
Diese Studie hat der Forschungs- und Förderpolitik
der Bundesregierung ein exzellentes Zeugnis ausgestellt.
({5})
Quintessenz des internationalen Vergleichs: Deutschland
ist hervorragend aufgestellt - weltweit Rang drei bei den
Publikationen und Rang zwei bei den Patentanmeldungen; in Europa sind wir sogar Nummer eins, auch was
die Zahl der Firmen mit Bezug zur Nanotechnologie angeht.
Entscheidend für diese starke Position ist die Forschungsförderung durch Rot-Grün. Dazu drei Kenndaten: Die Höhe der Projektmittel wurde seit 1998 vervierfacht. Die öffentliche Förderung ist in Deutschland
höher als in den anderen EU-Staaten zusammen. Mit
dem strategischen Aufbau von Infrastruktur - ich nenne
nur das Stichwort Kompetenzzentren - wurde bereits
zwei Jahre vor den USA begonnen.
({6})
Angesichts dessen dürfte eigentlich auch die Opposition kein Haar in der Suppe finden. Aber sie findet es,
indem sie einen Vergleich der Höhe der Fördermittel in
der Bundesrepublik und den USA konstruiert. Ich sage
Ihnen: Das ist unseriös. Seriös wäre ein solcher Vergleich, wenn man ihn zwischen EU und USA anstellen
würde. Dann würde man feststellen, dass EU und USA
gleichauf liegen. In Europa hat Deutschland den größten
Anteil an Fördermitteln.
({7})
Alles in allem: Wir reden also nicht nur von Innovationsförderung, wir betreiben sie, und das ausgesprochen erfolgreich.
Mit dem neuen Rahmenkonzept „Nanotechnologie
erobert Märkte“ hat das BMBF die weitere nationale
Strategie abgesteckt. Diese begrüßen wir ausdrücklich.
Die Grundlagenforschung ist exzellent. Das muss so
bleiben. Nun kommt es darauf an, Anwendungen und
damit Markt- und Beschäftigungspotenziale durch Forschungskooperationen entlang von Wertschöpfungsketten weiter zu erschließen. Leitinnovationen sind der
richtige Ansatz. Richtig ist auch - auch das ist in dem
Konzept vorgesehen - eine Aktion zur Stärkung des Mittelstandes und junge Unternehmen sowie Unternehmensneugründungen zu fördern.
({8})
In dem Rahmenkonzept steht noch viel mehr. Ich
werde mich auf diese kurzen Anmerkungen beschränken. Weiteres wird die Ministerin im Verlauf der Debatte
deutlich machen.
Klar ist: Eine Strategie, die nur die Wirtschaft im
Blick hat, reicht nicht zur Förderung von Innovationen
aus.
({9})
Mit Blick auf die Anträge der Opposition: Sie bleiben
mit Ihren Forderungen auf halbem Wege stecken, weil
Sie auf einem Auge blind sind.
Für uns sind die Bürger nicht nur Wirtschaftsobjekte
und die Gesellschaft ist mehr als die Wirtschaft. Wir
wollen den gesellschaftlichen Aufbruch in den Nanokosmos und die Chancen des nanotechnologischen Fortschritts im Interesse der Menschen nutzen - für mehr Lebensqualität, Gesundheit, eine intakte Umwelt und die
persönliche Freiheit. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu Ihnen.
({10})
Nun ist die Zeit der Weichenstellungen gekommen,
um zu zeigen, in welche Richtung die Entwicklung geht.
Wir wollen eine nachhaltige Entwicklung und haben die
unterschiedlichen Ansatzpunkte in unserem Antrag aufgelistet. Ich greife vier Bereiche heraus:
Erstens, Bildung und Ausbildung. Wir gehen davon
aus, dass die Nanotechnologie das gesamte Bildungswesen - angefangen beim Schulunterricht über die Erstausbildung und das Studium an den Universitäten bis hin
zur Weiterbildung - vor völlig neue Herausforderungen
stellt. Hier ist nicht nur das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefragt, dessen Rahmenkonzept im
Übrigen auch flankierende bildungspolitische Aktivitäten enthält. Im bildungspolitischen Teil des Antrags der
CDU/CSU kommt jedoch ein Bildungszentralismus zum
Ausdruck, angesichts dessen die Länder, insbesondere
die unionsregierten Länder, eigentlich ganz laut aufschreien müssten.
({11})
Wir dagegen respektieren den Bildungsföderalismus.
Deswegen fordern wir eine gemeinsame Bildungsinitiative von Bund und Ländern. Hierbei sehen wir uns vom
FDP-Antrag unterstützt.
Zweitens, Überprüfung des Rechtsrahmens. Eine
systematische Überprüfung ist notwendig, um alle Chancen zu nutzen und um Risiken vorzubeugen. Deswegen
möchten wir, dass die Bundesregierung dem Bundestag
im nächsten Herbst einen Bericht vorlegt, sodass das
Parlament frühzeitig über den etwaigen Handlungs- und
Reformbedarf beraten kann.
Drittens, Rüstungskontrolle. Sicherheitsrelevante
Entwicklungen der Nanotechnologie müssen verstärkt
Gegenstand der internationalen Forschungskooperation
und der internationalen Politik werden. Im Übrigen zu
dem, was im im FDP-Antrag steht: Ein Missbrauch
durch Staaten ist eher wahrscheinlich als durch Terroristen. Deswegen muss die Nanotechnologie Bestandteil
von Rüstungskontrollverhandlungen werden.
({12})
Viertens, öffentliche Information und Diskussion über
Chancen und Risiken. Es ist nun wirklich eine Binsenweisheit, dass Technikakzeptanz die essenzielle Voraussetzung für Innovationen ist. Sie lässt sich nicht staatlich
verordnen. Deswegen wollen wir allgemein zugängliche
und gut verständliche Informationen für alle Bürger und
einen Dialog zwischen Wissenschaftlern, Unternehmen
sowie Bürgerinnen und Bürgern. Das ist ebenfalls ein
Stück Innovation und ein wichtiger Impuls für das demokratische Gemeinwesen.
Wer jetzt wieder sagt, das sei eine rot-grüne Spezialität, dem antworte ich: Schauen Sie über den nationalen
Tellerrand hinaus in die USA. Der amerikanische Senat
hat schon vor einem Jahr öffentliche Anhörungen zu diesem Thema durchgeführt, sowohl mit Kritikern als auch
mit Protagonisten. Dabei ist ein Gesetz herausgekommen, welches vorgibt, dass gesellschaftliche, ethische
und Umweltbelange von Forschern wie der Politik berücksichtigt werden müssen.
Frau Kollegin!
Wir meinen, dass wir nicht unbedingt ein Gesetz haben müssen. Der öffentliche Dialog ist aber essenziell.
Der Bundestag wäre gut beraten, hierbei eine aktive
Rolle zu spielen.
Ich komme zum Schluss. Regierung und Koalition
haben die nächste Stufe auf dem Weg zur Eroberung des
Nanokosmos gezündet. Wir laden Sie ganz herzlich ein,
mit an Bord zu kommen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Axel Fischer, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben von
der SPD-Kollegin Burchardt eben das gehört, was wir
erwartet haben, nämlich eine Lobeshymne auf die SPDMinisterin. Außer dem Lob für die eigene Regierung jedoch kam nicht viel herüber. Frau Burchardt, wir werden
uns in dieser Debatte und auch in der zweiten und dritten
Lesung inhaltlich noch einmal über die Anträge unterhalten.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dieses gesamte
Feld in einen allgemeinen Kontext zu stellen und einen
Überblick darüber zu geben, in welchem Rahmen wir
hier diskutieren: Die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Lande lahmt, die Arbeitslosigkeit steigt immer
weiter an, unser Sozialstaat wird seit Jahren nur noch auf
Pump aufrechterhalten,
({0})
Deutschland erfüllt seit Jahren die Maastricht-Kriterien
nicht mehr, der Verkauf der Goldreserven als letzter Reserve soll von der sinkenden Kreditwürdigkeit unseres
Landes ablenken,
({1})
die Mittel für Investitionen im Bundeshaushalt sind geringer als die Neuverschuldung und die Bundesregierung
verweigert sich weiterhin hartnäckig, notwendige Reformen zum Wohle der Menschen im Lande anzugehen.
({2})
All Ihre Versuche, eine dynamische Wirtschaftsentwicklung herbeizureden oder durch planwirtschaftliche
Eingriffe in die Marktwirtschaft künstlich zu erzeugen,
sind fehlgeschlagen. Der Erhalt überkommener Strukturen durch Rot-Grün mit hohen Kosten für die Allgemeinheit verhindert jede wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung zum Besseren. Was bleibt, sind weithin
sichtbare Investitionsruinen und ist in volkswirtschaftlich schädlichen Konjunkturprogrammen verbranntes
Geld, das für ertragreiche Zukunftsinvestitionen fehlt.
Axel E. Fischer ({3})
Im Forschungshaushalt fehlt das Geld an allen Ecken
und Enden. Da werden reihenweise zukunftsträchtige
Programme gekürzt. In den Universitäten und bei Großforschungseinrichtungen muss Personal abgebaut werden, während an anderen Stellen Gelder in sinnlose Verwendungen gelenkt werden. Gleichzeitig verliert auch
der Mittelstand, der unter den Gesichtspunkten der ökonomischen Dynamik, der Innovationsfähigkeit, der Offenheit für Neuerungen, aber auch der Schaffung von
Arbeitsplätzen und sozialen Stabilisierung so wichtig ist,
immer mehr an Bedeutung.
Unter den Lasten einer überregulierten Bürokratie
und der erdrückenden sozialen Pflichten schwindet das
heutige und auch zukünftig nutzbare wirtschaftliche Potenzial immer weiter.
({4})
Es kann wirklich nicht verwundern, wenn sich vielerorts
- beileibe nicht nur in den neuen Bundesländern - Perspektivlosigkeit breit gemacht hat.
({5})
Die ständig steigende Unsicherheit in der Bevölkerung
über das, was kommt, ist in Deutschland mittlerweile auf
breiter Front in ein Klima starker Beunruhigung und großer Ängste breiter Bevölkerungsschichten umgeschlagen.
Nicht nur bei Älteren hat sich längst Hoffnungslosigkeit breit gemacht. Große Teile der jungen Generation
sprechen unserem Land auf seinem jetzigen Kurs die Zukunftsfähigkeit ab. Viele, beileibe nicht nur geistig Minderbemittelte, Alte oder schlechter Qualifizierte, verlassen ihre Heimat und suchen ihr persönliches und
berufliches Glück in anderen Ländern.
({6})
Die Abstimmung mit den Füßen über die Attraktivität
unseres Landes als Lebens-, Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort ist in vollem Gange.
({7})
Junge Forscher kehren dem Land ebenso wie viele junge
und auch ältere Unternehmer den Rücken. Die Rahmenbedingungen sind in anderen Ländern offenbar deutlich
besser als bei uns zu Hause.
Wenn wir saldieren, wer zu uns ins Land kommt und
wer geht, dann wird deutlich, in welche Richtung diese
Bundesregierung unser Land führt. In dieser Situation
suchen die Menschen, die zurückgeblieben sind, nach
Orientierung und Halt. Viele setzen ihre Hoffnungen auf
Zukunftstechniken, die viel versprechende, verheißungsvolle Anwendungen prophezeien. Inwieweit sich diese
Hoffnungen erfüllen, ist a priori offen. Ein solcher Hoffnungsträger ist heute eindeutig die Nanotechnologie.
({8})
Der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag zur Nanotechnologie
zeigt viele Chancen auf, die jetzt und in naher Zukunft
im Zuge der Anwendung und Verbreitung der Nanotechnik von und zum Wohle der Menschen hier im Land ergriffen werden müssen. Neue Ideen und neue Initiativen
für neue Produkte sollen breite Anwendungsfelder erschließen. Es besteht die Hoffnung, dass mit der Nanotechnik die wirtschaftliche Lethargie in unserem Land
überwunden werden kann, dass mit der Nanotechnik ein
Weg zurück zu wirtschaftlichem Wachstum, für mehr
Arbeitsplätze und weiter steigendem Wohlstand in
Deutschland eingeschlagen werden kann.
({9})
Der Standort Deutschland ist im Bereich der Nanotechnologieforschung derzeit international auf höchstem
Niveau. Zahlen zum Publikationsaufkommen und die
Anzahl der Patentanmeldungen belegen dies. Allerdings
sind die jährlichen Wachstumsraten bei der Anzahl nanotechnologischer Patentanmeldungen in Deutschland
eher unterdurchschnittlich. Dies weist auf Probleme bei
der wirtschaftlichen Verwertung der vorliegenden Forschungsergebnisse hin. Zwar haben einige nanotechnologische Verfahren und Produkte ihren Weg in den
Markt bereits gefunden, jedoch kann von einer umfassenden Marktdurchdringung nicht gesprochen werden.
Auch der anhaltende Mangel an Ingenieuren und Naturwissenschaftlern ist eine zunehmende Gefahr für
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der Nanotechnik.
Die Nanotechnik ist Hoffnungsträger für den Mittelstand wie für die Industrie und soll auch ein Hoffnungsträger für junge Unternehmer und Wissenschaftler werden. Es gilt jetzt, folgende Fragen zu beantworten: Kann
die Nanotechnik die in sie gesetzten Erwartungen mit
Blick auf neue volks- und betriebswirtschaftlich rentable
Produkte und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung
erfüllen? Kann der Hoffnungsträger den hoch gesteckten
Erwartungen halbwegs gerecht werden? Nicht zuletzt:
Was müssen wir dafür tun, um Erfolg zu haben?
Die Antwort auf die letzte Frage ist einfach. Die Weichen in Deutschland sind so zu stellen, dass die hervorragenden Ergebnisse der nanotechnologischen Grundlagenforschung verstärkt in die Produktion marktfähiger
Produkte mit einer hohen Wertschöpfung im Inland einmünden. Deutschland muss in der Nanotechnologie
möglichst bald auf breiter Front den Sprung von der Forschung in die Anwendung hinein schaffen. Transferprozesse - von den Erkenntnissen aus Forschung und Entwicklung bis zur Vermarktung - müssen deutlich
schneller werden. Grundlage dafür ist die Verbesserung
der Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung entlang der gesamten Prozesskette.
Es ist vor diesem Hintergrund erfreulich, dass Sie,
Frau Bulmahn, Anfang März des Jahres angekündigt haAxel E. Fischer ({10})
ben, eine Innovationsoffensive zur Nanotechnologie zu
starten. Angesichts der Bedeutung dieser Schlüsseltechnologie ist eine strategische Förderung dieses Bereichs
überfällig. Es wäre schön gewesen, wenn die Bundesregierung auch ausreichend Geld zur Verfügung gestellt
hätte. Unerfreulich ist es daher, dass im Haushalt 2004
Titel im Bereich der Nanoforschung gekürzt werden.
Über den Erfolg und Misserfolg der Entwicklung und
Markteinführung neuer Techniken entscheidet zum
Glück nicht nur das Ausmaß der verwendeten öffentlichen und privaten Mittel. Mindestens genauso wichtig
für den Erfolg sind die sonstigen Rahmenbedingungen
für die Forscher an ihren Forschungseinrichtungen und
für die Unternehmer auf den entsprechenden Märkten
für Güter und Dienstleistungen. Bekannt sind uns allen
die Klagen über ein unerträgliches Übermaß an Bürokratie in Deutschland. Das betrifft auch die Forschung.
Kontakte zwischen Ministerien und Wissenschaftlern
mögen das erfreulich hohe Erkenntnisinteresse der Beamten befriedigen, den Nutzen für unser Land erzeugen
aber die Wissenschaftler mit ihrer Forschungsarbeit. Die
Beschäftigung hoch qualifizierter Wissenschaftler mit
immer aufwendigeren Anträgen für Projektmittel und
Ähnliches bringt sicherlich keinen zusätzlichen gesellschaftlichen Nutzen. Sie behindert die eigentlichen Forschungsaktivitäten und belastet zunehmend die Motivation der Forscher.
({11})
Wenn man von Wissenschaftlern hinter vorgehaltener
Hand Äußerungen hört wie „Früher zählte das Erreichte,
heute reicht das Erzählte“, dann mag das als Ausdruck
leichter Verstimmung über das Vorgehen einer zentralistischen Forschungsbürokratie vielleicht ein wenig pauschal sein. Es verdeutlicht aber die herrschende Stimmung und lenkt das Augenmerk auf eine zentrale
Schwäche nicht nur unseres Forschungssystems: seine
Langsamkeit.
Der Zeitraum von der erfolgreichen Erfindung bis zur
Umsetzung in marktfähige Produkte ist in Deutschland
deutlich länger als in anderen Ländern. Vielleicht führen
gerade die Bemühungen in Deutschland zur staatlichen
Feinsteuerung des Engagements Einzelner dazu, dass
Erfolge ausbleiben und selbst viel versprechende Schlüsseltechniken mit öffentlichen Mitteln auf den Markt gebracht und teilweise dort noch gehalten werden müssen.
Wir brauchen eine tief greifende Entbürokratisierung
der Forschungsförderung und eine Verlagerung der
Entscheidungskompetenz über die Mittelvergabe näher
hin zu den Forschern selbst.
({12})
Im Gegenzug müssen die Forscher dann auch einen Teil
der Verantwortung für den Erfolg der Verwendung der
Mittel übernehmen.
({13})
Die Bewertung des Mitteleinsatzes muss sich in der
Grundlagenforschung wieder an den langfristigen realen
Erfolgen als Resultat der Forschung messen lassen und
weniger an hypothetischen Abhandlungen über etwaig
bestehende Aussichten auf solche Erfolge.
Um die wirtschaftlichen Potenziale aus der Erforschung der Nanotechnologie für unser Land nutzbar zu
machen, brauchen wir notwendig die wirtschaftliche
Freiheit, diese Forschungsergebnisse rasch und gewinnbringend in marktfähige Produkte umzusetzen. Für innovative Branchen benötigen wir eine neue Politik, das
heißt: höhere Priorität für Bildung und Forschung im
Bundeshaushalt und gezielte Förderung der Zusammenarbeit von Forschung und Unternehmen etwa durch eine
Forschungsprämie für kleine und mittelständische Unternehmen.
Es ist auf jeden Fall begrüßenswert, wenn die öffentliche Hand mehr Geld für Zukunftsinvestitionen erübrigt.
Wichtiger ist aber, die unbürokratische Umsetzung dieses
Geldes in Ideen und Produkte zu gewährleisten. Gefordert
sind neue, dynamische Elemente für eine dezentrale Förderung wie zum Beispiel eine stärkere Unterstützung von
Unternehmensausgründungen aus Hochschulen oder anderen Forschungseinrichtungen.
Wir müssen junge Wissenschaftler dabei unterstützen,
aus einer guten Idee ein Produkt zu machen. Wir müssen
sie motivieren, in Deutschland entweder in der Forschung zu bleiben oder vermehrt als junge Hightech-Unternehmer Verantwortung für unser Land zu übernehmen.
({14})
Hochschulen und Forschungseinrichtungen könnten ideale Kristallisationspunkte für solche Unternehmensgründungen sein. Das Wissen der seit 1998 arbeitenden
Kompetenzzentren Nanotechnologie sollte stärker genutzt werden und insbesondere auch für kleine und mittlere Unternehmen nutzbar gemacht werden.
Die angeblich neue Nanotechnologiepolitik der Bundesregierung beseitigt nicht die offensichtlichen Mängel
fehlender Freiheit und grenzenloser Bürokratie im Forschungs- wie im Wissenschaftsbereich. Sie erschöpft
sich wieder in dem bekannt sozialistisch-erfolglosen,
zentralistisch-planwirtschaftlichen Ansatz.
({15})
Sie beschränken sich in Ihrer Offensive auf vier vermeintlich zukunftsträchtige Anwendungsbereiche.
Die zu Recht hoch gesteckten Erwartungen der Menschen an die Entwicklung der Nanotechnik für den
Wohlstand in Deutschland werden jedenfalls mit dem
von Ihnen vorgelegten Programm nicht erfüllt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
Ulrike Flach ({16})
Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Fischer, wenn Ihnen Ihre
Fraktion schon keinen eigenen Redebeitrag zum
Schlechtreden der deutschen Wirtschaft zugesteht, dann
sollten Sie auch diese Forschungsdebatte nicht dazu
missbrauchen.
({0})
Meine Vorrednerin Frau Burchardt hat - auch Sie haben das zum Teil getan - bereits in vielfacher Hinsicht
auf die großen Chancen der Nanotechnologie hingewiesen. Auch wir Grünen sehen diese Chancen und wollen
sie in großem Umfang nutzen, auch zugunsten einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung.
Die unter der rot-grünen Bundesregierung aufgebaute
führende Rolle Deutschlands in der Forschung und
Entwicklung der Nanotechnologie gilt es weiter zu stärken.
({1})
Deswegen begrüßen wir, dass die Bundesregierung mit
der Vorstellung des neuen Rahmenkonzeptes „Nanotechnologie erobert Märkte“ wichtige Schwerpunktsetzungen vorgenommen hat. Es ist richtig, dass die Stärken
der deutschen Industrie in den Bereichen Automobilindustrie, optische Industrie, Pharma- und Medizintechnik
sowie Elektronik mit der Nanotechnologie gestärkt werden und die Industriezweige dadurch neue Wettbewerbsvorteile auf dem Weltmarkt bekommen.
Wir müssen auch die anderen deutschen Spitzenbranchen stärken, vor allem im Bereich der Umwelttechnologie,
Energietechnologie und Biotechnologie. Ich will einige
Beispiele für das Innovationspotenzial der Nanotechnologie in diesen Bereichen geben:
Bereits in der Anwendung befindliche chemische
Schichten als Ersatz für Anti-Fouling-Anstriche von
Schiffen sind ein Beispiel für das Potenzial, welches die
Nanotechnologie für eine giftfreie Chemie bietet.
Durch über elektrische Felder beeinflussbare oberflächliche Nanopartikel in Gläsern können Lichtstrahlen
fokussiert, abgelenkt, durchgelassen oder abgeschattet
werden. Die Anwendungen für drastische Kostensenkungen im Bereich der Solarstromgewinnung oder der
aktiven Lichtlenkung in Gebäuden lassen große, mittelfristig erschließbare Potenziale für erneuerbare Energien
und Energieeinspartechnologien erwarten.
Nanoporöse Membrane bieten große Möglichkeiten
in der Abwasseraufbereitung, Trinkwassererzeugung,
Schadstoffbeseitigung, für neue Hochleistungsbatterien
oder Brennstoffzellentechnologie. Die Analyse der Fotosynthese kann durch Nanobiotechnologie hoch effiziente
Verfahren zur Nutzung der Sonnenenergie ermöglichen,
zum Beispiel für die Erzeugung neuer Biokraftstoffe.
Angesichts der aktuellen Diskussion um den Benzinpreis
bedeutet das eine echte Chance auf preiswerte und umweltfreundliche neue Biokraftstoffe.
Ich fasse zusammen: Nanotechnologie ist eine wichtige Schlüsseltechnologie für eine schadstofffreie solare
Energie- und Stoffwirtschaft. Diese Chance wollen wir
in den Mittelpunkt rücken.
({2})
Selbstverständlich werden wir dabei auch die notwendigen Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die
Umsetzung der Forschungsergebnisse in unternehmerisches Handeln im Blick haben. Dazu gehören die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen, die Stärkung der Kette von der Grundlagenforschung bis zur
Anwendung und die Cluster- und Netzwerkbildung in der
Forschungslandschaft. Selbstverständlich werden wir uns
auch für Verbesserungen auf europäischer Ebene - beispielsweise im 7. Forschungsrahmenprogramm - einsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Union, wir freuen uns, dass auch Sie - zumindest teilweise - die Chancen der Nanotechnologie erkennen und
deren Nutzung unterstützen wollen. Ihr Antrag leidet
aber unter einer blinden Technikgläubigkeit.
({3})
Sie weigern sich, mögliche Risiken in den Blick zu nehmen und bei aller Chancenorientiertheit zu minimieren.
Es ist geradezu skandalös, dass Sie die in diesem Bereich sachlich dargelegten wissenschaftlichen Erkenntnisse des fundierten Berichtes des Büros für Technikfolgenabschätzung in Ihrem Antrag schlichtweg ignorieren.
({4})
Die FDP hat immerhin einige Hinweise darauf - allerdings zu wenige - in ihrem Antrag gegeben und nimmt
das Thema ernst. Aber Sie, meine Damen und Herren
von der Union, lernen offensichtlich nichts aus der Vergangenheit. Ihre blinde Technikgläubigkeit bei der
Atomtechnologie hat der Menschheit nicht aus ihren
Energienöten herausgeholfen, sondern hat der Menschheit zunehmende Probleme mit atomaren Massenvernichtungswaffen beschert.
({5})
Das kommt auch in Ihrem Antrag zum Ausdruck. Statt der
vom Büro für Technikfolgenabschätzung dargestellten
Gefahr der Herstellung neuer Massenvernichtungswaffen
mithilfe der Nanotechnologie zu begegnen, betonen Sie
geradezu skandalös die Nutzung der Nanotechnologie bei
neuen Wehrtechnologien. Ich halte das für verfehlt.
({6})
Rot-Grün - das kommt auch in unserem Antrag zum
Ausdruck - nimmt im Gegensatz zu Ihnen die Verantwortung für Frieden, soziale Gerechtigkeit und UmweltHans-Josef Fell
schutz ernst, im Einklang mit einer fundierten wissenschaftlichen Entwicklung auf dem spannenden neuen
Feld der Nanotechnologie.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung hat dem Deutschen Bundestag in seinem Bericht ausdrücklich empfohlen, Begleitforschung zur Beherrschung möglicher Risiken zu leisten. Wir wollen eine aktive Begleitforschung
zur Erkennung und Prävention möglicher Risiken. Die
Untersuchung der Fragen der Ökologie, der Ethik, des
Sozialen, der Friedenspolitik, des Verbraucherschutzes
sowie des Gesundheitsschutzes wollen wir mit 5 Prozent
der zur Verfügung stehenden Forschungsmittel fördern.
Nur bei klarer Analyse und dem Ausschalten der Risiken
wird es eine problemlose Nutzung der Chancen geben.
Herr Fischer, dies ist ein entscheidendes Fundament;
denn damit haben wir die Chance, fehlgeleitete Entwicklungen, wie sie in der Vergangenheit beispielsweise im
Bereich der Gentechnologie und insbesondere der gentechnisch veränderten Lebensmittel immer wieder aufgetreten sind, zu vermeiden und die Unternehmen entsprechend zu schützen. Dies ist das entscheidende
Fundament für das von uns gewollte starke und kontinuierliche Wachstum der Nanobranche.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Ich freue mich, dass inzwischen alle Fraktionen die große Bedeutung der Nanotechnologie erkannt haben, und bin sehr froh, dass dies
nicht zuletzt auf einen Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung zurückzuführen ist, für dessen Gründung der Anstoß aus den Reihen der FDP kam. Ich bin
genauso froh, dass wir mit Rainer Brüderle jemanden in
unseren Reihen haben, der als Wirtschaftsminister von
Rheinland-Pfalz Anfang der 90er-Jahre eines der ersten
Institute in diesem Bereich gründete.
({0})
Man sieht also: Die FDP hat die Chancen dieser Technologie erkannt. Wir begrüßen es, dass dies nunmehr offenbar auch in den anderen Fraktionen der Fall ist.
Wie so häufig ist Deutschland durch seine ausgezeichneten Wissenschaftler in der Grundlagenforschung der
Nanotechnologie weit vorn. Ich glaube, das ist auch unbestritten. Es war der Deutsche Gerd Binnig, der 1986
mit seinem Schweizer Kollegen Heinrich Rohrer für die
Entwicklung des Rastertunnelmikroskops den Nobelpreis erhielt. Diese Forscher haben uns die Welt des
Nanokosmos eröffnet. Wir Deutsche gehören also zu den
Ersten, die sich mit diesem Gebiet beschäftigt haben.
Auch bei Publikationen und Patententwicklungen im Bereich der Nanotechnologie sind wir weltweit auf hohem
Niveau. Ich sage ganz bewusst, Frau Bulmahn - es hat ja
keinen Sinn, alles klein zu reden -: Deutschland ist in
der Nanotechnologie weit vorn. Aber unsere Aufgabe ist
natürlich, dass es auch so bleibt. Um diesen Punkt geht
es heute.
({1})
Ich sehe, dass Sie unseren jahrelangen Forderungen
nachgekommen sind und versuchen, eine integrierte
Strategie zu entwickeln. Leitinnovationen und eine Förderstrategie von der Idee bis zum Produkt sind richtig.
Ich glaube, es gab keine Debatte in diesem Hause zu diesem Thema, in der ich das nicht immer wieder betont
habe.
Wir müssen die zahlreichen Anwendungen von Materialien in Nanogröße - diese Bereiche reichen von der
Medizin über die optischen Technologien bis zur Elektronik, zur Chemie und zu neuen Werkstoffen - vernetzt
sehen. Daran müssen wir unsere Strategien natürlich
ausrichten.
Frau Bulmahn, Sie versuchen, dies mit einem ressortübergreifenden Programm zu tun, das leider nach wie
vor - das muss ich sehr deutlich sagen - Nanogröße hat.
({2})
290 Millionen Euro sind zwar kein Pappenstiel, liebe
Kollegen von den Regierungsfraktionen; aber die USA
- Frau Burchardt, ich lasse nicht zu, dass Sie das einfach
vom Tisch fegen - investieren allein im Jahr 2005
850 Millionen Euro,
({3})
Japan investiert 800 Millionen Euro. Die Länder China
und Indien, deren Bevölkerungen immer weiter wachsen, ziehen nach.
Wir spielen in der Weltliga. Es hat überhaupt keinen
Sinn, darauf hinzuweisen, dass wir uns mit diesen riesigen Technologieländern nicht vergleichen können. Auf
diese Konkurrenz müssen wir uns einstellen und daran
müssen wir unsere Programme ausrichten.
({4})
Frau Ministerin, Sie haben eine ganze Reihe von
wunderschönen Programmen mit vielen schönen Namen, vor allen Dingen was die Vorsilben angeht, versehen. Mich ärgern die in Ihrem Ministerium offensichtlich vorhandenen Neigungen, eine Art Umetikettierung
vorzunehmen. Das, was früher „Mikro“ oder „Optik“
war, ist bei Ihnen heute „Nano“. Ich glaube, das wird uns
nicht weiterführen. Der Haushalt wächst in diesem Bereich nicht. Wir haben uns mit Ihnen erst gestern darüber
unterhalten. Sie sorgen dafür, dass alles schön sichtbar
wird; aber etwas wirklich Neues und in die Zukunft Weisendes ist Ihre „Nanokampagne“ leider eben nicht.
Außerdem sehe ich in Ihrem Antrag eine gefährliche
Entwicklung. Herr Fell, da bin ich einfach anderer Meinung als Sie und einige Kollegen aus der SPD-Fraktion.
Wir wissen selbstverständlich, dass es in jedem Technikbereich Gefahren gibt.
({5})
Auch im Nanobereich wird es Gefahren geben. Darüber
haben wir damals bei der Beratung des TAB-Berichts
diskutiert. Trotzdem vertreten wir die Auffassung, dass
wir die Chance nutzen müssen.
({6})
Wir dürfen in die Diskussion in diesem Lande nicht erneut verzögernde Elemente einfließen lassen. Solche
Elemente waren bei den Diskussionen über die Gentechnik und über die Kerntechnik unser Problem. Es gab eine
große Anzahl von Bedenkenträgern, die sich bei jeder
neuen Technologie zu Wort gemeldet haben und uns
nicht weitergebracht haben.
({7})
Meine Sorge ist, dass sich die Bedenkenträger bei Ihnen wieder durchsetzen und dass es erneut zur Bürokratisierung kommt. Ich bin ziemlich sicher: Eine Reihe
von Regulierungen wird auf uns zukommen. Ich befürchte, dass es zu endlosen Diskussionen in so genannten Bürgerkonferenzen kommt, die zu ähnlich negativen
Ergebnissen führen, wie wir es bei der Grünen Gentechnik eigentlich jeden Tag erleben.
Für die FDP heißt Nanotechnologie natürlich auch die
Berücksichtigung eventuell negativer Auswirkungen.
Das ist keine Frage; das müssen wir mit großem Ernst
sagen. Aber wir stehen für die Chancen dieser Technologie; denn wir stehen dafür, dass in diesem Land durch
neue Technologien Arbeitsplätze geschaffen werden und
dass es vorankommt. Lassen Sie uns bitte alle gemeinsam dafür arbeiten! Wir haben heute einen ersten, sehr
wichtigen Schritt in dieses neue Feld getan.
({8})
Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Herr Fischer, als ich Ihren Worten
gelauscht habe, blühte in mir die Hoffnung auf, dass die
Nanotechnologie dazu verhilft, das Langzeitgedächtnis
der Menschen zu reaktivieren
({0})
und die Wahrnehmung zu verbessern.
({1})
Ich komme auf den Rahmen zu sprechen, in dem das
Ganze stattfindet. Die Regierung Kohl hat damals bei
Forschung und Entwicklung einen beispiellosen Raubbau betrieben. Zwischen 1992 und 1998 sind die Mittel
für das - für unser Land so wichtige - Feld „Bildung und
Forschung“ um umgerechnet 670 Millionen Euro gekürzt worden. Diese Bundesregierung hat die Mittel für
Bildung und Forschung seit 1999 um rund 1 Milliarde
Euro erhöht.
({2})
Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Ihnen
und uns.
Ein zentrales Ziel der Innovationspolitik der Bundesregierung ist - damit will ich auf die Nanotechnologie, unserem Hauptpunkt heute, zurückkommen -,
Deutschland auf dem Gebiet der Hochtechnologie dauerhaft an der Weltspitze zu positionieren.
({3})
In dem Maße, in dem es uns gelingt, die Chancen, die in
den technologischen Entwicklungen liegen, für die deutsche Wirtschaft zu aktivieren, nutzen wir auch die Chancen für unser Land für die Schaffung von Arbeitsplätzen
und für wirtschaftliches Wachstum; denn die Fähigkeit
zu Innovationen, insbesondere im Bereich neuer Technologien wie der Nanotechnologie, wird zu dem Differenzierungsmerkmal hoch entwickelter Volkswirtschaften. Deshalb haben wir die Innovationsoffensive
gestartet, mit der wir die Potenziale der wichtigen
Schlüsseltechnologien für unser Land erschließen wollen.
Das BMBF-Rahmenkonzept „Nanotechnologie erobert Märkte“ steht beispielhaft dafür, wie wir die Innovationskraft des Standorts Deutschland stärken wollen, und zwar in Partnerschaft - ich sage das
ausdrücklich - mit Wissenschaft und Wirtschaft. Die Nanotechnologie ist eine der Schlüsseltechnologien, der
Basistechnologien, die viele neue Wachstumsfelder erschließt - die Kolleginnen und Kollegen haben darauf
hingewiesen -, in vielen Branchen aber auch Wachstumstreiber ist. Bereits heute profitiert eine ganze Reihe
von Branchen davon: die Chemie, die Automobilindustrie, der Maschinenbau, die gesamte Sensorik, die Elektronik.
Der Wettlauf bei der Eroberung des Nanokosmos ist
weltweit bereits in vollem Gange. Unsere Ausgangsposition ist gut.
({4})
Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung die herausragende Bedeutung dieser Schlüsseltechnologie sehr frühzeitig erkannt hat. Durch eine parallele Förderstrategie - durch
die Förderung von Kompetenzzentren sozusagen als
wichtigem Rückgrat für die nanotechnologische Forschung und durch die gleichzeitige Projektförderung,
mit der wir auch immer wieder die Verbindung zwischen
Forschung und Wirtschaft herstellen - haben wir wirklich einen Vorsprung gegenüber vielen anderen Ländern
erreicht. Wir stehen in der Forschung mit den USA an
der Spitze.
({5})
Hinzu kommt, dass auch die auf die Nanotechnologieprodukte ausgerichteten Firmen an Anzahl und Renommee deutlich zugelegt haben. Etwa die Hälfte der in
Europa ansässigen Firmen in diesem Bereich stammt aus
Deutschland. Bei den Patentanmeldungen liegen wir
weltweit auf Platz zwei - hinter den USA, aber vor Japan. Diese wirtschafts- und forschungspolitischen Erfolge fußen auf der erfolgreichen Förderpolitik.
Wir investieren in Deutschland jährlich rund
300 Millionen Euro an öffentlichen Fördermitteln in die
Nanotechnologie. Das sind 40 Prozent der gesamten Investitionen in diesen Forschungsbereich in Europa. Ich
sage ausdrücklich: Europa gibt für diesen Technologiebereich wirklich nur unwesentlich weniger aus als die
hoch gelobten USA. Ich nehme einmal Ihren Vergleich
auf, Frau Flach. Die USA haben dreimal so viel Bevölkerung wie Deutschland. Wir geben 300 Millionen Euro
aus. Die USA geben 850 Millionen Euro aus. Das liegt
also auf dem gleichen Niveau, wenn wir das zu unserer
Bevölkerungszahl ins Verhältnis setzen.
({6})
Da muss man schon die richtigen Relationen sehen und
das wissen Sie auch. Ich kenne Sie lange genug, um zu
wissen, dass Sie das richtig einschätzen können.
({7})
Für diese Bundesregierung - das sage ich ausdrücklich - hat die Nanotechnologie Priorität. Das macht auch
der Anstieg bei der Projektförderung für die Nanotechnologie deutlich. Da kann keine Rede von Kürzungen
sein; im Gegenteil: Wir haben die Mittel trotz der angespannten Haushaltslage seit 1998 mehr als vervierfacht,
({8})
nämlich von damals 27,6 Millionen Euro auf inzwischen
123,8 Millionen Euro. Die institutionelle Förderung
kommt, wie gesagt, immer noch dazu.
Wir werden auch im Haushalt 2005 einen Schwerpunkt auf die Nanotechnologie setzen. Das heißt, wir
werden die Mittel auch weiterhin erhöhen, um die gute
Position, die wir auf diesem Gebiet inzwischen erreicht
haben, zu halten und auszubauen.
({9})
Der Aufbruch, der in der wachsenden Dynamik der
Nanotechnologie sichtbar wird, ist geschafft. Jetzt
kommt es darauf an, das, was wir in der Forschung erreicht haben, weiter auszubauen und vor allen Dingen
die Anwendungspotenziale für die am Standort Deutschland wichtigen Industriebranchen zu erschließen. Wir
wollen nicht nur in der Forschung Nummer eins sein,
sondern wir wollen auch das Exportland Nummer eins
für Nanoprodukte werden. Das ist die Zielsetzung unseres neuen Förderkonzepts.
({10})
Das von mir am 9. März vorgelegte Rahmenkonzept
„Nanotechnologie erobert Märkte“ bündelt die in den
einschlägigen Fachthemen geförderten Aspekte der Nanotechnologie zu einer nationalen Gesamtstrategie und
macht damit auch deren kritische Masse sichtbar.
Entscheidende Elemente unseres Konzeptes sind an
der wirtschaftlichen Wertschöpfungskette ausgerichtete
Leitinnovationen. Ich denke, wir Forschungspolitiker
sind uns einig, dass das der richtige Weg ist, weil wir bei
Leitinnovationen schon bei der Forschung Umsetzung,
Anwendung und Marketing berücksichtigen. In enger
Abstimmung mit Wirtschaft und Wissenschaft haben wir
vier Leitinnovationen entwickelt: die Leitinnovation
Nano-Fab mit einem Schwerpunkt auf der Elektronikfabrikation, die Leitinnovation Nano-Lux für Licht- und
optische Technologien, die Leitinnovation Nano-Mobil
- dieser Begriff ist selbsterklärend - und die Leitinnovation Nano-for-Life. Das sind die vier wichtigen Leitinnovationen. Ebenfalls Bestandteil des Rahmenkonzeptes
ist die Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmen. Darauf hat Frau Burchardt schon hingewiesen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir damit wirklich die
Grundlage dafür gelegt haben, dass wir auch in der Anwendung, in der Produktion und im Export so erfolgreich sein werden, wie wir es in der Forschung schon
sind.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Mayer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man einmal von der üblichen Polemik der Bundesministerin gegenüber der Union und der FDP und Ihren Propagandareden absieht,
({0})
dann kann man wohl feststellen, dass es in der Frage der
Nanotechnologie auch eine Menge an Übereinstimmung
gibt.
Dr. Martin Mayer ({1})
({2})
Es gibt einen hervorragenden Bericht des Büros für
Technikfolgenabschätzung. Es herrscht auch überall eine
gewisse Faszination über das, was Physiker, Chemiker,
Biologen und Mediziner herausfinden, wenn sie in eine
immer kleinere Welt vordringen. Es ist faszinierend, wie
diese Welt der Atome und Moleküle neue Möglichkeiten
eröffnet. Die relative Zunahme der Oberfläche der
kleinsten Teilchen im Vergleich zur Masse eröffnet viele
neue Möglichkeiten. Viele neue Werkzeuge und Werkstoffe sind möglich. Die Hoffnungen und Visionen, die
in diese Technik gesetzt werden, sind außergewöhnlich.
Die CDU/CSU-Fraktion hat mit ihrem Antrag bei diesem wichtigen Zukunftsthema eine Vorreiterrolle übernommen. Es ist offensichtlich, dass die übrigen Fraktionen
({3})
- diese hat sie wohl übernommen - nachgezogen haben
und wir uns untereinander einig sind, dass das ein wichtiges Zukunftsthema ist. Allerdings tut die Bundesregierung zu wenig. So hat sogar der forschungspolitische
Sprecher der Grünen erst vor zwei Monaten die Initiative
„Nanotechnologie erobert die Märkte“ des Bundesforschungsministeriums als zu eng gefasst bezeichnet. Sie
greife nicht die Chancen auf und lasse die notwendige
Interdisziplinarität vermissen.
({4})
Dem kann man nur zustimmen, wenn selbst die eigenen
Leute so etwas sagen.
Bei einem Vergleich mit den USA muss man außerdem feststellen: Leider fehlen der Bundesregierung auch
in diesem Bereich die notwendigen Mittel. Von der Verdoppelung der Ausgaben für die Forschung - einst ein
Wahlkampfversprechen - ist nichts mehr zu hören.
({5})
Das ist schon lange vergessen. Jetzt hören wir vom Bundeswirtschaftsminister, dass er selbst die Besitzer kleiner
Sparvermögen zur Kasse bitten will,
({6})
um die Forschungsmittel nicht kürzen zu müssen. Ich
finde, das ist ein jämmerlicher Beitrag, den er zu dieser
Frage geliefert hat.
({7})
Es gibt bereits jetzt eine Reihe von praktischen Anwendungen der Nanotechnologie: in der Mikroelektronik, in der Oberflächenbeschichtung und auch in anderen Bereichen. Im Vergleich zu den potenziellen
Möglichkeiten bewegen sich die derzeitigen Anwendungen allerdings noch in engen Grenzen. Wenn man den
TAB-Bericht zur Nanotechnologie aufmerksam liest,
fällt nämlich auf, dass zur Anwendung häufig Begriffe
wie „in Entwicklung“, „bedeutendes Potenzial“ oder
„dass es künftig gelingt“ verwendet werden. Vieles ist
heute noch Vision und Hoffnung. Es ist erfreulich, wenn
SPD und Grüne die Auffassung teilen, dass diese Hoffnungen Wirklichkeit werden sollen. Allerdings wird man
angesichts der Euphorie der Koalitionsabgeordneten
beim Thema Nanotechnologie an frühere Reden von
SPD-Abgeordneten zur Kerntechnik erinnert. Damals
glaubte man, dass man mit der Kerntechnik alles Mögliche erreichen könne. Solange die Anwendung noch weit
weg ist, kennt bei Ihnen die Begeisterung keine Grenzen.
Aber je näher eine breite Anwendung rückt, desto mehr
gewinnen bei Ihnen die Bedenken die Oberhand.
({8})
Bei der Entwicklung und Anwendung der Nanotechnologie geht es um eine Reise in unbekanntes Land. Wie
bei Christoph Kolumbus ist das Ziel in vielen Bereichen
klar definiert. Ob wir allerdings dort ankommen, wo wir
hinwollen, ist ungewiss. Wie damals in der christlichen
Seefahrt funktioniert auch die Anwendung neuer Techniken nicht ohne Gefahren für die Umwelt, die wir ernst
nehmen müssen, insbesondere wenn die Anwendung ein
größeres Ausmaß annimmt.
Es gibt aber mittlerweile Horrorszenarien, die sehr
spekulativ sind. Darin wird zum Beispiel dargestellt,
dass sich selbst vermehrende Nanomaschinen die Biowelt zerstören könnten. Man kann jetzt darauf warten,
dass die Grünen diese Horrorszenarien aufgreifen und
sich ihre Begeisterung in Gegnerschaft wandelt.
({9})
Wir von der Union jedenfalls werden gegenüber der
Nanotechnologie ebenso wie gegenüber anderen neuen
Techniken eine nüchterne, zukunftsorientierte Haltung
einnehmen. Wir setzen bei der Nanotechnologie ebenso
wie bei der Kerntechnik und der Biotechnik auf Risikominimierung und Nutzung der Chancen. Deutschland
muss in Forschung und Anwendung der Nanotechnologie eine Spitzenstellung einnehmen. Dafür sollten wir
uns gemeinsam einsetzen.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ulrich Kasparick, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte etwas zum industriepolitischen Aspekt unserer heutigen Debatte sagen. Die Zuhörer haben
verstanden, dass Nano etwas sehr Kleines ist. Was wir in
Dresden daraus machen wollen, ist etwas sehr Großes.
Wir wollen nämlich in Dresden eine Nano-Forschungsplattform aufbauen, die uns zur Nummer eins in Europa
machen wird.
({0})
Wir sind mit dem IT-Cluster in Dresden schon jetzt die
Nummer eins in Deutschland. Die Fraunhofer-Gesellschaft wird in enger Abstimmung mit der Europäischen
Union, dem Bund, dem Land Sachsen-Anhalt und der regionalen Wirtschaft etwas sehr Innovatives machen,
nämlich ein gemeinsames Forschungslabor aufbauen,
um uns zur Nummer eins in Europa zu machen.
({1})
Frankreich und Belgien haben erhebliche Beiträge geleistet. Die Europäische Union sagt: Wir sind bereit, zu
fördern, wenn es zwischen den drei Ländern ein abgestimmtes Konzept gibt. Jetzt lese ich mit großer Aufmerksamkeit im Antrag der Union, dass sie uns auffordert, die Cluster-Bildung voranzubringen. Dazu will ich
nur einen ganz kurzen Satz sagen.
({2})
Lieber Herr Fischer, wir sind ja schon zusammen verreist. Lassen Sie uns gemeinsam nach Dresden fahren!
Dann können Sie nämlich sehen, was diese Regierung
längst tut. Ihr Antrag kommt um Jahre zu spät. Lassen
Sie uns das, was wir politisch schon längst getan haben,
jetzt fortsetzen und Dresden über den Standort Nummer
eins in Deutschland hinaus - Professor Bullinger sagt zu
Recht, dass dieser Standort die Nummer eins in Deutschland ist - auch zum Standort Nummer eins in Europa
machen, indem wir den nächsten Step gehen und die Nanoelectronics in der Forschung entwickeln! Hier sind wir
auf einem sehr guten Weg, weil uns die Regierung dabei
sehr unterstützt.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2650, 15/2713, 15/3051 und 15/3074
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ressortforschungseinrichtungen des Bundes regelmäßig in Hinblick auf internationale Qualitätsanforderungen an das deutsche Forschungssystem evaluieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Helge Braun,
Dr. Maria Böhmer, Katherina Reiche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ressortforschung des Bundes effizienter gestalten und evaluieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Carola
Reimann, Walter Schöler, Carsten Schneider,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Antje Hermenau,
Hans-Josef Fell, Volker Beck ({2}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Qualitätssicherung des deutschen Forschungssystems
- Drucksachen 15/222, 15/1981, 15/2665, 15/3068 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Helge Braun
Zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Carola Reimann, SPD-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ressortforschung sowie die universitäre und außeruniversitäre
Forschung der Länder sind ein wichtiger Teil der Forschungslandschaft. Die Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes weisen dabei eine Doppelfunktion auf: Sie
tragen auf der einen Seite zum allgemeinen Erkenntnisgewinn bei und stellen auf der anderen Seite wissenschaftliche Erkenntnisse für die Durchführung von Ressortaufgaben zur Verfügung. Ihnen fällt dabei eine
Schlüsselrolle dort zu, wo im politischen Raum wissenschaftlich fundierte Antworten benötigt werden.
Wie bei anderen Forschungseinrichtungen auch muss
die wissenschaftliche Qualität dieser Einrichtungen regelmäßig überprüft werden. Das erfordert allerdings Erfahrung und Augenmaß; denn die dort angelegten Bewertungsmaßstäbe müssen dieser Doppelfunktion der
Ressortforschungseinrichtungen gerecht werden. Deswegen ist hier auch die Anwendung spezifischer Bewertungsverfahren und -kriterien erforderlich.
({0})
Wir wollen eine exzellente Forschung. Deswegen
sind wir grundsätzlich für eine Evaluierung der Ressortforschungseinrichtungen - auch um eine zielgerichtete
Politikberatung zu gewährleisten.
({1})
Hier wurde unter Rot-Grün in den letzten Jahren bereits
einiges geleistet. So ist die Zahl der überprüften Ressortforschungseinrichtungen deutlich gestiegen. Die Anstrengungen zur Qualitätssicherung wurden ganz erheblich ausgeweitet.
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, leider vermittelt Ihr Antrag den Eindruck, man stehe bei der Evaluierung ganz am Anfang und jetzt sei die Stunde Null.
Das ist so nicht richtig.
({2})
Ganz im Gegenteil: In der Vergangenheit evaluierte der
Wissenschaftsrat beispielsweise das Paul-Ehrlich-Institut im Jahr 2000, das Bundesinstitut für gesundheitlichen
Verbraucherschutz im Jahr 1999 sowie das RobertKoch-Institut im Jahr 1997. Dazu wurde im Jahr 2001
eine zusammenfassende Stellungnahme vorgelegt.
Lassen Sie mich das Robert-Koch-Institut herausgreifen. Gerade Bundesregierung und Parlament greifen
auf die Expertise des Robert-Koch-Instituts sehr oft und
sehr gern bei allen wichtigen Fragen zu Infektionserkrankungen zurück. Ob wir eine Auskunft über Grippeepidemien, SARS, BSE oder über sicherheitsrelevante
Vorkommnisse wie Milzbrandverdachtsfälle brauchen:
Immer ist die Expertise des Robert-Koch-Instituts gefragt. Die wissenschaftliche Qualifikation des RKI auf
dem Gebiet der Infektionskrankheiten ist ganz unbestritten.
({3})
Das Gleiche könnte man im Veterinärbereich beispielsweise für die Bundesforschungsanstalt für Viruserkrankungen der Tiere sagen.
Zurzeit wird das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte evaluiert. Die Stellungnahme ist in
Vorbereitung. Auch die Bundesforschungsanstalt für
Landwirtschaft wurde zusammen mit anderen Ressortforschungseinrichtungen des BMVEL kürzlich begutachtet. Im Übrigen nicht zum ersten Mal: Die FAL hat
bereits 1996 in Eigeninitiative mit der Durchführung einer externen Evaluierung und der Einrichtung eines Bonusverfahrens Anstrengungen zur leistungsgebundenen
Mittelverteilung unternommen.
({4})
Weiterhin wird die BAM, die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, zurzeit evaluiert. Ich denke,
die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, verdeutlichen, dass Evaluierungen sowohl sinnvoll als auch notwendig sind.
In unserem Antrag fordern wir, den Wissenschaftsrat
mit der Begutachtung der Ressortforschungseinrichtungen zu beauftragen. Der Wissenschaftsrat hat in der Vergangenheit hervorragende Arbeit geleistet und gilt
- meiner Ansicht nach: zu Recht - als das fachlich kompetente Gremium in diesem Bereich.
({5})
Wir wollen die deutsche Forschung voranbringen.
Dazu gehört auch die kritische Analyse ihrer Leistungsfähigkeit und natürlich auch das Aufzeigen ihrer
Schwachstellen. Nur so können wir letztendlich Verbesserungen im Forschungssystem erreichen. Es ist aber
nicht redlich - entsprechende Äußerungen haben wir in
den letzten Wochen gehört -, wenn im Vorfeld bestimmte Ergebnisse gezielt herausgegriffen und diese
dann pauschal auf die gesamte Ressortforschung angewandt und übertragen werden. Ich meine damit Äußerungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die anlässlich der Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur
Ressortforschung des Verbraucherschutzministeriums zu
hören waren. Denn wer auch nur die Zusammenfassung
gelesen hat, weiß um die notwendige Differenzierung.
Im allerersten Satz dieser Empfehlungen steht:
Die Forschungsanstalten des BMVEL weisen bezüglich ihrer konkreten Aufgabenprofile sowie ihrer Stellung innerhalb des internationalen/europäischen und deutschen Wissenschaftssystems große
Unterschiede auf.
Vor der Verallgemeinerung einzelner Ergebnisse darf ich
doch sehr warnen.
Mit unserem Antrag stellen wir uns den aktuellen
Erfordernissen, die deutsche Forschungslandschaft,
insbesondere die Ressortforschungseinrichtungen des
Bundes, zu evaluieren, um sie kontinuierlich weiterzuentwickeln. Im Gegensatz dazu wird im Antrag der
Union leider die Doppelfunktion der Ressortforschung ausgeblendet. Stattdessen präsentieren Sie gleich
die von Ihnen zum Teil vielleicht gewünschten Ergebnisse einer Evaluierung in einem Forderungskatalog und
verknüpfen das mit zum Teil - ich habe das im Ausschuss schon gesagt - widersprüchlichen Vorschlägen zu
Strukturveränderungen. Das kann aber nicht Sinn und
Zweck einer Evaluierung sein.
({6})
Wir müssen - darüber besteht sicher Einigkeit in unserem Haus - die deutschen Forschungseinrichtungen
weiter stärken und zukunftsfest machen. Dafür ist eine
Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen der Ressortforschung, verbunden mit dem Aufzeigen von Verbesserungsmöglichkeiten, unabdingbar; das ist völlig
klar. Unser Antrag bietet die Grundlage dafür, eine systematische Evaluierung durchzuführen; denn dem besonderen Charakter der Ressortforschung muss durch
Augenmaß und differenziertes Vorgehen Rechnung getragen werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Helge Braun, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Bevor ich auf die vorliegenden Anträge zu sprechen
komme, möchte ich den Beschäftigten in den
54 Ressortforschungseinrichtungen des Bundes für ihre
Arbeit danken. Mit ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit
ermöglichen sie es, die Hoheitsaufgaben des Staates in
schwierigen Bereichen erfolgreich zu erfüllen, in denen
es zwingend darauf ankommt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die der Staat für sein Handeln benötigt, auf dem neuesten Stand sind.
({0})
Dadurch schützen wir auf hohem Niveau vor allen Dingen die Sicherheit und die Gesundheit der Bürger in
Deutschland.
Für diese Aufgaben wendet der Bund zurzeit jährlich
1,3 Milliarden Euro auf. Das ist ungefähr die gleiche
Größenordnung wie der Haushalt der Max-Planck-Gesellschaft. Seit Ihrer Regierungsübernahme im Jahr 1998
haben Sie 6,4 Milliarden Euro für die Ressortforschung
ausgegeben.
Die wissenschaftliche Arbeit der Ressortforschung
erfolgt jedoch unter anderen Prinzipien als die freie Forschung in Forschungseinrichtungen oder an Universitäten. Deshalb ist die Evaluierung dieser vom Staat betriebenen Forschung so unendlich wichtig. Bezüglich
bereits begutachteter Einrichtungen aus den Bereichen
des Gesundheits- oder des Verbraucherschutzministeriums - das haben Sie eben angesprochen - hat der Wissenschaftsrat aus unserer Sicht wichtige Erkenntnisse erzielt und auch gute Vorschläge gemacht, die in Zukunft
zu einer Verbesserung der Ressortforschung beitragen
können.
In unserem Antrag fordern wir heute die Bundesregierung auf, die Erkenntnisse, die der Wissenschaftsrat
schon erarbeitet hat, umzusetzen und es anzugehen, systematisch alle 54 Bundeseinrichtungen zu evaluieren.
Ziel dieses Prozesses muss es sein, die wissenschaftliche
Leistungsfähigkeit der Ressortforschungseinrichtungen
zu optimieren und sie auf ihre Kernbereiche hoheitlicher
Aufgaben zu konzentrieren.
({1})
Sofern dem Geheimhaltungsansprüche nicht entgegenstehen, sollten viele Projekte an die freie Forschung
übergeben werden,
({2})
damit ein Teil der dafür zur Verfügung stehenden Gelder
im Wettbewerb zwischen den Universitäten und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen nach den gängigen Verfahren der Evaluierung vergeben werden kann.
Im Grunde genommen sollten alle diese Forderungen
eine Selbstverständlichkeit sein. Leider wurden die Anträge von CDU/CSU und FDP hierzu in den letzten beiden Debattenrunden durch die Regierungsfraktionen abgelehnt. Inzwischen liegt jetzt auch ein Antrag der SPD
und der Grünen vor, der zumindest im Kernziel das Gleiche wünscht wie wir.
Statt einer systematischen Evaluierung, die Sie, Frau
Dr. Reimann, eben im Plenum vertreten haben, haben
Sie Ihrem Antrag einige vorsichtige Formulierungen vorangestellt, die aus meiner Sicht nicht dafür sprechen,
dass wir jetzt direkt in eine systematische Evaluierung
eintreten.
Statt einer systematischen Evaluierung fordern Sie
zunächst eine Definition der Ressortforschung. Eine Definition des Begriffs „Ressortforschung“ gibt es aber bereits seit 20 Jahren. Der Begriff „Ressortforschung“
wurde vom Bundesrechnungshof erstmals im Jahr 1984
definiert, danach wurden Leitsätze erarbeitet. Ich darf
diese Definition kurz vortragen:
Ressortforschung
- so der Bundesrechnungshof ist darauf gerichtet, Entscheidungshilfen zur sachgemäßen Erfüllung der Fachaufgabe der Ressorts
zu gewinnen. In diesem Rahmen sind auch Modellversuche Vorhaben der Ressortforschung. … Ressortforschung ist eine aufgabenakzessorische Verwaltungsfunktion.
Das ist die Definition, die Sie fordern.
Die Definition ist ein hervorragender Ausgangspunkt
für die weitere Arbeit der Ressortforschungseinrichtungen. Eine weitere Beurteilung an dieser Stelle ist aus unserer Sicht nicht mehr erforderlich.
({3})
Sie haben gerade den CDU-Antrag an einer Stelle als
in sich widersprüchlich bezeichnet. Ich darf dieses Lob
an Sie zu Ihrem Antrag zurückgeben. Sie haben soeben
selbst gesagt, dass wir bereits einige exemplarische Ressortforschungseinrichtungen des Bundes evaluiert haben. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass nach Vorliegen
der Ergebnisse einer exemplarischen Evaluierung ein
Bericht der Bundesregierung erstellt wird. Aus meiner
Sicht ist der Bericht des Wissenschaftsrates über die
Evaluierung der bestehenden Ressortforschungseinrichtungen - soweit sie sich einer solchen unterzogen
haben - ausreichend. Die darin enthaltenen guten Ergebnisse und klaren Handlungsanweisungen sollten ausreichen, sodass wir jetzt direkt zur systematischen Evaluierung übergehen können.
Auch der Änderungsantrag der FDP beseitigt diese
Mängel nicht, er würde die Widersprüchlichkeit vielmehr noch ein wenig erweitern. Man würde auf diese
Forderung die Forderung einer systematischen Evaluierung draufsatteln. Insofern schlage ich vor, beim Ursprungsantrag der FDP zu bleiben, den wir mittragen
könnten.
Wie wichtig das Thema ist, wurde auch in der Fragestunde in der letzten Woche deutlich, als der Parlamentarische Staatssekretär aus dem Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Dr. Thalheim
feststellte, dass Synergieeffekte in Zukunft im Bereich
der Ressortforschung genutzt werden sollen und dass
deshalb verschiedene Ressortforschungseinrichtungen
im Bereich Lebensmittel zum 1. Januar 2004 zusammengelegt wurden. Auf die Frage aus unserer Fraktion nach
der Kosten-Nutzen-Analyse führte er aus:
Eine gesonderte Kosten-Nutzen-Analyse … wurde
nicht erstellt.
Bei solch elementaren, großen Umwälzungen im Bereich staatlicher Einrichtungen wäre es doch richtig gewesen, eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen.
({4})
Wir fordern Sie deshalb auf: Konzentrieren Sie die
Aufgaben der Ressortforschungseinrichtungen auf die
hoheitlichen Aufgaben. Befreien Sie die Ressortforschungseinrichtungen von Tätigkeiten, die auch von der
freien Forschungslandschaft übernommen werden könnten. Verlangen Sie keine weiteren Definitionen und unterziehen Sie unverzüglich alle Ressortforschungseinrichtungen einer systematischen Evaluierung.
({5})
Das alles ist wichtig, weil die Aufgaben, die die Ressortforschungseinrichtungen in den kommenden Jahren
zu erfüllen haben, immer komplexer werden. Das organisierte Verbrechen und der internationale Terrorismus
machen sich mehr und mehr modernste Technologien
zunutze. Infektionskrankheiten wie SARS oder die Geflügelpest - Sie haben es selbst angesprochen - werden
in kürzester Zeit zur globalen Bedrohung. Bei der Bewältigung all dieser Aufgaben sind die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes ein wichtiger Partner.
Mit ihrer Hilfe können wir die Bevölkerung vor solchen
Bedrohungen schützen. Um den wachsenden Anforderungen auch in Zukunft gerecht zu werden, brauchen wir
die Evaluierung. Deshalb bitte ich Sie alle herzlich um
die Zustimmung zu unserem Antrag.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, jede Institution braucht Evaluation, braucht den
unabhängigen Blick von außen. Eines ist klar: Institutionen neigen zur Selbstbespiegelung. Deswegen brauchen
wir den kritischen Blick von außen. Von daher ist das,
was wir hier heute debattieren, eine Selbstverständlichkeit. Ich kann in der Sache auch keinen Unterschied zwischen uns erkennen.
Trotzdem muss man sich fragen, mit welcher Elle, mit
welchem Maß ich an eine Institution herantrete. Wenn
ich beispielsweise ein gemeinnütziges Unternehmen
evaluieren will, werde ich nicht McKinsey beauftragen,
weil sich ein gemeinnütziges Unternehmen nicht nur
nach Profitinteressen ausrichtet, sondern auch andere
Aufgaben wahrnimmt.
Genauso ist es, wenn ich eine Institution begutachte,
die per definitionem einen Doppelcharakter hat, nämlich
auf der einen Seite Politikberatung, wissenschaftliche
Dienstleistungen, hoheitliche Aufgaben und vor
allen Dingen den Transfer von Wissen aus dem wissenschaftlichen Raum in den politisch-administrativen
Raum sowie auf der anderen Seite Grundlagenforschung
und anwendungsorientierte Forschung. Diesem Doppelcharakter muss ich bei der Frage gerecht werden, welchen Maßstab ich anlege, sonst gehe ich fehl. Das ist
ganz wichtig.
({0})
Nehmen wir einmal diesen ersten Strang, bei dem es
um Politikberatung, wissenschaftliche Dienstleistungen
und hoheitliche Aufgaben geht. Es ist ganz wichtig, dass
wir unabhängige Forscherinnen und Forscher haben.
({1})
Denn eines ist klar: Wir können nicht von Leuten beraten werden, die in hohem Maße beispielsweise von der
Industrieforschung abhängen. Wir brauchen eigenständigen Sachverstand. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind Menschen wie wir alle. Sie stecken in
Zwängen und Abhängigkeiten. Deswegen braucht der
Staat bei solch elementaren Aufgaben eine eigene, unabhängige Beratungskapazität. Das kann man nicht
privatisieren, das ist unmöglich.
Davon ist der Bereich der anwendungsorientierten
Forschung und der Grundlagenforschung zu trennen.
Dieser steht im Wettbewerb mit universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Hier müssen die
gleichen strengen wissenschaftlichen Maßstäbe angelegt
werden. Die Einrichtungen müssen wissenschaftlich auf
der Höhe der Zeit sein.
Deshalb kann man keine saubere Scheidelinie zwischen hoheitlichen Aufgaben hier und wissenschaftlicher Forschung dort ziehen, denn Letzteres ist Voraussetzung des Ersten. Deshalb sind wir der Meinung, dass
es nicht angemessen ist - das schwingt aber bei der
Union ein bisschen mit -, die Ressortforschungseinrichtungen im Prinzip auf die hoheitlichen Aufgaben zu reduzieren. Das wäre ein Kompetenzverlust, den wir so
nicht wollen.
Mir persönlich ist eine Ressortforschungseinrichtung,
die mich rechtzeitig auf bestimmte Gefahren wie BSE,
SARS oder was auch immer - es wurden schon mehrere
Gefahren genannt - hinweist, ehrlich gesagt lieber als
die 999. Veröffentlichung durch die Mitarbeiter in einem
internationalen Journal, das ein Peer-Review-Journal ist.
({2})
Das ist auch wichtig. Aber wichtiger für uns ist Ersteres;
das muss man ganz klar sagen. Dafür brauchen wir unabhängige Forschung.
Jetzt zu den Anträgen. Der FDP-Antrag - das wurde
bereits gesagt - tut so, als hätte es noch gar keine Evaluationen gegeben.
({3})
Frau Flach, Sie wissen, dass das nicht stimmt. Ich will
aber nicht alles vorlesen, was dazu gesagt worden ist. Es
hat schon eine ganze Latte von Evaluationen stattgefunden. Diese betreffen zum Beispiel das Paul-Ehrlich-Institut, das Robert-Koch-Institut, das Bundesinstitut für
gesundheitlichen Verbraucherschutz und im Moment das
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Hier passiert schon einiges. Aber grundsätzlich stimme
ich Ihnen zu, dass alle Institutionen evaluiert werden
müssen. Allerdings muss man sich dabei an der Kapazität des Wissenschaftsrates orientieren. Man kann nicht
so tun, als ob er nichts anderes im Sinn hätte, als alle
zwei Jahre sämtliche Institutionen zu evaluieren.
({4})
Dafür müssen auch die Kapazitäten vorhanden sein.
Dem FDP-Antrag können wir deshalb nicht zustimmen,
weil er den Eindruck erweckt, es würde in diesem Lande
dazu gar nichts passieren.
Der CDU/CSU-Antrag enthält viel Richtiges, gar
keine Frage. Er enthält aber auch Inkonsistenzen. Auf
der einen Seite reden Sie von der Konzentration auf
Kernaufgaben und tun so, als könne man den zweiten
Strang, die wissenschaftliche Grundlagenforschung,
ganz abschneiden. Auf der anderen Seite plädieren Sie
für eine bessere Kooperation zwischen der Ressortforschung und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Das passt nicht zusammen: entweder oder.
Meine Meinung dazu habe ich gesagt.
Zu dem Zeitpunkt ist zu sagen: Wir haben eine erste
exemplarische Evaluation, die wir selber initiiert haben, nämlich vom BMVEL, abgewartet und auf der
Grundlage der Erfahrungen, die wir dort gemacht haben,
und der Empfehlungen des Wissenschaftsrates werden
wir Schritt für Schritt auch die anderen Ressortforschungseinrichtungen evaluieren.
Mein letzter Punkt: Wir haben - das muss man ganz
klar sagen; in diesem Punkt scheint der eigentliche Kritikpunkt der Opposition zu liegen - in bestimmten Bereichen neue Leitorientierungen eingeführt. Wir sind der
Meinung, dass sich auch die Ressortforschungseinrichtungen an den Kriterien nachhaltige Entwicklung, ökologische Forschung, Friedens- und Konfliktforschung sowie ganzheitliche Gesundheitsforschung orientieren
sollten. Diesen Konflikt darüber sollten wir allerdings
nicht auf dem Rücken der Forschungseinrichtungen austragen. Das sind politische Konflikte, die wir hier austragen müssen. Wenn sie dann entschieden sind, sollten sie
durchaus ihren Niederschlag in den Ressortforschungseinrichtungen finden. Den Streit in der Sache sollten wir
also hier führen und nicht auf dem Rücken der Institute.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ressortforschung des Bundes umfasst 54 Einrichtungen mit
rund 12 000 Wissenschaftlern und 9 000 Mitarbeitern.
Damit es ganz klar ist: Wir haben nicht vor, an der Qualität der Arbeit dieser Mitarbeiter zu zweifeln. Hier geht
es vielmehr um eine ganz normale Diskussion über die
Fragen: Wie gehen wir mit wissenschaftlichen Instituten
um? Wie bewerten wir vor dem Hintergrund, dass wir
dies bei anderen Instituten außerhalb des Ressortforschungsbereiches bereits seit vielen Jahren tun, ihre Arbeit?
Lieber Herr Loske, liebe Frau Dr. Reimann, die FDP
hat seit Anfang der 90er-Jahre - das habe ich auch im
Ausschuss schon erwähnt - nicht zuletzt in Gestalt ihres
damaligen Bundesforschungsministers Laermann immer
wieder vergebens eine Evaluierung gefordert, damals
von der CDU, in der letzten Legislaturperiode von SPD
und Grünen. Der Antrag der FDP steht also in einer langen Reihe. Ich bin froh - das will ich an dieser Stelle
deutlich sagen -, dass Sie endlich in unserem Club angekommen sind.
({0})
Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass in
den letzten Jahren zwar einige Evaluierungen angefangen worden sind, wir bei unserer Umfrage in den Ministerien aber trotzdem feststellen mussten, dass es Ministerien gibt, die sich offensichtlich noch nie mit dem
Gedanken der Evaluierung auseinander gesetzt haben.
Frau Wieczorek-Zeul schrieb uns zum Beispiel, dass
eine Evaluierung des entwicklungspolitischen Forschungsprogramms bislang nicht erfolgt und auch nicht
geplant ist. Herr Trittin schrieb, er sehe für weitergehende Evaluierungen im Geschäftsbereich des BMU
keine Veranlassung. Ehrlich gesagt: Damit können wir
nicht zufrieden sein.
({1})
Jetzt haben sich SPD und Grüne endlich zu einer
Überprüfung durchgerungen. Bei der ersten Bewertung
Ihres Antrages neigte die FDP dazu - auch das sage ich
ganz offen -, ihm zuzustimmen, weil der Weg über den
Wissenschaftsrat richtig ist. Aber dann geriet ich im
Ausschuss an Herrn Fell. Damit war unsere Zustimmungsbereitschaft auf dem Nullpunkt.
({2})
Sie haben erklärt, dass Sie die Doppelfunktion der Ressortforschung aufrechterhalten wollen und dass eine
Ausgliederung - egal, wie eine Evaluierung ausgeht für Sie nicht in Frage kommt.
({3})
Diese Aussage toppten Sie noch, indem Sie, was Herr
Loske gerade bestätigt hat, eine Neuausrichtung der Ressortforschungseinrichtungen an gesellschaftliche Anforderungen forderten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der entscheidende
Unterschied zwischen Grünen und FDP ist, dass wir die
Forschung nicht auf das festlegen, was wir gerade für
politisch opportun halten. Ressortforschung muss höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, betriebswirtschaftlich effizient durchgeführt werden und die forschungspolitischen Aufgaben der Ministerien auf hohem
Niveau erfüllen. Aber sie darf nicht zum willfährigen
Handlager politischer Akteure werden.
({4})
Es darf nicht so sein, wie wir es im Augenblick bei der
Grünen Gentechnik erleben: Ressortforschung ist der
Empfänger der Aufträge der Ministerien, nicht aber der
Ergebnisse.
Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Grünen, erwarte ich heute eine deutliche Klarstellung.
Auch erwarte ich, dass Sie sich endlich dazu bekennen,
dass alle Institute ergebnisoffen evaluiert werden. Sollten Sie dies tun, könnten wir bereit sein, Ihren Antrag
mitzutragen. Sollten Sie dies nicht tun, besteht zwischen
der FDP auf der einen Seite und SPD und Grünen auf
der anderen Seite ein Riesengraben. Dann werden wir
bei der Ressortforschungsevaluierung weiterhin einen
getrennten Weg gehen müssen.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Carsten Schneider, SPDFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Flach, wenn es mir gelingen kann, Sie davon zu
überzeugen, dass wir in dieser Frage offen sind, will ich
das gern versuchen.
Sie haben viele Punkte angesprochen, auch die Aktivitäten, die Sie in den vergangenen Jahren an dieser
Stelle unternommen haben. Ich glaube, es war richtig,
dass die Koalition mit ihrem Antrag gewartet hat, bis das
erste Ergebnis zum Geschäftsbereich des BMVEL, das
vom Wissenschaftsrat evaluiert worden war, vorliegt,
um daraus Schlüsse für einen wirklich fundierten Antrag
zu ziehen.
Natürlich sind wir an dieser Stelle ergebnisoffen. Es
wäre fatal, wenn wir Strukturen für immer beibehalten
würden, nur weil es sie gibt. Wenn sich herausstellt, dass
das eine oder andere Institut, das sehr gute Arbeit leistet,
auch von der freien Wissenschaft getragen werden kann,
dann ist es möglich, die bestehenden Strukturen zu ändern. Das war Sinn und Zweck des Antrags, den wir im
Haushaltsausschuss im November letzten Jahres zum
Haushalt 2004 gestellt haben. Wir wollen hier nämlich
nicht nur eine Evaluierung aller Institute. Wenn Sie den
Antrag genau lesen, werden Sie feststellen: Darin steht
„aufgabenkritische Überprüfung“. Ich möchte ganz klar in
Richtung des BMBF sagen: Ich erwarte, dass der Antrag
des Haushaltsausschusses - einstimmig beschlossen! -,
eine aufgabenkritische Überprüfung vorzunehmen, nämlich zu untersuchen, ob das System, wie es bisher besteht, wirklich wettbewerbsfähig und sinnvoll ist, vom
Wissenschaftsrat umgesetzt wird, und zwar noch im
Mai. Wir wollen das nicht verzögern und erwarten möglichst zügig Ergebnisse.
Ich kann mich nicht damit einverstanden erklären, erst
jede Ressortforschungseinrichtung - Frau Flach, Sie haben die Zahlen genannt und gesagt, wie viele es gibt - zu
evaluieren und dann, wenn das in drei oder vier Jahren
abgeschlossen ist, daraus Rückschlüsse zu ziehen. Das
können wir nicht machen, sondern wir müssen - das ist
Sinn und Zweck unseres Antrags; deswegen differiert er
von dem der FDP - aufgrund der dann vorliegenden exemplarischen Ergebnisse, die, wenn man den Verteidigungsbereich eventuell herausnimmt, einsehbar und
auch vergleichbar sind, Änderungen vorschlagen.
Wenn man sich die Evaluierung im BMVEL anschaut, sieht man, dass bei der Analyse zum Beispiel herausgekommen ist, dass die Forschung der Ressortforschungseinrichtungen in manchem nicht mit dem Rest
des Wissenschaftssystems vernetzt ist, dass manche Forschungsaufträge unter Ausschluss von Wettbewerb innerhalb der Einrichtungen vergeben werden und - das
zum Thema Flexibilität - dass über 98 Prozent der Beschäftigten unbefristete Verträge haben. Ich gönne das
jedem, aber wenn man diese Situation mit der im normalen Wissenschaftssystem vergleicht, muss man feststellen, dass das nicht dazu beiträgt, die Innovationsfähigkeit in solchen Einrichtungen zu erhöhen. Darum geht es
ja auch.
Ich glaube außerdem, dass es wichtig ist, die Kooperation mit den Hochschulen, die nur in sehr geringfügigem Maße stattfindet, zu verbessern.
Ich habe nichts gegen Publikationen, auch in internationalen Zeitschriften. Diese Veröffentlichungen können
dazu führen, dass das Renommee der Ressortforschungseinrichtungen gestärkt wird, weil sie zeigen,
dass gute wissenschaftliche Arbeit geleistet wird.
Schließlich ist es wichtig, dass junge Leute eine Chance
bekommen, in diesen Einrichtungen Fuß zu fassen.
All dies erscheint mir nach dem derzeitigen Stand nicht
immer hundertprozentig gegeben zu sein. Ich teile Ihren
Dank an die Mitarbeiter, nichtsdestotrotz muss man Strukturen überprüfen. Diesen Zweck verfolgt unser gemeinsamer Antrag, und ich hoffe, dass der Wissenschaftsrat uns
möglichst zügig, zumindest was die aufgabenkritische
Überprüfung betrifft - dafür haben wir ihm zusätzliche
Stellen in diesem Jahr zur Verfügung gestellt -, Ergebnisse liefern kann.
Ich persönlich würde sehr gern bereits in die Haushaltsberatungen 2005, die im September beginnen werden, entsprechende Ergebnisse einfließen lassen. Wie
könnte das aussehen? Auch da sind die Empfehlungen
des Wissenschaftsrates meines Erachtens zielführend,
zum Beispiel 15 Prozent des Budgets der institutionellen
Haushalte statt wie bisher über einen Fonds frei zu vergeben. Es geht dabei also nicht darum, den Ressorts
Geld wegzunehmen - wir wollen Bildung, Wissenschaft,
Forschung und Entwicklung stärken, auch finanziell, nicht
nur in den Strukturen, aber auch in den Strukturen -, sondern die Mittel effizienter einzusetzen. Wenn man die
Mittel effizienter einsetzt, kann man letztendlich auch
besser begründen, dass man mehr Mittel verlangt.
Ich halte unseren Antrag insgesamt für zielführend
und hoffe, Frau Flach, dass Sie dem nach den Ausführungen, die ich gemacht habe - dass wir wirklich offen
sind -, zustimmen können. Wir lehnen den Antrag, den
Sie gestellt haben, was die gesamte Evaluierung betrifft,
ab; denn dann würden wir in den nächsten Jahren noch
nicht zu Ergebnissen kommen.
({0})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Angesichts der dramatischen Haushaltslage und der Verantwortung, die wir gegenüber den Steuerzahlern haben, müssen wir zügiger
arbeiten und schneller zu Ergebnissen kommen. Aus diesem Grunde würde ich mich freuen, wenn Sie unserem
Antrag zustimmen könnten. Ich hoffe, dass das Haus
meinen Hinweisen, was die Beauftragung des Wissenschaftsrates betrifft, entspricht.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Helmut Heiderich für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes stellen besondere Einrichtungen dar, da sie zum einen administrative und hoheitliche Aufgaben ausüben und zum anderen Forschung
betreiben. Die Zuordnung von zwei Aufgabenbereichen
kann, wie ich denke, durchaus ein Vorteil für diese Einrichtungen sein, weil sie so nicht nur den Bezug zur täglichen Praxis und zur Anwendung haben, sondern auch
weiterführende wissenschaftliche Projekte umsetzen können. Diese Struktur wird aber dann zum Nachteil - ich erinnere an die Formulierung „neue Leitorientierung“ von
Herrn Loske -, wenn die Weisungsbefugnis aus dem hoheitlichen Aufgabenbereich zu einer Gängelung oder gar
zu einer Beschneidung der Forschung genutzt wird.
({0})
Als abschreckendes Beispiel dafür, wie Ressortforschung nicht betrieben werden darf, möchte ich kurz einen Eingriff von Ministerin Künast in die praktische
Durchführung von Forschungsprojekten darstellen, der
vor einiger Zeit stattgefunden hat. Frau Künast hat sich
nicht gescheut, in ein Forschungsprojekt der Bundesanstalt für Züchtungsforschung in Dresden persönlich
einzugreifen. Sie hat einem Forscher verboten, ein Projekt, das schon seit Jahren erfolgreich gelaufen ist und
zum weiteren Erkenntnisgewinn beitragen sollte, fortzuführen. So darf Ressortforschung in diesen Einrichtungen nicht stattfinden. So etwas können wir nicht unterstützen.
({1})
Dieses Projekt sollte die Ergebnisse von Langzeitforschungen über die Freisetzung von transgenen Pflanzen
überprüfen und ein entsprechendes Umweltmonitoring
fortsetzen. Dies war kein beliebiges Projekt, sondern
stand an der Spitze der internationalen Forschung in diesem Bereich. Wir fordern von unseren Forschungseinrichtungen immer wieder, dass sie auf internationaler
Ebene mitspielen sollen. Nachdem Frau Künast dieses
Vorhaben in Deutschland verboten hatte, gab es vier Wochen später eine Veröffentlichung der „National Academy of Science“ der USA - das ist sicherlich kein unbekanntes Gremium -, in der als ein großer Erfolg, als
Durchbruch im Bereich der Virenforschung gefeiert
wurde, dass auch in Italien und in der Schweiz die gleichen Ergebnisse erzielt worden sind. Frau Künast hat die
Forschung dazu bei uns auf Eis gelegt. Ich glaube, so
kommen wir nicht voran, wenn Minister den Forschern
vorschreiben, welche Versuche sie durchführen dürfen
und welche sie unterlassen sollen. Wie soll unter solchen
Bedingungen eine vernünftige Ressortforschung stattfinden? Wie sollen Forscher Politikberatung betreiben,
wenn ihnen die Politiker vorher sagen, was sie zu tun haben?
({2})
Lassen Sie mich in der Kürze der Redezeit einen weiteren Punkt aufgreifen. Es ist absolut wichtig, dass wir
auch in den Ressortforschungseinrichtungen die nationale und die internationale Vernetzung aufrechterhalten
und die Leistungsstärke bei unseren Forschungen beibehalten. Ich sage das deswegen, weil gerade diese Gremien Genehmigungsverfahren, Zulassungsverfahren und
Regulierungen auf nationaler und internationaler Ebene
durchführen. Es ist wichtig, dass deutsche Forscher in
den Regulierungsbehörden auf internationaler Ebene,
den International Bodies, wie sie heißen, sei es bei der
UN, sei es bei der FAO, mit dabei sind.
Sie können aber nur mitwirken, wenn sie international
anerkannt sind. International anerkannt werden sie nur
dann, wenn ihre Forschungen international Beachtung
finden. Vorhin ist gesagt worden, dass sie auch in international renommierten Zeitungen veröffentlichen müssen. Solche Veröffentlichungen gehören mit zur Ressortforschung. Deswegen müssen wir den Anstalten die
Möglichkeit geben, in Zusammenarbeit mit den Universitäten und mit anderen international tätigen Forschern
aktiv und erfolgreich zu arbeiten.
({3})
Sie dürfen nicht durch Minister gegängelt werden.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Evaluierung des BMVEL, die stattgefunden hat, hat seitens
des Wissenschaftsrates zu deutlichen Ergebnissen geführt. Der Wissenschaftsrat warnt eindeutig davor, die
Forschung nach ideologischen Kriterien auszurichten.
Das kann ich von unserer Seite aus nur unterstreichen.
({5})
Ich habe es eben schon gesagt: Wir dürfen die Forschung
in den Ressorteinrichtungen nicht von der Forschung in
anderen Bereichen abkoppeln.
Ich komme zum Schluss: Die Qualität der Forschung
in diesen Einrichtungen ist die Voraussetzung für die
Qualität der Politikberatung, die diese leisten sollen.
Deswegen müssen wir sie an dieser Stelle unterstützen
und fördern.
Schönen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/3068.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
FDP-Fraktion auf Drucksache 15/222 mit dem Titel
„Ressortforschungseinrichtungen des Bundes regelmäßig im Hinblick auf internationale Qualitätsanforderungen an das deutsche Forschungssystem evaluieren“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der CDU/CSUFraktion auf Drucksache 15/1981 mit dem Titel „Ressortforschung des Bundes effizienter gestalten und evaluieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3068 die
Annahme des Antrages der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2665 mit
dem Titel „Qualitätssicherung des deutschen Forschungssystems“. Zu diesem Antrag liegt ein Änderungsantrag der FDP vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 15/3087? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Damit kommen wir zur Abstimmung über Nr. 3 der
Beschlussempfehlung, in der die Annahme des Antrages
der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 15/2665 vorgeschlagen wird. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der
Stimme enthalten? - Diese Beschlussempfehlung ist
mehrheitlich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({1}), Dr. Peter Paziorek,
Bernhard Schulte-Drüggelte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Multitalent nachwachsender Rohstoff effizient
fördern
- Drucksachen 15/1788, 15/2366 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({2})
Cornelia Behm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Reinhold Hemker für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lieber Albert Deß, lieber Bernhard Schulte-Drüggelte,
es ist oft so: Auch dann, wenn ein gut gemeinter Antrag
auf den Weg gebracht wird, sind zumindest die im Antrag festgeschriebenen Fakten aufgrund der parlamentarischen und der gesamten politischen Entwicklungen irgendwann überholt.
Nichtsdestotrotz freue ich mich heute immer noch genauso über den Antrag wie damals, als er gestellt worden
ist, weil in ihm wichtige Punkte benannt werden, die wir
seit 1998, seit dem Jahr der Regierungsübernahme durch
Grün-Rot oder Rot-Grün - je nach Sichtweise der Koalitionspartner -, auf den Weg gebracht haben. Seit 1998
befinden wir uns im Grunde genommen in einer Phase,
in der viele Vorstellungen, die Fachinstitute des Ökologie- und Nachhaltigkeitsbereichs seit vielen Jahren entwickelt haben, abgearbeitet werden. Lieber Albert Deß,
um es deutlicher zu sagen: Wir befinden uns in einer
Phase, in der wir das umsetzen, was auf der Rio-Konferenz im Jahre 1992 vorgeschlagen wurde.
Wenn Sie sich anschauen, was jetzt mit der EEGNovelle für die Zukunft wieder neu auf den Weg gebracht worden ist und zu was das Vorgängergesetz bereits geführt hat, dann wissen Sie, dass die Förderung der
erneuerbaren Energien - auch mit dem Schwerpunkt
Biomasse - insgesamt ein gehöriges Stück weitergekommen ist. Das geht auch noch weiter.
({0})
Ich sage an dieser Stelle: Ich freue mich sehr, dass es
aufgrund der Initiative von Kollegen aus ländlichen Räumen gelungen ist, fraktionsübergreifend festzuhalten: Wir
müssen die Privilegierungstatbestände in § 35 des Europarechtsanpassungsgesetzes - dieser scheußliche Begriff
steht auch in Ihrem Antrag; das lässt sich nicht vermeiden,
wir müssen schließlich korrekt sein - ausweiten. Die
Bandbreite von Möglichkeiten, den Einsatz von Biomasse
weiterzubringen, ist in der Tat groß.
In der nächsten Woche - ich nehme an, dass einige
Kolleginnen und Kollegen anwesend und die Fachleute
des Umweltministeriums vertreten sind - tagt hier in
Berlin eine Konferenz, bei der wir uns über die Ergebnisse verschiedener Forschungsinstitute zur Stoffstromanalyse der nachhaltigen energetischen Nutzung von
Biomasse informieren lassen. Ich habe mir zur Vorbereitung auf die heutige Debatte ein paar Unterlagen zu Themen kommen lassen, die in der nächsten Woche behandelt werden, und ein bisschen in die Fachliteratur
geschaut. Dabei ist mir aufgefallen, dass wir ab dem
Zeitpunkt, zu dem ihr euren Antrag eingebracht habt, ein
erhebliches Stück vorangekommen sind. Darüber freue
ich mich. Worüber ich mich nicht freue - das darf ich als
Angehöriger der größeren Regierungsfraktion sagen -,
ist, dass so getan wird, als ob wir noch immer zu wenig
tun. Es ist im Bereich der energetischen Nutzung noch
nie so viel wie seit 1998 getan worden. Das wird insgesamt akzeptiert.
({1})
Ich weiß zwar noch nicht, was gleich die Kollegin
von der FDP sagen wird, aber gestatten Sie mir einen
kleinen Schlenker. Ich war zweieinhalb Jahre Mitglied in
der Enquete-Kommission „Herausforderungen der Globalisierung“. Dabei wurde auch der große Aufgabenbereich der Ressourcen behandelt. Was haben sich einige
dabei aufgeregt. Ich nenne nur einen Namen: Hartmut
Schauerte von der CDU/CSU-Fraktion. Er hat immer davor gewarnt, in diesem Bereich Subventionen zu gewähren; denn das würden schon der Markt, die Nachfrage
und die Interessenlage der potenziellen Energiewirte, der
Investoren regeln. Das ist aber nicht so. Die Erfolgsstory
zeigt, dass wir hier einen erheblichen Schritt weitergekommen sind.
({2})
- Doch, ich nehme ihn immer ernst. Er ist übrigens ein
früherer Kollege aus meiner Landtagszeit, wo er auch
schon die entsprechenden Sprüche geklopft hat. Die Verbraucher müssten das dann über entsprechend höhere
Energiepreise zahlen. Das ist der Punkt, Kollege Dreßen.
Wir haben hier Fortschritte gemacht. Da ich im internationalen Bereich tätig bin, möchte ich von den positiven Ergebnissen weiter lernen und diese weltweit weitergeben. Ich freue mich auf die weitere Debatte.
({3})
Diese weitere Debatte wird nun vom Kollegen
Bernhard Schulte-Drüggelte für die CDU/CSU-Fraktion
fortgesetzt.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, Herr Hemker, dass Sie sich über CDU/
CSU-Anträge freuen.
Ich möchte nicht sofort auf die Geschichte eingehen,
sondern einen aktuellen Punkt ansprechen. In diesen Tagen wird in den Medien über die Endlichkeit von Energie
diskutiert. Die Vorräte an fossilen Energieträgern wie Öl
und Gas gehen vermutlich früher zu Ende als bisher angenommen. Es wird auch darüber berichtet, dass Benzin
so teuer wie noch nie ist. Der Liter kostet im Augenblick
1,20 Euro. Vielleicht sind das die Ziele - dabei schaue ich
die Grünen an - von Bündnis 90/Die Grünen. Ich weiß
nicht, ob Sie das vergessen haben: Die ursprüngliche
Zielsetzung der Grünen für den Liter Sprit lag bei etwa
2,55 Euro, also - daran darf ich Sie erinnern - 5 DM.
({0})
Es mag sein, dass Sie nun zufrieden sind. Aber ich kann
Ihnen versichern, dass viele Menschen in Deutschland
wie die Pendler, die auf das Auto angewiesen sind, mit
dieser Entwicklung nicht zufrieden sind.
({1})
- Warten Sie doch einmal ab! Ich komme gleich zu dem
Thema erneuerbare Energien. Sparen Sie sich Ihre eigene Energie.
Wie lange die weltweiten Rohstoffreserven noch vorhalten, ist unsicher. Prognosen hierzu sind zurückgenommen worden. Sie erinnern sich an die Prognosen in
der Shell-Studie. Eines ist allerdings sicher: dass fossile
Brennstoffe endlich sind.
({2})
Der Einsatz zur Erforschung regenerativer Energien - da
bin ich mit Ihnen, Herr Hemker, völlig einig - wird eine
immer größere Bedeutung bekommen. Bioenergie wird
immer wichtiger werden. Ich möchte eines deutlich sagen: Alle Pflanzen sind nachwachsende Rohstoffe.
Diese nachwachsenden Rohstoffe haben wir als Multitalent bezeichnet, weil aus diesen Pflanzen Bioenergie,
Strom, Wärme, Kraftstoffe wie Bioethanol und Biodiesel und in zunehmendem Maße abbaubare Biowerkstoffe
gemacht werden können. Es ist auch klar, dass nachwachsende Rohstoffe eine große Rolle beim Klimaschutz und beim globalen Umweltschutz spielen.
({3})
- Habe ich das gesagt?
({4})
Ich habe gesagt, dass ich pro Bioenergie spreche, für dieses Multitalent, das nebenbei noch Arbeitsplätze schafft.
Auch wenn es so zu sein scheint, dass sich die rotgrüne Bundesregierung unseren Antrag zu Herzen genommen hat, möchte ich sagen, was fehlt. Das ist ein
Gesamtkonzept. Sie haben richtigerweise von der Mineralölsteuerbegünstigung und Privilegierung gesprochen. Das ist alles positiv. Notwendig sind aber langfristig angelegte Zielvorstellungen, eine Systemlösung.
Weiterhin ist es notwendig, die Verwertungskonzepte der
nachwachsenden Rohstoffe zu koordinieren. Schließlich
ist es notwendig, eine langfristig angelegte Forschung zu
gewährleisten. Nur auf diese Weise können Hemmnisse,
die jetzt im Bereich der Investitionen bestehen, aus dem
Weg geräumt werden.
Dass dem so ist, zeigt uns auch die Landwirtschaft.
Der Landwirt wird zum Rohstofflieferanten für die Industrie und für die Energieversorger. Er findet unter den
veränderten Rahmenbedingungen ein neues Betätigungsfeld mit neuen Einkommensperspektiven.
({5})
Der Landwirt wird auch Lieferant für Non-Food-Produkte. Aber man sieht, dass trotz dieser veränderten
Rahmenbedingungen immer noch Zurückhaltung besteht. Ein Grund für die Zurückhaltung ist die verunsichernde rot-grüne Agrarpolitik.
({6})
Denn nur wirtschaftliche Betriebe können und werden
investieren. Aber es ist ganz klar: Es fehlt in der Regierung eine inhaltliche Koordinierung von Agrar-, Energie-, Steuer-, Naturschutz- und Forschungspolitik auf
europäischer, bundespolitischer und landespolitischer
Ebene.
({7})
Ich möchte auch auf die Nachteile eingehen, die mein
Vorredner schon genannt hat, als er meinen Kollegen
Schauerte angesprochen hat. Ein Nachteil ist, dass die
nachwachsenden Rohstoffe zum Teil zu teuer sind. Aber
wenn sie bestehen wollen, dann müssen sie langfristig
konkurrenzfähig werden. Um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen, müssen auch die
technologischen Vorteile eingesetzt werden, die die Wissenschaft heute bringt. Das heißt für mich, dass in Zukunft auch die Grüne Gentechnik einen höheren Stellenwert haben muss.
({8})
- Gerade bei nachwachsenden Rohstoffen.
Eine faire Marktöffnung für Bioenergie wird in Zukunft die zentrale Rolle in der Energiediskussion spielen. Deshalb ist es überhaupt nicht zu verstehen, dass die
Mittel für die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe
- ich weiß nicht, ob die Ihnen ein Begriff ist - um
30 Prozent gekürzt worden sind.
({9})
Die ist 1993 von der unionsgeführten Regierung gegründet worden.
({10})
Gerade in dem wichtigen zukunftsorientierten Bereich
Forschung und Entwicklung ist gespart worden. Ich will
deutlich sagen: Das ist Sparen an der falschen Stelle.
({11})
Ich will einmal sagen, an welcher Stelle man sparen
kann. Ich habe heute in der „Welt“ einen Artikel mit der
Überschrift „Bundesrechnungshof rügt Trittin und
Künast“ gelesen.
Herr Kollege, den werden Sie jetzt nicht verlesen
können, weil dafür die Redezeit nicht mehr reicht.
({0})
Alles klar.
Ich bitte, das nachzulesen. In dem Artikel ging es um
die völlig überflüssige Reise nach Brasilien und um das
dafür verbrauchte Flugbenzin. Das wäre die richtige
Stelle für Einsparungen gewesen.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die CDU/CSU hat erkannt, dass durch die
Nutzung einheimischer nachwachsender Rohstoffe
Wertschöpfung im Land gehalten werden kann, und
zwar nicht nur Wertschöpfung für die Landwirtschaft,
sondern auch für Industrie und Forschung.
({0})
Das ist richtig; auch wir sehen das so.
Wertschöpfung im ländlichen Raum ist notwendig.
Denn allein der Produktivitätsfortschritt macht jedes
Jahr 100 000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche in
Deutschland für die Erzeugung von Nahrungsmitteln
überflüssig. Dieses Kulturland kann und muss genutzt
werden.
Die CDU/CSU legt in ihrem Antrag dar, dass mit dem
Einsatz nachwachsender Rohstoffe als Grundstoff für
die Industrie und zur Energieerzeugung sowohl Klimaschutz- als auch Ressourcenschutzziele erreicht werden
können. Auch das ist richtig; das sehen wir genauso.
Die in dem Antrag formulierte Schlussfolgerung ist,
dass den nachwachsenden Rohstoffen mehr Bedeutung
beigemessen werden muss.
({1})
Auch diese Auffassung teilen wir. Doch dazu bedarf es
nicht Ihres Antrages. Ich frage mich ernsthaft, ob Sie,
meine lieben Kollegen von der CDU/CSU, die Sie mit
uns gemeinsam um die Regelungen zur Förderung der
Bioenergiegewinnung im EEG gerungen haben, nicht
gemerkt haben, dass die von Ihnen eingeforderte Politik
bereits mit dem Regierungswechsel 1998 begonnen hat.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion, Ihre Ideen, wie bessere Rahmenbedingungen
für die nachwachsenden Rohstoffe geschaffen werden
können, nehmen sich doch etwas ärmlich aus. Sie fordern mehr Geld und neue Strukturen und schlagen Instrumente vor, die geeignet sind, die Akzeptanz, die die
Biomassenutzung zurzeit noch besitzt, in Windeseile zu
verspielen.
Ich nenne einige Beispiele. Glauben Sie, dass die Gesellschaft allgemein verbindliche und in einem mühevollen Abwägungsprozess vereinbarte Standards zugunsten
von Anlagenbetreibern aufgeben will? Aus dem verbreiteten Widerstand gegen die Altholzverbrennungsanlagen
müssen wir doch die Lehre ziehen, dass wir es uns auch
bei den erneuerbaren Energien nicht erlauben können,
auf den Emissionsschutz zu verzichten. Die Menschen
wollen saubere Luft und das ist auch gut so.
Zudem ist Ihr Antrag veraltet. Mittlerweile liegt eine
Entscheidung zur Verwendung von Holzaschen vor. Die
Düngemittelverordnung wird damit den aktuellen Anforderungen, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben,
gerecht.
Über die Privilegierung von Bioenergieanlagen im
Baurecht haben wir in der vergangenen Woche im Rahmen der Baurechtsnovelle gemeinsam entschieden. Ich
meine, wir können hinsichtlich der Bioenergie durchaus
zufrieden sein, dass wir die Ausweitung auf sämtliche
Bioenergieanlagen sowie auf Biomasse auch aus Gartenbaubetrieben erreichen konnten.
({3})
Erdöl, Erdgas und Kohle sind billig, weil sich die
Kosten für die Gewinnung und den Transport nur unzureichend im Preis niederschlagen. Diese externen Kosten
werden über Steuern und Abgaben auf die Gesellschaft
umgelegt. Sie verlieren aber kein Wort darüber, dass gerade deswegen nachwachsende Rohstoffe gegenüber
den viel zu billigen fossilen Rohstoffen in vielen Marktsegmenten nicht konkurrenzfähig sind.
({4})
- Gerade deswegen, Herr Deß. - Wenn Sie das nämlich
eingestehen würden, dann müssten Sie konsequenterweise Ihren widersinnigen Widerstand gegen jeden
Schritt der ökologischen Steuerreform aufgeben. Wenn
Sie etwa Holz, Stroh oder anderen Biomassen im Wärmemarkt zum Durchbruch verhelfen wollen, dann stellt
die Erhöhung der Mineralölsteuer auf Heizöl das einfachste und effektivste Förderinstrument dar. Dadurch
könnten zukünftig viele Fördermillionen eingespart werden.
SPD und Grüne haben seit ihrer Regierungsübernahme Stück für Stück die Rahmenbedingungen für eine
verstärkte und effiziente Nutzung von nachwachsenden
Rohstoffen geschaffen. Wir haben mit der Förderung des
Anbaus von nachwachsenden Rohstoffen nicht nur Perspektiven für die Landwirte, sondern auch im Bereich
der stofflichen und der energetischen Nutzung dieser
Rohstoffe eine Vielzahl von Arbeitsplätzen vor allem in
der Forschung und in der Technologieentwicklung geschaffen. Mit dieser Technologieentwicklung hat sich
ein neuer Exportmarkt für Deutschland erschlossen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
hören das nicht gerne, aber wir haben mit der Wende in
der Energiepolitik, der Verkehrswende und der Agrarwende den Weg beschritten, der weg vom Erdöl hin zu
einer effizienteren Nutzung unserer natürlichen, nachwachsenden Ressourcen führt.
({5})
Um auf diesem Weg weiterzugehen, bedarf es Ihres Antrages nicht.
Alles in allem ist Ihr Antrag eine Enttäuschung. Hier
hätte man wirklich gemeinsam an konstruktiven Lösungen arbeiten können. Aber so bleibt Rot-Grün nur übrig,
sich weiter allein Gedanken über konkrete Förderinstrumente zu machen und sie dann leider ohne bzw. - besser
gesagt - gegen Sie im Bundestag und im Bundesrat
durchzusetzen, genauso wie wir das beim EEG erlebt haben. Dabei sind Sie sich nicht zu schade, sich mit den
Erfolgen des Biogasausbaus zu schmücken, gegen den
Sie am 2. April dieses Jahres gestimmt haben - so wie
Herr Stoiber, der dem chinesischen Ministerpräsidenten
Wen stolz bayerische Biogasanlagen als Erfolgsmodell
präsentiert hat.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
In einer Woche werden wir dann erleben, wie Herr
Stoiber im Bundesrat gegen die Förderung von Biogasanlagen durch das EEG stimmen wird.
({0})
Das nenne ich verlogen, meine Damen und Herren von
der Union.
Fazit: Man darf die CDU/CSU an allem messen, nur
nicht an ihren eigenen Zielen. Das gilt auch für den Ausbau der nachwachsenden Rohstoffe.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Zeit blühender Rapsfelder ist das
Thema „Förderung nachwachsender Rohstoffe“ zu
Recht auf die Tagesordnung gesetzt worden. Aus Raps
lässt sich in Deutschland ein wichtiger nachwachsender
Rohstoff produzieren. Bei blauem Himmel leuchtet die
Landschaft, wenn der Raps blüht, außerdem blau-gelb.
Und das ist auch gut so.
({0})
Aber nicht nur im Mai gehört das Thema „nachwachsende Rohstoffe“ zu den Kernstücken einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschaft. Die Forderung nach
nachhaltiger Entwicklung - Kollege Hemker hat darauf
bereits hingewiesen - ist die Botschaft der Konferenz
von Rio aus dem Jahre 1992. Nachhaltigkeit in der
Forstwirtschaft ist sehr anschaulich und unmittelbar einleuchtend. Dieses Prinzip auf weitere Bereiche der Wirtschaft zu übertragen stellt aber höhere Anforderungen.
Die Konferenz von Rio hat sehr bewusst nicht nur auf
die Ökologie gesetzt, sondern auch die sozialen Bedingungen einbezogen. In Deutschland lebt mehr als die
Hälfte der Menschen in ländlichen und halbstädtischen
Räumen. Für den Erhalt der Existenzfähigkeit der ländlichen Räume ist die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten notwendig. Eine Möglichkeit, die Wertschöpfung im
Lande zu halten, ist beispielsweise die Produktion nachwachsender Rohstoffe für die energetische Verwertung.
Auf die derzeitigen Schwierigkeiten bei der Preisgestaltung ist schon hingewiesen worden.
In dem Weißbuch der EU-Kommission „Die Europäische Verkehrspolitik bis 2010“ wird gefordert, die hohen
CO2-Emissionen insbesondere des Straßengüterverkehrs durch Einsatz alternativer Biokraftstoffe zu verringern. Dies ist auch zur Einhaltung des Kioto-Protokolls
notwendig. Deshalb sollen bis Ende 2005 2 Prozent aller Kraftstoffe für den Verkehrssektor Biokraftstoffe enthalten und der Gehalt soll bis Ende 2010 auf
5,75 Prozent steigen. Die von uns beschlossene - steuerfreie - Beimischung von Biodiesel von bis zu 5 Prozent
ist eine richtige Weichenstellung, die das Erreichen dieses Ziels unterstützt.
({1})
Bei der Stromproduktion ist für die Einhaltung des
Kioto-Protokolls eine weitere Minderung der CO2-Emissionen erforderlich. Die Maßzahl, die den Vergleich sowohl verschiedener Energieträger als auch in der EU ermöglicht, ist die Menge an CO2-Äquivalenten, die zur
Produktion einer Kilowattstunde Strom erforderlich ist.
Das Umweltbundesamt hat dies berechnet und stellt
Deutschland und damit der seit fast sechs Jahren regierenden Bundesregierung ein überaus schlechtes Zeugnis
aus. Mit 667 Gramm CO2-Äquivalent nimmt Deutschland im EU-weiten Vergleich den viertletzten Platz ein.
Der EU-Durchschnitt sind 429 Gramm CO2-Äquivalent.
In Frankreich sind es gerade einmal 100 Gramm CO2Äquivalent. Liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, ich frage mich, wie Sie angesichts dieser Daten
davon sprechen können, dass Sie mit Ihrer Energiepolitik, mit Ihrer Klimaschutzpolitik irgendeinen Erfolg gehabt haben. Das ist erkennbar nicht der Fall.
({2})
In diesen Daten spiegelt sich die verfehlte Energiepolitik der Bundesregierung wider. Sie setzen einseitig auf
Wind und Sonne und Sie vernachlässigen die Potenziale,
die in der energetischen Nutzung von Biomasse liegen.
({3})
- Das ist nicht unglaublich. Sie haben eine Fehlsteuerung. Schauen Sie sich bitte die Zahlen des Umweltbundesamtes an, das von Ihnen geführt wird. Das Umweltbundesamt hat diese Zahlen veröffentlicht und Sie
nehmen sie nicht zur Kenntnis.
Sie müssen schlicht feststellen, dass Ihr Beschluss
zum Ausstieg aus der energetischen Nutzung der Kernkraft einen weiteren Anstieg der CO2-Emissionen hervorrufen wird. Sie müssen auch feststellen, dass der
Deutsche Umweltrat der Klimaschutzpolitik der Bundesregierung ebenfalls schlechte Noten gibt.
({4})
Ein kleiner Lichtblick ist die beschlossene Änderung
des Baugesetzbuches, durch die eine Privilegierung von
Biogasanlagen herbeigeführt wird. Das geht in die richtige Richtung. Aber die Begrenzung auf 0,5 Megawatt je
Anlage ist schlicht zu wenig, weil dadurch die Potenziale größerer Anlagen nicht ausgeschöpft werden.
Weitere - ({5})
Frau Kollegin, weitere Hinweise lassen sich kaum
noch vortragen, weil Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist.
Ich komme zum Schluss.
Wir sind der Meinung, dass die Anregungen im CDU/
CSU-Antrag richtig sind. Deswegen unterstützen wir
diesen Antrag.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Uhrzeit
- man kann sie am Rednerpult sehen - relativ deutlich
zu erkennen gibt, wann die vereinbarte Redezeit ausgeschöpft ist. Wenn sich ein Präsident mit Lichtzeichen
meldet, dann ist das in der Regel ein Indiz dafür, dass die
Redezeit relativ deutlich überschritten ist. Es gibt dann
irgendwo einen Punkt, wo die Akustik zur Verstärkung
der Lichtsignale unvermeidlich wird. Es wäre schön,
wenn wir dieses Problem wechselseitig in Grenzen halten könnten.
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Waltraud Wolff,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das, was Herr Schulte-Drüggelte vorhin abgeliefert hat, war ein peinliches Beispiel für die Widersprüchlichkeit der CDU/CSU-Politik im Bereich nachwachsender Rohstoffe.
({0})
Das werde ich im Laufe meiner Rede ganz deutlich machen.
Sie haben die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe
angesprochen. Sie hätten auch das Fraunhofer-Institut,
das Institut für Energetik und Umwelt in Leipzig oder
das Institut für Energie- und Umweltforschung nehmen
können. Ich könnte hier noch fünf weitere Einrichtungen
aufzählen, die in der nächsten Woche den Zusammenhang zwischen Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Abfallwirtschaft und Energiewirtschaft aufzeigen werden. Sie
werden sehen, dass unsere Politik genau richtig ist, weil
sie in die richtige Richtung zielt.
({1})
Ehrlich gesagt, ich frage mich, wieso der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion hier überhaupt vorgelegt worden ist.
Sie beschreiben zwar die Vorteile der nachwachsenden
Rohstoffe als regenerative Energien; aber ich sehe nicht,
dass Sie, die Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU,
daraus die richtigen Konsequenzen für Ihr politisches
Handeln ziehen.
Warum sage ich das? Ich sage das, weil Sie hier Ihren
Antrag vorlegen, nachdem Sie den Meilenstein in der
Biomasseförderung abgelehnt haben. Wir haben im letzten Monat - meine Kollegin Behm hat darauf bereits
hingewiesen - das EEG beschlossen. Wir werden die
Bedingungen zur Förderung der Biomasseverstromung
enorm verbessern. Auch ich persönlich habe mich dafür
vehement eingesetzt. Wir alle wissen, das Ergebnis kann
sich sehen lassen. Auch die Fachverbände haben das Gesetz sehr begrüßt. Beispielsweise bezeugt der Bundesverband Biogene Kraftstoffe der Bundesregierung, dass
das EEG den Durchbruch für die Biomasse bedeutet.
({2})
Sie haben zum EEG Nein gesagt, obwohl unsere Ziele
auch aus Ihren Reihen unterstützt wurden. Das ist eine
bittere und traurige Tatsache. Ihr Vorgehen ist inhaltlich
einfach nicht nachvollziehbar. Ich kann hier nur feststellen: Das ist parteipolitisches Kalkül. Die Bundesregierung verbessert seit 1998 kontinuierlich die Förderkonditionen für Biomasse. Wir unterstützen die energetische
Nutzung durch die verschiedensten Programme.
Herr Schulte-Drüggelte, Sie haben hier gesagt, die
CDU/CSU sei förmlich der Vater oder die Mutter der erneuerbaren Energien.
({3})
- Halt! Schauen Sie in den Haushalten doch bitte einmal
nach, wie Sie zu Ihrer Regierungszeit damit umgegangen sind!
({4})
Schauen Sie sich einmal an, wie Sie die Förderung zurückgefahren haben! Wir haben mit der Förderung nach
1998 erst wieder angefangen.
({5})
Sie schreien jetzt immer: mehr, mehr, mehr. Das erinnert mich ein bisschen an die Geschichte vom kleinen
Häwelmann, der auch immer mehr wollte und nie genug
kriegen konnte. Ich finde Ihre Vorgehensweise einfach
nur verlogen.
({6})
Im Titel für nachwachsende Rohstoffe im
Einzelplan 10 sind Förderungen in Höhe von bis zu
30 Millionen Euro vorgesehen. Da vergibt der Bund Zuschüsse für Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsvorhaben. Auch darüber werden Sie wieder schimpfen und klagen, es sei alles gekürzt worden. Auch dafür
kann ich mich nur bei Ihnen für Ihre jahrelange miserable Haushaltsführung bedanken.
({7})
Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik können wir weitermachen. Die Prämien werden von der Produktion entkoppelt. Damit wird den Landwirten endlich
die Chance eröffnet, am Markt frei zu agieren. Ich habe
die große Hoffnung, dass die steigende Nachfrage, die
wir im Bereich des Marktes für nachwachsende Rohstoffe verzeichnen, nun stärker aus der heimischen Produktion gedeckt werden kann.
In der Vergangenheit habe ich häufig versucht, Landwirte und Vertreter der Bauernverbände zu motivieren,
sich vermehrt alternativer Produktionsformen anzunehmen. Aber viel zu oft war das Bitten vergebens, obwohl
man wusste, dass es Absatzmärkte dafür gibt. Die meisten Bauern haben mir gesagt: Ich bin Unternehmer. Ich
produziere das, wofür ich am meisten bekomme, und das
ist die gekoppelte Produktion. - Das ist aus Sicht der
Bauern vielleicht nachvollziehbar gewesen, aber total
am Markt vorbei. Das wollen wir nicht mehr.
Die Option, sich ein weiteres Standbein zu schaffen,
indem man nachwachsende Rohstoffe anbaut, ist für
viele zu uninteressant gewesen. Ich hoffe, dass die weiterverarbeitende Industrie unter den neuen Bedingungen
in Zukunft einen sicheren Zulieferer aus der eigenen Region hat.
({8})
Sie fordern in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU, die Mittelerhöhung aus der
Ökosteuer zu finanzieren.
({9})
Es ist richtig, das Marktanreizprogramm wird aus der
Ökosteuer gespeist. Aber erstens erhöhen wir die Mittel
sowieso von jetzt 200 Millionen Euro auf im nächsten
Jahr 220 Millionen Euro und im darauf folgenden Jahr
auf 230 Millionen Euro und zweitens kann ich an dieser
Stelle nicht umhin, Ihnen noch einmal zu sagen, dass der
Schwerpunkt bei der Ökosteuer eigentlich ein ganz anderer war. Wir haben gesagt, dass damit die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssen.
Für den Bereich der Bioenergie wurden die Fördersätze am Anfang des Jahres sogar noch einmal leicht erhöht. Außerdem ist nun zum Beispiel die Förderung von
modernen handbeschickten Holzfeuerungen möglich,
was auch dem ländlichen Raum zugute kommt. Darüber
hinaus haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen,
dass Kommunen, Kirchen und öffentliche Körperschaften in den Kreis der möglichen Antragsteller aufgenommen werden und nun auch mit Bioenergie heizen können.
Wir schreiben nicht über einen Antrag „Nachwachsende Rohstoffe fördern“, so wie Sie das tun, sondern
wir machen das einfach, auch wenn die Unterstützung
der Opposition bisher ausbleibt.
({10})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die förderpolitischen Instrumente nicht ausreichen. Was wir in fünf Jahren an Überprüfungen, an Korrekturen und an Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht haben, haben Sie in
zehn Jahren nicht geschafft.
({11})
Ich kann Ihnen eines versichern: Mit unseren politischen
Zielsetzungen werden wir weiter daran arbeiten. Darauf
können Sie ganz fest vertrauen. Das Thema „nachwachsende Rohstoffe“ ist bei Rot-Grün in den allerbesten
Händen. Sie sind wie so oft mit Ihrem Antrag einfach
fehl am Platz. Darum können wir ihn nur ablehnen.
Danke schön.
({12})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunkts erteile ich
das Wort dem Kollegen Albert Deß, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich ja darüber, wenn ich fraktionsübergreifend
feststellen kann, dass die nachwachsenden Rohstoffe
heute einen anderen Stellenwert als vor 20 Jahren haben,
aber, lieber Kollege Reinhold Hemker, die unionsgeführte Bundesregierung musste Anfang der 90er-Jahre
- von 1990 bis 1994 waren Sie, glaube ich, nicht im
Deutschen Bundestag - zusammen mit der FDP vieles
gegen den Widerstand der damaligen Opposition durchsetzen.
({0})
- Die Grünen waren damals auch nicht vertreten, sondern nur Bündnis 90 aus dem Osten, weil die Grünen
1990 im Westen an der Fünfprozenthürde gescheitert
sind. Das darf ich hier doch wohl anmerken.
({1})
Ich kann sagen, dass ich seit Beginn meiner politischen Tätigkeit für nachwachsende Rohstoffe kämpfe.
Gerade in der Zeit von 1990 bis 1994 habe ich zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen massiv versucht, in diesem Bereich etwas voranzubringen. Ich darf
hier in aller Deutlichkeit sagen: Es war der damalige
Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle,
({2})
der zusammen mit Theo Waigel den Durchbruch für
nachwachsende Rohstoffe ermöglicht hat. Kiechle hat
nämlich damals in Brüssel durchgesetzt, dass auf stillgeAlbert Deß
legten Flächen nachwachsende Rohstoffe angebaut werden können, und Theo Waigel hat die Mineralölsteuerbefreiung durchgesetzt.
({3})
Herr Kollege Deß, es gibt den massiven Bedarf an
Zwischenfragen.
Gerne.
Zunächst der Kollege Schulte-Drüggelte, bitte.
({0})
Sie hatten gerade die Zeit angesprochen, in der Herr
Kiechle und Herr Waigel Minister waren.
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass sich gerade zu der Zeit die SPD
im Deutschen Bundestag gegen nachwachsende Rohstoffe ausgesprochen hat?
Ja, ich kann das bestätigen. Die SPD hat sich damals
massiv dagegen ausgesprochen. Ich wollte diesen Punkt
eigentlich am Schluss meiner Rede noch ansprechen,
aber angesichts der Frage bin ich gerne bereit, schon
jetzt aus dem Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundestages vom 14. Januar 1993 zu zitieren. Damals hat ein
SPD-Kollege gesagt:
Der Entwurf für die EG-Richtlinie, mit der die Verbrauchsteuern auf Pflanzenkraftstoffe auf 10 % des
normalen Mineralölsteuersatzes begrenzt werden
sollen, ist absolut töricht.
An einer anderen Stelle hat er gesagt:
Wer die Umwelt aber retten will, indem er mineralische Kraftstoffe durch Rapsöl oder Alkohol aus Zuckerrüben und Weizen ersetzt, der versucht, den
Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.
Man könnte noch mehr Zitate bringen.
Das machen wir jetzt aber nicht, Herr Kollege.
Nein, Herr Präsident, ich will hier nur anmerken, dass
eindeutig in Protokollen des Deutschen Bundestages
festgehalten ist, dass die SPD zu der Zeit massiv gegen
den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen war. Deshalb halte ich es für unangebracht, heute die Union zu
beschimpfen.
({0})
Nun möchte die Frau Kollegin Hustedt eine Zwischenfrage stellen.
Die SPD ist immerhin lernfähig. Mit ihr zusammen
haben wir die Mineralölsteuerbefreiung für alle Biokraftstoffe beschlossen und durchgesetzt. Sie tritt in diesem Jahr in Kraft. Es ist Ihnen sicherlich auch bewusst,
dass es, nachdem wir im EEG einen Bonus für nachwachsende Rohstoffe in Höhe von 4 bis 6 Cent für
kleine Anlagen festgeschrieben haben, einen massiven
Push beim Anbau nachwachsender Rohstoffe auf dem
Acker gegeben hat. Jetzt meine Fragen:
Erstens. Wie haben Sie sich als Vorkämpfer für die
nachwachsenden Rohstoffe bei der Abstimmung hier im
Bundestag zum EEG verhalten?
Zweitens. Was tun Sie als CSU-Abgeordneter gegenüber Ihrer bayerischen Landesregierung?
({0})
Herr Stoiber brüstet sich ja zum einen auf dem Hof von
Pellmeyer mit unseren Erfolgen, auf der anderen Seite
versucht er gleichzeitig im Bundesrat, das EEG wieder
zu Fall zu bringen. Was tun Sie als CSU-Abgeordneter,
damit Ihre Landesregierung einen Kurs zugunsten nachwachsender Rohstoffe einschlägt?
({1})
Frau Kollegin, ich kann Ihnen die Frage ganz korrekt
beantworten; das ist auch nachprüfbar. Ich musste mich
an dem betreffenden Freitag wegen einer Beerdigung in
meinem Heimatlandkreis beim Präsidenten entschuldigen.
({0})
Wenn ich hier gewesen wäre, hätte ich dieses EEG als
Gesamtpaket so abgelehnt. Im Bereich Biomasse, Frau
Kollegin, hätte ich zustimmen können, weil hier meiner
Ansicht nach der richtige Weg beschritten worden ist.
Aber der Weg wäre noch richtiger gewesen, wenn Sie im
EEG 5 Cent der Vergütung von Windenergie und Photovoltaik auf die Biomasse übertragen hätten; denn durch
Biomasse kann die Grundlast bei der Stromversorgung
gedeckt werden, was mit Sonnenenergie und Windenergie nicht der Fall ist.
({1})
Eines muss ich hier in aller Deutlichkeit sagen: Ich
lasse mich in diesem Plenum, solange ich noch hier bin,
von niemandem übertreffen, was den Einsatz für die
nachwachsenden Rohstoffe angeht. Alle Kolleginnen
und Kollegen, die mich seit vielen Jahren kennen, wissen das.
Es ist auch unangebracht, Bayern hier an den Pranger
zu stellen.
({2})
Es gibt kein Bundesland, das seit 1990 so viel Geld für
nachwachsende Rohstoffe ausgegeben hat wie der Freistaat Bayern. Er hat von 1990 bis 2000 mehr dafür ausgegeben als alle anderen 15 Bundesländer zusammen. In
Bayern werden bereits 3,9 Prozent der Primärenergie aus
Biomasse erzeugt; im übrigen Deutschland sind es
1,6 Prozent. Schaut doch erst einmal, dass ihr in den rotgrün regierten Bundesländern auf 3,9 Prozent kommt,
wenn ihr Bayern hier an den Pranger stellen wollt! Wir
haben schon zu Zeiten, als ihr das Thema noch gar nicht
gekannt habt, versucht, das Ganze voranzubringen, auch
gegen den Widerstand der bayerischen SPD vor Ort.
Deshalb brauchen wir keine Belehrungen.
Allein in Bayern werden durch den Einsatz von Biomasse 2,2 Milliarden Liter Heizöl und damit 6 Millionen
Tonnen CO2 eingespart. Darüber freue ich mich. Ich
sage hier in aller Deutlichkeit - so viel Rückgrat habe
ich -, dass diese rot-grüne Bundesregierung beim Thema
nachwachsende Rohstoffe nicht so viele Fehler gemacht
hat wie in anderen Bereichen. Aber man hätte das Ganze
noch besser machen können. Frau Kollegin Wolff, ich
finde es nicht in Ordnung, dass man die Forschungsgelder im Haushalt 2004 so massiv gekürzt hat. Ich schlage
Ihnen vor, den Ansatz für die Forschungsgelder im
Haushalt 2005 - dafür erhalten Sie sicher die Unterstützung der Opposition - wieder auf 43 Millionen Euro zu
erhöhen. Denn ich bin der Meinung, dass im Bereich der
nachwachsenden Rohstoffe noch wesentlich mehr geforscht werden müsste.
({3})
Ich habe bereits vor zehn Jahren die Zahlen im Deutschen Bundestag genannt. Leider sind sie in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt. Wissenschaftler sagen
uns, dass jährlich 200 Milliarden Tonnen Biomasse
wachsen. Von diesen 200 Milliarden Tonnen werden nur
2 Prozent genutzt: 0,75 Prozent für die Ernährung und
1,25 Prozent in Form von nachwachsenden Rohstoffen.
Auch wenn das nur eine theoretische Rechnung ist: Ein
Siebtel dieser Menge würde ausreichen, um den gesamten Einsatz von Öl, Kohle und Gas zu ersetzen. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, zu erforschen, wie wir mehr
Biomasse sinnvoll einsetzen können. Von den
98 Prozent Biomasse, die nicht genutzt werden, wird
CO2 freigesetzt, ohne dass wir die Biomasse zur Energieerzeugung nutzen. Es ist ein gewaltiges Potenzial
vorhanden. Ich habe 1993 in der Debatte im Deutschen
Bundestag gesagt: Wenn nur ein Bruchteil dessen, was
wir für die Forschung in der Waffentechnik ausgeben,
für die Forschung bei nachwachsenden Rohstoffen ausgegeben würde, dann wären wir bei den nachwachsenden Rohstoffen heute schon wesentlich weiter, als es so
der Fall ist.
({4})
Herr Kollege, die Kollegin Höfken hat sich zu einer
Zwischenfrage gemeldet.
Gerne.
Ich will nur darauf hinweisen, dass ich weitere Zwischenfragen dann nicht mehr zulassen möchte, weil wir
auch bei den Zwischenfragen ein bisschen im Hinterkopf
behalten sollten, dass der Zeitrahmen für eine Debatte
vor deren Beginn einvernehmlich festgelegt wird.
Bitte schön, Frau Höfken.
Dann muss ich ja ein bisschen schneller reden. - Lieber Kollege Deß, Bayern versteht sich doch als Teil von
Deutschland.
({0})
Auch wenn es manchmal schwer fällt!
Bayern - auch Sie als Person - trägt eine Mitverantwortung für die Entwicklung der Landwirtschaft in den
ländlichen Regionen in ganz Deutschland. Teilen Sie die
Ansicht, dass durch das geltende EEG eine erhebliche
Steigerung der Wirtschaftskraft in den ländlichen
Räumen bewirkt wird und dass es vonseiten der Bayerischen Staatsregierung unverantwortlich ist, durch das
Anrufen des Vermittlungsausschusses den ländlichen
Räumen die Möglichkeit einer Erhöhung der Wertschöpfung zu nehmen und ihnen die Unterstützung ihrer Landwirtschaft zu versagen? Allein die Zeitverzögerung
würde die ländlichen Regionen unglaublich viel Geld
kosten und das ganze Projekt sogar gefährden. Ist das
nicht ein Zeichen von politischer Unverantwortlichkeit?
({0})
Frau Kollegin Höfken, Ihre Frage geht völlig an der
Sache vorbei; denn Bayern ist das Bundesland, das zur
Förderung der ländlichen Räume bisher mehr Geld ausgegeben hat als alle anderen Bundesländer.
({0})
Was das EEG anbelangt, kann ich Ihnen sagen: Wenn
nicht so große Ungereimtheiten darin enthalten wären,
dann wäre eine Einigung mit der Opposition möglich gewesen. Aber ihr wart nicht bereit, sinnvoll mitzuarbeiten.
({1})
Frau Kollegin, es ist ein großer Unsinn, wenn auf wertvollen Ackerflächen hektarweise Sonnenkollektoren
aufgestellt werden. Ich habe nichts gegen Sonnenkollektoren auf Dächern. Aber wenn ich feststellen muss, dass
wertvolle Ackerflächen mit Sonnenkollektoren zugepflastert werden, dann muss ich schon sagen, dass es ein
großer wirtschaftlicher und ökologischer Unsinn ist.
Deshalb können wir nicht alles, was uns im EEG von
Regierungsseite vorgelegt worden ist, mittragen.
Der Einspruch des Bundesrates gegen das EEG ist
damit zu erklären, dass Bayern zusammen mit anderen
B-Ländern möchte, dass dieses EEG sinnvoller gestaltet
wird und nicht dazu führt, dass Arbeitsplätze aus
Deutschland vertrieben werden. Wir haben schon ein
sinnvolles EEG gefordert, als Sie noch nicht in der Regierungsverantwortung waren.
({2})
Herr Präsident, ich möchte noch eine Schlussbemerkung machen. Ich kandidiere für das Europäische Parlament.
({3})
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass ich in der
nächsten Wahlperiode Mitglied des Europäischen Parlaments bin. Eines kann ich Ihnen allen versprechen: Ich
werde mich, wenn ich dort mitarbeiten darf, in Brüssel
und in Straßburg sehr massiv für die nachwachsenden
Rohstoffe einsetzen,
({4})
weil ich der Meinung bin, dass auch die Kommission in
Brüssel dieses Thema sträflich vernachlässigt hat. Diese
Übereinstimmung zwischen den Parteien möchte ich am
Ende meiner Rede hervorheben.
Wie gesagt: Ich möchte mich im Europäischen Parlament massiv für die nachwachsenden Rohstoffe einsetzen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft auf Drucksache 15/2366 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Multitalent nach-
wachsender Rohstoff effizient fördern“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1788 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthal-
ten? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis d sowie den
Zusatzpunkt 5 auf:
9 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Afrika auf dem Weg zu Eigenverantwortung
und Selbstbestimmung unterstützen
- Drucksachen 15/2478, 15/3071 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Büttner ({1})
Anke Eymer ({2})
Dr. Rainer Stinner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans
Büttner ({4}), Brigitte Wimmer ({5}), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia Roth ({6}),
Volker Beck ({7}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig unterstützen
- Drucksachen 15/2479, 15/3072 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Büttner ({8})
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
Dr. Rainer Stinner
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger,
Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Eine neue Politik für Afrika südlich der
Sahara - Afrika fordern und fördern
- Drucksachen 15/2574, 15/3073 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Büttner ({10})
Anke Eymer ({11})
Dr. Rainer Stinner
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({12})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian
Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Hartwig Fischer
({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Umdenken in der Kongopolitik
- Drucksachen 15/2335, 15/3086 9820
Abgeordnete Hartwig Fischer ({0})
Brigitte Wimmer ({1})
Hans-Christian Ströbele
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Völkermord im Sudan verhindern
- Drucksache 15/3040 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion erhält zunächst der Kollege Hans Büttner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am vergangenen Samstag wurde die Erweiterung der EU gefeiert; ich meine: zu Recht. Nach Jahrhunderten, die durch religiösen, nationalistischen und
rassistischen Fundamentalismus und Terrorismus geprägt waren, die in den 40 Millionen Toten des Zweiten
Weltkrieges ihren Höhepunkt erlebten, eröffnet sich nun
die Chance, dass die Völker Europas einen hundertjährigen Frieden erleben können. Für diesen Frieden haben
Politiker und andere Menschen in Westeuropa 50 Jahre
erfolgreich gearbeitet. Diesen Frieden haben sich die
Menschen in Mittel- und Osteuropa mit friedlichen Mitteln erkämpft.
Die jetzigen Grundwerte der EU sind schon seit über
50 Jahren die Grundwerte der Vereinten Nationen und
sind in deren Charta niedergelegt. Sie wurden in der Millenniumserklärung der UN erneut feierlich bekräftigt.
Allerdings lehrt uns die Geschichte - das möchte ich
vorab sagen -: Feierliche Erklärungen und entsprechende Verfassungen werden und bleiben nur dann Realität, wenn mutige Menschen innerhalb der Staaten und
zwischen den Staaten dafür kämpfen. Das gilt für
Europa ebenso wie für den Rest der Welt, auch und vor
allem für Afrika.
Auf unserem Nachbarkontinent Afrika hatten vor
40 Jahren mutige Staatsmänner wie Kwame Nkrumah,
Julius Nyerere, Léopold Sédar Senghor oder Kenneth
Kaunda versucht, ihre nach einem Jahrhundert kolonialer Deformation unabhängig gewordenen Staaten und
den ganzen Kontinent auf der Basis dieser Grundwerte
neu zu gestalten. Doch sie scheiterten nicht zuletzt deswegen, weil der sich über 30 Jahre hinziehende Kampf
der Dekolonialisierung, der erst 1993 mit der Befreiung
Südafrikas sein Ende fand, den Aufbau einer eigenen
afrikazentrierten Infrastruktur erschwerte, ja nahezu unmöglich machte, weil der Kalte Krieg der Supermächte
und ihrer jeweiligen Verbündeten Afrika zum Spielball
ihrer Interessen an Mehrheiten in der UN machte und
diese Mächte mit ihren entwicklungspolitischen und militärischen Hilfen oft weniger die eigenständige Entwicklung der Länder im Auge hatten als deren Bindung
an die jeweiligen Machtblöcke und weil die Eliten der
afrikanischen Staaten, ausgebildet in oder nach den
Mustern der jeweiligen ideologischen Blöcke, die Basis
in ihrer eigenen Bevölkerung verloren und zunehmend
nur noch ihre eigenen partikularen Interessen verfolgt
hatten.
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende
des Kalten Krieges verschwand Afrika zunehmend aus
dem politischen Interesse der Industrienationen. Das
nach wie vor bestehende große Interesse ihrer Wirtschaft
an den Ressourcen des afrikanischen Kontinents, am
Öl, an den Erzen und dem Holz, ließ sich in zerfallenden
Staaten ebenso lukrativ erfüllen. Afrika erlebte und erlebt seitdem ein Jahrzehnt von Kriegen und Bürgerkriegen, die ihren Höhepunkt in dem schrecklichen Genozid in Ruanda und dem Krieg im Kongo erlebten.
Die noch intakten Staaten Afrikas und deren verantwortungsbewusste Staatsmänner erkannten zunehmend,
dass ihre Staaten und der gesamte Kontinent nur dann
eine gleichberechtigte Rolle spielen können, wenn sie
sich auf ihre eigene Kraft, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten konzentrieren, selbst handeln und sich nicht
länger behandeln lassen.
({0})
Diese Erkenntnis findet sich in der vom Charisma des
ersten afrikanischen Präsidenten Südafrikas, Nelson
Mandela, geprägten und von dem jetzigen Präsidenten,
Thabo Mbeki, formulierten Idee der African Renaissance ebenso wieder wie im Afrikaplan des nigerianischen Staatsoberhaupts Obasanjo oder in den Ideen des
früheren malischen Staatspräsidenten und jetzigen AUGeneralsekretärs Konaré. Diese Erkenntnis ist die Leitschnur der New Partnership for Africa’s Development
ebenso wie die der Gründungsakte der Afrikanischen
Union. Sie ist nahezu deckungsgleich mit den Grundwerten, die wir in Europa haben: Selbstbestimmung des
Einzelnen und der einzelnen Staaten, Achtung der
Würde des Menschen, Respektierung der Staaten und ihrer Grenzen und deren Überwindung nur auf friedliche
Weise durch Kooperation bei Respektierung der jeweiligen Interessen des anderen, chancengleicher Zugang zu
Bildung und Arbeit sowie gegenseitige Kontrolle dieser
gemeinsamen Grundwerte.
So wie die Menschen und verantwortungsbewusste
Staatslenker in Europa haben auch die verantwortlichen
Politiker in Afrika erkannt: Dauerhafte Beseitigung von
Armut lässt sich nur durch Frieden und gegenseitige
Achtung erreichen.
({1})
Gerade wie die Regierung und das Volk von Ruanda derzeit mit den Folgen des schrecklichen Genozids umgehen, ist ermutigend und verdient Unterstützung.
Hans Büttner ({2})
({3})
Die Entwicklung in und um den Kongo lässt ebenso hoffen wie die in Kenia. Die Entwicklung im Sudan zeigt
aber, wie groß die Aufgaben sind, vor denen die Staaten
und Politiker in Afrika stehen. Sie nämlich sind jetzt gefordert, sich in den Konflikt und die drohende menschliche Katastrophe in Darfur einzumischen. Sie müssen aktiv werden und die Weltgemeinschaft muss sie dabei
aktiv unterstützen.
({4})
Es ist im Interesse Deutschlands und Europas, ja im
Interesse der gesamten Welt, diese Politik zu unterstützen. Es ist im Interesse Deutschlands, wenn in Afrika
Staaten mit intakten Strukturen in Verwaltung, innerer Sicherheit und Justiz entstehen, weil nur so verlässliche Vereinbarungen zu gegenseitiger Kooperation in
Politik, Sicherheit und Wirtschaft geschlossen werden
können. Wer Ruheräume für den internationalen Terrorismus beseitigen oder gar nicht erst entstehen lassen
will, muss dafür sorgen, dass Staaten über eine entsprechende Infrastruktur in Bezug auf Verwaltung, Polizei
und Sicherheitskräfte verfügen, die so etwas verhindern
kann.
({5})
Wer der deutschen Wirtschaft einen friedlichen und
ungehinderten Zugang zu wichtigen Rohstoffen in
Afrika erhalten will, braucht verlässliche staatliche
Strukturen, die die Bestimmungen und Regeln über den
Zugang einheitlich festlegen, organisieren und überwachen können. Wer, wie die deutsche Wirtschaft, auf
globales Wachstum angewiesen ist, braucht internationale Kaufkraft auch in unserem Nachbarkontinent, die
durch eine Stärkung der regionalen Märke erst geschaffen werden muss. Das setzt eine Infrastruktur in den
Bereichen Verkehr, Kommunikation, Energie- und Wasserversorgung voraus, die nicht länger an alten Kolonialverbindungen ausgerichtet ist.
Die Regierung Schröder hat die Notwendigkeit einer
neuen Afrikapolitik erkannt. Sie hat die Staaten der G 8
und der EU wesentlich auf die Unterstützung der
NEPAD-Initiative eingeschworen und entwicklungspolitische Kooperationen von Stiftungen und GTZ frühzeitig
auf die Beratung beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen hin orientiert. Sie fördert maßgeblich die Ziele europäischer Entwicklungszusammenarbeit beim Aufbau der
harten Infrastruktur, wobei eine bessere Koordination
nationaler und europäischer Maßnahmen sicherlich notwendig ist.
Sie konzentriert sich zunehmend auf die Unterstützung der jeweiligen staatlichen und regionalen Entwicklungsprogramme, indem sie die Selbstbestimmung der
afrikanischen Akteure respektiert und gleichzeitig im Interesse der eigenen Steuerzahler auf Transparenz achtet, also darauf, dass die Mittel auch für die Zwecke verwendet werden, für die sie vorgesehen sind. Transparenz
ist auch die Voraussetzung für die demokratische Kontrolle in den afrikanischen Staaten selbst.
Sie hat nicht nur früher als andere, sondern auch mit
enormen finanziellen Mitteln den Kampf gegen die
Volksseuche Aids, die den Kontinent noch stärker als
der Sklavenhandel zu entvölkern droht, in den Mittelpunkt ihrer Hilfsprogramme gestellt. Sie beteiligt sich
außerdem intensiv am Aufbau der nationalen und regionalen Sicherheitsstrukturen, deren Notwendigkeit im
Sudan erneut deutlich wird.
Diese Umorientierung deutscher Afrikapolitik mit
dem Ziel der Stärkung von Eigenverantwortung und
Selbstbestimmung hat der Bundeskanzler bei seiner
Afrikareise zu Jahresbeginn sowohl in seinen Reden als
auch durch seine Reiseroute sehr gut und symbolisch
richtig deutlich gemacht.
({6})
Diese Politik bedarf sicherlich noch Ergänzungen und
Anstrengungen bei der weiteren Umsetzung. Dabei geht
es zum einen um die Umsetzung innerhalb der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, zum anderen aber
auch um eine bessere Koordination der jeweiligen Politikbereiche und der in vielen Fällen verdienstvolle Arbeit leistenden privaten Entwicklungsorganisationen;
denn auch eine fehlende Koordination auf der Geberseite
gefährdet und erschwert den Aufbau der notwendigen,
stabilen und intakten Strukturen in den Nehmerländern.
Wie sollen sich Arbeits- oder Finanzministerien in Ländern, die nicht größer sind als die kleineren Regionen
Deutschlands, zum Beispiel um den Aufbau einer intakten Steuer- und Finanzverwaltung kümmern können,
wenn sie damit belastet werden, Tausenden von ausländischen Experten und Entwicklungshelfern - das ist
Fakt - Arbeitserlaubnisse und Steuerfreistellungen ausstellen zu müssen?
Man kann mit Recht sagen: Wir sind in unserer Afrikapolitik auf einem guten Weg, haben aber noch viel zu
tun. Packen wir es gemeinsam an, und zwar nicht nur
mit zusätzlichem Geld und guten Worten, sondern mit
gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Verantwortung, nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern indem
wir zuhören, Gespräche führen, den Dialog verbessern
und helfen, die Wünsche unserer Partner zu erfüllen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Hartwig Fischer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Statt einer vom Kanzler auf seiner Afrikareise angekündigten Regierungserklärung gibt es nun eine 45-minütige
Debatte. In dieser Debatte sollen mehrere Grundsatzanträge zu Afrika sowie Anträge speziell zum Kongo
und zum Sudan behandelt werden. Die Zeit ist nicht
Hartwig Fischer ({0})
annähernd ausreichend, um diese Themen abzuhandeln.
Das ist ein Wortbruch des Kanzlers, der bei einem so
entscheidenden Thema, das die Welt bewegt, das Deutsche bewegt und das die Menschen in Afrika in ganz besonderer Weise betrifft, nicht hinzunehmen ist.
({1})
In den letzten Tagen haben wir von Flüchtlingsströmen im Sudan gehört. Wir haben erfahren, dass
dort Hunderttausende in Flüchtlingslagern lebten und
der Flüchtlingsstrom inzwischen auf 700 000 Menschen
angestiegen ist.
Afrika steht in den nächsten Jahren vor gewaltigen
gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Herausforderungen, die erhebliche Auswirkungen auf
Europa und Deutschland haben können. Dabei entspricht
die Stabilität in Afrika unseren ureigensten Interessen.
Politische Instabilität, Armut und Ordnungslosigkeit in
Afrika stellen eine sicherheitspolitische Gefahr dar, weil
die Länder auf diesem Kontinent dadurch Operationsund Rückzugsraum bzw. Rekrutierungs- und Finanzierungsquelle für internationalen Terrorismus bzw. internationale Kriminalität sind oder werden können. Kriege
und Konflikte bringen länder- und kontinentübergreifende Migrationsströme mit sich, die es einzudämmen
gilt.
Unser gemeinsames Ziel muss es sein, eine sich selbst
tragende wirtschaftliche Entwicklung der afrikanischen Staaten zu begleiten und zu fördern.
({2})
Wir müssen aber auch die deutschen Außenwirtschaftsinteressen an einer vernünftigen und fairen nachhaltigen Nutzung afrikanischer Rohstoffressourcen
aufzeigen. Es muss sichergestellt sein, dass die Wertschöpfung der Bodenschätze für eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern verbleibt und dadurch zum Wohl der Bevölkerung
eingesetzt wird.
Nicht zuletzt liegt der Schutz der Ökosysteme - das
gilt zum Beispiel für die Auswirkungen des Regenwaldes auf das Klima - und der Artenvielfalt Afrikas in unser aller Interesse.
Die Bundesregierung hat es bisher versäumt, unsere
Interessen und Ziele in Afrika klar zu definieren, damit
auch unsere afrikanischen Partner wissen, welches unsere Absichten sind.
({3})
Es fehlt eine Verzahnung der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik mit der Politik
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Auswärtige Amt und das BMZ ziehen leider nicht an einem
Strang. Die Prioritäten- und die Zielsetzung der Bundesregierung im Hinblick auf die gesellschaftlichen und
ökonomischen Entwicklungen und Interessen Afrikas
sind falsch.
Wo ist der Beitrag der Bundesregierung, um auf internationaler Ebene eine straffere Geberkoordinierung sicherzustellen? In vielen afrikanischen Staaten tummeln
sich multilaterale, bilaterale und nicht staatliche Geber
nebeneinander, ohne ihre jeweiligen Projekte und Programme zu koordinieren.
({4})
Unsere afrikanischen Partner sind mit der Administration dieser vielfältigen Geberaktivitäten oft überfordert.
Es ist aber auch die Aufgabe der Bundesregierung, auf
EU-Ebene eine bessere Projektabstimmung vorzunehmen. Herr Ströbele, Sie können Ihren Beitrag dazu leisten.
({5})
Ein Minimum an selbsttragender wirtschaftlicher Dynamik und strukturellen Rahmenbedingungen ist Grundvoraussetzung für die nachhaltige Bekämpfung von
Armut. Deshalb dürfen wir die Debatte über die Armutsbekämpfung nicht von der über die wirtschaftliche Entwicklung entkoppeln, wie es die Bundesregierung leider
häufig tut.
({6})
Anspruch und Ressourcen der deutschen Afrikapolitik fallen eklatant auseinander. Das gilt zum Beispiel für
die Erreichung der Millennium Development Goals zur
Halbierung der weltweiten Armut bis 2015. Um diese
Ziele zu erreichen, haben sich die Industriestaaten und
damit auch diese Bundesregierung verpflichtet,
0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Armutsbekämpfung zur Verfügung zu stellen. Deutschland steht
mit 0,27 Prozent in Europa an der 10. Stelle, Dänemark
mit 1,06 Prozent ganz oben.
Afrika will Partner auf gleicher Augenhöhe sein. Das
erfordert realistische und nüchterne Konzepte. Wir als
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen daher eine Kehrtwende in der deutschen Afrikapolitik. Wir brauchen eine
klare Strategie und das nötige Engagement für den Umgang mit sich schnell verändernden gesellschaftlichen
und politischen Rahmenbedingungen in Afrika.
Der Bundesregierung fehlt eine ausreichende Flexibilität in der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, um auf verändernde Situationen zum
Beispiel durch die Vergabe von Unterstützung oder die
Verhängung von Sanktionen schneller reagieren zu können.
Wir wollen eine Intensivierung der sicherheitspolitischen Kooperation mit der Afrikanischen Union, den
Regionalorganisationen und so genannten Ankerstaaten
wie Südafrika. Dabei müssen wir unsere afrikanischen
Partner beim Aufbau regionaler afrikanischer Kapazitäten zur Konfliktbeilegung und Konfliktprävention, wie
beim Aufbau einer afrikanischen Eingreiftruppe, konsequent unterstützen. Bei fast allen Gesprächen, die wir als
Parlamentarier im In- und Ausland führen, werden wir
gebeten, unser personelles Know-how dabei und beim
Hartwig Fischer ({7})
Aufbau rechtsstaatlicher Systeme und einer effektiven
Verwaltung zur Verfügung zu stellen.
Wir sehen, dass viele afrikanische Staaten auf dem
richtigen Weg in eine selbstverantwortete Zukunft sind.
Dies spiegelt sich auch in der Neuen Partnerschaft für
Afrikas Entwicklung wider. Die Afrikaner wissen, dass
sie selbst die größte Verantwortung tragen. Wir müssen
aber diese Initiativen weiterhin konstruktiv begleiten.
Wir wollen eine Stärkung der diplomatischen Präsenz
in den deutschen Botschaften und bei den UN-Missionen. Wir haben, als wir mit einer fraktionsübergreifenden Delegation im Kongo waren, gesehen, was Stiftungen leisten können. Bei einem Rechtsstaatsseminar
haben wir im dortigen Krisengebiet erlebt, wie die
Konrad-Adenauer-Stiftung ihren Beitrag zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft leistet, was in anderen Ländern auch die übrigen Stiftungen tun. Wir müssen jetzt
die Voraussetzungen schaffen, um gerade beim Aufbau
rechtsstaatlicher Strukturen die positiven Entwicklungen auf afrikanischer Seite nachhaltig zu unterstützen.
({8})
Leider dient der Reichtum Afrikas selten der Bevölkerung oder dem Nationalstaat, sondern häufig der
schamlosen Bereicherung krimineller Elitenetzwerke
und terroristischer Strukturen.
({9})
Oft ist der Reichtum an Bodenschätzen die eigentliche
Ursache für Konflikte und Bürgerkriege, wie es auch im
Gebiet der Großen Seen der Fall ist.
Bei unserem Besuch in der Demokratischen Republik
Kongo haben wir erlebt, dass insbesondere Frauen und
Kinder unter diesem Konflikt leiden.
({10})
Wir haben mit Frauen gesprochen, die von Milizen und
ehemaligen Mitgliedern der ruandischen Armee aus
ihren Dörfern verschleppt, brutal vergewaltigt und
schwanger wurden. Das alles geschah, um die Menschen
in der Region zu demoralisieren.
Ich zitiere einen Auszug aus dem Bericht eines misshandelten Mädchens, den es am 23. Oktober in Goma
niedergeschrieben hat:
Mein Name ist Safi. Ich komme aus der Provinz
Süd-Kivu. Ich bin jetzt 17 Jahre alt.
Es war im April 2002, als die Milizen zu uns kamen. Sie sind gewaltsam ins Haus eingedrungen.
Wir waren alle da: meine Mutter, mein Vater, mein
älterer Bruder und meine vier jüngeren Brüder und
Schwestern.
Die Männer richteten ihre Waffen auf meinen Vater.
Sie sagten zu meinem Vater: „Du, Papa, du musst
jetzt vor unseren Augen mit deiner Tochter schlafen!“ Mein Vater flehte sie an, dass er das nicht machen könne, weil ich sein Kind sei. Da erschossen
sie ihn vor unseren Augen.
Danach befahlen sie meinem Bruder: „Du musst
jetzt vor uns mit deiner Mutter schlafen, und zwar
schnell!“ Mein Bruder lehnte ab. Meine Mutter
sagte nichts. Ein Mann hielt seine Waffe an ihren
Kopf und schoss auf sie. Sie fiel tot neben meinem
Vater hin.
Ich wurde entführt, monatelang vergewaltigt und
konnte bei einem zweiten Fluchtversuch den Männern entkommen. Ich war inzwischen hochschwanger. Dieses Martyrium dauerte eineinhalb Jahre.
Wir dürfen diesen Grausamkeiten nicht länger zuschauen. Die Bundesregierung muss sich bei der UN dafür einsetzen, dass auch die UN-Mission in Nord- und
Süd-Kivu - ähnlich wie in Bunia, wo es zu einer Stabilisierung gekommen ist - mit einer entsprechenden Personalkapazität ausgestattet wird.
Trotz dieser Darstellung glaube ich, dass es in Afrika
insgesamt viel mehr Licht als Schatten gibt. Die Afrikaner jedenfalls wollen, dass es dort mehr Licht gibt. Sie
leisten dazu ihren Beitrag. Wir können ihnen dabei helfen.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Marianne Tritz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle reden mit großer Selbstverständlichkeit über Afrika.
Wir wollen Eigenverantwortung und Selbstbestimmung
für Afrika. Wir ersehnen eine Stabilisierung in Afrika.
Wir wollen Afrika fördern und fordern und streben ein
Umdenken in der Afrikapolitik an.
({0})
Manchmal stockt mir der Atem bei so viel Mut, aber
auch bei der Vermessenheit, die wir in Bezug auf Afrika
an den Tag legen. In den letzten Monaten, während der
europäischen Erweiterung, haben wir schwierige politische Prozesse vollzogen. Aber bei aller Freude über die
Erweiterung behalten die Nationalstaaten für uns ihre
Bedeutung: Wir lieben das italienische Dolce vita, den
englischen Humor, die deutsche Gründlichkeit und die
französische Küche, wir bewundern die lettische Informationsgesellschaft und das finnische Bildungswesen.
Unseren Nachbarkontinent aber mit seinen 50 Staaten, seinen über 2 000 Sprachen, seinen unterschiedlichen Stärken und Schwächen und verschiedenen Kulturen reduzieren wir aber auf „Afrika“. Das ist sogar
nachvollziehbar; denn würden wir versuchen, alle Widersprüche, Extreme, Besonderheiten und die Mannigfaltigkeit der Länder, Landschaften und Kulturen Afrikas zu verstehen, würden wir an diesem Kontinent
verzweifeln. Meine Fraktion nehme ich da nicht aus.
Dieses Afrika kann einen schon ratlos machen: hinreißend schön - abstoßendes Elend, unglaubliche Landschaften - mörderisches Klima, atemberaubende Tierwelt und Luxus im Überfluss auf der einen Seite millionenfacher Hunger auf der anderen, Hütten, die
noch nicht einmal diesen Namen verdienen, neben Palästen in unmittelbarer Nachbarschaft und dann diese unglaubliche Armut, Kriege, Völkermord und über allem
das Sterben von Hunderttausenden an Aids. Wir lieben
Afrika und wir verfluchen Afrika, aber wir müssen immer wieder nüchtern bilanzieren, wo dieser Kontinent
steht und wohin er will, warum er uns von Bedeutung ist
und wie wir ihm helfen können.
Die Hauptherausforderungen, vor denen Afrika steht,
lassen sich in vier Bereiche einteilen: Staatszerfall, regionale Gewaltkonflikte, Armut und Aids. Diesen zentralen Herausforderungen wollen wir uns mit einer aufeinander abgestimmten außen-, entwicklungs- und
sicherheitspolitischen Herangehensweise stellen. Dazu
gehört, dass wir ehrlich benennen, welches Interesse wir
an Afrika haben, dass nämlich die soziale, politische und
wirtschaftliche Entwicklung Afrikas in unserem elementaren Sicherheitsinteresse liegt.
({1})
Was tun wir? Wir unterstützen den schwarzen Kontinent bei seinen Bemühungen, sich stärker in die Weltwirtschaft zu integrieren. Wir wollen die subventionierte
europäische Agrarpolitik so geändert sehen, dass es für
afrikanische Produkte einen breiten Zugang zum Weltmarkt gibt.
({2})
Wir setzen uns für Entschuldung ein, wir pumpen Geld
in die Armutsbekämpfung und in den Bildungssektor
und sind einer der größten Geber bei der Bekämpfung
von HIV bzw. Aids. Wir fördern den Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen. Deutschland unterstützt gezielt
Maßnahmen der Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung.
Aber wir tendieren auch dazu, uns zu überschätzen.
Wenn ich mir die Afrika-Anträge anschaue und die dazugehörigen Kataloge von Forderungen an die Bundesregierung, dann kann man eigentlich nur zu mehr Realismus mahnen. Wir tun häufig so - ich nehme da
ausdrücklich keine Fraktion aus -, als wenn wir alles
Elend, alle Sorgen und Nöte auf dem afrikanischen Kontinent bekämpfen könnten, wenn wir nur genug Geld für
Entwicklungszusammenarbeit, mehr Soldaten zum Eingreifen bei Konflikten, mehr technische und medizinische
Hilfe zur Verfügung stellen würden, wenn wir denn nur
mahnender mit afrikanischen Politikern reden würden.
Aber, mit Verlaub, so einfach ist das nicht. Es macht
wenig Sinn, Millionen von Euro in die Bekämpfung von
HIV bzw. Aids zu stecken, wenn es keine Strukturen eines Gesundheitswesens gibt, die den Zugang zu Medikamenten ermöglichen. Es ist zweifelhaft, wenn Land umverteilt wird, die Neubesitzer aber nicht ausgebildet
werden, dieses Land zu bewirtschaften. Es macht keinen
Sinn, Gelder für Infrastrukturmaßnahmen bereitzustellen, wenn sie für Prestigeobjekte zweckentfremdet werden. An vielen Stellen müssen wir noch genauer hingucken und unsere Mittel und Politik zielgerichteter
einsetzen.
Afrika selbst muss die Bedingungen und Voraussetzungen schaffen, damit unsere Hilfe überhaupt greifen
kann. Um uns nicht zu überfordern, müssen wir Prioritäten setzen und uns die Belastungen mit den europäischen
Nachbarn teilen. Unsere gesamte Afrikapolitik hat nur
im europäischen Kontext eine Chance, erfolgreich zu
sein. Nationale Alleingänge sind nicht kraftvoll genug,
um wirklich effektiv zu sein. In diesem Zusammenhang
muss man die Initiative des Bundeskanzlers und seiner
Afrika-Beauftragten Uschi Eid würdigen, mit dem G-8Afrika-Aktionsplan den reformwilligen Staaten langfristige und nachhaltige Unterstützung bei ihren Reformen anzubieten.
({3})
Afrika erkennt mittlerweile seine Eigenverantwortung
an. Ohne diese Eigenverantwortung bleibt jedoch jede
entwicklungs-, außen- und sicherheitspolitische Hilfe
von außen wirkungslos. Das, was von einigen afrikanischen Staaten auf den Weg gebracht wurde, macht Mut
und stimmt hoffnungsvoll: Die Neue Partnerschaft für
die Entwicklung Afrikas, genannt NEPAD, entwirft eine
weit reichende Entwicklungsstrategie für den afrikanischen Kontinent. Die Afrikanische Union will Demokratie und Menschenrechte durchsetzen und sich bei Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit endlich in die inneren Angelegenheiten
anderer afrikanischer Staaten einmischen.
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Nach den
fürchterlichen Massakern im Kongo und zehn Jahre nach
dem Völkermord in Ruanda hat sich die internationale
Staatengemeinschaft geschworen: Nie wieder, nie wieder Völkermord! Trotz dieses Schwures könnte aber genau diese Entwicklung jetzt im Sudan eintreten: Mehr
als zehntausend Tote und über eine Million Flüchtlinge
sind das Ergebnis der Politik der verbrannten Erde, auf
die der sudanesische Militär- und Staatschef setzt. Die
von ihm ausgerüsteten Milizen rauben, morden, brandschatzen und vergewaltigen mit Unterstützung der sudanesischen Regierung, die die Dörfer der Aufständischen
bombardiert. Das klare und eindeutige „Nie wieder!“ der
internationalen Gemeinschaft nach den Vorkommnissen
in Ruanda weicht gerade windelweichen und völlig inakzeptablen Stellungnahmen.
({4})
Wir unterstützen alle Initiativen der Afrikanischen
Union, die dazu führen, dass gewalttätige Konflikte in
Zukunft von den Afrikanern selbst gelöst werden können. Dazu helfen wir ihnen beim Aufbau und bei der
Ausbildung von afrikanischen Friedenstruppen, die allerdings in demokratische Strukturen eingebunden sein
müssen.
Afrika möchte als gleichberechtigter Partner an der
Gestaltung globaler Politik aktiv teilnehmen. UnterstütMarianne Tritz
zen wir es auf seinem Weg zu mehr Anerkennung und
Selbstbestimmung, damit es nicht länger als ein Ort der
Kriege und Katastrophen, sondern als Region der Hoffnung und des Aufbaus angesehen wird!
Danke.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Heinrich, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Prozess, in Afrika zu Eigenverantwortung
und Selbstbestimmung zu kommen, geht sehr langsam
und schleppend voran; alle meine Vorredner haben das
unterstrichen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen.
Unter anderem ist das weit gehende Fehlen von Führungseliten zu nennen.
Trotz allem muss man festhalten: Der Rahmen steht. Die
AU hat vor zwei Jahren ein klares Bekenntnis zu Demokratie und zur Einhaltung der Menschenrechte abgelegt. Durch
die Abkehr von der Strategie der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten bei Völkermord,
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es die Chance auf einen Wandel in der afrikanischen Menschenrechtspolitik. Die NEPAD - New Partnership for Africa’s Development - wurde mit dem Ziel
gegründet, die Milleniumserklärung der Vereinten Nationen umzusetzen und in eigener Verantwortung zu
kontrollieren, um den Peer-Review-Prozess zu begleiten.
Eine ganze Reihe von regionalen Zusammenschlüssen
wie IGAD, ECOWAS oder SADC sollen die Zusammenarbeit fördern und demokratische und rechtsstaatliche Strukturen schaffen. Der Rahmen stimmt also. Wir,
die internationalen Geber, sind bereit, mitzuhelfen, diesen Rahmen zu stabilisieren.
Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als zu erkennen, dass die Realität trotz aller Bemühungen und
aller guten Ansätze anders aussieht. Staaten sind bereits
zerfallen oder befinden sich im Zustand des Zerfalls.
Bürgerkriege, ethnische Säuberungen, Kampf um Bodenschätze und vieles mehr sind in einer ganzen Reihe
von Staaten leider Wirklichkeit. Hinzu kommt, dass die
Weltgemeinschaft fast damit überfordert ist, überall dort,
wo sie gebraucht wird, auch tatsächlich einzuschreiten.
Welche Rolle spielen die UN? Welche Rolle spielt
Deutschland? Welche Rolle kann die EU angesichts dieser Szenarien spielen? Wenn man sich vor Ort erkundigt
- Kollege Fischer hat bereits auf unsere Reise hingewiesen -, muss man feststellen, dass die UN leider nicht immer den besten Ruf haben. Sie werden in der Regel als
zu lasch und zu gleichgültig bezeichnet, ihr Vorgehen
wird als nicht zielführend dargestellt. Ihr Ruf ist besonders im Kongo nicht einheitlich. In der Gegend um
Bunia konnten die UN ein einigermaßen robustes Mandat nach Kap. 7 verwirklichen. Dagegen muss man leider feststellen, dass im Süden der Region Kivu genau
das Gegenteil der Fall ist; Kollege Fischer hat das vorhin
sehr eindrucksvoll geschildert.
Welche Rolle erwartet man von der Bundesrepublik
Deutschland? Wenn man vor Ort unterwegs ist, hört man
von den Menschen, dass sie von uns eine stärkere
Vermittlerrolle erwarten. Sie sagen, wir sollten uns aktiv als Vermittler in diesen Prozess einmischen. Die Bundesrepublik Deutschland hat einen hervorragenden Ruf
im Kongo, in Ruanda und in Uganda. Man bittet uns geradezu, hier aktiv zu werden. Ich bitte, dass dies von der
Bundesrepublik stärker beachtet wird.
({0})
Leider Gottes sind die vier Minuten, die mir für meine
Rede zur Verfügung stehen, schon fast wieder vorbei.
Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen. Es geht um
den Friedensprozess in Somalia. Es ist fast vermessen,
dabei von einem Friedensprozess zu sprechen, aber dort
sind erste Regungen festzustellen. Die Warlords kommen zusammen, aber sie benötigen einen runden Tisch.
Sie brauchen jemanden, der sich zur Verfügung stellt
und als Katalysator wirkt. Auch von dieser Seite höre
ich, dass die Bundesrepublik Deutschland in dieser
Frage eine wichtige Vermittlerrolle spielen könnte.
({1})
- Lassen Sie es mich so sagen: Andere hören etwas anderes.
Ich möchte deutlich machen, dass wir nicht erst dann
tätig werden dürfen, wenn die UNO von uns fordert, Soldaten in den Kongo zu schicken, und nachdem die Fraktion der FDP in ihrem hier eingebrachten Antrag zum
Sudan konkrete Vorschläge gemacht hat. Wir müssen
uns weit im Vorfeld dieser politischen Entwicklungen
stärker einmischen, um zu verhindern, dass die Dinge
aus dem Ruder laufen.
Ich hoffe sehr, dass wir mit weiteren Anträgen anderer Fraktionen rechnen können, wenn der Antrag der
FDP überwiesen wird, um eine intensive Diskussion
führen zu können, und dass wir verhindern, dass es einen
weiteren Völkermord im Sudan gibt.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Siegmund Ehrmann, SPDFraktion, das Wort.
({0})
Herr Kollege Fischer, der Abgesang Ihrer Rede hat
mich beeindruckt. Das hörte sich gut an. Darüber, was
Sie zwischendurch abgeliefert haben, müssen wir uns
aber noch detailliert unterhalten. Ich komme gleich
gerne darauf zurück.
({0})
Bevor ich zu einer resümierenden Bewertung dieser
politischen Debatte über Afrika komme, möchte auch
ich auf die bedrohliche Situation im Sudan eingehen.
Nach zunächst hoffnungsvoll stimmenden Verhandlungsphasen, die dann allerdings von schweren Kampfhandlungen überlagert worden sind, erreichen uns seit
Anfang des Jahres dramatische Nachrichten. Wichtige
Punkte sind genannt worden: über 2 000 Tote vor wenigen Wochen, als die Regierung Grenzgebiete bombardieren ließ, 1 Million Flüchtlinge, etwa 2 Millionen
Menschen, die im gesamten Sudan von dem Desaster betroffen sind, und ein sich neu entwickelnder Konfliktherd im Bundesstaat Darfur. Der UN-Koordinator für
den Sudan, Kapila, spricht von einem organisierten Versuch, eine Volksgruppe vollständig auszulöschen. Kofi
Annan erkennt einen drohenden Völkermord. Nahrungsmittelhilfen und die medizinische Versorgung sind unter
massiver Beteiligung der Bundesregierung eingeleitet
worden. - Vor dem Hintergrund dieses Szenarios begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich, dass
sich die Bundesregierung, insbesondere in Form der Ministerin Wieczorek-Zeul, öffentlich und durch Initiativen
in den überstaatlichen Institutionen klar positioniert hat,
um den Druck auf die sudanesische Regierung zu erhöhen.
({1})
Für die humanitäre Soforthilfe sind erhebliche Mittel
bereitgestellt worden. Freitag wird sich der VN-Sicherheitsrat auf ausdrückliches Betreiben unserer Bundesregierung mit dem Sudan befassen. Die internationale Gemeinschaft zieht an einem Strang. Das gilt für die
Vereinten Nationen, für die EU und auch für die USA.
Überdies hat die Bundesregierung gestern im Kabinett
initiiert, dass die AKP-Ratsgruppe der EU die Prozesse
so beschleunigt, dass die EU-Friedensfazilitäten mobilisiert werden können. Auch das ist ein Beweis für das
vortreffliche Handeln unserer Regierung.
({2})
Entsprechend unserem Verständnis von Partnerschaft und Dialog - da haben mir manche Ihrer Formulierungen, Herr Fischer, nicht zugesagt - werden wir
aber eines nicht machen können: Wir können nicht auf
deutscher oder EU-Ebene einseitig bewerten, entscheiden und in direktem Zu- und Durchgriff handeln. Hier ist
die AU gefordert; sie hat ihre Verantwortung auch bereits erkannt. Die afrikanischen Nationen müssen in gesteigertem Maße dazu beitragen, die Konflikte auf ihrem
Kontinent zu bändigen.
Noch ein Wort zum Sudan, zugleich als Überleitung
zu meiner Bewertung der Afrikadebatte. In der Debatte
im Februar hat Herr von und zu Guttenberg der Bundesregierung vorgehalten, es fehle ein schlüssiges, kohärentes außen-, entwicklungs- und verteidigungspolitisches
Konzept. Ich stelle für mich fest, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition: Das war ein schwerer
Stockfehler. Sie ignorieren nämlich bei dieser Bewertung maßgebliche Leitlinien des Regierungshandelns; in
diesem Zusammenhang ist der G-8-Afrika-Aktionsplan zu nennen. Zudem beinhaltet das Positionspapier
zur Entwicklungszusammenarbeit mit Sub-SaharaAfrika nicht nur allgemeine strategische Aussagen, sondern auch sehr konkrete und treffliche Beispiele, die im
Grunde genommen Ihre ganze Argumentation, Herr
Fischer, widerlegen. Man muss nur bereit sein, dies zur
Kenntnis zu nehmen. Herrn von und zu Guttenberg kann
ich nur sagen: Natürlich sind die Papiere mühsam zu lesen. Aber man hätte nur den Reden von Frau WieczorekZeul und Frau Eid lauschen müssen, um einen qualifizierten Erkenntniszuwachs zu erzielen.
Die Initiativen der Bundesregierung zum Sudankonflikt belegen aus meiner Sicht, dass auf der Grundlage
eines strategisch abgestimmten und fachübergreifenden
Konzeptes gehandelt wird.
({3})
Sie belegen aber auch, dass die Regierung im Einzelfall
in der Lage ist - das haben Sie eingefordert, Herr
Fischer -, zeitnah und flexibel zu agieren. Wie heißt es
so schön? - Die Wahrheit ist konkret.
({4})
Man muss sich in dieser Debatte mit den Dingen im Detail auseinander setzen.
Wer der Rede von Herrn Vaatz gelauscht hat und sich
nicht auskannte - bitte nehmen Sie es mir nicht übel -,
konnte zumindest einen interessanten Literaturhinweis
entgegennehmen. Ansonsten gab es nur die pauschale
Kritik, es gebe kein Gesamtkonzept. Zudem wurde die
Unfähigkeit der Koordination beklagt. Das haben wir
schon häufiger gehört. Mich hat das allerdings erstaunt,
weil ich bisher eine bedeutend stärkere gemeinsame
Grundhaltung ausgemacht hatte.
Sie reklamieren - das steht auch in Ihren Anträgen -,
dass wir eine klarere Interessendefinition brauchen.
Was ist damit gemeint, Herr Fischer? Sie haben vorhin
erklärt, die Afrikaner müssten wissen, was wir von ihnen
erwarten.
({5})
Unsere Erwartung ist definiert. Wir wollen auf gleicher
Augenhöhe als Partner in einen Dialog eintreten.
({6})
Unsere Erwartung wird durch das Interesse der Afrikanischen Union widergespiegelt, demokratische und sichere
Strukturen zu entwickeln.
Afrikapolitik ist mehr als Außenwirtschafts- und
Energiepolitik. Es geht um einen breit abgesteckten
Pfad. Diesen müssen wir innerhalb der VölkergemeinSiegmund Ehrmann
schaft beschreiten, damit Instabilitäten und Unsicherheiten reduziert werden, damit sich die Menschen entwickeln können und - wir sind keine Altruisten - damit
Investitionen langfristig die vorhandenen wirtschaftlichen Potenziale freisetzen. Physische, soziale, politische, rechtliche und wirtschaftliche Unsicherheiten zu
bändigen als überholtes Verständnis einer Entwicklungszusammenarbeit zu bezeichnen, wie es Herr von und zu
Guttenberg getan hat, ist schon ein starkes Stück.
({7})
Afrika, dieser riesige, schöne und an wunderbaren
Menschen reiche Kontinent, hat sich zur Jahrtausendwende neu verfasst. Der neu formulierte und neu formierte ernsthafte Wille, vorrangig auch die eigenen
Kräfte für Frieden und Entwicklung zu mobilisieren,
verdient unser Vertrauen. Ich stelle für mich fest - das
spiegelt sich in den Anträgen der Koalitionsfraktionen
wider -: Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich wünschte
mir, dass wir auch in den Grundpfeilern dieser Politik
über den Tag hinaus zu mehr Gemeinsamkeit finden. Herr Ruck, ich weiß, dass auch Sie lernfähig sind.
({8})
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Afrika ist ein
Thema, dem sich die deutsche Politik in jüngerer Vergangenheit vermehrt zuwendet. Es ist eine erfreuliche
Tatsache und eine notwendige Konsequenz. Das ist eine
Konsequenz aus der Tatsache, dass die Zeit der überholten Klischees keine Grundlage für eine solide Afrikapolitik des 21. Jahrhunderts ist.
Afrika ist weder nur als Entwicklungsgebiet zu sehen,
noch ist Afrika nur das Land der Naturkatastrophen und
der ethnischen Kriege. Es gibt Licht in Afrika, so habe
ich meinen Kollegen Fischer verstanden. Um ein Beispiel zu nennen: Zehn Jahre Überwindung der Apartheid
in Südafrika - daran wird in diesen Wochen nicht nur in
Südafrika, sondern auch an vielen Orten bei uns feierlich
gedacht. Das ist viel mehr als nur ein historisches Gedenken der großen Erfolge, die sich auch um eine Person
wie Nelson Mandela ranken. Es geschieht in einer festen
und zukunftsorientierten Überzeugung: Südafrika gehört
in die Gruppe jener Staaten, die verlässliche Partner für
eine neue deutsche und europäische Afrikapolitik sind,
({0})
eine europäische Afrikapolitik, in der es hohe Zeit ist,
unsere deutschen Anliegen deutlicher zu benennen und
zu vertreten. Die Republik Südafrika ist eines der großen
Beispiele für einen demokratischen und fortschrittlichen
Staat und für einen verlässlichen Partner auch für die
deutschen Außenwirtschaftsinteressen.
Die uns heute vorliegenden Anträge spiegeln die Tatsache wider, dass die afrikanischen Länder zu einem
gleichberechtigten Partner geworden sind. Ihre Bereitschaft und Kapazitäten zur Übernahme von Eigenverantwortung bei der Bewältigung der anstehenden
Probleme gilt es wahrzunehmen und zu unterstützen.
Dabei hat der Austausch mit der Afrikanischen Union,
die Unterstützung der Arbeit der NEPAD und die Umsetzung des Afrika-Aktionsplans der G 8 eine bleibende
Bedeutung.
Immer deutlicher wird die Erkenntnis, dass ein
gleichberechtigter Dialog im Interesse aller liegt. Ein besonderes Gewicht hat hierbei die Tatsache, dass die deutsche Politik zunehmend in eine europäische Außen- und
Sicherheitspolitik eingebettet ist. Unter den europäischen Partnern gibt es Staaten, die dezidiert eigene Interessen benennen und durchzusetzen verstehen. Dass die
Gründe hierfür auch in der kolonialen Vergangenheit
mancher Staaten liegen, ist bekannt. Dass wir in
Deutschland eine vergleichsweise geringe Belastung aus
dieser Zeit mit uns tragen, verstehe ich eher als Chance.
Wir sind ein Dialogpartner, dem in Afrika großes Gehör
und großes Vertrauen entgegengebracht wird.
Das wurde auch in den erfolgreichen Gesprächen
deutlich, die die parlamentarische Delegation und die
Teilnehmer der Wirtschaftsdelegation bei der Afrikareise des Bundeskanzlers geführt haben. Äthiopien,
Kenia, Südafrika und Ghana - die Länder, die wir bereist
haben, gehören zu jenen Staaten, die zukünftig im besonderen Fokus der deutschen Afrikapolitik stehen werden. Wir stehen vor der Entscheidung, ob Deutschland
zu einem Global Player oder nur zu einem Statisten in
der internationalen Afrikapolitik wird. Dabei hilft unserer Politik aber nicht, nur einen weiten und allgemeinen
Bogen für ein neues Konzept zu entwerfen. Unsere Afrikapolitik braucht eine deutliche Benennung von deutschen Interessen, die wir auch verfolgen.
Ich beziehe mich auf den vorliegenden Antrag meiner
Fraktion: Zu einem nachhaltigen und effizienten Einsatz
unserer Mittel gehört neben dem Abrücken von Ideologie und überhöhten Zielvorstellungen auch eine sinnvolle Koordinierung der Mittel und der verantwortlichen Ministerien. Es hilft weder, sich in einige wenige
Details zu verbeißen, noch hilft es, in einer breit gefächerten Aufzählung die konkreten Probleme zu umgehen.
Ich möchte meine feste Überzeugung zum Ausdruck
bringen, dass es auf einer soliden und sachlichen Grundlage auch im Hinblick auf den vorliegenden Antrag der
SPD-Fraktion mit uns als Opposition konstruktive Wege
einer Zusammenarbeit geben kann. Unsere Afrikapolitik
muss sachlich und realistisch werden. Wir müssen sagen, was wir wollen. Unsere Ziele müssen realistisch an
unseren Möglichkeiten orientiert sein. Europa grenzt an
Anke Eymer ({1})
Afrika. An dieser Chance und Herausforderung muss
sich endlich auch die deutsche Politik orientieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte
ist mehrfach der Sudan zur Sprache gekommen. Ich bin
selbst auf dieses Thema angesprochen worden. Ich will
an dieser Stelle sagen und ich glaube, es fühlt jeder so
wie ich, dass wir die sudanesische Regierung auffordern
endlich die Unterstützung der Milizen in Darfur, die die
afrikanischstämmige Bevölkerung vertreiben, aufzugeben - dieser Vertreibung muss ein Ende gemacht
werden - und dazu beizutragen, dass die Menschen auch
durch humanitäre Hilfe erreicht werden. Das heißt: Der
Waffenstillstand muss endlich eingehalten werden.
({0})
Diese Forderung müssen wir alle erheben.
Ich fordere die sudanesische Regierung auf, den Vertreibungen ein Ende zu machen. Ethnische Vertreibungen, wo auch immer sie stattfinden, dürfen von der internationalen Gemeinschaft nie mehr hingenommen
werden. Bei solchen Vertreibungen darf niemand wegsehen.
({1})
Ich habe Gespräche mit dem Exekutivdirektor des
Welternährungsprogramms, James Morris, und dem UNBeauftragten für den Sudan geführt, die mit einer UNDelegation in Darfur waren.
({2})
Beide haben ebenso wie die Vertreterinnen und Vertreter
der Zivilgesellschaft, mit denen ich gestern zusammengekommen bin, festgestellt, dass Friedenstruppen vor
Ort für den Schutz der Bevölkerung sorgen müssen und
dass im Sudan humanitäre Hilfe geleistet werden muss.
Diese Forderung will ich an dieser Stelle noch einmal
hervorheben und darauf hinweisen, dass es auf europäischer Ebene die Friedensfazilität für Afrika gibt. Wir
haben uns gestern im Kabinett dafür entschieden, diesen
Weg der Unterstützung einzuschlagen. Das heißt, die
Afrikanische Union wird Friedenstruppen vorschlagen,
die die Europäische Union finanzieren soll und wird. Ich
meine, diese Aufgabe und Zielsetzung sollten wir alle
gemeinsam angehen und unterstützen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen
Hedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Wieczorek-Zeul, ich glaube, was den Sudan anbetrifft,
liegen wir nicht auseinander. Vielleicht hätten wir aber
schon sehr viel früher und sehr viel aufmerksamer reagieren müssen. Ich glaube, ein verdächtiges Signal war
bereits die Ablösung unseres früheren Kollegen Gerhart
Baum als Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen.
Eine Reihe von Ereignissen ist langfristig erkennbar gewesen.
Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein - ich
werde versuchen, das noch an einigen anderen Punkten
deutlich zu machen -, dass wir es in Khartoum mit
einem Regime zu tun haben, das nicht darauf ausgelegt
ist, den Menschenrechten und dem Respekt gegenüber
anderen Religionen und Rassen die notwendige Sorgfalt
und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Man muss allerdings korrekterweise hinzufügen, dass
sich zum Beispiel die Repräsentanten der so genannten
Südsudanesen auch nicht mit Ruhm bekleckert haben.
Die Verbrechen bis hin zu Morden und Vergewaltigungen und das tägliche Drangsalieren anderer werden in
diesem Lande auf allen Seiten praktiziert. Ich glaube,
dass es in der Tat richtig ist, dass die Europäische Union
und die internationale Gemeinschaft stärker als bisher
darauf hinweisen.
Zu vielen Konflikten haben wir zwar nicht geschwiegen, aber mich hat es verwundert, dass wir jahrelang
mehr oder weniger nur zugeschaut haben. Wenn wir uns
heute Rechenschaft ablegen, dann müssen wir eingestehen: So viel hat sich nicht verändert. Wenn man die Berichterstattung über Afrika genau verfolgt sowie an den
Kongo, den Hartwig Fischer als Beispiel genannt hat, und
an das denkt, worauf Hans Büttner verwiesen hat, dann
stellt man fest, dass tagtäglich in vielen Ländern des afrikanischen Kontinents viel mehr Menschen ums Leben
kommen als zum Beispiel im Irakkonflikt. Damit kein
Missverständnis entsteht: Ich möchte natürlich nicht aufrechnen. Aber auch daran kann man erkennen, dass die
Weltöffentlichkeit die einzelnen Konflikte mit unterschiedlichen Maßstäben misst und mit unterschiedlicher
Aufmerksamkeit verfolgt. Vielleicht ist die heutige Debatte eine Gelegenheit, stärker darauf hinzuweisen.
({0})
Man kann es aber auch zynischer formulieren, wenn
man will: Im Schatten der Konflikte im Nahen und
Mittleren Osten sind Millionen Menschen in Afrika
ums Leben gekommen. Ich kann mich nicht erinnern
- das ist eine kühle Feststellung -, dass sich bedeutende
Führer der verschiedenen christlichen Kirchen in der
Welt und insbesondere in Europa zu den Massakern in
Afrika geäußert haben.
({1})
- Können Sie mir den Namen eines bedeutenden deutschen Kirchenführers nennen, der in aller Deutlichkeit
gesagt hat: Das, was wir an dieser Stelle für falsch halten, halten wir auch an jener Stelle für falsch?
Tatsächlich wurde immer nur eine Seite kritisiert. Ich
glaube, das müssen wir uns vorhalten lassen. Im KonKlaus-Jürgen Hedrich
flikt an den Großen Seen - das wissen auch Sie - haben
sogar Kirchenführer dazu aufgerufen, sich an den Massakern zu beteiligen. Wenn man heute mit Verantwortlichen der katholischen Kirche und insbesondere im Vatikan redet, dann stellt man fest, dass diese - zu Recht darauf verweisen, dass dies eines der dunklen Kapitel
der jüngsten Geschichte der christlichen Kirchen gewesen ist.
Ich möchte hier keine Aufrechnungen vornehmen.
Mir geht es nur darum, darauf hinzuweisen, dass wir uns
den bewaffneten Konflikten und dem Morden in Afrika
nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit zuwenden, mit
der wir das bei anderen Konflikten tun. Ich wiederhole:
Vielleicht trägt die heutige Debatte dazu bei, dies ein
wenig zu ändern.
({2})
Wir beklagen zu Recht, dass die Bundesregierung in
den letzten Jahren das finanzielle Engagement für Afrika
- ich meine nicht Ihr persönliches Engagement, Frau
Ministerin; diese Anrede ist ja jetzt formell korrekt - zurückgefahren hat. Aber noch ein anderer Punkt ist wichtig. Wir können nur dort Hilfe, auch finanzielle, leisten
und gegenüber dem deutschen Steuerzahler rechtfertigen, wo die Eliten der betroffenen Länder selbst bereit
sind, die Ressourcen, die den Ländern zur Verfügung
stehen, auch einzusetzen.
({3})
Ich nenne als negative Beispiele nur Herrn Mugabe in
Simbabwe und den häufig gepriesenen Herrn Museveni
in Uganda. Es wird immer behauptet, dass die HIPCInitiative dort gegriffen hätte. Ich kann nur darauf verweisen, dass die Einnahmen aus dem Schmuggel über
die Grenze, mit denen die Waffenkäufe finanziert werden, im Staatshaushalt erst gar nicht auftauchen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig. - Ein anderes
negatives Beispiel ist die Clique um dos Santos unter
Führung seiner Tochter Isabell in Angola, die inzwischen zu den Reichsten gehört, die alle Ressourcen des
Landes ausbeuten, ohne sie für den Aufbau des Landes
einzusetzen, und die sich gleichzeitig mit der Bitte um
Hilfe an die internationale Gemeinschaft wendet.
Vielleicht müssen wir in Zukunft viel härtere Maßstäbe anlegen. Wir sollten zwar immer bereit sein, humanitäre Hilfe zu leisten; das ist ja unstrittig. Aber zu einer klassischen Kooperation sollte es erst dann kommen,
wenn die Eliten - das gilt in besonderem Maße für
Afrika, wenn auch nicht nur - Vorleistungen erbracht haben und die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen,
auch wirklich zum Aufbau ihrer Länder nutzen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/3071 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen mit dem Titel „Afrika auf dem Weg zur Eigenverantwortung und Selbstbestimmung unterstützen“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2478 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
auf Drucksache 15/3072 zum Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig unterstützen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Opposition angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
auf Drucksache 15/3073 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Eine neue Politik für Afrika
südlich der Sahara - Afrika fordern und fördern“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2574 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und des Abgeordneten Heinrich
gegen die Stimmen der CDU/CSU und der sonstigen
FDP-Abgeordneten angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf
Drucksache 15/3086 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Umdenken in der Kongopolitik“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2335 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden.
Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 15/3040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Jörg van Essen, Sibylle Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes
({0})
- Drucksache 15/2477 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit einem Zitat beginnen:
Aus der Zulässigkeit, … die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu privilegieren, lässt sich
kein … Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen.
Dies ist eine der Kernaussagen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 zum Lebenspartnerschaftsgesetz.
Das zustimmungspflichtige Ergänzungsgesetz ist seinerzeit am Widerstand des Bundesrates gescheitert. Zum
Zeitpunkt der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss
herrschte die Rechtsauffassung vor, eine weitgehende
Gleichstellung zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe
verstoße gegen Art. 6 Grundgesetz. Hier hat das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts mit eindeutigen Worten
für Klarheit gesorgt. Es hat unter anderem ausgeführt,
dass die Ehe durch das Gesetz weder beschädigt noch
sonst irgendwie beeinträchtigt werde.
({0})
- Auch wir, im Übrigen.
Das Gericht hat insbesondere auf Ungleichgewichte
im geltenden Recht hingewiesen. So haben die Unterhaltslasten von Lebenspartnern bisher zu keinen Änderungen des Einkommensteuerrechts geführt. Ferner hat
es betont, dass die sozialhilferechtliche Schlechterstellung der Ehe gegenüber der Lebenspartnerschaft einen
Verfassungsverstoß bedeuten könnte.
Die FDP hat das Urteil aus Karlsruhe sehr begrüßt.
({1})
Besonders wichtig war uns, dass mit dem Richterspruch
endlich Rechtssicherheit für alle bereits eingetragenen
Lebenspartner besteht.
Wir waren sehr überrascht - um das zu Ihnen zu sagen, Frau Kollegin -, dass die Koalition unmittelbar
nach Verkündung des Urteils aus Karlsruhe keine weiteren Anstrengungen unternommen hat, um das Ergänzungsgesetz erneut auf die Tagesordnung des Vermittlungsausschusses zu setzen.
({2})
Man darf nämlich nicht immer nur reden, sondern man
muss auch einmal handeln; das gilt insbesondere für die
SPD und die Grünen.
({3})
Wir haben Rot-Grün mehrfach zum Handeln aufgefordert. Unserer Meinung nach hätte es nach den klaren
Worten des Gerichts eine realistische Chance für eine
sach- und ergebnisorientierte Beratung im Vermittlungsausschuss gegeben.
Auch in anderen Bereichen sieht Rot-Grün keinerlei
Handlungsbedarf.
({4})
Die vom Bundestag in einer einstimmig angenommenen
Entschließung geforderte Errichtung einer MagnusHirschfeld-Stiftung zum kollektiven Ausgleich von nationalsozialistischem Unrecht bei der Verfolgung von
Homosexuellen wird von Rot-Grün weiterhin behindert.
Erst gestern haben wir den Gesetzentwurf der FDP dazu
im Rechtsausschuss behandelt. Anschließend haben Sie
von Rot-Grün die weitere Beratung vertagt, weil Sie
keine Antwort darauf hatten. So kann man mit solchen
Problemen nicht fertig werden.
({5})
Diese Nullbilanz zeigt mir deutlich, was von der
einstmaligen angeblichen Bürgerrechtspartei der Grünen
heute noch übrig geblieben ist, nämlich gar nichts.
({6})
Nun zu unserem Gesetzentwurf im Einzelnen. Nach
jetziger Rechtslage stehen Rechte und Pflichten der eingetragenen Lebenspartner in einem unausgeglichenen
Verhältnis. Viele Rechtsbereiche wie das Steuerrecht und
das Sozialhilferecht wurden im Lebenspartnerschaftsgesetz nicht berücksichtigt.
({7})
Die FDP nimmt den Handlungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts ernst. Unser Entwurf schlägt daher vor,
alle wesentlichen Bereiche zu regeln, die das Lebenspartnerschaftsgesetz nicht erfasst und die zum Abbau der
Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare zwingend
erforderlich sind.
Wir fordern, dass die Lebenspartnerschaft bundeseinheitlich vor dem Standesamt begründet werden soll.
Daneben fordern wir die völlige Gleichstellung von
Lebenspartnern im Erbschaftsteuerrecht und die Einführung eines Realsplittings im Einkommensteuerrecht. Bei
der Prüfung der Bedürftigkeit in der Sozialhilfe, bei der
Ausbildungsförderung und beim Wohngeld sollen Einkommen und Vermögen des Lebenspartners einbezogen
werden. Die wesentlichen beamtenrechtlichen Regelungen sollen für Lebenspartner für sinngemäß anwendbar
erklärt werden.
Ein zentraler Punkt unseres Gesetzentwurfs ist die
Begründung eines gemeinschaftlichen Adoptionsrechts für eingetragene Lebenspartner. Nach geltendem
Recht ist die Einzeladoption bereits möglich. Für uns ist
einzig und allein das Wohl des Kindes ausschlaggebend.
Ein Kind hat gute Entwicklungschancen in einer stabilen
und gefestigten Beziehung, wie sie auch eine eingetragene Lebenspartnerschaft bieten kann.
({8})
Die FDP ist daher der festen Überzeugung, dass eine gemeinschaftliche Adoption zweier Partner dem Kindeswohl eher entspricht als eine heute zulässige Einzeladoption.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Ich
habe sie schon verlängert.
Ich bin gleich fertig.
Der Bundeskanzler hat in einem Interview im September letzten Jahres gesagt: Ein explizites gemeinsames Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare ist
rechtlich schwierig und derzeit nicht vorgesehen. - Wir
sind auf die Diskussion mit dem Bundeskanzler, vor allem aber auch auf die in Ihrer Koalition, sehr gespannt.
Viel Vergnügen!
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine
Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was für
ein wohltuender Unterschied besteht doch zwischen dem
Klima, in dem wir uns heute über Ihren Entwurf eines
Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes unterhalten, und der aufgeladenen und aufgeheizten
Stimmung im Jahre 2000, als wir uns hier über das Lebenspartnerschaftsgesetz ausgetauscht haben.
({0})
Damals sind die Emotionen wirklich hochgegangen.
({1})
- Das ist ja gar nicht als Kritik gemeint. - Ich empfinde
es als sehr angenehm, dass wir uns heute einmal mit diesen Fragen ganz sachlich auseinander setzen. Das wird
Zeit, da haben Sie Recht. Auch ich freue mich auf die
Auseinandersetzung.
({2})
Die ganze Aufregung konnte ich damals angesichts
dessen, was wir eigentlich wollten - das muss man sich
immer wieder vor Augen halten -, nicht so ganz nachvollziehen. Eigentlich hieß dieses Lebenspartnerschaftsgesetz „Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung
gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften“. Allein anhand dieses, wenn auch etwas
schwierigen Titels ist erkennbar, dass es uns darum ging,
Diskriminierung abzubauen. Bevor es dieses Gesetz
gab, hatten gleichgeschlechtliche Partner, egal, wie
lange sie miteinander zusammen gelebt hatten, füreinander eingestanden waren und Sorge füreinander wahrgenommen hatten, in bestimmten Konfliktsituationen
keine Rechte. Sie wurden wie Fremde behandelt, hatten
also im Krankenhaus kein Recht auf Auskünfte zur Situation des Partners und keinerlei Rechte, wenn der Partner starb. Es war an der Zeit, dass mit dieser massiven
Diskriminierung endlich Schluss gemacht wurde.
Das hat nicht nur diejenigen betroffen, die direkt persönlich involviert waren, sondern es ging auch um das
familiäre Umfeld. Durch dieses Gesetz, das wir im
Jahre 2000 auf den Weg gebracht haben, wurden auch
Eltern von homosexuellen Kindern darin bestärkt, die
Homosexualität ihres Kindes nicht als Unglück zu empfinden, sondern das Kind so anzunehmen, wie es ist. Zugleich erfuhr man dank dieses Gesetzes eine gewisse Art
von öffentlicher Unterstützung, um das Kind vor Diskriminierung zu schützen.
Schließlich konnte einem Elternteil auch nicht mehr
das Sorgerecht für das leibliche Kind wegen eigener Homosexualität abgesprochen werden. Es musste in einer
homosexuellen Lebensgemeinschaft auch nicht mehr
heimlich zusammengelebt werden, sondern man konnte
sie ausleben. Eine solche Partnerschaft und auch das
Wohl eines Kindes, das in ihr lebte, wurde also durch
Heimlichtuerei nicht mehr beeinträchtigt.
Ich glaube, es wurde deutlich, dass es uns um die Anerkennung anderer Lebensformen unter Einbeziehung
der Sexualität ging. Dabei ist Sexualität in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften genauso wie in
heterosexuellen Gemeinschaften immer nur ein Aspekt
der Partnerschaft und nicht der alles umspannende.
Es ging nicht darum, dass sich eine bestimmte Gruppe
à la carte Rechte auswählen kann, vielmehr ging es um
die Ermöglichung dauerhafter Bindungen mit Rechten
und Pflichten. Wir haben von Anfang an den Weg eines
eigenen familienrechtlichen Instituts gewählt, also einer
familienrechtlichen Einrichtung eigener Art. Familie erscheint heute eben in vielerlei Gestalt. Damit haben wir
von Anfang an klargestellt, dass diese Partnerschaft weder das Gleiche wie die Ehe ist, noch in diese Richtung
geht oder ihr womöglich in die Quere kommt, wie es ja
zum Teil unterstellt wurde, sondern etwas völlig anderes
ist.
Nachdem sich dann im Jahre 2000 abzeichnete, dass
wir für diese Vorhaben keine Mehrheit im Bundesrat bekommen würden, haben wir den Gesetzentwurf in einen
zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen
Teil aufgesplittet. Dadurch kam es zu meiner Meinung
nach sehr unbefriedigenden Lösungen. Beispielsweise
wird im zustimmungsfreien Teil die gegenseitige Unterhaltsverpflichtung geregelt - da haben wir also eine
Pflicht begründet -, während das Recht, solche Leistungen wie heterosexuelle Paare von der Steuer abziehen zu
können, im zustimmungspflichtigen Teil geregelt worden wäre, wenn er den Bundesrat bzw. den Vermittlungsausschuss passiert hätte. Das ist leider nicht der Fall gewesen. Man könnte noch mehrere solcher Beispiele
aufzeigen. Daran sieht man, wie falsch die Blockade des
Bundesrates war.
({3})
Der zustimmungsfreie Teil wurde hier mehrheitlich
beschlossen, und zwar, wenn ich mich richtig erinnere,
gegen die Stimmen der FDP bei einer Enthaltung. Ich
bin aber froh, dass die FDP mittlerweile ihre Meinung
geändert hat und zur Einsicht gekommen ist, und freue
mich auf die Diskussionen über den Gesetzentwurf, den
Sie hier heute einbringen. Die Intentionen Ihres Antrages unterstütze ich ausdrücklich. Ihr Vorschlag hat im
Wesentlichen allerdings Regelungen zum Inhalt, die in
unserem ursprünglichen Entwurf enthalten waren. So
viel zu Ihrem Hinweis, Herr Funke, dass Sie Dinge aufgriffen, die Rot-Grün nicht anpacken will.
({4})
Sie könnten alle durchaus schon längst in Kraft sein.
Das gilt beispielsweise für die bundeseinheitliche Zuständigkeit der Standesämter. Wie lange haben wir darum gekämpft und um Einsicht geworben!
({5})
Was Sie zur Anwendbarkeit der beamtenrechtlichen
Regelungen vorschlagen, ist völlig identisch mit dem
von uns im Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Lebenspartnerschaftsgesetzes.
({6})
Das Thema Berücksichtigung der Einkommen bei der
Bedürftigkeitsprüfung im Sozialrecht, Herr Funke, ist
schon längst erledigt, nämlich mit dem SGB XII; das
Gesetz tritt am 1. Januar 2005 in Kraft. Insofern hat sich
Ihr Antrag erledigt.
Auch die steuerrechtliche Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtung von Lebenspartnern hatten wir bereits im Entwurf 2000 vorgesehen. Allerdings ging unser
Entwurf in diesem Punkt sogar noch ein Stück weiter als
Ihrer, denn wir hatten volles Splitting vorgesehen; in Ihrem Entwurf ist, wenn ich das richtig sehe, nur ein beschränktes Realsplitting enthalten.
Gleiches gilt für die erbschaftsteuerliche Gleichstellung; auch sie war in unserem Entwurf enthalten.
Neu ist - man muss ehrlicherweise sagen, dass dieser
Punkt im Jahr 2000 bei uns nicht vorgesehen war - das
gemeinschaftliche Adoptionsrecht. Wir hatten damals
den Eindruck, dass die Gesellschaft noch nicht so weit
war, eine solche Regelung mitzutragen und zu akzeptieren, dass sie im Interesse und zum Wohle des Kindes ist.
Wir sollten heute ohne Scheuklappen und Vorurteile an
dieses Thema herangehen und es diskutieren. Ich bin gespannt und freue mich darauf.
Darüber hinaus - deshalb kann Ihr Antrag nur eine
Grundlage sein - müssen wir uns über die Hinterbliebenenversorgung im Todesfall und in diesem Zusammenhang vielleicht auch über Unterhaltsregelungen für Kinder Gedanken machen, wobei das nicht unbedingt in das
Ergänzungsgesetz aufgenommen werden muss. Aber wir
sollten jetzt beginnen, die gesamten Lebensumstände
vom Grundsatz her neu zu regeln.
Wie gesagt, Ihr Vorschlag ist ein Schritt in die richtige
Richtung, worüber ich mich freue. Vielleicht schaffen
Sie es ja, auch Ihre Parteikolleginnen und -kollegen in
den Ländern mitzunehmen. Vielleicht schaffen wir es in
dieser Runde sogar, die Kolleginnen und Kollegen von
der Union mit ins Boot zu nehmen,
({7})
nachdem eines der schlagenden Argumente, nämlich
dass das Gesetz gegen Art. 6 des Grundgesetzes verstoßen würde, vom Bundesverfassungsgericht weggefegt
worden ist.
Frau Kollegin, denken auch Sie an die Zeit?
Ja; ganz kurz zum Schluss. - Es hat den Antrag auf
einstweilige Anordnung abgelehnt und die Gründe in
seinem Urteil sehr ausführlich dargestellt. Damit hat es
Klarheit geschaffen. Da nun also das wichtigste Argument
Frau Kollegin, bitte!
- zu Ihrer vollsten Zufriedenheit behandelt worden
ist: herzlich willkommen zu den Beratungen im Rechtsausschuss! Ich freue mich darauf.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor vier
Jahren habe ich von dieser Stelle aus zur Rehabilitierung
der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen
geredet. Ich gebe freimütig zu, dass mir die Situation
von Lesben und Schwulen in unserem Land und erst
recht der historische Rückblick über Jahrzehnte vor dieser Zeit nicht gerade geläufig war. Wer kann das auch
von sich behaupten? Daher hatte ich in meiner damaligen Rede etwas ausführlicher als in diesem Haus allgemein üblich über die rechtliche wie gesellschaftliche
Entwicklung gesprochen, die homosexuelle Menschen
in unserem Land betrifft.
Heute wie damals geht es mir darum, uns alle ein wenig daran zu erinnern, welch dramatische Entwicklung
in den vergangenen sechs Jahrzehnten zu verzeichnen
war, und uns vielleicht auch ein wenig dafür zu sensibilisieren, dass jede Entwicklung ihre Zeit hat - und manchmal auch ihre Zeit braucht.
Ich will uns allen in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen, dass der unselige § 175 nicht in den 70erJahren unter den Kanzlern Schmidt oder Brandt, sondern
1994 unter Kanzler Helmut Kohl und einer CDU/CSUFDP-Koalition endgültig aus dem deutschen Strafgesetzbuch verschwand.
Wiederum zehn Jahre später empfinden wir dies alles
als lang, lang her. Vieles im Umgang mit Schwulen und
Lesben ist alltäglich und selbstverständlich in unserem
Land geworden, erst recht in großen Städten wie Berlin.
Dies gilt auch für unsere Parteien. Beispielsweise war
auf dem letzten Landesparteitag der hessischen CDU ein
Stand der LSU zu finden und wir alle kennen inzwischen
prominente Schwule und Lesben auch als Spitzenpolitiker. Vor Jahrzehnten wäre dies im Parlament schlechterdings undenkbar gewesen. Ob allerdings eine sexuelle
Präferenz, wo sie doch offenbar unwichtig ist, überhaupt
betont werden soll, wage ich eher zu bezweifeln. Wenn
der Regierende Bürgermeister von Berlin auf dem Nominierungsparteitag mit dem Spruch „Ich bin schwul und das ist auch gut so“ geradezu kokettiert, dann ist das
eher das Niveau von Jürgen Drews und Dieter Bohlen.
({0})
Allerdings ist manches vielleicht doch nicht so alltäglich und selbstverständlich, wie wir es uns manchmal
denken. Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne in dieser
Stadt lebe. So lese ich nicht nur den Politikteil der hiesigen Presse, sondern verirre mich gelegentlich auch einmal in den Lokalteil. Beim Durchforsten des Lokalteils
der „Berliner Zeitung“ bin ich vor etwa zwei Monaten
über einen Bericht gestolpert, in dem es hieß, dass in
dieser Stadt ein Café names „PositHiv“ - es ist Berlins
einziges Selbsthilfe-Café für HIV-Positive, in dem viele
Schwule und Lesben verkehren - recht häufig unangenehmen Besuch junger Leute mit einem etwas anderen
kulturellen Hintergrund erhält, die offensichtlich massive Probleme mit homosexuellen Menschen und deren
Lebensstil haben. Wer es genau wissen will, dem sage
ich: Im Zeitungsbericht wird klipp und klar von arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen gesprochen,
die Probleme bereiten. Sie warfen mit Pflastersteinen
und machten Sprüche wie: Haut ab, ihr schwulen Säue!
Offensichtlich ist es nicht nur die Stellung und
Gleichberechtigung der Frau, die unser freiheitlicher
Staat zu schützen hat. Wenn wir über Zuwanderung und
Kopftuch reden, dann sollten wir uns auch in diesem Zusammenhang nicht nur einem paradiesischen Wolkenkuckucksheim hingeben.
In diesem Kontext erlaube ich mir, eine Passage aus
der Erklärung des CDU-Bundesvorstandes zum damaligen Regierungsentwurf zu den gleichgeschlechtlichen
Lebenspartnerschaften zu zitieren. Dort heißt es wörtlich:
Homosexuelle Menschen und Lebensgemeinschaften haben in unserer Gesellschaft Anspruch auf
Nichtdiskriminierung, Achtung und Nichtausgrenzung.
({1})
Wo insofern Defizite bestehen, sind dies in aller Regel nicht Fragen des Rechts, sondern des alltäglichen Umgangs in der Gesellschaft.
({2})
Die Gesellschaft, ihre Mitglieder und Institutionen
sind aufgerufen, Zurücksetzungen und Benachteiligungen im Alltag entgegenzutreten.
Wir Christdemokraten respektieren selbstverständlich
auch die Entscheidung von Menschen, die in anderen Formen als der Ehe einen partnerschaftlichen Lebensentwurf
zu verwirklichen suchen. Schließlich ermöglichen unsere
pluralistische Gesellschaft und unser freiheitlicher Staat
dem Einzelnen eine weitestgehende Freiheit in der privaten Lebensgestaltung.
Wir Christdemokraten stehen allerdings auch dafür,
Maß und Mitte zu wahren. Bei den anstehenden Fragen
zur weiteren rechtlichen Ausgestaltung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften geht es um Maß
und Mitte. Es geht auch darum, einmal innezuhalten und
der Versuchung zu widerstehen, gleich alles bis ins letzte
Detail positiv-rechtlich regeln zu wollen.
({3})
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Wahrung
von Maß und Mitte geradezu eine friedensstiftende Wirkung für unsere Gesellschaft entfaltet. Wir alle erinnern
uns doch noch an die heftigen Debatten zum Lebenspartnerschaftsgesetz in der vergangenen Legislaturperiode.
Frau Lambrecht, Sie haben gesagt, dass der Ton damals
etwas schärfer war und dass wir heute sehr viel moderater an die Sache herangehen.
An dieser Debatte hat nicht nur der eine oder andere
Fachpolitiker in diesem Hause teilgenommen. Es war
vielmehr eine große gesellschaftliche Debatte. Nicht zuletzt die beiden großen Kirchen und auch nicht nur deren
Spitzen, sondern viele engagierte Christen und selbstverständlich auch viele Christen in unserer Fraktion
- schließlich sind wir Christdemokraten - haben sich
hieran oft leidenschaftlich beteiligt. Schließlich ging es
auch um recht grundsätzliche Fragen, die nicht nur Fragen des Rechts berühren.
Aber gerade weil mir die Leidenschaftlichkeit der Debatte noch so präsent ist, habe ich auch noch den Schlusssatz meiner Kollegin Ilse Falk - sie ist anwesend - im
Ohr, die ihre damalige Rede mit den Worten beendete:
Versuchen wir doch alle, Anderssein und Andersdenken in gegenseitigem Respekt zu ertragen.
Wir Christdemokraten haben damals in diesem Haus,
aber auch im Bundesrat klar und eindeutig die Gesetzentwürfe der Regierungskoalition zur gleichgeschlechtlichen
Lebenspartnerschaft abgelehnt. Hierzu stehen wir auch
heute noch. Da wir das Gesetz formell und materiell für
verfassungswidrig hielten, insbesondere weil das Lebenspartnerschaftsgesetz mit dem nach Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz gebotenen besonderen Schutz von Ehe und Familie
nicht im Einklang stehe und auch das in dieser Grundrechtsnorm enthaltene Abstandsgebot nicht wahre,
wurde von Bayern, Sachsen und Thüringen das Bundesverfassungsgericht mit der Bitte um Entscheidung angerufen.
({4})
Das haben auch Sie eben gesagt. Unabhängig von der
Frage, ob ich eine Entscheidung Karlsruhes für richtig,
falsch oder nachvollziehbar halte, schätze ich als Demokrat, Jurist und schließlich auch als ehemaliger Richter
und Mitglied des Hessischen Staatsgerichtshofs die klärende Funktion eines Karlsruher Rechtsspruchs. Das
müssten sich einige von Ihnen, wenn Ihnen wieder einmal ein Richterspruch nicht passt, hinter die Ohren
schreiben. Im übertragenen Sinne gilt also für das Bundesverfassungsgericht - ich zitiere ja immer gerne aus
der römischen Rechtsgeschichte -: Roma locuta, causa
finita.
Wir haben also nun ein neues, vom höchsten Gericht
anerkanntes Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare. Karlsruhe
hat immens viel Mühe darauf verwandt, darzulegen, dass
der Ehe keine Einbußen durch ein Rechtsinstitut drohen,
das sich ausschließlich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können. Profan gesprochen
heißt das: Ehe und Lebenspartnerschaft haben nichts
miteinander zu tun und stehen unverbunden nebeneinander.
Frau Lambrecht, diese Konstruktion haben Sie vielleicht missverstanden. - Übrigens, Ihre Diktion war eben
schon wieder ein bisschen geladen, vor allem Ihre Aussage, das Bundesverfassungsgericht habe den Antrag der
CDU-Länder hinweggefegt. - Aber gerade aus dieser
Konstruktion heraus sah Karlsruhe den Gesetzgeber
nicht gehindert oder, anders formuliert, absolut frei, für
die gleichgeschlechtliche Partnerschaft Rechte und
Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich- oder
nahe kommen. Es liegt also ausschließlich am Gesetzgeber, ganz bewusst zu entscheiden, ob überhaupt und,
wenn ja, in welchem Umfang Rechte und Pflichten für
diese Gruppe konstituiert werden. Es gibt aber keinen
Zwang zu handeln, wie Sie das eben gesagt haben, keinen richterlichen Appell, alles so zu regeln, dass es mit
der Ehe nahezu identisch wird.
({5})
Dies sehen offensichtlich auch viele Gerichte in unserem
Lande so. Mit schöner Regelmäßigkeit werden Klagen
abgewiesen, die auf eine Gleichbehandlung mit der
Ehe abstellen,
({6})
immer mit dem Hinweis, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft und die Ehe seien zwei Paar Schuhe
und der Gesetzgeber habe zu entscheiden, was dieser besonderen Lebenspartnerschaft zukommt und was nicht.
({7})
Ich halte diese Argumentation für richtig, schlüssig und
am Urteil unseres Verfassungsgerichts orientiert.
Deswegen war ich schon ein bisschen überrascht, als
ich unlängst vom Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum
Ortszuschlag bei eingetragenen Lebenspartnerschaften
hörte. Unabhängig davon, ob ich im vorliegenden Fall
nun den höheren Ortszuschlag für gerecht oder ungerecht, angemessen oder nicht angemessen halte, stört
mich doch der mit Händen zu greifende Wille des Bundesarbeitsgerichts sehr, mit den Instrumenten eines Gerichts Politik treiben zu wollen.
Nun ist die FDP-Fraktion initiativ geworden und hat
den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht. Ich bin
sehr gespannt, wie die Regierungskoalition hiermit umgehen wird. Wenn ich daran denke, wie Rot-Grün mit
dem FDP-Entwurf zur Magnus-Hirschfeld-Stiftung umgeht, und wenn ich daran denke, wie Herr Beck mit dieser Stiftung in der letzten Legislaturperiode umgegangen
ist, dann schwant mir einiges.
({8})
Ich jedenfalls habe den Eindruck gewonnen, dass insbesondere die Grünen mit Argusaugen darüber wachen,
dass sich ja keine Sozialdemokratin oder Liberale - von
Christdemokratinnen völlig zu schweigen - erdreistet,
etwas zum Wohl dieser Gruppe zu unternehmen.
({9})
Meine geschätzte Kollegin Michaela Noll kann inzwischen sicherlich einiges zu dieser unseligen Art des Umgangs beisteuern. Recht paternalistisch erheben die Grünen nach meinem Eindruck so etwas wie einen
Exklusivanspruch auf diese Gruppe und sind bereit,
recht bissig zu werden, wenn das grüne Logo nicht
draufpappt.
({10})
Das ist eine Patentierung, eine Lex Beck. Herr Beck, es
löckte Sie doch gegen den Stachel, dass es nicht um die
Gruppen ging, die Sie repräsentieren. Daher haben Sie
die Magnus-Hirschfeld-Stiftung in der letzten Legislaturperiode in grenzenlosem Egoismus an die Wand fahren lassen. Das muss man Ihnen einfach einmal sagen.
({11})
Mich wundert besonders, wie die Sozialdemokraten
mit sich umspringen lassen. Wir haben diese Woche
schon bei der Zuwanderungsdebatte erlebt, wer sich in
der Koalition offensichtlich als Herr im Hause fühlt:
Was der Zuwanderungsdebatte ihr Bütikofer, ist der
Schwulendebatte ihr Volker Beck. Dieses Platzhirschgehabe, Herr Beck, ist - das muss man wirklich sagen - in
unserem Parlamentarismus geradezu unerträglich.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, jetzt
habe ich fast keine Zeit mehr,
({13})
im Detail auf Ihren Gesetzentwurf einzugehen.
({14})
Noch 20 Sekunden.
({0})
Ich will noch feststellen: Die Grundposition meiner
Fraktion ist - das will ich in aller Deutlichkeit und Klarheit jenseits aller Detailfragen formulieren ({0})
- prima, Herr Bürsch -:
({1})
Wir sind grundsätzlich gegen eine Ausweitung der bestehenden Regelung.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren, für Ihre
Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Guten Tag, meine Damen und Herren! Schade, dass bei der letzten Rede trotz der längsten
Redezeit in dieser Debatte keine Zeit blieb, zum Thema
zu sprechen. Ich danke der FDP ausdrücklich, dass sie
uns Gelegenheit gibt, heute wieder über dieses Thema zu
sprechen; denn es ist notwendig und bietet die Möglichkeit, Bilanz zu ziehen.
Mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz haben wir einen
riesigen gesellschaftspolitischen Erfolg für die Minderheit der Schwulen und Lesben in unserem Land erreicht.
({0})
Anders als von vielen vermutet, hat das Gesetz die Akzeptanz der Lesben und Schwulen deutlich gestärkt. Lesbisches und schwules Leben ist nicht nur in den Großstädten, sondern auch in vielen kleinen Dörfern und
Gemeinden selbstverständlich und sichtbar geworden.
Schauen wir uns um: Das Abendland ist tatsächlich nicht
untergegangen. Am Ende hat auch das Bundesverfassungsgericht alle Argumente und Befürchtungen - übrigens auch die von Herrn Gerhardt und Herrn
Westerwelle von der FDP -, unser Gesetz sei verfassungswidrig, zurückgewiesen. Schön, dass Sie jetzt
selbst einbringen, was Sie mal unlängst abgelehnt haben!
Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
an vielen Punkten fein säuberlich das abmalt, was wir als
Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz vorgelegt haben.
Das freut uns. Im Himmel ist immer mehr Freude über
einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte. Das
zeigt schlichtweg, dass wir für unsere Perspektive der
Gleichstellung dieser Minderheit gesellschaftspolitisch
immer mehr Unterstützung finden. Vielleicht ist die Unterstützung so weit gediehen, dass die FDP in der einen
oder anderen Landesregierung den Koalitionspartner zur
Zustimmung zu diesen Forderungen bewegen kann.
({1})
Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag die
Gleichstellung vorgenommen. Übrigens, Herr Gehb,
SPD und Grüne haben sich das gemeinsam vorgenommen, da gibt es keinen Wettbewerb. Wir ziehen an einem
Strang, wie wir es auch in der vergangenen Wahlperiode
getan haben, als Margot von Renesse, Hertha DäublerGmelin, der Kollege Scholz, ich und andere an dem Gesetzgebungsverfahren mitgewirkt haben. Ohne alle diese
Beteiligten hätte es keinen Erfolg gegeben. Das möchte
ich an dieser Stelle sagen, damit kein falscher Zungenschlag in diese Debatte kommt.
({2})
Zu dem Gesetzentwurf der FDP muss man sagen: Inzwischen hat Karlsruhe entschieden. Wir haben damals
vieles so formuliert - gegebenenfalls hätte man dann
entsprechend argumentieren können -, dass ein Abstand
zur Ehe sichtbar wird, auch wenn wir ihn politisch und
verfassungsrechtlich nicht wollten. Wir wollten aber
Volker Beck ({3})
nicht das Risiko eingehen, dass Karlsruhe das ganze Gesetz aufhebt. Deshalb haben wir uns gemeinsam für
einen vorsichtigen Weg entschieden.
Wir wollen das bestehende Gesetz jetzt überarbeiten.
({4})
Wir wollen die Differenzen und Unübersichtlichkeiten
beseitigen, die wir damals aus diesen Überlegungen heraus in das Gesetz aufgenommen haben. Wir werden gemeinsam - das hat die Koalition so verabredet - vor der
Sommerpause einen ersten Schritt unternehmen. Danach
werden wir ein Ergänzungsgesetz vorlegen, bei dem es
nicht nur in diesem Hause, sondern auch in der anderen
Kammer, drüben im Bundesrat, zu dem Schwur kommen
wird. Dann werden wir sehen, wer es am Ende schafft,
bei der Abstimmung über die Forderung nach der
Gleichstellung im Steuerrecht, im Erbschaftsteuerrecht,
im Beamtenrecht und über die Einführung des Standesamts als bundesweit einheitlich zuständige Behörde eine
Mehrheit zu besorgen.
Ich wünsche mir, dass Sie dabei erfolgreich sind.
Schließlich geht es um das Ergebnis und nicht um parteipolitischen Wettstreit; es geht um die Durchsetzung
eines Prinzips: Wenn jemand, wie es in der Ehe der Fall
ist, die gleichen Pflichten übernimmt - Stichworte: sozialrechtliche Subsidiarität und Unterhalt -, müssen ihm
auch die gleichen Rechte eingeräumt werden.
({5})
Ich bin dankbar, dass das Bundesarbeitsgericht
diese rechtlichen Überlegungen angestellt und sehr präzise formuliert hat:
Das Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft begründet einen neuen Familienstand. Die damit verbundenen Pflichten im Unterhaltsrecht entsprechen denen der Ehe. Die Wesensmerkmale des Instituts
eingetragene Partnerschaften sind wie bei der Ehe
ausgerichtet auf eine exklusive, auf Dauer angelegte und durch staatlichen Akt begründete Verantwortungsgemeinschaft, deren vorzeitige Auflösung
einer gerichtlichen Entscheidung bedarf.
Daraufhin - so hat es das Bundesarbeitsgericht gesagt - müssen diese Lebenspartnerschaften auch den
entsprechenden Ortszuschlag nach BAT erhalten. Wenn
man diesen Rechtsgrundsatz ernst nimmt, muss man
auch die beamtenrechtliche Versorgung gleichstellen
und die Unterhaltspflichten steuerrechtlich in gleicher
Weise berücksichtigen. Genauso muss auch bei der Hinterbliebenenversorgung die entsprechende Gleichstellung erfolgen. Das sollten wir weiter in Angriff nehmen.
Ich habe gehört, Herr Gehb hält die Meinung eines jeden Richters, egal ob er in Karlsruhe am Bundesverfassungsgericht oder am Bundesarbeitsgericht in Erfurt judiziert, zwar für interessant. Er ist aber auch der
Auffassung, dass die CDU sie sich politisch nicht zu Eigen macht. Ich hoffe daher, dass Hamburg bei Ihnen
Schule macht. Ole von Beust hat angekündigt, man
wolle uns unterstützen. Das wollen wir mal sehen. Dort
wird es zum Schwur kommen und da werden wir Sie
stellen. Ich hoffe, dass die Diskussion in den nächsten
Wochen auch in Ihrer Partei so weitergeht, dass man
sagt: Gleiche Rechte, gleiche Pflichten - nur das ist fair.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Olaf Scholz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
gut, dass wir über den Gesetzesantrag sprechen können,
weil er uns eines zeigt: Es gibt so etwas wie eine Weiterentwicklung. Es macht Sinn, Gesetze zu beschließen, die
einen Fortschritt bedeuten. Es macht Sinn, zur Kenntnis
zu nehmen, dass es Urteile gibt, die einen Fortschritt bedeuten. Das ändert offenbar etwas im politischen Bewusstsein von Parteien, aber ganz offenbar auch etwas in
dem allgemeinen politischen Bewusstsein einer Bevölkerung.
Alles, was hier in dem letzten Gesetzgebungsverfahren ganz aufgeregt diskutiert worden ist, hat sich später
nicht bewahrheitet. Die Menschen haben das Gesetz mit
seiner Intention und seinen Regelungen akzeptiert. Man
kann davon ausgehen, dass die Lebenspartnerschaft
als ein Rechtsinstitut für Schwule und Lesben heute gesellschaftlich mehrheitlich akzeptiert ist und von den
Menschen unterstützt wird. Das ist ein Erfolg von Gesetzgebung und darauf können wir hier stolz sein.
({0})
Auch das, was der Kollege Gehb heute gesagt hat, ist
ein Beweis dafür, dass es Fortschritt gibt.
({1})
- Ich will das so sagen. Er hat immerhin gesagt: Das Gesetz gilt jetzt. Außerdem hat er hinzugefügt: Wenn das
Urteil gesprochen ist, gilt es erst recht. Man kann das
vielleicht, obwohl er das nicht gesagt hat, so auslegen,
dass es Meinung der CDU/CSU ist, dass es auch nicht
wieder rückwärts gehen soll. Das halte ich für einen
Fortschritt und das darf man auch sagen.
({2})
Gleichzeitig hat er aber auch gesagt, wie mit diesem
erreichten Fortschritt weiter umgegangen werden soll.
Er hat nämlich gesagt, Maß und Mitte müssten bewahrt
werden. Deshalb müsse man sehen, dass eigentlich das
Gericht nur gesagt habe, Ehe und Lebenspartnerschaft
stünden nebeneinander. Nebenbei bemerkt: Das ist das
Gegenteil dessen, was Sie bisher in den Debatten immer
gesagt haben. Daraus sei die Konsequenz zu ziehen, dass
es einen weiteren Fortschritt mit seiner Partei nicht geben könne.
Das ist, glaube ich, ein bisschen wenig. Sie sollten aus
der bisherigen Gesetzgebung und der öffentlichen Akzeptanz dieses Gesetzes gelernt haben, dass es auch Ihnen nicht schaden würde, wenn Sie sich einen Ruck
geben, weitermachen und bei der gesetzgeberischen
Fortentwicklung dieses Lebenspartnerschaftsinstituts
mithelfen würden. Ich glaube jedenfalls, auch Sie hätten
etwas davon. Mein Rat und mein Wunsch ist, dass Sie
bei den Beratungen über die Gesetze, die demnächst anstehen werden, helfen, hier einen Fortschritt zu erreichen, und nicht in einem Jahr oder in zwei oder drei Jahren sagen: Auch das, was wir beschlossen haben, ist gut
und das würden Sie nicht mehr rückgängig machen wollen, aber bei dem nächsten Fortschritt wollen Sie wieder
nicht mitmachen. - Ich glaube, manchmal ist es sinnvoller, schneller zu sein.
({3})
Der Antrag der FDP ist natürlich an der falschen
Stelle gestellt.
({4})
Die FDP ist an den Landesregierungen in BadenWürttemberg, Niedersachen, Sachsen-Anhalt und auch
in Rheinland-Pfalz beteiligt. Wir wissen alle, welches
das Problem des Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetzes der letzten Legislaturperiode war.
({5})
Das Problem war, dass es keine Mehrheit im Bundesrat
gegeben hat. Deshalb ist es richtig, jetzt zu sagen: Für
bestimmten gesetzgeberischen Fortschritt brauchen wir
den Bundesrat. Es wäre eine große Sache, wenn sich die
FDP endlich dafür einsetzen und darum bemühen würde,
dass es diesen gesetzgeberischen Fortschritt im Bundesrat gibt.
({6})
Sie aber haben das Gesetz hier beantragt.
({7})
Man stellt sich schon die Frage: Wozu?
({8})
Das ist sicherlich ein ganz klasse Flugblatt: auf Staatskosten in einer Buch- und Offsetdruckerei gedruckt und
ganz im Sinne Ihrer Partei auch noch ein Beitrag zur
Wirtschaftsförderung.
({9})
Es stellt sich aber auch die Frage: Was soll damit passieren? Daher kann man ihr Vorgehen wirklich nicht verstehen. Denn hier, an dieser Stelle, müssen Sie nicht erfolgreich und mutig sein. Nehmen Sie doch ein paar
Argumente aus Ihrem Argumentationskanon. Zum Beispiel ist Ihr Vorschlag, die Regelungen bezüglich der Zuständigkeit der Standesämter bundeseinheitlich zu gestalten, in der Tat eine gute Sache. Das bedeutet
Bürokratieabbau und Abbau von Wirrnis, weil überall
unterschiedliche Institutionen zuständig sind. Versuchen
Sie doch, Ihre konservativen Koalitionspartner in den
Bundesländern, in denen Sie zusammen regieren, davon
zu überzeugen.
({10})
Dann hätten Sie etwas geleistet und auch zum gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen. Hier haben Sie aber
nur auf Bundestagspapier ein Flugblatt produziert.
({11})
Das ist für die politischen Debatten der nächsten Monate natürlich hilfreich; aber es ist viel zu wenig. Deshalb will ich aus meiner Sicht noch etwas anderes sagen:
Gesetzgebung sollte nicht folgen- und wirkungslos sein.
({12})
Der Gesetzentwurf, den Sie hier eingebracht haben, wird
aber folgen- und wirkungslos bleiben. Anders verhielte
es sich mit einem Erfolg im Bundesrat, um den sich zu
bemühen Sie sich nicht getraut haben.
Was das zwischenmenschliche Leben betrifft - dieser
Meinung sind wir alle -, muss man sich oft dafür einsetzen, dass bestimmte Handlungen folgen- und wirkungslos bleiben. Aber eines ist ganz offensichtlich: Wir brauchen kein Safer Law.
({13})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2477 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2003 ({0})
- Drucksache 15/2600 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, unser lieber Kollege Dr. Willfried Penner.
({1})
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Sehr verehrte Frau Präsidentin Dr. Antje Vollmer!
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Grundsätzen
der inneren Führung, um deren Einhaltung sich der
Wehrbeauftragte von Gesetzes wegen zu kümmern hat,
gehört auch und gerade die Bindung der Bundeswehr an
das Grundgesetz, das Völkerrecht und das Verbot von
Angriffskriegen, das übrigens Verfassungsrang hat und
dessen Übertretung unter Strafe gestellt ist. Diese Bindungen haben trotz der gewaltigen Spannungen im Hinblick auf den Irakkrieg gehalten und sind nicht etwa politischen Opportunitäten zur Disposition gestellt worden.
Für die Orientierung der Bundeswehr und ihrer Soldaten
war das wichtig. Das war der jüngste und wichtigste Beleg dafür, dass Bundeswehr tatsächlich nur dann stattfindet, wenn es dafür eine rechtliche Legitimation gibt.
({3})
Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass
die politische Entscheidung gegen die Teilnahme am
Irakkrieg auch Schwierigkeiten für Soldaten nach sich
gezogen hat. Gelegentlich haben mir Soldaten berichtet,
dass sie wegen der Zurückhaltung Deutschlands im Irak
besonders von amerikanischen Kameraden scharf kritisiert worden seien. Bundeswehr und Soldaten müssen
davon ausgehen dürfen, dass sich solche Spannungen
nicht verstetigen, sondern dass politische Initiativen
dazu beitragen, sie baldmöglichst abzubauen.
({4})
Um nicht missverstanden zu werden, sage ich: Das ist
kein Votum gegen das Kriegsvölkerrecht. Deshalb war
es auch richtig, dass keine deutschen Soldaten an der
Festsetzung zur Überführung bestimmter Personen nach
Guantanamo beteiligt waren.
({5})
Es ist ein Eckstein der inneren Führung, dass der Soldat den Sinn und die Notwendigkeit seines Dienstes erkennen kann. Die auf dem Balkan eingesetzten Soldaten
wissen, dass ihr Dienst dort hilft, erneutes Morden,
Brennen, Schänden und Verstümmeln zu verhindern.
Aber sie müssen auch erfahren, dass militärischer Dienst
politische Fortschritte und Lösungen nicht ersetzen
kann. Gerade solche Soldaten, die schon mehrmals auf
dem Balkan waren, können diesbezüglich keine Veränderungen zum Positiven feststellen. Das nährt Zweifel
am Sinn des eigenen Dienstes. Es besteht politischer
Handlungsbedarf.
({6})
Was den Einsatz in Afghanistan und namentlich in Kunduz angeht, so wirkt das für die Bundeswehr statuierte
Verbot, gegen den Drogenanbau und Drogenhandel vorzugehen, für die Soldaten irritierend. Ihre Tatenlosigkeit
rückt sie in die Nähe einer ungewollten Komplizenschaft. Dies wird auch nicht dadurch aufgefangen, dass
für die Soldaten der Umgang mit Drogen bis hin zum Eigenkonsum wie im Inland strikt untersagt ist und ein
Verstoß dagegen regelmäßig die Entlassung aus der Bundeswehr zur Folge hat. Ein betroffener Mannschaftsdienstgrad hat es auf den Punkt gebracht und mir berichtet, es sei bizarr - so meint er -, dass die Bundeswehr
unnachsichtig gegen den Umgang mit Drogen vorgehe,
dieselbe Bundeswehr aber in Kunduz in der Drogenfrage
zum untätigen Zusehen verurteilt sei.
({7})
Dem ist nichts hinzufügen!
Seit der Wende 1989/1990 reißen gewaltige Veränderungen für die Bundeswehr nicht ab. Sie haben sehr
konkrete Auswirkungen auf immer mehr Soldaten. Nach
den jüngsten politischen Entscheidungen soll die Bundeswehr noch 250 000 Soldaten und Soldatinnen umfassen. Ich erinnere daran, dass es im Jahr der Wiedervereinigung noch 670 000 waren, 1994 370 000, Ende der
90er-Jahre 340 000 und bis zum vergangenen Jahr noch
283 000. Das sind nur Zahlen, aber mit den Zahlen sind
auch organisatorische Veränderungen der Bundeswehr
mit Auswirkungen auf ganz viele Soldaten verbunden:
620 Standorte gibt es gegenwärtig noch, in den nächsten
Jahren werden es wohl 200 weniger sein. Es wird vorgebracht, dass die Versetzungen immer häufiger würden
und in immer dichter werdenden zeitlichen Abständen
aufeinander folgten. Die Bundeswehr wird mehr und
mehr zur Pendlerarmee - mit vielfältigen Auswirkungen
auf die Soldaten und ihre Familien. Es ist zu hören, dass
allein in den Jahren 2002 und 2003 rund 9 000 Offiziere
und 25 000 Unteroffiziere versetzt werden sollten.
Das Sanitätswesen - auch eine gewaltige Veränderung - ist zur selbstständigen Teilstreitkraft entwickelt
worden. Die Streitkräftebasis ist eingerichtet worden.
Der Luftwaffe werden künftig weniger Fluggeräte zur
Verfügung stehen. Damit können nicht alle noch so gut
begründeten Erwartungen künftiger Piloten erfüllt werden. Die Bundeswehr als Panzerarmee hört auf zu bestehen - mit tiefen Auswirkungen auf das Selbstverständnis
der Teilstreitkraft Heer. Überdies, aber auch mit Erfolg
muss die Öffnung der Bundeswehr für Frauen - bei uneingeschränkter Verwendung - durchgesetzt werden; ich
füge hinzu - ohne hoffentlich missverstanden zu werden -: Das alles muss verkraftet werden. Vorrangig wird
der Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee, der
Mitte der 90er-Jahre mit der Bildung so bezeichneter
Krisenreaktionskräfte begonnen hat, anhalten. Dabei soll
die Landesverteidigung trotz nachlassender Bedeutung
mit immer knapper werdenden Mitteln aufrechterhalten
werden.
Das alles bleibt nicht Reißtischarbeit, es wird durchgeführt und bestimmt damit auch den Truppenalltag.
Von diesen Fakten, dieser Fülle der Veränderungen wird
das Klima in der Truppe bestimmt. Kein Wunder, dass es
auch durch Stress, durch Ärger und nicht zuletzt durch
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Frustration gekennzeichnet ist. Viele nehmen diese Veränderungen als nicht enden wollenden Prozess wahr,
ohne dass ein Ziel sichtbar würde, nach dessen Erreichen
man auch einmal Luft holen könnte. Einer der maßgebenden Faktoren dafür ist die Debatte um die Wehrform,
die nicht abreißt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was die
Wehrpflicht angeht, so wissen Soldaten sehr genau, dass
schon seit langem von der allgemeinen Wehrpflicht
nicht mehr die Rede sein kann.
({8})
Sie registrieren aufmerksam, dass der politische Rückhalt für eine Wehrpflicht eher abnimmt, an der sie im
Hinblick auf Nachwuchsgewinnung und gesellschaftliche Mischung in der Bundeswehr aber festhalten möchten. Es mehren sich die Zweifel, ob die Wehrpflicht mittelfristig noch Bestand haben kann. Diese Zweifel
werden durch Äußerungen ehemaliger hochrangiger Offiziere verstärkt. Einer Meldung der Nachrichtenagentur
ddp zufolge haben gleich mehrere Generale bei der
jüngsten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik eine Abkehr von der Wehrpflichtarmee befürwortet.
({9})
Zur Frage der Wehrpflicht unter besonderer Berücksichtigung der Wehrgerechtigkeit sind nur wenige Eingaben bei mir eingegangen. Andererseits kommt das
Thema nicht zur Ruhe. Die Zahl der Skeptiker in der
SPD ist nach diesbezüglichen öffentlichen Äußerungen
des NRW-Landesvorsitzenden Harald Schartau und des
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Erler größer geworden. Selbst in der CDU/CSU gibt es in dieser Frage
Bewegung. Der CSU-Generalsekretär redet einer allgemeinen Dienstpflicht mit Wahlmöglichkeit für den zivilen oder militärischen Sektor das Wort. Der Vorsitzende
der jungen Gruppe der Unionsfraktion, Dr. Krings, fordert einem Bericht der „Welt“ zufolge, jetzt müsse die
Wehrpflicht auf den Prüfstand. In demselben Bericht erklärt der CDU-Verteidigungspolitiker Spahn, die Wehrpflicht könne keinen Bestand haben. Die Grünen sind
wie die FDP nach wie vor für eine Freiwilligenarmee.
Die Koalitionsvereinbarung sieht nach wie vor einen
Prüfungsauftrag hinsichtlich der Wehrform vor. Die
neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien basieren
zwar auf der Wehrpflicht, sollen den Worten des Bundesministers der Verteidigung zufolge aber den Wechsel
zur Freiwilligenarmee nicht versperren. Das ist die Situation.
Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang, dass das
Urteil des Verwaltungsgerichts Köln, das die Richtlinien
für die Einberufungspraxis als rechtlich nicht tragfähig
rügte, ein so nachhaltiges öffentliches Echo hervorgerufen hat, hingegen anders lautende Entscheidungen aus
jüngster Zeit von 13 weiteren Verwaltungsgerichten
- von Arnsberg bis Leipzig - zum gleichen Sachverhalt
überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden sind.
({10})
Quintessenz: Die Truppe ist irritiert. Sie ist sich nicht sicher, ob die Wehrpflicht künftig bleibt. Das ist kein
Wunder, da die Presse von links bis rechts das Ende der
Wehrpflichtarmee Bundeswehr befürwortet. Die beabsichtigte Festlegung der Einberufungskriterien durch
Gesetz soll wohl auch den Vorwurf der Willkür entkräften. Ob damit der politischen Frage beizukommen ist,
steht dahin.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die
Frauen sind in der Bundeswehr angekommen. Sie leisten
überall in der Bundeswehr Dienst, und das mit Erfolg.
Die Zahl der Abbrecher ist nicht größer als bei den Männern. Allerdings gibt es nach wie vor eine Präferenz für
das Sanitätswesen; gut 5 000 Frauen leisten da Dienst das sind rund 56 Prozent von allen weiblichen Soldaten
in der Bundeswehr. Frauen in der Bundeswehr, das
muss auch Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeuten. Es geht um Konkretes: um flexible Arbeitszeiten,
um Teilzeitbeschäftigung, um Kinderbetreuungseinrichtungen. Das sollte eigentlich bis Ende 2003 gesetzlich
abgesichert werden, ist aber nicht geschehen. Es darf
nicht vergessen werden.
({11})
Knapp 6 100 Eingaben sind im Berichtsjahr 2003 bei
mir eingegangen; das sind 350 weniger als im Vorjahr.
Gemessen an der zurückgehenden Jahrestruppenstärke
der Bundeswehr sind das proportional gesehen kaum
weniger Eingaben als im Jahre 2002.
6 100 Eingaben - das sind zu einem Drittel Personalangelegenheiten der Zeit- und Berufssoldaten. Das ist
seit Jahren der größte Block an Eingaben. Das reicht von
Problemen im Zusammenhang mit der Einführung der
neuen Laufbahnen und vom Unmut über einen Beförderungsstau bis hin zu mangelnder Transparenz bei Beurteilungsentscheidungen und Bearbeitungsmängeln aller
Art.
6 100 Eingaben - das sind auch 231 Eingaben zum
Thema Fliegerzulage. Das ist der größte Block zu einem
Spezialthema.
6 100 Eingaben - das sind 50 Prozent weniger Eingaben
aus dem Einsatz. Im Berichtsjahr 2002 waren es 1 100. Darin war allerdings ein großer Block zu einem Spezialthema, nämlich dem Auslandsverwendungszuschlag
und seiner Absenkung für Einsätze auf dem Balkan, enthalten. Es zeichnet sich ab, dass das Thema Auslandsverwendungszuschlag auch im Berichtsjahr 2004 aktuell
sein wird. Nach dem Sachstand von Anfang Mai hat es
bereits mehr als 130 Eingaben zu dieser Thematik gegeben. Ansonsten geht es bei den Eingaben, die mich aus
den Einsatzgebieten erreichen, vor allem um Angelegenheiten des militärischen Alltags. Darüber hinaus nenne
ich Einplanungsmängel, Belastungen für die Familien,
Ausstattungsversäumnisse und Führungsverhalten.
6 100 Eingaben - das sind 83 besondere Vorkommnisse
mit Verdacht auf Verstoß gegen das Recht auf sexuelle
Selbstbestimmung gegenüber 75 Fällen im Vorjahr.
22 Fälle davon konnten verifiziert werden, darunter
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
sechs als verbale Übergriffe und 16 Fälle von Gewaltanwendung.
6 100 Eingaben - das sind schließlich 139 besondere
Vorkommnisse mit Verdacht auf rechtsextremistische
oder fremdenfeindliche Hintergründe, gegenüber 111 im
Berichtsjahr 2002 und 186 bzw. 196 in den Berichtsjahren 2001 bzw. 2000. Dabei handelt es sich allesamt um
Äußerungsdelikte ohne Gewalttätigkeit. An diesen Vorkommnissen waren zu mehr als 70 Prozent Grundwehrdienstleistende und zwei Berufssoldaten beteiligt. Soweit zum Statistischen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich
schließe mit der Bitte um Nachsicht für folgende Hartnäckigkeit, die hoffentlich nicht halsstarrig wirkt. Ich betone im Plenum des Deutschen Bundestages also nochmals: Die Bundeswehrsoldaten müssen einheitlich
besoldet werden.
({12})
Ich bedanke mich auch im Namen meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die tatkräftige Unterstützung
unserer Arbeit, namentlich seitens des Verteidigungsausschusses. Für den leitenden Beamten Dr. Seidel ist das
der letzte Bericht, an dem er mitgewirkt hat. Nach
13 Jahren Dienst in verantwortungsvoller Position bei
der Dienststelle des Wehrbeauftragten geht er in diesem
Jahr in den Ruhestand. Es besteht Anlass, auch im Plenum darauf aufmerksam zu machen.
({13})
Lieber Herr Kollege Penner, ich glaube, es besteht
nicht nur Anlass für das Haus, sich Ihrer letzten Bemerkung anzuschließen, sondern auch, Ihnen persönlich für
Ihre Arbeit besonders zu danken. Sie sind ja kein Beauftragter der Bundesregierung, sondern ein Beauftragter
des gesamten Hohen Hauses. Ich glaube, wir alle können
sagen, dass Sie uns sehr gründlich und nachdenklich informieren. Es lohnt sich sicher, dies in dem Bericht einmal nachzulesen. Vielen Dank an Sie und an Ihr Haus
für Ihre Arbeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer.
({1})
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Penner! In schöner Regelmäßigkeit befassen wir uns im Plenum mit dem Jahresbericht
des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Dies
ist eine gute Tradition und keine lästige Pflicht.
Im Angesicht der Transformation der Bundeswehr
und der gleichzeitig laufenden intensiven Auslandseinsätze stellt der Bericht des Wehrbeauftragten eine der
letzten dauerhaften Regelmäßigkeiten im Umfeld unserer Streitkräfte dar. Über den eigentlichen Bericht hinaus
muss dem eine hohe symbolische Bedeutung zugemessen werden. Die Aufmerksamkeit des Bundestages für
die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr muss eine
verlässliche Größe sein und bleiben. Die Verbindung
von Parlament und Armee, am besten in dem Begriff
Parlamentsarmee zu fassen, muss besonders in Zeiten
radikaler Veränderung ein Faktor der Stabilität sein.
Sehr geehrter Herr Dr. Penner, ich danke Ihnen für
den 45. Bericht eines Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages. Ich spreche diesen Dank auch im Namen
meiner gesamten Fraktion aus. Unser Dank gilt auch Ihren Mitarbeitern, die im Berichtsjahr wieder sehr viele
Eingaben zu betreuen hatten. Die beinahe unverändert
hohe Zahl von Eingaben - gemessen am Umfang der
Bundeswehr -, der zweithöchsten seit Bestehen des Amtes, ist weiterhin ein deutliches Zeichen für das Knirschen im Gebälk, wenn ein Haus umgebaut wird, das
gleichzeitig einem Sturm trotzen soll. Es darf uns nicht
verwundern, wenn sich die Bewohner des Hauses Sorgen machen, wenn einige Angst um ihre berufliche Zukunft bekommen und wieder andere einfach ausziehen.
Die grundlegende Situation kann aber nicht geändert
werden: Transformation und Einsätze müssen gleichzeitig geleistet werden. Umso mehr Respekt verdienen die
jungen Männer und Frauen, die heute den Dienst in der
Bundeswehr wählen und als Wehrpflichtige oder Zeitsoldaten in die Kasernen kommen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt sowohl vermeidbare Missstände als auch unvermeidbare Härten.
Der Bericht bietet als Mängelbericht Indizien dafür, wie
es in der Truppe wirklich aussieht, wie die Stimmung ist
und wie es um die Einsatzbereitschaft steht. Aus Ihrem
Bericht lassen sich bestimmte Grundprobleme und Entwicklungen herauslesen. Einen Schwerpunkt bilden die
Personalangelegenheiten, die über 40 Prozent aller Eingaben ausmachen. Der Transformationsprozess führt
zu zahlreichen Personalveränderungen. Ich habe den
Eindruck, dass die Führung des Verteidigungsministeriums dieser Aufgabe nicht immer gewachsen ist.
({0})
Bei vielen Eingaben liegt die Ursache der Beschwerden im Zusammentreffen der Reformwellen. Da bleiben
Anträge liegen, weil die Personalführung gleichzeitig an
Kopf und Füßen umgebaut wird, weil vorhersehbare
Auslandseinsätze zu Lücken beim Personal führen, die
nicht durch Vertretungen geschlossen werden können.
Wenn weitere hundert Standorte aufgelöst werden, wenn
Einsätze künftig kurzfristig kommen, dann müssen wir
weit vorausschauend planen.
Neben den Problemen der Personalführung bestehen
aber auch gravierende materielle Mängel, die an Motivation und Einsatzbereitschaft zehren. Wenn ich die Ergebnisse Ihres Berichtes mit meinen Eindrücken aus der
Truppe verbinde, dann erkenne ich so etwas wie eine
Zweiklassenarmee. Das Material im Einsatzland ist gut,
wenn auch verbesserungswürdig. Das Material in der
Heimat ist aber immer wieder so knapp, dass die Ausbildung leidet und manchmal unmöglich wird. Ich stelle
daher die Frage, wie Soldaten ihre Aufträge sofort erfüllen sollen, wenn sie wichtige Teile ihrer Ausrüstung erst
Anita Schäfer ({1})
im Kosovo oder in Kabul kennen lernen. Wie schnell die
Sicherheitslage dramatisch umschlagen kann, haben wir
erst vor wenigen Wochen im Kosovo erlebt.
Das meiste moderne Material fehlt beim Heer. Herr
Dr. Penner, ich stimme Ihnen daher zu, dass beim Heer
das Gefühl wächst, zum großen Verlierer der Transformation zu werden. Das Heer trägt nach wie vor die
Hauptlast der Auslandseinsätze. Dementsprechend muss
es auch ausgerüstet sein. Die Bundesregierung wird ihrer
Verantwortung gegenüber den Soldaten im Einsatz nicht
gerecht, wenn sie beispielsweise geschützte Fahrzeuge
nur zögerlich beschafft. Auch in Eingaben an den Wehrbeauftragten äußern Soldaten ihre Sorgen, dass bei Auslandseinsätzen Mängel im Schutz bestehen.
Ein weiterer Punkt ist die Unterbringung. Es hat
mich nicht gewundert, als vor kurzem ein Soldat zu mir
gesagt hat, sein Container im Kosovo sei moderner gewesen als seine Stube in Deutschland. Im 45. Jahresbericht findet sich eine lange Liste maroder Kasernen. Es
ist verständlich, dass Kasernen nicht grundsaniert werden können, wenn sie demnächst geschlossen werden
sollen. Jedoch ist der Dienstherr verpflichtet, bestimmte
Standards einzuhalten, besonders im hygienischen Bereich.
Der Bericht des Wehrbeauftragten soll immer auch
ein Licht auf die Umsetzung der inneren Führung werfen. Hier ist die Bundeswehr eine gefestigte Truppe. So
unschön und strafwürdig auch die aufgetretenen Zwischenfälle sind: Es sind gottlob Einzelfälle, die in der
Regel schnelle und harte Konsequenzen nach sich ziehen. Die große Herausforderung in diesem Zusammenhang besteht darin, die innere Führung unter den Belastungen der Armee im Einsatz weiterzuentwickeln.
Die Öffnung aller Laufbahnen in der Bundeswehr für
Frauen hat sich bewährt. In den Eingaben an den Wehrbeauftragten kamen hin und wieder Probleme mit dem
derzeitigen Erlass „Sexuelles Verhalten von und zwischen Soldaten“ zur Sprache. So wurde bemängelt, dass
eine ernsthafte, auf Dauer angelegte Beziehung zwischen einem Soldaten und einer Soldatin nicht möglich
sei, wenn beide zum Wohnen in der Kaserne verpflichtet
sind. Das Verteidigungsministerium will und muss hier
Änderungen schaffen. Die Vorgesetzten brauchen klare
Richtlinien. Große Interpretationsspielräume darf es
nicht geben.
Wenn Soldatenpaare in der Kaserne leben dürfen,
dann sollte der Minister auch an mögliche Folgen dieses
Zusammenseins denken: an das Gründen einer Familie,
an Kinder. Ich kann hier nur auf unseren aktuellen Antrag hinweisen. Familien in der Bundeswehr müssen
mehr gefördert werden. Die Bundeswehr darf nicht eine
familienfreie Zone werden. Besonders diejenigen, die als
Soldat für die Gemeinschaft dienen, müssen bei der
Gründung einer Familie unterstützt werden. Die künftige
Flexibilität bei Auslandseinsätzen kann nur geleistet
werden, wenn in der Heimat alles stimmt, wenn der
Kopf frei von Sorgen um Partner und Kinder ist.
({2})
An dieser Stelle muss ich die Seite der Auslandseinsätze ansprechen, die wir alle möglichst selten zu sehen
bekommen wollen: Tod und Verwundung im Auslandseinsatz. Wir alle erinnern uns an die unschönen rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Verteidigungsministerium und Hinterbliebenen, an den schwer
nachvollziehbaren Umgang des Dienstherrn mit im Einsatz verwundeten Soldaten. Endlich ist hier ein Gesetz in
Vorbereitung,
({3})
das klar erkennen lässt, dass ein Oberfeldwebel in Kabul
ein völlig anderes Berufsrisiko hat als der Finanzbeamte
hier in Deutschland. Über den materiellen Fragen darf
aber nicht vergessen werden, dass sich für viele Soldatinnen und Soldaten immer stärker die Frage nach dem
politischen Sinn der Einsätze stellt. Gerade die völlig unerwarteten Unruhen im Kosovo haben bei vielen Soldaten den Eindruck entstehen lassen, dass ihr Einsatz wenig Sinn macht, dass politische Konzepte fehlen.
Neben einer uneingeschränkt guten Ausrüstung muss
die Bundesregierung auch für eine realistische Perspektive in der Auftragserfüllung sorgen. Es muss den Soldatinnen und Soldaten das Gefühl vermittelt werden, dass
sie der wichtigste Teil der Bundeswehr sind. Denn nur
hoch motivierte und sehr gut ausgebildete Soldaten können den Anforderungen der nächsten Jahre gewachsen
sein. Ich betone, dass ich an dieser Stelle keinen Unterschied zwischen Wehrpflichtigen, Zeit- und Berufssoldaten machen möchte und machen kann.
Sehr geehrter Herr Dr. Penner, mit Ihrem Jahresbericht haben Sie der Bundesregierung gezeigt, dass die
Grenzen der Belastbarkeit für die Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr erreicht worden sind.
Zum Schluss noch ein Wort zur allgemeinen Wehrpflicht. Der Minister betont täglich, dass er an der Wehrpflicht festhalten wird. Im Interesse der Bundeswehr
hoffe ich, dass er zu seinem Wort steht.
({4})
Wir dürfen nicht die Fehler anderer Staaten wiederholen.
Aus den vielen Problemen, die mit der Abschaffung der
Wehrpflicht auf die Bundeswehr zukämen, möchte ich
einen Aspekt aufgreifen: Die Wehrpflichtarmee ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Die Soldatinnen und
Soldaten stehen in der Gesellschaft. Ethische Grundsätze
der Menschenführung sind im System der Parlamentsund Wehrpflichtarmee verankert. Die Aufmerksamkeit
von Politik und Gesellschaft für das Innenleben der
Streitkräfte ist daher groß, gewiss größer als bei der Berufsarmee. Aber vor allem stellt sich die Frage: Wie verändert sich in einer Berufsarmee das Menschenbild der
Soldaten?
({5})
Ich warne davor, eine Berufsarmee zu schaffen, die sich
irgendwann eigene ethische Gesetze schafft.
Anita Schäfer ({6})
({7})
- Warten Sie nur einmal ab! - Neben vielen anderen Fragen zu Militär und Krieg in unserer Zeit ist uns eine
hoch aktuelle Frage aus dem Irakkrieg erwachsen: Sind
Berufsarmeen anfälliger für unkontrollierte Gewalttaten? Innere Führung, allgemeine Wehrpflicht, Parlamentsarmee - diese drei Institutionen gehören zum geistigen Kern der Bundeswehr. Sie sind notwendig, um
langfristig eine Bundeswehr ohne Söldnermentalität zu
bewahren.
Herr Staatssekretär Kolbow, erhalten Sie die Wehrpflicht, bevor wir in diesem Hause über Verbrechen reden müssen!
({8})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich - selbstverständlich auch für Verteidigungsminister Dr. Struck - dem Herrn Wehrbeauftragten, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und
auch Herrn Dr. Seidel ein herzliches Dankeschön sagen,
für diesen Bericht wie auch für die anderen Berichte in
der bisherigen Amtszeit des gegenwärtigen Wehrbeauftragten und für die Klarheit und Wahrheit der Inhalte, die
für uns Anspruch bedeuten im Aufarbeiten, Umsetzen
und Beseitigen der Mängel.
({0})
Die konstruktiv-kritische Begleitung der Bundeswehr
und der Ansatz, durch objektive Kritik ein breit angelegtes Themenspektrum abzudecken, sind für uns eine unverzichtbare Hilfe.
Lassen Sie mich an dieser Stelle eines anmerken: Wir
haben in den letzten Jahrzehnten mit unseren Wehrbeauftragten wirklich Glück gehabt, ob sie Karl Wilhelm
Berkhan, Willi Weiskirch, Alfred Biehle, Claire
Marienfeld oder Willfried Penner hießen bzw. heißen.
({1})
Der Wehrbeauftragte hat zu Recht auf die Probleme
im gegenwärtigen Transformationsprozess unserer Bundeswehr hingewiesen und aufgezeigt, welch hohes Maß
an Flexibilität und Leistungsbereitschaft unseren Soldatinnen und Soldaten wie auch ihren Familien - auch das
hat der Wehrbeauftragte herausgestellt - abverlangt
wird. Deswegen hat das Bundesministerium der Verteidigung der Weiterentwicklung der Familienbetreuung
der Soldatinnen und Soldaten einen hohen Stellenwert
eingeräumt. Wir betrachten die Betreuung und Fürsorge
als wesentliche Konstanten in einem Prozess fortwährender Anpassung. Ich darf in diesem Zusammenhang
darauf hinweisen, dass wir bis Ende des Jahres 2004
über eine flächendeckende Endstruktur mit insgesamt
31 Familienbetreuungszentren verfügen werden, mit denen bei Auslandseinsätzen den Familien im Inland eine
wertvolle Hilfestellung geboten werden kann.
({2})
Fast 8 000 Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr sind derzeit auf dem Balkan, in Georgien, am Horn
von Afrika, der Straße von Gibraltar, in Usbekistan und
in Afghanistan im multinationalen Einsatz zur Sicherung des Friedens. Bei SFOR in Bosnien und Herzegowina ist dies nun bereits ununterbrochen seit mehr als
acht Jahren der Fall, bei KFOR seit fünf Jahren. Seit
1990 waren immerhin 171 000 Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz.
Der persönliche Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten trägt maßgeblich zur Absicherung der durch die
internationale Staatengemeinschaft erzielten Friedensprozesse bei. Der Wehrbeauftragte hat darauf hingewiesen, dass die Einhaltung der Menschenrechte, das Verhindern von Krieg und die durch die Präsenz im Ausland
realistische und greifbare Chance auf ein künftig friedliches Zusammenleben die Auslandseinsätze rechtfertigten. Sie verdienen unseren Respekt und Anerkennung.
Ich will in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass daran aktuelle Berichte über das Verhalten
von Soldatinnen und Soldaten, gerade im Kosovo, nichts
ändern können. Ich danke dem Parlament - vor allem
den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses und des
Auswärtigen Ausschusses -, dass sie sich hinter unsere
Soldatinnen und Soldaten gestellt haben, denen im Zusammenhang mit den Vorkommnissen im Kosovo am
17. und 18. März ungerechtfertigte Vorwürfe gemacht
worden sind.
({3})
Wir sind immer für kritische Anregungen aus dem
Parlament offen, Frau Kollegin Schäfer; das versteht
sich von selbst. Ich darf aber darauf hinweisen, dass wir
zum Schutz der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz immer das Bestmögliche für die Ausrüstung wie auch für
die Ausbildung tun.
({4})
Das gilt trotz des engen Haushaltsrahmens auch für die
Vorhaben der von Ihnen angesprochenen Materialbeschaffung. Deswegen haben wir die Beschaffung der
geschützten Transporter Duro, Dingo und Mungo unverzüglich auf den Weg gebracht. Deshalb setzen wir das
Projekt „Infanterist der Zukunft“ zielstrebig weiter um
und beschaffen nach diesem Jahr im Rahmen des einsatzbedingten Sofortbedarfs weitere Systeme. Deshalb
soll die persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten im Rahmen des Konzepts „Soldat im Einsatz“ weiter verbessert werden. Kurz: Die Bundeswehr soll und
wird künftig über einen noch besseren Mix aus gut geschützten Transport- und Führungsfahrzeugen, durchsetzungsfähigen leichten, mittleren und schweren Gefechtsfahrzeugen, leistungsfähigen Hubschraubern und
Transportflugzeugen, vernetzten Führungs- und Informationssystemen sowie aus persönlichen Schutz- und
Ausstattungspaketen der Soldatinnen und Soldaten verfügen. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis und gehen Sie
damit objektiv um!
({5})
Herr Wehrbeauftragter, es ist in der Tat keine Halsstarrigkeit, dass Sie wieder darauf hingewiesen haben,
dass die Angleichung der Besoldung im Osten an die
im Westen noch nicht erfolgt ist, die wir alle in diesem
Hause eigentlich wollen. Wir haben mit dem Gesetz über
die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge in
Bund und Ländern 2003/2004 wichtige Anpassungsschritte beschlossen und den Willen ausgedrückt, die
Angleichung des Bemessungssatzes für die unterschiedlichen Besoldungsgruppen bis Ende 2007 bzw. Ende
2009 zu erreichen. Wir werden weiter konstruktiv an
dem Erreichen dieses Ziels arbeiten. Ich muss hier schon
aus objektiven Gründen darauf hinweisen, dass uns, dem
Bund, in diesem Zusammenhang immer wieder vorgehalten wird, welche Ausstrahlungswirkung eine einseitige Entscheidung auf die kommunalen Haushalte und
gerade auf die Haushalte der neuen Bundesländer hätte.
Frau Schäfer, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie genauso
wie der Wehrbeauftragte in der aktuellen Debatte das
Einsatzversorgungsrecht angesprochen haben. Ich
denke, es ist eine gute Gelegenheit, festzuhalten - auch
weil der Wehrbeauftragte in seiner bisherigen Amtszeit
immer wieder darauf hingewiesen hat, dass hier Abhilfe
zu schaffen ist -, dass wir jetzt Betreuung, Fürsorge und
soziale Absicherung im hoffentlich nicht eintretenden
Fall von Verletzung oder Tod geregelt haben. Ich sage
das gerade im Hinblick auf das schreckliche Attentat in
Kabul, bei dem vier Soldaten zu Tode gekommen sind
und 29 verletzt wurden. Wir haben mit dem Institut des
Einsatzunfalls eine sehr gute Regelung für den schlechtesten Fall gefunden, den wir uns nicht wünschen.
Ich danke dem Herrn Wehrbeauftragten und Ihnen für
Ihre konstruktiven Beiträge. Seien Sie versichert, dass
wir dem Parlament unverzüglich Lösungsvorschläge
vorlegen werden. Das gilt sowohl für die angesprochenen Themen wie für die anderen Vorhalte, die ich jetzt
aus Zeitgründen nicht ansprechen konnte.
Vielen Dank für das Zuhören.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Helga Daub.
Frau Präsidentin! Herr Dr. Penner! Verehrte Kollegen
und Kolleginnen! Die Jahreszahl des Berichts ändert
sich. Einige Probleme bleiben, andere kommen hinzu.
Aber selbstverständlich ändert das gar nichts daran, dass
die FDP-Fraktion Ihnen, Herr Dr. Penner, und Ihren Mitarbeitern für die Erstellung dieses sachlichen und offenen Berichts danken möchte.
({0})
In den vergangenen Wochen - und jetzt ganz aktuell ist besonders die Frage der Wehrpflicht wieder in das
Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Daher freut es mich,
Herr Dr. Penner, dass diese Problematik in Ihrem Bericht
zumindest am Rande dargestellt wird. Allerdings zeichnet sich nicht nur ab, dass die Wehrgerechtigkeit zum
Thema wird, wie es in Ihrem Bericht heißt, sondern sie
ist bereits ein Thema.
({1})
Das wird so lange so bleiben, wie die Koalition dieses
Thema vor sich herschiebt.
Darüber hinaus ist der Motivationsrückgang bei den
Soldaten zu beklagen. Ihre Bereitschaft, Reformen mitzutragen, sinkt weiter. Die schwindende Zahl von Bewerbern als Berufssoldaten sollte als Alarmsignal begriffen werden und hat wohl auch etwas mit der mangelnden
Planungssicherheit zu tun. Ebenso sind die Beschwerden
über Mängel bei der Ausbildung und über das Material
ernst zu nehmen. Es ist wohl so, dass die Ausbildung in
den Verbänden total auf der Strecke bleibt.
Angesichts der Wirklichkeit bei Auslandseinsätzen
wird die vorbereitende Ausbildung in Deutschland sehr
zu Recht kritisiert. Kraftfahrzeuge und Splitterschutzwesten seien hier nur als Beispiele genannt. Das bedeutet, dass die Ausbildung an einem anderen Material stattfindet, als man es am Einsatzort vorfindet. Der
routinierte Umgang mit Ausrüstung und Gerät muss
eine Grundvoraussetzung sein, weil Routine Sicherheit
bedeutet und weil Routine auch Leben retten kann.
({2})
Grundsätzlich als Erfolg zu werten ist - auch aufgrund der Kritik in der Vergangenheit - die Verkürzung
der Einsatzdauer von sechs auf vier Monate.
({3})
Hier hat die Regierung endlich die Notwendigkeit, zu
handeln, erkannt. Nun gilt es aber, Vorsicht walten zu
lassen. Was auf der einen Seite gewonnen wurde, darf
auf der anderen Seite nun nicht zu einer erhöhten Einsatzfrequenz führen. Wenn dieser Fall einträte, dann
käme das, mit Verlaub, der Echternacher Springprozession gleich.
Im Übrigen: Ein Auslandseinsatz von Grundwehrdienstleistenden - wenn auch auf freiwilliger Basis; wo
und in welcher Art auch immer - ist mit der FDP nicht
zu machen.
({4})
Eine entsprechende Äußerung des Ministers hat, wie
auch im Bericht des Wehrbeauftragten nachzulesen ist,
wohl zu Irritationen geführt. Auch wir waren irritiert, als
wir davon in der Presse gelesen haben. Wir alle wissen,
dass die Situation für unsere Soldaten nicht einfacher geworden ist. Wie gut, dass es den Wehrbeauftragten gibt,
an den sie sich mit ihren Problemen wenden können.
Grundsätzlich gilt - noch einmal -: Die Institution
des Wehrbeauftragten ist wehrformunabhängig, ebenso
das Konzept der inneren Führung. - Ich stelle gerade
fest, dass ich den Rest meines Manuskripts am Platz liegen gelassen habe. Das ist aber egal; denn ich kann
meine Rede auch so fortsetzen.
({5})
Es gibt wohl niemanden in diesem Saal, der daran
zweifelt, dass unsere Soldaten, sowohl die Zeit- als auch
die Berufssoldaten, mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, wenn sie im Ausland
oder hier eingesetzt sind.
({6})
Es wird immer wieder - direkt oder unterschwellig die Befürchtung geäußert, wir könnten mit einer Berufsarmee einen Staat im Staate bekommen. Frau Schäfer,
ich muss Ihnen hier jetzt einfach sagen: Das wird so
wohl nicht der Fall sein. Ich glaube, das ist auch durch
das, was ich eben gesagt habe, klar geworden.
({7})
Die Bundeswehr befindet sich in einem Transformationsprozess. Das heißt aber auch, dass sie zukunftssicher ausgestaltet werden muss und dass endlich
Planungssicherheit eintritt. Dazu gehört für uns die Aussetzung der Wehrpflicht.
({8})
Wir haben das immer wieder betont. In diesem Zusammenhang fordert die Fraktion der FDP den Minister wie
schon in der vergangenen Woche auf: Holen Sie sich das
Gesetz des Handelns zurück!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Man sieht: Es geht auch ohne Zettel.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Lieber Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Berichtsjahr 2003 ist vor allem durch folgende Entwicklungen gekennzeichnet: Es
gab einen regelrechten Neustart der Bundeswehrreform.
Allein im letzten Jahr wurde der Bundeswehrumfang um
23 000 Soldaten verringert. Mehrere Auslandseinsätze
wurden tatsächlich beendet. Das ist kaum bekannt. Verbreitet ist die Wahrnehmung, es gebe immer wieder neue
Auslandseinsätze. Es gab mit dem fürchterlichen Terrorangriff in Kabul erstmalig einen gezielten Angriff auf
Bundeswehrsoldaten. Beherrschendes Thema war
schließlich der Irakkrieg.
Herr Penner, Sie haben mit ausgezeichneter und vorbildlicher Deutlichkeit auf die völkerrechtliche Einbindung der Bundeswehr bei Ihren Einsätzen hingewiesen. Sie sprechen in Ihrem Bericht auch an, dass die
Soldaten im letzten Jahr verstärkt die Rechtmäßigkeit
verschiedener Dienste diskutiert haben. Das betrifft nicht
nur Luftwaffeneinsätze im Innern, sondern auch die Bewachung von US-Liegenschaften und natürlich den gesamten Komplex Irakkrieg. Dass dies von Soldaten so
breit thematisiert wurde, dass von ihnen die Rechtmäßigkeit von Aufträgen eingefordert wurde, spricht für die
Mündigkeit und das Rechtsstaatsbewusstsein der Bundeswehrangehörigen.
Erstmalig spricht der Wehrbeauftragte in diesem Bericht traumatische Erkrankungen von Soldaten an.
Nach Expertenmeinung bedürfen ungefähr 2 bis 5 Prozent der aus Einsätzen zurückgekehrten Bundeswehrsoldaten psychologischer Behandlung. Das sind die
unsichtbaren Verwundungen, mit denen umzugehen weiterhin sehr schwer fällt; denn solche psychologischen
Probleme und Störungen scheinen zumindest dem
Selbstbild und dem Fremdbild des starken Soldaten zu
widersprechen. Umso mehr muss es Aufgabe der Bundeswehr sein, so meine ich, aber auch unsere Aufgabe,
auf solche Art Verwundete nicht allein zu lassen. Dieses
Thema braucht unsere stärkere Aufmerksamkeit.
({0})
Inzwischen erlebt die Bundeswehr ihre vierte Strukturreform seit Anfang der 90er-Jahre. Dass dabei die
Reformbereitschaft der Soldatinnen und Soldaten sowie
ihrer Angehörigen an ihre Grenze stößt, ist mehr als
nachvollziehbar und verständlich. Es ist zugleich eine
Mahnung an uns Politiker, jetzt eine Transformation der
Bundeswehr auf den Weg zu bringen, die strukturell
wirklich länger hält. Vor diesem Hintergrund kann ich
nur betonen - Herr Penner hat es mit anderen Worten
auch zum Ausdruck gebracht; ich interpretiere ihn zumindest so -: Je zügiger in diesem Zusammenhang die
Frage der Wehrform geklärt werden kann, desto besser.
Der Wehrbeauftragte benennt verbreitete Mängel in
der Ausbildung, für die, wie er schreibt, in nicht wenigen Einheiten und Verbänden zu wenig Zeit und Ausbildungsmaterial zur Verfügung stehe. Angesprochen wird
der Zustand vieler Kasernen. Angesichts der Beschreibung - es gibt Pilz- und Schimmelbefall in den Unterkünften - muss man sagen: Das ist unzumutbar und das
ist - es geht um öffentliche Gebäude - schlichtweg unglaublich.
({1})
Solche Mängel sind nicht hinnehmbar. Sie drücken zudem auf die Motivation von Soldaten und senken die Bereitschaft der Soldaten, sich weiter zu verpflichten. Sie
sind genau das Gegenteil von Nachwuchswerbung; sie
sind Nachwuchsabschreckung.
Ein Dauerthema im Mängelbericht des Wehrbeauftragten - das ist er vom Ansatz her zunächst einmal - ist
die Soldatenbeteiligung. Vielfach und schwer wird gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen. Zu bekräftigen ist,
dass Soldatenbeteiligung der sachgerechten Entscheidungsfindung dient und die Stellung des Staatsbürgers in
Uniform fördert. Nicht hinnehmbar ist, dass Vorgesetzte
so breit gegen die eindeutigen gesetzlichen Vorgaben
verstoßen.
Vor zwei Wochen besuchte eine Delegation des Verteidigungsausschusses des Bundestages Moskau. Erstmalig traf man dort mit der Vereinigung der Soldatenmütter Russlands zusammen. Diese Frauen schilderten
uns die rechtlose Situation der russischen Soldaten. Bewunderung und hohen Respekt empfanden wir für diese
mutigen Frauen, die unser Vorsitzender, Kollege Robbe,
zu Recht „famose Frauen“ genannt hat. Wir erfuhren
plastisch, wie wenig selbstverständlich die Achtung von
Menschenwürde und Menschenrechten in Streitkräften
ist. Darum machen sich dort die Soldatenmütter verdient. Darum macht sich hier der Wehrbeauftragte mit
seinen Mitarbeitern in vorbildlicher Unabhängigkeit verdient.
Herr Penner, ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Raidel.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr
Dr. Penner! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Auch ich bedanke mich natürlich sehr, sehr herzlich für
diesen Bericht, Herr Dr. Penner. Ich bedanke mich auch
bei all Ihren Mitarbeitern, die immer einen sehr sorgfältigen und ausgewogenen Bericht vorlegen, der auf der
einen Seite klarstellt, was die Bundeswehr im Inneren
braucht, auf der anderen Seite aber auch versucht, einige
Hinweise darauf zu geben, welche Reformen demnächst
angegangen werden müssen, um die Einrichtung Bundeswehr so zu erhalten, dass sie auch den Interessen unseres Landes in vollem Umfang nachkommen kann.
Sie haben die Sachverhalte im Bericht unter zwei Begriffen, wenn ich es richtig sehe, subsumiert: unter den
der Fürsorge für unsere Soldaten und unter den der Vorsorge. Sie haben das innere Gefüge der Bundeswehr aufgezeigt und in der Zusammenstellung und Beurteilung
der Mängel auf die Fürsorge hingewiesen. Ich wäre sehr
dankbar, Herr Staatssekretär, wenn man hier nicht immer
wieder nur feststellen würde, dass man solche Hinweise
ernst nimmt, sondern man auch durch Abarbeitung dieser Mängel zeigen würde, dass man die Institution Wehrbeauftragter voll in das eigene Lebens- und Gedankengut aufgenommen hat. Dann würden nämlich viele
dieser Mängel im nächsten Bericht nicht mehr aufgelistet werden.
({0})
Die Systematik eines solchen Berichts sorgt so dafür,
dass vieles immer wieder vorkommt. Ich gestehe auch
gerne zu, dass wir aufpassen müssen. Im Inland stellt
sich die Situation nämlich völlig anders dar als im Ausland. Auch diesen Unterschieden muss dementsprechend
Rechnung getragen werden.
Sie, Herr Wehrbeauftragter, mahnen im Hinblick auf
die Vorsorge Reformen an. Eine altbekannte Forderung
von unserer Seite lautet, endlich das Weißbuch auf den
Markt zu bringen und nicht immer nur Teilaspekte, in
denen Reformen schon vollzogen wurden, zu nehmen
und aus ihnen ein Buch zusammenzustellen. Vielmehr
müssten aus der Perspektive einer Sicherheits- und Bedrohungsanalyse die notwendigen Schlussfolgerungen
gezogen werden. Die hieraus abgeleiteten Maßnahmen
müssten dann auch mit den notwendigen finanziellen
Mitteln unterfüttert werden. Es hat überhaupt keinen
Sinn, hier über Reformen nachzudenken, wenn nicht
gleichzeitig für deren Umsetzung das benötigte Geld zur
Verfügung gestellt wird.
Desgleichen haben wir angemahnt, einmal im Jahr
einen Bericht zur Lage der Nation abzugeben, in dem
das gesamte Spektrum vom Reformtempo bis hin zu den
internationalen Verpflichtungen aufgezeigt wird. Es ist
schon bezeichnend, dass auch viele hohe Militärs feststellen, dass zwischen dem Anspruch der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition, internationale Militärpolitik mitzugestalten, und der vorhandenen
Ausrüstung der Bundeswehr eine Riesenlücke klafft.
Anspruch und Wirklichkeit passen in vielen Dingen
eben nicht zusammen.
({1})
Auch Sie, Herr Wehrbeauftragter, haben ja festgestellt, dass die bestehenden Materialmängel so nicht weiter hingenommen werden können. Sie haben auch darauf
hingewiesen, dass beispielsweise die Führungskräfte zur
Ausbildung daheim nicht zur Verfügung stehen, weil sie
im Auslandseinsatz sind.
Sie haben das wertvolle Institut des Bürgers in Uniform
angesprochen. Wir sollten dieses Institut als Ausdruck
unserer Haltung in der Armee weiter ausbauen und pflegen. Ich behaupte einmal: Wenn andere Armeen ein solches Institut in dieser Ausformung hätten, würden wir
zum Beispiel in den Nachrichten aus dem Irak nicht über
Menschenrechtsverletzungen oder andere Übergriffe
durch US-Soldaten informiert werden müssen.
({2})
Aus diesem Grunde müssen wir dieses Institut pflegen.
Deswegen haben wir auch den Unterausschuss für die
Weiterentwicklung der inneren Führung unter Leitung
von Dr. Lamers eingesetzt. Dabei geht es nicht nur um
die aktive Truppe, sondern auch um die Reservisten.
Damit würde ich gerne eine Überleitung zur Wehrpflicht
herstellen. Wir müssen uns davor hüten, in Zeitgeistbetrachtungen einmal Hü und einmal Hott zu sagen.
({3})
Die militärische Führung der Bundeswehr selbst stellt
fest, dass das gesamte Konstrukt, die gesamte Transformation auf der Wehrpflicht aufgebaut ist. In den Unterlagen, die Sie vorhin belächelt haben, sind die Stellungnahmen Ihres Hauses enthalten, die auf die Folgen eines
Verzichtes auf die allgemeine Wehrpflicht hinweisen.
Was wir heute in der Zeitgeistbetrachtung für gut halten,
wirkt sich wahrscheinlich nachhaltig auf die Auftragswahrnehmung dieser Bundeswehr, auf das innere Gefüge unserer Armee aus. Ich warne davor, die Wehrpflicht in dieser Plattheit einfach zur Disposition zu
stellen.
({4})
Herr Staatssekretär, Sie haben sich dafür bedankt,
dass wir die Bundeswehr in der letzten Ausschusssitzung
in Schutz genommen haben. Ich habe eigens den „Spiegel“-Bericht mitgebracht: „Die Hasen vom Amselfeld“.
Die Presse ist in Deutschland frei. Das ist gut so. Aber
sie hat auch eine Verantwortung. Diese Verantwortung
nimmt sie, glaube ich, nicht in ausreichendem Maße
wahr, wenn sie hier so formuliert, wie sie es getan hat.
Wir sollten uns gemeinsam, auch heute, öffentlich vor
unsere Bundeswehrsoldaten im Einsatz stellen. Das bedeutet nicht, dass man nicht prüfen und darüber nachdenken sollte, welche Fragen zu klären sind. Aber Pauschalverurteilungen sollten wir hier zurückweisen. Wir
sollten uns zu unseren Soldaten bekennen.
({5})
Es gibt kaum einen Dienst in diesem Lande, der durch so
viele Umzüge und Umstrukturierungen, mangelndes
Geld, fehlende Ausrüstung und entsprechende Konsequenzen belastet ist wie der Soldatenberuf derzeit. Hinzu
kommen Belastungen durch den Auslandsdienst. Sie
kennen alle diese Problematik. Die Fürsorgepflicht
sollte für uns an erster Stelle stehen, auch in Bezug auf
Besoldung, Versorgung und Rücksichtnahme auf diejenigen, die unter besonderen Situationen zu leiden haben,
zum Beispiel durch Verwundung oder als Familienangehöriger durch den Tod eines Soldaten. Psychologiefragen sind bereits angesprochen worden.
Wir alle tun gut daran, parteiübergreifend - obwohl
ich einzelne Perspektiven aus den verschiedenen Parteien nicht missen möchte, weil sie befruchtend sein
können, aber nur dann, wenn wir uns einig sind - hinter
Bündnis- und Landesverteidigung, hinter den Aufgaben
der Bundeswehr zu stehen und dementsprechend im Parlament richtungsweisende Beschlüsse zu fassen, einschließlich der Zurverfügungstellung des notwendigen
Geldes, insbesondere in Zeiten knapper Kassen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Merten.
Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr Dr. Penner!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Jahresbericht
2003 liegt uns eine detaillierte Information über Zustand
und inneres Gefüge der Bundeswehr vor, die wir nie bekommen würden, wenn es den Wehrbeauftragten nicht
gäbe. Wir könnten gar nicht so viele Besuche bei der
Truppe machen, die notwendig wären, um die Informationen zusammenzutragen, die wir Jahr für Jahr durch
den Wehrbeauftragten und sein Team bekommen, bei
dem ich mich ganz ausdrücklich dafür bedanken möchte.
({0})
Einsatz und Reform der Bundeswehr haben sich im
Berichtsjahr - es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen - gewandelt und weiterentwickelt. Wichtige Impulse dafür gingen unter anderem auch von der Entwicklung auf europäischer und internationaler Ebene aus. Die
Belastungen für die Soldatinnen und Soldaten sind
dabei keineswegs geringer geworden. Deshalb müssen
wir auch genau abwägen, wenn wir politische Entscheidungen treffen, die neue, zusätzliche Belastungen mit
sich bringen. Wer meint, er könne die Bundeswehr mit
zusätzlichen Aufgaben im Inneren belasten, der muss
auch aufrichtig vor die Soldaten und Soldatinnen treten
und sagen, wie sie das leisten sollen und wie das finanziert werden soll. Herr Kollege Raidel, Ihre Klage über
die Belastungen und über die Mängel in der Ausbildung
aufgrund der Auslandseinsätze ist vor dem Hintergrund
dessen, was Sie hier fordern, ein wenig unehrlich. Das
muss man an dieser Stelle einmal sagen.
({1})
Wenn wir über Belastungen reden, dann muss man
auch auf den Einsatz der Bundeswehr im Zuge des Irakkrieges zu sprechen kommen. Bundeswehrsoldaten hatten amerikanische Liegenschaften in Deutschland zu
schützen. Der Einsatz war zwar durchaus überschaubar.
Trotzdem führte er zu erheblichen personellen und zeitlichen Belastungen der Truppe.
Überdies - ich glaube, der Kollege Nachtwei hat dies
angesprochen - stellten die Soldaten die Frage nach der
Rechtmäßigkeit ihres Dienstes. Ich finde, wir sollten
dies nicht kritisieren, sondern die Zweifel als Beleg dafür nehmen, dass wir es in der Bundeswehr mit Soldaten
zu tun haben, die als kritische, zu eigenem Urteil befähigte und zivilcouragierte Staatsbürger in Uniform ihren Dienst tun. Dies ist im Übrigen das Ergebnis von fast
50 Jahren innerer Führung, die mehr denn je ihre Berechtigung hat.
Deutsche Soldaten, die tatenlos zusehen, wie Jahrtausende alte Kulturgüter der Plünderung anheim fallen,
werden wir - da bin ich mir ganz sicher - nicht erleben,
gar nicht zu reden von den Anschuldigungen wegen
Misshandlungen von Gefangenen, die jetzt im Irak geUlrike Merten
gen amerikanische und britische Soldaten erhoben wurden.
Unsere Soldaten in den Einsatzgebieten sind doch
auch deshalb so hoch geschätzt, weil sie eben nicht als
Besatzer auftreten. Auch deshalb verdient ihr Einsatz
uneingeschränkten Respekt und Anerkennung.
({2})
Unsere Soldaten sind gut ausgebildet und gut vorbereitet
auf ihren Einsatz in fremdem Gebiet, das eine andere
Kultur hat, und im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit
anderen Nationen. Ich glaube, dass der Aspekt der interkulturellen Kompetenz mit der Ableistung erfolgreicher
Einsätze im Ausland zunehmend an Bedeutung gewinnen wird. Dieser Punkt sollte in der Ausbildung stärker
berücksichtigt werden.
Schon Graf Baudissin, der Ideengeber der inneren
Führung, konzipierte die Bundeswehr im Rahmen einer
europäischen Sicherheitsstruktur, das heißt mit einer
internationalen Perspektive. Das Leitbild der inneren
Führung ist der kritische, zu eigenem Urteil befähigte
und zivilcouragierte Staatsbürger in Uniform. Vorgesetzte in der Bundeswehr tragen gegenüber den ihnen
anvertrauten Soldatinnen und Soldaten eine besondere
Verantwortung, für die sie adäquat ausgebildet werden
müssen. Leitlinie dafür sind die Grundsätze der inneren
Führung.
Wie dieses Leitbild weiterentwickelt werden kann,
darüber diskutieren wir im Unterausschuss; Kollege
Raidel hat darauf hingewiesen. Dass unter den neuen
Bedingungen der Bundeswehr neue Lösungen für neue
Fragen im Bereich der inneren Führung gefunden werden müssen, liegt auf der Hand. Wir wissen, dass dies
kein statisches Konzept ist, sondern durchaus an neue
Bedingungen angepasst werden muss.
Nicht nur das Sozialwissenschaftliche Institut der
Bundeswehr stellt fest, dass die soziale Integration fortgesetzt und vertieft werden muss. Probleme der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewinnen für Soldatinnen und Soldaten immer größere Bedeutung, auch für
Alleinerziehende, die sich fragen: Was mache ich eigentlich mit meinem Kind, wenn ich in den Einsatz muss?
All das gehört im Übrigen auch zur Steigerung der Attraktivität des Soldatenberufes. Der Kollege Nachtwei
hat dies angesprochen und der Herr Wehrbeauftragte
geht in seinem Bericht besonders darauf ein.
Ich glaube, wir tun gut daran, den Bericht des Wehrbeauftragten, in dem natürlich auch Mängel genannt
werden, als eine Chance zu begreifen, ein weiteres Mal
als Gesellschaft genau hinzuschauen, was in den Streitkräften vorgeht, und damit erneut unter Beweis zu stellen, dass wir eng mit den Streitkräften verbunden sind.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hedi Wegener.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Dr. Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie
schön, dass in der letzten Stunde viele junge Leute oben
auf der Tribüne gesessen haben und dass dort immer
noch Schülerinnen und Schüler sitzen! Denn auf euch
kommt gegebenenfalls das zu, worüber wir hier diskutieren: der Kontakt zum Wehrbeauftragten.
Insgesamt haben wir ein Problem; denn wir stehen
vor großen Herausforderungen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben circa 4,8 Millionen Männer zwischen 16 und 25 Jahren in Deutschland. Da die
Bereitschaft junger Männer, sich freiwillig als Soldat bei
der Bundeswehr zu verpflichten, in den letzten Jahren
gleich geblieben ist, ergibt sich ein Bewerberpotenzial
von ungefähr 680 000 jungen Männern. Diese Gruppe
wird innerhalb der nächsten 20 Jahre um 20 Prozent abnehmen. Damit wird sich die Bewerberlage in der nächsten Zeit ganz spürbar verschärfen. Weil heute überproportional viele Bewerber aus den neuen Bundesländern
kommen, die dortige demographische Entwicklung aber
besonders drastisch ist, da hier ein ganz erheblicher Geburtenrückgang zu verzeichnen ist, wird die Problematik
noch größer werden. Junge Frauen interessieren sich nur
marginal für die Bundeswehr, nämlich nur jede 20. Aus
diesem Grund ist auf dieses Potenzial vorläufig nicht zurückzugreifen.
Warum sage ich das? Wir müssen pfleglich mit unseren
Soldatinnen und Soldaten umgehen, ihnen Berufschancen, Weiterbildungschancen und einen sozialverträglichen
Arbeitsplatz bieten, damit sie weiterhin die Bundeswehr
sind, die wir im In- und Ausland haben wollen. Dazu gehört auch der Wehrbeauftragte, also sozusagen die Funktion einer Beschwerde- oder Petitionsstelle, um auf Mängel, Forderungen und Wünsche einzugehen. Dafür Ihnen,
Herr Dr. Penner, Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch einmal ganz herzlichen Dank!
Es gibt keine Berufsgruppe, die einen verfassungsgemäßen Anspruch auf eine solche Beschwerdestelle hat.
Es gibt eigentlich auch keinen Arbeitgeber, der sich so
umfassend mit Mängeln beschäftigt.
In einer vor kurzem vorgelegten Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts ist ermittelt worden, dass
78 Prozent der jungen Männer ihr Interesse am Soldatenberuf damit begründen, dass sie viel mit moderner
Technik und mit Waffen zu tun haben. 74 Prozent nennen die Sicherheit des Arbeitsplatzes und immerhin
72 Prozent die Möglichkeit, sich als Soldat weiterzuentwickeln. Der gute Ruf der Bundeswehr und ihrer Soldaten, die Herausforderung einer militärischen Ausbildung
und die Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden immerhin von über 60 Prozent als Begründung angeführt.
Das bedeutet für mich, dass die Einsteiger mit einer hohen Motivation in diesen Beruf kommen. Diese Motivation müssen wir erhalten und pflegen, auch damit sie die
Motivation, wenn sie einmal Vorgesetzte sind, an ihre
Untergebenen weitergeben. Grundsätzlich bedeuten die
Ergebnisse der Studie, dass die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber ist.
Der Bericht des Wehrbeauftragten gibt uns jedes Jahr
Anhaltspunkte, wo Verbesserungen und Abhilfe von
Mängeln notwendig sind. Wir können aber auch ablesen,
auf welchen Feldern Fortschritte gemacht worden sind.
Dazu ein Beispiel: In dem Bericht von 2002 bezog sich
eine große Anzahl der Eingaben und Beschwerden auf
die langen Standzeiten und die mangelnde Flexibilität
bei Auslandseinsätzen. Dass in diesem Jahr davon nicht
mehr die Rede ist, heißt sicherlich nicht, dass es damit
grundsätzlich keine Probleme mehr gibt; aber es zeigt
doch, dass es eindeutige Besserungen gibt.
({0})
Gleichzeitig mehren sich die Eingaben wegen der Einsatzplanung. Bemängelt wird häufig eine kurzfristige
Umsetzung. Hierbei sind sicherlich noch Verbesserungen möglich.
Unsere Bundeswehr genießt im In- und Ausland ein
hohes Ansehen, nicht zuletzt wegen ihres vorbildlichen
Verhaltens bei der Durchführung ihrer oft gefährlichen
Auslandseinsätze.
({1})
Das hören wir immerzu, wenn wir Soldatinnen und Soldaten im Ausland besuchen oder mit Vertretern der Länder sprechen, die von uns Hilfe erbitten. Damit dies so
bleibt, haben wir besondere Verpflichtungen gegenüber
unseren Soldatinnen und Soldaten. Wir haben in angemessener Weise auf die Eingaben zu reagieren. Der Verteidigungsausschuss fordert deshalb den Verteidigungsminister auf, entsprechende Regelungen zu treffen.
Im März haben zwei Kolleginnen von der CDU und ich
Vertreter der „Soldatenselbsthilfe gegen Sucht“ getroffen. Diese ehrenamtliche Organisation wird auch von Ihnen, Herr Dr. Penner, erwähnt. Wir unterstützen - ich
glaube überparteilich - diese Organisation. Wir danken
dem Verteidigungsministerium, dass es sich im letzten Jahr
an dem „Aktionsplan Drogen und Sucht“ beteiligt hat.
Als letzte Rednerin möchte ich Ihnen, Herr
Dr. Penner, ganz herzlich danken. Wir sehen uns zur
dritten Lesung wieder.
Schönen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Jahresberichtes 2003 des Wehrbeauftragten auf Drucksache 15/2600
an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Hartmut Koschyk, Erwin Marschewski ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Keine Kürzungen von Integrationsmaßnahmen
- Drucksachen 15/1691, 15/2900 Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Streb-Hesse
Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Willi Zylajew, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU-Fraktion hat diesen Antrag gestellt, um
im Bildungsbereich eine erprobte, verlässliche und erfolgreiche Förderung junger Zuwanderer, in erster Linie
Russlanddeutscher, Herr Welt, zu erhalten. Wir haben
dies getan, weil wir es für richtig und wichtig halten, im
Bereich der Bildung zu investieren. Mit diesen Maßnahmen wollen wir vor allen Dingen im Bereich der Sprachkompetenz investieren, damit aber auch Grundlagen für
den weiteren Bildungs- und Ausbildungsweg in Schule,
Berufsausbildung und Studium schaffen.
Das Kabinett fordert derzeit sehr laut nach mehr Anstrengungen im Bereich Bildung.
({0})
- Zu Recht! Das sehen wir auch so, Frau Kollegin. - Es
wird also verlangt, dass sich die Länder um die Verbesserung der Schulausbildung bemühen. Dazu leisten wir
mit dem Garantiefonds im Bildungssektor einen wichtigen Beitrag für eine Gruppe, die sicherlich in besonderem Maße Handicaps hat, für die es besonders schwer
ist, sich in unserem Schul- und Ausbildungssystem zurechtzufinden. Hier bauen Sie Mittel ab. Das ist
schlechthin ein schreckliches Zeichen.
Die Bildungsministerin forderte heute früh im
Deutschlandfunk Zielvereinbarungen zwischen der Wirtschaft und der Politik, um Ausbildung sicherzustellen.
Sie verlangt nach einem Ausbildungspakt. Inzwischen
fordert das ganze Kabinett solch einen Pakt. Auf der
Grundlage dieses Paktes sollen also Mittel für Bildung
bereitgestellt werden, soll investiert werden. Selbst der
Kanzler hat sich in jüngster Zeit mit dem Thema Bildung beschäftigt; er hat sich dazu geäußert. Wir nehmen
das mit großer Freude zur Kenntnis. Sogar bei den unheimlichen Geheimgesprächen, die es zwischen Genossen gibt, soll das Thema Bildung eine Rolle gespielt haben. Nun geschieht faktisch Folgendes: Es gibt viele
Worte im Interesse der Bildung; aber bei den Taten vollzieht sich in diesem Arbeitsfeld ein Abbau.
Bis April 2005 sollen die Maßnahmen und Förderungen auslaufen, die Internate sollen sogar noch im Sommer dieses Jahres geschlossen werden bzw. deren Förderung soll eingestellt werden. Wir sagen: Dies ist
schlichtweg schlimm. Zehntausende junger Menschen
werden damit der Bildungschancen beraubt. Auf der
einen Seite tun Sie dies, aber auf der anderen Seite fordern Sie Bündnisse ein. Sie brechen hiermit - auch wenn
er nicht beurkundet war - einen Pakt, der zwischen den
Kommunen, den Trägern der Maßnahmen, den Aussiedlern und der Bundesregierung vereinbart wurde. Sie tun
dies offensichtlich sehenden Auges.
Die Bundesministerin Bulmahn hat heute beim
Tagesordnungspunkt 6 erklärt, man müsse die Sensorik
verbessern. Ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, selbiges auch zu tun.
({1})
Sie müssen in diesem Bereich die Sensorik verbessern!
Sie marschieren schlichtweg in die falsche Richtung.
Es ist ein falsches Signal, von den einen mehr Ausbildungsanstrengungen zu verlangen, sich selbst aber zurückzuziehen. Das ist ein Umstand, den wir nicht hinnehmen. Aus meiner Sicht ist Ihr Handeln hierbei wie
Wasser: durchsichtig und geschmacklos. Sie wollen da
Geld einsparen, wo Aufstockungen notwendig wären.
Das ist geschmacklos, weil Sie damit jungen Menschen
Bildungschancen verbauen und Sie selbst nicht bereit
sind, das zu erbringen, was Sie von Handwerk, Handel,
Industrie, Dienstleistern, Fachschulen und Hochschulen
verlangen.
25 Prozent unserer jungen Ausbildungsplatzsuchenden sind nicht ausbildungsfähig. Der Anteil unter den
Spätaussiedlern und den Kindern von Flüchtlingen - wir
alle kennen die Situation aus unseren Wahlkreisen - ist
noch wesentlich höher. Sie kappen trotzdem sehenden
Auges die Mittel und beenden erprobte und bewährte
Maßnahmen. Der Berufspädagoge Josef Lintermann
würde dazu sagen: Herr, vergib ihnen; denn sie wissen
nicht, was sie tun.
({2})
Nach den Gesprächen mit Ihnen muss ich leider sagen: Sie wissen, was Sie tun. Sie sind nicht bereit, in Bildung zu investieren und den jungen Menschen eine
Chance zu geben.
({3})
- Lieber Toni, du hast dich ja nicht durchsetzen können.
Ich vermute, dass du eine vernünftigere Position als
deine Fraktion hattest. Aber in diesem wie in anderen
Fällen ist deine Meinung nicht mehrheitsfähig.
Wir bitten Sie, Ihre Entscheidung zu überdenken.
Diese Kürzungen sind in dieser Zeit ein falsches Signal.
Wir wären enttäuscht, wenn Sie bei Ihrer ablehnenden
Position blieben. Wir finden, ein positives Signal wäre
ein gutes Zeichen für die jungen Menschen, die unsere
Hilfe an dieser Stelle benötigen.
Ich bedanke mich sehr.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Jochen Welt, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag „Keine Kürzungen von Integrationsmaßnahmen“, den uns die Union hier serviert, ist nach
meiner festen Auffassung unseriös, unehrlich und vor allen Dingen zynisch.
({0})
Die Union hatte in den 90er-Jahren Regierungsverantwortung. Gerade in den 90er-Jahren sind die meisten
Menschen als Zuwanderer bzw. Aussiedler nach
Deutschland gekommen. Gerade in diesen Jahren sind
auch die meisten Integrationsprobleme entstanden, weil
immer mehr Menschen ohne deutsche Sprachkenntnisse
zu uns kamen.
({1})
Gerade in diesen Jahren der erschwerten Integration
in Deutschland haben Sie den Mut bewiesen, die Dauer
der Sprachförderung in Deutschland von zwölf über
zehn auf sechs Monate zu reduzieren. Gerade in diesen
Jahren der Integrationsprobleme haben Sie auch den Mut
bewiesen, die Grundschulen aus der Förderung durch
den Garantiefonds auszuschließen. In Sachen Qualität
von Integrationspolitik sind Sie wirklich ein schlechter
Ratgeber.
({2})
Das, was Sie uns nach diesen Jahren überlassen haben,
({3})
sind Konzeptionslosigkeit und Kinder, die damals nach
Deutschland gekommen sind, die im doppelten Sinne
des Wortes „sprachlos“ sind und die hier scheiterten,
weil sie allein gelassen wurden. Dafür tragen Sie die
Verantwortung. Ich denke, es ist wichtig, darauf an dieser Stelle hinzuweisen, weil wir seit 1998 in zweifacher
Hinsicht einen Kurswechsel einleiten mussten: Erstens
haben wir die Quote bei den Aussiedlern von 200 000
auf 100 000 gesenkt. Damit haben wir für die Städte und
Gemeinden mehr Raum für Integrationsmaßnahmen geschaffen.
({4})
Diese Maßnahmen sind dadurch erst möglich geworden.
Zweitens haben wir in den Herkunftsländern mehr
Bleibehilfe geleistet, damit die Menschen wieder Chancen und Perspektiven finden und dort bleiben. Wir haben
die Großinvestitionen zurückgefahren, die Sie seinerzeit
gefördert haben, die Millionenprojekte, die Sie in den sibirischen Sand gesetzt haben und durch die die Menschen letztlich nach Deutschland gelockt wurden.
Mit unserer Integrations- und Hilfenpolitik, die wir in
den Staaten der ehemaligen Sowjetunion betreiben, investieren wir in die Herzen und Köpfe der Menschen: in
Ausbildung, Fortbildung und Qualifizierung. Die Folge
ist, dass es günstiger ist, weil wir für die Hilfen in den
Herkunftsländern pro Jahr nicht mehr 150 Millionen
Euro, sondern nur noch 25 Millionen Euro ausgeben.
Das positive Ergebnis ist, dass jetzt nicht mehr
110 000, sondern nur noch 40 000 Menschen pro Jahr einen Antrag auf Aufnahme in Deutschland stellen. Das
gibt uns Chancen für mehr Integration. Das ist unser
Beitrag zur Integrationssteuerung und Integrationsförderung.
Weil das so ist, haben wir die Mittel für Integrationshilfen aufstocken können. Mit den 16 Millionen
Euro, die dem Bundesinnenministerium unter Ihrer Regierung seinerzeit für die Projektförderung zur Verfügung standen, haben Sie die Großverbände und Großorganisationen institutionell gefördert. Wir leisten seit
1998 Integrationshilfen in einer Größenordnung von bis
zu 28 Millionen Euro. Diese Mittel haben wir aufgestockt
({5})
und Projekte vieler gesellschaftlicher Organisationen,
viele in diesem Bereich ehrenamtlich Tätige und auch
junge Menschen, die ehrenamtlich Integrationspolitik
betreiben, gefördert. Wir fördern 1 300 Projekte gesellschaftlicher Integration gegen Gewalt, Isolation und
Drogenkonsum und 7 000 Projekte im Bereich Sport und
Integration. All das sind wertvolle Hilfen. Sport ist - das
sei an dieser Stelle gesagt - geradezu eine Schutzimpfung gegen soziale Auffälligkeit.
({6})
Deswegen finanzieren wir die „Impfung“ mittels dieses
Sektors.
({7})
Natürlich, meine Damen und Herren: Die Integration
ist schwieriger geworden. Sie ist schwieriger geworden,
weil immer mehr Menschen ohne Kenntnisse der deutschen Sprache zu uns nach Deutschland gelangen. Anfang der 90er-Jahre haben 75 Prozent aller Spätaussiedler über Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt,
inzwischen sind es nur noch 20 Prozent. Diese Situation
macht das Leben nicht einfacher. Deswegen brauchen
wir neben den Sprachfördermaßnahmen, die insgesamt auf dem Stand der vergangenen Jahre geblieben
sind, auch Steuerungsmöglichkeiten. Wir wollen über
ein Zuwanderungsgesetz - das wissen Sie - den Sprachtest für Familienangehörige bereits im Herkunftsland.
Wir wollen Sprachförderung für alle mitreisenden Familienangehörigen.
({8})
Wir wollen, dass die nach dem Gesetz möglichen zusätzlichen Integrationsfördermaßnahmen für Jugendliche den Jugendlichen auch zugute kommen; das ist nach
meiner Einschätzung ein notwendiges Verfahren. Sie
stellen sich hier hin und fordern mehr Sprachförderung,
aber lassen es durch Ihre Blockadepolitik bei der Zuwanderung zu, dass immer mehr Menschen ohne Kenntnisse
der deutschen Sprache nach Deutschland kommen.
({9})
Das ist die Situation, das ist die Realität.
Also noch einmal: Ihr Antrag ist zynisch, er ist unseriös. Dank wirksamer Hilfen, die wir in den Herkunftsländern leisten, haben wir eine drastisch gesunkene Zuzugszahl. Natürlich gehen damit auch die Ausgaben für
Übersiedlung, Eingliederungshilfen und Integrationshilfen automatisch zurück. Aber speziell bei den Integrationsfördermaßnahmen ist allein für das Bundesinnenministerium zu sagen, dass die Ausgaben, die
Investitionen um mehr als 70 Prozent gestiegen sind; ich
denke, das ist ein Erfolg. Was jetzt Not tut, ist der Erwerb von Sprachkenntnissen in den Herkunftsländern
- als Integrationsvorleistung - sowie Integrations- und
Sprachkurse für alle Mitglieder von Aussiedlerfamilien.
Das haben wir im Zuwanderungsgesetz festgeschrieben.
Jetzt sind Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, am Zuge: Stellen Sie keine überflüssigen Anträge, machen Sie Ihre Schularbeiten, blockieren Sie
nicht, verabschieden Sie sich vor allen Dingen von Ihren
beiden Lebenslügen „Deutschland ist kein Zuwanderungsland“ und „Wenn Deutsche nach Deutschland
kommen, dann brauchen sie sich nicht zu integrieren“.
Verabschieden Sie sich davon und nehmen Sie letztlich
Ihre Verantwortung wahr.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ausländische Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in der Bildung stark benachteiligt und
verfügen über unzureichende Deutschkenntnisse. - Damit machte die letzte PISA-Studie das öffentlich, was
schon seit langem empirisch belegt ist: Ausländische
und Spätaussiedlerkinder haben in Deutschland eklatante Nachteile aufgrund unzureichender Sprachförderung. Damit fehlt ihnen der entscheidende Schlüssel zur
Integration. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert.
Der Kanzler ruft jetzt das „Jahr der Innovation“ aus
und die Bildungsministerin stellt eine Bildungsoffensive
in Aussicht. Jetzt wollen Sie die Mittel für die Sprachförderung jugendlicher Spätaussiedler und ausländischer
Flüchtlinge kürzen. Wie passt das bitte schön zusammen?
({0})
Herr Welt, ich frage mich: Wer von uns ist denn eigentlich zynisch - Sie oder wir? Wenn Sie hier die CDU/
CSU beschuldigen, das Zuwanderungsgesetz zu blockieren, dann möchte ich einmal fragen, warum Sie mit
keinem einzigen Satz die Position der Grünen kritisieren, die aus den Verhandlungen schließlich mit Pauken
und Trompeten ausgezogen sind.
({1})
Ich hätte mir von Ihnen eine Rede gewünscht, die zum
Thema und zum Antrag passt und nicht die Vergangenheit und die Gegenwart beschönigt.
Die Forderung der CDU/CSU ist umso wichtiger vor
folgendem Hintergrund: Im Vergleich zu deutschen Jugendlichen ist der Anteil der Jugendlichen aus Einwandererfamilien, die die Schule ohne Abschluss verlassen,
doppelt so hoch. Weit weniger junge Menschen mit Migrationshintergrund erreichen mittlere und höhere Schulabschlüsse. Der Anteil junger Menschen mit Migrationshintergrund, die keinen Berufsabschluss erreichen, ist
viermal so hoch. Die Fakten sprechen ja wohl für sich,
oder?
Bildung und Integration sind nur möglich, wenn
Deutschkenntnisse vorhanden sind; ich glaube, da sind
wir uns alle einig. Schade, dass wir uns im Ergebnis
nicht einig sind. Denn die Situation hat sich gerade bei
den Spätaussiedlern drastisch verschärft: Mitreisende
Familienangehörige verfügen in der Regel nicht mehr
über Kenntnisse der deutschen Sprache. Fragen Sie doch
bitte einmal die Menschen vor Ort nach den Konflikten,
die sich daraus ergeben, und erklären Sie dann den Betroffenen ihre Kürzungen.
Die Sprache der Mehrheitsgesellschaft ist eine der
Schlüsselqualifikationen für die von uns gewollte
Integration von eingewanderten Menschen, für deren schulischen und beruflichen Erfolg - und damit
für ihren sozialen Aufstieg.
Das stammt aus einem Beschluss der Grünen. Warum
Sie heute quasi gegen Ihren eigenen Beschluss stimmen,
würde ich gerne einmal wissen. Warum wollen Sie diese
Mittel eigentlich kürzen, wenn das doch Ihre Beschlusslage ist? Oder ist das wieder ein Tribut, wie wir es in dieser Woche häufig erlebt haben, an den Koalitionspartner
SPD? Wir halten das für einen Offenbarungseid der grünen Integrationspolitik. Muss denn da nicht eigentlich
Ihr Gewissen aufschreien?
({2})
Wie wird Ihre grüne Parteiführung das eigentlich Ihrer
Basis vermitteln? Nachdem Sie das Problem jetzt nicht
mehr im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes lösen können, müssten Sie doch gerade mehr Geld zur Verfügung
stellen. Diesen Widerspruch müssen Sie uns und den
Wählern erst einmal erklären. Oder streben Sie jetzt statt
vernünftiger Integrationsmaßnahmen wieder eine multikulturelle Ideologie an, die nur Parallelwelten schafft,
aber kein gemeinsames Miteinander? Ihr Vorhaben wird
die Probleme nur verschärfen.
Aus diesen Gründen - damit komme ich zum
Schluss - stimmen wir dem Antrag der CDU/CSU zu.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Aus gegebenem Anlass werde ich gleich auch
noch auf die Zuwanderungsgesetze eingehen, Frau Kollegin Piltz.
Die CDU/CSU-Fraktion kritisiert - das haben wir gehört - im vorliegenden Antrag die Kürzungen im Garantiefonds sowie die zeitlichen Kürzungen der Sprachkurse
und fordert die Wiederherstellung des ursprünglichen
Zustands. Hierbei geht es nicht nur um die Eingliederung junger Spätaussiedler, sondern auch um die Eingliederung junger anerkannter ausländischer Flüchtlinge.
Der Bundesrechnungshof hat den Gesetzgeber aufgefordert, die Förderung nach dem Garantiefonds für
Schulpflichtige einzustellen.
({0})
Das wurde noch nicht erwähnt. Durch Erlass vom
13. Juni 2002 sind die Länder sehr frühzeitig über die
Beendigung dieser Förderung zum 31. Dezember 2003
unterrichtet worden.
({1})
Vorbereitungszeit und auch Zeit für die entsprechenden
Haushaltsplanungen hätte eigentlich genug sein müssen.
({2})
Eine ganze Reihe von Bundesländern hat nicht zuletzt
wegen der Ergebnisse der PISA-Studie - das wurde bereits angesprochen - inzwischen erfolgreiche Maßnahmen eingeleitet, um die schulpflichtigen jungen Spätaussiedler gemeinsam mit den jugendlichen Migranten
ausreichend sprachlich zu fördern. Im Rahmen der
PISA-Studie ist aufgefallen, dass es auch bei in Deutschland geborenen „normalen Deutschen“ teilweise erhebliche sprachliche Defizite gibt. Man kann im Zusammenhang mit der Frage der Integration und angesichts
dessen, was man von den zugewanderten Menschen verlangt, nicht einfach ausblenden, dass es inzwischen
selbst bei hier geborenen Kindern deutscher Eltern, die
ebenfalls bereits hier geboren sind, große Probleme gibt.
Meine Fraktion setzt sich seit langem für ein einheitliches Integrationsangebot für alle Zugewanderten und
für eine gleichwertige Förderung aller Zuwanderungsgruppen ein.
({3})
Eine Privilegierung einzelner Gruppen, wie zum Beispiel die der Spätaussiedler, lehnen wir ab.
Es gibt unbestreitbar Probleme bei der Integration in
Deutschland. Diese sind aber auf die jahrzehntelange
verfehlte Gastarbeiterpolitik zurückzuführen. Wenn etwa
beim Bund bisher jährlich Sprachkurse für weniger als
0,5 Prozent der erwachsenen ausländischen Wohnbevölkerung finanziert worden sind und der Rest in die Förderung der Aussiedlerintegration geflossen ist, dann muss
man sich über Defizite bei der Integration eines Teils der
erstgenannten Gruppe nicht wundern. Konsequenterweise war deshalb in unserem Zuwanderungsgesetzentwurf ein Rechtsanspruch, aber auch eine Teilnahmeverpflichtung für alle Neuzuwanderer vorgesehen. Das ist
die richtige Lösung.
Jetzt kommen wir zur Union. Es ist wirklich nicht
mehr zu verstehen, wie Sie mit dem Zuwanderungsgesetz und mit dem Teil der Integration in diesem Gesetz
umgegangen sind.
({4})
Werter Herr Kollege Zylajew, Sie waren ja nicht dabei,
ich richte das daher an Ihre Fraktion und nicht an Sie
persönlich. Die Aufgabe der Integration besteht nicht
nur aufseiten der Zuwanderer, sondern auch aufseiten
der aufnehmenden Gesellschaft. Wir stehen alle gemeinsam in der Verpflichtung, die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Integration stattfindet. Hier kann nicht nur eine Verpflichtung
eingefordert werden, ohne dass ein Angebot unterbreitet
wird.
({5})
Werte Frau Kollegin Piltz, der Vermittlungsausschuss
hat sich in epischer Breite mit diesen Fragen beschäftigt.
Zum Ende der Beratungen des Vermittlungsausschusses
wurden wir von der rechten Seite dieses Parlamentes
überwiegend mit sachfremden Erwägungen konfrontiert.
({6})
- Werter Kollege, diese Erwägungen konnte man auf jeden Fall nicht mit der Integration in Verbindung bringen.
Um die Integration zu fördern, wollen wir mehr gezielte Angebote zur Sprachförderung unterbreiten.
Nach dem, was Sie gesagt haben, geht es Ihnen vor allem darum, zu kriminalisieren, zu bestrafen und aufenthaltsrechtliche Sanktionen einzuführen. Nach Ihrer Meinung müssen die Leute raus, wenn sie den Kurs nicht
bestehen. Das kann nun wirklich nicht die Lösung sein.
({7})
- Werte Frau Kollegin Piltz, ich schimpfe ja überwiegend auf die Union.
({8})
In meiner nächsten Rede werde ich dann auf Sie schimpfen. Dazu habe ich heute nicht mehr genug Zeit.
Werte Kollegen der Union, die reine Verschärfung des
Ausländerrechts, die Sie fordern, will ich nicht mittragen. Es geht nicht, dass Sie solche Anträge einbringen
und sich Rosinen herauspicken. Sie wollen uns nämlich
im Kleinen etwas nachweisen, weil Sie meinen, dass wir
etwas nicht so tun, wie wir es uns in unseren eigenen
Zielen vorgegeben haben. Sie müssen aber unser Gesamtkonzept bezüglich der Gestaltung der Zuwanderung
betrachten. Danach können wir unser Konzept mit Ihrem
vergleichen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dann Sie
und nicht wir den Offenbarungseid leisten müssen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Jochen-Konrad Fromme,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Welt, wenn hier jemand blockiert, dann
sind es die Grünen, die ihren eigenen Innenminister blockieren, und nicht wir;
({0})
denn wir haben nur die Forderung Ihres Innenministers
aufgegriffen. Alles andere stand von Anfang an in Rede,
sodass das gar nichts Neues ist. - Ihre Reaktion zeigt ja
auch, dass ich offensichtlich ins Schwarze getroffen
habe.
({1})
Es ist schon erstaunlich, dass hier unter dem gleichen
Etikett unterschiedliche Dinge vertreten werden. Herr
Welt, wenn all das, was wir gemacht haben, so falsch
war, dann weiß ich überhaupt nicht, warum Sie uns noch
unterbieten. Ich kann Ihren Kurswechsel, der darin besteht, all das in Ihren Augen Falsche noch falscher zu
machen, nur als „toll“ bezeichnen.
({2})
Sie verkennen, dass die Integrationsprobleme natürlich auch deshalb größer geworden sind, weil das Umfeld völlig anders ist als Anfang der 90er-Jahre. Die
wirtschaftliche Situation ist völlig unterschiedlich und es
ist heute natürlich schwieriger, Problemgruppen im
Arbeitsmarkt unterzubringen.
({3})
- Natürlich ist das das Thema. Bei der Integration geht
es auch darum, in welchem Umfeld sie vollzogen wird.
In einem schwierigeren Umfeld ist es nun einmal
schwieriger. Dass das Umfeld in den letzten Jahren
schwieriger geworden ist, haben Sie zu vertreten; denn
nicht umsonst sind wir von der Lokomotive zur roten
Laterne in der EU geworden. Diese Probleme haben das
Ganze zusätzlich erschwert.
({4})
Wenn ich mir die Ergebnisse der Ausschussberatungen anschaue, dann sehe ich, dass Sie keine Gruppe der
Migranten gegenüber einer anderen bevorzugen wollen.
Sie sagen, die Kürzung der Sprachkurse sei richtig. Vorhin hat Herr Welt genau das Gegenteil gesagt. Sie behaupten, Sie hätten keine Mittel gekürzt. Ich werde Ihnen gleich die Zahlen vorhalten. Die Grünen sagen, man
sollte das Geld lieber in den Jugendbereich geben.
Sie wollen alle Menschen, die zuziehen, in einen Topf
werfen. Dabei verkennen Sie die historischen Dimensionen. Wir haben das hier in der ersten Lesung ganz
ausführlich behandelt. Wir stehen zu der unterschiedlichen Behandlung. Das kann man natürlich unterschiedlich sehen. Ich kann nur sagen: Wer das so sieht wie Sie,
der lässt die historischen Bezüge außer Acht. Sie haben
einen anderen Blickwinkel als wir.
({5})
- Ihr Blickwinkel ist schlicht und einfach falsch.
Herr Welt, Sie behaupten, Sie hätten keine Mittelkürzungen vorgenommen. Ich kann Ihnen nur sagen:
({6})
Im Haushalt 1998 standen 894 Millionen Euro bereit. Im
Haushalt 2004 stehen nur noch 590 Millionen Euro bereit. Hinzu kommen noch die Kürzungen, die Sie mit den
Koch/Steinbrück-Vorschlägen begründet haben. Diese
Kürzungen im Einzelplan 17 haben im Koch/SteinbrückPapier überhaupt nicht gestanden. Herr Welt, ich rate Ihnen, sich eine neue Brille zuzulegen, damit Sie nicht nur
den Haushalt des Bundesinnenministeriums, sondern
alle Haushalte überblicken können. Ihr Blick ist ein wenig kurzsichtig.
Sie haben noch eine weitere Kürzung vorgenommen,
indem Sie die vorhandenen Töpfe auch anderen Gruppen
zugänglich gemacht haben. Das ist eine doppelte Kürzung. Das und nichts anderes ist Ihr Kurswechsel.
Wenn Sie erklären, die Tatsache, dass weniger Aussiedler nach Deutschland kommen, sei Ihr Verdienst,
dann verkennen Sie die Realität. Es kommen weniger,
weil es weniger gibt. Tatsächlich ist das Potenzial kleiner geworden.
({7})
Darüber hinaus führen Sie die Forderung des Bundesrechnungshofes nach einer veränderten Kompetenzordnung als Begründung für Ihre Kürzung an. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wenn es Ihnen wirklich um die
Integration ginge, dann hätten Sie die Forderung des
Bundesrechnungshofes als Anlass genommen, um mit
den Ländern zu verhandeln. Sie aber haben einfach die
Mittel gestrichen. Das zeigt, dass es Ihnen nicht um ordnungsgemäße Zustände geht, sondern Sie wollen
schlicht und einfach Mittel kürzen. Außerdem haben Sie
die Zuwendungen für die Sprachkurse für junge Spätaussiedler verringert. Stattdessen haben Sie neue Bürokratieorgien entwickelt. Das ist Ihre Art von Politik. Sie
hilft nicht den Menschen, sondern allenfalls den Bürokraten.
Wenn Sie verlangen, dass die Angehörigen von Aussiedlern einen Sprachtest machen sollen, dann ist das
zum einen kontraproduktiv. Es ist kontraproduktiv, weil
sich dann die Angehörigen nicht mehr in den Eingliederungsschein eintragen lassen, sondern mit Berufung auf
Art. 6 des Grundgesetzes einreisen, wodurch sie als Ehepartner und Familienangehörige außerhalb jedes Integrationszwangs stehen und trotzdem hier bleiben dürfen.
Das hat mit Integration nichts zu tun. Zum anderen stellen Sie die deutschen Aussiedler bei der Integration
schlechter als andere Migranten; denn ihnen wird erlaubt, die Sprachkenntnisse vor Ort zu erwerben. Das ist
insbesondere vor unserem historischen Hintergrund unanständig. Anders kann man das nicht bezeichnen.
({8})
Herr Welt, Sie haben erklärt, dass heute immer weniger Aussiedler Sprachkenntnisse besitzen. Das ist richtig
und falsch zugleich. Es ist falsch, weil sich ein Familienverband denjenigen aussucht, der den Test am leichtesten besteht, während sich der Rest in den Aufnahmebescheid aufnehmen lässt. Das ist eine vernünftige
Handlungsweise. Sie haben den Druck in diese Richtung
sogar noch erhöht. Das aber ist der falsche Weg. Wenn
sich jemand nicht für den Sprachtest anmeldet, dann
heißt das noch lange nicht, dass er kein Deutscher im
Sinne des Grundgesetzes ist.
({9})
- Sie haben die Zahlen so dargestellt, dass dieser Eindruck entsteht.
Sie kriminalisieren die Aussiedler, indem Sie behaupten, dass sie krimineller als andere Gruppen sind. Die
Statistik, mit der das bewiesen werden soll, existiert gar
nicht, weil es das Erfassungsmerkmal des Aussiedlers in
der Kriminalstatistik nicht gibt. Als Kriterium wird der
Geburtsort genommen. Sie meinen, dass jeder, der im
Eichsfeld geboren ist, katholisch ist. Wenn er nicht katholisch ist, wird er in der Statistik „katholisch gemacht“.
({10})
Das ist unseriös. Das Kriminalamt in Hessen und auch
die bayerische Forschungsgruppe für Kriminalstatistik
haben dies sehr genau analysiert. Ich habe leider nicht
die Zeit, Ihnen dies im Einzelnen vorzutragen.
({11})
Ich rate Ihnen, sich damit sehr genau zu beschäftigen.
Dann kommen Sie nämlich zu dem Ergebnis, dass es
hier keine eklatanten Abweichungen gibt.
Wer die Mittel kürzt und die Wirtschaft ruiniert, der
darf sich über schlechte Integrationsergebnisse nicht
wundern. Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen:
Stimmen Sie unserem Antrag zu, um endlich den Kurswechsel in die richtige Richtung zu vollziehen.
({12})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Rita Streb-Hesse, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir
sollten uns an eines erinnern: Thema dieser Aussprache
ist das Sprachförderungskonzept des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, nicht des
Bundesinnenministeriums. Darauf bezieht sich Ihr Antrag.
({0})
In diesem Bereich ist keine Mittelkürzung erfolgt. Das
wollte ich einmal klarstellen, auch wenn das jetzt das
fünfte Mal gesagt worden ist. Man kann zwar alles miteinander vermengen, aber es wird dadurch nicht besser.
({1})
Das jahrelange Hin und Her - ich meine nicht die
letzten Verhandlungen - um das Ob und Wie eines Zuwanderungsgesetzes lässt zwei positive Ergebnisse vergessen.
({2})
- Ich komme jetzt zum Thema. - Der erste Punkt ist die
breite Akzeptanz der Tatsache, dass Deutschland ein
Einwanderungsland ist. Um es mit Marlene Dietrich zu
sagen: Nicht nur die Aussiedler haben ihren Koffer ausgepackt und wollen hier bleiben, sondern auch alle anderen Zuwanderer und Migranten. Der eine Koffer ist in
der Heimat verblieben. Ob der Koffer von Ihnen eine
Gleichbehandlung erfährt, ist allerdings sehr fragwürdig.
({3})
Das Zweite ist die Notwendigkeit - das wird vergessen,
weil viele in den letzten Jahren von Integration reden -,
Integration neu zu ordnen. Integration - das ist in der
Fachwelt nicht streitig - ist ein gesellschaftlicher Prozess. Alle Vorschläge, die wir in den letzten drei Jahren
auf den Tisch bekommen haben, zeigen sehr deutlich,
dass ein hohes Maß an Übereinstimmung darüber besteht, wie Integration für Kinder und Jugendliche mit
Migrationshintergrund erfolgen sollte.
Der Kollege Zylajew und die Kollegin Piltz haben zu
Recht aufgezählt, worin wir übereinstimmen. Nicht
streitig ist die Türöffnerfunktion von Sprache bzw.
Sprachkenntnissen. Nicht streitig ist auch, dass wir eine
öffentliche Verantwortung für eine bedarfsgerechte
Sprachförderung haben. Nicht streitig ist - darüber haben wir vor einigen Wochen diskutiert -, dass im öffentlichen Bildungssystem und im vorschulischen Bereich
eine frühzeitige und verstärkte Förderung erfolgen muss.
Wir alle haben begrüßt, dass die Länder unter Berücksichtigung der Empfehlung des Forums Bildung und der
Verabredung der Bund-Länder-Kommission - da gibt es
die Verknüpfung zwischen dem Bund und den Ländern bereits vielfältige Maßnahmen auf den Weg gebracht haben.
Wir wissen, dass diese Maßnahmen bei aller Vielfalt
eines gemeinsam haben: Sie orientieren sich jetzt vorrangig an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen
und nicht mehr an ihrer Herkunft, sei es bei Frau Wolff
in Hessen oder sei es bei Herrn Böger in Berlin. Das ist
das gemeinsame Konzept. Wir finden das gut. Es erfolgt
eine Begleitung durch die Bundesregierung und die Beauftragte gibt Handreichungen für den Kindergarten.
Diese werden genutzt, jeder freut sich darüber und arbeitet damit.
Wenn jetzt aber die Bundesregierung genau im Wissen um die Änderungen im Bildungssystem mit dem Ziel
der Passgenauigkeit, der Effizienz - die Träger wollen
das auch, wenn auch nicht unbedingt die Internatsbetreiber, Kollege Fromme -, der Überschaubarkeit und zur
Sicherstellung eines regionalen Angebots gerade im
ländlichen Bereich Sprachförderungsmaßnahmen zum
Sprachkonzept für alle jungen Migrantinnen und Migranten zusammenführt, dann ist auf einmal die Gemeinsamkeit zu Ende, obwohl sich dieses Angebot gleichfalls
mehr an dem Integrationsbedarf des einzelnen Jugendlichen - Sprachkenntnisse, Berufsausbildung und Schulausbildung - orientiert anstatt ausschließlich an der
Herkunft. Das ist die Differenzierung im Sprachförderungskonzept. Für die Aussiedlerjugendlichen gibt es
noch eine andere - wie Sie wünschen: pfleglichere - Behandlung in vielem anderen mehr.
Ihre Argumente, meine Damen und Herren von der
Opposition - Frau Piltz, Sie waren bei der letzten Diskussion im Ausschuss nicht dabei, weil Sie kein Mitglied sind -,
({4})
sind keine Antwort auf die veränderte Migration. In Ihrem Antrag, Kollege Zylajew, wünschen Sie längere
Sprachkurse von zwölf bis zu 18 Monaten, und zwar nur
für eine bestimmte Gruppe. Diese alte Praxis hat aber
doch gezeigt, dass die gesellschaftliche Integration, die
Sie und wir erwartet haben, nicht funktioniert. Deswegen gibt es ein anderes Konzept. Wir werden sehen, ob
das erfolgreich ist oder nicht.
({5})
Dieser Antrag ist nicht isoliert zu sehen. Die Verhandlungen über das Zuwanderungsgesetz und manche Länderentscheidungen lassen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der von
Ihnen öffentlich geforderten - ich betone es - verstärkten,
nachholenden und umfassenden Integrationspolitik
aufkommen. Diese Zweifel sind bei mir mittlerweile
ganz stark.
({6})
Der CDU/CSU-Vizefraktionsvorsitzende Bosbach
forderte am letzten Freitag, dass diese umfassende, verstärkte und nachholende Integration nicht nach Kassenlage erfolgen darf. Schauen Sie sich einmal die Haushalte der CDU/CSU-regierten Länder an. In Hessen
werden die Landesmittel für Familien, Jugend und Sozialarbeit so radikal gekürzt, dass alle laufenden Integrationsmaßnahmen gefährdet sind und neue überhaupt nicht
mehr angefangen werden können.
({7})
In Bayern ist der Landeszuschuss für die Ausländersozialberatung drastisch reduziert worden; er ist in BadenWürttemberg bereits 2002 und nun auch in Hessen komplett gestrichen worden, wohl wissend, dass dadurch
auch der an den Landeszuschuss gebundene Bundesanteil nicht mehr gesichert ist.
({8})
Wo passt bei Ihnen der Topf zum Deckel?
Frau Kollegin, werfen Sie bitte einen Blick auf die
Uhr!
({0})
Entschuldigung.
Die rot-grüne Integrationspolitik ist auf einem guten
Weg. Mittlerweile hat die Bundesregierung ein Gesamtkonzept zur Jugendintegration erarbeitet und vorgestellt.
Es umfasst jetzt auch die Jugendmigrationsdienste.
Für meine Fraktion möchte ich der Bundesregierung,
ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dem Fachpublikum, den Sachverständigen und den Maßnahmeträgern für diese neuen Schritte danken. Ich denke, wir sind
damit auf einem guten Weg.
({0})
Wir laden Sie von der Opposition weiterhin ein: Beenden Sie Ihre Blockade! Beteiligen Sie sich an der Gestaltung! Das liegt in unser aller Interesse.
({1})
Die Kollegin Petra Pau hat ihre Rede zu diesem
Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben.1) Deshalb
schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 15/2900 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Keine Kürzungen von Integrationsmaßnahmen“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/1691 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung der Strafverfolgung zu erweitern und diesen jetzt gleich als Zusatzpunkt 14 aufzurufen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Somit rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Immunität von Mitgliedern der Bundesver-
sammlung
hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchfüh-
rung der Strafverfolgung
- Drucksache 15/3107 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 15/3107, die Genehmigung zur Durchführung der
Strafverfolgung zu erteilen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Bundesärzteordnung und
anderer Gesetze
- Drucksache 15/2350 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({2})
- Drucksache 15/3039 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Erika Ober
Die Rednerinnen und Redner Dr. Erika Ober, Helge
Braun, Dr. Hans Georg Faust, Petra Selg und Detlef Parr
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung und anderer Gesetze, Drucksache 15/2350. Der Ausschuss für
Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3039, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in
der Republik Moldau unterstützen
- Drucksache 15/3052 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Botschafter
Corman! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innerhalb
kürzester Zeit diskutieren wir erneut über einen Antrag,
der sich mit der Republik Moldau befasst. Das hat aber
1) Anlage 4
einen sehr erfreulichen Umstand als Ursache, nämlich
dass sich alle Fraktionen dieses Hauses auf einen gemeinsamen Antrag verständigen konnten. Deshalb
möchte ich ausdrücklich allen Fraktionen in diesem
Hause danken.
({0})
Inhaltlich unterscheidet sich der Antrag nur unwesentlich von dem der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
({1})
was angesichts der Situation in der Republik Moldau
auch kaum verwundert. Denn seit unserer letzten Debatte haben sich die Probleme der Republik Moldau eher
vergrößert, sodass man unsererseits kaum zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen kann. Ich denke,
dass der vorliegende gemeinsame Antrag einen wichtigen Beitrag zur Lösung der dortigen Probleme liefert.
Die heutige Debatte findet knapp eine Woche nach
der größten Erweiterung der Europäischen Union statt.
Wir werden sicherlich innere Herausforderungen zu bewältigen haben. Aber das darf nicht dazu führen, dass
wir unsere Nachbarn aus dem Blickfeld verlieren. Im
Gegenteil: Wir werden in stärkerem Maße auf unsere
Nachbarn schauen müssen. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die EU-Kommission das Konzept der neuen
Nachbarschaft entwickelt hat. Im Rahmen dieses Nachbarschaftskonzeptes werden in Zusammenarbeit mit den
verschiedenen betroffenen Ländern Aktionspläne erarbeitet. Diese Pläne sollen länderspezifisch, sozusagen
maßgeschneidert sein sowie gemeinsame Politikziele
und politische und wirtschaftliche Richtwerte enthalten,
die dazu dienen, den Fortschritt zu messen.
({2})
In diesen Aktionsplänen kommen sowohl Angebote
als auch Erwartungen der Europäischen Union an die betroffenen Länder zum Tragen. In meinen Augen bieten
die Verhandlungen über diese Aktionspläne eine hervorragende Chance für die entsprechenden Länder, eigene
Vorschläge einzubringen sowie für sich selber Aufgaben
und Maßnahmen zu definieren, die dazu dienen, den
Fortschritt im eigenen Land zu messen und zu überprüfen.
In welchem innenpolitischen Umfeld finden die Verhandlungen der EU mit der Republik Moldau statt?
Auch drei Jahre nach dem Amtsantritt der Kommunisten
haben sich die politischen, die wirtschaftlichen und die
bürgerlichen Freiheiten nicht verbessert. Im Gegenteil:
Sie sind schlechter geworden. Gerade die jüngsten Versuche der Regierung, unabhängige Medien zu verbieten,
zeigen, dass man dort noch sehr weit entfernt von unseren europäischen Standards und unserem Demokratieverständnis ist. Auch die anhaltende Weigerung der großen kommunistischen Mehrheit, einen Dialog mit der
Opposition zu führen, weist in die gleiche Richtung: Es
gibt eine große Distanz zum allgemeinen Demokratieverständnis.
({3})
Der Umstand, dass drei Abgeordnete ihre Immunität
verlieren, weil zwei von ihnen an einer nicht genehmigten Demonstration teilgenommen haben, spricht ebenfalls Bände und ist ein Hinweis darauf, wohin zurzeit der
Weg führt. Der mangelnde Wille zur Kooperation mit
den internationalen Geldgebern verbaut gleichermaßen
die Chance, die eigene wirtschaftliche Entwicklung endlich umzukehren und aus der desolaten wirtschaftlichen
Situation herauszufinden. Die Folge ist eine zunehmende Armut unter der Bevölkerung.
Gerade vor dem Hintergrund, dass eventuell von 2007
an die Republik Moldau ein direkter Nachbar der Europäischen Union sein wird, ist es für die EU ein direktes
Problem, dass der Transnistrienkonflikt nach wie vor
ungelöst ist. Wir haben es mit einem rechtsfreien Raum
zu tun, in dem kriminelle Machenschaften, die vom Drogenhandel bis zum Menschenhandel reichen, freie Bahn
haben. Das können wir nicht akzeptieren.
({4})
Mein Kollege Helias wird dazu noch weitere Ausführungen machen.
Der gesamte Zustand der Republik Moldau muss uns
vor diesem Hintergrund mit großer Sorge erfüllen. Das
bedeutet für mich, dass sich die EU angesichts der
Probleme ihrer Verantwortung gegenüber diesem Land
stellen muss. Sie muss mehr Engagement zeigen und vor
allen Dingen für die Menschen in der Republik Moldau
spürbar präsenter sein. Deswegen fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung beispielsweise auf, sich
für eine möglichst baldige Eröffnung eines Büros der EU
in Chisinau einzusetzen.
({5})
Ich denke, in einem zukünftigen Nachbarland der EU
müsste das eigentlich selbstverständlich sein.
Wir fordern außerdem, die Instrumente der bilateralen
und der multilateralen Entwicklungshilfe verstärkt einzusetzen, auch wenn wir die diesbezüglichen Schwierigkeiten in solchen Ländern kennen.
Unser fraktionsübergreifender Antrag enthält aber
auch - ich denke: zu Recht - Erwartungen an die
Republik Moldau. Die moldauische Regierung muss
schon klarstellen, welchen Weg sie eigentlich gehen
will.
({6})
In der letzten Woche hat mir der moldauische Außenminister dazu ganz deutlich gesagt, seine Regierung habe
die feste Absicht, Moldau näher an die Europäische
Union heranzurücken, und zwar mit dem Ziel, in der Zukunft Mitglied der EU zu werden. Ich habe daraufhin gefragt, woran man diese Absicht erkennen kann. Es liegt
ja auf der Hand: Worten müssen irgendwie valide Taten
folgen. Deswegen war es mir auch wichtig, zum Ausdruck zu bringen, dass wir von der Regierung in Moldau
einiges erwarten. Das heißt: Diese Regierung muss die
gravierenden Mängel im Bereich der Demokratie, der
Menschenrechte und der Grundrechte jetzt beseitigen,
wenn sie glaubwürdig sein will.
({7})
Ganz nebenbei bemerkt: Wenn die moldauische Regierung wirklich eine europäische Perspektive wünscht,
dann muss sie den Widerspruch zum Programm der sie
tragenden Partei auflösen. Wir wollen mehr als nur Lippenbekenntnisse.
({8})
Dieser Antrag ist keine einseitige Handlungsaufforderung an die Bundesregierung und die EU-Kommission;
er ist vielmehr eine Aufforderung zu einem konstruktiven Dialog. Damit die Fortschritte messbar sind, fordern
wir neben der Umsetzung des Aktionsprogramms für
Moldau die Formulierung von klaren Kriterien hinsichtlich der Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Grundrechten sowie Minderheitenschutz in der Republik Moldau - und dann auch die
entsprechende Kontrolle.
Ich hoffe, dass wir selbst, die Abgeordneten, mit diesem Antrag einen kleinen Beitrag zur Verbesserung der
Situation in der Republik Moldau leisten. Mit der heutigen Verabschiedung dieses Antrags legen wir dieses
Thema nicht ad acta. Wir erwarten und wir hoffen, dass
uns die Bundesregierung regelmäßig über ihre Bemühungen berichtet.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute über ein Land, das in
Europa gewissermaßen vergessen ist. Es ist zudem das
ärmste Land Europas. Deshalb ist es wichtig, dass wir
darüber beraten und gemeinsam einen Antrag verabschieden.
Ich bin der Kollegin Claudia Nolte sehr dankbar, dass
sie als Beauftragte des Bundestages für dieses Land die
Initiative zu dieser Debatte ergriffen hat. Ich bin ebenfalls sehr dankbar, dass es ihr und manchen anderen gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu dieser Sache
vorzulegen und voraussichtlich zu verabschieden.
Deutschland und ganz Europa sollten gemeinsam ein Interesse daran haben, dass dieser vergessene Fleck Europas mehr Aufmerksamkeit erhält. Wir müssen uns ihm
mehr zuwenden.
Wenn wir zurückschauen, dann sehen wir, dass dieses
Land mit dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig
geworden ist. Man hat versucht, für Demokratie und
Freiheit zu sorgen. Das geschah unter anderem durch
Regierungen, die versuchten, die Identität des Landes
neu zu bestimmen. Eines der Hauptprobleme dieses Landes besteht ja darin, dass es auf der Suche nach der eigenen Identität ist.
Die angestammten Bürger dieses Landes sind in ihrer
großen Mehrheit eigentlich Rumänen. Durch den Lauf
der Geschichte wurden sie aber - ohne ihr eigenes
Zutun - unterschiedlich zugeordnet. So hat jeder gelernt,
die Muttersprache unterschiedlich zu schreiben: einmal
in kyrillischen und einmal in lateinischen Lettern. Wir
wissen, dass Sprache und Kultur wesentliche Bestandteile der Identität eines Volkes sind.
Die Sowjetunion hat mit einer einseitigen Siedlungsund Grenzpolitik das Ziel verfolgt, die Identität dieser
Nation auszulöschen. Die heutigen Probleme in Transnistrien haben mit dieser Vergangenheit zu tun.
Es war deutlich, dass die neuen Regierungen nach
1991 vor ungeheuren Problemen standen. Sie haben es
zwar verstanden, Rechtsstrukturen zu schaffen, Demokratie zu schaffen - jedenfalls dem Gesetz nach; das
müssen wir zugeben -, aber sie haben es nicht geschafft,
der Bevölkerung eine Perspektive zu geben. Deswegen
konnte gelingen, was man sich normalerweise kaum vorstellen kann, nämlich dass eine kommunistische Partei,
und zwar eine nicht reformierte, mit einer überwältigenden Mehrheit gewählt wurde. Es ist also wichtig, die Ursachen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten
dieses Landes und dieses Volkes im Blick zu haben.
Nun haben wir den Salat - so hätte ich beinahe gesagt. Nun hat dieses Volk die Probleme, die mit einer
solchen Regierung natürlich verbunden sind. Alles das,
was man nach einem Vorurteil - das gebe ich zu - gegenüber einer kommunistischen Regierung vermuten
kann, wird getreu eingelöst, nämlich das Kaputtmachen
der parlamentarischen Demokratie, der Unabhängigkeit
der Justiz und der Unabhängigkeit der Medien. In kleinen, aber sehr gezielten und sehr bewusst durchgeführten Schritten wird die Demokratie zurückgebildet. Das
Rad der Geschichte dreht sich in Moldau zurzeit zurück.
Das ist natürlich eine ungeheure Herausforderung für
dieses Land selbst, aber, wie ich glaube, eben nicht nur
für dieses Land.
Während der Freedom House Report vor kurzem
noch sagte, dass die Presse und die Medien zum Teil frei
seien, stuft er die Medien heute als unfrei ein. Das Parlament und die Opposition werden in ihren Rechten so beschnitten, dass vor kurzem Folgendes passierte: Die
Regierung erklärt, dass sie proeuropäisch ist und sich
Europa zuwendet. Sie führt eine Debatte. Diese wird
nach zehn Minuten abgebrochen. Die Opposition kommt
dazu nicht zu Wort. - Die Erklärung widerspricht also
den realen Abläufen in diesem Land.
({0})
Dazu kommt die Frage der Wirtschaft. Von Wirtschaftsreformen kann überhaupt keine Rede sein. Im
Augenblick versucht man, die privatisierte Landwirtschaft neu zu kollektivieren. Das alles sind Anzeichen,
die sehr deutlich machen: Die Politik in diesem Land
geht rückwärts.
Zum Außenpolitischen hat Präsident Voronin zwar
erklärt - so wurde es von meiner Vorrednerin schon gesagt -, man habe einen proeuropäischen Kurs - das wird
immer deklaratorisch behauptet -, aber die Politik im
Lande tritt eine solche Orientierung mit Füßen. Die Innenpolitik beweist nämlich das Gegenteil.
Die Frage ist nur: Wollen wir das Land einfach an dieser Regierung messen? Ich glaube, das wäre falsch.
({1})
Wir haben es mit Menschen zu tun, die eine europäische
Vergangenheit haben und die sich zu Europa hingezogen
fühlen. Wir haben bei den Feierlichkeiten der EU-Botschaften in diesem Land in den letzten Tagen erlebt, dass
Intellektuelle aus Moldau mit Wehmut sehen, was woanders möglich ist und was für sie selbst in ihrem Land bisher nicht möglich ist. Wir sollten dieses Volk dieser Regierung nicht zur Geisel geben, glaube ich,
({2})
sondern wir sollten alles tun, damit das, was eine europäische Perspektive für dieses Land genannt wird, wirklich
mit Inhalt ausgefüllt wird.
Der Transnistrienkonflikt ist wahrhaftig ein äußerst
schwieriges Problem. Die OSZE hat sich darum gekümmert. Wir wissen: Es lässt sich ohne die Kooperation mit
Russland nicht lösen. Gleichzeitig müssen wir im
Westen sehr deutlich sagen - vor allem gegenüber Russland -, dass wir Kooperation und konstruktive Politik erwarten.
({3})
Wir erwarten, dass die Truppen abgezogen werden, wie
es 1999 in Istanbul zugesagt worden ist. Wir erwarten,
dass man sich mit den Herrschern in Transnistrien über
den Fahrplan für den Abzug der dort vorgehaltenen
Munition einigt. Es kann nicht hingenommen werden,
dass es extrem lange dauert, weil man nur alle paar Wochen oder nur jeden Monat einen Zug abfahren lässt.
Dies muss in nächster Zeit schnell geschehen.
Heute sind ja verschiedene Organisationen an der Lösung dieses Konflikts beteiligt. Die OSZE hat gerade in
Bezug auf den Transnistrien-Konflikt wichtige Initiativen unternommen, aber sie sind im Sande verlaufen,
weil Mitglieder der OSZE, insbesondere Russland, und
natürlich auch die Akteure vor Ort, nicht wirklich mitarbeiten. Dann gab es den Vorschlag einer gemeinsamen
Verfassungskommission. Aber auch in diesem Punkt
kommt man nicht voran. Dann macht Russland an der
OSZE vorbei einen Vorschlag und legt einen Entwurf
vor, der im Grunde das Land auf Dauer an Russland bindet. Auch das kann natürlich nicht akzeptiert werden.
({4})
Man merkt, dass der Präsident und die Regierung in all
diesen Fragen einen Schlingerkurs fahren, der, wie ich
denke, ebenfalls nicht akzeptiert werden kann.
Wir sollten uns darauf besinnen - das hat meine Vorrednerin schon sehr deutlich gesagt -, dass wir es mit einem europäischen Nachbarland der Europäischen Union
zu tun haben. Wir sollten den Menschen dort, die sich als
Europäer fühlen und die eine europäische Geschichte haben, nicht die europäische Perspektive verweigern. Es
ist klar, dass dafür Voraussetzungen geschaffen werden
müssen. Natürlich muss sich auch im Lande selber etwas
bewegen, und zwar nicht nur aufseiten der Regierung.
Von ihr erwartet man es eigentlich, aber sie hat leider die
in sie gesetzten Erwartungen in der Vergangenheit nicht
erfüllt. Für ein weiteres Problem halte ich, dass die Opposition gespalten ist. Wir müssen die Opposition aufrufen, sich zu einen, eine gemeinsame Linie zu finden und
damit zu einem Machtfaktor zu werden. Wir brauchen
nämlich demokratische Kräfte in diesem Land, um unsere Perspektiven dort vermitteln zu können.
Ein nächster Punkt ist die Frage, welche Instrumente
die Europäische Union selbst hat. Es gab ja bei Bildung
des Stabilitätspaktes Diskussionen, ob Moldova sich daran beteiligen kann. Bodo Hombach hat damals die Initiative ergriffen und diesen Vorschlag auch in die Realität umgesetzt. Das kann natürlich nicht alles sein.
Vielmehr stellt sich die Frage, was daraus folgt. Die Europäische Union erarbeitet zurzeit ein neues Aktionsprogramm, das Nachbarschaftsprogramm; auch das ist
schon angesprochen worden. Das halte ich für sehr
wichtig. Aber auch wir müssen uns fragen, wie intensiv
wir uns um dieses Land bemühen, denn es geht hier
wirklich um europäische Interessen. Wenn wir uns nicht
um dieses Land kümmern, dann sind wir in meinen Augen selber dafür verantwortlich, wenn ein schwarzes
Loch organisierter Kriminalität, geprägt durch Waffenschmuggel und Menschenhandel, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft entsteht. Das sollten wir nicht zulassen, denn das können wir uns nicht leisten.
({5})
Zwischen der Europäischen Kommission und dem
Europäischen Parlament gibt es unter anderem Streit
darüber, ob man nicht vielleicht doch - ich persönlich
unterstütze das - Moldova nach der Aufnahme in den
Stabilitätspakt auch die Perspektive der Assoziierung eröffnen sollte. Ich kann nur ausdrücklich unterstützen,
was meine Vorrednerin sagte: Die Europäische Union
sollte dort so schnell wie möglich ein Delegationsbüro
bzw. eine Repräsentanz eröffnen, damit die Menschen
einen Ansprechpartner haben.
({6})
Herr Kollege!
Ich möchte schließen - ich weiß, Herr Präsident, dass
ich zum Ende kommen muss -, indem ich darauf hinweise, dass auch wir Deutschen in der Verantwortung
stehen, unsere bilateralen Kontakte nicht nur zu pflegen,
sondern auch auszubauen. Ich erwarte - das sage ich
sehr deutlich, auch als Mitglied einer Koalitionsfraktion -, dass sich dies auch im künftigen Haushalt widerspiegelt.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege Rainer
Stinner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Ihnen,
liebe Frau Kollegin Nolte, meinen Respekt dafür aussprechen, dass es Ihnen gelungen ist, dieses Thema innerhalb von wenigen Monaten zweimal hier im Plenum
behandeln zu lassen. Respekt! Das gelingt nicht allen,
die mit einem Thema so eng verbunden sind. Sie müssen
in Ihrer Fraktion ungeahnte Machtstrukturen hinter sich
haben, dass Ihnen das gelungen ist.
({0})
Herzlichen Glückwunsch dazu.
Wir sind uns alle einig: Die Republik Moldau ist ein
Teil von Europa. Wenn wir uns darüber einig sind, dann
müssen wir aber auch entsprechend handeln und die Republik Moldau als solche behandeln. Aus heutiger Sicht
muss man sagen, dass die Republik Moldau zwischen allen Stühlen sitzt. Wir müssen uns ändern - das ist gesagt
worden -, aber insbesondere muss sich die Regierung
der Republik Moldau dringend ändern.
({1})
Wir erwarten - das eint uns alle heute hier - ein ganz
deutliches Bekenntnis der Regierung der Republik Moldau zu den Werten Europas. Wir glauben und hoffen,
dass die Bevölkerung weiter ist als die Regierung und
dass sie das auch reflektiert. Wir erwarten von der Republik Moldau, dass sie europäische Werte akzeptiert, dass
sie das aber auch im täglichen politischen Handeln dauerhaft demonstriert.
({2})
Da klafft bisher eine Lücke; das müssen wir sehr deutlich machen. Nur so wird die angestrebte Annährung
dieses Landes an Europa, die auch wir wollen, möglich
werden und nur so kann am Ende des Weges - irgendwann einmal - die Perspektive eines gemeinsamen europäischen Verbundes im Rahmen der EU diskutiert werden.
Wir haben einige Prüfsteine vor uns. Im Jahr 2005, im
nächsten Jahr, gibt es Wahlen in Moldawien. Wir hoffen
- wir können nur an die Regierung appellieren -, dass
dies ein Demonstrationsobjekt für die entwickelte Demokratie werden wird: dass es wirklich freie Wahlen geben wird, dass die Opposition nicht behindert wird, dass
Redefreiheit herrscht etc.
({3})
Wir sind sehr besorgt darüber, dass in diesen Tagen
offensichtlich die Freiheit der Presse und der Journalisten eingeschränkt wird. Wir erleben in diesen Tagen,
dass Journalisten und Verlage demonstrieren, weil ihre
Freiheit nachhaltig eingeschränkt wird. Dagegen müssen
wir unsere Stimme sehr, sehr deutlich gemeinsam erheben.
({4})
Wir haben das Problem - die Kolleginnen und Kollegen haben es angesprochen - des Transnistrien-Konfliktes; wir haben Probleme mit den russischen Soldaten. Ich bin völlig Ihrer Meinung, Herr Meckel - wir
sind hier insgesamt einig; das finde ich sehr begrüßenswert -, dass endlich vollzogen werden muss, was versprochen worden ist. Wir appellieren gemeinsam mit
Ihnen an unsere Regierung, die gegenwärtig noch von
Ihnen gestellt wird, und an die Europäische Union, das
nachhaltig umzusetzen.
Unser gemeinsamer Antrag, den wir verabschieden
wollen, macht deutlich - wir haben schon bei der Lesung
im Januar festgestellt, Frau Nolte, dass wir inhaltlich
völlig d’accord sind, und ich bin froh, dass wir den Antrag heute gemeinsam verabschieden -, dass wir bereit
sind, die Republik Moldau, wenn sie sich entwickeln
will, auf dem Weg zu Europa zu unterstützen. Wir geben
unsere Unterstützung zur Entwicklung von Demokratie,
Rechtsstaat und Freiheitsrechten und wir erwarten von
der Regierung, dass sie die ausgestreckte Hand nimmt.
Nur so kann der Weg nach Europa für die Republik Moldau gestaltet werden.
Schönen Dank.
({5})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
Kollege Siegfried Helias für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Meine Kollegin Claudia Nolte hat, ebenso wie
die anderen beiden Vorredner, die schwierige Situation
der Republik Moldau eindrucksvoll beschrieben. Ich
möchte insbesondere auf den Transnistrien-Konflikt
eingehen, einen Konflikt, der auch ein Problem der
Europäischen Union ist, vor allem im Hinblick auf den
für 2007 geplanten EU-Beitritt Rumäniens. Wir können
es nicht zulassen - da hat der Herr Kollege Meckel völlig Recht -, dass sich ein Teil eines Nachbarlandes der
EU zum rechtsfreien Raum entwickelt, in dem Terror
und Willkür herrschen.
({0})
Dies ist weder im Interesse der dort lebenden Menschen
noch im Interesse der internationalen Gemeinschaft.
Transnistrien ist nach allgemeiner Einschätzung eine
Drehscheibe für den internationalen Menschen-, Drogen- und Waffenhandel. Waffen aus Transnistrien finden
sich zum Beispiel in den Krisengebieten von Tschetschenien bis hin zum Kosovo und Afghanistan wieder und
verrichten dort ihren tödlichen Dienst.
Zwar sollte die OSZE den bereits vertraglich vereinbarten Abzug von russischen Truppen und russischem
Gerät aus Transnistrien überwachen - dazu erhielt sie im
März 2004 Zugang zu den Waffendepots -, aber sie
durfte die eigentlichen Verladevorgänge nicht kontrollieren.
Für nicht minder große Beunruhigung sorgten Gerüchte, wonach radioaktiv verseuchter Stahl aus einer
Fabrik in Ribnita über dunkle Kanäle auf den Weltmarkt
gelangte. Außerdem sollen bereits 1994 nuklear bestückte Sprengköpfe von 38 Wetterraketen verschwunden sein.
Effektive und unabhängige Kontrollen von Waffen
und sonstigen einschlägigen Materialien transnistrischer
Herkunft sind ebenso wie die definitive Klärung der Statusfrage also dringend erforderlich.
Die Folgen der völkerrechtswidrigen Abspaltung
sind für die Zentralregierung in der Hauptstadt Chisinau
politisch und wirtschaftlich verheerend. Denn in Transnistrien ist rund die Hälfte der gesamten moldawischen
Industrie angesiedelt. Seit der Abspaltung verfügt das
moldauische Kernland nur noch über zwei Wasserkraftwerke sowie über kleinere Erdgasvorkommen. Weiterhin
nimmt die abtrünnige Region fast die gesamte Ostgrenze
Moldaus ein. Die Republik läuft also Gefahr, dauerhaft
von ihrem wichtigsten Handelspartner Russland abgeschnitten zu werden.
Die Regierung in Chisinau versuchte deshalb, die
Kontrolle über die so genannte Transnistrische Moldauische Republik mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen. Die Folge war ein Bürgerkrieg mit mehreren Hundert Toten und 130 000 Flüchtlingen. Die Kämpfe
wurden letztendlich durch das Eingreifen der russischen
Truppen zugunsten der Separatisten entschieden.
Zwar endete der Bürgerkrieg 1992 mit einem Waffenstillstand, aber nur, weil sich die Republik Moldau
gezwungen sah, die so genannte Republik Transnistrien
zu dulden. Dort hat sich inzwischen ein autokratisches
System nach kommunistischem Vorbild entwickelt, das
anscheinend nach Belieben schalten und walten kann.
Moldawien muss die Separatisten notgedrungen gewähren lassen, vor allem wegen der Präsenz russischer Einheiten in der abtrünnigen Region.
Halten wir fest: Russland hatte sich, wie es meine
Vorredner schon erwähnt haben, in Istanbul verpflichtet,
sämtliche Verbände bis Ende 2002 abzuziehen. Dieses
Versprechen wurde bis heute nicht eingelöst. Obschon
Russland die Zusicherung auf dem OSZE-Gipfel in
Porto wiederholt und einen Aufschub bis zum Dezember
2003 erhalten hatte, ist bis heute nichts geschehen.
Der Schlüssel zu einer politischen Lösung des Transnistrien-Konflikts liegt zweifelsohne in Moskau. Es
muss daher die Aufgabe der internationalen Diplomatie
und damit auch der Bundesregierung sein, mit allen zur
Verfügung stehenden Mitteln auf die russische Regierung einzuwirken, dass sie gemäß ihren Zusicherungen
von Istanbul und Porto sämtliche Truppen und das restliche Kriegsgerät unverzüglich aus Transnistrien abzieht
({1})
und dass sie ihren ganzen politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf die Machthaber in Transnistrien dazu
nutzt, um diese zur Akzeptanz eines Autonomiestatus
bei gleichzeitigem Verbleib im moldauischen Staatswesen zu bewegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Überschrift des Antrages aller Fraktionen lautet „Den Weg
zur Einheit und Demokratisierung in der Republik Moldau unterstützen“. Ich halte es für wichtig, dass die Fraktionen im Deutschen Bundestag ein gemeinsames Zeichen setzen, um die Menschen in diesem Land auf
diesem Weg zu begleiten, und mithelfen, ihnen eine Perspektive zu geben.
({2})
Die Kollegin Marianne Tritz, Bündnis 90/Die
Grünen, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit
schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/3052 mit
dem Titel „Den Weg zur Einheit und Demokratisierung
in der Republik Moldau unterstützen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften
Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes ({0}) und der Außenwirtschaftsverordnung ({1})
- Drucksache 15/2537 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({3})
- Drucksache 15/3076 -
1) Anlage 5
Berichterstattung:
Abgeordneter Dirk Niebel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die
werden wir nicht benötigen, da die Kollegen Christian
Müller ({4}), Dr. Michael Fuchs, Erich G. Fritz,
Alexander Bonde, Gudrun Kopp, Petra Pau und der Par-
lamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt ihre Reden
zu Protokoll geben.2) - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann können wir gleich zur Abstimmung über den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes
und der Außenwirtschaftsverordnung kommen. Dazu
empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3076,
diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. - Gleiches gilt für diejenigen, die dem Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen. - Gibt es noch jemanden, der sich der Stimme enthalten möchte? - Dann
ist der Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Julia
Klöckner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Spam effektiv bekämpfen
- Drucksache 15/2655 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Auch hierzu war eine Debattenzeit von einer halben
Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen
Ulrich Kelber, Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen,
Ulrike Höfken und Gudrun Kopp geben ihre Reden zu
Protokoll.3) Damit schließen wir die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2655 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es offen-
kundig Einverständnis. Dann ist das so beschlossen.
2) Anlage 6
3) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung der im Dezember 2002 vorgenommenen Änderungen des Internationalen
Übereinkommens von 1974 zum Schutz des
menschlichen Lebens auf See und des Internationalen Codes für die Gefahrenabwehr auf
Schiffen und in Hafenanlagen
- Drucksachen 15/2700, 15/2952 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({7})
- Drucksache 15/3082 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({8})
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der FDP vor.
Eine Debattenzeit von einer halben Stunde ist zwischen den Fraktionen vereinbart. - Dazu erhebt sich kein
Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die Bundesregierung zunächst der Parlamentarischen
Staatssekretärin Angelika Mertens.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nahezu unbegrenzte Mobilität und
Kommunikation sind eindeutig ein Plus unserer heutigen
Welt. Aber sie bedeuten auch, dass Terroristen von praktisch überall in der Welt agieren können. Das macht
einen wirksamen Schutz vor Anschlägen so schwierig.
Das gilt auch für den Seeverkehr, wenngleich er bisher
kein bevorzugtes Ziel von terroristischen Angriffen war.
Damit das so bleibt, soll mit diesem Gesetz versucht
werden, potenzielle Schwachstellen zu beseitigen. Unter
dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001
befassten sich Arbeitsgruppen der Internationalen
Schifffahrtsorganisation, IMO, mit der Erarbeitung eines
komplexen Systems der Gefahrenabwehr auf Schiffen
und in den Häfen. Am 13. Dezember 2002 wurden die
Ergebnisse von mehr als 100 Staaten durch Unterzeichnung beschlossen. Die im Sinne der präventiven Gefahrenabwehr beschlossenen Ergänzungen des SOLASÜbereinkommens umfassen unter anderem den so genannten ISPS-Code und gelten völkerrechtlich verbindlich ab 1. Juli dieses Jahres für Handelsschiffe ab
500 BRZ und Fahrgastschiffe im internationalen Verkehr.
Bis dahin ist die Umsetzung in nationales Recht auf
Bundes- und Landesebene erforderlich. Das vorliegende
Ausführungsgesetz dient der Anpassung des innerstaatlichen Rechts, nachdem das so genannte Vertragsgesetz
zur völkerrechtlich verbindlichen Übernahme mit Zustimmung des Bundesrates bereits im Dezember letzten
Jahres beschlossen wurde. Auf der Ebene des Bundes
geht es dabei um die Bestimmung der Zuständigkeiten
für die Wahrnehmung der Aufgaben im Bereich der Seeschiffe und - das ist der zweite Punkt der Verordnungsermächtigung - um die Erweiterung für die Detailregelungen sowie um die Schaffung der technischen und
operativen Voraussetzungen für die Umsetzung der
Maßnahmen zur Gefahrenabwehr.
Der Bundesrat hält das Gesetz für zustimmungspflichtig. Diese Auffassung teilen wir nicht. Wir greifen
nicht in die Kompetenz der Länder ein. Hafenanlagen
sind zwar Länderangelegenheiten, aber die Länder müssen jetzt das internationale Abkommen umsetzen. Die
Verpflichtung zum Erlass der Ländergesetze ergibt sich
also nicht aus diesem Gesetz mit dem langen Titel, sondern aus der durch Vertragsgesetz zugestimmten völkerrechtlichen Verpflichtung.
Noch ein Wort zu den Kosten. Damit werden wir uns
auch noch aufgrund des FDP-Antrages beschäftigen. Es
geht um die Eigensicherung der Schiffe und der Hafenanlagen gegen das Eindringen Unbefugter. Weiter greift
das Gesetz nicht. Akute Bedrohungen fallen eindeutig in
den Zuständigkeitsbereich der Polizei - besser gesagt:
der Polizeien der Länder. Damit sind und bleiben die
Kosten für deren Einsätze hoheitlich in der öffentlichen
Hand. Da alle an der internationalen Schifffahrt Beteiligten den Nachweis ihrer Eigensicherungsmaßnahmen erbringen müssen, bedeutet die Kostenübernahme keine
Wettbewerbsverzerrung per se. Gute Eigensicherungsmaßnahmen können im Gegenteil auch ein Gütesiegel
sein. Die Reeder, jedenfalls unsere deutschen Reeder,
haben das sofort erkannt.
Wir werden aber sehr genau darauf achten, dass es
nicht zu Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU
kommt. Vertreter des BMVBW und ein Vertreter der
Küstenländer werden deshalb an einem in Brüssel tagenden Maritime Security Committee teilnehmen, wo der
Harmonisierungsaufwand und mögliche Korrekturvorschläge abgearbeitet werden sollen. Sie können sicher
sein, dass wir darauf achten werden, dass es gerecht zugeht.
Zum Schluss möchte ich mich bei allen ganz herzlich
dafür bedanken, dass wir das Gesetz so schnell durchgebracht haben, sodass wir vor In-Kraft-Treten des Gesetzes alles in die Wege leiten können. Das gilt für alle
Fraktionen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nun erhält das Wort der Kollege Wolfgang Börnsen,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Bürgerinnen und Bürger, die Sie noch zu dieser
Zeit in den Deutschen Bundestag gekommen sind! Es ist
Wolfgang Börnsen ({0})
gerade 13 Tage her und es hätte so idyllisch sein können:
Vor der irakischen Küste dümpelt ein Holzfrachter in der
Abendsonne, wenige Meilen vor einem Hafen. Doch die
Idylle findet schnell ein Ende. Das mit Sprengstoff beladene Boot explodiert kurz vor dem Ölverladeterminal von Umm Qasr. Dieser Hafen, das wissen alle, ist
der Eingangshafen für die gesamte Versorgung des Landes, für 40 Millionen Menschen, für die alliierten Streitkräfte, die dort eintreffen. Beinahe wären die Versorgungslinien durch diesen Anschlag stillgelegt worden.
Nur knapp ist das Land einem folgenreichen, menschlich
und wirtschaftlich großen Unglück entgangen.
Dieser Anschlag führt uns eine völlig neue Dimension des Terrorismus vor Augen: Schiffe und Häfen als
Werkzeuge des Terrors. Anschläge wie dieser im Irak
können ebenso deutsche Häfen oder Schiffe treffen:
Gastanker vor Wilhelmshaven, Kreuzfahrtschiffe in
Kiel. Ein Anschlag im Hamburger Hafen zum Beispiel
würde die deutsche Wirtschaft für mehr als sechs Wochen völlig lahm legen. Häfen und ihre Hinterlandverkehre sind Lebensadern der Transportkette unseres Wirtschaftssystems.
Der lange Schatten des World-Trade-Center-Unglücks hat auch unsere Seeverkehrswirtschaft erreicht.
Verletzbar auf eigenem Territorium zu sein war bis zum
Jahr 2001 für die Amerikaner völlig undenkbar. Dieser
Anschlag war für die Menschen des Landes ein ganz tiefer Schock. Nur so ist zu erklären, dass sie einen Sicherheitsperfektionismus betreiben, der auch für uns weitreichende Folgen hat. Sie wollen Land und Menschen
weltweit geschützt wissen. Doch sie sollten erkennen,
dass Terrorakte trotz unserer heutigen empfindlichen
Systeme möglich bleiben.
Einig sind wir uns im Ziel, im Vorfeld alles Erdenkliche für mehr Sicherheit zu tun. Auch im Bereich der
Seeschifffahrt hat auf Betreiben der USA ein Umdenken
stattgefunden. Im Jahr 2002 hat die Internationale Seeschifffahrtsorganisation, die IMO, Antiterrormaßnahmen für Schiffe und Häfen mit einem Internationalen
Code für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und Hafenanlagen beschlossen. Ab Juli 2004 müssen danach alle
Handelshäfen und großen Schiffe ein neues Sicherheitssystem praktizieren.
In gut sechs Wochen werden die Amerikaner nur noch
Boote in ihren Häfen löschen lassen, die den kostenaufwändigen Normen von heute entsprechen. Das gilt auch
für die Personenschifffahrt. Hinzu kommen in Zukunft
- auch das muss man wissen - mehr Kontrollen für die
Passagiere, mehr Kontrollen für die Besatzung, längere
Wartezeiten, mehr Aufwand, mehr Bürokratie und vor
allen Dingen auch mehr Überwachung. Der internationale Terrorismus nimmt negativen Einfluss auf unsere
offene, freiheitliche Gesellschaft und verändert sie Tag
für Tag. Auch der Seeverkehr muss sich diesem Druck
beugen.
Im Jahr 2003 hat dieses Haus mit allen Fraktionen
dem Vertragsgesetz zu den Änderungen des SOLAS-Abkommens zugestimmt. Die Union steht voll und ganz
hinter den von der IMO beschlossenen Antiterrormaßnahmen. Fraktionsübergreifend wurde aber an die Regierung appelliert, bei den Kosten für die Betroffenen zwischen Safety und Security zu unterscheiden.
({1})
Doch dieser Beschluss wird mit dem heute vorliegenden
Artikelgesetz nicht umgesetzt. Über 100 Millionen Euro
müssen in diesem Jahr einmalig in neue Sicherheitsmaßnahmen in Häfen und auf Schiffen in Deutschland
investiert werden. Dazu haben Reeder und Hafenbetreiber in Zukunft jährlich weitere 50 bis 60 Millionen Euro
zu zahlen. Wir als Union erkennen an, dass sich beide
Branchen damit beispielhaft an der Sicherung unseres
Landes vor Terrorangriffen beteiligen.
Doch dieses Ausführungsgesetz ermöglicht es dem
Staat - Frau Staatssekretärin, hierbei sind wir anderer
Auffassung -, seine hoheitlichen Aufgaben auf die Seeverkehrswirtschaft abzuwälzen.
({2})
Zum Beispiel hätten Häfen und Schiffsbetreiber im Fall
einer Bombendrohung und dem damit verbundenen
Großeinsatz von Polizeikräften die Kosten voll zu tragen. Das ist nicht vertretbar. Das würde die Hafengebühren noch mehr in die Höhe treiben. Die Wettbewerbsverzerrungen gegenüber Holland und Polen würden
sich noch mehr verschärfen. Bremen, Hamburg und Lübeck befürchten schon heute, dass die Reeder dann ihre
Anlandungen in europäische Nachbarstaaten verlagern.
Dazu darf es nicht kommen.
({3})
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht keine
faire Kostenverteilung vor. Über 10 Millionen Euro
müssen danach jährlich von der deutschen Seeverkehrswirtschaft für zusätzliche Aufgaben aufgebracht werden,
die allein in staatlicher Verantwortung liegen. Arbeitsplätze werden damit bei uns nicht geschaffen, sondern
vernichtet und im Ausland aufgebaut. Das ist nicht verantwortbar. Die Regierung wird mit dieser Maßnahme
zum Preistreiber an der Küste.
Wir als Union treten für eine optimierte Sicherheit für
Meer und Menschen ein. Deshalb haben wir für die
neuen Regelungen gestimmt. Doch dieses Artikelgesetz,
das der Wirtschaft alle Lasten aufbürdet, lehnen wir ab.
Die Holländer beispielsweise sind in diesem Fall geschickter vorgegangen als Manfred Stolpe: Die Kosten
für die Risikobewertung und die Erstellung der Pläne für
die Gefahrenabwehr übernimmt der Staat. Damit gibt es
geringere Kosten und geringere Hafengebühren und man
macht den Seeverkehrsstandort Niederlande attraktiv.
Eine von vielen Konsequenzen: Rotterdam gewinnt,
Bremen und Hamburg verlieren. Diese Einschätzung teilen, nebenbei bemerkt, viele Kollegen im Verkehrsausschuss querbeet durch alle Fraktionen. Doch die Regierung bewegt sich nicht. Sie will ein Exempel statuieren
und die Wirtschaft offensichtlich zum Mitträger ihrer
Finanznot machen. Was heute die Seeverkehrswirtschaft
trifft, wird morgen andere Branchen treffen. Wir halten
diesen Weg für verhängnisvoll. Er schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland.
({4})
Wolfgang Börnsen ({5})
Was wir benötigen, ist eine Wende in der Seeverkehrspolitik: keine neuen Kosten für Schiffe und keine Erhöhung der Hafengebühren, sondern eine Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Seeverkehrs.
Man muss noch eine andere Besorgnis ernst nehmen:
Für die USA ist der 1. Juli 2004 als Beginn der neuen
Sicherheitsära bindend. Schiffe, die dann noch nicht
zertifiziert sind, erhalten Einlaufverbot.
({6})
Boote aus Häfen, die nicht dem ISPS-Code entsprechen,
erhalten keine Einlaufgenehmigung. Die Amerikaner
sind in Sachen Sicherheit knochenhart. Besatzungsmitglieder, die trotz eines internationalen Seefahrtbuches
kein Visum haben, dürfen nur dann an Land, wenn sie
ständig von zwei Wachleuten begleitet werden.
Wie sieht die Lage in Deutschland fast sechs Wochen
vor diesem Stichtag aus? Von den Sicherheitsplänen für
die über 450 unter nationaler Flagge registrierten Schiffe
waren in der letzten Woche 163 genehmigt und 287 nicht
genehmigt, und das obwohl der Germanische Lloyd und
das BSH mit Hochdruck arbeiten. Noch sind die Zertifizierungen sowieso nur vorläufig, weil die Rechtsgrundlage dafür fehlt. Das ist unvertretbar.
({7})
Die großen Häfen, zum Beispiel Bremerhaven, in denen der Handelsanteil der USA bei über 30 Prozent liegt,
sind gut gerüstet, viele kleine Häfen in Deutschland jedoch nicht. Eine am heutigen Tage durchgeführte Blitzumfrage hat ergeben, dass Sicherheitspläne an den norddeutschen Häfen nur teilweise, die Genehmigungen für
Sicherheitsanlagen, Zäune, Überwachungskameras
und viele anderen Maßnahmen aber noch gar nicht vorliegen. Viele rechnen damit, dass es erst im Spätherbst so
weit sein wird. Das ist nicht vertretbar. Dadurch verliert
der Standort Deutschland an Attraktivität. Außerdem
schaffen wir dadurch eine Sicherheitslücke, die nicht
vertretbar ist: weder für die Menschen noch für die Besatzung und die Küste selbst.
({8})
Herr Kollege, falls Sie die Absicht haben sollten, die
verbleibende Zeit bis zur Eröffnung der morgigen Sitzung zu füllen, muss ich Sie darauf aufmerksam machen,
dass das eine längere Redezeit als die von der Fraktion
gemeldete voraussetzen würde.
({0})
Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihren sanften
Hinweis und schließe meine Rede mit folgender Bemerkung: Die USA haben bereits vor zwei Jahren parallel zu
den Verhandlungen ein Sicherheitskonzept erstellt. Wir
sind zu spät gekommen und verfügen über keine vertretbare Aufgaben- und Kostenverteilung. Wir sollten daher
ein Konzept entwickeln, das mehr Sicherheit gewährleistet und zu einer besseren Kostenverteilung führt.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind uns sicherlich einig, dass es die Situation nach dem
11. September 2001, bei der es auch im Seeverkehr zu
Gefährdungslagen kam, zwingend notwendig macht, gerade diesen hoch sensiblen Bereich besser zu schützen
als in der Vergangenheit. Bei der Gefahrenabwehr im
Seeverkehr sind verstärkte Maßnahmen notwendig, um
Leben zu schützen. Aber in Anbetracht der Bedeutung,
die der Seeverkehr für den internationalen Güterverkehr
hat, besteht hier auch aus ökonomischen Gründen zwingender Handlungsbedarf.
Der Seeverkehr ist - in Tonnen pro Kilometer gerechnet - mit über 90 Prozent der mit Abstand wichtigste
Verkehrsträger in den internationalen Verkehren. Alleine
in den europäischen Häfen werden jedes Jahr
2 Milliarden Tonnen verschiedenster Güter umgeschlagen. Ich glaube, das macht deutlich, welches Gefährdungspotenzial darin steckt und welch enormer Aufwand betrieben werden muss, um hier die notwendigen
Sicherheitsstandards zu realisieren.
Zur Verbesserung der Gefahrenabwehr auf Schiffen
und in Hafenanlagen hat sich die IMO bereit erklärt und
beschlossen, neue Sicherheitsstrukturen zu schaffen,
einmal im Bereich SOLAS - Kollege Börnsen hat darauf
hingewiesen - und dann mit dem ISPS-Code, der als
neue Sicherheitsstruktur eingeführt wird. Beide Instrumente müssen in Gemeinschaftsrecht umgesetzt werden;
die Europäische Kommission hat im Mai 2003 den Verordnungsentwurf dafür vorgelegt.
Wir sind dafür, dass auf Grundlage dieser Vorlage
eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Instrumente sowie der Kontrollen durch die Gemeinschaft erfolgt; das ist notwendig. Die Staatssekretärin hat ja auch
deutlich gemacht, dass wir Wettbewerbsverzerrungen
zwischen europäischen Häfen vermeiden wollen. Das
kann man zum einen dadurch erreichen, dass man versucht, die Subventionen anzugleichen. Dabei besteht allerdings immer die Gefahr - lieber Kollege Börnsen,
auch das muss man sagen -, dass man in einen Subventionswettlauf gerät, den wir grundsätzlich nicht wollen.
Vielmehr wollen wir auch in diesem Bereich eine vernünftige Kostenbelastung. Das Gros der Gelder, die zusätzlich für Sicherheit ausgegeben werden müssen - da
sind wir uns hoffentlich einig -, fällt nicht im hoheitlichen Bereich an, sondern muss von den Betrieben
zwangsläufig für ihre Sicherheit zur Verfügung gestellt
und ausgegeben werden; das ist völlig klar. Zum anderen
bin ich sehr dafür, dass wir den Wettbewerb zwischen
den europäischen Häfen gerecht gestalten; das werden
wir beobachten müssen.
Die Bundesregierung hat sich dafür ausgesprochen
- ich kann das gut nachvollziehen -, die Subventionierung in diesem Bereich nicht weiter zu erhöhen; wir haben im Bereich des Luftverkehrs im Grunde das gleiche
Problem. Ich bin dafür, dass die Verkehrsträger gleich
behandelt werden und nicht unterschiedlich. Mir ist bewusst, dass insbesondere in den ARA-Häfen - gerade
bei den Holländern - die Konkurrenz staatlich stärker
materiell subventioniert wird. Ich glaube, dass wir das
durch europäische Regeln bekämpfen müssen. Zum Teil
ist eine vernünftige Analyse von uns zu leisten, welche
wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen an dieser Stelle
in der EU existieren. Ich bin sehr dafür, dass wir unseren
Häfen auf der Grundlage einer solchen Analyse dann
auch helfen.
In der Sache selber sind wir uns ja einig, dass die
Maßnahmen, die hier realisiert werden, sinnvoll und vernünftig sind und dem Seeverkehr eine neue Qualität von
Sicherheit geben, die wir alle wollen. In der Kostenfrage haben wir sicherlich Schwierigkeiten. Wir haben
das im Verkehrsausschuss ausführlich diskutiert und sind
uns unter den Verkehrspolitikern einig, dass wir unsere
Häfen hier nicht alleine lassen können. Deshalb werden
wir die Wettbewerbssituation weiter beobachten und
analysieren und notfalls auch zu Maßnahmen kommen
müssen. Mit dem Antrag, der jetzt vorliegt, ist uns da
nicht weitergeholfen. Der Gesetzentwurf ist dagegen
eine vernünftige Grundlage für weiteres Handeln.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin froh, dass wir über dieses Thema reden, weil ich
glaube, dass es wichtig ist, dass wir in dieser Frage - für
einen Sektor, der im Moment unheimlich boomt, in dem
viele Arbeitsplätze entstehen und der nach wie vor große
maritime Chancen für uns bietet - die Gemeinsamkeiten
betonen.
Frau Faße, ich bin froh, dass wir heute Mittag zusammen im maritimen „Forum Binnenschifffahrt“ waren.
Lassen Sie uns diese Gemeinsamkeiten weiterentwickeln. Ich bin froh, dass die AusbildungsplatzabgabeRegelung mit den Vereinbarungen, die auf der maritimen
Konferenz getroffen worden sind, vereinbar werden. Ich
würde mich freuen, wenn Kollege Robbe, der ja wohl
Vorsitzender Ihrer Küsten-Gang ist, sich durchsetzt. Ich
bin gespannt, was Frau Bulmahn jetzt macht, um dieses
Thema abzuarbeiten; denn es wäre jammerschade, wenn
das, was auf der maritimen Konferenz erarbeitet und immer von der Parlamentariergruppe „Binnenschifffahrt“
angestoßen worden ist, nämlich Hilfe für Ausbildung im
Bereich der maritimen Wirtschaft bei den Binnenschiffern und bei der Seeschifffahrt, zum Erliegen kommen
würde. Deswegen bin ich hundertprozentig einverstanden.
({0})
Nur - jetzt sage ich einmal: so’n Schiet -, wir waren
uns einig bei SOLAS, wir waren uns einig in dieser
Frage und haben gesagt: Das ist eine hoheitliche Aufgabe und für diese hoheitliche Aufgabe muss die öffentliche Hand die Kosten übernehmen. Nun legen Sie einen
Gesetzentwurf vor. Ich sage Ihnen schon jetzt: Wir haben uns schwer damit getan, wie wir darüber abstimmen.
Es ist einfach enttäuschend, wenn in diesen Gesetzentwurf - zwar nicht in die Forderungen, aber in den Ausführungsteil - eine Formulierung hineingemogelt wird.
Unter dem Punkt „Finanzielle Auswirkungen“ wird der
Grundsatz formuliert, dass die öffentlichen Kosten durch
neue Gebühren für die Hafenbetriebe abgemildert
werden sollen. Das heißt im Klartext: Die Kosten, die für
eine hoheitliche Aufgabe entstehen - Ihr Gesetz bezieht
sich einzig und allein auf hoheitliche Aufgaben -, wollen Sie sich über Gebühren zurückholen. Was wir im Hafen in Papenburg machen müssen, was die Emdener machen müssen, was die Nordenhamer, was die Bremer
und die Bremerhavener machen müssen, hat mit diesem
Gesetz überhaupt nichts zu tun;
({1})
Ihr Gesetz bezieht sich auf die öffentliche Aufgabe, auf
die hoheitliche Aufgabe.
Wir wollen einmal nicht so tun, Frau Mertens, als ob
es hier nur um ein paar Euro ginge. Hier geht es um Millionenbeträge, die unsere maritime Wirtschaft belasten.
Ich bin bitter enttäuscht darüber, dass in dieser Frage, in
der wir uns so einig waren, eine Formulierung sozusagen
durch die Hintertür in das Gesetz aufgenommen worden
ist, die unsere Gemeinsamkeit in besonderer Weise in
Anspruch nimmt. Es mag Ihnen egal sein, wie die Oppositionsparteien hier stimmen. Ich will hier die Gemeinsamkeit nicht zerstören; deswegen werden wir uns heute
der Stimme enthalten. Wir sagen: Lasst uns doch nicht
wegen einer solchen Sache die Gemeinsamkeit zerstören! Dennoch ist Ihre Vorgehensweise nicht in Ordnung;
ich muss sie wirklich aufs Schärfste verurteilen.
({2})
Es ist unklug, dass Sie diese Allianz aufgeben. Es
wird uns in der Situation mit den Amerikanern die Position erschweren; denn die werden in dieser Frage nach
wie vor Druck machen. Es wird uns auch in der Situation
mit den Mitbewerbern die Position erschweren. Ich war
jetzt in den Niederlanden unterwegs, weil ich aus der
Region an der Ems komme, wo wir in sehr direkter Konkurrenz mit den Niederländern stehen. Die Niederländer
lachen sich kaputt über das, was wir in dieses Gesetz
schreiben, und sagen: Ihr seid im Grunde genommen zu
dämlich, eure maritime Wirtschaft voranzubringen.
({3})
Es ist bedauerlich und ärgerlich, dass wir uns in dieser
Frage nicht einig sind. Wir hätten es einfacher und übereinstimmender haben können. Aber lassen Sie es uns
auch in Zukunft gemeinsam probieren - deshalb unsere
Enthaltung.
Herzlichen Dank.
({4})
Noch gibt es zwei kleine Aussichten für die Herstellung der notwendigen Einigkeit. Als Vorletzte erhält die
Kollegin Margrit Wetzel das Wort für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will gerne versuchen, mehr Einigkeit herzustellen. Zum
Gesetz ist hier schon genug gesagt worden. Ich kann es
mir also ersparen, dazu noch etwas zu sagen, und will
ein bisschen auf die Ausführungen der Kollegen
Börnsen und Goldmann eingehen.
Wir sind uns natürlich einig darin, dass Terroristen,
Waffen und gefährliche Stoffe nicht an Bord von Schiffen oder in Hafenanlagen gelangen sollen, und auch darin, dass Schiffe nicht als Waffe benutzt oder Ziel von
terroristischen Anschlägen werden sollen. Aber, Herr
Börnsen, ich glaube, Sie haben bei der Beschreibung der
tatsächlichen Situation eine ganze Menge falsch beschrieben. Sofort nach Abschluss der internationalen
Vereinbarungen haben in Deutschland Bund, Länder und
die Verbände, die Wirtschaft und alle Institutionen, die
im maritimen Umfeld mit Sicherheit zu tun haben, wirklich fieberhaft daran gearbeitet, Regelungen zu finden,
die praktikabel sind. Sie waren dabei unglaublich unbürokratisch und flexibel und wirklich praxisorientiert.
Man kann zum Beispiel auf der Internetseite des BSH
alle möglichen Formulare, Empfehlungen und Richtlinien unkompliziert abrufen, sodass auch kleine Reeder
jede mögliche Hilfestellung bekommen, die sie nur erhalten können. Das ist auch entsprechend genutzt worden.
Natürlich kann man beklagen, dass noch nicht alle
Schiffe unter deutscher Flagge zertifiziert sind und dass
die Zertifizierung nur vorläufig erteilt werden kann,
weil wir erst heute die Rechtsgrundlage beschließen.
Diese musste aber erst einmal entwickelt werden und sie
musste Hand und Fuß haben. Das braucht ein bisschen
Zeit. Nichtsdestotrotz muss man feststellen, dass wir in
Deutschland einen weit überdurchschnittlichen Zertifizierungsgrad im Vergleich zur weltweiten Flotte haben.
Das wiederum kann man nur mit Respekt vermerken.
Das Gleiche gilt auch in den Häfen: Die größten Containerterminals haben ihre Gefahrenabwehrpläne bereits
genehmigt bekommen. Die Hafensicherheitskommissionen wurden sofort eingerichtet und haben hervorragend
gearbeitet. Dafür sollten wir Dank sagen.
Ich möchte auch noch etwas zum Sicherheitsgewinn
sagen, der bereits angesprochen wurde.
({0})
- Ich sage gleich auch etwas zu den Kosten, Herr
Goldmann. - Wir können natürlich keinen absoluten
Sicherheitsgewinn garantieren; das ist völlig klar. Diese
Maßnahmen, die weltweit umgesetzt werden, geben uns
aber eine deutlich höhere Sicherheit. Man kann natürlich
nicht sämtliche Fracht überprüfen und man kann auch
nicht überprüfen, ob jeder Seemann, der ein nautisches
oder technisches Patent besitzt, möglicherweise ein Terrorist ist. Es kann ja vorkommen, dass Terroristen nautische Patente erwerben und danach auf die Schiffe gehen.
Insofern wird der Sicherheitsgewinn zwar hoch sein, es
kann sich aber nicht um einen absoluten Sicherheitsgewinn handeln.
Wenn deutsche Schiffe und Häfen diese international
vereinbarten Standards nicht einhalten, dann werden sie
im internationalen Wettbewerb nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Die Wirtschaft würde einen ganz großen Schaden nehmen. Es ist bereits gesagt worden: Es
würden keine Schiffe mehr abgefertigt bzw. unsere Häfen würden von den Schiffen nicht mehr angelaufen. Die
daraus resultierenden Folgekosten wären wie bei jedem
Anschlag unermesslich hoch.
({1})
Diese Konsequenz sehen natürlich auch die Reeder
und die Hafenbetriebe. Sie haben ein eigenes wirtschaftliches Interesse daran. Bei dem Gesetz geht es überwiegend
um Eigenmaßnahmen und die Kosten der Eigensicherung. Wir erkennen natürlich an, dass die Seeverkehrswirtschaft die Kosten der Eigensicherung in erheblichem
Maße selbst trägt; dies muss sie aber auch tun. Das Gleiche gilt für die Folgekosten.
Wirklich nur teilweise im Moment noch ungeklärt
- die Gebührenordnungen und die Erlasse müssen ja erst
noch kommen - ist die Frage, was nun eigentlich hoheitliche Aufgaben sind und was nicht. Es ist völlig klar, dass
Polizeieinsätze und die von Herrn Börnsen bemühte
Bombenentschärfung auf dem Terminal hoheitliche Aufgaben sind und dass die Kosten nicht auf den jeweiligen
Betrieb, bei dem das geschieht, umgelegt werden können. Andererseits ist nicht jede staatliche Verpflichtung
zur Garantie international vereinbarter Sicherheitsstandards gleichzeitig ein hoheitlicher Akt, dessen Kosten
vom Staat zu tragen sind. Wir gehen davon aus, dass
diese Fragen sehr gründlich beraten werden und dass
sich dies in den Gebührenordnungen so wiederfinden
wird, wie es den Gesetzen entspricht.
Im Gesetzentwurf ist sogar festgehalten, dass sich die
Bundesregierung dafür einsetzt, dass die Kostenbelastung der Wirtschaft nicht zu Wettbewerbsverzerrungen
gegenüber dem Ausland führt. Die Staatssekretärin hat
uns das gerade bestätigt. Natürlich wollten wir im Verkehrsausschuss diesen Entschließungsantrag einvernehmlich beschließen.
({2})
Das Problem war nur die Formulierung. Diesen komplexen Sachverhalt des Auseinanderhaltens von hoheitlichen Aufgaben und Aufgaben, die gebührenfähig sind,
kann man nicht in ein oder zwei Sätzen formulieren.
({3})
Wir vertrauen darauf, dass uns die Regierung an dieser
Stelle genauso unterstützt
({4})
wie vorher, als sie mit den Ländern, der Wirtschaft, den
Verbänden und übrigens auch mit uns - wir sind ständig
zeitnah informiert worden - einvernehmlich zusammengearbeitet hat.
Deshalb bitte ich Sie herzlich, hier jetzt keinen künstlichen Konflikt aufgrund einer Formulierung, die meines
Erachtens alles offen lässt - das wollen Sie ja -, hineinzuinterpretieren. Ich bitte Sie wirklich um Einvernehmen in dieser Frage.
Vielen Dank.
({5})
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege
Werner Kuhn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Wetzel, leider müssen die Oppositionsparteien Ihren Ausführungen gemeinschaftlich widersprechen.
Letztendlich müssen hier hoheitliche Aufgaben erledigt werden; auch Herr Goldmann hat die Sache noch
einmal ganz klar auf den Punkt gebracht. Eine dieser
hoheitlichen Aufgaben besteht darin, dass der ISPSCode für Schiffe und Hafenanlagen so umgesetzt werden
muss, dass eine Risikobewertung der Schiffe, deren
Bruttoraumzahl größer als 500 ist, und der jeweiligen
Hafenanlagen durchgeführt werden kann. Die Zuständigkeit dafür liegt immer bei der Vertragsregierung. Das
ist letztendlich unsere Bundesregierung.
({0})
Das zuständige Ministerium hat diese Aufgabe letztendlich im Auftrag des Parlaments zu erledigen.
({1})
Wir sind doch fachlich überhaupt nicht auseinander,
wenn es darum geht, was im Gesetz stehen soll und was
wir zur Abwehr terroristischer Akte, die sich auf weiche
Ziele beziehen, zu tun haben. Die Gefahrenabwehr muss
in einem Plan festgehalten werden. Dieser wird von den
zuständigen staatlichen Stellen erarbeitet. Die dafür zuständige deutsche Bundesbehörde ist das Bundesamt für
Seeschifffahrt und Hydrographie; sie nimmt diese Aufgabe wahr. Dort werden Festlegungen getroffen. Damit
ist klar, dass hier Kosten entstehen. Diese Kosten können nicht einfach durch eine Refinanzierung, wie Sie es
vorgeschlagen haben, in Form einer Gebühr auf die Reeder und Hafenbetreiber umgelegt werden; denn das geht
zulasten des maritimen Standortes Deutschland. Das
können wir nicht mittragen.
({2})
Die Koalition legt immer wieder kostenträchtige
Pläne auf den Tisch, beispielsweise mit der Ausbildungsplatzabgabe und einer möglichen Erhöhung der
Umlage über die Berufsgenossenschaft, wodurch Nebenkosten entstehen und die Wettbewerbsfähigkeit des
Standortes Deutschland ins Hintertreffen gerät. Angesichts der EU-Osterweiterung orientieren sich die östlichen Häfen in Mecklenburg und Vorpommern natürlich
schon in diese Richtung, weil dort die Abfertigungsmöglichkeiten besser sind und auch die Sicherheitsstandards
eingehalten werden, die Hafengebühren aber geringer
ausfallen.
Hier im Hause wird immer gemeinschaftlich an den
Patriotismus unserer Unternehmer appelliert. Ihrer Meinung nach kann es nicht sein, dass so viele deutsche
Schiffe ausgeflaggt werden und unter anderen Flaggen
auf den Weltmeeren kreuzen und Transportleistungen erbringen. Über diese Entwicklung brauchen wir uns aber
nicht zu wundern, wenn wir die Kosten im eigenen
Lande so hoch treiben, dass der große Staubsauger Rotterdam alles an sich zieht,
({3})
weil da die Kosten gering sind, die Betuwelinie ausgebaut wird und sich von dort aus gut agieren lässt. All das
können wir nicht mittragen. Insgesamt stehen Kosten
von insgesamt fast 100 Millionen Euro zur Debatte; das
wurde von mehreren Rednern schon erwähnt.
({4})
Letztendlich müssen wir bei einer Sicherheitsüberprüfung darauf achten, dass die beschlossenen Maßnahmen tatsächlich der Gefahrenabwehr dienen. Dabei spielen die Ladung und natürlich auch die Passagiere eine
große Rolle. Wenn beim kombinierten Verkehr Eisenbahnfähre und Passagierfähre zusammen agieren, dann
sind im Hafenbereich entsprechende Sicherheitsanlagen
bereitzustellen. Herr Börnsen hat es vorhin schon gesagt:
Deutschland ist total ins Hintertreffen geraten. Die anderen Länder sind längst so weit, dass sie die sicherheitstechnischen Bestimmungen erfüllen.
Herr Börnsen hat auch ausgeführt, dass er mit den Hafenbetreibern von Mukran bis Bremen und auch weiter
westlich telefoniert hat. Dabei hat er festgestellt, dass sie
fast auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Schauen wir
uns einmal das Flaggenland Liberia an! Mit den
Werner Kuhn ({5})
technischen Standards, die dort entwickelt wurden, sind
sie uns schon wieder Nasenlängen voraus. Dort wurde
umgesetzt, was IMO und SOLAS fordern. Hier besteht
Handlungsbedarf.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Machen Sie
keine Refinanzierung über eine neue Gebührenordnung!
Die deutschen Unternehmen sind genug belastet. Wir
brauchen Aufschwung und Freiheit für die Wirtschaft.
Für den Norden ist das die einzige Möglichkeit, um wieder Arbeitsplätze zu generieren.
({6})
Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Dann
haben wir eine gemeinsame Position. Die maritime Verbundwirtschaft wird es Ihnen danken.
Nach diesem Petitum wünsche ich allen Kolleginnen
und Kollegen einen angenehmen Abend; denn ich
glaube, Herr Präsident, dies ist der letzte Debattenpunkt.
({7})
Herr Kollege Kuhn, die Schlussbemerkung hinsichtlich des verbleibenden Abends nehme ich als unauffällige Bewerbung für eine künftige Mitgliedschaft im Präsidium des Deutschen Bundestages. Wir kommen bei
einem anderen Tagesordnungspunkt gelegentlich darauf
zurück.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ausführung der im Dezember 2002 vorgenommenen Änderungen des Internationalen Übereinkommens von 1974
zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und des
Internationalen Codes für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen. Es handelt sich um die Drucksachen 15/2700 und 15/2952. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3082, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist
mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der
Opposition angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3083. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Tierseuchengesetzes
- Drucksache 15/2943 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1})
- Drucksache 15/3069 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Gitta Connemann
Friedrich Ostendorff
Zu diesem Tagesordnungspunkt haben die Kollegin-
nen und Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier, Marlene
Mortler, Gitta Connemann, Friedrich Ostendorff, Hans-
Michael Goldmann und der Parlamentarische
Staatssekretär Gerald Thalheim ihre Reden zu Protokoll
gegeben.1) Wir kommen damit zu den Abstimmungen
über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Tierseuchengesetzes auf
Drucksache 15/2943. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3069, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich schließe mich den guten Wünschen des
Kollegen Kuhn ausdrücklich an und freue mich, dass ich
das im Namen des gesamten anwesenden Präsidiums tun
kann.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 7. Mai 2004, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.