Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter den Gästen
auf der Tribüne haben die Botschafter der neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Platz genommen. Exzellenzen, ich begrüße Sie sehr herzlich im Namen des gesamten Deutschen Bundestages.
({0})
Morgen, am 1. Mai 2004, werden Estland, Lettland,
Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, die
Tschechische Republik, Ungarn und Zypern der Europäischen Union beitreten. Ein wahrhaft historisches Datum:
Mit diesem Tag endet endgültig die schmerzliche Teilung Europas, die uns jahrzehntelang durch die Berliner
Mauer wenige Meter vor dem Reichstagsgebäude vor
Augen geführt wurde. Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges haben sich die neuen Mitglieder ohne Zögern auf
den Weg zur Europäischen Union gemacht. Für ihre Entschlossenheit und ihre enorme politische, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Reformkraft gebührt ihnen unsere
Anerkennung und unser Respekt.
({1})
Der Deutsche Bundestag hat den Prozess der EU-Erweiterung in den letzten Jahren engagiert begleitet und
unterstützt. Dabei war uns immer klar: Es gibt keine
sinnvolle Alternative zur europäischen Wiedervereinigung. Wir alle wollen ein friedliches, demokratisches
Europa, in dem wir unserer gewachsenen Verantwortung
nach innen und außen gerecht werden und unsere gemeinsamen Interessen erfolgreich vertreten. Die Erweiterung der Europäischen Union ist nicht nur die Antwort
auf die europäische Geschichte und die Erfahrung von
Krieg, Zerrissenheit und Leid. Sie ist vor allem ein Zukunftsbündnis für ein Europa des Friedens, der Demokratie, der Stabilität und der gemeinsamen Sicherheit,
ein Europa der individuellen Freiheit und der gleichen
Lebenschancen, der lebendigen Traditionen und des reichen Kulturerbes, ein Europa, das stark ist in seinen gemeinsamen Werten und einig in seiner Vielfalt.
Wünschen wir diesem unserem Europa eine gemeinsame, friedliche und erfolgreiche Zukunft!
({2})
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 19 a so-
wie 19 c bis 19 e auf:
a) Abgabe einer Erklärung durch den Bundes-
kanzler
Erweiterung der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Albert Rupprecht ({3}), Peter
Hintze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Die EU-Erweiterung als Chance und Aufgabe
- Drucksache 15/2748 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Türk, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Die Chancen der EU-Erweiterung für
Deutschland nutzen
- Drucksache 15/2774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
e) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die EU-Erweiterung als Gewinn begreifen Sicherheit, Wohlstand und Stabilität in ganz
Europa stärken
- Drucksache 15/2973 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({7})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Präsident, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass morgen zehn Staaten der Europäischen
Union beitreten. Um die historische Dimension dieses
Vorgangs wirklich zu begreifen, sollte man sich einmal
vor Augen führen, was noch vor ungefähr 60 Jahren in
Europa stattfand: Mehr als 45 Millionen Menschen in
Europa sind einem Krieg zum Opfer gefallen, der als
Zweiter Weltkrieg in die Geschichte eingegangen ist.
15 Millionen Menschen davon lebten in Mittel-, in Südund in Südosteuropa, mehr als 20 Millionen lebten in der
damaligen Sowjetunion, im heutigen Russland.
Vor diesem Hintergrund muss man wirklich sagen,
dass alle berechtigten Diskussionen über Fragen der
Ökonomie, über Fragen des Steuerrechts, über Fragen
von Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit sicher wichtige Debatten sind, aber doch wohl
nichts vor dem Hintergrund dieser historischen Dimension oder jedenfalls wenig, was die Bedeutung dessen
angeht, was sich morgen - sicherlich als Prozess - vollziehen wird, wenn sich nämlich eine historische Mission
erfüllen wird, eine Mission, die der Traum vieler Generationen in Europa gewesen ist. Diese Vision wird jetzt
Wirklichkeit; denn Europa überwindet - das ist richtig nunmehr endgültig seine schmerzliche Trennung. Wir,
die heute entscheidende Generation von Politikerinnen
und Politikern, haben die einmalige Chance, dieses Europa, und zwar das ganze, zu einem Ort dauerhaften
Friedens und als Folge dessen dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen zu machen.
({0})
Es kann überhaupt nicht fraglich sein, dass in diesem
Prozess auch Schwierigkeiten auftreten werden. Übrigens sind sie im Prozess des Werdens Europas immer
aufgetreten. Noch einmal: Das ist wenig im Vergleich zu
den unerhörten Chancen. In einem bin ich ganz sicher:
Würden wir diesen Prozess nicht in Gang setzen, versagten wir vor den Entscheidungen aus Angst vor den
Schwierigkeiten, würden uns unsere Kinder, spätestens
deren Kinder schwere Vorwürfe ob solcher Versäumnisse machen, und das völlig zu Recht.
({1})
Schon die Gründungsväter der Europäischen
Union waren fest davon überzeugt, dass dieses Europa
nicht am Eisernen Vorhang enden darf. Sie und nach ihnen alle anderen, denen Europa am Herzen lag, haben
immer gewünscht, dass unsere Nachbarn im Osten Europas eines Tages dazugehören werden und sollen. Wir
können heute mit Stolz sagen: Mit dem morgigen Datum
wird dieses Vermächtnis erfüllt sein.
Vergessen wir dabei eines nicht: Der Westen unseres
Kontinents und der Westen unseres eigenen Landes haben nach den Grauen des Zweiten Weltkriegs im Vergleich zum Osten des Kontinents das glücklichere, das
gnädigere Schicksal gehabt. Unterstützt von Amerika
konnten wir aus dem Versöhnungswillen der europäischen Völker ein neues, ein wirklich friedliches Europa
aufbauen. Den entscheidenden Schritt zur Vereinigung
des gesamten Kontinents haben aber die Menschen in
den Ländern in Mittel- und Osteuropa getan. Wie unsere
Landsleute im Osten Deutschlands haben sie in friedlichen Revolutionen Unterdrückung abgeschüttelt und
Freiheit wirklich selbst gewonnen.
({2})
Sie haben - ich denke, auch das gilt es gerade jetzt
mit großem Respekt zu sagen - für diese Freiheiten
große Entbehrungen auf sich genommen. Sie haben den
Mut zu wirklich einschneidenden Reformen aufgebracht, um ihr Ziel zu erreichen, das immer auch ein gemeinsames Ziel gewesen ist: durch ihre Mitgliedschaft
in der Europäischen Union eines Tages Teil eines einigen Europas zu werden.
Auch wenn wir immer von der Erweiterung der
Union sprechen: Es ist nicht so, dass sich mit der Erweiterung der Union Europa ausgedehnt hat; vielmehr kommen Völker und Staaten, die seit langem Teil europäischer Kultur, Teil Europas sind, endlich zurück in die
europäische Staatengemeinschaft, in die europäische
Familie. Damit ist die Aufnahme der neuen Mitgliedstaaten eine konsequente Fortsetzung der europäischen
Einigung. Warschau und Prag, Budapest und Riga,
Pressburg und Tallinn, Laibach und Wilna, das sind
Städte, die in den vergangenen Jahrhunderten die Entwicklung der europäischen Kultur und der europäischen
Reformbewegungen ganz maßgeblich mitbestimmt haben. Malta war und ist eine Verbindung zwischen den
beiden Ufern des Mittelmeers, dem europäischen und
dem nordafrikanisch-arabischen. Zypern liegt im Kreuzungspunkt zweier Kulturen, die Europa entscheidend
beeinflusst und geformt haben.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zu Zypern machen, und zwar zur dortigen
Volksabstimmung. Natürlich muss man die Tatsache,
dass die Volksabstimmung im Norden des Landes nicht
erfolgreich war, also gescheitert ist, bedauern, weil damit auch der großartige Plan des VN-Generalsekretärs
gescheitert ist, jedenfalls vorläufig.
({3})
- Im Süden. Sie haben Recht, Herr Hintze. Damit wir
uns richtig verstehen: Das gilt nicht immer.
({4})
Wir wollen hier keine neue Phase einleiten. So weit soll
es dann doch nicht gehen.
({5})
Ich bin aber fest davon überzeugt, dass die Einheit
Zyperns nicht nur für die Zyprioten, sondern auch für
Europa und für eine friedliche Entwicklung des Mittelmeerraums insgesamt - das kann doch gar keine Frage
sein - die bessere Lösung gewesen wäre.
({6})
Ich will deshalb die Hoffnung ausdrücken - ich denke,
ich spreche da im Namen des gesamten Hohen Hauses -,
dass die Vereinigungsbemühungen doch noch zum Erfolg führen. Im Übrigen finde ich es richtig, dass die Europäische Union gerade beschlossen hat, die Hilfen für
das Land doch so zur Verfügung zu stellen, wie das geplant gewesen ist - für den Norden des Landes, Herr
Hintze.
({7})
Richtig ist auch, dass die bestehende Grenze, die formal eine Außengrenze der Europäischen Union ist,
durchlässig gemacht wird. Wir sind uns da mit unseren
Freunden einig. Ich bin sicher, dass die Kommission
Fortschritte bei der Durchlässigkeit dieser Grenze und
auch beim Handel, der notwendig ist und jetzt eher möglich ist als vorher, erreichen wird.
({8})
Für die Menschen in den alten, aber auch in den
neuen Mitgliedstaaten verbindet sich mit dem Beitritt die
Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Wohlstand, in
Frieden und Sicherheit. Frieden durch Integration, das
gehört zum Erfolgsrezept der Europäischen Union. Aber
wir müssen erkennen, dass Frieden keineswegs überall
in Europa selbstverständlich ist, und zwar auf dem Balkan, weswegen es immer noch nötig ist und weiter nötig
bleiben wird, unser Engagement dort fortzusetzen. Ohne
unser Engagement und ohne das unserer Partner werden
Sicherheit und Perspektive für diese Region nicht herstellbar sein.
({9})
Deshalb bleibt es unsere europäische Aufgabe, den
Frieden auf unserem ganzen Kontinent zu sichern und zu
erhalten. Mehr noch: Die große Mehrheit unseres Volkes
will, dass Europa in internationalen Angelegenheiten
nicht weniger, sondern mehr Verantwortung übernimmt.
Selbstverständlich gilt das auch für uns. Deshalb tun wir
das auch. Über den Balkan habe ich gesprochen; über
Afghanistan wäre in anderen Zusammenhängen zu sprechen.
Es ist ja richtig, wenn man einfordert, verehrte Frau
Merkel, dass Europa mit einer Stimme spricht. Die Frage
ist nur, mit welcher.
({10})
- Ja natürlich, mit der richtigen. - Dann müssen wir uns
doch einem Problem widmen, das in der internationalen
Politik eine große Rolle gespielt hat und immer noch
spielt. Es war natürlich die Frage, ob in der Irakkrise
mit der Stimme von Frau Merkel und Herrn Stoiber oder
mit der von Herrn Fischer und mir zu sprechen war.
({11})
Ich glaube, meine Damen und Herren, dass die Einsicht
größer wird, dass die Stimme, die damals gesprochen
hat, doch wohl richtiger gelegen hat. Ich freue mich übrigens darüber.
({12})
Aber diese Auseinandersetzung müssen und sollten wir
heute nicht führen.
({13})
- Sie können das gerne haben. Ich könnte Ihnen noch ein
paar Zitate vorlesen. Ich habe sie mitgebracht.
({14})
Wenn Sie das unbedingt wollen, können Sie das gerne
haben. Das ist gar keine Frage. Ich bin mir aber sicher,
dass diese Auseinandersetzung in den nächsten Tagen
und Wochen stattfinden wird. Es gibt mit Blick auf diese
Auseinandersetzung ja auch schon hochinteressante Beiträge aus Ihren Reihen. Um ein Beispiel zu nennen:
Wenn ich das, was ich von Herrn Gauweiler gelesen
habe, richtig verstanden habe, dann stellt sich die Situation ja langsam für mich so dar, dass ich ihm sagen
muss: Jetzt sei mal etwas sanfter in der Kritik an unseren
amerikanischen Freunden! - Eine solche Entwicklung
hätte ich nicht für möglich gehalten. Das wollte ich nur
nebenbei bemerken.
({15})
- Herr Schäuble, ich könnte mich natürlich auch mit den
erstaunlichen Erkenntnissen, die Sie in der letzten Zeit
gewonnen haben, auseinander setzen. Ich sage aber noch
einmal: Das will ich heute nicht tun.
({16})
Es führt ja zu nichts. Erst einmal muss ich ja abwarten,
wo Sie bei Ihrem hochinteressanten Lernprozess landen.
Am Ende Ihres Lernprozesses setzen wir uns dann über
die Frage auseinander, ob er weit genug gegangen ist
oder nicht. So wird, wie ich denke, ein Schuh daraus.
({17})
Meine Damen und Herren, das neue Europa hat so
viele neue Mitglieder auf einmal aufgenommen wie nie
zuvor. Es ist verständlich, dass damit enorme Chancen,
aber auch Unsicherheiten und Ängste verbunden sind.
Die größten Ängste gegenüber der Erweiterung der
Union löst die Sorge der Menschen um ihre Arbeitsplätze aus. Gerade bei diesem Thema wird von manchen
in unverantwortlicher und fast schon unanständiger
Weise Panik geschürt, und das gegen alle Fakten. Ich
habe insbesondere an die Verantwortlichen in den Wirtschaftsverbänden die Bitte, nicht den Eindruck entstehen
zu lassen, dass man aus politischen Gründen oder in der
Absicht, dass durch entsprechenden Druck bestimmte
Entscheidungen gefällt werden, mit diesen Ängsten unbesonnen umgeht.
({18})
Im Gegenteil: Wir müssen gemeinsam deutlich machen, dass auch und gerade die ökonomischen Chancen
gegenüber den Risiken weit überwiegen. Es gibt zwar
eine internationale Arbeitsteilung, die dazu führen kann,
dass deutsche Unternehmen Arbeitsplätze ins Ausland
verlagern. Das ist okay, wenn es darum geht, sich Märkte
zu sichern. Das Sichern von Märkten führt nämlich immer auch zu positiven Rückwirkungen auf Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland. Angesichts internationaler Arbeitsteilung ist dieser Prozess nicht zu kritisieren.
Tatsache ist aber auch: Die ökonomische Integration der
mittel- und osteuropäischen Staaten ist zu weiten Teilen
längst vollzogen. Dieser Prozess hatte seinen Höhepunkt
Mitte der 90er-Jahre und klingt langsam ab.
Es gibt also keine direkte Beziehung zwischen dem
aktuellen Erweiterungsprozess und den Verlagerungen,
die stattgefunden haben. 95 Prozent des Außenhandels
dieser Volkswirtschaften mit der Europäischen Union
unterliegen bereits heute keinerlei Beschränkungen.
Deswegen sage ich noch einmal: Das Herstellen einer direkten Beziehung zwischen Verlagerungsentscheidungen
einerseits und der jetzt erfolgten Neuaufnahme andererseits geht an der Wirklichkeit vorbei. Der Anteil der Europäischen Union an diesem Außenhandel hat schon
jetzt einen Stand erreicht, den frühere Beitrittsländer erst
Jahre später, nachdem sie Mitglied geworden sind, erreicht haben.
Noch eines gilt - das muss man insbesondere denen
gegenüber deutlich machen, deren Ängste wir ja verstehen können, wenn Druck auf ihre Arbeitsplätze ausgeübt
wird -: Deutschland steht bezüglich des Außenhandels
dieser Mitgliedstaaten fast überall an erster Stelle. Davon profitieren wir; das sichert Arbeitsplätze nicht zuletzt bei uns.
({19})
Deshalb ist es richtig, wenn die Kommission und Experten darauf hinweisen - Herr Lamy hat das gerade
heute wieder getan -, dass Deutschland das Land ist, das
wahrscheinlich am meisten von der Erweiterung der
Union profitieren wird.
Um noch eine Zahl zu nennen, damit deutlich wird,
worum es geht: Der Export Deutschlands in die neuen
Mitgliedstaaten ist bereits heute größer als unser Export
in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ich erwähne
das, damit auch nach außen klar wird, welche enormen
Chancen - bei aller Berechtigung, Belastungen und Risiken zu diskutieren - wirtschaftlicher Art - von den politischen ganz zu schweigen - in diesem Prozess liegen.
Seit 1992 hat sich der Anteil der deutschen Exporte
in die Beitrittsländer beinahe vervierfacht und ich bin
sicher, dass das Potenzial längst nicht ausgeschöpft ist.
Der Handel mit den neuen Mitgliedstaaten wächst dynamischer als der deutsche Außenhandel insgesamt. Das
heißt - mir ist wichtig, dass das in unserem Volk klar
wird -, die Erweiterung wird uns nicht ärmer, sondern in
der Perspektive reicher machen.
({20})
Allerdings müssen wir natürlich darauf achten, dass
der Prozess vernünftig verläuft, dass es zum Beispiel
keinen einseitigen Steuerwettbewerb zulasten der Nettozahler der Europäischen Union gibt.
({21})
Wir brauchen - ich sage das sehr bewusst und ich freue
mich darüber, dass wir uns, Herr Stoiber, in dieser Frage
ganz offenkundig einig sind - bei den direkten Steuern
das Gleiche, was wir bei den indirekten Steuern haben
durchsetzen können.
({22})
Die Gleichheit kann nicht umfassend sein. Aber wie
schon bei den indirekten Steuern brauchen wir einen
Korridor, in dem sich Wettbewerb entfalten kann, ohne
dass es in dem Ausmaß, wie gelegentlich erfahrbar, zu
Steuerdumping kommt. Ich glaube, dass das richtig ist.
({23})
Auch angesichts der Debatten in der Opposition will
ich einen Hinweis geben: 1998 hat der damalige Bundesfinanzminister Waigel mit seinem französischen Kollegen sehr dafür gefochten, dass nach der Harmonisierung
der indirekten Steuern auch die direkten Steuern in dem
skizzierten Maße harmonisiert werden. Die Unterlagen
darüber gibt es ja noch.
({24})
Was damals richtig war, ist heute nicht falsch. Deswegen glaube ich, dass wir darum kämpfen müssen, dass
sich die Harmonisierung bei den direkten Steuern
vollziehen kann. Die Erfahrungen im Europäischen Rat
zeigen, dass die Harmonisierung bei den direkten Steuern nicht in erster Linie an den neuen Mitgliedstaaten
scheitert. Wir haben seit Jahrzehnten ein Problem in dieser Frage mit Großbritannien. Jeder, der sich mit der Sache beschäftigt, weiß das. Es ist also keineswegs so, dass
diese Harmonisierung erst durch die neu hinzukommenden Mitgliedstaaten verhindert würde; das Problem in
dieser Frage existiert aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips seit langem.
Ich bin trotzdem der Auffassung, dass wir das, was
die EU-Kommission jetzt begonnen hat, nämlich zunächst einmal gemeinsame Bemessungsgrundlagen zu
definieren, fortführen müssen, um zu einer solchen Harmonisierung zu kommen,
({25})
übrigens auch deshalb, weil es ein Wachstumshemmnis
bedeutet, wenn in einem gemeinsamen Markt 25 verschiedene Steuersysteme existieren. Das beträfe besonders kleine und mittlere Unternehmen, die vielfach gar
nicht die Ressourcen haben, um angemessen auf eine
solche Vielfalt reagieren zu können.
Angesichts des bestehenden Einstimmigkeitsprinzips
ist es gewiss schwierig, das durchzusetzen; aber das
heißt nicht, dass das Projekt unvernünftig wäre. Notfalls
muss in dieser Frage das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit genutzt werden, ein Instrument, das den
Mitgliedstaaten dann zur Verfügung steht, wenn Offenheit für die, die hinzukommen wollen, gewährleistet
wird.
Um allen Missverständnissen vorzubeugen, sage ich:
Dabei ist klar, dass niemand den neuen Mitgliedstaaten
ernsthaft das Recht absprechen wird, um Auslandsinvestitionen zu werben. Das tun auch wir. Aber es ist genauso vernünftig, zu beachten, dass man sich etwa bei
der Finanzierung von Infrastruktur nicht nur auf die Europäische Union verlassen kann, sondern dass ein Eigenfinanzierungsbeitrag erbracht werden muss und dass die
Erwartungen von Investoren an eine Infrastruktur größer
sind, als das gelegentlich erkennbar wird.
Klar ist auch: Deutschland wird umso mehr von der
Erweiterung profitieren können, je mehr wir uns in
Deutschland auf unsere Stärken besinnen und diese Stärken nutzen. Das heißt: Gerade mit Blick auf das größere
Europa müssen und werden wir an unserem Kurs der
Strukturreformen und der Stärkung von Innovation, Bildung und Forschung festhalten. Auch bezogen auf den
Prozess der Erweiterung gilt: Gerade jetzt und auch deswegen muss der eingeschlagene Reformprozess fortgesetzt werden.
({26})
Die deutsche Wirtschaft - auch das muss man gerade
heute hier sagen - ist auf den internationalen Märkten
konkurrenzfähig wie nie zuvor. Um unsere Standortvorteile beneidet uns die ganze Welt: hervorragende Infrastruktur, hochqualifizierte Arbeitnehmer, ausgezeichnete
Qualität der Produkte, Rechtssicherheit und sozialer
Frieden. Das sind Pluspunkte innerhalb der größer gewordenen Europäischen Union und weit darüber hinaus.
Unsere Wirtschaft - auch das gilt es gerade jetzt angesichts der neu hinzukommenden Mitglieder deutlich zu
machen - gehört zu den produktivsten überhaupt. Diese
Produktivität ist auch die Grundlage für höhere Löhne.
Deshalb gilt: Die Zukunft unseres Landes kann nicht
darin liegen, in eine gnadenlose Konkurrenz um niedrige
Löhne und niedrige Steuersätze einzutreten.
({27})
Wenn wir das täten und wenn wir nicht auf die Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
auf neue Produkte, also auf Investitionen in Forschung
und Entwicklung, setzen würden, würden wir nicht nur
den Wettbewerb innerhalb Europas verlieren, sondern
auch die Qualitäten, die das europäische Modell des
Wirtschaftens und der Sozialstaatlichkeit ausmachen,
stark beschädigen. Damit würden wir eine Qualität in
ganz Europa verlieren, die uns positiv vom Wirtschaften
und vom Leben in anderen Regionen der Welt unterscheidet.
Wir müssen deswegen unsere Strukturen modernisieren. Genau dazu sind wir bereit. Wir haben das mit der
Agenda 2010 getan. Dass Europa nicht nur ein Ort wird
und bleibt, von dem ständig Frieden ausgeht, sondern
auch ein Ort wird, an dem die Teilhabe möglichst aller
Menschen sowohl an dem, was erwirtschaftet wird, als
auch an Entscheidungen auf diesem Kontinent selbstverständlich ist, müssen wir auch in Zukunft als Richtschnur unseres politischen Handelns ansehen.
({28})
Ich will noch einen Satz zu denen sagen, die sich angesichts der Arbeitnehmerfreizügigkeit Sorge machen.
Wir haben - das war ein Vorschlag von Deutschland und
aus Deutschland heraus - dafür gesorgt, dass es volle
Freizügigkeit angesichts der Unterschiede bei den Sozialleistungen, aber auch bei den Löhnen erst 2011 geben wird. Bis dahin sind wir aufgrund der Vereinbarungen, die auf unseren Wunsch hin getroffen worden sind,
in der Lage, steuernd in den Prozess auf dem Arbeitsmarkt einzugreifen. Wir werden das tun, so weit und so
lange dies notwendig ist.
Für verschiedene Berufsgruppen wie das Bauhandwerk oder Speditionsunternehmen haben wir in den Verhandlungen besondere Schutzmaßnahmen durchgesetzt.
Wir werden die Entwicklung in dieser Zeit genau beobachten und von den Möglichkeiten, die wir erhalten
haben, sorgfältig Gebrauch machen.
Wir werden dabei auch die demographische Entwicklung berücksichtigen, die voraussichtlich dazu führt,
dass wir ab 2010 einen erhöhten Bedarf an qualifizierten
Fachkräften haben. Es kann schon in der zweiten Hälfte
dieses Jahrzehnts die Situation eintreten, dass wir Menschen, die uns bei der Bewahrung des Wohlstands helfen, bitten müssen, zu uns zu kommen. Auch vor diesem
Hintergrund hoffe ich nun wirklich, dass sich am Wochenende diejenigen einigen, die über ein Zuwanderungsrecht verhandeln, das modern ist und das vor allem
die Steuerung von Zuwanderung - wenn nötig auch die
Begrenzung - erlaubt, und nicht die Situation eintritt,
dass wir auf dieses wichtige Instrument verzichten müssen.
({29})
Eine weitere Sorge, die die Menschen haben, betrifft
die Entwicklung der Kriminalität. Natürlich ist es so,
dass offene Grenzen zu mehr Risiken führen; gar keine
Frage. Natürlich ist es so, dass es in freien Gesellschaften absolute Sicherheit nicht gibt, weil eine größere Bewegungsfreiheit auch von Kriminellen gelegentlich genutzt wird. Aber zum anderen ist es doch so, dass erst
durch den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten die nötige
Kooperation in der Bekämpfung organisierter Kriminalität, die von außerhalb kommt, möglich ist. Wir werden
diese Möglichkeiten nutzen, um zu mehr Sicherheit in
Europa, und zwar in ganz Europa, beizutragen.
Durch die Erweiterung wird der gemeinsame Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den wir in
Helsinki vereinbart haben, auf die neuen Mitgliedstaaten
ausgedehnt. Sie haben enorme Verpflichtungen übernommen, auf deren Einhaltung die Kommission bestehen wird. Erst durch die Erweiterung können die
gemeinsamen Regeln und Institutionen gegen grenzüberschreitendes Verbrechen, gegen Geldwäsche und
Bandenkriminalität wirklich greifen. Auch hier gilt also
bei allen Problemen, die hinzugekommen sein mögen:
Es liegen Chancen, auch was die Herstellung von Sicherheit angeht, in diesem Erweiterungsprozess.
({30})
Meine Damen und Herren, eine Europäische Union
der 25 Mitgliedstaaten wird die Arbeitsfähigkeit und das
Funktionieren der europäischen Institutionen auf
eine bisher nie da gewesene Belastungsprobe stellen; das
kann gar keine Frage sein. Das war einer der Gründe dafür, warum wir zusammen mit unseren französischen
Freunden, aber auch mit anderen im Europäischen Rat
immer darauf hingewiesen haben, dass eine Kommission
von 25 Kommissaren nicht das Nonplusultra, was Effizienz angeht, sein wird. Aber wir hatten zur Kenntnis zu
nehmen, dass jedes Land, das Mitglied der Europäischen
Union werden wollte und werden wird, in einer etwas eigenwilligen Interpretation der Verträge auf die Vertretung durch einen Kommissar in Brüssel bestanden hat.
Das ist so am Anfang eines Prozesses. Wir hoffen, dass
wir mit der Verfassung auch insoweit zu mehr Effizienz
kommen werden.
({31})
Aber eines ist auch klar: Wir brauchen die Verfassung. Wir haben, nachdem sich die spanische Position
geändert hat,
({32})
die Hoffnung, dass wir es während der irischen Präsidentschaft schaffen, diese Verfassung unter Dach und
Fach zu bringen. Dabei geht es nicht nur um die Gewichtung bei Entscheidungen; aber es geht auch darum. Wir
haben von Anfang an die Position vertreten, dass in Europa das alte, gute Prinzip gilt, dass jeder Staat, unabhängig von seiner Größe, eine Stimme hat, dass aber natürlich genauso gelten muss - Gott sei Dank war das
nach dem Vertrag von Nizza durchsetzbar -, dass die
Stimmen der Bürgerinnen und Bürger gleiches Gewicht
haben. Das bedeutet natürlich, dass man das Prinzip der
doppelten Mehrheit, wie man es nennt, realisieren muss.
Spanien ist nach den Gesprächen, die wir hier geführt
haben, inzwischen bereit, sich auf dieses Prinzip einzulassen. Ich habe die Hoffnung, dass das auch für Polen
gilt.
({33})
Aber das ist ja nicht alles, was in der Verfassung steht,
die wir unbedingt erreichen müssen. Es gibt eine vernünftigere Zuordnung der Entscheidungsinstitutionen in
Europa zueinander. Das Parlament wird also gestärkt.
Die Möglichkeit, den Präsidenten der Kommission
durch das Parlament zu wählen, ist ganz augenscheinlich
eine solche Stärkung. Der Rat wird seine Arbeitsweise
verändern, weil er kontinuierlicher arbeiten kann, wenn
der Ratspräsident für zweieinhalb Jahre gewählt wird.
Das Gleiche wird sich - so hoffe ich - in der Kommission herausbilden. Wir brauchen die Verfassung - das ist
keine Frage -, um das größer gewordene Europa politisch führbar zu halten.
Mindestens so wichtig wie diese eher technischen
Einzelheiten ist für mich die Tatsache, dass es mit der
Verfassung gelingen wird, Europa eine Grundrechtscharta zu geben. Das scheint mir der entscheidende
Punkt zu sein.
({34})
Man muss sich einmal vorstellen, was das vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte bedeutet. Diese
Grundrechtscharta ist - in diesem Zusammenhang muss
in erster Linie an Roman Herzog gedacht werden - gar
nicht weit weg von den Prinzipien unserer Verfassung,
die wir für selbstverständlich halten. Sie definiert für
ganz Europa gemeinsame Wertvorstellungen, nach
denen wir politisch arbeiten. Vor 15 Jahren wäre das als
völlig unmöglich angesehen worden. Auch wenn es
schwierig ist, diesen Prozess erfolgreich zu Ende zu
bringen, lohnt es sich, ihn angefangen zu haben. Es lohnt
auch wegen der Grundrechtscharta, dafür zu kämpfen,
dass die Verfassung während der irischen Präsidentschaft beschlossen wird.
({35})
Es gibt eine Auseinandersetzung über die Frage des
Verhältnisses zwischen Erweiterung einerseits und Vertiefung andererseits. Gelegentlich wird darin ein Gegensatz gesehen. Das halte ich für falsch. Ich glaube, dass
durch die in der europäischen Verfassung vorgesehene
„strukturierte Zusammenarbeit“, also die Möglichkeit,
dass einige Staaten schneller vorangehen als andere, sowohl dem Gedanken der Erweiterung als auch dem Gedanken der Vertiefung Rechnung getragen worden ist.
Das sind keine Gegensätze. Es macht keinen Sinn, diese
Frage wie einen Gegensatz zu behandeln; es macht aber
genauso wenig Sinn, die strukturierte Zusammenarbeit
zum Programm zu erheben. Man soll das auf der Basis
der Verfassung dort tun, wo es nötig und möglich ist.
Man muss aber immer darauf achten, dass diese vertiefte, strukturierte Zusammenarbeit für alle, die dazustoßen wollen, offen bleibt. Das ist der entscheidende
Punkt, weil der Integrationsprozess sonst für alle nicht
funktionieren kann.
({36})
Ich will auf eine weitere Frage eingehen: Ist der Erweiterungsprozess, den wir jetzt vollziehen, abgeschlossen? Wie wir wissen, ist er das nicht. Ich will jetzt keine
Diskussion über die Frage eröffnen, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden.
({37})
- Das können wir bei Gelegenheit gerne machen. Hierzu
gibt es unterschiedliche Meinungen.
({38})
- Herr Glos, gerade Ihnen möchte ich sagen: Man kann
der Türkei doch nicht 40 Jahre lang versprechen: Wenn
ihr die Kopenhagener Kriterien erfüllt, wenn ihr also
Minderheitenschutz und Religionsfreiheit gewährt,
Rechtsstaatlichkeit sichert und die Unabhängigkeit vom
Militär sicherstellt, dann werden wir Beitrittsverhandlungen mit euch aufnehmen. - Das haben wir in den vergangenen 40 Jahren immer wieder gesagt. Nun hat sich
die Türkei auf den Weg begeben. Vielleicht haben einige
gehofft - das kann ja sein -, sie würde es nicht tun. Die
Türkei hat sich aber, auch in der Staatspraxis, auf einen
erfolgreich erscheinenden Weg begeben und nun sagen
Sie aus blankem Populismus: Das geht aber nicht.
({39})
Das ist nichts anderes als Populismus. Ich habe Ihnen
in der letzten Debatte doch Zitate von Helmut Kohl, der
den Türken genau das versprochen hat, vorlesen müssen.
({40})
Davon robben Sie nicht mehr nur langsam weg, sondern
Sie rennen förmlich davon.
({41})
Das ist doch nicht richtig.
Ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang von
Bedeutung. Sie können es drehen und wenden, wie Sie
wollen: Für unser Land, für ganz Europa brächte die
Aufnahme der Türkei einen enormen Sicherheitszuwachs, wenn es gelänge, dadurch sicherzustellen, dass es
einen Versöhnungsprozess zwischen einem nicht fundamentalistischen Islam und den Werten der europäischen
Aufklärung gibt.
({42})
Wir reden über den Nahen Osten. Wir reden über den
Irak. Wir machen uns Sorgen - und das zu Recht -, wie
wir Stabilität in diese Regionen bringen können. Der
größte Stabilitätszuwachs wäre es, wenn dieser Prozess
in der Türkei gelänge. Er wird nur gelingen, wenn wir
den Mut haben, zu sagen: Jawohl, wir halten unser Wort,
das wir euch 40 Jahre lang gegeben haben. Ich habe
keine Angst vor dieser Auseinandersetzung.
({43})
Ich rede jetzt über Erweiterung in Bezug auf andere
europäische Länder: auf Bulgarien und auf Rumänien.
Dies ist gewiss schwierig, aber ihnen ist gesagt worden:
Bis 2007 kann es klappen. Wir müssen auch insoweit
Wort halten. Ich glaube, dass wir es nur dann schaffen,
dass auf dem Balkan Sicherheit von den Menschen dort
selbst gewährleistet wird, wenn wir eine Perspektive
- gewiss, eine langfristige - zu Europa bieten. Das bedeutet, dass die Entscheidung der Kommission, zum
Beispiel Kroatien, das mit den Vorbereitungen am weitesten ist, Beitrittsverhandlungen in Aussicht zu stellen,
eine richtige Entscheidung war.
({44})
Mir scheint, dass wir über die Frage der Erweiterung
noch zu diskutieren haben werden. Diese Debatte kann
mit dem 1. Mai nicht abgeschlossen sein.
Ich möchte eine letzte Bemerkung zu dem machen,
was jedenfalls ich für das größer gewordene Europa, für
die größer gewordene Europäische Union für ganz und
gar unverzichtbar halte: die Beziehung dieser größer gewordenen Union zu Russland. Nicht nur der Geschichte
wegen, über die ich zu reden hatte - aber auch dieser
Geschichte wegen -, muss Deutschland ein fundamentales Interesse daran haben, dass es zu einer strategischen
Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen
Union kommt. Denn das, was ich als Chance für dauerhaften Frieden auf diesem Kontinent bezeichnet habe,
werden wir nur realisieren können, wenn wir es schaffen, diese strategische Beziehung zwischen Europa bzw.
der Europäischen Union und Russland hinzubekommen.
Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, mit der wir uns in
der nächsten Zeit beschäftigen müssen.
({45})
Das bedeutet natürlich, dass wir insbesondere auf
ökonomischem Gebiet viel, viel enger zusammenarbeiten müssen, als wir es in der Vergangenheit getan haben.
Das bedeutet natürlich ebenfalls, dass wir Russlands
Wunsch, WTO-Mitglied zu werden, unterstützen müssen, ohne Russland, das sich immer noch in einem
schwierigen Prozess befindet, zu überfordern. Das bedeutet natürlich, dass es richtig war - es war nicht zuletzt
eine deutsche Initiative -, dafür zu sorgen, dass Russland
Mitglied der G 8 werden konnte.
Ich glaube, die Dimension, die sich mit der Beziehung zwischen der Europäischen Union und Russland
verbindet, ist weder in der politischen noch in der ökonomischen Perspektive hinreichend diskutiert. Wir sollten dies in Zukunft tun und es als einen ganz spezifisch
historischen, aber auch gegenwärtigen Auftrag Deutschlands ansehen, dafür zu sorgen, dass es diese strategische
Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und
Russland auf jeden Fall geben wird. Ich empfinde das als
einen Auftrag, den ich für enorm wichtig halte.
({46})
Ich hoffe, dass deutlich geworden ist, dass sich mit
dem Termin morgen sehr viel mehr politische, ökonomische, ja auch kulturelle Möglichkeiten als Belastungen
und Schwierigkeiten verbinden. Deswegen habe ich die
Hoffnung - das deutet sich auch in der heutigen Presselandschaft an -, dass der Tag morgen wirklich als ein
Tag der Freude begriffen werden kann, auch wenn ich
leider nicht die Freude haben werde, an den üblichen
1.-Mai-Veranstaltungen teilnehmen zu können.
({47})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({48})
Ich erteile der Vorsitzenden der Fraktion der CDU/
CSU, Kollegin Angela Merkel, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Tage
nach dem Mauerfall am 12. November 1989 fuhr ich als
Physikerin, damals beschäftigt bei der Akademie der
Wissenschaften der DDR, zu einer lange geplanten
Dienstreise nach Torun in Polen. Meine polnischen Kollegen freuten sich, dass ich kam, waren aber etwas erstaunt, dass ich mich überhaupt von Berlin wegbewegt
bzw. weggewagt hatte; denn sie sahen Tag und Nacht
fern und waren voller Freude über das, was sich in
Deutschland abgespielt hatte. Dann sagten sie zu mir:
Nun dauert es nicht mehr lange, bis Deutschland wiedervereint ist. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich habe sie damals ungläubig angeguckt; denn geistig eingestellt war
ich auf diesen Schritt nur drei Tage nach dem Mauerfall
noch nicht.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Ich erzähle sie
deshalb, weil sie zeigt - es war ja schon nach wenigen
Monaten Realität, dass Deutschland wiedervereinigt
war -, dass es sich lohnt, an Visionen zu glauben und für
Visionen zu kämpfen. Denn nur so werden Visionen
auch Wirklichkeit, sowohl was die deutsche Einigung als
auch was die europäische Einigung betrifft.
({0})
Morgen, am 1. Mai 2004, wächst die Europäische
Union um zehn neue Mitgliedstaaten. Damit wird eine
neue Seite unseres europäischen Geschichtsbuchs aufgeblättert. Ich sage Ihnen: Das, was wir morgen erleben
werden, ist nichts anderes als ein zweiter großer Schritt
zur Wiedervereinigung Europas. Das ist keine Erweiterung, sondern eine Wiedervereinigung. Deshalb ist der
morgige Tag für mich vor allen Dingen ein Tag der
Freude. Diese Wiedervereinigung bedeutet für uns alle
zuvörderst eine Bereicherung der Europäischen Union,
kulturell, politisch und ökonomisch.
({1})
Die Dimensionen der Europäischen Union sind atemberaubend und faszinierend: 25 Länder, 450 Millionen
Menschen, ein Kontinent der Vielfalt, Mobilität in allen
Bereichen. Junge Deutsche können in Litauen studieren,
in Frankreich Berufserfahrung sammeln und in Skandinavien oder Polen Unternehmen gründen.
Meine Damen und Herren, das ist vor allen Dingen
eine Perspektive für die jungen Menschen, die diese Bereicherung der Europäischen Union in ihrem Leben in
vollem Maße werden erleben können. Damit ist dann
auch ein historischer Auftrag erfüllt bzw. fast vollendet:
dass es - wenn man sich die Geschichte anschaut, stellt
man fest, dass das alles andere als selbstverständlich
ist - keinen Krieg mehr zwischen den Völkern Europas
geben kann. Wir leben in einer Zone der Gemeinsamkeit
und der Freiheit, Sicherheit und Stabilität.
Das ist - das dürfen wir niemals vergessen - auch das
Kernvermächtnis der Gründungsväter dieser unserer
Bundesrepublik Deutschland, die damals trotz der Trümmer des Krieges in ihrem Rücken die Kraft hatten, solche Visionen zu entwickeln. Das war ja nicht nur die Vision des Westens, sondern immer auch die Vision derer,
die in der früheren DDR bzw. im früheren Ostblock gelebt haben. Denken wir an die Ereignisse 1953 in der
DDR, an den Aufstand in Ungarn 1956, an die Bewegung in der ehemaligen Tschechoslowakischen Republik
1968 und dann an Solidarnosc in Polen 1981.
Meine Damen und Herren, es war immer das Credo,
die Leitlinie von CDU und CSU und der von Konrad
Adenauer bis Helmut Kohl geführten Bundesregierungen, die europäische Einigung als die andere Seite der
deutschen Einigung zu begreifen und die geschichtliche
Vision Realität werden zu lassen. Mit der Einführung
des Euro ist diese Entwicklung aus meiner Sicht unumkehrbar geworden.
({2})
Die Erweiterung der Europäischen Union ist also für uns
eine Bereicherung und sie bietet Chancen - nicht nur für
die neuen Mitglieder. Wir neigen dazu, zuerst zu betonen, was die neuen Mitglieder gewonnen haben. Wenn
wir aber schon über die Lissabon-Strategie sprechen,
darüber, dass Europa bis 2010 der Kontinent mit dem
größten Wirtschaftswachstum, mit der größten Dynamik
werden soll, dann sollten wir alle begreifen, dass der
Beitritt der neuen Länder ein Schritt dazu ist, das zu erreichen, ein Schritt nach vorne. Entsprechend sollten wir
leben.
({3})
Die europäische Wirtschaft hat den Beitritt der zehn
neuen Mitgliedstaaten lange vor dem morgigen Tag als
Chance begriffen. So paradox es vielleicht klingen mag:
Ohne die Investitionen in den neuen Mitgliedstaaten, in
den neuen Märkten wären auch viele Arbeitsplätze bei
uns nicht sicher. Noch mehr Arbeitsplätze wären in ganz
andere Regionen der Welt verlagert worden, ohne dass
es uns möglich gewesen wäre, an bestimmten Produktionsprozessen teilzuhaben. Dafür gibt es viele Beispiele; wir müssen klar machen, dass es diesen Zusammenhang gibt.
Aber, meine Damen und Herren, wo Chancen sind,
sind auch Risiken. Es wäre über die Köpfe der Menschen in Europa und gerade auch in Deutschland hinweggeredet, wenn wir nicht auch über diese Risiken
sprechen würden. Mit der Erweiterung bekommt Europa
23 Prozent mehr Fläche, 20 Prozent mehr Einwohner,
aber nur 5 Prozent mehr Wirtschaftskraft. Mit dieser
Frage müssen wir uns auseinander setzen. Es ist ganz
selbstverständlich und natürlich, dass hiervon in besonderer Weise die Grenzregionen betroffen sind, wo die
unterschiedlichen Lebensumstände aufeinander treffen.
Dort müssen Lösungen gefunden werden.
({4})
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben immer
wieder auf diese besonderen Probleme hingewiesen. Wir
haben gesagt: Wir brauchen hier besondere Strukturförderung, wir brauchen eine besondere Ausgestaltung des
Beihilferechts und besondere Verkehrsprojekte. Die
Bundesregierung hat an dieser Stelle immer und immer
wieder versagt, weil sie alles ignoriert hat. Das wird bei
der Gestaltung der europäischen Einigung ein schwerer
Ballast sein.
({5})
Die Risiken betreffen nicht nur die Grenzregionen, sie
betreffen natürlich auch Deutschland als Ganzes. Wenn
wir zu Gewinnern und nicht in hohem Maße zu Verlierern der EU-Erweiterung werden wollen, müssen wir
uns den Gesetzmäßigkeiten stellen und müssen uns auf
den neuen Wettbewerb einlassen; wir dürfen das nicht
ignorieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben darauf hingewiesen, dass dazu erste Schritte getan wurden. Das mag
sein, aber ich sage ganz eindeutig: Diese Schritte werden
nicht reichen, damit Deutschland wirklich Gewinner dieses Prozesses wird. Natürlich brauchen wir weitere Anstrengungen, insbesondere in den Innovationsbereichen.
In den nächsten Wochen werden wir viele Debatten darüber führen. Ich kann nur sagen: Was Deutschland bisher getan hat, um wirklich wieder zum Motor der Innovation, zum Motor der Hochtechnologie zu werden,
reicht bei weitem nicht aus, da müssen wir uns mehr anstrengen und viele Rahmenbedingungen sehr viel wettbewerbsfreundlicher gestalten.
({6})
Ich stimme Ihnen vollkommen zu: Ein Wettbewerb
um die billigsten Löhne kann nicht Deutschlands Ziel
sein. Aber einfach zu glauben, es wäre im 21. Jahrhundert - unter den veränderten Bedingungen - noch möglich, die Lohnstruktur und das Tarifrecht in Deutschland
so zu lassen, wie es schon seit 50 Jahren ist, wird uns
viele Arbeitsplätze kosten. Deshalb werden wir immer
und immer wieder darauf hinwirken, dass Möglichkeiten
geschaffen werden, zu mehr Flexibilität bei den Löhnen
zu kommen, um den Menschen in Deutschland Arbeit
und damit Lohn und Brot zu geben. Das ist unsere Aufgabe in diesem Parlament.
({7})
In diesem Zusammenhang ist für uns auch die Frage
nach der Ausgestaltung des Niedriglohnsektors entscheidend, und zwar nicht, damit den Menschen wenig bezahlt werden muss, sondern damit Lohnzuschüsse möglich werden. Es ist deshalb dramatisch, dass wir mit
Ihnen in dieser Frage zu keiner Einigung kommen.
Wir müssen natürlich nicht nur unser Arbeitsrecht
verändern, sondern müssen auch viele unserer lieb gewonnenen bürokratischen Strukturen aufgeben. Zurzeit
führen wir eine Debatte über den Aufbau Ost. Im Rahmen dieser Debatte äußern die neuen Länder: Gebt uns
doch Freiheiten; gebt uns die Freiheit, Anforderungen
nur nach EU-Standard und nicht nach höheren Standards
umzusetzen. - Wir müssen den neuen Ländern diese
Freiheiten geben, wenn der Aufbau Ost nicht so enden
soll, wie von Pessimisten in dieser Diskussion beschrieben wird, sondern wenn er den neuen Bundesländern einen wirklichen Fortschritt bringen soll.
({8})
Wir wissen, dass wir eine ähnliche Debatte, wie wir
sie heute, 15 Jahre nach der deutschen Einheit, in
Deutschland führen, auch im erweiterten Europa führen
werden. Wir werden uns in zehn Jahren fragen - das prognostiziere ich -: War es richtig, den neuen Ländern alle
Regelungen der bisherigen Europäischen Union aufzuerlegen? Mussten sie das alles wirklich schaffen? Wäre es
für uns alle nicht billiger gewesen, wenn wir ihnen etwas
mehr Spielraum zugestanden hätten? Ich sage es Ihnen
schon jetzt: Diesen Schuh werden wir uns anziehen müssen und nicht die neuen Beitrittsländer. Das wird uns alles nichts helfen.
({9})
Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Brüssel nicht zu einer
zentralen Bürokratie werden soll, müssen in dieser Europäischen Union Kompetenzen zum Beispiel in der
Agrarpolitik oder in der regionalen Wirtschaftspolitik
auch wieder nach unten verlagert werden können. Hier
müssen wir offen sein. Es hat überhaupt keinen Zweck,
das zu verkennen.
({10})
Herr Bundeskanzler, wir können natürlich viel über
die Frage sprechen, was mit dem Steuerrecht in Europa
passieren soll. Zuvor müssen wir aber darüber nachdenken - das ist für mich die Lehre aus den Beispielen Estland und Slowakei -, was aus dem Steuerrecht in
Deutschland werden soll.
({11})
Wir brauchen in Deutschland ein einfaches Steuerrecht.
Der neue estnische Kommissar hat Recht, wenn er sagt:
In euren Steuersystemen schaffen es die Kreativsten,
dass sie keine Steuern zahlen, weil sie Möglichkeiten gefunden haben, das zu umgehen. Wir dagegen versuchen,
mit unserem einfachen Steuerrecht jedes Unternehmen
dazu zu zwingen, Steuern zu zahlen. Und jetzt fangt ihr
an, uns darüber Vorwürfe zu machen. - Ich finde, das ist
nicht redlich.
({12})
Wir müssen uns mit unseren eigenen Schwächen befassen. Diese sind offensichtlich und sind von uns schon oft
angesprochen worden.
({13})
Niemand will, dass aufgrund von Dumping Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen, die dann mit einer
Förderung von 40 Prozent in den Beitrittsländern wieder aufgebaut werden. Dieses Problem haben wir schon
im Rahmen der deutschen Einheit gemeistert. Entsprechende Absprachen muss es deswegen auch jetzt in
Europa geben. Die Bundesregierung wird dafür verantwortlich sein, dass so etwas nicht passiert. Ich halte es
aber mit für das Gefährlichste, was wir tun können, den
neuen Ländern jetzt vorzuwerfen, schnell auf die Beine
kommen zu wollen, weil wir sie ansonsten dauerhaft
werden subventionieren müssen. Das wollen wir doch
nicht. Deshalb müssen wir jeden Impuls in den neuen
Ländern unterstützen, damit sie schnell auf die eigenen
Beine kommen, und dürfen ihnen keine Knüppel zwischen die Beine werfen.
({14})
Es ist richtig: Durch den Beitritt wird in den neuen
Ländern zum ersten Mal eine Situation herbeigeführt,
dass die Unternehmen Steuern zahlen müssen. In der
Zeit, in der sie noch nicht in der Europäischen Union
waren, gab es auch keine entsprechenden Regelungen.
Insofern war der Wettbewerb in dieser Zeit viel schärfer.
Es ist richtig, dass Günter Verheugen darauf immer wieder hingewiesen hat.
Meine Damen und Herren, es ist gut und richtig, dass
zum jetzigen Zeitpunkt auch um einen Verfassungsvertrag - um eine Form für Europa, die besagt, was dieses
Europa sein möchte - gerungen und gestritten wird. Ich
fordere die Bundesregierung ganz entschieden auf, darauf zu achten, dass neben dem noch zu lösenden Problem der Abstimmungen am Ende der Regierungskonferenz auch noch andere wichtige Dinge besprochen
werden. Herr Bundeskanzler, nehmen Sie das, was der
Präsident der Europäischen Zentralbank fordert, ernst:
Die Stabilitätskriterien gehören zur konstitutiven Realität dieser Europäischen Union und müssen deshalb Verfassungsrang bekommen. Wir werden mit all unseren
Möglichkeiten darauf drängen.
({15})
Ich sage das ganz ausdrücklich: Ich sehe die riesige
Chance, dass durch diesen Verfassungsvertrag über den
Binnenmarkt hinaus deutlich gemacht wird, dass eine
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für Europa
notwendig und richtig ist. Damit das gelingen kann,
muss Europa in der Lage sein, einen gemeinsamen europäischen Willen zu bilden.
({16})
Herr Bundeskanzler, Sie haben es vorhin so genannt:
Europa soll mit einer Stimme sprechen. - Jawohl, Herr
Bundeskanzler: Wenn Europa Einfluss ausüben will,
dann führt an einer einheitlichen Stimme kein Weg vorbei.
({17})
- Es ist natürlich klar, dass sich jeder wünscht, dass es
die richtige Stimme ist. Ob wir Einfluss haben werden,
wird sich an der Antwort auf die Frage festmachen lassen, ob das gelungen ist.
Gehen wir einmal in die Anfänge der Europäischen
Union zurück: Was ist denn die Lehre der 100-jährigen
europäischen Geschichte? Wann immer die Völker Europas nicht zusammengefunden haben, waren Kriege
möglich und gab es keinen Frieden. Deshalb ist die
einige europäische Stimme für uns so etwas wie eine
Lebensversicherung, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch woanders auf der Welt.
({18})
Herr Bundeskanzler, ich sage es ganz ruhig - heute ist
nämlich wirklich nicht der Tag für laute Töne -: Nach
meiner festen Auffassung ist von deutscher Seite nicht
alles Menschenmögliche versucht worden,
({19})
um Europa zu einen und damit diesem Kontinent in den
anstehenden Auseinandersetzungen in der Welt Gewicht
zu geben. Um diesen Punkt geht es.
({20})
Jeder in Brüssel und jeder, der durch Europa fährt, spürt
auch heute noch, welche Risse diese Uneinigkeit hinterlassen hat.
(Ute Kumpf ({21}): Ich weiß nicht, wo Sie waren! - Gert Weisskirchen ({22}) ({23}):
Herr Köhler?)
Deshalb ist es unsere gemeinsame Aufgabe - wir werden
Sie dabei immer unterstützen -, zu versuchen, die europäischen Kräfte zu einen und diesem Kontinent Gewicht
zu geben.
Die Anforderungen und Notwendigkeiten sind doch
mit Händen zu greifen. Der internationale Terrorismus
ist eine Herausforderung für die westlichen Demokratien
und damit ganz besonders auch für Europa. Diese Kräfte
werden - jedenfalls nach meiner Einschätzung - schwieriger zu bekämpfen sein als vieles, womit wir uns im
Kalten Krieg herumschlagen mussten. Warum? Im Kalten Krieg lag ein Stück Berechenbarkeit darin, dass
beide Kontrahenten nicht die Absicht hatten, sich selbst
umzubringen. Jetzt haben wir es mit Gegnern zu tun, die
bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern, um unsere Art
zu leben zu zerstören. Darüber müssen wir uns Gedanken machen und in Europa zu einer einheitlichen Einschätzung kommen. Die Institutionen Europas müssen
eine Antwort darauf finden. Es gibt bereits erste Schritte,
aber längst noch nicht genug Bewegung.
Nur aus diesem Grund führen wir in Deutschland eine
Debatte darüber, was in bestimmten Situationen geschehen soll und warum die innere und die äußere Sicherheit
- Polizei und Bundeswehr - enger zusammenwachsen
müssen. Diese Diskussion muss ohne Scheuklappen und
mit stetigem Blick auf die Bedrohung geführt werden.
Herr Bundeskanzler, wir sind dazu bereit, denn wir müssen den Terroristen dieser Welt zeigen, dass wir willens
sind, unsere Werte zu verteidigen.
({24})
Natürlich geht es um die Frage: Wie geht es mit Europa weiter? Rumänien und Bulgarien werden 2007 zur
Union dazukommen, Kroatien hat einen Antrag gestellt
- ich unterstütze das - und dann müssen wir die Frage
diskutieren: Wie halten wir es mit der Türkei? Es ist
vollkommen richtig, dass die Europäische Union 1963
- damals war es noch die EWG - der Türkei die Beitrittsperspektive eröffnet hat. Wir kennen diese Geschichte,
sie hängt auch mit der Christlich Demokratischen Union
zusammen.
Es ist ebenso richtig - ich habe das gegenüber dem
türkischen Ministerpräsidenten gesagt, so wie es jeder
andere tun sollte, der die Türkei besucht -, dass sich die
Türkei auf einen spannenden, interessanten und richtigen Weg begeben hat, mehr Demokratie im Land einzuführen.
({25})
Es wäre hanebüchen, wenn wir einen Beitrag dazu leisten würden, dass dieses Land zurückfällt und nicht weiter vorankommt. Das will niemand in diesem Haus.
({26})
Die Kopenhagener Kriterien - das wissen Sie so gut
wie wir - haben zwei Seiten. Zum einen betreffen sie das
Land, das beitreten möchte, soll und will, und zum anderen den Zustand der bestehenden Europäischen Union.
Es geht um die Integrationsfähigkeit.
({27})
Herr Bundeskanzler, ich glaube, wer Europa fördern
will, der darf die Menschen in Europa nicht überfordern.
Darüber diskutieren wir.
({28})
Diese Debatte geht ohne Schaum vor dem Mund und
sie hat mit blankem Populismus wirklich gar nichts zu
tun.
({29})
Würden Sie dem Präsidenten des europäischen Verfassungskonvents, dem ehemaligen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing, diesen Vorwurf machen? Ich rate
Ihnen davon dringend ab. Es geht um das Mögliche. Niemand wusste 1963, dass der Europäischen Union nun
zehn neue Mitgliedstaaten beitreten werden. Damals war
Europa eine Freihandelszone und kein Binnenmarkt mit
einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die
Integrationstiefe, die es heute gibt, konnte damals niemand voraussehen.
({30})
Die Frage zu stellen, in welcher Art und Weise wir die
besonderen Beziehungen zu unserem Partner Türkei für
eine absehbare Zeit definieren wollen, ist überaus verantwortbar. Ich habe es satt, der Türkei falsche Versprechungen zu machen, die zum Schluss nicht zu halten
sind. Genau aus diesem Grund bleiben wir bei unserer
Position.
({31})
Wir werden auch in den nächsten Jahren darüber sprechen müssen, wie unser Europa aussehen soll. Ich denke
an ein Europa, in dem die soziale Marktwirtschaft, wie
wir sie in Deutschland durch Ludwig Erhard in die Praxis umgesetzt haben und die wir unter den Bedingungen
der Globalisierung weiterentwickeln müssen, ein Modell
für unseren ganzen Kontinent werden kann und - das
sage ich ganz klar - werden muss.
({32})
Europa bedeutet auch, dass wir Deutschen bereit sein
müssen, von anderen zu lernen. Schauen wir uns doch
einmal die Arbeitsmarktpolitik der Niederlande an!
Dann könnten wir uns so manche Debatte hier in
Deutschland sparen. Nehmen wir doch einmal zur
Kenntnis, dass in Griechenland und anderen Ländern
länger gearbeitet wird als in Deutschland! Untersuchen
wir doch einmal, warum andere Länder ein stärkeres
Wachstum haben als wir und warum unser Bruttosozialprodukt im vergangenen Jahr unter dem EU-Durchschnitt lag! Wir müssen bereit sein, von finnischer Bildungspolitik, von holländischer Arbeitsmarktpolitik, von
slowakischer Steuerpolitik und anderen Modellen zu lernen. Wenn wir das nicht sind, werden wir in Europa
nicht erfolgreich sein.
({33})
Ich füge hinzu: Wenn wir im Zusammenhang mit dem
Verfassungsvertrag nicht bereit sind, über die Wertegrundlage unseres Europas ausreichend und umfassend
zu sprechen,
({34})
dann wird es sehr schwierig werden, klar zu machen,
wovon unsere Werte und unser Handeln auf der Welt geleitet sind.
Deshalb sage ich: Wir werden auch dafür eintreten
- auch wenn ich weiß, dass es schwierig ist -, dass es einen klaren Gottesbezug, einen Bezug zum christlich-jüdischen, aufklärerischen Erbe unseres europäischen
Kontinents gibt.
({35})
Denn das ist das, was uns erfolgreich gemacht hat und
was wir auch in die Zukunft überführen müssen.
({36})
Wenn wir Europa so sehen - dessen bin ich mir sicher -,
({37})
dann kommen wir auch über die Alltagsschwierigkeiten
hinweg. Dann kommen wir darüber hinweg, dass sich
Probleme zeigen werden, weil wir Europa als politische
Union begreifen. Wir müssen jeden Tag und gerade im
Gespräch mit dem Bürger deutlich machen, dass sich unsere Europäische Union nicht auf Milchkühe und Chemikalienrichtlinie reduziert, sondern eine Union der
Freiheit und des Wohlstands sein soll.
Um das zu erhalten, brauchen wir ein Europa, das sich
erweitert und dadurch erneuert. Wir brauchen europäische Gremien, die die Weltlage nicht nur kommentieren,
sondern in sie eingreifen und sie gestalten. Wir brauchen
eine Europäische Union, die willens ist, der Globalisierung ein menschliches Gesicht zu geben. Wir sollten
- das ist ganz wichtig für uns Deutsche und für Europa entschlossen zu den Gewinnern gehören wollen. Dann
haben wir alle Chancen, es zu schaffen.
({38})
Ich bin sicher, gerade das - zu den Gewinnern gehören
wollen - können wir von den neuen Ländern in ganz besonderer Weise lernen. In diesem Sinne freue ich mich
auf den morgigen Tag. Ich beglückwünsche sie, dass sie
bei uns sind, und hoffe auf allerbeste freundschaftliche
Zusammenarbeit.
({39})
Ich erteile das Wort dem Bundesaußenminister Joseph
Fischer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
morgigen Tag wird die Teilung Europas endgültig überwunden. Mit dem morgigen Tag wird sich auch die Lage
Deutschlands grundsätzlich verändern. Die Mittellage
unseres Landes wurde allzu oft in der Geschichte als
Bürde und Ballast gesehen - und dies mit gutem Grund.
Mit dem morgigen Tag werden wir in der Mitte einer
größeren Europäischen Union liegen, werden wir umgeben sein von Nachbarn, werden wir umgeben sein von
Freunden. Das ist eine einmalige Situation, in der sich
unser Land noch nie befunden hat.
({0})
Es war der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, der
zu Recht immer darauf hingewiesen hat, dass die Europäische Union das größte Friedensprojekt in der europäischen Geschichte, ja sogar in der Menschheitsgeschichte ist. Deswegen hat der Bundeskanzler völlig zu
Recht unterstrichen, dass die eigentliche Bedeutung des
morgigen Tages vor allen Dingen in dieser historischen
Zäsur für unseren Kontinent liegt. Was das heißt, konnten wir und müssen wir heute immer noch auf dem Balkan realisieren. Die Gefahr des Nationalismus, die Gefahr von Kriegen und ethnischen Säuberungen liegt nicht
hinter uns. Nur mit der europäischen Perspektive war es
möglich, sie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts tatsächlich zu überwinden. Mit der Erweiterung der
Europäischen Union ist jetzt ein ganz entscheidender
Schritt getan. Ein Kapitel wurde abgeschlossen, ein bitteres und furchtbares Kapitel in der Geschichte Europas,
und ein neues, ein wesentlich besseres Kapitel wurde eröffnet. Deswegen möchte ich mich heute bedanken. An
erster Stelle spreche ich dem Erweiterungskommissar
der Europäischen Union, Günter Verheugen, meinen
Dank aus, der gemeinsam mit allen, die ihm zugearbeitet
haben, großartige Arbeit geleistet hat.
({1})
Ich möchte aber auch daran erinnern, dass der Prozess
aus Etappen bestanden hat, über die wir uns gestritten
haben. Der Prozess begann 1999 mit der Agenda 2000
in Berlin, mit der die Voraussetzungen geschaffen wurden. Das ist uns nicht leicht gefallen und war auch in
diesem Haus heftig umstritten. Aber ohne die damals gefundene Lösung wäre der Beginn der Erweiterungsverhandlungen so nicht möglich gewesen.
Die nächste Stufe war der Vertrag von Nizza. Wir
wissen noch, wie schwer uns die Unterschrift unter den
Vertrag gefallen ist, weil wir ihn für nicht zureichend gehalten haben. Die Alternative wäre aber eine völlige
Blockade der Erweiterungsverhandlungen gewesen.
Deswegen war es notwendig, den Vertrag von Nizza zu
unterschreiben und zu ratifizieren, wie es dieses Haus
getan hat. Er markiert nämlich den Beginn des Verfassungsprozesses. Denn es war seinerzeit klar: Mit Nizza
ist die Erweiterung möglich, aber allein mit diesem Vertrag werden wir die erweiterte Union nicht handlungsfähig ausgestalten können.
Die dritte Stufe war der Agrarkompromiss von
Brüssel. Auch dieses Übereinkommen wurde heftig kritisiert, aber ohne diesen Agrarkompromiss hätten wir die
Hürde im Erweiterungsprozess nicht überwunden.
Schließlich die Abschlussverhandlungen in Kopenhagen: Auch hierbei waren die Haltung der Bundesregierung und vor allem Ihr Beitrag, Herr Bundeskanzler,
wie auch der finanzielle Beitrag unseres Landes entscheidend, um die Verhandlungen erfolgreich abschließen zu können. Deswegen möchte ich in diesem Zusammenhang auch ganz besonders Bundeskanzler Schröder
für die Politik danken, die er zu verantworten hat und die
zu dem Beitritt der neuen EU-Mitgliedstaaten am morgigen Tag geführt hat.
({2})
Frau Merkel, Sie haben versucht, in erster Linie eine
innenpolitische Debatte zu führen
({3})
- ich will das gerne aufgreifen, aber keine Sorge! -, in
der es im Wesentlichen um die Frage der inneren Erneuerung unseres Landes geht. Sie haben über das Steuerrecht, Verkehrsprojekte und Ähnliches gesprochen. Ich
halte es für einen großen Irrtum, zu glauben, dass wir
uns in der erweiterten Union einen Abwertungswettlauf
im Steuerrecht werden erlauben können, ohne dass dadurch alle verlieren, und zwar an erster Stelle die erweiterte Union.
({4})
So richtig es ist, immer wieder über die Modernisierung unseres Steuerrechts zu diskutieren, hätte es die
Ehrlichkeit doch geboten, Frau Merkel, dass Sie hinsichtlich der Position Ihrer eigenen Partei Klarheit schaffen. Wir wollten heute keine innenpolitische Debatte
führen. Ich erinnere daran, dass von Ihrer Seite ein Konzept vorgelegt wurde, das auf einen Bierdeckel passen
sollte. Dieses Konzept wurde aber gleich wieder einkassiert. Jetzt verkünden Sie, dass wir uns am slowakischen
Steuerrecht orientieren sollten, ohne dabei die Konsequenzen zu bedenken.
Nein, Frau Merkel, wenn das die Perspektive ist, die
Sie, die Vorsitzende der CDU, von einer erweiterten Europäischen Union haben, dann wird eine solche Politik
- das kann ich Ihnen voraussagen - sehr schnell gegen
die Wand fahren. Das aber wollen wir nicht. Wir wollen
eine erfolgreiche Erweiterungspolitik.
({5})
Sie haben dann die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angesprochen. Entschuldigung, ich werde nur noch
diesen einen Ausflug in die Innenpolitik machen, aber
das kann ich so nicht stehen lassen.
({6})
- Nicht ich, sondern Ihre Vorsitzende hat die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angesprochen. - Wir haben
einen Bundesverkehrswegeplan übernommen, der zu
80 Prozent nicht gegenfinanziert war. Das war die Realität. Heute ist die Finanzierung der Verkehrsprojekte zu
weiten Teilen gesichert. Daran werden wir auch festhalten.
Entscheidend sind aber die gesamteuropäischen
Verkehrsprojekte. Hierin liegt die investive Zukunft für
uns alle.
({7})
Den ständigen Hinweisen auf bestehende Ängste halte
ich entgegen, dass wir im Zusammenhang mit den gesamteuropäischen Verkehrsprojekten die auf dem Europäischen Rat in Lissabon vereinbarten Ziele erreichen,
die Investitionen erhöhen und gleichzeitig Entwicklungs- und Investitionsmöglichkeiten in den neuen Mitgliedstaaten schaffen werden, die wiederum - das ist
entscheidend - auch bei uns Arbeitsplätze, Einkommen
und Gewinne für die Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichern werden.
({8})
Für uns ist entscheidend, dass mit der Erweiterung
eine neue, gesamteuropäische Union anstelle der bisherigen,
aus geographischer Sicht westeuropäischen, Union entsteht. Klar ist aber auch - der Bundeskanzler hat dies unterstrichen -: Die Union der Fünfundzwanzig braucht
eine Verfassung. Wenn die Verfassung Realität wird,
wird es bereits eine Union der Siebenundzwanzig sein.
Bei so vielen Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger,
Kompromisse zu erzielen. Schon in der EU der Fünfzehn
war es schwer genug, die Handlungsfähigkeit zu wahren;
das wird jetzt noch wesentlich schwieriger werden.
Deswegen müssen wir uns darauf konzentrieren, die
Verfassung noch während der irischen Präsidentschaft zu
verabschieden. Das liegt im Interesse sowohl der alten
als auch der neuen Mitgliedstaaten, sowohl der Nettozahler als auch der Nettobezieher, sowohl der kleinen als
auch der großen Mitgliedstaaten. Die Union der Fünfundzwanzig muss - darauf wird zu Recht immer wieder
hingewiesen - ihre Wettbewerbsfähigkeit sowie gleichzeitig ihre politische und insbesondere ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit vergrößern. Das wird nur mit
starken, integrativen Institutionen in Brüssel und mit
selbstbewussten Mitgliedstaaten gelingen. Genau das ist
der Kern einer europäischen Verfassung. Die erweiterte
Union wird nur gelingen, wenn sie von einem erfolgreichen Abschluss des Verfassungsprozesses begleitet wird.
({9})
Natürlich spielen in diesem Zusammenhang die
neuen strategischen Herausforderungen eine entscheidende Rolle für uns. Es ist doch ersichtlich - lassen
wir die Irakpolemik einen Augenblick beiseite -, dass
wir heute in einem völlig anderen weltpolitischen Umfeld agieren. Es gibt die innere Gefahr des Nationalismus - sie ist keineswegs beendet; ich habe das vorhin
beschrieben - in der Region westlicher Balkan. Die Entwicklung im Kosovo macht klar, dass ohne die NATO
und die Europäische Union sowie ohne eine Integrationsperspektive in Richtung Brüssel die alten Konflikte
sofort wieder aufbrechen würden.
Aber auch direkt um uns herum gibt es Gefahren: die
Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.
Selbstverständlich standen die Bundesregierung und die
Koalition beim Kampf gegen den Terrorismus immer
Seite an Seite. Es ist uns zwar oft schwer gefallen. Aber
auch für uns ist immer klar gewesen: Der Kampf gegen
den Terrorismus muss gewonnen werden; denn wir können mit Vertretern eines neuen Totalitarismus keine Verhandlungen führen. Ich wüsste nicht, worüber man beispielsweise mit Osama Bin Laden verhandeln sollte, mit
jenen, die den Tod lieben, die gewissenlos den Massenmord an Hunderten, ja sogar an Tausenden Menschen
planen und meinen, darin könne eine Zukunft liegen. Es
ist völlig klar, dass wir an diesem Punkt unseren Verpflichtungen gerecht werden.
({10})
Ich konnte mich erst jüngst in Afghanistan davon
überzeugen, welchen Beitrag die Bundeswehr, die zivilen Aufbauhelfer und die Diplomaten unseres Landes
- immer zusammen mit anderen Europäern - tatsächlich
leisten und was geschehen würde, wenn wir dort abzögen und unseren Beitrag nicht mehr erbrächten. Die Welt
schaut mehr und mehr auf das gemeinsame Europa. Auf
internationaler Ebene wird mir immer wieder die Frage
gestellt, warum Europa nicht dieses oder jenes tue. Die
Handlungsfähigkeit, die von uns eingefordert wird, müssen wir in der Tat zunehmend entwickeln, gründend auf
eine europäische Verfassung. In diesem Zusammenhang
ist Russland - ich finde das, was der Bundeskanzler dazu
gesagt hat, sehr richtig und wichtig - eine zentrale, vielleicht sogar die zentrale strategische Aufgabe, die wir zu
lösen haben.
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen,
nämlich die Partnerschaftsfähigkeit im transatlantischen Bündnis. Frau Merkel, wir haben Freundschaft
immer so definiert, dass man unter Freunden nicht zu allem Ja und Amen sagt, vor allem dann nicht, wenn man
der Meinung ist, dass es in die falsche Richtung geht.
({11})
Unter Freundschaft verstehe ich, einen Freund, der einen
Fehler macht, darauf hinzuweisen, dass er einen Fehler
macht, und ihm in aller Freundschaft zu sagen, welches
die Konsequenzen sind. Sie haben verkündet, es sei von
zentraler Bedeutung, dass Europa mit einer Stimme
spreche. Darin stimme ich mit Ihnen überein: Die gemeinsame europäische Position ist herzustellen. Aber
alle Gemeinsamkeit ist in dem Moment nichts mehr
wert, wenn es die falsche Position ist.
({12})
Die Antwort auf Ihre These, Einheit sei die Lebensversicherung gegen Krieg auf dem europäischen Kontinent,
lautet - institutionell gesehen -: Das ist die Europäische
Union. Aber Einheit ist keine Lebensversicherung gegen
Krieg, wenn Einheit in einen Krieg mit fatalen Konsequenzen führt. Ich hoffe, dass wir auch darüber im Klaren sind, verehrte Frau Kollegin Merkel.
({13})
Des Weiteren sagen Sie immer: Wir müssen jetzt nach
vorne schauen. Dafür bin ich sehr; denn die Konsequenzen, mit denen wir es jetzt vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg und dem Konflikt im Nahen
Osten, also in unserer direkten strategischen Nachbarschaft, zu tun haben, besorgen uns wirklich sehr. Aber
die Blickrichtung allein nützt nichts, wenn die Sehschwäche nicht korrigiert wird. Auch das muss man hinzufügen.
({14})
Deswegen rate ich dringend dazu, diese Debatte an
der Frage „Worin bestehen die europäischen Interessen
tatsächlich?“ zu orientieren. Vor allen Dingen sollten wir
nicht nur einen Schritt bedenken, sondern immer auch
die Folgeschritte. Mir scheint, dass Ihnen das in der Türkeifrage völlig unklar ist. Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich verstehe die innenpolitischen Besorgnisse
und ich verstehe auch die vorgetragenen Argumente. Ich
sage nicht: All diese Argumente sind invalide, sie gelten
nicht, das ist Ideologie. Das ist meine Position nicht.
In der Türkeifrage muss man sehr genau abwägen.
Das Argument, man habe 40 Jahre lang Versprechungen
gemacht, ist natürlich sehr gewichtig. Man kann sich
nicht damit herausreden, dass man sagt: Ich habe es satt,
nicht die Wahrheit zu sagen. Man muss die Konsequenzen der merkelschen Wahrheit im Zusammenhang mit
der Erweiterung schon einmal untersuchen.
Der Bundeskanzler hat in dieser Debatte den entscheidenden Punkt genannt: Wenn es richtig ist, dass die
Hauptbedrohung unserer Sicherheit vom islamistischen
Terrorismus ausgeht, der uns in einen Krieg der Religionen und Kulturen führen will - die Union scheint diese
Auffassung zu teilen -, dann ist das zunächst einmal
keine Frage des Militärs, sondern dann geht es darum, ob
wir die Strategie des islamistischen Terrorismus erfolgreich durchkreuzen können. Die Frage ist letztendlich, ob
die Grundwerte der europäischen Aufklärung, der europäisch begründeten Moderne mit einem modernen Islam,
mit einer modernen Demokratie, mit einer modernen Zivilgesellschaft und mit einer modernen Volkswirtschaft
verbindbar sind.
({15})
Wenn das die entscheidende Frage ist, dann ist die Position der Union, die Mitgliedschaft der Türkei abzulehnen, falsch und sie könnte fatale Konsequenzen haben.
({16})
- Ich will es Ihnen gleich erklären. Das ist für mich jetzt
kein Anlass zu parteipolitischer Polemik, sondern zu einer sorgfältigen Argumentation.
Vier Jahrzehnte lang sind ernsthafte Versprechungen
gemacht worden. Das ist der Vorlauf. Bundeskanzler
Kohl hat in einem „FAZ“-Interview vor wenigen Monaten sinngemäß gesagt: Wenn die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllt, dann kann, ja, dann soll sie Mitglied werden. Das ist der entscheidende Punkt.
({17})
Das kann ich nur unterstreichen. Bundeskanzler a. D.
Helmut Kohl hat die strategische Bedeutung nämlich
sehr klar erkannt. Unser Versprechen bindet uns, Herr
Schauerte. Wenn wir jetzt sagen: „Egal was ihr macht,
ihr dürft nicht beitreten, ihr dürft nur eine privilegierte
Partnerschaft haben“, dann wirkt das aufgrund des Vorlaufs in der Türkei so, als wenn wir ihr dauerhaft die Tür
vor der Nase zuschlagen, also als ein Nein. Dieses Nein
hat fatale Konsequenzen, wenn meine vorherigen Annahmen, die Sie ja teilen, richtig sind.
({18})
Ich appelliere hier an die Union, diese Debatte auf der
Grundlage der begründbaren Argumente zu führen. Die
Türkei tritt nicht morgen und auch nicht übermorgen bei.
Was jetzt ansteht, ist der Beginn eines langfristigen Verhandlungs- und Implementierungsprozesses. Das ist
von entscheidender Bedeutung. Ich habe schon jüngst in
einer öffentlichen Diskussion gesagt: Die Frage der Europafähigkeit der Türkei wird nicht in der Westtürkei,
nicht in Istanbul, nicht in Izmir entschieden, sondern
letztendlich in Erzurum und in Diyarbakir.
Aber Sie müssen doch sehen, welche großartigen
Fortschritte in der Türkei gemacht wurden. Dinge sind
geschehen, die wir noch vor zwei, drei Jahren für nicht
möglich gehalten hätten, bis hin zu der türkischen Haltung, was Zypern betrifft, was die Abschaffung der Todesstrafe betrifft, was die inneren Reformen betrifft und
was mittlerweile angekündigte Verfassungsänderungen
bezogen auf die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte betrifft.
Schauen wir uns nur einmal die Haltung in der Zypernfrage an! Ich selbst habe noch vor einem halben Jahr intern gesagt: Das schaffen die nicht. Und sie haben es geschafft! Angesichts dessen können wir doch nicht sagen:
Die Belohnung ist, dass ihr der Europäischen Union
nicht beitreten dürft.
({19})
Wenn wir es doch tun, dann muss das negative Konsequenzen haben, die für unsere Sicherheit extrem gefährlich sind.
Die nationale Außenpolitik der Zukunft wird zunehmend in die Außenpolitik der Europäischen Union eingebunden sein. Der Nahe Osten, der Irak, sämtliche Krisen,
die auf uns zukommen, die strategischen Beziehungen zu
Russland, eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen, all das wird zunehmend europäische Politik
werden und das ist gut und das ist richtig so.
Wenn wir mit der Verfassung die Institutionen dafür
bekommen, dann wird diese erweiterte Union nicht nur
im Inneren Frieden, Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand für die Menschen bringen, wie das
unser Kontinent noch nie gekannt hat, sondern dann
werden wir unser Schicksal auch in der auswärtigen Politik im 21. Jahrhundert bestimmen können, und zwar
auf der Grundlage europäischer Werte und europäischer
Erfahrungen. Die europäische Erfahrung ist nicht die,
dass wir auf der Venus leben, sondern die europäische
Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist die, dass wir die
Überlebenden des Mars sind und daraus die Konsequenzen gezogen haben. Wir sind wertegebunden und wir
sind zugleich Realisten geworden.
Diese erweiterte Union wird die Zukunft unseres
Kontinents im Positiven bestimmen. Das sollten wir den
Menschen auch und gerade am heutigen Tag sagen. Aber
wir sollten ihnen auch sagen: Die Anforderungen, die
auf diese erweiterte Union, auf uns alle und damit auch
auf Deutschland als dem größten Mitgliedstaat vor allem
von außen zukommen, werden in der vor uns liegenden
Zeit zunehmen. Ihnen müssen wir uns gewachsen zeigen. Wenn wir die Verfassung verabschieden, wenn sich
dieses erweiterte Europa handlungsfähig macht, dann
wird es eine Erfolgsgeschichte, wie sie die Geschichte
unseres Kontinents noch nie kannte.
Ich danke Ihnen.
({20})
Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, FDPFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bemerkenswerte ist nicht das, was uns trennt,
sondern das, was uns alle hier verbindet. Wir stehen vor
einem Tag, den man zu Recht als Tag der Wiedervereinigung Europas bezeichnen kann. Hier sitzt eine Generation von Verantwortungsträgern zusammen, die innerhalb weniger Jahre erst die Wiedervereinigung
Deutschlands erleben durfte und jetzt die Wiedervereinigung Europas erleben darf. Das ist etwas, wofür wir
wirklich dankbar sein sollten.
({0})
Ich sage das deshalb, weil wir nicht vergessen wollen,
dass die Grundlagen für die Wiedervereinigung Europas,
die wir morgen feiern können, nicht erst in den letzten
Jahren entstanden sind. Die Wiedervereinigung Europas,
die wir feiern dürfen, ist die Folge von vielen historischen Entscheidungen, auch von Auseinandersetzungen
in unserer Nachkriegsgeschichte. Deswegen möchte ich
mir als einem der jüngeren Redner hier in diesem Hause
heute erlauben, in Dankbarkeit an all jene zu erinnern
- das halte ich für erforderlich -, die die Weichen dafür
gestellt haben, dass wir morgen die Wiedervereinigung
Europas begehen können, ob sie Konrad Adenauer oder
Helmut Kohl heißen, ob sie Willy Brandt oder Helmut
Schmidt heißen oder - ich darf das wohl hinzufügen Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel und Klaus
Kinkel.
({1})
So wie Angela Merkel ganz am Anfang sehr persönlich etwas erzählt hat, so will ich persönlich etwas erzählen als jemand, der in den 80er-Jahren angefangen hat,
sich politisch zu engagieren und politisch zu denken.
Damals hatte ich die Ehre, mit Hans-Dietrich Genscher
zusammenzutreffen, der viele Jahre, fast zwei Jahrzehnte, Außenminister unserer Republik gewesen ist.
Wenn wir als jüngere Studenten damals hinterfragt haben, was denn Europa nach der Wiedervereinigung
Deutschlands - an diesem Ziel haben wir immer festgehalten; das ist wichtig zu erwähnen - bedeuten würde,
hat er uns geantwortet: Die Europäische Union heißt
nicht Westeuropäische Union, sondern sie heißt Europäische Union.
Das ist nicht irgendeine Petitesse. Das ist in Wahrheit
der Auftrag unserer Generation. So wie diejenigen, die
nach dem Zweiten Weltkrieg Verantwortung getragen
haben, damals die Aussöhnung mit unseren westlichen
Nachbarn geprägt und vorangebracht haben - unzählige
Brieffreundschaften und persönliche Bekanntschaften
über die Schulen sind in meiner Generation damals mit
Gleichaltrigen bei unseren westlichen Nachbarn entstanden -, so sollte es jetzt unsere Aufgabe sein, nicht nur
gute Beziehungen der Regierungen, der Parlamente und
der Politiker nach Osten zu bewirken, sondern auch eine
wirkliche Freundschaft der Völker zu unseren östlichen Nachbarn zu befördern.
Die eigentliche Aufgabe, die wir jetzt haben, lautet,
aus der europäischen Wiedervereinigung von Staaten
und Staatlichkeit eine Wiedervereinigung der Menschen
zu machen, die sich beieinander und einander zugehörig
fühlen.
({2})
Man sollte unseren Bürgerinnen und Bürgern angesichts dessen, dass in der Politik so viel gestritten wird,
einmal sagen: Am heutigen Tage sollte zunächst einmal
im Vordergrund stehen - ich übergehe jetzt einmal die
innenpolitischen Auseinandersetzungen, die diesbezüglich stattgefunden haben -, dass sich der Deutsche Bundestag trotz aller Differenzen in manchen Einzelfragen
zwischen den Parteien mit riesiger überparteilicher
Mehrheit über die grundsätzliche Richtung einig ist, den
europäischen Integrationsprozess, also die europäische
Wiedervereinigung, gutzuheißen und weiter zu befördern.
({3})
Es ist ganz klar, dass wir darüber hinaus nicht den
Blick für das verlieren sollen, was uns trennt. Aber heute
sprechen wir uns mit großer Mehrheit und großer Übereinstimmung für diese europäische Wiedervereinigung
aus. Wir machen mit und befördern sie. Wir werden in
wenigen Wochen und Monaten hier abermals eine Diskussion über einen weiteren Bestandteil der europäischen Integration führen, nämlich über die europäische
Verfassung. Die europäische Verfassung soll kommen,
auch wenn jeder von uns unterschiedliche Vorstellungen
darüber hat, wie der Kompromiss aussehen soll. Wir
Freie Demokraten beispielsweise sind der Überzeugung,
dass die Europäische Zentralbank zu Recht fordert, die
Aspekte Währungs- und Wachstumsstabilität in die europäische Verfassung aufzunehmen. Auch wir wollen,
dass diese Aspekte noch eingearbeitet werden.
({4})
Trotzdem wissen wir, dass man erst dann einen guten
weiteren Schritt hin zur Vollendung der europäischen Integration tun kann, wenn es eine europäische Verfassung
gibt. Wenn ich es richtig sehe, wollen ja 90 bis 95 Prozent der Mitglieder dieses Hauses, dass man in der Frage
der europäischen Verfassung vorankommt. Angesichts
dessen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir Abgeordnete in diesem Hause die europäische Verfassung am
Schluss wahrscheinlich mit 90-prozentiger Mehrheit
gutheißen werden, möchte ich aber auch die Frage stellen, warum wir es nicht zulassen wollen, dass auch das
Volk über sie abstimmt.
({5})
Trauen wir es uns nicht zu, eine Mehrheit im Volke dazu
zu bewegen, dieser Verfassung zuzustimmen? Wenn
90 Prozent der Mitglieder des Bundestages die europäische Verfassung wollen, dann sollte aus unserer Sicht in
jedem Fall auch eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung stattfinden.
({6})
In allen anderen Parteien, nicht nur in meiner Partei, gibt
es insbesondere als Antwort auf die Initiative von Tony
Blair zahlreiche Stimmen, die die Durchführung eines
Referendums auch in Deutschland befürworten. In vielen Wahlkämpfen haben wir so etwas gehört: von den
Grünen, von der SPD und übrigens auch, Herr Kollege
Stoiber, von der CSU im bayerischen Landtagswahlkampf. Aus allen Parteien wurde immer wieder die Forderung nach Durchführung eines Referendums erhoben
und gesagt: Wir wollen, dass das Volk über die europäische Verfassung entscheidet. Angesichts dessen bin ich
der Überzeugung, dass wir als Parlamentarier in den
nächsten Wochen entsprechende Schritte unternehmen
sollten, damit das Volk entscheiden kann. Wie auch in
anderen europäischen Ländern sollte aus Sicht der
Freien Demokraten es auch in Deutschland möglich
sein, dass das Volk über die europäische Verfassung abstimmt. Wir können das, wir wollen das und wir appellieren an Sie, mit uns gemeinsam die Voraussetzung dafür hier in diesem Hohen Hause zu schaffen. Den Worten
können wir hier endlich auch Taten folgen lassen.
({7})
Mich beunruhigt eine Debatte, die - das will ich offen
ansprechen - nicht nur von Herrn Bundeskanzler
Schröder oder von führenden Politikern von SPD und
Grünen geführt wird, sondern die über die Parteigrenzen
hinweg auch in den Unionsparteien stattfindet. Der
bayerische Ministerpräsident gibt uns ja heute die Ehre
und wird etwas später in dieser Debatte das Wort ergreifen. Überschriften wie die folgende sind in meinen Augen verantwortlich für die Stimmung gegen unsere osteuropäischen Nachbarinnen und Nachbarn: „Schröder
und Stoiber prangern Steuerdumping an“. Die politische
Konsequenz soll sein, dass wir in Europa eine Mindeststeuer einführen. Darüber muss man einmal einen
Augenblick nachdenken. Die europäischen Beitrittsländer, die in Gestalt ihrer Exzellenzen auf der Besuchertribüne Platz genommen haben, haben genau das getan,
was beispielsweise in jedem Gutachten der Bundesregierung seit vielen Jahren steht: Sie haben ihre Länder wettbewerbsfähig gemacht; sie haben ein international und
europäisch wettbewerbsfähiges Steuersystem eingeführt,
um für Investitionen attraktiv zu sein.
({8})
Die Antwort der deutschen Politik - leider nicht nur von
Rot-Grün, sondern auch von Teilen der Konservativen lautet: Ihr müsst eure Steuern erhöhen, damit wir Deutsche wettbewerbsfähig bleiben. - Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erreicht man nicht, indem man
andere Länder zu Steuererhöhungen bringt; die Wettbewerbsfähigkeit erreichen wir nur, indem wir bei uns ein
System niedrigerer Steuern einführen.
({9})
Die Vorstellung, Europa müsse quasi am deutschen
Steuerrecht genesen, stößt mit Recht nur auf Verbitterung und Hohn in den Ländern, die genau das getan haben, was wir jahrelang von ihnen verlangt haben: Sorgt
dafür, dass ihr die Kriterien erfüllt, um wettbewerbsfähig
und damit beitrittsfähig zu werden; denn nur durch Wettbewerbsfähigkeit kann selbsttragendes Wachstum bei
euch entstehen. Jetzt sagen wir denen, die auf der Besuchertribüne Platz genommen haben: So ernst haben wir
das nicht gemeint.
Wir müssen in Deutschland unsere eigenen Hausaufgaben machen. Die Wiedervereinigung Europas bringt
Deutschland nicht in Schwierigkeiten, sondern sie offenbart lediglich strukturelle Schwierigkeiten, in denen
Deutschland ohnehin steckt und an deren Beseitigung es
angesichts der Globalisierung dringend arbeiten muss.
({10})
So empfinden wir als Freie Demokraten die Situation.
Wir haben die Sorge, dass polemische Politik gemacht wird. Ich erinnere mich an eine Diskussion vor
wenigen Jahren, die durch den Umzug einer sehr bekannten Showmasterin nach Belgien veranlasst wurde.
Oskar Lafontaine war damals SPD-Vorsitzender. Seine
Devise im damaligen Wahlkampf lautete: Wenn andere
europäische Länder wie Belgien niedrigere Steuern haben als wir in Deutschland, dann müssen wir nur dafür
sorgen, dass dort eine Steuererhöhung stattfindet; dann
ist unser Problem gelöst.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, kein Land in
Europa und kein Land irgendwo auf der Welt wird auf
einen eigenen Wettbewerbsvorteil verzichten, damit es
der deutschen Wirtschaft wieder besser geht. Wir werden
unsere eigenen Hausaufgaben machen müssen; darum
kommen wir nicht herum.
({11})
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Rede
beim Thema Steuerwettbewerb gar nicht so sehr auf die
osteuropäischen Länder eingelassen, sondern insbesondere Großbritannien angeführt und gesagt, Großbritannien sei das eigentliche Problem. Wenn Großbritannien
der Überzeugung ist, ein investitionsfreundliches Steuerrecht schaffe Arbeitsplätze, dann sollten wir einmal deren Wachstumsraten und unsere miteinander vergleichen: Das Wachstum in Großbritannien betrug 2002
1,7 Prozent und 2003 2 Prozent; im Jahr 2004 liegt es
bei 2,8 Prozent. Deutschland hatte nach Angaben der
Europäischen Kommission ein Wachstum von 0,2 Prozent im Jahr 2002, von 0,0 Prozent im Jahr 2003 und
wird, wenn es gut geht, eines von 1,6 Prozent im laufenden Jahr zu verzeichnen haben.
Passend zur Globalisierung, zur europäischen Einigung und zum internationalen Wettbewerb, der sich in
Europa dadurch natürlich verschärfen wird, haben die
Holländer ein wunderbares Sprichwort: Den Wind
kannst du nicht aufhalten, aber du kannst Windmühlen
bauen. - Das ist meiner Einschätzung nach die Herausforderung für die deutsche Politik: dass wir uns selber
wettbewerbsfähig machen.
Zum Schluss: Herr Bundesaußenminister, Sie haben
zu Recht auf die internationale Rolle Deutschlands hingewiesen. Ich glaube, wir wollen alle gemeinsam, dass
Europa mit einer Stimme spricht. Mit welcher Stimme
und welchen Inhalten ist ein Streit, den es in diesem
Hause immer geben wird. Es wäre ja auch völlig unnormal, wenn das nicht so wäre. Sie wissen, dass wir als
freidemokratische Opposition seinerzeit den militärischen Alleingang ohne Mandat der Vereinten Nationen
abgelehnt haben. Deshalb kann ich an dieser Stelle relativ frei darüber sprechen.
Ich möchte eines noch hinzufügen. Im Koalitionsvertrag, den Sie 1998 nach dem Regierungswechsel geschlossen haben, war es Ihr europäisches Ziel, dass nicht
einzelne europäische Staaten einen ständigen Sitz im
Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen neu bekommen sollten, sondern dass die Europäische Union einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat erhält, damit die
europäischen Staaten leichter und schneller mit einer
Stimme sprechen können. Wenn Sie ernsthaft glauben,
dass Europa eine Stimme in der Außen- und Sicherheitspolitik braucht, dann sollten Sie diesen Kurs jetzt nicht
wechseln und nicht dafür werben, dass Deutschland einen ständigen Sitz bekommt. Ziel Ihrer Politik sollte
vielmehr bleiben, dass die Europäische Union einen
ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen erhält. Das wäre ein Beitrag zur außenpolitischen
Einigung, die wir alle so nachdrücklich wollen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Angelica SchwallDüren, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich.
({0})
Ich freue mich, dass morgen der Tag gekommen ist, an
dem zusammenwächst, was zusammengehört. Ich freue
mich, dass morgen ein Traum in Erfüllung geht, den ich
seit 1971 mit meinem langjährigen polnischen Freund
Jan Tadeusz träume, nämlich dass wir in einem Europa
ohne Grenzen zusammenleben können. Ich freue mich,
dass seine Kinder und meine Kinder gemeinsam die Zukunft unserer Länder gestalten können.
Ich freue mich darauf, dass ich mit meinen neuen ungarischen Freunden darüber debattieren kann, wie unser
zukünftiges Europa aussehen soll. Ich freue mich darauf,
dass morgen das mehrsprachige Bratislava in unserer
Union begrüßt werden kann. Ich freue mich, dass morgen Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Slowenien,
Malta und Zypern zur Europäischen Union gehören werden.
({1})
Nur bei Zypern gibt es mehr als einen Wermutstropfen. Wie gerne hätten wir als Land, das selbst Jahrzehnte
geteilt war, beide Teile Zyperns in unserer Union gehabt,
mit der Chance, dass die Insel auch innerlich hätte zusammenwachsen können und sich Zypern wie alle anderen neuen Mitglieder Jahr für Jahr mehr in die EU integriert hätte! Heute bleibt zunächst nur die Erwartung,
dass sich die UNO und die türkischen und griechischen
Zyprer ihrer Verantwortung bewusst sind und daran arbeiten, eine endgültige Teilung der Insel zu verhindern;
denn die Sorge ist berechtigt, dass die Insel auf längere
Zeit geteilt bleibt.
Jenseits dieser Sorge bleibt uns die große Freude, dass
unsere neuen Mitgliedstaaten - wie bereits die Altmitglieder der Gründungszeit und der verschiedenen Beitrittswellen - den Weg in die Union gewählt haben, der
das Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so
erfolgreich gemacht hat.
Nach den mörderischen, menschenverachtenden Erfahrungen der Weltkriege hat dieses Europa - zunächst
westlich des Eisernen Vorhangs - die Wahl getroffen,
das Bündnis, den freiwilligen Zusammenschluss zu suchen, um Interessengegensätze, ja auch Hass zu überwinden und auf friedlichem Weg eine gemeinsame Zukunft zu bauen. Noch nie in der Geschichte Europas hat
ein so großer Teil so lange Zeit Frieden erleben können.
Das ist eine solche Selbstverständlichkeit geworden,
dass sich immer weniger Menschen in unseren Ländern
dieser Errungenschaft bewusst sind,
({2})
obwohl uns die blutigen Konflikte in Ex-Jugoslawien erneut mit dem Schrecken von Exklusion, von Vertreibung
und Krieg konfrontierten.
Die Mitglieder der EU haben aber nicht nur den Frieden gewählt. Sie haben es auch zuwege gebracht, durch
Überwindung der Einzelinteressen und ihre Bündelung
eine Grundlage für einen nie gekannten Wohlstand zu
schaffen. Darüber hinaus haben sie sich darauf verständigt, für neue Mitgliedstaaten, deren Lebensstandard
noch nicht das gleiche Niveau hat, eine solidarische Heranführungsstrategie zu entwickeln. Mit deren Hilfe war
bisher für die jeweils neuen Mitglieder ein erfolgreicher
Aufholprozess möglich. Irland ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Es ist übrigens ein Beispiel auch dafür,
dass niedrige Steuern ein erfolgreiches Mittel für diesen
Aufholprozess waren.
Aufgrund der wirtschaftlichen Prosperität ist in allen
Ländern eine Verbesserung der sozialen und ökologischen Sicherheit erreicht worden. Ich glaube, auch das
sollte hier erwähnt werden. In der EU sind wir alle auf
dem Weg zu Bildung für alle und einem Verschwinden
der Altersarmut weitergekommen. Aber auch die ökologischen Fragen sind angepackt worden.
Diesen Weg mitzugehen haben sich die neuen Mitgliedstaaten entschlossen - eine Vorstellung, die im
April vor 15 Jahren noch in das Reich der Fantasie verwiesen worden wäre. Möglich wurde dies, weil der Eiserne Vorhang überwunden, die Mauer durchbrochen
wurde, die uns trennte. Das war kein Naturereignis. Dies
konnte nur durch den Mut, den Einsatz und die Kreativität unserer Nachbarn erreicht werden. Mit der Solidarnosc-Bewegung erschütterten unsere polnischen
Freunde zum wiederholten Male in der polnischen Nachkriegsgeschichte das starre kommunistische System.
Trotz Kriegsrecht war die Diktatur zum Scheitern verurteilt, weil die Helden der Gewerkschaftsbewegung von
einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt wurden.
Ungarn, das schon früh Verbindung zum Westen gesucht
hatte, hat dann die Bresche in die Mauern geschlagen,
die uns trennten. Ungarn hat die Grenze geöffnet.
({3})
Deshalb möchte ich mich dem Dank von Bundespräsident Rau anschließen; denn letztendlich verdanken wir
Deutschen unsere wiedergefundene Einheit auch dem
Mut und Vorbild unserer Nachbarn. Ihnen und dem Freiheitswillen der anderen Mittel- und Osteuropäer ist es zu
verdanken, dass Europa wieder zueinander finden kann.
({4})
Nicht nur, aber auch deswegen kommen die neuen
Mitglieder keinesfalls als Bittsteller in die Union. Sie in
die europäische Familie aufzunehmen war unsere selbstverständliche historische Pflicht. Deutschland hat viel
dafür getan, dass dieser Prozess erfolgreich vorangebracht wurde. Deswegen möchte ich ganz besonders
Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer,
aber auch Kommissar Verheugen danken. Sie haben Entscheidendes dafür getan, dass die Beitrittsverhandlungen
erfolgreich abgeschlossen wurden.
({5})
Mit Respekt und Bewunderung möchte ich anerkennen, dass sich unsere Freunde auf dem Weg in die EU
und in die NATO großen Anstrengungen unterzogen haben. Es war notwendig, den Transformationsprozess zu
beschleunigen. Das bedeutete, die 80 000 Seiten des
Acquis communautaire innerhalb kurzer Zeit umzusetzen. Das bedeutete gleichzeitig das Aufgeben alter
Regeln und Sicherheiten. Das bedeutete auch, dass es
Verlierer im Veränderungsprozess gab, die Hoffnung
aufzuschieben, dass sich die Anstrengungen zukünftig
auszahlen würden. Auch für all diese Anstrengungen
möchte ich den Menschen der morgen zur EU gehörenden Mitgliedstaaten danken. Diese großartige Leistung
macht mich sicher, dass wir gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft meistern werden.
({6})
Die Kommunikation der letzten Wochen in Medienveröffentlichungen, in Veranstaltungen und in Reden
von Politikern - so auch heute - waren auch durch Befürchtungen charakterisiert, die an die Vergrößerung der
EU geknüpft sind. Es gibt in der Tat ernst zu nehmende
Sorgen und Ängste, die mit der Erweiterung der EU und
dem Beitritt der zehn Länder verbunden sind. Ich halte
gar nichts davon, diese Ängste totzuschweigen und die
realen Herausforderungen zu verneinen. Schon einmal
haben wir in einer anderen historischen Situation, nämlich angesichts der deutschen Wiedervereinigung, erlebt,
dass fast ausschließlich über die blühenden Landschaften und zu wenig über die Anstrengungen gesprochen
wurde, deren es bedarf, um die Blüte zu erreichen.
({7})
Dadurch wurde es versäumt, eine ausreichende Bereitschaft der Bevölkerung, sich gemeinsam für das Zusammenwachsen zu engagieren, zu gewinnen.
Es gibt übrigens nicht nur bei uns in Deutschland
Ängste hinsichtlich der Wiedervereinigung Europas,
sondern auch in den neuen Mitgliedstaaten. Ich will hier
wenigstens einige dieser Sorgen nennen. Bei uns befürchten Arbeitnehmer, dass der Konkurrenzdruck auf
dem Arbeitsmarkt zunimmt. Der Herr Bundeskanzler
hat hier noch einmal darauf hingewiesen, dass wir Übergangsfristen vereinbart haben. Ich will aber auch ergänzen, dass in den neuen Mitgliedstaaten die Arbeitslosenquote teilweise sogar niedriger ist als bei uns. Ich denke
dabei an Ungarn oder an einzelne Regionen und Städte
in Polen wie Stettin und Posen. Dort gibt es heute sogar
schon „deutsche Gastarbeiter“. In diesem Zusammenhang besteht dort auch die Sorge, dass die besten Kräfte,
die zur Weiterentwicklung im eigenen Land gebraucht
werden, vielleicht auf Dauer in Richtung Westen abwandern könnten.
Wir haben heute schon davon gesprochen, dass Unternehmen im Augenblick die Angst vor dem Verlust
von Arbeitsplätzen schüren. Ja, es ist auch so: Es hat bereits viele Investitionen in den mittel- und osteuropäischen Staaten gegeben. Denn natürlich sind das Steuerund Lohnniveau dort niedriger als bei uns. Die Unternehmen aber müssen diese Vorteile gegenüber Infrastrukturproblemen abwägen, die es dort noch gibt, auch
zum Beispiel ein niedrigeres Produktivitätsniveau und
lange Transportwege. Bei sehr lohnintensiver Massenproduktion kann sich die Verlagerung lohnen, obwohl in
diesen Fällen die Betriebe zum Teil sogar schon in die
Ukraine oder nach China weitergezogen sind. Damit ist
klar, dass Wettbewerb nicht über eine Niedrigsteuerkonkurrenz bestanden werden kann.
({8})
In den meisten Fällen aber erfolgte die Investition, um
den größeren neuen Markt zu erschließen und bedienen
zu können oder um mit kombinierten Produktionsstandorten auch heimische Arbeitsplätze zu sichern.
Nach einer aktuellen Studie des DIW ist das Resultat
eines solchen Standortwettbewerbs ein Wohlstandsgewinn für die neuen und die alten Mitgliedstaaten.
({9})
Der vergrößerte Markt wird seine positiven Wirkungen
aber nur dann entfalten, wenn über den ökonomischen
Aufholprozess die gestiegene Kaufkraft und der notwendige Infrastrukturausbau nachfragewirksam werden.
Diesen Prozess müssen wir selbstverständlich durch Förderung von Bildung und Forschung in innovativen
Sektoren unterstützen.
Aber auch die Menschen in den neuen Mitgliedstaaten sind Ängsten ausgesetzt. Sie fragen sich zum Beispiel, ob sie dem ungebremsten Wettbewerb standhalten
können. Die Landwirte empfinden es als Nachteil, dass
sie zunächst nur 25 Prozent der Direktzahlungen bekommen. Darüber hinaus wird die Befürchtung laut, die
reichen Westeuropäer könnten das Bauernland gewissermaßen als friedliche Invasion mithilfe der Euros aufkaufen. Um dies auszuschließen, wurden auch hier lange
Übergangsfristen vereinbart, innerhalb deren der Landkauf durch Ausländer nicht möglich ist.
Durch die lautstarke Werbung der so genannten Preußischen Treuhand wird in Polen darüber hinaus die
Angst geschürt, deutsche Vertriebene könnten auf dem
Klageweg ihr ehemaliges Eigentum zurückerstreiten.
Von diesem Vorgehen sollten sich alle demokratischen
Kräfte in diesem Land schnellstens distanzieren.
({10})
Allen Sorgen und Ängsten muss, soweit sie berechtigt
sind, durch adäquates Handeln begegnet werden. Die Instrumente sind vorhanden oder können entwickelt werden. Wir, die wir politische Verantwortung tragen, sollten aber keinesfalls den Kleinmut schüren, sondern dazu
ermutigen, die Herausforderungen anzunehmen, die wir
in den kommenden Jahren anpacken müssen.
({11})
Zu diesen großen Herausforderungen gehört die Verständigung über die Frage, in welchem Europa wir leben
wollen. Wie groß soll die Europäische Union werden?
Nicht davon zu trennen ist die Frage nach dem Grad der
politischen Integration, den wir in der EU anstreben
wollen. Ist das Maß an Vergemeinschaftung, das wir
über die hoffentlich bald zu verabschiedende Verfassung
bekommen werden, schon ausreichend?
Herr Westerwelle, ich möchte, da wir die Debatte darüber noch führen müssen, an dieser Stelle nur eines
sagen: Wer sich jahrelang geweigert hat, plebiszitäre
Elemente wie Volksbegehren und Volksabstimmungen
auf der nationalen Ebene zu installieren,
({12})
der sollte heute hier keine Volksabstimmung über die
komplexe Frage der europäischen Verfassung verlangen.
({13})
Die EU muss handlungsfähig und demokratisch transparent sein. Dafür müssen wir arbeiten. Wir müssen uns
den Fragen stellen: Wollen wir wirklich die wirtschaftliche Union zu einer politischen Union weiterentwickeln?
Wollen wir in der Frage der wirtschaftlichen Herausforderungen nur auf Deregulierung und Liberalisierung setzen? Ist es uns nicht vielmehr wichtig, das europäische
Sozialmodell als positiven Wettbewerbsfaktor zu erhalten und weiterzuentwickeln, um somit den neuen Herausforderungen gerecht zu werden?
Wie wollen wir unserer globalen Verantwortung für
Frieden und Sicherheit gerecht werden? Wie schaffen
wir es, über eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unseren Beitrag innerhalb der von Javier Solana
formulierten europäischen Sicherheitsstrategie zu leisten? In der Bedrohungsanalyse sind wir gar nicht weit
von der amerikanischen entfernt, aber wir ziehen andere
Konsequenzen. Gegebenenfalls ist militärische Gewalt
unausweichlich, aber vor allem setzen wir auf positive
Entwicklung und zivile Konfliktlösungsstrategien, die
wir gemeinsam weiterführen müssen.
({14})
Es ist klar: Die EU steht nicht nur am Vorabend ihrer
größten Erweiterung. Die 25 Mitgliedstaaten haben die
große Aufgabe, das Wohlstandsgefälle zu überwinden,
einen fairen Interessenausgleich zu organisieren und die
Bürgerinnen und Bürger an der demokratischen Weiterentwicklung der EU zu beteiligen.
Dies wird uns allen Anstrengungen abverlangen, aber
ich selbst freue mich auf diese Herausforderungen. Ich
bin dankbar, dass ich in dieser spannenden Zeit lebe und
an der Bewältigung der vor uns stehenden Aufgaben teilhaben kann.
Ich möchte Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen,
und alle Bürgerinnen und Bürger auffordern und einladen, sich an diesem großen Werk zu beteiligen: für eine
gute Zukunft in einem friedlichen Europa.
({15})
Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber.
({0})
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Ich glaube, die Botschafter der zehn
neuen Mitgliedstaaten - einige sind noch hier - nehmen
eine gute Nachricht aus dieser Debatte mit: Alle betrachten den morgigen Tag als einen historischen Tag für
Europa. Die langjährige Trennung unseres Kontinents
wird endgültig überwunden. In Deutschland freuen wir
uns mit unseren Nachbarn und sagen: Herzlich willkommen in unserer gemeinsamen Europäischen Union!
Die europäische Idee ist aus den Römischen Verträgen, die nun bald 50 Jahre zurückliegen, als eine Reaktion auf die größte Katastrophe in der Geschichte Europas entstanden. Die Gründungsväter der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft hatten eine Vision: Konflikte
auf europäischem Boden ein für alle Mal zu verhindern. - Heute sind gerade im Zusammenhang mit dem
morgigen Tag von Ihnen, Herr Bundeskanzler, vom
Herrn Außenminister und von anderen viele Namen genannt worden. Aber ich glaube, eine Person muss - auch
wenn ich mich in europapolitischen Fragen oft sehr kritisch mit ihr auseinander gesetzt habe - hier noch genannt werden: der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl.
Er ist einer der Verantwortlichen dafür, dass wir den heutigen Tag so begehen können.
({2})
Diese Gründungsidee ist und bleibt auch heute gültig. Nur auf der Grundlage von Frieden und Freiheit
kann wahrer und dauerhafter Wohlstand entstehen.
Mit der Erweiterung entsteht - das ist von allen betont
worden - der größte Binnenmarkt der Welt. Wir liegen
im Zentrum dieses Marktes. Deutschland hat in der Tat
alle Chancen, davon zu profitieren.
Es zeugt von der politischen Reife der deutschen Bevölkerung, dass nach allen Umfragen eine Mehrheit der
Deutschen die Erweiterung der Europäischen Union begrüßt. In zahllosen wirtschaftlichen und sozialen Kontakten und Partnerschaften wird dieses Europa intensiv
gelebt.
Aber zugleich macht sich nach denselben Umfragen
eine große Mehrheit der Bürger wegen der Osterweiterung auch große Sorgen.
({3})
Eine Mehrheit erwartet ökonomische und andere Nachteile und hält die Erweiterung für zu schnell durchgeführt und zu schlecht vorbereitet. Diese Mehrheit macht
sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz, sie befürchtet Wohlstandsverlust und steigende Kriminalität. Diese Sorgen
muss verantwortungsvolle Politik aufnehmen; nicht nur
verbal, indem man sagt, dass man diese Sorgen wahrnimmt und kennt, sondern indem man sich mit ihnen
auch konkret auseinander setzt.
Herr Bundeskanzler, es ist keine Panikmache, wenn
man auf diese Sorgen eingeht. Wenn man das als Panikmache derjenigen qualifiziert, die sich bei aller Bejahung der großartigen Erfolge der europäischen Integration und der europäischen Erweiterung Sorgen machen,
dann tut man der europäischen Integration keinen guten
Dienst; denn damit geht man leichtfertig über diese Sorgen hinweg. Ich habe es viele Jahre lang erlebt, dass
man, wenn man sich kritisch zu einigen Entwicklungsprozessen Europas geäußert hat, von vielen sehr schnell
in die Ecke der Europagegner gestellt worden ist, ohne
dass sie sich mit den angesprochenen Problemen und der
Kritik auseinander gesetzt haben. Das muss heute vorbei
sein.
({4})
Herr Bundesaußenminister, deswegen können Sie niemandem einen Vorwurf machen, wenn er diese Debatte
auch auf innenpolitische Fragen ausweitet; denn Europapolitik ist keine klassische Außenpolitik mehr, sondern
Innenpolitik. Unsere innenpolitischen Bezüge hängen
von den Entscheidungen in Prag, Warschau, Rom und
London genauso wie von den Entscheidungen in Berlin
ab. Deswegen ist es legitim und richtig, dass wir die
europäische Erweiterung auch unter innenpolitischen
Aspekten betrachten.
({5})
Die bestehenden Sorgen haben auch handfeste
Gründe: Sie, Herr Bundeskanzler, haben Deutschland
schlecht auf die Osterweiterung vorbereitet:
({6})
Die Wirtschaft in Deutschland stagniert, die Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch, die meisten öffentlichen
Haushalte sind überschuldet. Deutschland lebt heute
von der Substanz. Sie behaupten hier: Die ganze Welt
beneidet uns um unsere Standortvorteile. Wenn das so
wäre, hätten wir doch keine Ängste zu beklagen! Die
Ängste sind deswegen zu beklagen, weil wir wegen
nicht vollzogener Reformen in der Zwischenzeit Standortnachteile haben; das ist doch unser Problem!
({7})
Wenn wir heute Spitzenreiter wären, würde uns die internationale Presse doch nicht als „kranker Mann in
Europa“ bezeichnen! Wenn wir Spitzenreiter wären, wie
wir das in den Siebziger- und Achtzigerjahren gewesen
sind, würden doch keine Ängste - schon gar nicht in
dem Maße - bestehen. Wir hatten keine Ängste, als Spanien, Portugal und Griechenland der Europäischen Gemeinschaft beigetreten sind, und wir waren in der Lage,
gewaltige Ausgleichszahlungen zu leisten. Heute können wir das in dem Maße nicht mehr bei der Schuldenlast, die alle Teile Deutschlands zu schultern haben.
({8})
Die führenden Wirtschaftsinstitute haben erst vor drei
Tagen die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert.
Und Sie erklären vollmundig, Deutschland sei noch nie
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({9})
so wettbewerbsfähig gewesen wie heute! In welcher
Welt leben Sie denn eigentlich, Herr Bundeskanzler?
({10})
In dieser schwierigen Lage wird Deutschland durch
die EU-Osterweiterung zusätzlich einem verschärften
Wettbewerb ausgesetzt. Der Europäischen Union treten
zehn selbstbewusste Staaten bei. Alle diese Länder haben ein Jahrzehnt lang wirklich tief greifende Reformen
durchlebt. Sie sind technologie- und innovationsfreudig,
sie sind zukunfts- und wettbewerbsorientiert. Die Eliten
dieser Länder haben uns in der Zwischenzeit eingeholt,
zum Teil auch überholt. Auch wir wollen Wettbewerb;
Wettbewerb hat unser Land groß gemacht. Wir müssen
uns auf den Wettbewerb einstellen.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben forciert, dass die
neuen Mitgliedstaaten zu einem frühen Zeitpunkt gleichzeitig der Europäischen Union beitreten; das war ja 1998
und 1999 noch nicht allgemeiner Konsens. Dazu hätten
Sie im eigenen Land die notwendigen Strukturreformen ganz anders vorbereiten müssen. Die Erweiterung
hätte Sie dazu veranlassen müssen!
({11})
Noch immer haben wir ein viel zu kompliziertes
Steuerrecht, das nicht wettbewerbsfähig ist.
({12})
Wir leben in einem immer stärker verschuldeten Staat,
der heute wesentlich mehr Geld für Zinsen ausgibt als
für Forschung und Entwicklung.
({13})
Erstarrte Arbeitsmarktregelungen verhindern das Entstehen neuer Arbeitsplätze. Mit der Erweiterung werden
jetzt die Versäumnisse auch Ihrer Politik offen gelegt.
Jetzt zeigt sich: Die Strukturkrise, die unser Land erschüttert, ist natürlich auch hausgemacht.
Bei den Beitrittsverhandlungen haben Sie wichtige
deutsche Interessen nicht durchgesetzt:
({14})
Erstens. Sie, Herr Bundeskanzler, haben versäumt, im
Zuge der EU-Osterweiterung Leitplanken für einen fairen Steuerwettbewerb in Europa aufzustellen.
({15})
Es darf nicht sein, dass hohe EU-Subventionen von einzelnen Beitrittsstaaten dafür verwendet werden, ihre
eigenen Steuersätze künstlich niedrig zu halten und so
Unternehmen von uns abzuwerben.
({16})
Wissen Sie, Sie tun sich leicht: Sie stellen sich hier einfach hin und beklagen - auch in verschiedenen Interviews - die Situation. Aber Sie sind der verantwortliche
Bundeskanzler: Sie müssen sie nicht nur beklagen, sondern Sie müssen sie ändern. Sie hätten das in die Verhandlungen einbringen können, aber das hat bei den Verhandlungen keine Rolle gespielt.
({17})
Wir wollen einen fairen Steuerwettbewerb. - Ich glaube,
Sie können heute nicht mehr auf Waigel verweisen. Über
die damalige Situation ist die Zeit hinweggegangen. Wir werden es nicht schaffen, einheitliche Mindeststeuersätze in Europa zu erreichen. Es wird uns auch
nicht gelingen, einen Korridor wie bei der Mehrwertsteuer zu errichten. Das werden wir bei den direkten
Steuern nicht schaffen; das wissen Sie ganz genau. Deswegen ist es unredlich, wenn Sie der Bevölkerung sagen,
das sei möglich. Das ist nicht möglich. Also müssen wir
einen anderen Weg gehen.
In den Beitrittsverhandlungen hätten Sie, Herr Bundeskanzler, eine Ergänzung des EU-Verhaltenskodex gegen unfairen Steuerwettbewerb durchsetzen können. Ein
Land, das im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft auf
ein Mindestmaß an Steuereinnahmen verzichtet - das ist
das Entscheidende -, darf doch keine EU-Höchstförderung mehr erhalten. Das passt nicht zusammen!
({18})
Herr Bundeskanzler, Sie haben hierzu eine falsche Sichtweise. Sie wollen Steuermindestsätze. Diese einzuführen
ist aber nicht möglich.
Worin liegt das Problem? Alle Ziel-1-Gebiete können
erhebliche Fördermittel erhalten. 50 Prozent der Investitionen werden von der Europäischen Union bezuschusst.
Der Zuschuss der Europäischen Union für Infrastrukturmaßnahmen wie den Bau von Straßen und Brücken
beträgt bis zu 80 Prozent. Wer so viel Geld aus der europäischen Kasse haben möchte, müsste, um es zu bekommen, seiner Bevölkerung auch ein Mindestmaß an Steuern auferlegen. Sonst verstehen die Menschen in
unserem Lande nicht, dass sie mit ihren Steuern letztlich
Steuerdumping finanzieren sollen. Das ist das Problem.
({19})
Was wir brauchen, sind niedrige Steuern in Deutschland
und einen fairen Wettbewerb in Europa. Das sind zwei
Seiten einer Medaille.
Hinzu kommt: Durch diese Versäumnisse schädigen
Sie vor allem die noch nicht so wettbewerbsfähigen Regionen in den neuen Bundesländern. Hier fällt das Fehlen der Leitplanken noch stärker ins Gewicht als in Stuttgart oder München. Wer den Aufbau Ost zur Chefsache
erklärt, hätte sich gerade dabei stärker engagieren müssen.
Zweitens. Genauso wenig haben Sie, Herr Bundeskanzler, ein messbares Engagement für die Grenzregionen von Greifswald im Norden bis Passau im Süden gezeigt. Auch gegen das extreme Fördergefälle an der
bayerisch-tschechischen Grenze haben Sie entgegen Ihren Versprechungen nichts unternommen. Hier gibt es
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({20})
das spezielle Problem, dass ein Ziel-1-Gebiet, also ein
Höchstfördergebiet, an ein Nichtfördergebiet anschließt,
was Verwerfungen von bis zu 50 Prozent bedeutet. Dabei lassen Sie uns völlig alleine. Ohne die Unterstützung
der Bundesregierung und der Europäischen Union ist das
auf Dauer nicht zu bewältigen. Sie haben Versprechungen gemacht, die Sie aber nicht eingelöst haben. Das
schafft in diesen Grenzregionen ganz gewaltigen Verdruss gegenüber der europäischen Erweiterung, was uns
allen Schwierigkeiten macht.
({21})
Drittens. Selbstverständlich liegt es in unserem Interesse, dass die Beitrittsländer das Wirtschafts- und
Wohlstandsgefälle schnell verkleinern können. In einem
vernetzten Binnenmarkt wird es natürlich immer
Arbeitsplatzverlagerungen aus Deutschland und den
anderen alten EU-Staaten in die neuen Mitgliedstaaten
geben. Es ist aber nicht akzeptabel, dass für die bloße
Verlagerung von Arbeitsplätzen EU-Höchstfördersätze
gezahlt werden, die noch dazu im Wesentlichen wiederum vom deutschen Steuerzahler aufgebracht werden.
Wir haben im Zuge der deutschen Einheit unsere Erfahrungen mit Unternehmen gemacht, die Subventionen
nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt haben,
sondern für die es bei der Verlagerung bestehender Arbeitsplätze nur um Mitnahmeeffekte ging.
({22})
Es war ein schwieriger Prozess, bis das in Deutschland
zwischen den Ministerpräsidenten und der Bundesregierung geregelt werden konnte. Es hat lange gedauert, bis
wir es abgestellt haben, dass reine Arbeitsplatzverlagerungen über ein paar Kilometer hinweg, was dem Arbeitsmarkt in Deutschland in keiner Weise einen Mehrwert bringt, mit teuren Subventionen bezahlt wurden.
Diese Erfahrungen aus der deutschen Einheit hätten
Sie in die Beitrittsverhandlungen einbringen müssen. Es
bringt Europa nichts, wenn durch einen Subventionswettlauf Arbeitsplätze nicht neu geschaffen, sondern nur
innerhalb Europas verschoben werden. Leider ist es
nämlich folgendermaßen: Wenn jemand einen Betrieb
von Cham nach Eger verlegt, dann erhält er aus Brüssel
eine Investitionshilfe in Höhe von 50 Prozent. Das hätten Sie in den Verträgen verhindern müssen. Diese konkreten Dinge bewegen die betroffenen Menschen.
({23})
Bei den großen Themen sind wir uns sehr schnell einig.
Die Menschen fühlen sich aber bei den angeblich kleinen Themen, die für sie in bestimmten Bereichen von
existenzieller Bedeutung sind, von der Politik verlassen.
Es geht eben nicht, nur die großen Dinge positiv anzusprechen - da sind wir uns schnell einig - und die angeblich kleinen Dinge unter den Tisch zu kehren. Das haben
Sie meines Erachtens hier getan, indem Sie das nicht mit
aufgenommen haben.
({24})
Herr Bundeskanzler, Sie begrüßen den Verfassungsvertrag vorbehaltlos. Richtig ist natürlich - wir haben
uns darüber intensiv ausgetauscht -, dass die europäische Integration und die Handlungsfähigkeit durch diesen Verfassungsvertrag gestärkt werden. Es gibt aber
noch einige Mängel im Verfassungsvertrag. Sie haben es
versäumt, elementare deutsche Interessen in den EUVerfassungsvertrag einzubringen.
({25})
Sie haben sich nicht für das Erfordernis der Einstimmigkeit in der Ausländer- und Asylpolitik der EU eingesetzt. Dieses Thema ist für Deutschland von höchstem
Interesse. Über unsere Köpfe hinweg darf nicht entschieden werden, wer nach Deutschland zuwandern darf und
wer nicht.
Herr Bundeskanzler, ich werfe Ihnen vor, dass
Deutschland als einziges Land in der Europäischen
Union nur ein Thema, nämlich das der doppelten Mehrheit, eingebracht hat. Bei der doppelten Mehrheit haben
wir keine Meinungsverschiedenheiten. In der Sorge,
dass damit das Paket wieder aufgeschnürt werden würde
und somit der europäische Verfassungsvertrag in Gefahr
geriete, haben Sie keine anderen Themen eingebracht.
Dies war falsch. Die meisten anderen Länder haben weitere Fragen in den Diskussionsprozess eingebracht, die
noch zur Abstimmung und Entscheidung anstehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das will ich
mit Beispielen belegen: Sie haben sich in den letzten
Phasen nicht für die Festschreibung der Preisstabilität
und der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank in der Verfassung eingesetzt.
({26})
Wir sind natürlich betroffen; denn es war das Verdienst
von Theo Waigel und der Regierung Kohl, dass der Stabilitätspakt die Grundvoraussetzung für die Einführung
des Euro gewesen ist. Wenn man diesen Stabilitätspakt
durch die Nichtaufnahme der Preisstabilität in die Ziele
der europäischen Verfassung nun einer Gefahr aussetzt,
dann können wir hier nicht schweigen. Wir müssen Ihnen das kritisch entgegenhalten.
Unseres Erachtens hätten Sie sich zumindest auch dafür einsetzen müssen, den Gottesbezug, wie er in der
Präambel des Grundgesetzes steht, in den europäischen
Verfassungsvertrag aufzunehmen.
({27})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({28})
Viele der Positionen, die die CDU/CSU als Ergänzung zu diesem Vertrag vorgeschlagen hat, entsprechen
wesentlichen britischen Positionen. Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich Tony Blair mit diesen Forderungen auseinander setzen wird. Ich kann ihm im gemeinsamen Interesse nur viel Glück wünschen. Ich habe heute
schon das Gefühl, dass wir in manchen Fragen von
Wolfgang Schüssel und von Tony Blair besser vertreten
werden als von Ihnen.
({29})
So wie die Wiedervereinigung Deutschland grundlegend verändert hat, wird auch die Osterweiterung die
Europäische Union grundlegend verändern. Die Wirtschaftskraft der meisten Beitrittsländer beträgt nicht
einmal die Hälfte des EU-Durchschnitts. Die EU wird
viel größer und die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten nehmen enorm zu. Das stellt uns vor riesige neue
Herausforderungen.
({30})
Europa muss sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren,
sonst überfordert sich die Europäische Union selber und
wird unfinanzierbar.
Herr Bundeskanzler, auch heute sind Sie und vor allen Dingen der Bundesaußenminister wieder nachdrücklich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei eingetreten. Ich schätze Ihre Argumente, besonders die, Herr Bundesaußenminister, die Sie hier eingebracht und im Laufe der letzten Jahre immer wieder
vorgetragen haben, nicht gering. Die kann man mit Sicherheit nicht einfach abtun. Das tue ich auch nicht.
Aber ich sage Ihnen, dass Europa nach der Osterweiterung eine Phase der Konsolidierung benötigt. Die Erweiterungsfähigkeit der EU ist mit Abschluss der Osterweiterung - hinzu kommen noch Bulgarien und
Rumänien, vielleicht auch Kroatien - an eine Grenze gelangt.
({31})
Der EU-Beitritt der Türkei überfordert die Integrationsfähigkeit Europas.
({32})
Europa hat geographische, geschichtliche und kulturelle
Grenzen. Wer diese Grenzen überschreitet, der gefährdet
die politische Union Europas.
({33})
In der auch in Berlin angesehenen „FAZ“ steht im
heutigen Leitartikel zur EU - ich darf daraus einige
Sätze zitieren -:
Der Identitäts- und Finalitätsdebatte darf sie nicht
länger ausweichen, denn aus Größe wird nicht automatisch Stärke. ... Wer in dieser Zeit auch noch den
Beitritt eines großen nichteuropäischen Landes betreibt,
({34})
das ganz andere Wurzeln hat, riskiert alles; er
macht aus der Möglichkeit des Scheiterns der europäischen Einigung eine Wahrscheinlichkeit.
Das ist unsere entscheidende Sorge, Herr Bundeskanzler.
({35})
Ich sehe das auch im Zusammenhang mit den Kopenhagener Kriterien nicht so positiv wie Sie. Nicht nur die
wirtschaftlichen Fragen sind hier sehr offen. Ich wundere mich, Herr Fischer, dass Sie die offensichtlichen
Probleme der Türkei bei der Achtung der Menschenrechte völlig ausblenden bzw. sie hier überhaupt nicht
ansprechen.
({36})
Sie reden darüber, ein Land in die Europäische Union
aufzunehmen, aus dem 6 000 Asylbewerber kommen,
die wir zum Teil aufgrund von Gerichtsurteilen nicht abschieben können. Es ist geradezu eine Schizophrenie,
darüber reden zu wollen, dieses Land aufzunehmen,
wenn dort noch solche Zustände herrschen. Das verstehen die Menschen nicht.
({37})
Unser Angebot einer privilegierten Partnerschaft
ist genau das, was die Türkei braucht. Damit können wir
die gemeinsamen strategischen Ziele erreichen. Europa
ist nicht in erster Linie eine militärische Aktion. Dafür
haben wir andere Instrumente. Wenn Sie diese militärischen und sicherheitspolitischen Fragen in dieser Weise
ansprechen, Herr Bundesaußenminister, vergessen Sie,
dass das die Integrationsfähigkeit Europas völlig überfordert. Sie müssen endlich einmal mit der Debatte beginnen: Wo liegen die Grenzen Europas? Europa kann
nicht grenzenlos sein. Wenn Sie nur auf die Kopenhagener Kriterien abheben, dann könnten Sie letzten Endes
auch Japan aufnehmen; denn es erfüllt die Kopenhagener Kriterien.
({38})
In aller Sachlichkeit: Die Bürger haben die Möglichkeit, sich hierzu zu äußern. Das werden sie bei der Europawahl am 13. Juni tun. Sie haben Ihre Meinung und wir
haben unsere Meinung. Wir werden unsere Argumente
auf den Tisch legen, damit dann die Menschen ihr Votum
abgeben können.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({39})
({40})
Ich halte fest: Wir sind ein erhebliches Stück weiter.
Morgen ist ein großer Tag.
({41})
Aber Ihre Europapolitik ist von großen Versäumnissen
gekennzeichnet. Die deutschen Interessen werden von
Ihnen nicht in dem Maße eingebracht, wie es notwendig
wäre. Das ist bedauerlich. Darauf werden wir immer
wieder hinweisen und den Finger in die Wunde legen.
Herzlichen Dank.
({42})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Westerwelle das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Ministerpräsident, es ist auch
aus Sicht der Freien Demokraten vielem zuzustimmen,
was Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Zu einem Punkt
möchte ich nachfragen. In Agenturmeldungen werden
Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers wiedergegeben, die denselben Tenor wie das haben, was Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Ich beziehe mich auf das Gespräch des Bundeswirtschaftsministers, das er mit der
„Financial Times“ geführt hat. Ich habe die Frage, ob
das die neue Stoßrichtung werden soll, die ich jedenfalls
sehr sorgenvoll kommentieren möchte.
Es wird nämlich ein Zusammenhang zwischen den
Steuersätzen der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den EU-Fördergeldern hergestellt, die
andere Mitgliedsländer der Europäischen Union bekommen. Ich bitte darum, einmal zu Ende zu denken, welche
Konsequenzen sich aus der Herstellung eines solchen
Zusammenhangs ergeben. Logisch folgt, dass diejenigen
Länder, die niedrigere Steuern als die Geberländer in Europa haben, ab sofort keine Fördergelder mehr erhalten
könnten.
Ich glaube, dass es nicht der richtige Ansatz ist, Ländern, die niedrigere Steuern als Deutschland haben und
in denen deswegen Investitionen getätigt werden, die
EU-Fördergelder zu streichen. Es ist nach wie vor vernünftiger - das war eigentlich auch immer der gemeinsame Weg der Opposition -, dafür zu sorgen, dass wir in
Deutschland ein wettbewerbsfähiges Steuerrecht haben.
Das ist in Wahrheit die Antwort auf den europäischen
Steuerwettbewerb, dem wir uns durch strukturelle Reformen im Inneren stellen müssen.
({0})
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}):
Herr Kollege Westerwelle, Sie hätten mich falsch verstanden, wenn Sie mir unterstellen würden, ich würde
Mindeststeuersätze verlangen. Jedes Land hat ein Bruttonationaleinkommen. Es müsste aber insgesamt noch
darüber gesprochen werden: Wenn in einem Land der
Durchschnittssteuersatz aller Länder im Verhältnis zum
Bruttonationaleinkommen deutlich unterschritten wird,
dann kann dieses Land nicht verlangen, die volle Förderung für die Maßnahmen, die von Brüssel gefördert werden können, zu erhalten. Der einzige Weg, dies zu erreichen, führt über das Beihilferecht, über das in Europa
übrigens mit Mehrheit entschieden werden kann und das
nicht dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegt.
Es geht nicht, dass ein Land die Steuern niedrig hält
und sich bewusst armrechnet, gleichzeitig aber Fördergelder aus Europa erhält. Das wäre unerträglich. Dem
müssen wir einen Riegel vorschieben. Das bedeutet aber
nicht, dass wir einen Mindeststeuersatz vorgeben. Vielmehr muss innerhalb der Europäischen Union ein
Steuersatz ausgehandelt werden, der in einem angemessenen Verhältnis zum Bruttonationaleinkommen steht.
Sonst könnte beispielsweise ein Land mit einem Steuersatz von 5 Prozent, der in keinem Verhältnis zu seinem
Bruttonationaleinkommen steht, Subventionen in Anspruch nehmen, die wir bezahlen. Das verstehen die
Leute nicht. Ich möchte nicht, dass die Arbeitsplatzverlagerung auf diese Weise von Deutschland bezahlt wird.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gewusst, dass ich nach dem Ministerpräsidenten Stoiber
sprechen werde. Ich habe gedacht, dass sich auch Bayern
über den historischen morgigen Tag freuen könnten, aber
es ist fast so gekommen, wie man es befürchtet hat: Herr
Stoiber hat wieder nur Wasser in den Wein gegossen.
Das ist das Prinzip, das er durchgehalten hat.
({0})
Herr Ministerpräsident, ich habe mir gedacht, dass
Sie vielleicht doch noch die Kurve kriegen. Sie haben
heute eine Rückschau vorgenommen. Dazu muss ich
aber Folgendes feststellen:
In den letzten Jahren waren aus Ihrem Munde und aus
Ihrer Regierung immer wieder missverständliche Töne
zu hören. Ich erinnere mich noch an den Regierungswechsel und an Ihr populistisches Geschrei im Zusammenhang mit der Erweiterung. Sie haben Ängste inszeniert.
Ich bin vollkommen Ihrer Auffassung, dass es die
Pflicht der Politikerinnen und Politiker ist, die Ängste
und Sorgen der Bürger aufzugreifen. Aber es ist auch
die Schuldigkeit von Politikern, keine Ängste zu schüren.
({1})
Ich wollte auf vieles gar nicht eingehen, weil ich nicht
in eine Sonntagsrede verfallen wollte. Aber angesichts
der von Ihnen vorgetragenen Argumente - Sie haben
festgestellt, dass die Bundesregierung Deutschland nicht
gut auf die Erweiterung vorbereitet habe; des Weiteren
haben Sie das Stichwort „hohe Staatsverschuldung“ genannt - muss ich Sie fragen, Herr Ministerpräsident
Stoiber: Was haben Sie getan,
({2})
als Ihre Parteifreunde bis 1998 die Regierung gestellt haben? Wo haben Sie Ihren Einfluss geltend gemacht?
({3})
Sie haben nämlich nichts gemacht.
({4})
Ich komme zu einem weiteren Punkt, zur Terminsetzung. Ich kann mich noch an Debatten aus dem Jahr
1999 erinnern, als bestimmte Kolleginnen und Kollegen
- nicht alle, aber bestimmte - verbreitet haben, die Bundesregierung sei nicht für den raschen Beitritt, und zwar
nur deshalb, weil wir kein Beitrittsdatum genannt haben.
Die Koalition hat aber immer wieder erläutert, dass zunächst einmal die Voraussetzungen für den Beitritt geschaffen werden müssten, dass wir die Beitrittsländer
dabei unterstützen wollten und dass wir einen konkreten
Beitrittstermin nennen würden, sobald die Voraussetzungen erfüllt seien.
Es war doch Herr Kohl, der beispielsweise Polen den
Beitritt für das Jahr 2000 zugesagt hatte. Was ist denn
daraus geworden? Letztlich ist daraus das Jahr 2004 geworden.
({5})
Auch das sollte man an einem solchen Tag ansprechen;
denn ein Ministerpräsident hat die Schuldigkeit, bei der
Wahrheit zu bleiben, statt die Fakten zu verdrehen.
({6})
Im Europaausschuss wurden mehrfach Anhörungen
zu der Frage durchgeführt, wie die Erweiterung der EU
innenpolitisch abgefedert werden kann. In den Anhörungen wurde beispielsweise die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit erörtert. Man könnte zwar auch die Meinung vertreten, es seien keine Übergangsfristen
hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit notwendig,
der Markt werde das regeln; aber der Bundeskanzler hat
sich für die Übergangsfristen eingesetzt und sie mit dieser Bundesregierung durchgesetzt.
Ich lebe weder auf der Venus noch auf dem Mars,
sondern auf dieser wunderschönen Erde. Aber Sie verdrehen alles. Selbstverständlich haben Herr Fischer und
die Beteiligten
({7})
viele der heute angesprochenen Punkte in den Konvent
eingebracht und offensiv versucht, sie durchzusetzen.
Das ist doch unstrittig. Aber wegen des Machtgefälles
zwischen CDU und der CSU meinen Sie, auf diesen Bereich anspielen zu müssen.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Punkt ansprechen, den der Kollege Westerwelle vorhin thematisiert
hat. Ich glaube, Sie haben in der europäischen Steuerpolitik eine Wandlung vom Saulus zum Paulus vollzogen.
Bisher haben Sie - wenn ich Sie richtig verstanden
habe - die Meinung vertreten, der Regelungswut der
Brüsseler Bürokraten müsse Einhalt geboten werden, die
nationalen Kompetenzen müssten gegen die Fremdbestimmung durch europäische Technokraten verteidigt
werden und überall lauere der Zentralismus.
Auf einmal aber fordert Stoiber einen riesigen Integrationssprung, die Steuerharmonisierung und die Einführung der EU-Kompetenz für die direkten Steuern.
Was ist der Beweggrund des Herrn Stoiber: ein echter
Erkenntnisgewinn oder Populismus? Ich fürchte, Letzteres. Neu ist die Erkenntnis nämlich nicht, dass es in
einem integrierten Wirtschaftsraum mit einheitlicher
Währung, einer koordinierten Wirtschafts- und Haushaltspolitik sowie mit einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik für die direkten Steuern einen Rahmen auf EUEbene geben muss. Diese Position vertritt die SPD seit
langem. Herr Stoiber hätte diese Erkenntnis schon vor
einigen Jahren, etwa im Zuge anderer Erweiterungsschritte, gewinnen können.
Wir haben mit Blick auf den Verfassungskonvent
2002 unsere Forderung erneuert, den Einstieg in eine
stärkere Harmonisierung der Steuerpolitik insbesondere
durch einen verbindlichen Rahmen für Grundsätze einer
realitätsgerechten Gewinnermittlung, gemeinsamer Bewertungsstandards und Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung zu vollziehen. Sie aber haben erst in
den vergangenen Tagen einen Vorschlag nach dem anderen produziert. Zuerst sollte es Mindestsätze bei den Einkommensteuern geben. Dann haben Sie die EU-Kompetenz für die Einkommensteuer gefordert. Der nächste
Vorschlag sah Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung vor. Dann haben Sie gefordert und gerade hier
wiederholt, die Mitgliedstaaten sollten verpflichtet werden, die Mindestfinanzierung staatlicher Aufgaben
durch eigene Steuern gemessen als Anteil des Steueraufkommens am Bruttonationaleinkommen nicht zu unterschreiten. So etwas schlägt der Vorsitzende und damit
der Repräsentant einer Partei vor,
({8})
der sich noch im Europawahlprogramm sinngemäß für
ein Europa des Wettbewerbs eingesetzt und sozialistische Vorstellungen eines zentralistischen Europas der
Bevormundung abgelehnt hat. So ist Herr Stoiber. Ich
möchte keinen Ausflug in die Tierwelt machen, wie das
ein Vorgänger von Ihnen immer gerne gemacht hat. Aber
man kann es nicht ständig einmal so und einmal so darstellen, und das jedes Mal auf schillernde Weise. Das
zeichnet die Union in diesen Tagen aber auch auf anderen Politikfeldern aus.
({9})
- Kollege Hinsken, wir haben uns in den Grenzregionen umgesehen. Die Zahlen, die Herr Stoiber in diesem
Zusammenhang nennt - meistens ist es ja nur eine -,
stimmen nicht; denn er blendet die Gelder aus, die die
Europäische Union im Rahmen von Interreg sowie im
Zusammenhang mit den Ziel-1- und den Ziel-2-Gebieten
zur Verfügung stellt, wovon auch Bayern profitiert. Das
sollte ebenfalls nicht verschwiegen werden. Ich könnte
noch viel mehr zur Förderung der Grenzregionen sagen,
aber ich habe jetzt keine Zeit mehr.
({10})
Ich möchte ganz klar sagen: Die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union ist eine Antwort der
Politik. Hieran wird deutlich, dass die Politik Antworten
auf Herausforderungen finden kann. Deshalb war und
ist, glaube ich, das große Projekt der Erweiterung bei
Regierung und Opposition - ganz gleich wer diese Rollen einnimmt - grundsätzlich unumstritten gewesen.
Viele Regierungen der neuen Mitgliedsländer haben zum
Gelingen beigetragen, genauso wie viele Persönlichkeiten. Es hat viele Heldinnen und Helden des Alltags gegeben, die diesen Prozess vorangetrieben haben. Ich sage
ganz bewusst: Diese Heldinnen und Helden sind mir lieber als manch einer, der in einer Abendsendung durch
ein Dschungelcamp rutscht. Diejenigen, die den europäischen Prozess vorangetrieben haben, sind Vorbilder.
({11})
Da ich nicht mehr ganz so jung wie Herr Westerwelle
bin, habe ich als Kind den Radioberichten lauschen können, als hier in Berlin die Mauer gebaut wurde. Ich habe
auch über den Rundfunk von der Niederschlagung des
Prager Frühlings erfahren und die Solidarnosc-Bewegung miterlebt. Ich bekenne mich dazu, dass ich 1969
wegen der Friedens- und Ostpolitik Willy Brandts in die
SPD eingetreten bin, weil ich mich engagieren wollte.
Später haben wir uns eigentlich immer weiter von dem
Ziel, die Spaltung zu überwinden, entfernt. Aber plötzlich gab es 1989 dieses Wunder.
Wir sollten das, was morgen und in den nächsten Wochen geschieht, auch im Hinblick auf die Europawahl
am 13. Juni dieses Jahres nicht klein reden.
({12})
Wir, die wir einer Generation angehören, die nicht den
Krieg erleben musste, genauso wie viele nach uns Geborene, sollten für die nun gewonnenen Perspektiven dankbar sein. Wir sollten nicht vergessen, wie viele Lebensperspektiven früherer Generationen durch Kriege jäh
und für immer zerstört wurden. Ich persönlich bin jedenfalls den Politikerinnen und Politikern dankbar - ganz
gleich welcher Partei sie angehörten bzw. angehören -,
die nach 1945 diese Friedenspolitik eingeleitet und bis
zum heutigen Tage fortgesetzt haben.
Lassen Sie mich noch auf einen letzten Aspekt eingehen. Außerhalb Europas wird mit großen Augen auf den
europäischen Prozess der friedlichen Entwicklung und
des friedlichen Zusammenwachsens geschaut. Es gibt
andere Regionen in der Welt, die einen solchen Prozess
nicht verwirklichen können, obwohl dort eine einheitliche Sprache gesprochen wird. Ich denke, das geeinte Europa hat nun die Chance, für diese Bereiche etwas zu
tun.
Ich schließe mit einem Zitat von Vaclav Havel aus
dem Jahre 1996. Er hat gesagt:
Die einzige sinnvolle Aufgabe für das Europa des
nächsten Jahrtausends besteht darin, … seine besten geistigen Traditionen ins Leben zurückzurufen
und dadurch auf eine schöpferische Weise eine
neue Art des globalen Zusammenlebens mitzugestalten.
Ich freue mich auf jeden Fall ab 1. Mai mit unseren
neuen Nachbarn.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Gäste! Wir als PDS haben uns immer für die Erweiterung der Europäischen Union eingesetzt. Wir waren auch Vorreiter, wenn es um eine faire
Kooperation mit den zehn Beitrittsländern ging. Wir halten den Beitritt dieser Länder für einen großen kulturellen und auch menschlichen Gewinn.
({0})
Wir haben im Europäischen Parlament für den Beitritt
der Länder, die von morgen an Mitglieder der EU sind,
gearbeitet. Wir werden unsere Arbeit für diese neuen
Mitgliedsländer auch nach der Europawahl am 13. Juni
dieses Jahres verstärkt fortsetzen.
Doch es ist nicht zu leugnen, dass viele Menschen in
Ost und in West die Erweiterung der Europäischen
Union mit sehr gemischten Gefühlen sehen. Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen nicht, was
sie erwartet. Viele haben Angst um ihren Arbeitsplatz.
Aber das ist nicht nur bei uns so, sondern auch in den
Beitrittsländern. Ich war in der vergangenen Woche in
der Tschechischen Republik unterwegs. Auch dort haben
die Menschen besorgt nach der Zukunft ihres Arbeitsplatzes gefragt. Ich finde, diese Ängste müssen von den
Regierungen sehr ernst genommen werden; denn viele
Menschen haben das begründete Gefühl, dass die Regierungen kein Konzept haben, wie sie mit der Erweiterung
umgehen wollen.
Wir, die PDS, haben seit Jahren darauf gedrungen,
dass Europa nicht nur eine Währungs- und Wirtschaftsunion sein darf, sondern auch eine Sozialunion werden
muss.
({1})
Die Entwicklung einer Sozialunion hat die Bundesregierung sträflich vernachlässigt. Sie haben vieles dem
Markt überlassen und wundern sich jetzt, dass diese
Marktmechanismen in ihrer ganzen Brutalität greifen.
Jetzt beginnt der Bundeskanzler, sich über niedrige Steuersätze, ruinösen Subventionswettlauf und Dumpinglöhne zu wundern. Doch diese Entwicklung war absehbar und es ist nichts dagegen unternommen worden.
Das ist grob fahrlässig.
Frau Merkel hat in der Debatte heute Morgen gefordert, endlich Niedriglöhne einzuführen. Ich frage mich,
wo Frau Merkel eigentlich lebt. Kennt sie nicht die Zahlen, die Stundenlöhne im Osten? Dort gibt es längst einen Niedriglohnsektor. Das wird hier verschwiegen.
Stattdessen redet sie über Niedriglöhne.
Nun ein Wort zu Herrn Stoiber. Ich halte es wirklich
für unverantwortlich, Herr Ministerpräsident Stoiber,
den neuen Mitgliedern vorzuwerfen, dass sie sich ihre
Infrastruktur über die EU finanzieren lassen und dass sie
ihren Eigenbeitrag durch niedrige Steuersätze gering
halten wollen. Der Kollege Westerwelle ist in seiner
Kurzintervention völlig zu Recht darauf eingegangen,
dass es sich hierbei um eine böswillige Irreführung der
Öffentlichkeit handelt; denn die Beitrittsländer müssen
den gleichen Prozentsatz ihrer Wirtschaftsleistung wie
die jetzigen Mitgliedsländer als Beitrag an den EUHaushalt abführen. Herr Stoiber, das wissen auch Sie;
und wenn Sie das nicht wissen sollten, lassen Sie es sich
von Ihren Kollegen erklären.
({2})
Auch die Beitrittsländer müssen die Kofinanzierung aufbringen, um die EU-Strukturfonds überhaupt in Anspruch nehmen zu können.
Wir von der PDS begrüßen ausdrücklich den Beitritt
der zehn Länder zur Europäischen Union. Doch uns
macht die schlechte Vorbereitung dieser Beitritte große
Sorgen. Die Bundesregierung darf sich nicht länger auf
den Markt verlassen, sondern muss sich in der Europäischen Union für eine Steuerharmonisierung, für Mindestlöhne und für Sozialstandards einsetzen. Das kostet
natürlich Geld. Doch Geld ist bekanntlich genug da, nur
schlecht verteilt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges sprach man gern
von einer Friedensdividende. Der Kalte Krieg war für
alle Seiten ausgesprochen kostspielig. Der Frieden
kommt uns allen aber billiger. Doch man fragt sich: Wo
ist die Friedensdividende geblieben? Es hat sie gegeben;
doch sie wurde nur für Aktienbesitzer ausgeschüttet.
Siemens ist ein gutes Beispiel. Siemens hat nach dem
Mauerfall in Polen, in Ungarn und in der Tschechischen
Republik massiv investiert. Das hat sich für Siemens gelohnt. Die Kosten für einen deutschen Ingenieur betragen rund 50 Euro pro Stunde, die für einen ungarischen
knapp 8 Euro.
Für viele deutsche Unternehmen ist die EU-Erweiterung, die morgen gefeiert werden wird, schon jetzt ein
echter Gewinn. Ist es da nicht nur gerecht, wenn sich die
Gewinner der Erweiterung, die 100 Prozent der Friedensdividende eingestrichen haben, auch an den Kosten
der Erweiterung beteiligen?
Es muss verhindert werden, dass die Bundesregierung
die Fehler wiederholt, die beim Aufbau Ost gemacht
wurden. Es darf nicht darum gehen, die Beitrittsländer
zu gängeln und zu schurigeln. Es muss uns um gemeinsame Lösungen für ein Europa gehen, in dem alle Menschen in Würde leben und arbeiten können.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert
Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ministerpräsident, es tut mir Leid, sagen zu müssen: Sie haben die Chance, die darin steckt, den 1. Mai
zum Anlass zu nehmen, zu versuchen, dieses Europa neu
zu denken, in der Tat völlig vertan.
({0})
Es ging Ihnen darum, etwas ganz anderes zu tun. Das
sollten Sie freimütig bekennen; allerdings haben Sie
dazu offensichtlich nicht die erforderliche intellektuelle
Redlichkeit.
({1})
- Herr Hinsken, Sie bestätigen das durch Ihren Zwischenruf. - Eigentlich wollten Sie eine nach innen gerichtete polemische Rede halten. Nun gut, es ist Ihre Sache, das in Bierzelten und anderswo zu tun.
({2})
Der 1. Mai des Jahres 2004, Herr Hinsken, hat eine völlig andere Qualität. Europa bekommt eine Chance, die es
noch nie zuvor gehabt hat. Seit es überhaupt europäisches Denken gibt, war Europa - Adam Krzeminski hat
das in den letzten Tagen in mehreren Zeitungsveröffentlichungen ganz deutlich beschrieben - immer ein Europa
des Trennens, des Teilens, des Vernichtens und des Verschwindens. Das war das Europa, das wir bis 1945 erlebt
haben. Wir haben es jüngst auch noch in Südosteuropa
erlebt. Das ist ab morgen endgültig vorbei. Das ist am
1. Mai 2004 vorbei.
({3})
Gert Weisskirchen ({4})
Das ist ein unglaublicher qualitativer Sprung. Und da
kommen Sie mit irgendwelcher innenpolitischer Polemik daher!
({5})
Das ist völlig unangemessen und passt nicht zur historischen Situation. - Das war das Erste, was ich sagen
wollte.
({6})
Das Zweite. Natürlich muss man die Ängste der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder auch der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die nicht nur
von uns hier beschrieben worden sind, ernst nehmen;
kein Zweifel. Es ist nicht nur die Absicht, sondern es ist
die Politik der Bundesregierung, alles zu tun, damit diese
Ängste wahrgenommen und aufgenommen, aber eben
nicht geschürt werden, wie der Kollege Gloser völlig zu
Recht gesagt hat.
({7})
- Herr Hinsken, es gibt natürlich auch Chancen. Gehen
Sie doch einmal zu Ihren Meisterkollegen anderer Handwerksberufe. Gehen Sie doch einmal an den Ostrand von
Bayern.
({8})
Gehen Sie in Ihren Wahlkreis
({9})
und schauen Sie, welche Arbeitsteilung über die bisherigen Grenzen hinweg stattfindet, welche Investitionen
von Ost nach West gehen und umgekehrt. Das ist genau
das Europa, das sich abzeichnet. Arbeitsteilung über die
Grenzen hinweg bringt solche ökonomischen Vorteile
auf beiden Seiten, dass Arbeit nachher viel mehr Chancen hat, als das zuvor der Fall war. Das ist eine Perspektive, die es noch nie gegeben hat, jedenfalls seitdem
dieses Europa getrennt war. Die Überwindung der Trennung dieses Kontinents öffnet neue ökonomische Perspektiven. Das wird in den nächsten Monaten und Jahren
ganz plastisch die Erfahrung der Menschen sein. Wir alle
gemeinsam werden davon profitieren, dass der 1. Mai
2004 diese große qualitative Veränderung bringt, Herr
Hinsken.
({10})
Sehen Sie, welche Ängste es momentan im Osten Europas gibt. Die erste Angst ist die, dass man auf lange Zeit
eine ökonomische Abhängigkeit erfahren und nicht die
Kraft aufbringen könnte, sich aus der Abhängigkeit des
Westens zu lösen. Das ist eine Angst, die anderswo besteht und die zur Kenntnis genommen werden muss. Das
Zweite ist, dass die neuen Mitglieder das Gefühl haben,
sie werden auf lange Zeit Mitglieder zweiter Klasse sein
und nicht den politischen Rang haben wie die alten Mitgliedsländer der Europäischen Union. Die dritte Angst ist
die, dass die Verteilungsleistungen eingeschränkt werden, und zwar genau in dem Moment, in dem die Neuen
Mitglieder der Europäischen Union werden.
Diese drei Ängste stehen anderen drei Ängsten gegenüber, die in der Debatte heute schon beschrieben
worden sind: Kosten der Erweiterung, Einschleusung
von Immigranten, Absenken der europäischen Sozialstandards. Diese drei gegeneinander gerichteten Ängste
von Ost und West haben mit der Realität aber dann
nichts mehr zu tun, wenn die Politik vernünftige Ziele
setzt sowie politische Schritte und Maßnahmen einleitet,
damit die ökonomischen Chancen, die es in diesem Prozess der Vereinigung gibt, sehr viel besser genutzt werden. Ich wage die Prognose: Herr Hinsken und alle anderen, die diese kritischen Punkte aus ihrer Sicht zunächst
einmal durchaus zu Recht formulieren, Sie werden erleben, dass der Vereinigungsprozess für uns alle einen Gewinn bringt, ökonomisch, politisch und nicht zuletzt
auch kulturell. Das müssen wir an diesem 1. Mai 2004
auch deutlich sagen, Herr Hinsken, statt kleinkrämerisch
auf diese Situation zu reagieren.
({11})
Ich will ein meiner Meinung nach ernsthaftes Problem anschneiden: Schauen Sie sich einmal an, was von
Tony Blair gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ und
was von Jacques Chirac gestern in „Le Monde“ zu lesen
war. Demzufolge wird es ein Problem geben, mit dem
wir uns noch viel ernsthafter beschäftigen müssen, als
das bislang der Fall war. Wir müssen nämlich versuchen,
den Begriff der Solidarität neu zu definieren. Das wird
eine große und anstrengende Aufgabe sein. Der Sprung
von der polnischen Solidarnosc hin zu einer neuen europäischen Solidarität stellt nämlich einen qualitativen
Sprung dar.
Dafür wird es nicht nur zwingend erforderlich sein,
die unterschiedlichen europäischen Sozialmodelle zu reformieren - wir befinden uns da in Deutschland auf einem guten Weg -, sondern es wird dabei auch die Frage
zu beantworten sein, welche Mindestbedingungen für
ein europäisches Sozialmodell zu definieren sind, das
sich dann am Ende der Debatte auch durchsetzen kann.
Der Begriff von Solidarität muss also neu definiert werden. Das ist eine schwierige Aufgabe, die vor uns liegt.
Ich kann Ihnen sagen: Die Sozialdemokratie ist nicht nur
bereit, diese Debatte zu führen, sondern sie führt sie
schon. Beim Kongress der SPE ist diese Debatte schon
angestoßen worden. Damit geben wir die richtige Antwort auf die Herausforderungen, die nun durch den Vereinigungsprozess in der neuen und größeren Europäischen Union auf uns zukommen.
Ich bitte deswegen darum - ich bin überzeugt, dass
uns das auch gelingen wird -, die Chancen, die sich aus
diesem qualitativen Sprung der Europäischen Union am
1. Mai 2004 ergeben, ernst zu nehmen und zu nutzen
sowie den Menschen, die am Ende der 80er-Jahre ihre
Gert Weisskirchen ({12})
Freiheit erkämpft haben, die Hand zu reichen. Wenn wir
so Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gemäß den Anforderungen der neuen Zeit definieren, können wir am
gemeinsamen Europa weiterbauen.
Vielen Dank.
({13})
Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/2990 soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union und zur Mitberatung an den Innenausschuss
überwiesen werden. Die Vorlagen auf den Drucksachen
15/2748, 15/2774 und 15/2973 sollen an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wer-
den, wobei die Vorlage auf Drucksache 15/2973 - Tages-
ordnungspunkt 19 e - an dieselben Ausschüsse wie die
Vorlage auf Drucksache 15/2748 - Tagesordnungs-
punkt 19 c - überwiesen werden soll. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Anpassung des Baugesetzbuches
an EU-Richtlinien ({0})
- Drucksache 15/2250 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Daniel
Bahr ({2}), Rainer Brüderle, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs - § 246 - Drucksache 15/360 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christian Freiherr von Stetten, Marita
Sehn, Manfred Grund und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Baugesetzbuchs ({4})
- Drucksache 15/513 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({6})
- Drucksache 15/2996 Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Spanier
Franziska Eichstädt-Bohlig
Joachim Günther ({7})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({8}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Joachim Günther ({9}),
Eberhard Otto ({10}), Horst Friedrich ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Weitgehende Planungserleichterungen bei Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien
- Drucksachen 15/2346, 15/2996 Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Spanier
Franziska Eichstädt-Bohlig
Joachim Günther ({12})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarungen ist für
die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Wi-
derspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Die Abgeordnete Petra Pau hat gebeten, ihre Rede zu
Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie einverstanden? -
Das ist der Fall.1)
Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Wolfgang Spanier.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben gerade über die Leitlinien der euro-
päischen Politik gesprochen. Jetzt sprechen wir über
konkrete europäische Politik. Es geht nämlich um die
Umsetzung der europäischen Plan-UP-Richtlinie und der
Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie in nationales Recht.
Ich will gleich vorausschicken: Für uns ist das keine
Pflichtübung. Vielmehr wird das in beiden Richtlinien
vertretene Anliegen von uns inhaltlich voll und ganz un-
terstützt. Eine nachhaltige Bauplanung muss mögliche
Umweltauswirkungen konsequent berücksichtigen. Des-
halb ist die Einführung einer förmlichen Umweltprü-
fung, wie sie in der europäischen Richtlinie vorgeschla-
gen wird, grundsätzlich richtig. Ebenso richtig ist es, die
Beteiligung der Öffentlichkeit europaweit vernünftig zu
regeln.
Die Umsetzung, die wir heute beschließen, ist beson-
ders für die 14 000 Kommunen wichtig, die mit dem
Baurecht umgehen müssen. Wir haben von vornherein
das Anliegen unterstützt, die Gelegenheit der Umset-
zung der europäischen Richtlinie zu nutzen, um unser
Baurecht auf den Prüfstand zu stellen und zu verbessern.
Dabei haben wir drei Ziele verfolgt:
Erstens sollte mit diesem förmlichen UP-Verfahren
keine neue Planungsschicht eingezogen werden, sondern
es sollte in unsere baurechtlichen Verfahren integriert
werden.
1) Anlage 3
Zweitens sollte das Baurecht kommunalfreundlich
gestaltet werden. Wichtig war das Planspiel, bei dem die
Kommunen testen konnten, wie sich die von uns geplanten rechtlichen Regelungen möglicherweise auswirken;
denn wir wollen ein praxistaugliches Baurecht schaffen.
Wir wollen die Planungshoheit der Kommunen stärken,
weil man vor Ort am besten weiß, was für die Bürgerinnen und Bürger das Richtige ist. Zur Kommunalfreundlichkeit gehört auch, dass wir uns konsequent um Vereinfachungen bemüht haben.
Das dritte Ziel, das wir mit unserer Baurechtsnovelle
verfolgen, ist, die veränderten Anforderungen an die
Stadtentwicklung im Zusammenhang mit dem Bevölkerungsrückgang und den Veränderungen im Altersaufbau
der Bevölkerung im Baurecht zu verankern, um den
Kommunen die Möglichkeit zu eröffnen, hier sinnvoll
zu steuern.
Von Anfang an war Ziel unserer Fraktion auch, eine
gemeinsame Position im Bundestag bzw. zwischen Bundesrat und Bundestag zu entwickeln. Dieses Ziel haben
wir in intensiven Beratungen innerhalb unserer Fraktion,
aber auch zwischen den Fraktionen - darüber bin ich
persönlich sehr froh - gemeinsam erreicht.
({0})
Ich glaube, ich spreche für uns alle - normalerweise
maße ich mir das nicht an, aber in diesem Fall tue ich es
einfach -, wenn ich Sie, Herr Minister, bitte, unseren
Dank an Ihr Haus weiterzuleiten, von dem wir in diesem
sehr umfangreichen und intensiven Diskussionsprozess
wirklich hervorragend beraten und begleitet worden
sind. Ich weiß aus den Beratungen im Ausschuss, dass
die Vertreter der anderen Fraktionen das genau so sehen,
wie ich es gerade dargestellt habe.
({1})
Bedanken möchte ich mich auch bei den Berichterstattern: bei meiner Fraktionskollegin Gabriele
Groneberg, bei Frau Eichstädt-Bohlig, bei Herrn Götz
und bei Herrn Günther. Es waren intensive, manchmal
nicht ganz leichte Beratungen und Gespräche. Aber es
kommt auf das Ergebnis an und das ist - das kann man
wohl festhalten - gut.
({2})
Zu diesem guten Ergebnis haben sicherlich auch die
sorgfältige Vorbereitung und Begleitung durch die Expertenkommission, ein mit den Ländern bereits intensiv
beratener Gesetzentwurf der Bundesregierung, eine ausführliche, sehr hilfreiche Stellungnahme des Bundesrates
und das Planspiel, das ich bereits angesprochen habe
und das wir für besonders hilfreich gehalten haben, beigetragen. Ich wünschte mir - das will ich an dieser Stelle
noch einmal sagen -, dass wir auch in anderen Bereichen, wenn es um die Umsetzung nationalen Rechts in
kommunale Praxis geht, von dem Instrument des Planspiels Gebrauch machten. Ein solches Planspiel kann,
wissenschaftlich begleitet und vernünftig ausgewertet,
eine wirkliche Hilfe sein.
Natürlich hat auch die Sachverständigenanhörung
wichtige Anregungen und Impulse gegeben. Zudem war
es wichtig, dass während des ganzen Prozesses, der sich
über nahezu zwei Jahre hingezogen hat, ein enger Kontakt zu den Ländern bestand und dass die Kommunen an
allen Schritten des Verfahrens beteiligt waren. Selbstverständlich sind auch die Verbände einbezogen worden.
Ich kann - es war ein Paket von immerhin 40 Änderungen - jetzt nicht auf alle Einzelheiten eingehen. Das
wäre nicht sinnvoll. Aber lassen Sie mich einige inhaltliche Schwerpunkte nennen, die für unsere Fraktion wichtig sind.
Das Thema erneuerbare Energien hat uns intensiv beschäftigt. Nach wie vor sind Windkraftanlagen privilegiert. Neu ist - das ist richtig und wichtig -, dass auch
Biomasseanlagen privilegiert sind. Aber es war uns
auch ein wichtiges Anliegen - das sage ich genauso
deutlich -, die Steuerungsmöglichkeiten der Kommunen
im Planungsrecht, was Windkraftanlagen und was Biomasseanlagen betrifft, zu stärken.
({3})
Es war kein Zufall, dass wir über ein wichtiges Instrument, nämlich die Rückstellung von Baugesuchen - es
kann nämlich sein, dass ein Bauvorhaben zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht in die Planungen der Kommunen passt -, intensiv beraten haben. Ich glaube, wir
haben hier einen guten Kompromiss gefunden. Entscheidend ist, dass damit die Planungshoheit der Kommunen
deutlich gestärkt worden ist.
Dass wir die Biomasseanlagen erstmals privilegieren,
ist zum einen energiepolitisch und zum anderen im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Strukturwandels in der Landwirtschaft wichtig.
An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Hinweis auf
die Änderungen in § 35 des Baugesetzbuches geben. Wir
sind mit diesem Thema - ich glaube, da waren wir gut
beraten - sehr vorsichtig umgegangen. Der Schutz des
Außenbereichs ist ein sehr wichtiges Anliegen. Wir haben kleinere, wenn auch nicht unwichtige Änderungen
vorgenommen, was die Fristen und was die Klarstellung
hinsichtlich der Ferienwohnungen betrifft. Wir haben
hier mit relativ kleinen Änderungen doch große positive
Auswirkungen für die Landwirtschaft erreicht, die sich
mit dem Strukturwandel auseinander setzen muss.
Wir haben gegenüber dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zwei wichtige Änderungen vorgenommen.
Wir haben bei der Überprüfung der Flächennutzungspläne die Frist von 15 Jahren beibehalten. Aber wir haben den Kommunen - das war ganz wichtig - eine Übergangsfrist von zehn Jahren eingeräumt. Das hat für die
notwendige Akzeptanz gesorgt. Das vorgesehene Instrument der Eignungs- und Belastungsflächen ist aus dem
Entwurf herausgenommen worden. Das ist dem einen
oder anderen Berichterstatter schwer gefallen. Stattdessen haben wir ein sehr taugliches neues Instrument eingeführt, nämlich den sachlichen Teilflächennutzungsplan. Es ist eine schreckliche Bezeichnung; aber ich
hoffe, es ist ein geeignetes Instrument für die Kommunen.
Wir haben den Stadtumbau und die Maßnahmen zur
„Sozialen Stadt“ neu in das Baurecht verankert. Ich
glaube, das war wichtig. Aber dies war, was die Maßnahmen zur „Sozialen Stadt“ betrifft, nicht ganz unkritisch. Ein ganz wichtiger Punkt war das gemeinsame Anliegen, Vereinfachungen im Baurecht zu prüfen und auch
zu beschließen. Ich nenne die Stichworte Umlegungsverfahren, Sanierungsgenehmigung und Grundstücksteilung.
Wir haben eine ganze Reihe von bisherigen Genehmigungs-, Zustimmungs- und Anzeigenerfordernissen der
Kommunen schlicht und einfach gestrichen. Das war ein
ganz wichtiger Punkt.
({4})
Fazit: Aus unserer Sicht werden die von uns selbst gesteckten Ziele mit diesem Gesetz erreicht.
Wie wird es nun weitergehen? Wir werden dieses Gesetz trotz aller Komplexität, die in den Einzelheiten
steckt, gemeinsam verabschieden, was in diesen Monaten keine Selbstverständlichkeit ist.
({5})
- Das habe ich mit großem Wohlwollen zur Kenntnis genommen; ich habe mir Ihre Rede genau angehört.
Da wir den Empfehlungen des Bundesrates weit entgegengekommen sind, hoffe ich, dass ein Vermittlungsverfahren überflüssig ist. Denn ein Vermittlungsverfahren in diesem Sachgebiet, das möglicherweise mit
anderen Sachgebieten verknüpft ist, kann nicht hilfreich
sein. Ich könnte mir vorstellen, dass auch der Bundesrat
kein Interesse daran hat, das Gesamtpaket aufzuschnüren. Dann würde es sicherlich schwierig werden.
Ich komme zum Schluss. Ich habe mir das Protokoll
der ersten Lesung angeschaut. Die Rednerinnen und
Redner aller Fraktionen hatten zugesagt, den Gesetzentwurf intensiv und sachlich zu beraten und eine Einigung
anzustreben. Es ist nicht selbstverständlich, dass genau
das erreicht wurde. Ich glaube, es ist gut, dass wir das
geschafft haben.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Götz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie sehen, am Freitagmittag steigt die Stimmung in diesem Hohen Hause. Wir beraten heute abschließend - das
ist unstrittig - ein wichtiges Gesetz, das in seiner Tragweite vor allem für die Städte und Gemeinden, aber auch
für Investoren von ganz großer Bedeutung ist.
CDU und CSU haben von Anfang an signalisiert,
konstruktiv an den Beratungen mitzuwirken. Auch wir
haben von Anfang an kein Interesse daran gehabt, das
Ganze in einem Vermittlungsverfahren landen zu lassen.
Wir haben aber auch von Anfang an deutlich gesagt,
dass wir dem Gesetz nur dann zustimmen, wenn Sie unsere Vorstellungen und Änderungswünsche aufnehmen
und die aus unserer Sicht notwendigen Korrekturen auch
vornehmen. Das haben Sie - ich kann heute sagen: in
vielen, manchmal zähen und schwierigen Verhandlungsrunden; das räume ich ein - letztlich gemacht. Insofern
trägt das Gesetz durch eine Reihe von vereinbarten Änderungen sehr deutlich auch unsere Handschrift.
Trotzdem möchte und muss ich einige kritische Anmerkungen machen; ich kann dabei nahtlos an die Europadebatte von heute Vormittag anschließen. Ursache und
Anlass des Gesetzgebungsverfahrens sind, wie der
Kollege Spanier schon gesagt hat und wie der Name
Europarechtsanpassungsgesetz - dies ist übrigens ein
furchtbarer Begriff - zum Ausdruck bringt, europarechtliche Bestimmungen in nationales Recht umzusetzen,
konkret: die so genannte Plan-UP, also die Umsetzung
der EU-Richtlinie über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme.
Das Ganze ist so komplex und kompliziert, dass die
Regierung eine Expertenkommission einsetzen musste,
um die europarechtlichen Ansprüche zu prüfen und letztlich zu bewerten. Das Ziel der Union war von Anfang
an, diese europarechtlichen Anforderungen im Interesse der Kommunen bei der Umsetzung auf ein Minimum zu begrenzen und so einfach wie möglich zu
gestalten. Ich denke, dies ist im laufenden Gesetzgebungsverfahren gelungen.
({0})
Nur, durch die Vorgaben aus Brüssel waren unsere Gestaltungsspielräume begrenzt. Ich hätte mir gewünscht,
dass unsere Bundesregierung vorher im Ministerrat in
Brüssel, als es um den Erlass dieser europäischen Richtlinie ging, den Finger hebt und kritisch hinterfragt, ob
diese europäische Richtlinie überhaupt notwendig ist.
({1})
Wir erleben ständig, dass die Europäische Kommission Kompetenzen an sich zieht. Sie erlässt Richtlinien,
die die Kommunen betreffen und die wir anschließend in
nationales Recht umsetzen müssen. Nach unserem Europaverständnis muss Brüssel nicht in die kleinste Gemeinde hineinregieren. Unsere Bundesregierung schaut
entweder handlungsunfähig zu oder - noch schlimmer versucht, Themen vor allem aus dem Umwelt- und Naturschutzbereich, die sie in Deutschland nicht durchgesetzt bekommt, über Brüssel in die Kommission einzuspeisen. Dies landet dann als EU-Richtlinie wieder auf
unserem Tisch.
Die Konsequenz ist eine weitere Aushöhlung der
kommunalen Selbstverwaltung und eine Eingrenzung
der kommunalen Planungshoheit. Das wollen wir von
CDU und CSU nicht. Die Städte und Gemeinden in
Deutschland sind sehr wohl in der Lage, in eigener Zuständigkeit im Rahmen ihres verfassungsrechtlich verbürgten Selbstverwaltungrechts über ihre städtebauliche
Erneuerung und Entwicklung zu entscheiden. Das gilt
auch für Umweltbelange.
Ich sage dies nicht ohne Grund; denn wir haben diese
Woche im Ausschuss erneut eine Vorlage der Europäischen Kommission auf dem Tisch, in der sich Brüssel
mit Fragen der Städtepolitik, der Stadtgestaltung, der
Steuerung von Flächennutzungen und des innerstädtischen Verkehrs beschäftigt.
({2})
Das geht nach unserem Verständnis Brüssel überhaupt
nichts an.
({3})
Dies widerspricht eindeutig dem Subsidiaritätsprinzip.
Wir fordern die Bundesregierung schon heute auf, dem
frühzeitig entgegenzusteuern.
({4})
Ich rege auch an, dass wir uns mit diesen Fragen nicht
nur im Ausschuss und nicht immer erst am Ende der
Diskussion, sondern frühzeitig gerade hier im Plenum
des Deutschen Bundestags generell auseinander setzen.
({5})
Doch zurück zum Baugesetzbuch. Kollege Spanier
hat einige wesentliche Punkte, die das neue Gesetz beinhaltet, dargestellt. Ich will sie nicht wiederholen; aber
einige ergänzende Bemerkungen aus unserer Sicht seien
gestattet. Zunächst zum Planspiel: Planspiele im Bauund Planungsrecht, an denen unterschiedliche Gemeinden, Städte und Kreise beteiligt sind, haben eine lange
Tradition. Wir sind dem Ministerium dankbar, dass es
die die Gesetze vorbereitenden Modelle wie die Planspiele früherer Bauminister aus unserer Regierungszeit
übernommen hat. Es hat sich bezahlt gemacht, so vorzugehen. Die Planspielgemeinden, bei denen ich mich an
dieser Stelle auch im Namen meiner Fraktion herzlich
bedanken möchte, haben uns eine hervorragende Entscheidungsgrundlage geliefert. Es wäre nur vorteilhaft
- hierin stimme ich mit dem Kollegen Spanier wie auch
in vielen anderen Punkten überein -, wenn die frühzeitige Erprobung der Auswirkungen von Gesetzen auch in
anderen Politikfeldern erfolgen würde.
({6})
Dazu zähle ich das Steuerrecht genauso wie das Umweltrecht, die Sozialgesetzgebung oder auch die aktuell
zu diskutierende Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe.
({7})
Die rot-grüne Regierung könnte sich und den Menschen
in unserem Land manches Chaos ersparen.
({8})
- Und uns auch.
Wir haben in der Union das heute zu entscheidende
Gesetz unter zwei wesentlichen Fragestellungen geprüft:
Erstens. Trägt die Veränderung zur Stärkung der kommunalen Planungshoheit und damit zur Verbesserung der
kommunalen Selbstverwaltung bei? Zweitens. Wie kann
Bürokratie beseitigt oder zumindest weiter abgebaut
werden?
Die meisten Städte und Gemeinden in Deutschland
stehen finanziell mit dem Rücken an der Wand. Viele
falsche politische Entscheidungen der rot-grünen Bundesregierung der letzten Jahre haben dazu maßgeblich
beigetragen; sie hat dies zu verantworten. Kommunale
Selbstverwaltung findet in vielen Gemeinden schon allein aus finanziellen Gründen so gut wie nicht mehr statt.
Die Kommunen wissen nicht mehr, wie sie ihre Haushalte bewältigen sollen. Deshalb dürfen sie nicht noch
zusätzlich mit weiteren Aufgaben belastet werden. Der
Abbau von öffentlichen Aufgaben ist das Gebot der
Stunde. Das gilt auch für dieses Gesetz.
Für die Union war und ist es wichtig, dass die Kommunen einerseits weitere vernünftige Handlungsspielräume erhalten und andererseits von kostenträchtigen
bürokratischen Hemmnissen befreit werden, sodass eine
echte Entlastung spürbar wird. Dazu tragen die vielen in
den letzten Monaten von der Union gemeinsam mit der
FDP - ich möchte mich auch bei dem Kollegen Günther
dafür bedanken ({9})
durchgesetzten Änderungen und Korrekturen bei.
So bleibt zum Beispiel die Außenbereichsatzung als
wichtiges einfaches Planungsinstrument, das vor allen
Dingen den Gemeinden im ländlichen Raum hilft, erhalten. Zusätzlich ist es uns gelungen durchzusetzen, dass
die Außenbereichsatzung von europarechtlichen Anforderungen verschont wird. Das war gar nicht so einfach.
({10})
Die im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehene
Einführung von Vorrang-, Eignungs- und Belastungsflächen wird gestrichen. Der Wegfall dieses neuen bürokratischen Monsters ist investitionsfreundlich und vor
allem für die Landwirtschaft und den Gartenbau vorteilhaft.
Neu im Planungsrecht ist, dass die Gemeinden auf der
Ebene des Flächennutzungsplans - der Kollege Spanier
hat das auch angesprochen - künftig Anträge auf Baugenehmigungen im Außenbereich zurückstellen können. Windenergieanlagen waren davon zunächst ausgeschlossen. Wir konnten jedoch durchsetzen, dass dies
künftig bei allen privilegierten Vorhaben gilt, also auch
bei Anlagen zur Erzeugung von Windenergie, ein politischer Streitpunkt, der bis zur letzten Minute offen war
und am Schluss dankenswerterweise doch einvernehmlich geregelt werden konnte.
({11})
So hat die Gemeinde künftig das Recht, ein Baugesuch für ein Jahr zurückzustellen. Hinzu kommt die
Bearbeitungszeit für die Baugenehmigung, jedoch begrenzt auf sechs Monate. Konkret heißt das: Wenn ein
Investor für eine Windenergieanlage im Außenbereich
eine Baugenehmigung beantragt, haben die Kommunen
künftig bis zu eineinhalb Jahre Zeit, ihre Flächennutzungspläne zu prüfen und geeignete Standorte auszuweisen. In Verbindung mit dem neuen Instrument der Teilflächennutzungspläne werden die Gemeinden so in die
Lage versetzt, ihre eigenen Planungsvorstellungen erheblich besser als heute durchzusetzen. Wir sind dankbar, dass wir diese Lösung gefunden haben.
Wichtig für uns ist in diesem Zusammenhang - ich
möchte das nur in Erinnerung bringen - die neu aufgenommene Rückbauverpflichtung. So müssen künftig
privilegierte Vorhaben im Außenbereich, also auch
Windenergieanlagen, wieder entfernt werden, wenn sie
- aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr betrieben werden. Die Gemeinden haben das Recht, sich diese
Rückbauverpflichtung zusätzlich durch Bürgschaften sichern zu lassen, damit auch bei insolventen Investoren
gewährleistet ist, dass die Landschaft bei aufgegebener
Nutzung in den vorherigen Zustand zurückversetzt werden kann.
Zusammenfassend zu diesem Bereich: Bei Anwendung der neuen kommunalen Steuerungsmöglichkeiten
im Außenbereich können die Gemeinden künftig - sei es
bei der Nutzung der Windenergie oder in anderen Bereichen - mehr als bisher gestaltend wirken. Wir haben damit eine wichtige Verbesserung beim Schutz des Außenbereichs und der Landschaft erreicht, die Situation für
die Landwirtschaft verbessert und gleichzeitig die kommunale Planungshoheit gestärkt.
Um es konkret zum Ausdruck zu bringen: Wir wollen
den Einsatz der erneuerbaren Energien dort verstärken,
wo er Sinn macht. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich
die Aufnahme der Privilegierung von Biomasseanlagen zur Herstellung und Nutzung von Energie in den
Katalog der künftig im Außenbereich zulässigen Vorhaben. Wir waren uns auch über die Fraktionsgrenzen
hinweg einig, dass zum Schutz des Außenbereichs die
Privilegierung von Biomasseanlagen begrenzt werden
muss. Wir haben uns auf eine Größenordnung von
0,5 Megawatt installierte elektrische Leistung verständigt. Größere Vorhaben auf diesem Gebiet bedürfen
künftig wie heute schon eines Bebauungsplans oder
eines Vorhaben- und Erschließungsplans.
Durch die vorweggenommene Einschränkung soll
vermieden werden - das war unser Ziel -, dass wir in
einigen Jahren bei der Biomasse eine vergleichbare Diskussion wie heute bei der Windenergie in unserem Land
haben.
Lassen Sie mich zu einem weiteren wichtigen Ziel,
nämlich Bürokratie abzubauen und die öffentliche Verwaltung weiter zu entlasten, einige Bemerkungen machen. In den Verhandlungen wurde erreicht, dass zusätzlich zu dem im Gesetz vorgesehenen Abbau von
Genehmigungserfordernissen, die Herr Spanier aufgeführt hat, auf weitere Genehmigungen verzichtet werden
kann, sei es in Sanierungsgebieten oder bei städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen, um nur einige zu nennen. Das sind zwar nur kleine, aber dennoch wichtige
Schritte zur Deregulierung und Entbürokratisierung, die
sowohl dem bauwilligen Bürger oder Investor entgegenkommen als auch die Verwaltung entlasten.
Wir konnten ferner durchsetzen, dass künftig - das ist
eines meiner Lieblingskinder - die vorgeschriebene Genehmigung von Grundstücksteilungen endlich ersatzlos
gestrichen wird. Ich habe bei der letzten Novelle des
Baugesetzbuches von 1997 als Berichterstatter der seinerzeitigen Regierungsfraktion von CDU und CSU bereits versucht, diese überflüssige Genehmigung, die nur
Arbeit macht und nichts bringt, ersatzlos zu streichen.
({12})
- Langsam. - Das ist damals im Vermittlungsverfahren
an der SPD gescheitert.
({13})
Heute, sieben Jahre später, kann ich als Oppositionspolitiker sagen: wieder ein Stück überflüssige Bürokratie
weniger, und das ohne Vermittlungsverfahren.
({14})
Politik ist das Bohren dicker Bretter. Wenn man langen Atem hat und lang genug bohrt, hat man irgendwann
Erfolg.
({15})
- Auch das gehört dazu, Kollege Brunnhuber.
Zum neu aufgenommenen Stadtumbau und zur „Sozialen Stadt“ möchte ich nur so viel sagen: Wohnungsleerstand und Verfall der Innenstädte sprechen eine eigene Sprache. Wir müssen den veränderten
städtebaulichen Strukturen auch im Baugesetzbuch
Rechnung tragen. Das ist unstrittig. Nur, die Bestimmungen zur „Sozialen Stadt“ und zum Stadtumbau bleiben
Lyrik, wenn die finanzielle Umsetzung fehlt und die
Kommunen nicht mehr in der Lage sind, dieses Programm auszuführen. Kommunen, die finanziell am Ende
sind und am Tropf des Regierungspräsidenten hängen,
nützt das beste Programm nichts.
Das Programm „Stadtumbau West“ - das sage ich an
die Regierungsbank gewandt - sollte dieses Jahr beginnen. Wenn ich es richtig sehe, erfolgt der Start frühestens
in 2005, abgesehen vielleicht von einigen Wahlkampfbewilligungsbescheiden in Nordrhein-Westfalen. Wir können deshalb nur an Sie appellieren - hier müssen wir ansetzen -: Beuten Sie die Kommunen nicht weiter aus!
Lassen Sie den Kommunen ihr Geld, damit sie ihre Aufgaben wahrnehmen können! Nur starke Städte und Gemeinden sind in der Lage, ihre Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen. Wir brauchen leistungsfähige
Kommunen, damit sie das heute zu beschließende Gesetz mit Leben erfüllen können.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir haben in vielen Verhandlungsrunden einen, wie ich finde, ordentlichen Kompromiss erarbeitet, auch wenn das eine oder
andere als Wunschvorstellung noch offen bleibt. Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, sind in vielen Punkten weit auf unsere Vorstellungen eingegangen. Dessen bin ich mir bewusst. Ich
rege an, dies auch auf anderen Politikfeldern in ähnlicher
Weise zu tun.
({16})
Sie würden sich leichter tun und die Gesetze in Deutschland würden bessere. Den Beweis dafür haben wir mit
diesem Gesetzentwurf erbracht.
Ich behaupte, durch die vielen Verhandlungsrunden
ist dieser Gesetzentwurf nicht schlechter, sondern besser
geworden. Dieses Beispiel zeigt, dass es bei gutem Willen in der Politik nach wie vor möglich ist - und auch
möglich sein muss -, fraktionsübergreifend etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Ich danke allen, die - jeder an seinem Platz - zu diesem Ergebnis beigetragen
haben, und empfehle meiner Fraktion guten Gewissens
die Zustimmung.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska
Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon erstaunlich, wie sich die Atmosphäre verändert, wenn ein Gesetzentwurf einmal von allen Fraktionen konstruktiv mitgetragen wird. Ich glaube, es täte unserer Politik und uns selbst ganz gut, darauf öfter
hinzuarbeiten.
Als Erstes möchte ich mich an dieser Stelle besonders
beim Kollegen Wolfgang Spanier bedanken, der vom
ersten Tag an sehr intensiv auf diese Gemeinsamkeit hingewirkt hat. Danken möchte ich auch allen anderen, die
daran beteiligt waren, zum Beispiel den Kollegen Götz
und Günther. Vor allem aber danke ich dem Ministerium; denn von dieser Seite wurde sehr engagiert daran
mitgearbeitet, Kompromisse zu finden. Insofern umfasst
der gute Wille nicht nur die parlamentarische Ebene,
sondern auch den Sachverstand, der vom Ministerium
eingebracht wurde, um uns manches Mal dabei zu helfen, in Details einen konkreten Brückenschlag zu finden.
Dafür möchte ich mich bedanken.
({0})
Ich sage es ganz deutlich: Jetzt erwarten wir vom
Bundesrat, dass er unsere Bemühungen auch honoriert
und das Paket nicht neu aufschnürt. Ich glaube wirklich,
dass das nicht nötig ist. Wir alle haben uns gegenseitig
geschworen, daran mitzuwirken, dass nicht unnötigerweise noch einmal über Paragraphen diskutiert wird, für
die wir schon einen Konsens gefunden haben.
Als Zweites schließe ich mich dem an, was schon
meine Vorredner gesagt haben. Ich glaube, dass das
Planspiel sinnvoll gewesen ist. Gerade wenn die Kommunen von den Gesetzen, die wir verabschieden, betroffen sind, sollten wir ihnen ein halbes Jahr Zeit geben, damit sie die Wirkungen dieser Gesetze auf der
kommunalen Ebene beobachten können. Das führt insgesamt zu einem ruhigeren Gesetzgebungsverfahren.
Wir Grüne haben mit unseren Vertreterinnen und Vertretern in der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung verabredet, dass sie dafür werben, dieses Instrument im Regelverfahren stärker zu
berücksichtigen. Das ist zwar immer auch eine Zeitfrage
- wir wissen ja, wie oft Gesetzesvorhaben unter Zeitdruck stehen -, aber ich glaube, es wäre gut, dieses Instrument auch weiterhin von allen Seiten zu fördern.
Als Drittes will ich sagen: In der Sache haben wir
Grüne einige Punkte, die uns sehr wichtig sind, durchsetzen können. Auch dafür sage ich allseits Dank. Zu diesen Punkten gehört erstens die Bodenschutzklausel, die
bei der Abwägung einen gewissen Vorrang hat. Sie ist
uns insbesondere aus ökologischen Gründen sehr wichtig, aber auch weil die Zersiedelung nicht weiter fortschreiten darf; denn in Zeiten des demographischen
Wandels und des Bevölkerungsrückgangs dürfen wir
auch aus volkswirtschaftlichen Gründen nicht so viel
Fläche verbrauchen. Das ist uns sehr wichtig.
({1})
Der zweite Punkt ist der allgemeine Klimaschutz, der
dritte die Aufnahme der regenerativen Energien in die
Bauleitplanung und die städtebaulichen Verträge. Bei einer Reihe von Punkten ist also das Engagement der Grünen zu erkennen. Ich hoffe, dass dies bei der Durchführung kommunaler Projekte ganz konkret sichtbar wird.
Ich nenne aber ganz offen auch die Punkte, an denen
wir Federn lassen mussten; denn auch das sollte man ansprechen. Erstens hätten wir gern das Instrumentarium
der Vorrang-, Eignungs- und Belastungsflächen so
beibehalten, wie es im Regierungsentwurf vorgesehen
war. Hier mussten wir klein beigeben. Daraus wird nun
der Teilflächennutzungsplan. Aber dies ist ein Beispiel
für den Brückenschlag, von dem ich gesprochen habe;
denn mit dem Teilflächennutzungsplan können die Kommunen genauso verfahren, wie sie es mit dem anderen
Instrumentarium, den Vorrang-, Eignungs- und Belastungsflächen, hätten tun können. Sie können in ihrem
Außenbereich klar definieren, an welchen Stellen Maßnahmen - ob in den Bereichen Wind, Tierhaltung, Biomasse oder auch Unterglasgartenbau - möglich sein sollen und an welchen Stellen das nicht der Fall sein soll.
Ich denke, das ist ein Kompromiss, der zeigt, wie ein
solcher Brückenschlag auch ganz praktisch funktionieren kann.
Ein anderer Punkt, dem ich ein bisschen nachtrauere,
ist, dass die Außenbereichssatzung jetzt bleibt, wie sie
ist; die hätte ich natürlich gerne ein Stück weit moderner
und auch ökologischer gehabt, wie es in unserem
Entwurf vorgesehen war. Natürlich haben wir am allerlängsten um die Zurückstellung von Baugesuchen gestritten, wenn die Kommunen einen Flächennutzungsplan aufstellen. Bekommt die Windenergie da ein Stück
weit Privilegierung oder werden lediglich alle Maßnahmen gleichgestellt? Letztlich haben wir da klein beigegeben, auch weil es gerechtfertigt ist, und uns geeinigt.
Wir haben die Kommunen gleichzeitig aufgefordert,
sehr genau und präzise nachzuweisen, ob und wann Zurückstellungen überhaupt notwendig sind. Auch das ist,
denke ich, eine gelungene Mischung von Geben und
Nehmen gewesen.
Ich muss noch sagen, dass es uns gelungen ist, die
Instrumente „Stadtumbau“ und „Soziale Stadt“ einzubeziehen. Die CDU/CSU war dagegen sehr stark daran
interessiert, den Paragraphen zu Maßnahmen der „Sozialen Stadt“ herauszunehmen. Ich bin ziemlich sicher: Er
ist jetzt drin. Er wird das Satzungsrecht der Kommunen
ein Stück weit ausweiten. Die Kommunen werden dieses
Mittel in Zukunft mehr gebrauchen. In ein paar Jahren
werden Sie zufrieden sein, dass Sie dem hier und heute
zugestimmt haben. Ich glaube, das tut uns allen gut.
Noch ein Satz zu dem, was die eigentliche Aufgabe
und der eigentliche Anlass der Gesetzesnovelle war: die
Überlagerung des traditionellen deutschen Planungsrechts mit der EU-Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung. Dies miteinander zu vereinbaren ist in vorbildlicher Weise gelungen: Wir haben ein Stück weit
mehr europäisches Recht hereingenommen, aber trotzdem unsere Traditionen bewahrt. Dafür möchte ich auch
der Expertenkommission noch einmal danken, die das
Ganze vorbereitet hat. Wir haben das Verfahren so systematisiert, dass praktisch alle Pläne auf Umweltverträglichkeit geprüft werden, nach einem einheitlichen Verfahren. Obwohl jetzt alle unter dieses Verfahren fallen,
haben die Experten gesagt, dass es Vereinfachungen
bringt.
Last, not least bin ich gespannt, wie sich die neue
Form von Kontrolle durch die Kommunen, das so genannte Monitoring, was wir relativ weich formuliert haben, in der Praxis bewährt. Ich hoffe, dass auch das zu
einem guten Instrument wird.
Insofern mache ich allen Beteiligten Mut zu dieser
Gesetzesnovelle, vor allen Dingen den Kommunen und
den beteiligten Verwaltungen, die mit der praktischen
Umsetzung zu tun haben. Noch einmal rundum Dank
und Mut, auch für weitere Projekte einer fraktionsübergreifenden Kooperation.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach langer Zeit, aber dafür gründlich vorbereitet, liegt
heute die Novelle des Baugesetzbuches zur Beschlussfassung vor, die aus meiner Sicht - das möchte ich gleich
am Anfang sagen - ein gelungener Kompromiss ist. Natürlich ist nicht alles nur deswegen zustande gekommen,
weil die EU-Richtlinie uns gedrängt hat - vielleicht der
Zeitpunkt. Wir wollten das Baugesetzbuch generell vereinfachen. Wir wollten das Planungsrecht vereinfachen,
um das Bauen in Deutschland, das im Europavergleich
nach wie vor am kompliziertesten ist, zumindest schrittweise zu erleichtern.
Sicher blieben diesbezüglich eine Reihe von Wünschen offen; auch das wurde hier bereits gesagt. Wir als
FDP hätten uns zum Beispiel gewünscht, eine verkehrsmindernde und verträgliche Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit gleich mitzuregeln. Das heißt,
an die Baunutzungsverordnung müssen wir noch einmal
heran.
Kompromisse - das hat mein Kollege Peter Götz bereits gesagt - erfordern Zugeständnisse von allen Seiten.
Bei dem heute zu beschließenden Gesetzentwurf ist es
an vielen Stellen gelungen, Verfahrens- und Planungserleichterungen zu schaffen. Um nur einige zu nennen, die
ich für außerordentlich vernünftig halte: die Abschaffung der Teilungsgenehmigung, die Zusammenführung
von Sanierungs- und bauaufsichtlicher Genehmigung
und die Abschaffung der Zustimmungserfordernisse
durch höhere Verwaltungsbehörden bei der Geltungsdauer der Veränderungssperre. Ich möchte es bei diesen
Beispielen bewenden lassen.
Ich möchte nun kurz darstellen, was für uns als FDP
sozusagen die Knackpunkte waren - Kollegin EichstädtBohlig hat diese gerade für die Grünen dargestellt -, um
diesem Kompromiss zustimmen zu können. Das war
zum Ersten die Streichung der im Regierungsentwurf
enthaltenen Steuerungselemente, die Belastungs- und
Eignungsflächen vorsahen. Ohne diese Streichung wäre
es aus unserer Sicht ein Bauverhinderungsrecht geworden. Es hätte insbesondere die Betriebe der Land- und
Forstwirtschaft sowie des Gartenbaus getroffen. Ich bin
froh, dass wir nach der Anhörung der Sachverständigen
und nach einem Planspiel die Meinung angenommen haben, die uns die Experten nahe gebracht haben, und dies
gestrichen haben.
({0})
Ein weiterer Dissens bestand hinsichtlich § 15 Abs. 4
des Regierungsentwurfs und dessen Streichung. In diesem Paragraphen ging es um Sonderregelungen bei der
Genehmigung von Anträgen zur Errichtung von Windenergieanlagen. Die Streichung dieser Vorschrift war
für uns nicht deshalb wichtig, um in diesem Punkt einen
politischen Erfolg vorweisen zu können; uns ging es
vielmehr darum, die kommunale Planungshoheit entscheidend zu stärken.
({1})
Wer sich in der letzten Zeit mit Windrädern und deren
mittlerweile zum Teil gigantischen Größe beschäftigt
hat,
({2})
Joachim Günther ({3})
der muss sich doch fragen - das sage ich ganz bewusst,
auch wenn wir hier einen Kompromiss geschlossen haben -, ob eine Windkraftanlage, die mit ihrer Höhe inzwischen sogar den Kölner Dom überragt, überhaupt
noch privilegiert werden darf.
({4})
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Auch die FDP
setzt sich für erneuerbare Energien ein. Das Ganze muss
aber in geordneten Bahnen ablaufen und es darf nicht
nur auf die attraktiven Einnahmequellen abgezielt werden.
Wenn wir es mit dem Schutz des Außenbereichs
ernst nehmen, dann müssen wir es in erster Linie den
Kommunen überlassen, welchem Standort sie für solche
Anlagen zustimmen. Die Kenntnisse der Gegebenheiten
vor Ort sind das Entscheidende. Nun haben die Kommunen die Gelegenheit - das wurde bereits dargelegt -,
Baugesuche bis zu eineinhalb Jahren auszusetzen, wenn
sie einen Flächennutzungsplan aufstellen, ändern oder
ergänzen möchten. Das haben die Kommunen bereits
wohlwollend zur Kenntnis genommen. Hierzu gab es
eine Reihe von positiven Reaktionen genauso wie zu der
Integration der Rückbauverpflichtung in das Gesetz.
Zum Komplex Bauen im Außenbereich gehört auch
die Begrenzung von Biomasseanlagen auf eine installierte elektrische Leistung von 0,5 Megawatt, die wir erreicht haben. Wir haben bei der Privilegierung der Windkraftanlagen schließlich unsere Erfahrungen gesammelt.
Deswegen finde ich die Begrenzung richtig. Wer seine
Anlage größer bauen will, wird daran nicht gehindert,
aber er muss den Gesetzesweg gehen und Anträge stellen, so wie es andere auch tun müssen.
Ich habe meine Rede damit begonnen, dass der vorliegende Entwurf ein guter Kompromiss ist. Dabei bleibe
ich auch. Ein Kompromiss hat immer mit Nehmen und
Geben zu tun; das weiß ich. Ich bin natürlich froh über
das, was wir erreicht haben; ich habe einige Punkte genannt. Ich werde aber daran arbeiten, dass Forderungen,
deren Umsetzung auf der Strecke geblieben ist, in Zukunft aufgegriffen werden. Das Baugesetzbuch ist ein lebendiges Gesetz, das immer wieder fortgeschrieben
wird. Deshalb glaube, dass über Lösungen auch bei uns
im Ausschuss verstärkt weiter diskutiert werden sollte.
Es gibt im Baubereich viel zu tun. Wir möchten als einen
wichtigen Punkt zum Beispiel noch erreichen, dass die
Länder mehr Spielraum bei der Gesetzgebung erhalten;
denn sie können besser bestimmen, in welche Richtung
es vor Ort gehen soll.
Zum Schluss möchte ich allen Beteiligten - ich nenne
nur Wolfgang Spanier, Peter Götz und Frau EichstädtBohlig - für die sachliche und faire Zusammenarbeit
danken. Einen besonderen Dank richte ich an Herrn Professor Söfker, der uns mit seinem Team stets gut beraten
hat.
Herzlichen Dank.
({5})
Jetzt hat Herr Minister Manfred Stolpe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf, der hier heute vorliegt, ist
ein ganz konkreter Schritt hin zu der Verwirklichung
eines großen Ziels, das wir gemeinsam verfolgen. Denn
Deregulierung und Bürokratieabbau, Erleichterung wirtschaftlichen Handelns und nicht zuletzt Erleichterung
von Investitionen sind der Schlüssel, um einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen und unser Land
voranzubringen.
In diesem Bereich bestand Handlungsdruck. Zusätzlicher Druck entstand durch die Notwendigkeit, europäisches Recht in deutsches Recht umzusetzen. Wir müssen
- das ist schon erwähnt worden - die europäischen Vorgaben aus der so genannten Plan-UP-Richtlinie bis zum
20. Juli in deutsches Recht umgesetzt haben. Wie wir erleben konnten, beflügelt der doppelte Druck bei den großen Aufgaben der wirtschaftlichen Belebung und der
Umsetzung des europäischen Rechts. Ich kann Ihnen berichten, dass wir mithilfe des ganzen Hauses ein neues,
vereinfachtes Bau- und Planungsrecht für Deutschland
schaffen können. Dafür bin ich sehr dankbar.
Dieses Gesetz ist für die deutsche Planungspraxis
sehr wichtig. Es ist von einem der Vorredner schon erwähnt worden, dass 14 000 Städte und Gemeinden davon betroffen sind. Sowohl der Flächennutzungsplan
als auch der Bebauungsplan fallen in den Anwendungsbereich der Richtlinie. Es wäre nicht vertretbar, die Umsetzung zu verzögern, da das europäische Recht dann
unmittelbar greifen würde.
Ich möchte all denen ganz herzlich danken, die mit ihrer engagierten und sachkundigen Mitarbeit dazu beigetragen haben, dass wir jetzt so weit sind. Ich danke
den Berichterstattern der Fraktionen, Frau Kollegin
Eichstädt-Bohlig, Herrn Spanier, Herrn Götz und Herrn
Günther, sowie vielen anderen, insbesondere auch dem
Parlamentarischen Staatssekretär Großmann, die sich
stark engagiert haben. Schließlich danke ich auch dem
Team von Professor Söfker für seine Beharrlichkeit und
Sachkunde.
({0})
Wir haben sein Engagement in den letzten Wochen und
Monaten bei vielen Gesprächen erleben können und uns
darüber gefreut, dass er nicht aufgeben und so viele wie
möglich dabei haben wollte.
Zu danken ist auch den Sachverständigen, die in der
Anhörung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen im März sehr wertvolle Hinweise gegeben
haben. Nicht zuletzt ist auch den Städten, Gemeinden
und Landkreisen zu danken, die im Planspiel einen sehr
wichtigen Beitrag geleistet haben, sodass die Regelungen des EAG Bau im Hinblick auf ihre Bedeutung für
die Planungspraxis richtig eingeschätzt werden konnten.
Die Städte Bocholt, Bochum, Forst, Freising, Leipzig
und Reutlingen möchte ich ausdrücklich erwähnen.
Nicht zu vergessen sind auch die beiden Landkreise
Cloppenburg und Parchim, die sich hier mit engagiert
haben.
Meine Damen und Herren, viele der Anregungen haben wir aufgegriffen und umgesetzt. Es handelte sich
also nicht um Veranstaltungen, bei denen man zuhört,
obwohl man bereits weiß, was man will, sodass die Beitrage im Grunde genommen nicht beachtet werden. Es
ist erfreulich, dass die Regelungen zu der nach dem EURecht erforderlichen förmlichen Umweltprüfung im
EAG Bau begrüßt worden sind und dass dieses integrative Prinzip von allen mitgetragen wird. Wir haben sämtliche gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorgaben für
die Umweltprüfung in die bestehenden Regelungen über
die Aufstellung von Bauleitplänen integrieren können.
Die Planungspraxis wird durch diese neuen Regelungen erkennbar erleichtert. Das haben auch die kommunalen Spitzenverbände ausdrücklich begrüßt. Mehr
noch: Nach meiner Auffassung kann die förmliche Umweltprüfung zu einem selbstverständlichen Teil der Planung werden. Das verbessert die Planungsqualität insgesamt. Die Gemeinden haben bereits nach geltender
Rechtslage bei der Abwägung die Umweltauswirkungen
ihrer Planung zu berücksichtigen. Die Neuregelungen,
zu denen auch eine integrierte Umweltprüfung gehört,
geben hierfür ein systematisches und dem jeweiligen
Einzelfall angepasstes Planungsverfahren vor.
Dieses Konzept wird mit zusätzlichen Regelungen
zur Bestandskraft von Bauleitplänen verbunden. Das
heißt, die Rechts- und Investitionssicherheit wird deutlich erhöht. Die neuen Regelungen sind insgesamt zukunftsweisend und verdeutlichen, dass Ökonomie und
Ökologie keine Gegensätze sein müssen, sondern durchaus zwei Eckpunkte eines sachgerechten Ausgleichs sein
können.
Die Novellierung des Baugesetzbuchs beinhaltet
nicht nur Fragen des Europarechts. Das Städtebaurecht
soll fortentwickelt und zugleich an die Erfordernisse eines zeitgemäßen Stadtplanungsrechts angepasst werden.
Ich will einen wichtigen Eckpunkt herausstellen, der
in der Novelle aufgegriffen worden ist: Es geht um die
neuen Regelungen im besonderen Städtebaurecht. Dabei
handelt es sich - das wurde hier schon erwähnt - um Regelungen zum Stadtumbau, mit denen auf die Strukturveränderungen in Demographie und Wirtschaft reagiert
wird, und zur „Sozialen Stadt“. Hier werden in den
nächsten Jahren ganz sicher wichtige Aufgaben anstehen. Wir haben die gesetzlichen Rahmenbedingungen
dafür geschaffen, dass wir diese sinnvoll bewältigen
können.
Ich finde es besonders begrüßenswert, dass bei den
neuen Regelungen auf gemeinsame Konzeptionen und
auf einen Konsens zwischen den Kommunen und den Investoren gesetzt wurde. Dies sind die Voraussetzungen
dafür, dass relativ zügig sinnvolle Entscheidungen getroffen werden können.
Wir haben dabei auf bürokratisches Handeln und
Überregulierungen verzichtet. Vielmehr wollen wir den
Kommunen einen neuen Weg aufzeigen, der ihnen mehr
Flexibilität gibt und zugleich die Rechtssicherheit der
Investitionen auch in der schwierigen Lage des Stadtumbaus gewährleisten kann. Ich freue mich, dass dieser
Ansatz von den kommunalen Spitzenverbänden und der
Wohnungswirtschaft äußerst positiv aufgenommen worden ist.
Ich darf einfügen, dass die guten Erfahrungen beim
Stadtumbau Ost eingebracht werden konnten und nun
ganz Deutschland zugute kommen. Es kommt jetzt - das
ist schon angeklungen - in der Tat darauf an, dass wir für
den Stadtumbau West, der damit erleichtert wird, die nötigen Finanzmittel bereitstellen und uns nicht nur auf einige besondere Anlässe beschränken, wie es hier erwähnt worden ist.
Ein modernes Planungsrecht schaffen heißt nicht nur,
neue Regelungsbereiche zu eröffnen und diese in geltendes Recht einzuarbeiten, sondern auch, das geltende
Recht auf Vereinfachungen zu durchforsten. Das ist hier
geschehen. Wir konnten bei der Art und Weise der Umsetzung dieser Richtlinie in erheblichem Maße Bürokratie abbauen. Dass wir mit den neuen Regelungen
zum Stadtumbau und zur „Sozialen Stadt“ neue unbürokratische Wege ebnen konnten, ist ein zusätzlicher Vorteil.
Ich möchte noch Folgendes hervorheben: Die den
Grundstücksverkehr belastende Genehmigungspflicht
für Grundstücksteilungen entfällt. Ich begrüße das außerordentlich. Das Bodenordnungsverfahren wird durch
Einführung eines vereinfachten Umlegungsverfahrens
mit erheblichem Zeitgewinn erleichtert. Eine Reihe von
behördlichen Zustimmungs- und Genehmigungserfordernissen wird abgeschafft und damit werden Vorgaben
für die gemeindliche Entscheidung dereguliert. Für Gewerbe- und Handwerksbetriebe mit Standort im nicht beplanten Innenbereich wird eine erleichterte Möglichkeit
zum Ausbau und zur Erneuerung eingeführt. Schließlich
wird auch die Umnutzung von landwirtschaftlichen Gebäuden dadurch zusätzlich unterstützt, dass die bisherige
Stichtagsregelung durch eine dauerhafte Fristenregelung ersetzt wird.
Betonen möchte ich außerdem, dass wir für die Vorhaben im Außenbereich eine ausgewogene Lösung gefunden haben. Die Förderung der Landwirtschaft und
der erneuerbaren Energien auf der einen Seite und der
Schutz des Außenbereiches und die Sicherung einer geordneten Entwicklung auf der anderen Seite waren hier
zu einem Ausgleich zu bringen. Das ist in sinnvoller
Weise gelungen. Wir sind einen guten Schritt vorangekommen: einerseits mit den neuen gesetzlichen Instrumenten und andererseits mit den planungsrechtlichen
Möglichkeiten für die Gemeinden.
Ich bin dankbar, dass die heutigen Beratungen und
Beschlussfassungen auf Formulierungen basieren, die
im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
einvernehmlich gefasst worden sind. Das ist ein Prädikat
für das Bau- und Planungsrecht des Bundes und für die
neuen gesetzgeberischen Lösungen. Ich hoffe, dass ein
einvernehmlicher Beschluss des Gesetzes in diesem Hohen Hause auch den Bundesrat überzeugen kann, und
bitte Sie alle herzlich um Ihre Zustimmung.
({1})
Ich schließe diese ungewöhnlich harmonische Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpas-
sung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien. Die Ab-
geordnete Undine Kurth hat eine Erklärung zur
Abstimmung abgegeben.1)
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/2996, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
({0})
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/2996 empfiehlt der Ausschuss, den von
der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Baugesetzbuches - § 246 - auf
Drucksache 15/360 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen worden.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den von den Abgeordneten Christian Freiherr
von Stetten, Marita Sehn, Manfred Grund und weiteren
Abgeordneten eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Baugesetzbuchs auf Drucksache 15/513 - er be-
trifft kommunale Rechte bei Windkraftanlagen - eben-
falls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.
1) Anlage 2
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/2996, den Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Weitgehende Planungserleichterun-
gen bei Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtli-
nien“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Hermann Gröhe, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Die Berliner Afghanistankonferenz - eine
neue Chance für mehr Kohärenz und Koordi-
nierung beim Wiederaufbau
- Drucksachen 15/2578, 15/2991 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Pflug
Dr. Ludger Volmer
Harald Leibrecht
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fortsetzung des Engagements der Bundesregierung für den Wiederaufbau- und Stabilisierungsprozess in Afghanistan
- Drucksachen 15/2757, 15/3006 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({3})
Dr. Ludger Volmer
Harald Leibrecht
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich
keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit einer kurzen Vorbemerkung beginnen. Bedingt durch die Tatsache, dass sich die Debatte über Europa vorhin aus verständlichen Gründen zeitlich ausgedehnt hat, wird es schwierig für mich sein, jetzt die
ganze Debatte über hier zu sein, denn ich habe einen europäischen Gast, den ich schon um die Verschiebung des
Termins bitten musste. Ich hoffe vor allem bei der Opposition auf Verständnis. Staatsministerin Müller wird
mich hier vertreten.
In diesem Jahr kommen wir in Afghanistan mit den
hoffentlich stattfindenden Wahlen zum Staatspräsidenten
- es bestehen durchaus auch Möglichkeiten für Wahlen
zum Parlament - zum Abschluss des Petersbergprozesses. Das hat uns dazu gebracht, über einen Anschluss
nachzudenken. Denn der Abschluss jenes Prozesses, den
die Vereinten Nationen unter Lakhdar Brahimi gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern afghanischer
Gruppen auf dem Petersberg bei Bonn vor zwei Jahren
in Angriff genommen haben, um einen über 20-jährigen
Krieg und Bürgerkrieg zu beenden, kann unsere Anstrengungen nicht beenden.
Mit dem Petersbergprozess wurden die ersten entscheidenden Schritte getan, um nach dem Sturz der Taliban ein demokratisches und friedliches Afghanistan aufzubauen. Deutschland war jetzt mit der Berliner
Konferenz erneut Gastgeber einer wegweisenden internationalen Konferenz zur Zukunft Afghanistans. Aus
unserer Sicht war die Berliner Konferenz, die den Petersbergprozess - sprich: die politische Stabilisierung
und den Wiederaufbau - und die Geberkonferenz von
Tokio zusammenführen sollte, ein voller Erfolg. Die
finanziellen Zusagen haben unsere Erwartungen übertroffen. Von den Afghanen wurden sie als sehr beeindruckend wahrgenommen. Zugleich ist es gelungen, die
Verpflichtung der Staatengemeinschaft zu einer langfristigen Hilfe zum Wiederaufbau und einer langfristigen
Stabilisierung zu erreichen. Deswegen können wir mit
einem gewissen Stolz sagen, dass diese Konferenz ein
Erfolg war.
Gleichzeitig möchte ich mich bei den Berlinerinnen
und Berlinern, bei der Stadt Berlin und bei den Berliner
Behörden bedanken. Wir haben hervorragend mit ihnen
zusammengearbeitet und konnten das in dieser Woche
wieder bei der Antisemitismuskonferenz erleben. Dafür
möchte ich unseren Dank aussprechen.
({0})
Ich habe seinerzeit an der Afghanistankonferenz auf
dem Petersberg teilgenommen. Dass wir im Zeitplan
bleiben können, dass ein Verfassungsprozess, der sich
an der so genannten Loya Jirga, der Stämmeversammlung, orientiert und der sich auf die Zustimmung der Afghanen gründet, zustande gekommen ist und dass eine
gelungene Verbindung zwischen den vielfältigen Traditionen in Afghanistan - dazu zählen die Stammestraditionen wie auch der Islam - mit modernen Grundsätzen,
den Menschenrechten und der Achtung der Rolle von
Frauen und Mädchen, hergestellt werden konnte, hätte
ich damals nicht ohne Weiteres für möglich gehalten.
Das alles ist von afghanischer Seite in schwierigen Verhandlungen erreicht worden. Dass heute in Kabul ein beeindruckender Fortschritt beim Wiederaufbau erkennbar
ist, ist ebenso positiv zu vermerken wie die Sicherheit,
die in weiten Teilen des Landes gewährleistet ist.
Aber es gibt noch viel zu tun. Von einer selbsttragenden Stabilität ist Afghanistan noch weit entfernt. Wir
müssen feststellen, dass im Osten und Südosten des Landes die Gefahr durch die Taliban wie auch die Terrorgefahr nach wie vor sehr groß ist. Wir müssen auch feststellen, dass der Drogenproblematik - Präsident Karzai
hat auf der Berliner Konferenz darauf hingewiesen eine größere Aufmerksamkeit zuteil werden muss. Großbritannien hat hierbei die Führung übernommen.
In diesem Zusammenhang halte ich eine kluge Strategie für den Aufbau der Polizei für notwendig. Ich
möchte in diesem Zusammenhang dem Bundesinnenminister wie auch den beteiligten Polizeibeamten und Polizeibehörden der Länder ausdrücklich meinen Dank für
ihre Leistungen aussprechen. Was unsere Polizisten dort
mit relativ geringen Mitteln bewirken, findet große Anerkennung.
({1})
Es geht um eine kluge Strategie, die dem Erfordernis
Rechnung trägt, dass mit internationaler Hilfe und Begleitung die Polizeiarbeit vorangebracht und die afghanische Polizei wirksam ausgebildet werden müssen, damit
sie effektiv und handlungsfähig wird. Notwendig ist
auch die Kooperation der Nachbarländer, vor allem hinsichtlich der Handelswege.
Ich konnte mich in Kunduz davon überzeugen, dass
die Bauern auf Alternativen angewiesen sind. Wenn das
Elend der Familie die einzige Alternative zum Schlafmohnanbau darstellt, dann ist völlig klar - die Menschen sind keine Heiligen; wir würden genauso
handeln -, dass die Entscheidung zugunsten des Schlafmohnanbaus fällt, zumal dann, wenn der internationale
Handel versucht, mit den Bauern ins Geschäft zu kommen, und viel Geld im Spiel ist. Das heißt, es wird entscheidend darauf ankommen, die legale Wirtschaft - vor
allem die Landwirtschaft - voranzubringen.
In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen von den
Eindrücken erzählen, die ich in Kunduz gewonnen habe.
Kunduz ist in der Tat nicht mit Kabul zu vergleichen. Es
ist eine Provinzstadt, die in etwa einer größeren deutschen Kreisstadt entspricht. Die Infrastruktur hat extrem
gelitten; die Armut ist groß. Aber der Zustand der Landwirtschaft, der an den Feldern und Herden sichtbar wird,
macht deutlich, dass es sich nicht um eine arme Region
handelt. Auch wenn er nicht mit unserem Niveau vergleichbar ist, so ist doch auf den ersten Blick zu erkennen, dass er Anlass zu Hoffnungen gibt.
Der eingeschlagene Weg muss mit deutscher Aufbauhilfe fortgesetzt werden. Unsere Soldaten, Diplomaten, Entwicklungshelfer und Polizisten leisten mit der
Zusammenarbeit in dem Provincial Reconstruction
Team in Kunduz hervorragende Arbeit.
({2})
Anfangs herrschte im Bündnis durchaus Skepsis, ob
der von der Bundesrepublik Deutschland mit dem Wiederaufbauteam verfolgte Ansatz, alles aus einer Hand zu
leisten, die zivile und die militärische Stabilisierungskomponente zusammenzuführen, den Wiederaufbau und
die Sicherheit zusammenzubringen und vor allen Dingen
die politische Stabilisierung voranzubringen, tatsächlich
von den Teams geleistet werden kann. Aber man kann
feststellen, dass die Arbeit aller Beteiligten in Kunduz
hervorragend ist. Davon konnte ich mich selbst überzeugen.
({3})
Noch wichtiger ist - das sagten mir afghanische Gesprächspartner; ich hörte das auch in der Hauptstadt -,
dass mit der Anwesenheit des deutschen Wiederaufbauteams und der hervorragenden Arbeit aller beteiligten
Ressorts wieder Vertrauen entstanden ist und Investitionen in stärkerem Maße getätigt worden sind.
({4})
Dennoch ist es vor Ort gefährlich. Die Minengefahr
ist permanent präsent. Die Terrorgefahr ist alles andere
als zu unterschätzen. Insofern kommt es auf eine enge
und vertrauensvolle Kooperation an.
Wir finden es sehr gut und wichtig, dass die NATO
umfangreiche Aufgaben in Afghanistan übernommen
hat. Aber wir sollten bei allen Diskussionen über das,
was die NATO kann - das sage ich nicht, weil wir eine
innenpolitische Kontroverse haben -, nicht vergessen:
Eine Überforderung der NATO - wenn sie also in eine
Mission hineingezogen wird, die sie nicht leisten kann kann zu einer Vertiefung des transatlantischen Risses
führen. Frustrationen auf beiden Seiten des Atlantiks
wären die Konsequenz. Ich denke, die NATO hat jetzt in
Afghanistan eine dort sehr geachtete und geschätzte Stabilisierungsmission übernommen. Das bedeutet zusätzlichen Truppenbedarf, der vom Oberkommandierenden
der ISAF auch klar bejaht wird.
In Kabul ist bereits zu spüren - das ist eine positive
Nachricht -, dass der Wahlkampf in allen Köpfen ist und
dass die Positionierung im Hinblick auf die Wahlen eine
zentrale Rolle spielt, und zwar auch im Verhältnis der
Zentralregierung zu den Provinzgouverneuren. All das
ist Teil eines demokratischen Prozesses, wie wir ihn kennen. Auch bei uns sind Wahljahre besondere Jahre; denn
in solchen Jahren geht es um die demokratische Machtverteilung. Gleichzeitig wurde aber auch klar, wie wichtig es ist, dass die Registrierung und Erfassung der Wählerinnen und Wähler unter sicheren Bedingungen und in
einigermaßen geordneten Bahnen stattfindet und dass
die Demobilisierung der noch vorhandenen Privatarmeen der Warlords vorangeht. Genauso wichtig ist aber
auch die Reintegration derjenigen, die bis heute noch bewaffnet sind und entsprechend bezahlt werden. Wenn die
Reintegration nicht stattfände, würde die Demobilisierung für viele einen Schritt ins materielle Nichts
bedeuten. Für die betroffenen Familien wäre das eine
Tragödie. Für das Funktionieren des Demobilisierungsprozesses und der damit einhergehenden Entwaffnung
- das ist Bestandteil des Wahlprozesses - wird die Reintegration der Demobilisierten von ganz entscheidender
Bedeutung sein.
Das sind die konkreten Aufgaben, vor denen wir stehen. Dabei spielt die Ausdehnung der militärisch-zivilen Wiederaufbauteams in die Fläche natürlich eine
ganz entscheidende Rolle.
({5})
Ich freue mich, dass zunehmend andere europäische
Partner bereit sind, sich hier zu engagieren und mit uns
zusammenzuarbeiten.
Dass die NATO diese Aufgabe übernommen hat, ist
- das habe ich bereits gesagt - sehr wichtig. Ich finde, es
läuft positiv. In Afghanistan wird die NATO als eine Organisation gesehen, die wesentlich zu Frieden und Stabilität beiträgt. Wenn wir hier die entsprechenden Verstärkungen vornehmen, dann wird dieser Prozess, denke ich,
trotz aller Schwierigkeiten erfolgreich fortgesetzt werden können. Die internationale Gemeinschaft hat in
Berlin den Rahmen gesetzt. Ich habe damals Präsident
Karzai und auch anderen Angehörigen der afghanischen
Regierung gesagt: Jetzt kommt es auf die Afghanen an.
Die internationale Gemeinschaft hat sich verpflichtet.
Ich denke, das ist ein sehr gutes und wichtiges Signal.
Vergessen wir nicht: Wir sind in Afghanistan, um zu
helfen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dort keine
direkten nationalen Interessen zu vertreten. Wir sind dort
im Auftrag der Vereinten Nationen, um gemeinsam mit
unseren internationalen Partnern zu helfen, dass Afghanistan nach über 20 Jahren eines furchtbaren Krieges
und Bürgerkrieges wiederaufgebaut werden kann und
dass es eines Tages als demokratischer Staat auf eigenen
Beinen stehen kann. Das ist unser Auftrag und das liegt
auch in unserem Interesse. Wäre die internationale Gemeinschaft nicht in Afghanistan engagiert, dann würden
wir in kürzester Zeit die gleichen Tragödien wieder erleben; denn nur die Präsenz der internationalen Gemeinschaft hat die Perspektive auf eine andere Entwicklung
eröffnet.
Lassen Sie mich mit einem Dank an alle enden, die
dazu beigetragen haben, dass die Berliner Afghanistankonferenz erfolgreich wurde, und vor allen Dingen an
diejenigen, die in unserem Auftrag den gefahrvollen
Einsatz in Afghanistan leisten. Ich hoffe, dass sie alle gesund zurückkehren werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum
irgendwo außerhalb Europas hat sich Deutschland nach
dem Krieg materiell, politisch, militärisch und auch mit
so viel Risiko engagiert wie im weit entfernten und vermeintlich politisch unwichtigen Afghanistan.
Die Union hat diese völlig neuartige Mission trotz
mancher Kritikpunkte mitgetragen, weil sich auch unser
Land am weltweiten Kampf gegen eine ebenfalls völlig
neuartige Terrorbedrohung ernsthaft beteiligen muss
und weil sie der Überzeugung ist, dass eine so gefährliche Tätigkeit unserer Soldaten und unserer Aufbauhelfer
in Afghanistan die Rückendeckung des ganzen Bundestages braucht. Allerdings ist dies kein Blankoscheck von
uns an die Bundesregierung. Wir werden uns mit diesem
Einsatz und mit Teilaspekten dieses Einsatzes weiterhin
kritisch auseinander setzen, so wie wir es in dieser Debatte tun.
Herr Außenminister, die Berliner Afghanistankonferenz vor einigen Wochen war in der Tat ein Schritt nach
vorn. Die zugesagten 8,2 Milliarden US-Dollar sind, so
sie denn fließen, eine tragfähige Grundlage für den weiteren Aufbau des Landes und geben natürlich auch der
Politik in Afghanistan ein positives Signal vor den wichtigen Wahlen. Sowohl der Beitrag Deutschlands als auch
der Beitrag Europas sind beachtlich. Noch beachtlicher
ist allerdings der zugesagte Beitrag der Vereinigten Staaten.
Hoffnungsvoll stimmt auch vieles, was in Afghanistan passiert ist: viele kleine und größere Fortschritte vor
Ort. Vor dem Hintergrund der katastrophalen Situation
im September 2001 und der unglaublich schwierigen
Rahmenbedingungen, die damals vorherrschten, ist
wirklich vieles erreicht worden. Daher geht auch von
uns ein herzlicher Dank an die Bundeswehrsoldaten, an
unsere Entwicklungsfachleute und an die vielen Nichtregierungsorganisationen wie die Welthungerhilfe, die dafür mit verantwortlich sind!
({0})
Herr Außenminister, die rosigen Farben, mit denen
Sie die Lage in Afghanistan schildern - das haben Sie
auch bei Ihrem Besuch in Kabul getan -, erkennen wir
nicht. Die finanzielle Absicherung des Friedensprozesses ist nur eine der schwierigen Herausforderungen, die
zu meistern sind. Die Risiken sind nach wie vor enorm.
Die Zukunft Afghanistans und auch der Erfolg unserer
Mission hängen in Wirklichkeit an einem seidenen Faden.
Besonders besorgniserregend ist immer noch die instabile innere Lage. Nicht nur die Rekrutierungsversuche versprengter Taliban, sondern vor allem die Auseinandersetzung zwischen regionalen Machthabern und
der Zentralregierung sind ein ernsthaftes Problem, das
bisher niemand in den Griff bekommen hat.
Das Bekenntnis der Berliner Erklärung zu einer energischen Umsetzung der Demobilisierungs-, Abrüstungsund Reintegrationsprogramme kann nicht übertünchen,
dass die Autorität der Zentralregierung bisher nur
stockend im Land ausgedehnt wurde. Die Übergangsregierung von Präsident Karzai hat zwar durchgehalten; in vielen Provinzen herrschen aber nach wie vor
lokale Fürsten und Warlords mit ganz eigenen Vorstellungen von Recht, Demokratie und Macht. Einige haben
so blutige Hände, dass ihnen ein ehrlicher Politiker
kaum die Hand schütteln sollte.
Es ist nur ein erster und keineswegs großer Schritt,
wenn einige Provinzen 25 Millionen Dollar an die Zentralregierung überweisen. Das entspricht allenfalls dem
Inhalt ihrer Portokasse. Solange sich die Warlords mithilfe ihrer Militärmacht um Zentralregierung und Demokratie nicht zu scheren brauchen, ist Afghanistans Transformationsprozess auf Sand gebaut. Deshalb müssen der
Aufbau einer schlagkräftigen afghanischen Armee beschleunigt und die Demobilisierung endlich in Gang gesetzt werden. Wenn man sich anschaut, welche Waffen
da abgegeben werden, dann erkennt man: Auch diese
Demobilisierung ist bis jetzt nur eine Worthülse. In diesem Bereich muss Deutschland der Führungsrolle, die es
in Afghanistan übernommen hat, stärker gerecht werden.
Das gilt auch für ein weiteres großes Problem - Sie haben es angesprochen -, nämlich für den Kampf gegen
den Drogenanbau. Wir wissen, dass Afghanistan den
Umsatz nach der Rekordernte vom letzten Jahr auch
heuer steigern wird. Man bedenke all die schrecklichen
Folgen, zum Beispiel die Drogentoten auch in unserem
Lande. Die Drogenbekämpfung ist bisher nur wenig erfolgreich. Diese Frage richtet sich nicht nur, aber auch an
die federführenden Briten. Es ist völlig unverständlich,
warum die Briten erst jetzt mit der afghanischen Regierung eine Drogenbekämpfungsstrategie ausarbeiten.
Ein Desaster ist zum Beispiel auch die Politik des
Welternährungsprogramms. Trotz zweier Rekordernten bei Weizen hält das Welternährungsprogramm an seiner Politik fest, massive Nahrungsmittelhilfe mit importiertem Getreide zu leisten,
({1})
mit der Folge, dass der Getreidepreis für die afghanischen Bauern in den Keller geht. Auch das ist etwas, was
wir uns als Führungsnation - so sage ich jetzt einmal eigentlich nicht gefallen lassen dürften.
({2})
Insoweit die Verantwortung nur auf die Briten zu
schieben, das ist meiner Ansicht nach nicht die richtige
Politik. Die Bundesrepublik als Führungsnation in Afghanistan muss wirklich energisch auf Fortschritte drängen. Wir müssen auch unsere eigenen Expertisen stärker
einbringen, zum Beispiel in der Politik für die ländliche
Entwicklung, zur Substitution des Drogenanbaus und
zur Polizeiausbildung, die natürlich mehr sein muss als
eine Ausbildung zur Verkehrsregelung.
Der Wiederaufbau Afghanistans ist ein Wettlauf mit
der Zeit. Die Menschen müssen spüren, dass sich Demokratie, Rechtsstaat und Achtung der Menschenrechte
mehr auszahlen als die Hinwendung zu brutalen Ideologien und Banditentum. Man muss sehen, dass da auch
noch viel Sand im eigenen Getriebe ist. Die Koordinierung der Unzahl multilateraler, bilateraler und internationaler Geber ist nach wie vor ungenügend. Hierbei spielt
leider auch die Weltbank eine unrühmliche Rolle. Wir
sind der drittgrößte Geber der Weltbank und deswegen
ist es natürlich auch unsere Aufgabe, Frau Ministerin
Wieczorek-Zeul, dort etwas Ordnung ins Chaos zu bringen.
Auch die Abstimmung der eigenen Akteure ist unbefriedigend. Die Unstimmigkeiten zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Entwicklungsministerium sind
ebenso offenkundig wie die zwischen dem Entwicklungsministerium und dem Verteidigungsministerium.
Was höchste Regierungsvertreter im Entwicklungsausschuss dazu erst vor zwei Wochen in aller Offenheit gesagt haben, Herr Löning, war kurz, knapp, eindeutig und
verletzend.
Nun ist öffentlich geworden, dass sich Deutschland
zusammen mit den Niederlanden an einem zweiten
Team in der Provinz Kunduz beteiligt. Das bedeutet eine
erhebliche Ausweitung des Risikos; denn damit agiert
die Bundeswehr wirklich im Zentrum des afghanischen
Drogenanbaus und ist noch stärker der Gefahr ausgesetzt, entweder in Auseinandersetzungen zu geraten oder
zum Komplizen der Drogenbarone zu werden.
({3})
Gerade in diesem Zusammenhang muss die Bundesregierung deutlich machen, wie auch in Bagdashan die
Drogenbekämpfung in Zusammenarbeit mit der afghanischen Polizei, den Briten und den Amerikanern aussehen
soll.
Besonders unverständlich in diesem Zusammenhang
ist auch die bisher betriebene Geheimniskrämerei. Warum muss der Bundestag eine so wichtige Entscheidung
wie die über die Erweiterung in diese Gegend eigentlich
aus der Zeitung erfahren? Ein solches intransparentes
Handeln ist meiner Ansicht nach kontraproduktiv und
schadet dem gesamten Engagement.
Noch etwas ist für den langfristigen Erfolg der internationalen Politik für Afghanistan wichtig - das betrifft
vor allem Sie, Herr Außenminister -, nämlich die stärkere Einbeziehung der Nachbarn des Landes. Auch dies
wurde auf der Berliner Konferenz festgestellt, ist aber
bisher nur ungenügend geschehen. Pakistan zum Beispiel wird zwar politisch wieder einmal hofiert; aber eine
echte Aussicht auf die Lösung der schwierigen Probleme
Pakistans an den Außengrenzen, in der Innenpolitik und
in der Wirtschaftspolitik gibt es nicht,
({4})
und zwar weder durch eine effiziente Hilfe noch durch
ein energisches Drängen auf überfällige Reformen. Das
ist ebenfalls eine Achillesferse, was die weitere Entwicklung Afghanistans angeht.
Überfällig ist auch eine strategische Allianz mit dem
Iran zur Drogenbekämpfung. Dies ist bisher versäumt
worden, obwohl gerade Deutschland in Teheran eine
gute Verhandlungsposition hätte.
Schließlich gilt, Herr Außenminister: Solange die russischen Truppen, zum Beispiel in Tadschikistan und in
Usbekistan, den Handel mit Drogen aus Afghanistan
munter weiter befördern, haben auch Sie ihre Hausaufgaben, zum Beispiel in Moskau, nicht gemacht.
({5})
- Das ist wirklich ein Engpass Ihrer Politik. Sie führt
nämlich dazu, dass die Zahl der Drogentoten auch im eigenen Land nicht abnimmt.
Der Aufbau eines friedlichen und stabilen Afghanistans lässt sich nicht isoliert von den Problemen des
Nahen und Mittleren Ostens insgesamt angehen. Hier
müssen wir, wie ich glaube, auch bei dem anstehenden
G-8-Gipfel eine Initiative für einen neuen Brückenschlag gegenüber den islamischen Ländern starten.
Herr Kollege, Ihre Redezeit.
Wir müssen alles daransetzen, dass unser hoher Einsatz in Afghanistan und der unserer Partner nicht umsonst ist und zu einem guten Ende geführt wird. Dazu
fordern wir von der Bundesregierung mehr Konsequenz,
mehr Kohärenz und mehr internationale Führungsstärke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Johannes Pflug, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem der Kollege Ruck jetzt zum Schluss ja
doch noch versucht hat, irgendwelche Missstände zu finden, für die man der Bundesregierung die Verantwortung
anlasten könnte, lassen Sie mich festhalten, dass man,
wenn man sich die zwei Anträge und die zwei Entschließungsanträge, die dieser Debatte zugrunde liegen,
anschaut, sehr schnell zu der Erkenntnis kommt, Herr
Kollege Ruck, dass es eigentlich keine großen substanziellen Differenzen in der Beurteilung der Afghanistanpolitik gibt. Sie üben nun an der einen oder anderen
Stelle Kritik. Es ist ja auch die Aufgabe der Opposition,
Kritik zu üben. Nun geht es um die Frage, wie man sie
beurteilt.
({0})
- Sie sagen, die Kritik sei berechtigt. Vielleicht gebe ich
Ihnen bezüglich des Informationsflusses Recht. Diesen
Punkt hat ja auch der Kollege Ruck schon erwähnt. An
anderer Stelle halte ich sie aber nicht für berechtigt.
Gerade vor dem Hintergrund der Konferenz, die hier
am 31. März und 1. April dieses Jahres stattgefunden
hat, ist es schon richtig, zu fragen, ob wir mit den Annahmen, Beurteilungen und Forderungen, die in den Anträgen stehen, richtig gelegen haben oder ob wir sie nach
dieser Konferenz korrigieren müssen.
Herr Kollege Ruck, auch Sie haben in Ihrer Rede festgestellt, dass diese Konferenz einen beachtlichen Schritt
in die richtige Richtung dargestellt hat. Ich würde es so
formulieren: Diese Konferenz - so beurteilen sie ja auch
internationale Beobachter - ist durchaus ein beachtlicher
Erfolg gewesen. Ich persönlich hatte Gelegenheit, an einer dieser so genannten Vorfeldkonferenzen teilzunehmen, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung und von Swiss
Peace ausgerichtet wurde und an der Akteure der afghanischen Zivilgesellschaft teilgenommen haben. Aufgrund der dort abgegebenen, doch sehr authentischen
Diskussionsbeiträge und Stellungnahmen dieser Akteure
habe ich einen Einblick in die aktuelle politische Situation gewonnen. Auch wenn mein Eindruck sicherlich
nicht gerade ungetrübt optimistisch ist, komme ich zu
dem Ergebnis - so habe ich das auch im Ausschuss festgehalten -: Es war nicht falsch und bleibt deshalb richtig, dass sich Deutschland an ISAF mit zurzeit fast
2 000 Mann beteiligt. Damit sind wir vor Kanada mit
rund 1 750 Mann der größte Truppensteller.
Bei Besuchen in afghanischen Nachbarstaaten und in
Gesprächen mit Vertretern dieser Staaten, auch hier in
Berlin, habe ich immer wieder gehört, dass es zur deutschen Beteiligung und zum Engagement der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan eigentlich
überhaupt keine Alternative gibt. Alle haben uns gesagt:
Ihr müsst dort bleiben; es wäre fatal, wenn ihr an einen
Rückzug denken oder euch tatsächlich zurückziehen
würdet. Darüber hinaus konnte ich mich bei einem Kurzbesuch in Afghanistan im letzten Jahr vom guten Ruf der
deutschen Truppen und der deutschen Aufbauhelfer vor
Ort überzeugen. Deshalb ist es richtig, dass die zentrale
Botschaft der Berliner Konferenz lautet: Der weitere
Aufbau Afghanistans bleibt auch nach dem Ende des im
Dezember 2001 auf dem Petersberg definierten Prozesses eine gemeinsame Aufgabe von internationaler Gemeinschaft und Afghanistan unter dem Dach der Vereinten Nationen.
({1})
Es wurden ja verschiedene Papiere für diese Konferenz erarbeitet. Der von der afghanischen Regierung in
diesem Rahmen aufgestellte Arbeitsplan zeigt, wie sich
Afghanistan in den nächsten zwei Jahren entwickeln
soll. Dies ist auch Gegenstand des Abschlusskommuniqués, der so genannten Berlin Declaration.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, Herr Kollege Ruck,
auch etwas zum Thema Bekämpfung des Drogenanbaus und des Drogenhandels in Afghanistan sowie
natürlich auch zum Transfer von Drogen aus Afghanistan sagen. Der so genannte Annex 3 zur Berlin Declaration ist ein Abkommen zwischen Afghanistan und seinen Nachbarn zur Bekämpfung des Drogenhandels, das
Afghanistan nach Jahren der Isolation allmählich wieder
eine lebendige regionale Zusammenarbeit mit seinen
Nachbarstaaten ermöglichen soll.
Aber wir sollten uns keine Illusionen machen und
keine unmöglichen Forderungen stellen. Afghanistan exportiert heute wieder jährlich mehr als 3 600 Tonnen
Rohopium; manche Schätzungen gehen sogar davon
aus, dass es möglicherweise bis zu 5 000 Tonnen sind.
Wer weiß, dass ein afghanischer Bauer, der mit alternativer landwirtschaftlicher Nutzung das Niveau seiner noch
immer kümmerlichen Einkünfte aus dem Mohnanbau erreichen wollte, mindestens die zehnfache Anbaufläche
benötigen würde und natürlich auch entsprechend bearbeiten müsste, dem muss klar sein, dass die Bekämpfung
des Drogenanbaus ein sehr mühseliges Geschäft sein
wird, ganz abgesehen von der dauerhaften Nötigung und
Gewaltanwendung durch Drogenbosse gegenüber solchen Landwirten, die tatsächlich aussteigen wollen.
Aber das gilt ja nicht nur für Afghanistan, sondern auch
für Kolumbien und andere Länder. Trotzdem käme niemand auf die Idee, die Bundesregierung oder Minister
Fischer für die Situation in Kolumbien verantwortlich zu
machen.
({2})
Wir haben nicht den geringsten Zweifel, dass Präsident Karzai den Drogenanbau und den Drogenhandel
tatsächlich bekämpfen will. Aber wir wissen natürlich
auch, dass er - da gebe ich Ihnen Recht, Herr Kollege
Ruck - sehr mächtige Gegner in den Provinzen bis hinein in seine eigene Regierung hat. Diese Erkenntnis
konnte ich durch meine Teilnahme an der NGO-Konferenz in Berlin persönlich gewinnen.
Weitere wichtige Erkenntnisse konnte ich auf besagter Konferenz zum Thema Wahlen und Entwaffnung der
Milizen und Warlord-Truppen gewinnen. Bereits im Vorfeld der Berlin-Konferenz hatte sich Afghanistan auf einen Wahltermin im September 2004 festgelegt, und zwar
für die Wahlen sowohl des Präsidenten als auch des Unterhauses. Das Oberhaus soll bekanntlich im nächsten
Jahr gewählt werden. Voraussetzung für die Durchführung möglichst ungestörter Wahlen war eine Entscheidung des afghanischen Kabinetts für Grundzüge eines
Programms zur Entwaffnung der Milizen. Im Gegenzug konnte die Finanzierung der Wahlen weitgehend
sichergestellt werden. Dazu leistet Deutschland mit
2,6 Millionen Dollar von insgesamt 67,9 Millionen Dollar einen beachtlichen Beitrag.
Es ist allerdings wichtig - das haben alle Konferenzteilnehmer gesagt -, dass vorher die Entwaffnung der
Milizen stattfindet, weil die Menschen natürlich Angst
haben, genötigt oder in eine bestimmte Richtung beeinflusst zu werden. Das Problem ist, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem wir darüber gesprochen haben, gerade
einmal knapp 1,8 Millionen Wähler registriert waren,
davon knapp 30 Prozent Frauen; einige sagten, es seien
sogar nur 20 Prozent. Die afghanische Regierung hat
verkündet, dass sie bis Mai eine Registrierung von
8 Millionen Wählern erreichen wolle. Dabei ist natürlich
dringend erforderlich, dass der Anteil der Frauen maßgeblich gesteigert wird. Wir hoffen sehr, dass das durch
den intensiven Einsatz von internationalen Wahlhelfern
und die Einrichtung von rund 3 200 Wahlbüros möglich
sein wird.
In der Konferenz erfuhren Enduring Freedom und
ISAF eine durchgängige Würdigung. Durch die Teilnahme der NATO-Geberstaaten wurde die herausragende Rolle der NATO deutlich, die sich in der BerlinErklärung zudem zur Einrichtung fünf zusätzlicher so
genannter Provinzwiederaufbauteams bis Sommer dieses Jahres verpflichtet hat. Die zentrale Aufgabe wird
die Umsetzung des PRT-Konzeptes im Rahmen des
ISAF-Mandates sein, um mehr Stabilität und Sicherheit
in den Provinzen zu schaffen. Dies gilt insbesondere für
die Stabilisierung der paschtunischen Gebiete in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion.
Dass die Sicherheitslage nach wie vor problematisch
ist, zeigen die aktuellen Ereignisse im Land nach der
Berlin-Konferenz. Ich will nur zwei nennen: Am
21. April wurde in Spin Boldak, einer Grenzstadt zu Pakistan, ein Anschlag auf den Gouverneur der Südprovinz
Kandahar verübt. Afghanischen Angaben zufolge entging Präsident Karzai am 25. April in Kandahar Stadt einem Anschlag.
In der Berlin-Erklärung wurde die Zusage erneuert,
bei der Durchführung der Wahlen im September zu helfen. Die militärischen Anstrengungen müssen durch den
Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in Afghanistan
ergänzt werden. Bei dem koordinierten Wahlbeobachtungsprozess sollte Deutschland im Konzert der Europäischen Union und der Vereinten Nationen eine engagierte Rolle übernehmen.
Zum Schluss bleiben noch die Geberzusagen zu erwähnen. Die internationale Gebergemeinde hat auf der
Konferenz Zusagen für Afghanistan von insgesamt
8,2 Milliarden US-Dollar für die nächsten drei Jahre,
also von 2004 bis 2006, gemacht, davon allein 4,4 Milliarden Dollar für das eben begonnene afghanische
Haushaltsjahr. Auch wenn die afghanische Regierung
damit vielleicht nicht ganz zufrieden war, glaube ich,
dass eine beachtliche Summe zustande gekommen ist.
Das sollte man durchaus würdigen.
({3})
Auch der deutsche Anteil mit 320 Millionen Dollar bis
2006, also jährlich rund 80 Millionen Dollar, ist beachtlich.
Das von der afghanischen Regierung aufgelegte Investitionsprogramm, für das für einen Zeitraum von
sieben Jahren ein Bedarf an ausländischer Hilfe in Höhe
von 28 Milliarden Dollar errechnet wurde, ist damit nach
unserer Meinung für das laufende afghanische Haushaltsjahr bereits komplett finanziert.
Sämtliche finanziellen Anstrengungen werden langfristig natürlich nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, ein funktionierendes demokratisches Staatswesen
in Afghanistan aufzubauen. Dazu gehört der Aufbau
einer afghanischen Polizei - an dem sind wir maßgeblich
beteiligt -, die einem funktionierenden Rechtssystem zusätzlich Geltung verschafft. Nur dann werden die Menschen ihre verfassungsmäßigen Rechte in Anspruch nehmen können.
Lassen Sie mich zum Schluss hervorheben, dass sich
Deutschland an internationalen Einsätzen nur dann beteiligt, wenn sie eine klare völkerrechtliche Grundlage
haben. Dies war im Irak nicht der Fall. Deshalb haben
wir uns dort nicht beteiligt. Das war richtig und darauf
sind wir stolz. In Afghanistan haben wir eine klare völkerrechtliche Situation. Deshalb werden wir uns auf der
Grundlage ständigen Überprüfens der Fortschritte des
Staatsaufbaus und der Demokratisierung Afghanistans
dort auch weiterhin engagieren.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Markus Löning, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
müssen leider feststellen: Afghanistan wird uns in diesem Haus zweifelsohne noch eine ganze Reihe von Jahren beschäftigen. Es ist bei weitem nicht so, dass die Erwartungen, die teilweise am Anfang mit Euphorie
geäußert wurden, schon Realität geworden sind.
Die Bundesregierung lässt sich für die Ergebnisse der
Berliner Afghanistankonferenz feiern. Ich will die finanziellen Beiträge, die international eingeworben worden
sind, zwar nicht kleinreden. Aber man muss eines ganz
klar sagen: Ein echtes Aufbruchsignal für Afghanistan,
das man sich erhofft hat, hat es leider nicht gegeben.
({0})
Herr Karzai macht international eine sehr gute Figur.
Ich bin davon überzeugt, dass er das, was er sagt, ernsthaft meint. Aber wir müssen eben auch zur Kenntnis
nehmen, dass Herr Karzai noch weit davon entfernt ist,
Kontrolle über Afghanistan auszuüben. Die Lage in
Afghanistan ist - wie es in der Bundeswehr so schön
heißt - mehr oder weniger ruhig, meistens weniger ruhig. Vor allem aber ist die Lage nicht stabil. Die Macht
der Zentralregierung reicht kaum über die Stadtgrenzen
von Kabul hinaus.
Die Warlords sind nach wie vor in ihren Gebieten tätig. Vor allem an der Grenze zu Pakistan, also im Südosten des Landes, sind die Taliban weiter aktiv. Dort gibt
es lebendige al-Qaida-Strukturen. Es ist also bei weitem
noch nicht so, dass man sagen könnte: Die Situation in
Afghanistan ist befriedet.
Die Wirtschaft in Afghanistan, die für einen friedlichen Neuanfang natürlich essenziell ist und die dafür
sorgen könnte, dass die Leute wieder ein eigenes Einkommen haben, besteht zurzeit - das wurde bereits angesprochen - im Wesentlichen aus Drogengeschäften.
Die Einnahmen aus diesen Drogengeschäften sind die
wichtigste Machtbasis der Warlords.
Der Herr Außenminister hat hier gesagt, dass da, wo
die Deutschen tätig sind, Investitionen getätigt würden.
In Bezug auf Hermes-Bürgschaften wird das ganz anders gesehen. Es wird ganz klar gesagt: Für Afghanistan
wird es keine entsprechenden Bürgschaften geben; denn
das ist mit das gefährlichste und instabilste Land, das es
überhaupt gibt.
Die Wahlen im September sind verlegt worden. Wir
haben schon über die Zweifel gehört, ob es auch nur
annähernd gelingen wird, die Wähler zu registrieren.
Selbst wenn es gelingen würde, die Wähler zu registrieren und die Wahlen durchzuführen, stellt sich die Frage,
ob die Ergebnisse der Wahlen in den Provinzen von den
Warlords und den Gouverneuren überhaupt anerkannt
würden. Das ist eine ganz entscheidende Frage, wenn
wir hier einen Fortschritt erzielen wollen.
Insgesamt ist dies ein wesentlich finstereres Bild als
das, das der Herr Außenminister zu vermitteln versucht
hat. Es ist sein Recht und vermutlich auch seine Pflicht,
das Ganze in rosigen Farben darzustellen. Ich glaube, es
ist für uns als Opposition eine wichtige Aufgabe, die
Realität in dieses Haus zu bringen und darauf hinzuweisen, dass die Lage bei weitem nicht so schön ist, wie er
sie zu verkaufen versuchte.
({1})
Wir haben von Anfang an bezweifelt, ob das Konzept
der Stabilitätsinseln, das die Bundesregierung in Kunduz mit den PRTs eingeführt hat, funktioniert. Wir haben
als einzige Fraktion in diesem Haus den Kunduz-Mandatsantrag abgelehnt, nicht deshalb, weil wir der Meinung sind, dass wir Afghanistan nicht stabilisieren sollten, sondern deshalb, weil wir der Meinung sind, dass es
so nicht klappen kann. Es reicht nicht, ein kleines Team
nach Kunduz zu schicken. Wir können Afghanistan nicht
stabilisieren, wenn wir nicht den Rückhalt unserer europäischen Partner haben.
({2})
Dieses Konzept wird nicht funktionieren, solange unsere
europäischen Partner nicht wirklich dahinter stehen und
sich aktiv an der Umsetzung beteiligen. Ich vermisse,
dass der Bundesaußenminister einmal klar sagt, was er
im Allgemeinen Rat getan hat, um die anderen Europäer
von seiner Position zu überzeugen.
({3})
Wir haben auch die Sorge, dass unsere Soldaten in
Kunduz auf eine Mission Impossible geschickt werden.
Zum einen wollen wir natürlich Drogenanbau und Drogenhandel bekämpfen; zum anderen ist unsere Truppe
aber nicht dazu in der Lage. Sie würde ihre eigene Sicherheit im höchsten Maße gefährden, wenn sie anfangen würde, in den Kampf gegen die Drogen einzugreifen.
Ich muss ehrlich sagen: Ich halte manche Forderung
aus der Bundesregierung, die da lautet, dass wir aktiver
werden müssen, für höchst problematisch. Es ist außerordentlich wichtig, den Drogenanbau zu bekämpfen.
Aber wir müssen sehen, ob wir in der Lage sind, unsere
Truppen auch dann zu schützen, wenn sie aktiv in diesen
Kampf eingreifen würden oder wenn dieser Kampf um
unsere Truppen herum stattfinden würde.
Deswegen bin ich sehr skeptisch, was das geplante,
neue PRT angeht, das Herr Struck angekündigt und der
Bundeskanzler mit den Niederländern vereinbart hat,
wobei Teile der Bundesregierung - wohl auch der Außenminister - und auch die Niederländer dies erst aus
der Zeitung erfahren haben. Herr Fischer war ja in Kabul
und hat gesagt: Keine neuen Truppen! Er war noch nicht
einmal aus Kabul zurückgekehrt, da sagte der Kanzler
schon: Es gibt neue Truppen. - Da scheint die Abstimmung nicht zu funktionieren.
({4})
- Richtig. Aber die Zahl der Soldaten soll aufgestockt
werden, Herr Nachtwei. Selbstverständlich sind das neue
Truppen.
({5})
Herr Fischer hat gesagt, es gebe keine neuen Truppen.
Ich glaube, dass das weitere PRT in Faizabad keine
gute Idee ist. Ich denke, wir sollten mit unseren europäischen Partnern und Nachbarn reden, wo ein Einsatz Sinn
macht. In dieser Gegend, einer reinen Opiumgegend,
macht ein Einsatz keinen Sinn. Es ist sehr viel wichtiger,
andere Gegenden zu stabilisieren. Da können wir zusammen mit unseren Nachbarn sehr viel mehr erreichen.
({6})
- Im Süden zum Beispiel könnten wir weit mehr erreichen.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes ausführen:
Herr Nachtwei, es scheint mir, dass die Bundesregierung
der Diskussion im Bundestag offensichtlich ausweichen
will.
({8})
Warum sucht sie sich denn wieder die Region aus, die
von unserem Mandat bereits abgedeckt ist? Die Truppe
sollte dahin gehen, wo es sinnvoll ist. Die Bundesregierung sollte sich dieser Diskussion in diesem Hause stellen und dann werden wir weitersehen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zu Beginn meiner Rede unseren Freund, den
afghanischen Wiederaufbauminister, Herrn Farhang,
der auf der Ehrentribüne Platz genommen hat, sehr herzlich bei uns begrüßen.
({0})
Er hat lange in unserem Land gelebt und ist somit ein enges Bindeglied zwischen unseren Völkern. Wir wünschen ihm und seiner Regierung sowie den Menschen in
Afghanistan den Erfolg, den sie so dringlich benötigen.
({1})
Wir reden über die Folgen der Afghanistankonferenz
und die Entwicklung in Afghanistan in den nächsten
Wochen und Monaten.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es im Umfeld der
Konferenz auch um viele andere Facetten ging. So haben
wir zum Beispiel die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und mit Vertretern der Wirtschaft auf einer Investorenkonferenz wirtschaftliche Investitionen in Afghanistan diskutiert. Auch gab es die politische Runde
der Afghanistankonferenz. Im Anschluss daran fand vor
wenigen Tagen in Kabul - der Kollege Pflug hat das angesprochen - das so genannte Development Forum statt,
auf dem alle afghanischen Ministerien - Herr Farhang
weiß, wovon die Rede ist - die Programme vorgestellt
haben, mit denen sie die Berlin-Beschlüsse umsetzen
wollen. Das finde ich wegweisend, denn die Schritte in
dem Arbeitsplan, die auch die Eigenständigkeit der afghanischen Seite deutlich machen, beziehen sich auf die
Punkte, die wir hier gemeinsam diskutiert haben: die
freien Wahlen unter der neuen Verfassung.
Ich halte die vorliegende Verfassung für einen großartigen Erfolg und auch, dass aufgrund des Engagements
der afghanischen Frauen die Frauenrechte in ihr verankert worden sind. Das ist außerordentlich wichtig.
({2})
Die Verschiebung des Termins für die Wahlen war
auch deshalb richtig, weil zuvor die Registrierung der
Wählerinnen und Wähler erfolgen muss. Das aber dauert
seine Zeit. Ich habe mit Herrn Farhang und auch mit Finanzminister Ghani über diese Fragen gesprochen. Derzeit begeben sich Mitarbeiter in alle Regionen Afghanistans, auch in ländliche Regionen, um die Registrierung
vorzunehmen. Natürlich ist die Registrierung von
Frauen besonders wichtig.
({3})
Darüber hinaus geht es um die Zusage der Organisationsfreiheit, der Redefreiheit, der Pressefreiheit und der
Gleichberechtigung von Frauen. Ich appelliere dringend
an die afghanische Regierung, bei dem in den nächsten
Tagen zu verabschiedenden Wahlgesetz sicherzustellen,
dass die geplante Repräsentation von Frauen im künftigen Parlament verwirklicht wird. Es ist extrem wichtig,
welches Wahlgesetz zugrunde gelegt wird.
In Berlin und auch im Rahmen der Aktionsprogramme ist eine unabhängige Überprüfung der Menschenrechtssituation zugesagt worden. Hinzu kommen
die Demobilisierung und Wiedereingliederung der bewaffneten Kräfte in die Gesellschaft. Das hört sich einfach an. Aber wer auf der Afghanistankonferenz war,
weiß - ich nenne insbesondere die verantwortlichen Geberländer wie zum Beispiel Japan -, welche praktischen
Probleme dabei auftreten und welche Versöhnungs- und
Vermittlungsprozesse erforderlich sind.
Außerdem geht es um den Aufbau einer effektiven Zivilverwaltung und eines zukunftsweisenden Steuer- und
Finanzsystems. An der Stelle möchte ich ein ausdrückliches Dankeschön an Finanzminister Ghani richten, der
mit großem Engagement dafür sorgt, dass ein transparentes System aufgebaut wird, das die Korruption deutlich eindämmt.
({4})
Zudem geht es um den Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft und um die Förderung des privaten Wirtschaftssektors.
Afghanistan war in den letzten Jahren weltweit für die
meisten der Inbegriff von Unterdrückung, Fremdherrschaft und Repression. Afghanistan soll in Zukunft - ich
glaube, das ist unser aller Wunsch - für Versöhnung,
Selbstverantwortung, Menschenrechte, Sicherheit und
Freiheit stehen. Darum geht es auch bei unseren Beiträgen zum Wiederaufbau.
({5})
Es sind zuvor in der Debatte schon Zahlen genannt
worden. Ich will ausdrücklich sagen: Die Bundesregierung hat bei der Konferenz ein Zeichen für unser anhaltendes Engagement gesetzt. Unser Ministerium wird in
den Jahren 2005 bis 2008 für den Wiederaufbau rund
320 Millionen Euro bereitstellen. Das macht unser nachhaltiges und dauerhaftes Engagement deutlich.
Ich möchte noch einmal unsere Schwerpunkte nennen: Es geht darum, im Vorfeld der geplanten Wahlen
die Entwaffnung der Milizen sicherzustellen. Marodierenden Banden darf es nicht gelingen, ein Klima der Repression und der Unsicherheit zu verbreiten. Deshalb ist
die Entwaffnung so wichtig.
({6})
Ich bin aber überzeugt: Afghanistan wird Wahlen abhalten und sich nicht von Wahlen abhalten lassen. Eine lebendige Demokratie braucht Wahlgesetze, die unterschiedliche Parteien zulassen.
Demokratie in Afghanistan - ich habe es schon gesagt - heißt nicht zuletzt auch, immer wieder gegen die
Diskriminierung von Frauen anzugehen. Wir dürfen es
nicht zulassen, dass immer noch etwa 90 Prozent der
Frauen Analphabetinnen sind, jährlich 16 000 werdende
Mütter bei der Geburt sterben und vor allem die Frauen
in vielen Regionen von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen werden. Deshalb unterstützen wir alle in der
afghanischen Regierung und zumal die engagierten
Frauen, die dazu beitragen, dieser Situation ein Ende zu
bereiten und eine gute Entwicklung für die Frauen einzuleiten.
({7})
Der Drogenanbau ist in der Diskussion immer wieder angeführt worden. Ich denke, man sollte auf das
Wort Aga Khans - seine Stiftung ist eine hoch angesehene islamische Entwicklungsinstitution - hören, der an
der Konferenz teilgenommen hat. Er hat uns alle ermahnt, dass der Kampf gegen die Drogen eine langfristige und nachhaltige Aufgabe ist. Notwendig ist aus
unserer Sicht die Kombination verschiedener Vorgehensweisen. Wirtschaftliche Investitionen bilden ein
Bollwerk gegen die Abhängigkeit von Drogenhandel
und Drogenanbau. Es müssen also Einkommensalternativen geboten werden. Darüber hinaus müssen Institutionen wie Grenzpolizei und Polizei ihren Beitrag leisten,
Zur Bekämpfung des Drogenanbaus kann auch die Zerstörung von Mohnfeldern gehören.
Ich will dazu aber noch weitere Ausführungen machen.
Erstens. Das Entwicklungsministerium und die Bundesregierung sind stark in der Frage von Einkommensalternativen engagiert. Wir finanzieren und unterstützen
die AISA, eine Investitionsagentur, die für afghanische,
aber auch ausländische Investoren eine Anlaufstelle in
Afghanistan darstellt. Es ist wichtig, dass es eine und
nicht viele verschiedene gibt. Wir bieten den Menschen
darüber hinaus wirtschaftliche Alternativen. Das tun wir,
indem wir den ländlichen Raum entwickeln helfen.
Zweitens - das ist bereits mehrfach erwähnt worden -: Die afghanische Polizei muss weiter für den
Kampf gegen den illegalen Drogenhandel ausgebildet
werden.
Drittens - auch das muss man zur Kenntnis nehmen -: Es gibt die Vereinbarung von Berlin, in der Afghanistan und seine Nachbarstaaten beschlossen haben,
den grenzüberschreitenden Drogenhandel und die Drogenprobleme gemeinschaftlich anzupacken. Ich denke,
das sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.
Es ist aber auch notwendig - damit hat die afghanische Regierung begonnen -, dass das Programm zur Zerstörung von Mohnfeldern auch verwirklicht wird. Ich
sage dazu ausdrücklich: Das ist die ureigenste Aufgabe
der afghanischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte. Die
ISAF darf in keiner Weise daran beteiligt sein. Sonst entstünde bei den Betroffenen leicht der Eindruck des aggressiven Vorgehens von Fremden. Die ISAF-Streitkräfte sind aber in Afghanistan, um ein Klima von
Sicherheit und Vertrauen für die Bevölkerung zu garantieren. Deshalb ist es so wichtig, dass hier eine ganz
klare Trennlinie eingehalten wird.
({8})
Ich möchte noch ein Wort zu Kunduz sagen. Ich werde
in der nächsten Woche mit Kolleginnen und Kollegen
aus dem Deutschen Bundestag dort sein. Wir verfolgen
dort einen ganz neuen und wichtigen Ansatz, um den uns
andere beneiden. Er besagt Folgendes: Die ISAF-Soldaten schaffen ein Klima der Sicherheit; gleichzeitig wird
die Polizei ausgebildet und die lokalen Institutionen und
Einrichtungen werden ausgebaut.
Ich werde, wenn ich in Kunduz bin, eine Schule wieder eröffnen, an der 800 Schülerinnen und Schüler lernen können. Das gibt den Menschen in dieser Region
ganz praktisch eine Perspektive.
Ich will deutlich machen: Unser Konzept ist ein anderes als das der Amerikaner. In unserem Konzept ist keine
Unterordnung der zivilen Entwicklungshelfer unter das
Militär vorgesehen.
({9})
Vielmehr gibt es drei Säulen: die militärische, die außenpolitische bzw. politische und die Entwicklungs- und
Wiederaufbausäule. In diesem regionalen Wiederaufbauteam herrscht bei der Erfüllung der aufeinander abzustimmenden Aufgaben keine Unterordnung, sondern
Gleichberechtigung.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen,
schließe ich an das an, was vor mir schon der Kollege
Pflug angesprochen hat. Oft hört man in dieser Diskussion die Aussage, dass die Situation in Afghanistan der
Situation im Irak ähnlich sei. Diese Aussage ist aber
absolut falsch; deshalb spreche ich sie an. Dass es in
Afghanistan, verglichen mit der dortigen Ausgangssituation, relativ gut vorangeht, hängt mit zweierlei zusammen: Erstens. In Afghanistan gibt es nicht, wie im Irak,
eine Okkupation. Unter der Schirmherrschaft der UN
ging und geht man in Afghanistan den Weg von Kooperation und Partnerschaft. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich Lakhdar Brahimi für das, was er dort geleistet
hat.
({10})
Zweitens. In Afghanistan gibt es eine Eigenverantwortung der Regierung und der vielen engagierten Menschen, eine Eigenverantwortung, die dem Irak bisher
vorenthalten wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen - das sage ich von
hier aus auch an Amin Fahang -: Nutzen wir alle gemeinsam die Chance, Afghanistan zu einem Beispiel dafür zu machen, dass es nicht zu einer Globalisierung von
Terror und Krieg, sondern von Partnerschaft und Menschenrechten kommt. Ich danke allen, die sich in diesem
Sinne engagieren: den Soldaten, den Wiederaufbau- und
Entwicklungshelfern und den Nichtregierungsorganisationen, die diese partnerschaftliche Aufgabe vor Ort
wahrnehmen.
Danke sehr.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Schmidbauer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist schon mühselig, an einem Freitagnachmittag zu versuchen, die Differenzen zwischen den Koalitionsfraktionen und den Oppositionsfraktionen herauszuarbeiten. Wenn ich mich an unsere Debatte im
Auswärtigen Ausschuss erinnere, dessen Beschlussempfehlung hier zur Diskussion steht, dann stelle ich fest,
dass wir, was die Vorgehensweise bei unserem Engagement betrifft, weitgehend Einigkeit erzielt haben. Es gab
mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen. Trotzdem gibt
es einige Differenzen, allerdings quer durch alle Fraktionen. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn wir über den
Vergleich zwischen Afghanistan und dem Irak reden,
den die Frau Ministerin gerade angestellt hat.
Ich glaube, dass diese kurze Debatte auch die Chance
zu einer nüchternen Bilanz bietet. Folgende Fragen sind
unter anderem zu beantworten: Wohin steuert Afghanistan? Welche Chancen und Risiken bestehen? Aber auch
bei dieser nüchternen Bilanz dürfen wir nicht vergessen,
dass in diesem Land täglich Menschen sterben. Ohne die
engagierten Einsätze der Amerikaner, wenn es also nicht
notwendigerweise auch die robuste Seite gäbe - hier sei
nur Enduring Freedom genannt -, bestünde nicht die
Chance einer friedlichen Entwicklung, denn in manchen
Teilen des Landes finden Kämpfe statt. Dort kommt es
zu einer Reorganisation der Taliban. Auch bestimmte alQaida-Stränge funktionieren noch. Dort finden schwierigste Auseinandersetzungen statt.
Das will ich auch denjenigen sagen, denen bei der
Auswahl der Gebiete für die PRTs ein ganzes Land zur
Verfügung steht und die meinen, es gebe im Süden und
Südosten des Landes eine wohlfeile Möglichkeit, mit
dieser Strategie Wiederaufbau zu betreiben. Bei der derzeitigen Situation halte ich das für unmöglich. Ich will
auch sagen, dass ich die Schwierigkeiten einer Ausweitung über Kunduz hinaus - eine Region, die wir kennen - sehe: Wir müssen davon ausgehen, dass wir in
größere Schwierigkeiten kommen.
Ich glaube, dass diese dritte Afghanistankonferenz
insgesamt - beim Anlegen einer normalen Messlatte ein Erfolg war, mit Sicherheit ein Erfolg für dieses Land,
weil einige Antworten gegeben wurden und eine Zwischenbilanz der Petersberger Beschlüsse gezogen wurde.
Das halte ich für sehr wichtig. Herr Pflug hat die zentrale
Botschaft aus dem Bericht der Bundesregierung zitiert,
dass die internationale Staatengemeinschaft weiter dabeibleibt, den Aufbau Afghanistans unter dem Dach
der UN voranzutreiben. Die zentrale Botschaft ist, dass
wir uns hier nicht zurückziehen, dass unser Engagement
kein ständiges Überlegen und Springen ist. Auf dieser
Konferenz ist durch Deutschland, durch sein Handeln
Sicherheit vermittelt worden. Wir wollen, dass die
Vision des künftigen Afghanistan eine Chance hat, realisiert zu werden.
({0})
Natürlich kommt es auch auf die Beiträge der Regierung
Karzai an und darauf, dass der Arbeitsplan in der nächsten Zeit abgeklärt wird.
Für wesentlich halte ich das Abkommen auch im Hinblick auf die Bekämpfung des Drogenhandels. Man
sollte nicht unterschätzen, dass dieser Pufferstaat damit
in die internationale Gemeinschaft zurückgeführt wird,
die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, und Afghanistan in diesem Bereich nicht allein lässt. Hier wird sehr
viel über die Drogenproblematik geredet. Wichtig ist,
dass die Anlieger mitmachen, dass die Drogenroute gemeinsam bekämpft wird. Dies geht natürlich - ich sage
das hier provozierend, auch im Hinblick auf die Gäste,
die anwesend sind - bis in das Kabinett: Dort gibt es
Korruption und wir müssen diese durchaus beim Namen
nennen, um sie abzustellen. Was hat es für einen Sinn,
wenn wir darum herumreden?
Bei der Bekämpfung des Drogenproblems dürfen wir
nicht nur die erste Ebene sehen, die Agrarwirtschaft. Das
wären nur wohlfeil, wenn nicht auch die zweite, dritte,
vierte Ebene der Wertschöpfung in Betracht gezogen
würde. Wie auch immer Sie das sehen - das ist jedenfalls
die Notwendigkeit.
({1})
All das hat der Stärkung der Zentralregierung gedient;
ebenso der Wahltermin. Dazu gehört ferner, dass Entscheidungen zur Entwaffnung der Milizen erfolgen. Es
genügt nicht, dass wir Soldaten und Polizisten ausbilden;
wichtig ist vielmehr auch, dass die Milizen in drei Phasen umgegliedert und abgerüstet werden.
Bei der Finanzierung, den 8,2 Milliarden US-Dollar,
stimme ich Ihnen zu: Ich will das sehen. Es gibt ja Länder, die jährlich bestimmte Summen bezahlen. Wenn
man dann nachfragt: „Wo ist das Fresh Money?“, hört
man immer: Das ist auf der letzten Konferenz schon geflossen. Wenn das Geld wirklich käme, wenn wir die
Summe einklagen könnten - das würden wir sicher
tun -, dann wären 8,2 Milliarden US-Dollar als Unterstützung ein wesentlicher Fortschritt. Wir brauchen das.
Wie ich sagte, ist die Sicherheitslage nicht so, wie es
dargestellt wird: Sie ist instabil, sie ist unruhig. Ich
glaube, dass das Sicherheitsproblem auf dieser Konferenz starke Aufmerksamkeit erhalten hat. Dass die
NATO dabei jetzt die herausragende Rolle spielt, ist ein
wichtiger Schritt.
Auch ich will mich dem Dank für unsere Soldaten anschließen, die eine gute Arbeit leisten. Für die Mission
Enduring Freedom gilt dasselbe. Es gilt nicht nur für die
Soldaten, sondern auch für die zivilen Mitarbeiter, die
innerhalb eines klaren Mandats ihre Arbeit leisten, zum
Beispiel in Kunduz. Der Bundeskanzler meinte vor einem Jahr, die Situation dieser PRTs sei noch etwas unreif. Man hatte kein Rezept in der Schublade. Die Amerikaner waren unter ganz anderen Umständen in diesen
PRTs. Was da aufgebaut werden musste, waren robuste
Dinge: Da ging es um die Durchsetzung des Gewaltmonopols der Zentralregierung. Heute geht es um etwas anderes. Umso mehr müssen wir sehen, dass dies so bleibt
und dass wir, wie die Konferenz es wollte, auf 20 PRTs
aufstocken.
Entscheidend ist, dass wir die Kooperation mit anderen Ländern einfordern. Einer der Kollegen hat es heute
bereits gesagt. Die Kanadier, ein Land, das ebenso Soldaten stellt, sind nicht weit weg von uns. Aber dann ist
ein starkes Abfallen festzustellen. Dann wird von bestimmten Zahlen von Mitgliedern verschiedener Länder
gesprochen und davon, dass auch die Niederländer da
seien. Das, was vor der Debatte über die Erweiterung des
Mandats im Oktober gesagt wurde, wollen wir einfordern. Wir wollen sehen, was davon übrig geblieben ist,
die Anforderungen hinsichtlich Kunduz auf viele Schultern zu verlagern. Es geht dabei - auch das will ich sagen, weil vorhin ein Zwischenruf zur Stadt Kunduz
kam - um 3,2 Millionen Menschen auf der riesengroßen
Fläche von 85 000 Quadratkilometern. Die Ausweitung
des Gebiets geht also nicht mit der Ausweitung der Zahl
der Soldaten einher. Wir müssen genau bleiben: Es handelt sich um das Mandat mit 450 Soldaten, die dazu verwendet werden, auch die Außenstellen von Kunduz zu
betreuen.
Die andere Frage wird lauten: Können wir in Badakhshan oder anderswo etwas Neues aufziehen? Ich
habe im Ausschuss und bei der Konferenz verfolgen
können, dass Karzai seinen Beitrag immer dann mit dem
größten Engagement vorgetragen hat, wenn es um Drogenbekämpfung ging. Eine seiner zentralen Botschaften
war: Lasst mich dabei nicht allein; denn ich weiß, dass
dies ein Riesenproblem ist. - Das sind die Sorgen, die
wir haben. Es kann alles kaputtgemacht werden, wenn
wir nicht den richtigen Ansatz finden, hier zu helfen und
das Problem gemeinsam zu bekämpfen.
Dazu gehört eine bessere Koordination. Auch beim
zivilen Bereich der PRTs mangelt es an Koordination;
das will ich hier anmerken. Ich habe ein Diagramm, das
die mangelnde Koordination im militärischen Bereich
veranschaulicht. Aber im zivilen Bereich ist das viel
schlimmer. Dazu gehört auch, dass man das Problem des
Kampfs gegen die Drogen nicht dadurch umgehen kann,
dass man sagt: Das ist die Aufgabe von Großbritannien.
Herr Kollege Schmidbauer, sehen Sie bitte auf die
Uhr.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Wir
müssen bei der Kooperation ernst machen. Es sollen in
Kabul Folgekonferenzen stattfinden, die sich mit dem
Kampf gegen die Drogen beschäftigen. Ich empfehle ein
vielschichtiges Maßnahmenpaket. Schließlich wissen
wir, dass 70 Prozent des weltweit verkauften Opiums
aus diesen Regionen kommen. Es ist einer der wichtigsten Punkte, mit denen wir Afghanistan helfen können,
wenn wir diese Bekämpfung ein Stück weit mittragen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, wie oft wir hier schon über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan diskutiert haben. Das gute
Dutzend dürfte längst voll sein. Als Vertreterin der PDS
im Bundestag sollte ich aber besser sagen: das schlechte
Dutzend.
Weil die Zeit so schnelllebig ist, möchte ich uns ein
Zitat in Erinnerung rufen. Es stand im „Kölner Stadt-Anzeiger“ und stammt von Verteidigungsminister Struck.
Er sagte vor zwei Jahren:
2004 werden wir die Bundeswehr ganz aus Afghanistan zurückziehen.
Das war immerhin eine Aussicht. Inzwischen höre ich
von zehn und mehr Jahren, die der Bundeswehr in Afghanistan blühen oder andersherum. Sie ahnen es schon:
Die PDS hat das bisher immer abgelehnt und wird das
auch weiterhin tun.
Da manche vergesslich sind - allen voran offensichtlich der Bundesaußenminister, wie er heute in seiner
Rede gezeigt hat -, möchte ich daran erinnern, was der
Ausgangspunkt für den Bundeswehreinsatz war. Ausgangspunkt waren die Terroranschläge vom 11. September und die Absicht der USA, Bin Laden zu ergreifen.
Die Bundesrepublik schloss sich dem an, in „bedingungsloser Solidarität“, wie damals noch der offizielle
Sprachgebrauch war - bei der SPD, bei den Grünen, wie
auch bei den Unionsparteien. Heute tat der Bundesaußenminister so, als wäre die Bundeswehr zu einer Blauhelmmission der UNO zur Beendigung eines Bürgerkrieges nach Afghanistan geschickt worden. Das war
seine Begründung für ihre Tätigkeit in diesem Land.
({0})
Die PDS hat von Anfang an gewarnt: Der Kampf gegen den Terrorismus lässt sich gewinnen, ein Krieg gegen den Terrorismus nicht. Inzwischen haben wir Kriege
- Plural! - und kein Sieg ist in Sicht, nirgendwo und für
niemanden, auch in Afghanistan nicht. Das sind Ihre eigenen Einschätzungen, die Sie aber erst äußern, sobald
Sie nicht vor der Kamera stehen. Trotzdem halten Sie
weiterhin am Wahnwitz des Verteidigungsministers fest,
dass die Bundesrepublik am Hindukusch verteidigt wird.
Auch dieses Mal möchte ich Ihnen einen weiteren
Widerspruch nicht ersparen. Die Bundesministerin hat ja
gerade darüber gesprochen, was notwendig ist, um einen
stabilen, langfristigen und vor allen Dingen eigenständigen Wiederaufbau in Afghanistan zu sichern. Nach Angaben der Weltbank würde es 27,5 Milliarden Dollar
kosten, Afghanistan wirtschaftlich und sozial wieder auf
eigene Füße zu stellen. Das ist ein großer Batzen Geld.
Gemessen am Irakkrieg und an weiteren Rüstungsprojekten weltweit ist das aber eigentlich ein Klacks.
({1})
Vor kurzem hat hier in Berlin die Afghanistankonferenz getagt, die 8,2 Milliarden Dollar in Aussicht stellte.
Das ist weit weniger als berechnet und unbedingt notwendig. Das ist aber auch erheblich weniger, als die Militäreinsätze in Afghanistan schon jetzt gekostet haben.
Deshalb kann ich hier nur wiederholen: Weder das Ziel
noch die Mittel sind vernünftig. Allein diese Zahlen
spiegeln ein eklatantes Missverhältnis wider.
Sie haben heute wieder versucht, Ihre Afghanistanstrategie schönzureden. Das versuchen Sie leider auch in
den beiden Anträgen, die heute zur Abstimmung stehen.
Deshalb muss die PDS im Bundestag heute Nein sagen.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Karl Lamers, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Afghanistan muss die Chance erhalten, sich in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu entwickeln. Der
Wiederaufbau dieses geschundenen Landes liegt in unserem gemeinsamen Interesse; denn geordnete Strukturen und Stabilität in Afghanistan bedeuten zugleich auch
mehr Sicherheit für uns. Die Weltgemeinschaft hat auf
der Berliner Geberkonferenz deutlich gemacht, dass sie
sich ihrer Verantwortung bewusst ist.
Der Prozess des Wiederaufbaus in Afghanistan ist
ein durchaus bemerkenswertes Modell der Kooperation
und der Hilfe zur Stabilisierung. Aber: Tun wir genug
und das Richtige? „Afghanistan-Konferenz - Im Schatten des Schlafmohns“ - so titelte jüngst „Spiegel online“. Genau das ist das zentrale Problem: Unter den Blicken unserer Soldaten wächst zurzeit die größte
Opiumernte aller Zeiten nahezu ungehindert heran. Ich
meine, wir dürfen es nicht hinnehmen, dass Drogenanbau und Drogenhandel in Afghanistan zurzeit praktisch möglich sind, ohne das Risiko eingehen zu müssen,
bestraft zu werden, und ohne einen Anreiz zu haben, etwas anderes auf den Feldern anzubauen.
({0})
Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite sehe ich natürlich durchaus
auch Erfolge: die militärische Stabilisierung des Landes,
den Wiederaufbau des politischen Systems, die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Normen und eine Verfassung,
durch die ein neuer Rahmen gesetzt wird, der dem Volk
eine echte Zukunftsperspektive eröffnet. Die Vereinten
Nationen unterstützen den vielschichtigen Prozess des
Wiederaufbaus Afghanistans in verdienstvoller Weise.
Die NATO führt den ISAF-Einsatz auf der Grundlage
der UN-Sicherheitsresolutionen durch. 2 000 deutsche
Soldaten leisten hier einen wichtigen Beitrag. Die Frage
lautet nicht, ob es richtig ist, dort zu sein. Natürlich müssen wir dort sein und uns einbringen. Es geht vielmehr
darum, Defizite abzubauen, Widersprüche aufzulösen
und zu einer besseren Koordinierung der Einzelmaßnahmen zu kommen.
Es ist richtig, dass die Bundeswehr ein Provincial
Reconstruction Team nach Kunduz im Norden Afghanistans entsandt hat. Zurzeit wird darüber nachgedacht,
zusammen mit den Niederländern in Faizabad ein zweites PRT einzusetzen. Bevor wir das tun, sollten wir uns
noch einige Fragen beantworten. Herr Minister Struck
hat kürzlich erklärt, dass ausgerechnet die Provinz Badakhshan ein Zentrum für den Anbau von Mohn ist, aus
dem der Rohstoff für Heroin gewonnen wird. Fakt ist:
Unsere Soldaten versehen ihren Dienst in unmittelbarer
Nachbarschaft zu den Mohnfeldern, aus denen dann riesige Mengen von Drogen entstehen. Dagegen tun dürfen
sie allerdings nichts.
Mir macht schon Sorge, dass deutsche Soldaten über
einen längeren Zeitraum in einen Einsatz geschickt werden, in dessen Verlauf sie mit verbrecherischen Handlungen wie Drogenanbau und Drogenhandel konfrontiert werden, die im eigenen Land strafbar sind, dort aber
einfach geduldet oder übersehen werden sollen.
Als Vorsitzender des Unterausschusses Weiterentwicklung der Inneren Führung bin ich zusammen mit
den Mitgliedern dieses Unterausschusses ständig mit der
Frage konfrontiert, ob der konkrete Einsatz, in den wir
unsere Soldaten schicken, tatsächlich als sinnvoll empfunden wird. Ist er das wirklich, wenn man, wie der
Minister sagt, entdeckte Anbauflächen zwar melden
kann, aber selber nicht einschreiten darf? Ich habe schon
meine Zweifel, ob das für den einzelnen Soldaten nachvollziehbar ist. Minister Struck erklärte, es sei ein langer
Kampf, der gegen den Drogenanbau geführt werden
müsse. Das ist sicher wahr. Aber wo sind die ganz konkreten Schritte? Wo sind unsere gemeinsamen Ideen?
Wo ist das Konzept, damit unsere Soldaten der Bundeswehr nicht in eine solch unsägliche Situation geraten?
Herr Löning hat es angesprochen: Manche glauben,
die Bundeswehr könne aus Auseinandersetzungen mit
den Warlords und den Drogenhändlern herausgehalten
werden. Aber ist es nicht ein bisschen blauäugig - so
frage ich Sie -, zu erwarten, dass die Herren Drogenhändler zwischen dem Melden und dem Abfackeln eines Drogenfeldes feinsinnig unterscheiden? Mein Eindruck ist: Die Weltgemeinschaft hat bisher noch kein
schlüssiges Konzept gefunden, wie sie das Drogenanbau- und -handelsproblem auf Dauer lösen könnte.
({1})
Das muss geklärt werden.
({2})
Dr. Karl A. Lamers ({3})
Sie sehen: Wir müssen Afghanistan helfen, aber richtig. Unsere Soldaten sollen die zivilen Helfer schützen.
Ich frage Sie, Frau Ministerin: Steht denn schon fest, wer
als ziviler Helfer nach Faizabad geht? Man hört, dass die
Zusammenarbeit bisher nicht immer ganz zufriedenstellend war. Waren das nur Anfangsschwierigkeiten oder
gibt es weiterhin Probleme zwischen zivilen Helfern und
Militär?
Auch einen weiteren Punkt müssen wir bedenken. Die
Lage in Afghanistan ist anerkanntermaßen nicht ruhig
und nicht stabil. Unsere Soldaten sind in diesem Teil der
Welt einer existenziellen Gefährdung ausgesetzt. Was
ist, wenn etwas in Kabul, Kunduz oder Faizabad passiert? Ich kenne die Absprache mit den Amerikanern.
Aber eines muss doch klar sein: Wer immer mehr Soldaten an immer mehr Orten einsetzt, sollte zuvor alle
Sicherheitsprobleme im Griff haben. Haben wir das?
Ich denke da an das Hubschrauberproblem, ich nenne
das Stichwort Evakuierungskapazität unter feindlichen
Bedingungen.
In Afghanistan wurden in den letzten Jahren mithilfe der Weltgemeinschaft gute Fortschritte erzielt.
Aber viel muss auf dem Weg zum Ziel eines friedlich,
politisch, sozial und wirtschaftlich funktionierenden
Staates noch getan werden. Die Bundesregierung trägt
die Verantwortung für den deutschen Hilfsanteil und ist
auch sonst gefragt, wenn es um Konzepte und Strategien geht. Gemeinsam einen Schritt in die richtige
Richtung zu tun, das ist unser Angebot an Regierung
und Koalition. Mit unserem Antrag beabsichtigen wir
keine Schuldzuweisung, sondern wir wollen zur Problemlösung beitragen.
Herr Kollege, auch Ihre Redezeit ist überschritten.
Jawohl. - Wir wollen, dass die großen Bemühungen
der Weltgemeinschaft in Bezug auf die hoffentlich gute
Zukunft Afghanistans zum Erfolg führen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/2991 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Die
Berliner Afghanistankonferenz - eine neue Chance für
mehr Kohärenz und Koordinierung beim Wiederaufbau“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2578 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
auf Drucksache 15/3006 zu dem Antrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Fortsetzung des Engagements der Bundesregierung
für den Wiederaufbau- und Stabilisierungsprozess in Afghanistan“: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2757 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU, der FDP und
der beiden PDS-Abgeordneten angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Nationalen Zuteilungsplan für Treibhausgas-Emissionsberechtigungen in der Zuteilungsperiode
2005 bis 2007 ({0})
- Drucksache 15/2966 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kollegen Wolfgang Grotthaus, Dr. Ernst Ulrich
von Weizsäcker, Brigitte Homburger, Ulrich Petzold,
Georg Girisch und der Bundesminister Jürgen Trittin ha-
ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2966 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Entwicklung von Qualitätsstandards in der privaten Arbeitsvermittlung
- Drucksache 15/2521 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Die Kollegen Hans-Werner Bertl, Alexander
Dobrindt, Dr. Hermann Kues, Dirk Niebel, Rezzo
Schlauch und Marie-Luise Dött haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2521 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
1) Anlage 4
2) Anlage 5
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zur allgemeinen
Wehrpflicht und zu Plänen für ein soziales
Pflichtjahr
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat die Kollegin Helga Daub, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Mit dem Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts
vom Mittwoch letzter Woche wurde eine Entscheidung
gefällt, die dieses Haus bis zum heutigen Tage vor sich
herschiebt. Dass von Wehrgerechtigkeit nicht mehr gesprochen werden kann, ist keine neue Erkenntnis, auch
nicht in diesem Haus. Mit dem Kölner Urteil wurde dies
lediglich juristisch untermauert. Ein weiteres krampfhaftes Festhalten an der Wehrpflicht ist vor diesem Hintergrund untragbar.
({0})
Bereits in wenigen Stunden werden mit dem Beitritt
von acht ehemaligen Ostblockländern die letzten Nachwirkungen des Kalten Krieges überwunden sein.
Deutschland hat seine historische Mittellage in Europa
wiedererhalten, nicht nur in der EU, sondern auch in der
NATO. Originäre Landesverteidigung ist nicht mehr der
zentrale Auftrag der Bundeswehr. Sie geht vielmehr in
der Bündnisverteidigung auf. Mit diesen veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und dem Bedarf an einer personell gestrafften, aber hoch spezialisierten mobilen Einsatzarmee ist die Wehrpflicht nicht
mehr zu rechtfertigen.
({1})
Und doch ist diese Regierung nicht bereit, sich den Tatsachen zu stellen. Die Argumente, mit denen noch immer für die Wehrpflicht geworben wird, sind haltlos. Die
Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und die Bundeswehr bleibt eine Parlamentsarmee. Wenn die Befürchtung geäußert wird, sie könne sich zu einem Staat im
Staate entwickeln, so ist auch das unhaltbar und allenfalls eine Beleidigung für die 50-jährige demokratische
Tradition unserer Bundeswehr und ihrer Führung.
Unverantwortlich ist es, die Bundeswehr mit ihrer
derzeitigen Struktur mit immer komplexeren und umfangreicheren Einsätzen zu konfrontieren,
({2})
ohne dabei den nötigen Bedarf an Material und Ausbildung zu gewährleisten.
({3})
Solange wir an einer Wehrpflichtarmee festhalten, die
wertvolle Kräfte bindet, wird sich daran nichts signifikant ändern. Rund 20 000 Zeit- und Berufssoldaten sind
heute in die Ausbildung von Wehrpflichtigen eingebunden, die nur wenige Monate in der Truppe Dienst leisten
und nicht zu Einsätzen herangezogen werden können.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die vom
Kollegen Robbe vorgestellte Verkürzung der Wehrpflicht auf sechs bis sieben Monate zu sprechen kommen. Ich schätze den Kollegen und seinen Sachverstand
zwar sehr, frage mich aber, ob das wirklich sein Ernst ist.
Welchen Sinn macht es, junge Männer zu einem Pflichtdienst heranzuziehen, der in der vorgesehenen Kürze die
Bundeswehr stärker belastet als unterstützt?
({4})
Mir ist zwar klar, was er damit beabsichtigt - es geht
ihm um eine größere Wehrgerechtigkeit -, was er aber
damit erreicht, ist eine zusätzliche Belastung der Bundeswehr und die weitere personelle Bindung von Ausbildungskräften. Von daher kann ich keine qualitative Verbesserung erkennen. Ich halte das Vorhaben für
Flickschusterei.
({5})
Werte Kollegen und Kolleginnen, wir als Parlament
tragen Verantwortung für die Bundeswehr und unsere
Soldaten.
({6})
Wir wurden gewählt, um tragfähige Entscheidungen zu
treffen. Dazu gehören durchaus auch Entscheidungen,
die schwer fallen. Es geht aber nicht an, dass wir, die gewählten Vertreter des Volkes, derart wichtige Entscheidungen - das gilt im Übrigen auch für andere Bereiche immer nur den Gerichten überlassen. Wir müssen handeln; alles andere wäre ein Armutszeugnis für die parlamentarische Demokratie.
Lassen Sie mich an dieser Stelle meiner Vermutung
Ausdruck geben, dass viele von Wehrpflicht sprechen,
aber Zivildienst meinen. Das vom Bundesinnenminister
geforderte soziale Pflichtjahr unterstützt meine Vermutung.
({7})
Darauf wird meine Kollegin Ina Lenke später noch eingehen. Ich will nur noch eines anmerken. Der Zivildienst
ist Ersatzdienst. Der Ersatzdienst hat aber in der Debatte
um die Wehrpflicht nichts verloren. Er folgt immer noch
der Wehrpflicht und nicht umgekehrt. Was für eine armselige Gesellschaft wären wir, gelänge es uns nicht, soziales Engagement ohne Zwang zu organisieren!
({8})
In der vorigen und in dieser Legislaturperiode haben
wir Verteidigungsminister erlebt, deren Planungen immer wieder von der Realität eingeholt wurden. Die Regierung sollte die Fakten endlich zur Kenntnis nehmen;
anderenfalls werden die Gerichte entscheiden.
({9})
Wir fordern den Bundesminister der Verteidigung auf:
Holen Sie sich das Gesetz des Handelns zurück! Vielleicht können Sie das dem Herrn Minister ausrichten,
Herr Staatssekretär.
({10})
Danke.
({11})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Hans Georg Wagner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich mich in meinen Ausführungen auf
die allgemeine Wehrpflicht beschränke - auch wenn ich
natürlich auf das eingehen werde, was Sie, Frau Daub,
gesagt haben.
Die Frage der Wehrform lässt sich nicht auf einzelne
Aspekte wie die Professionalität der Streitkräfte oder die
gesellschaftliche Integration reduzieren. Erst die Summe
aller Teilaspekte kann eine Antwort darauf geben, welche Wehrform für Deutschland die bessere ist. Dabei ist
ausschlaggebend, was unter dem Summenstrich steht.
Das ist nicht allein die Auffassung des Bundesministeriums der Verteidigung, sondern entspricht auch der
höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass die Wahl der Wehrform eine grundlegende
staatspolitische Entscheidung ist, die auf wesentliche
Bestandteile des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und bei der der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gründe
von sehr unterschiedlichem Gewicht zu bewerten und
gegeneinander abzuwägen hat.
({0})
- Dass mir der Kollege Schmidt ausdrücklich zustimmt,
beruhigt mich zumindest teilweise.
({1})
- Ja, in dieser Frage. Warum nicht auch in anderen?
Erlauben Sie mir, kurz auf einige wesentliche Teilaspekte einzugehen. Erstens. Eine Freiwilligenarmee
hätte bei gleichbleibendem Plafond deutliche Umfangsreduzierungen zur Folge. Damit wäre die Erfüllung unserer internationalen Verpflichtungen - zumindest im
derzeitigen Umfang - infrage gestellt. Wer das will, soll
das sagen. Ohne zusätzliche Haushaltsmittel würde es
nämlich sogar schwer fallen, den derzeit vorgesehenen
Umfang von 195 000 Berufs- und Zeitsoldaten zu erreichen. Das wäre ein fatales außenpolitisches Signal.
Wenn die Bundeswehr im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt auf die Anwerbung von Experten angewiesen
sein soll - der Infanterist der Zukunft ist praktisch ein
Experte für viele Bereiche -, dann müssen Sie auch erläutern, wie das finanziert werden soll. Wollen Sie gegen
die Strukturen von Daimler-Chrysler und Siemens - um
nur zwei Beispiele zu nennen - anrennen? Wie wollen
Sie das mit dem Geld machen, das der Bundestag bisher
im Einzelplan 14 zur Verfügung gestellt hat? Es muss
also auch die Frage beantwortet werden, wie eine Freiwilligenarmee die Experten, die sie für ihre Einsatzfähigkeit braucht, für die Erfüllung der Aufgaben bezahlen
soll, die vom Bundestag entsprechend mandatiert worden sind.
Zweitens. Durch den Wegfall der Wehrpflicht geriete
der Bestand einer ausreichenden Personalreserve in Gefahr. Ihre Sicherstellung bedürfte vor allem für den kurzfristigen Bedarf, also dort, wo es um den Schutz
Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger vor
terroristischer und asymmetrischer Bedrohung sowie um
Hilfeleistungen bei Naturkatastrophen und schweren
Unglücksfällen geht, zusätzlicher Anstrengungen und
auch finanzieller Anreize. Das hat - möglicherweise eine fatale innenpolitische Wirkung.
Drittens. Die mögliche Entfremdung zwischen einer
Freiwilligenarmee und dem Rest der Gesellschaft - Sie
haben das bereits angesprochen, Frau Daub - ist eine
reale Gefahr. Eine Gefahr sehe ich auch in umgekehrter
Richtung. Ich habe den Eindruck, dass sich die Bundeswehr zwar sehr zur Gesellschaft bekennt, dass die Gesellschaft aber mittlerweile die Bundeswehr für ein
Dienstleistungsunternehmen hält, deren Einheiten man
in die Welt schicken kann, um dafür zu sorgen, dass es
der Gesellschaft besser geht. Die Integration, die
50 Jahre versucht worden ist und die funktioniert hat,
würde dadurch verloren gehen. Wer das will, soll das sagen.
Aber Sie behaupten, der Wegfall der Wehrpflicht
werde keine Auswirkungen haben. Das Gegenteil ist der
Fall. Es muss nämlich befürchtet werden, dass das Interesse der Gesellschaft an den Streitkräften dann geringer
ist. Sie haben Recht: Die Bundeswehr ist und bleibt eine
Parlamentsarmee. Das will auch kein Mensch ändern.
Bisher hat niemand die Forderung erhoben, den Begriff
„Parlamentsarmee“ abzuschaffen. Aber ohne Wehrpflicht würde der Faktor Sicherheit nicht mehr als eine
Angelegenheit aller, sondern nur noch als Aufgabe unseres Dienstleistungsunternehmens Bundeswehr angesehen. Die Einbindung unserer Streitkräfte in die Gesellschaft wäre dann nur noch eingeschränkt gegeben. Das
ist nicht zu akzeptieren.
Viertens. Die Wehrpflicht ist eine Säule der derzeitigen Strukturreform der Bundeswehr. Sie ist für die
Funktionsfähigkeit der Streitkräfte in der angestrebten
Form unverzichtbar. Wehrpflichtige sind als Grundwehrdienstleistende und freiwillig zusätzlichen Wehrdienst
Leistende Bestandteil der Streitkräfte. Sie leisten Dienst
im Inland - das wissen Sie - und decken ein vielfältiges
Aufgabenspektrum ab, das auf breiten schulischen und
beruflichen Qualifikationen aufbaut. Sie tragen damit
wesentlich zur Einsatzfähigkeit der Bundeswehr bei. Die
freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistenden leisten
auch im Ausland Hervorragendes. Sie stellen knapp
20 Prozent des Personals in den Einsätzen und tragen
entscheidend zum hohen internationalen Ansehen der
deutschen Soldaten bei.
Fünftens. Ohne die allgemeine Wehrpflicht gibt es
nur die Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Optionen:
entweder eine deutliche Erhöhung des Verteidigungshaushaltes oder eine weitere drastische Reduzierung des
Gesamtumfangs der Bundeswehr. Eine Erhöhung des
Plafonds bedeutet dabei Investitionen in Milliardenhöhe.
Wenn Sie das wollen, müssen Sie das sagen. Und wenn
Sie das sagen, müssen Sie auch erklären, wie Sie das finanzieren wollen. Wollen Sie mehr Schulden machen?
Wollen Sie die Sozialleistungen weiter kürzen?
({2})
- Das können Sie ja machen. Sie werden das bestimmt
Subventionsabbau nennen. Aber das, was Sie hier vorhaben, ist nichts anderes als Subventionierung. Deshalb
sage ich: Wer die Wehrpflicht abschaffen will, muss
auch die Finanzierungsfrage beantworten. Davor kann
man sich nicht drücken.
Wenn man alle Teilaspekte dieser Frage emotionslos
und pragmatisch betrachtet, dann kommt man unter dem
Summenstrich zu dem Ergebnis, das keinen Zweifel
mehr lässt: Die Bundeswehr braucht die Wehrpflichtigen
und insbesondere diejenigen, die am besten geeignet
sind. Die dafür notwendigen Kriterien werden deshalb
auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Das ist unser
Ansinnen und der Erreichung dieses Ziel gilt unsere Arbeit, die wir zu leisten haben. Ich bin sehr froh darüber,
dass in der Öffentlichkeit entsprechende Diskussionen
stattfinden. Irgendwann im Laufe dieser Legislaturperiode werden die Überlegungen, die Rot-Grün in der
Frage anstellt, wie es denn mit der Wehrpflicht in der
nächsten Legislaturperiode weitergehen soll, zu einem
Ergebnis führen. Ihre Vorschläge sind, wie gesagt, finanziell nicht unterlegt und für mich in höchstem Maße unglaubwürdig; denn Sie tun so, als ob mit der Erfüllung
Ihrer plakativen Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht
({3})
alles erledigt wäre.
Herr Nolting, fraglich sind auch die Besetzung der
freiwilligen Feuerwehren, des Technischen Hilfswerkes
und des Roten Kreuzes. Bis jetzt sind sie verpflichtet, all
diejenigen aufzunehmen, die nicht zur Bundeswehr wollen. Das gilt auch für andere Dienste. Auf den Zivildienst will ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen.
Die Auswirkungen dessen, was Sie fordern - Sie müssen
sie sehen -, wirken in die Gemeinde hinein. Erklären Sie
dem Bürgermeister und dem Gemeinderat Ihrer Gemeinde einmal, warum die freiwillige Feuerwehr keine
Leute mehr hat, die über die Bundeswehr zu ihr gekommen sind!
({4})
Alle diese Dinge sind ungeklärt. Sie machen es sich
zu leicht, wenn Sie im 50. Jahr des Bestehens der Bundeswehr der Meinung sind, man solle die Wehrpflicht
abschaffen. Sie hat sich bewährt. Die Bundeswehr ist ein
integraler Bestandteil unserer Gesellschaft und das muss
sie auch bleiben. Das garantiert nur die Wehrpflicht.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat eine sehr interessante
und bemerkenswerte Positionierung vorgenommen. Kollege Staatssekretär Wagner, ich möchte einen Punkt aufgreifen: Nicht nur derjenige, der die Wehrpflicht abschaffen will, sondern auch derjenige, der die
Wehrpflicht erhalten will, muss für die Finanzierung sorgen.
({0})
Wenn wir hier nicht diese Sorgen hätten, die durch die
jetzige Situation des Bundeshaushaltes entstanden sind,
dann würden wir über dieses Thema möglicherweise so
nicht reden. Es hat in den letzten Jahren offensichtlich
Inspirationen gegeben. Ich verweise auf den außerordentlich geschätzten Kollegen Nolting.
({1})
Mit ihm bin ich in vielen Punkten immer gern einig. Er
und auch die FDP haben sich noch im Jahr 2000 für die
Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen.
({2})
Insofern kann diese Frage doch nicht so grundlegend
sein.
Das soll uns helfen, wenn wir darüber nachdenken, ob
wir „ad radices gehen“ und diese Angelegenheit wie eine
fundamentale Frage behandeln oder ob wir nur das tun,
was man alle Jahre tun muss, nämlich neu begründen,
wie sich Wehrpflicht legitimieren kann. Sie ist nach unserer Meinung eine auch heute noch durchaus legitimierbare, wenn auch neu zu legitimierende Wehrform, nämlich insofern, als es eben Aufgaben der Verteidigung
gibt, die den Soldaten zugewiesen sind, welche noch
heute die Wehrpflicht nach Art. 12 a unseres Grundgesetzes erfordern.
Christian Schmidt ({3})
Die Wehrpflicht geht übrigens sehr viel weiter als der
reine Dienst mit der Waffe. Es gibt in den Katastrophenschutzorganisationen - darauf wurde bereits hingewiesen - eine ganze Reihe von Verpflichteten, auf die sie
weitest gehend angewiesen sind. Es gibt auch eine ganze
Reihe von Verhaltensweisen, die, was die Dienstleistung
betrifft, fast eine soziale Struktur darstellen.
Ich will allerdings klar hinzufügen: Diejenigen, die
im sozialen Pflichtjahr einen rettenden Anker sehen
- dazu gehören sogar der Verfassungsminister Otto
Schily und, für mich überraschenderweise, die Bundesjustizministerin, die in Ihrem Hause genügend Sachkenntnis haben könnte, sowie der eine oder andere in
verschiedenen Parteien -, sollten sich vorher mit der
Frage auseinander setzen, wie dieses Vorhaben mit dem
internationalen Recht vereinbar ist und ob es bei uns gesellschaftlich akzeptiert wird.
({4})
Wir reden jetzt über die Wehrpflicht. Wenn wir das
tun, dann müssen wir auch über die Begründung der
Form für den Inhalt des zu leistenden Dienstes sprechen.
Ich behaupte: Eine gewisse Ausdehnung - man schaue
nach in Art. 12 a Grundgesetz - ist durchaus möglich.
({5})
Ich glaube, wir haben noch nicht alles ausgelotet, was
möglich ist. Aber das kann nach meiner Überzeugung
nicht zu einem sozialen Pflichtjahr führen.
Wir müssen uns in der Begründung der Wehrpflicht
im Hinblick auf die Notwendigkeit der Verteidigung
auch mit der Beantwortung asymmetrischer Fragen beschäftigen. Wir müssen klarstellen, dass sich eine Bundeswehr, die nur im Ausland Dienst tut, schwerer tun
wird, die Wehrpflicht zu legitimieren. Wir müssen aber
auch mit der Idee aufräumen, eine professionellere Armee ohne Wehrpflicht sei besser.
({6})
Ich empfehle all denen, die das meinen, und all denen,
die noch dazu meinen, das wäre billiger, die Erfahrungswerte unserer NATO-Partnerstaaten, die die Wehrpflicht
abgeschafft haben, zu studieren, nicht nur zu der notwendigen Attraktivitätssteigerung - es wurde schon darauf hingewiesen: Das kostet etwas; man ist dann im
freien Wettbewerb -, sondern auch zu der Frage der Intelligenz. Dass eine professionelle Armee klüger, besser
und intelligenter wäre, habe ich bisher nirgendwo feststellen können. Die Bundeswehr, so wie sie bisher ist, ist
eine außerordentlich intelligente Armee. Was von den
Wehrpflichtigen von außen an Input hineinkommt, tut
der Bundeswehr durchaus gut. Wir sollten und dürfen
nicht vergessen, dass nahezu die Hälfte derer, die als
Wehrpflichtige anfangen, als Soldaten auf Zeit oder Berufssoldaten enden, und das ist wirklich gut so.
({7})
Es bleibt das Gerechtigkeitsproblem. Natürlich muss
klar sein, dass nicht eine Auswahlwehrpflicht, sondern
eine bindende Wehrpflicht für alle praktiziert wird, dass
die Zahl derer, die zur Verfügung stehen, nicht künstlich
kleingerechnet wird, dass dann eben Verwendungsmöglichkeiten gefunden werden müssen. Da gibt es Grenzbereiche und Schnittmengen. Das ist nicht mehr ohne
weiteres zu schaffen. Darüber muss man dann reden.
Man kann die Wehrpflicht nicht nur deswegen beibehalten, um die Bundeswehr in ihrem Umfang zu erhalten. Genauso wenig kann man die Wehrpflicht abschaffen, nur um einen geringeren Umfang der Bundeswehr
zu erreichen. Allein die Aufgabe bestimmt das, was wir
von unseren jungen Männern als Staatsbürger verlangen
dürfen. Diese Aufgabe ist, glaube ich, wichtig genug.
Gerade nach dem 11. September 2001 und nach dem
11. März dieses Jahres hat sich gezeigt, dass wir auch
verlangen können, dass jemand den Dienst an der Gesellschaft und der Gemeinschaft im Sinne der Erhöhung
der Sicherheit leistet.
({8})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte um die Zukunft der Wehrpflicht bricht immer wieder auf, geradezu in regelmäßigen Abständen,
jetzt erneut nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts
Köln, dessen Tenor wir voll zustimmen. Bei dieser Debatte um die Wehrpflicht ist zweierlei klarzustellen:
Erstens. Die Frage der Wehrpflicht ist sehr bedeutsam, aber sie ist eine abgeleitete Frage, nämlich abgeleitet aus den Aufgaben und den Anforderungen an die
Streitkräfte überhaupt. Das gerät in der Öffentlichkeit
manchmal durcheinander. Man hat zum Teil den Eindruck, als sei das zentrale Thema der Bundeswehrreform
die Wehrpflicht. Das ist es nicht. Die Wehrpflicht ist ein
wichtiges Thema, aber erst in zweiter Linie.
Zweitens. Die Wehrpflichtfrage ist völlig ungeeignet,
um einen Spalt in die Koalitionsfraktionen zu treiben.
({0})
Wir haben dazu bekanntermaßen unterschiedliche Auffassungen. Das geht zum Teil auch quer durch die Fraktionen. Wir haben selbst ein Verfahren dafür vereinbart.
Das halten wir durch. In diesem Rahmen führen wir die
sachliche Diskussion und den Klärungsprozess durch.
So machen wir das nach unserem eigenen Zeitplan, den
wir für notwendig halten.
({1})
Um dieses Verfahren zu wahren, gehe ich auch nicht
direkt auf Ihre Argumente ein, Kollege Wagner. Das
könnte als Streit in der Koalition missverstanden werden.
({2})
Wir wollen einen Klärungsprozess.
Sehen wir uns die faktische Entwicklung der Wehrpflicht an, kommen wir nicht umhin, festzustellen: Es
gibt schon seit einigen Jahren einen stillen Ausstieg aus
der Wehrpflicht; denn es wurde richtigerweise von der
traditionellen Landesverteidigung als strukturbestimmender Aufgabe der Bundeswehr Abschied genommen.
Damit entfiel die zentrale traditionelle Legitimation für
die Wehrpflicht. Auch der neuere Begriff einer erweiterten Verteidigung kann diese Legitimationslücke, glaube
ich, nicht schließen.
Die Zahl der Einberufungen zum Wehrdienst geht immer mehr herunter, allein im letzten Jahr, im Jahr 2003,
um 25 Prozent. Für die Zukunft sind noch erhebliche
weitere Reduzierungen geplant. Man kommt nicht umhin, die heute real bestehende Wehrpflicht als Restwehrpflicht zu bezeichnen.
Verständlicherweise gibt es einige Rettungsbemühungen für die Wehrpflicht. Sie scheint gerade hohen Offizieren emotional regelrecht ans Herz gewachsen zu sein.
Von daher sind diese Rettungsbemühungen wie zum
Beispiel der Vorschlag, Grundwehrdienstleistende auf
freiwilliger Grundlage bei Auslandseinsätzen oder im
Landesinneren zum Schutz gegen Terrorismus einzusetzen, verständlich.
({3})
Beides, so meinen wir, ist nicht zu verantworten. Während einer Dienstzeit von neun Monaten können Wehrdienstleistende nicht ausreichend dafür ausgebildet und
dann noch sinnvoll verwendet werden.
Nehmen wir den Vorschlag einer weiteren Verkürzung des Wehrdienstes: Es würden damit vielleicht kurzfristig die Gerechtigkeitsdefizite etwas reduziert oder
ausgeglichen werden, für die Bundeswehr käme dabei
aber nur mehr Ausbildungslast und kein Verwendungsnutzen heraus.
({4})
Obendrein - auch das sollte man bedenken - bedeutete
ein sechsmonatiger Wehrdienst den Todesstoß für den
Zivildienst. In einem so kurzen Zeitraum sind Zivildienstleistende nicht mehr sinnvoll einzusetzen.
({5})
Wir müssen nüchtern darüber diskutieren und dabei
abklären, durch welche Wehrform die Hauptanforderungen am besten erfüllt werden können, wie hoch der Personalbedarf ist und wie quantitativ ausreichender und
qualitativ guter Nachwuchs für die Zeit- oder Berufssoldaten gewonnen werden kann. Wir müssen erreichen,
dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen des geringstmöglichen Grundrechtseingriffs und einer gleichmäßigen Belastung durch die Wehrpflicht eingelöst werden. Es darf nicht so weitergehen, dass man sich immer
mehr davon entfernt. Schließlich muss man sehen, wie
unter den Bedingungen, die die Einsätze der Bundeswehr auferlegen, die Einbindung in die Gesellschaft vernünftig weiter aufrechterhalten werden kann. Das hängt
ganz entscheidend von einer Weiterentwicklung der inneren Führung ab und ist immer weniger eine Frage der
Wehrpflicht.
Unserer Auffassung nach spielt die Wehrpflicht bei
der Erfüllung all dieser Anforderungen, über die wir uns
einig sind - es ist ja wichtig, bei dieser Diskussion festzustellen, wo wir uns einig sind -, eine immer geringere
Rolle. Auf jeden Fall ist die Wehrpflicht nicht mehr ganz
und gar unverzichtbar. Da jetzt die Tage der Wehrpflicht
sichtbar gezählt sind, kommt es unserer Auffassung nach
ganz entscheidend darauf an, endlich auch viel offener
darüber zu sprechen, wie der Umstieg auf eine vollständige Freiwilligenarmee verantwortlich gestaltet werden
kann. Das Parlament insgesamt hat schon reichlich Erfahrung mit verschleppten Reformen gesammelt.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss. - Wir sollten es in diesem
Bereich nicht auch so weit kommen lassen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Erst einmal will ich hier feststellen: Die FDP ist
die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die sich
klar und deutlich für die Aussetzung der Wehrpflicht
ausgesprochen hat.
({0})
Die Grünen, Herr Nachtwei, reden landauf und landab
davon, dass man die Wehrpflicht abschaffen müsse. Ich
habe aber von Ihnen heute keine klare Aussage dazu gehört, ob Sie die Wehrpflicht beibehalten wollen oder ob
Sie sie aussetzen wollen. Um eine Antwort hierzu haben
Sie sich herumgemogelt.
({1})
- Das hat mit Bekenntnis nichts zu tun. - Wir haben Modelle und Konzeptionen entwickelt, wie die Bundeswehr
zu einer Berufsarmee umgebaut werden kann. Darüber
brauchen Sie gar nicht mehr nachdenken. Das haben wir
alles schon in petto. Sie können im Mai darüber abstimmen.
({2})
- Herr Nachtwei, hören Sie mir doch bitte einmal zu!
Seit Jahren sagen wir, es besteht Wehrungerechtigkeit. Jetzt haben Sie die ersten entsprechenden Gerichtsurteile. In Köln können Jugendliche nicht mehr gegen
ihren Willen gezogen werden. Das Verwaltungsgericht
hat gesagt, dass, weil eine Wehrungerechtigkeit besteht,
die Wehrpflicht nicht mehr gilt.
Die Einberufungspraxis bei Wehr- und Zivildienst ist
verfassungswidrig. Seit Jahren hören wir von Rot-Grün
das Versprechen, die Wehrpflicht zu überprüfen, sie vielleicht - wie Sie heute gesagt haben, Herr Nachtwei auszusetzen. Ebenso schlagen Sie vor, Wehr- und Zivildienst bezüglich der Dauer gleichzustellen, also statt
zehn Monaten Zivildienst neun Monate ebenso wie beim
Wehrdienst. Aber im Bundestag ist bis heute nichts passiert.
Nun fordern zwei sehr wichtige Kabinettsmitglieder,
nämlich die Justizministerin und der Innenminister - ich
finde, beide sind sehr wichtig -, die Einführung eines
allgemeinen Zwangsdienstes für alle jungen Frauen und
Männer.
({3})
Das ist ein Stück aus dem Tollhaus.
({4})
Es ist billigster Wählerfang bei der älteren Generation,
die sich durch die Tätigkeit von Zivildienstleistenden ein
Stück mehr Lebensqualität im Alter erhoffen. Sie erwarten von uns Alternativen, die wir auch schon vorgelegt
haben.
Meine Damen und Herren, Bundesinnenminister
Schily fordert in einem Interview mit der „Süddeutschen
Zeitung“ die Einführung des allgemeinen Zwangsdienstes für junge Männer und Frauen. Zusätzlich fordert er
eine Verlängerung der Dienstzeit auf zwölf Monate, und
zwar mit der Begründung - die ich als Laie und Bürgerin
überhaupt nicht verstehen kann -, das solle das Abwehrbewusstsein der deutschen Bevölkerung bezüglich des
internationalen Terrorismus stärken.
({5})
Das haben Sie mir bis heute nicht erklären können. Ich
finde diese Begründung schier unglaublich.
Sollen jetzt Wege gefunden werden, die von Deutschland verabschiedeten internationalen Vereinbarungen zu
umgehen? Einige Beispiele: Wir haben die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, das Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit von 1961, das
Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangsarbeit und die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates von 1950
unterschrieben. Was noch viel schlimmer ist: Die beiden
Bundesminister stören sich nicht an den bestehenden
Abwehrrechten im Grundgesetz, zum Beispiel in
Art. 12, der die Freiheit vom Arbeitszwang garantiert.
Meine Damen und Herren, vor allem von der linken
Seite: Weltweit existiert nur in einem Land ein derartiger
Zwangsdienst, und zwar in der Diktatur Union Myanmar,
also in Birma.
Neben dieser bedenklichen Rechtsauffassung der
Minister gäbe es natürlich auch - das wissen Sie, Herr
Nachtwei - Durchführungsprobleme. Bei einer durchschnittlichen Jahrgangsstärke von 800 000 jungen Menschen ist bei einem Zwangsdienst für junge Frauen
und Männer mit einer jährlichen Einberufung von
circa 700 000 Menschen zu rechnen. Die Folgen:
700 000 Menschen, die einen Pflichtdienst absolvieren,
fehlen auf dem Arbeitsmarkt. Bei den Sozialversicherungsbeiträgen hätten wir Einbrüche. Das Berufseintrittsalter würde sich erhöhen und der Studienabschluss
sich weiter verzögern. In Deutschland gibt es schon jetzt
die längsten Ausbildungszeiten. Mit dem sozialen
Pflichtjahr würden Sie erst recht alles kaputtmachen.
Außerdem würde das Steueraufkommen sinken und die
Ausgaben des Bundes würden steigen; denn dieses
Pflichtjahr würde zwischen 7 und 11 Milliarden Euro
kosten, die in diesem desolaten Haushalt garantiert nicht
vorhanden sind.
Meine Damen und Herren, ganz besonders liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen,
Sie wissen, dass ich immer heftig streite, aber auf einer
sehr sachlichen Grundlage. Diese Zahlen - das müssen
Sie zugeben - sprechen eine deutliche Sprache. Ein
Zwangsdienst ist volkswirtschaftlich verheerend, teuer
für den Staat und mit sehr großen Nachteilen für unsere
Jugendlichen verbunden.
({6})
Wir Liberalen lehnen ein allgemeines Pflichtjahr für
junge Frauen und Männer ab. Wir fordern die Aussetzung der Wehrpflicht und das ist richtig.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hans-Peter Bartels, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP erfreut uns ja, zumindest seit ihrer Wende, in
schöner Regelmäßigkeit mit Anträgen zu diesem immergrünen Thema. Es gab drei Anträge in der
14. Wahlperiode und schon zwei - wir zählen diesen einmal mit - in dieser Wahlperiode. Machen Sie ruhig so
weiter; wir diskutieren das gerne, wenn auch nicht so
gerne als letzten Punkt der Tagesordnung.
({0})
Egal ob es dafür einen konkreten Anlass gibt: Ich weiß
nicht, was Sie mit diesen Anträgen gewinnen. Wir können am Ende einmal zusammenzählen, wer die meisten
Anträge gestellt hat. Wahrscheinlich gewinnen Sie gegen
die Grünen.
Die Diskussion um die Wehrpflicht gibt es in allen
Parteien. In der SPD gibt es eine breite und öffentlich
geführte Diskussion darüber, ob die Wehrpflicht die zeitgemäße Wehrform ist. Ich persönlich bin der Meinung,
dass sie es ist. Diese Diskussion gibt es - in einem geringeren Umfang - auch in der Union. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass sich einzelne Abgeordnete kontra
Wehrpflicht äußern, also für die Aussetzung der Wehrpflicht sind. Diese Diskussion muss es in Volksparteien
geben. Ob es in den beiden kleineren Fraktionen Kollegen gibt, die für die Pro-Position streiten, weiß ich nicht.
Ich kann mir aber vorstellen, dass dem so ist.
({1})
Vielleicht wird diese Position im Moment nicht so laut
geäußert.
Wir haben uns in der SPD auf ein Verfahren festgelegt, mit dem wir zu einer gemeinsamen Position kommen wollen. Unsere heutige Position ist, dass die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Koalition von uns
mitgetragen werden. Nach diesen Richtlinien ist die
Wehrpflicht nach wie vor die Wehrform, die wir für die
vorgesehene Reform der Bundeswehr brauchen. Aber
man kann über andere Positionen diskutieren. Wir wollen im November dieses Jahres eine Parteikonferenz veranstalten. Wir werden dann ein Jahr später auf einem
Parteitag den Beschluss fassen, ob wir bei der Wehrpflicht, entweder in der bisherigen oder in einer modifizierten Form, bleiben oder ob wir eine Aussetzung der
Wehrpflicht befürworten. Daraus würden sich Folgerungen für die Bundeswehr ergeben, die in der Koalition zu
diskutieren sein werden.
Der Koalitionsvertrag besagt, dass die Wehrpflicht als
Wehrform bis zum Ende dieser Wahlperiode überprüft
werden soll. Diese Prüfung ist ergebnisoffen. Ich selbst
kann keine Prognose abgeben, wie die Prüfung ausgeht.
({2})
- Dieses Thema wird Gegenstand der Bundestagswahl
sein. Es ist gut, dass die Bevölkerung am Ende darüber
abstimmen kann. Wir sind mit einer klaren Position in
die letzte Wahl gegangen.
({3})
- Ich weiß nicht, welche Stimmen Sie fangen wollen.
Die Bundeswehr befindet sich im Wandel und auch
die Wehrform befindet sich im Wandel. Die Wehrpflicht
passt sich an. Zu meiner Zeit dauerte der Wehrdienst
15 Monate. Davor waren es 18 Monate. Inzwischen liegen wir bei neun Monaten. Die Dauer des Wehrdienstes
ist also variabel und abhängig von den Jahrgangsstärken
und davon, wie sich der Personalbedarf einer kleiner
werdenden Bundeswehr entwickelt. Das ist keine neue
Situation. Mit der Situation, dass die Dauer der Wehrpflicht immer an den gegenwärtigen Bedarf angepasst
werden muss, haben wir zu tun, seitdem es die Bundeswehr gibt.
Ich möchte etwas zu den Zahlen sagen, mit denen gelegentlich operiert wird. Man kann nicht von Restwehrpflicht sprechen,
({4})
wenn 120 000 junge Männer im Jahr 2003 - das ist eine
Zahl aus dem Verteidigungsministerium - auf der
Grundlage der Wehrpflicht neu zur Bundeswehr kommen,
({5})
entweder als W-9er, freiwillig länger Dienender oder als
Zeitsoldat. Auch der Zeitsoldat unterliegt der Wehrpflicht und leistet zunächst einmal seinen Wehrdienst ab.
Diese Zahl sollten wir alle im Hinterkopf behalten.
Diese Rotation ist wichtig, da sie eine Anbindung an die
Gesellschaft bedeutet, die wir wollen.
({6})
- Es ist bezüglich dieser Zahl 400 000 schon gesagt worden, welche Dienste noch geleistet werden. Ich nenne
beispielsweise Zivildienst, Ersatzdienst, Dienst im Katastrophenschutz bis hin zum Entwicklungsdienst. Der
weit überwiegende Teil der etwa 430 000 jungen Männer eines Jahrgangs leistet tatsächlich einen Dienst.
({7})
- Das Koblenzer Gericht sieht es wiederum anders. Es
handelt sich um Entscheidungen einzelner Gerichte. Das
mag bis zur letzten Instanz durchgeklagt werden.
Es sind im Wesentlichen die Mannschaftsdienstgrade,
die aufgrund der Wehrpflicht rekrutiert werden. Rekrutieren Sie einmal Mannschaftsdienstgrade für eine Berufsarmee!
({8})
Machen Sie sich einmal klar, was das kosten und was
das qualitativ gesehen für die Bundeswehr bedeuten
würde. Ich bin in diesem Punkt durchaus skeptisch.
({9})
Mir ist es recht, wenn immer weitere Fundamentalalternativen in die Diskussion gebracht werden: Abschaffung der Wehrpflicht, Aussetzung der Wehrpflicht,
Auswahlwehrpflicht, Verkleinerung der Bundeswehr,
Vergrößerung der Bundeswehr. Es gibt einen bunten
Strauß von Möglichkeiten, die neben dem, was es momentan gibt und was sich bewährt hat, ins Gespräch gebracht werden. Ich wäre gar nicht überrascht, wenn am
Ende einer solchen Diskussion steht, dass sich der
Mittelweg zwischen den extremen Positionen durchgesetzt hat. Auch das soziale Pflichtjahr ist eine so fundamental neue Position, dass am Ende sehr wahrscheinlich
ein Mittelweg eingeschlagen wird.
Wenn wir in der SPD, in der Koalition und in der Bevölkerung über die Zukunft der Wehrpflicht diskutieren,
dann - das will ich als letzten Satz sagen - sollte uns bewusst sein, dass es hier nicht in erster Linie um die mehr
oder weniger kostbare Freizeit für 18-jährige Männer
geht,
({10})
sondern um die sehr grundsätzliche Frage, ob das Militär
- zumal in Deutschland - eine Veranstaltung der ganzen
Gesellschaft oder eine lästig gewordene Dienstleistung
sein soll, die man genauso gut outsourcen könnte. Ich
will das nicht.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Ursula Lietz, CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit der Aufstellung der Bundeswehr im Jahre
1955 haben wir eine Wehrpflichtarmee. Wir haben die
Wehrpflicht aus guten Gründen nach den Erfahrungen
aus dem sogenannten Dritten Reich eingeführt. Generationen von jungen Männern sind seitdem als Bürger in
Uniform in unserer Armee und sind mit dafür verantwortlich, dass sich diese demokratische Armee - übrigens zum ersten Mal in Deutschland - sehr gut in eine
freiheitlich-demokratische Gesellschaft integriert hat.
Die Bundeswehr hat ein großes Reservoir an Wehrpflichtigen, aus denen wir gute und qualifizierte Nachwuchskräfte gewinnen. Dass das gut ist, sehen wir daran,
dass unsere Soldaten, die handwerkliche Fähigkeiten aus
zivilen Berufen mitbringen, beim Wiederaufbau in Afghanistan sowie im Kosovo und überall dort, wo sie eingesetzt werden, gute Arbeit leisten und deswegen Botschafter Deutschlands in anderen Ländern sind.
Die Briten werben mittlerweile in Kneipen. In einigen
Berufsarmeen sind Vorstrafen erlaubt. In Spanien hat
man die Anforderungen nach der Umstellung auf eine
Berufsarmee drastisch herunterschrauben müssen, übrigens auch in den Vereinigten Staaten.
Nach der Wiedervereinigung und nach dem
11. September 2001 brauchen wir - das ist uns allen
klar - eine neue Armee. Wir brauchen andere Fähigkeiten: Mobilität, Flexibilität, hohe technische Fähigkeiten
und Intelligenz. Ich bestreite ganz entschieden, dass wir
uns deswegen von der Wehrpflicht abwenden müssen.
Ich halte es sogar für gut, dass wir uns ihr erneut zuwenden.
({0})
Die CDU/CSU-Fraktion hat ein Konzept zum Heimatschutz vorgelegt, das wir nicht erfinden mussten. Wir
mussten nur in andere Länder schauen, in denen das bereits umgesetzt wird.
Der Verteidigungsminister, Herr Parlamentarischer
Staatssekretär, sagt zwar, dass er an der Wehrpflicht festhalten will; aber er tut nichts, um das umzusetzen.
({1})
Die Einberufungspraxis ist lasch und die Wehrgerechtigkeit dann verfehlt, wenn Sie im verteidigungspolitischen
Programm nur noch 30 000 Wehrpflichtige vorsehen.
Das kann so nicht funktionieren. Das führt dann dazu,
dass man sich damit möglicherweise vor Gerichten auseinander setzen muss. Die Wehrpflicht wird dann quasi
auf dem Rechtswege abgeschafft. Das kann nicht in unserem Sinne sein.
Wenn der Verteidigungsminister zu seinem Programm
stünde - ich habe das gestern schon in einem anderen
Zusammenhang gesagt -, dann würde er für die Wehrpflicht kämpfen und sich der Diskussion stellen und
nicht warten, bis die Wehrpflicht abgeschafft ist. Das
findet leider nicht statt.
({2})
Hier ist schon genug zum sozialen Pflichtjahr anstelle
des Zivildienstes gesagt worden. Wir lehnen das soziale
Pflichtjahr ab,
({3})
weil noch heute - das ist bekannt - junge Frauen und
junge Männer sehr unterschiedliche Lebensbiografien
haben. Denn auch noch heute sind es die Frauen, die weniger Berufsjahre haben, weil sie das Familienleben
gestalten und weil sie, wenn die Kinder groß sind, die
Eltern pflegen, die anderenfalls möglicherweise in ein
Altersheim müssten, wenn sie nicht mehr allein zu
Hause leben könnten.
({4})
Ein Kollege aus der französischen Nationalversammlung hat auf meine Frage, wie die Umstellung zur Berufsarmee vonstatten gehe, gesagt, er müsse zugeben,
dass man zurzeit den Kontakt zwischen Armee und Nation verloren habe. Das sagt ein Franzose.
({5})
Das ist ein Satz - das muss ich Ihnen sagen -, der mich
sehr nachdenklich gemacht hat. Ich gebe Ihnen auch
wieder, was mir ein ehemaliger amerikanischer Kollege
aus dem Kongress gesagt hat, der damals für die Freiwilligenarmee gestimmt hat. Er hat mir gesagt, er würde das
nicht wieder tun, und zwar aus einem ganz bestimmten
Grunde: Er habe festgestellt, dass man sehr viel vorsichtiger mit der Entscheidung, ob man Soldaten in eine
Auseinandersetzung schikken solle, umgehe, wenn man
die eigenen Söhne schicke.
({6})
Hingegen sage man bei einer Berufsarmee sehr viel eher:
Die wissen doch, worauf sie sich da eingelassen haben.
Das ist der Grund dafür, warum ich mir Gedanken
darüber mache, wie wir die Wehrpflicht erhalten und
besser ausbauen können. Wir haben dazu ein Konzept
geliefert. Ich bin überzeugt, auch Sie werden eines Tages
Gefallen an diesem Konzept finden und uns dann zustimmen.
Ganz herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jutta DümpeKrüger, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei
Punkte vorab in Richtung FDP: Wer meint, bei der Diskussion über die Wehrpflicht nicht auch den Zivildienst
und die freiwilligen Dienste mitnehmen zu müssen, der
macht einen Fehler. Das ist das Erste.
Das Zweite: Frau Lenke, es ist wahr, dass in allen
Fraktionen außer in meiner öffentlich überlegt worden
ist, ob man einen solchen Zwangsdienst überhaupt
schaffen kann. Ich habe nachgelesen, dass zum Beispiel
Ihr Herr Brüderle hier gesagt hat, man könnte überlegen,
ob man nicht Sozialhilfeempfänger einspannt, damit
diese der Gesellschaft eine Gegenleistung erbringen.
({0})
Auch aus der CDU hat man ähnliche Stimmen gehört. Es
bringt uns aber überhaupt nicht nach vorn, wenn wir uns
gegenseitig in die Pfanne hauen. Ich finde aber, es ist
wichtig, darüber zu diskutieren, warum wir kein soziales
Pflichtjahr wollen. Diesen Punkt möchte ich hier noch
einmal ansprechen.
Ein soziales Pflichtjahr würde einen unnötigen und
tiefen staatlichen Eingriff in die Rechte von Menschen
und ihre persönliche Lebensplanung bedeuten.
({1})
Es ist gesetzwidrig und unbezahlbar sowie eine Sackgasse, die Freiwilligkeit und bürgerschaftliches Engagement im Keim erstickt. Wer meint, nach dem Ende der
Wehrpflicht - wenn es denn kommt und wann es dann
kommt; es kommt aber ganz sicher ({2})
und dem damit verbundenen Auslaufen des Zivildienstes
als Ersatzdienst einen neuen Zwangsdienst einführen zu
müssen, der muss sich mit vielfältigen Problemen auseinander setzen, zum Beispiel dem, dass unser Grundgesetz aus gutem Grund ein soziales Pflichtjahr verbietet.
Ich glaube, das ist auch richtig so, denn ein Staat, der
seinen Bürgern zwangsweise vorschreiben wollte, was
sie für ein Jahr oder einen anderen begrenzten Zeitraum
zu tun oder zu lassen haben, müsste dafür schon sehr
gute Gründe haben. Aber selbst dann, wenn sich eine
Zweidrittelmehrheit für eine solche Grundgesetzänderung finden würde, wäre die Einführung eines solchen
Zwangsdienstes nicht möglich, da bei uns in Deutschland - das ist vorhin schon einmal angesprochen worden - Menschenrechtskonventionen ebenso wie nationales Recht gelten.
Hintergrund der gesamten Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht, um das Auslaufen des Zivildienstes und auch um das soziale Pflichtjahr ist die Sorge, wer
die Arbeit der Zivildienstleistenden übernimmt, wenn es
den Ersatzdienst für die Wehrpflicht nicht mehr gibt. Ich
persönlich finde es sehr erstaunlich, dass wir nicht als
Erstes auf die Idee kommen, aus der Not eine Tugend zu
machen und zu sagen: Gerade in den Bereichen, in denen Zivildienstleistende heute arbeiten, können wir neue
Arbeitsplätze schaffen.
({3})
Wir können Ideen für neue, einfachere Jobs für junge
und auch für ältere Menschen entwickeln, die wir damit
aus der Arbeitslosigkeit holen können.
({4})
Einige Verbände gehen schon mit sehr gutem Beispiel
voran und entwickeln neue Berufsbilder. Die Kommission, die Renate Schmidt, unsere Familienministerin,
einberufen hat, hat hier viele positive Impulse gesetzt
und alle am Umbau Beteiligten mit ins Boot geholt, damit wirklich innovativ gestaltet werden kann.
Stattdessen führen wir wiederholt eine Debatte über
die teure Sackgasse Zwangsdienste. Es gibt dazu eine
Berechnung der Zentralstelle KDV, also der Zentralstelle
für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus
Gewissensgründen. Danach müssten jährlich ungefähr
500 000 junge Erwachsene ein soziales Pflichtjahr leisten, wenn es denn möglich wäre. Das würde circa
7,5 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Andere Berechnungen gehen sogar von 10 Milliarden Euro aus.
({5})
Spätestens an diesem Punkt muss man all diejenigen, die
das befürworten, fragen: Wer soll das wie finanzieren?
({6})
Darüber hinaus gäbe es weitere Probleme: Staatlicher
Zwang zieht immer auch staatliche Kontrolle nach sich.
Es müssten Instanzen geschaffen werden, die dafür sorgen, dass sich niemand drückt. Es müsste ein Sanktionensystem und im Umkehrschluss natürlich auch staatliche Fürsorge geben.
Sanktionen dürften keine Geldstrafen sein, weil wir
nicht wollen, dass sich jemand freikaufen kann. Es
bliebe nur der Freiheitsentzug. Aber das können wir alles nicht wollen.
Ich bin darüber erstaunt, dass diejenigen, die Zwangsdienste junger Menschen wollen, häufig die gleichen
sind, die fordern, junge Menschen sollten schneller, klüger und flexibler sein.
({7})
Ihnen Zwangsdienste aufzudrücken ist überhaupt nicht
nötig, weil es ein riesiges Engagement von jungen Menschen für die Freiwilligendienste gibt. Die Nachfrage ist
zwei- bis dreimal so hoch wie das Angebot.
Abschließend bleibt festzuhalten: Zwangsdienste sind
verfassungswidrig und gesellschaftspolitisch der falsche
Weg, weil sie freiwilliges Engagement im Keim ersticken. Darüber hinaus sind sie unbezahlbar. Unser gemeinsames Ziel sollte der Dreiklang sein: Freiwilligendienste ausbauen, neue sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze schaffen und bürgerschaftliches Engagement stärken.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Willi Zylajew, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das soziale Pflichtjahr wird sehr oft als eine großartige
Chance für unsere Gesellschaft dargestellt. Es wird umfänglich angepriesen. Die Vorteile für soziale Einrichtungen und Dienste, Vereine, Verbände und Organisationen werden derzeit mit ministerieller Unterstützung breit
beleuchtet. Es werden die Möglichkeiten für junge Menschen aufgezeigt. Sie sollen die Chance erhalten, einen
Dienst an der Gemeinschaft zu leisten. Sie sollen ein Berufsfindungsjahr durchleben und erleben dürfen. Es wird
vorgeschlagen, dass wir ein bundeseinheitliches zusätzliches Schuljahr praktisch mit dem sozialen Pflichtjahr erledigen könnten. Das mag sicherlich in dem einen oder
anderen Bundesland als hilfreich angesehen werden; ich
denke aber, die 800 000 angepriesenen Arbeitskräfte pro
Jahr - diese Zahl haben der Innenminister und die Justizministerin in den Raum gestellt - werden in einen Hohlraum gestellt. Es wird nichts kommen.
({0})
Ich bin der Auffassung, dass wir von all dem, was angepriesen wird, bei einer Aussetzung oder sogar Abschaffung der Wehrpflicht am Ende nichts erleben werden. Die Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht
- Herr Kollege Schmidt hat dies deutlich gemacht brächte eine Reihe von Problemen mit sich und schüfe
eine Situation, die in viele Bereiche unserer Gesellschaft
deutlich einschneiden würde.
Mit dem Ende der Wehrpflicht, Herr Nachtwei, über
die aus Ihrer Sicht in der Koalition nicht gestritten wird,
wären Auswirkungen auf weite Bereiche unserer militärischen, aber auch zivilen Verteidigung verbunden. Sie
streiten darüber ja durchaus. Herr Bartels hat sehr fair
aufgezeigt, wie die Diskussion und die Beratung in der
SPD verlaufen wird; wir werden sie mit Spannung begleiten müssen.
Ich denke, die Wehrpflicht hat sich in der Vergangenheit bewährt und bewährt sich noch immer. Der Wehrdienst und der Wehrersatzdienst, also der Zivildienst - es
gibt da Dienstleistende bei Feuerwehren, Wohlfahrtsverbänden und Sanitäts- und Hilfsorganisationen -, gehören
zu den tragenden Säulen unserer Gesellschaft. Ich bin
nicht der Auffassung, dass wir dieses erprobte System
durch die Aussetzung der Wehrpflicht in Gefahr bringen
sollten.
Die Wehrpflicht ist erprobt und akzeptiert, sie hat in
der Gesellschaft eine breite Anerkennung gefunden und
findet sie noch. Sicherlich müssen noch ein paar Nachbesserungen vorgenommen werden; das ist unstreitig.
Das Thema Wehrgerechtigkeit müssen wir behandeln,
und zwar sowohl bezüglich des Zivil- als auch bezüglich
des Wehrersatzdienstes. Die CDU/CSU-Fraktion hat
dazu Vorschläge entwickelt und diese Vorschläge nun
zum wiederholten Male zur Diskussion vorgelegt. Die
Antwort von Ihrer Seite ist immer die gleiche: Sie wollen letztendlich unter dem Druck der Grünen weg von
der Wehrpflicht.
Wir meinen, dass wir damit einen Schaden anrichten
würden, der weit über die friedenspolitische Bedeutung
einer Wehrpflichtarmee hinausgeht und der in diesem
Land zu Lasten und Veränderungen führt, deren Wirkungen wir noch nicht übersehen können. Daher begrüßen
wir in dieser Diskussion alle Vorschläge, die nach vorne
orientiert sind. Aber die Position, die von Zypries und
Schily eingenommen wird,
({1})
ist schlichtweg unverantwortlich.
Danke sehr.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Ursula Mogg, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Bundesrepublik Deutschland während der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wie man ja jetzt sagen muss,
mühsam und zum Teil quälend an die neue sicherheitspolitische Wirklichkeit herangetastet. Das Ergebnis ist
bekannt. Der alte Anspruch und die neue Wirklichkeit
waren in Einklang zu bringen. Ich behaupte, dass wir
diese Herausforderung fürs Erste bestanden haben. Auf
dem Balkan hat die Bundesrepublik den Prototyp ihrer
neuen Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt und ihn
in Afghanistan fortentwickelt. Unsere Gesellschaft hat,
was nicht selbstverständlich war, anerkannt, dass der
Einsatz militärischer Mittel ein kleiner, aber wichtiger
Baustein im Kampf in einer unsicheren Welt ist.
Die Bundeswehr hat ihre ersten Einsätze jenseits der
Landesgrenzen mit einer Wehrpflichtarmee bestanden.
Dabei hat sie sich im internationalen Rahmen einen hervorragenden Ruf und ein gutes Ansehen bei den Menschen, für deren Sicherheit sie Verantwortung trägt, erworben. Nicht ohne Grund haben unsere Soldaten auch
zu Hause eine gute Reputation, wie eine Untersuchung
des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr
gerade in diesen Tagen gezeigt hat: Bei zwei von drei
Befragten überwiegen die positiven Eindrücke. Zur
Wehrpflicht äußert sich jeder zehnte befragte Bundesbürger sehr positiv, jeder dritte eher positiv und nur wenige, 8 Prozent, äußern sich negativ.
Überdurchschnittlich positiv, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der FDP, wird die Wehrpflicht im Übrigen
von den Anhängern Ihrer Partei bewertet.
({0})
- Nein, ich beziehe mich auf die Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr.
({1})
Dabei, Frau Kollegin, sind im Zeitverlauf zwischen 1996
und 2003 nur geringfügige Schwankungen zu erkennen.
({2})
Deshalb haben wir in der Debatte über die Zukunft der
Wehrform jeden, wirklich jeden Grund, im Interesse eines weiteren Konsenses ebenso bedacht und sorgfältig
vorzugehen, wie wir das in den letzten eineinhalb Jahrzehnten in der Sicherheitspolitik insgesamt getan haben.
Ein Blick auf einige Punkte, die hier zum Teil auch
schon angesprochen wurden, belegt dies. Die Gegner der
Wehrpflicht
({3})
betonen das Argument, die neue sicherheitspolitische
Welt brauche eine Profiarmee.
({4})
- Frau Kollegin Lenke, das ist ganz sicher richtig, bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass eine Wehrpflichtarmee unprofessionell arbeitet.
({5})
Ganz im Gegenteil, die gegenwärtige Mischung aus freiwilligen und wehrpflichtigen Soldaten hat den Realitätstest bereits bestanden. Deutsche Soldaten haben im Einsatz bewiesen, dass sie jede Kompetenz haben, die man
ihnen abfordert.
({6})
- Herr Kollege Nolting, zu Beginn dieser Woche hatte
ich das Vergnügen, an der Bundeswehruni in Hamburg
mit jungen Soldaten über das Pro und Contra der Wehrpflicht zu diskutieren.
({7})
Die jungen Männer haben dort vorgetragen, dass sie auf
den Übungen und bei den Einsätzen die Erfahrung gemacht haben, dass sie gegenüber ihren Partnern aus den
anderen Ländern wirklich „eine Schnitte machen“, wie
ein junger Soldat mir gegenüber formulierte.
({8})
Dieses Argument gilt im Übrigen auch für die Wehrpflichtigen, die an diesen Übungen teilnehmen.
({9})
Es gehört zu unserer Verantwortung als Abgeordnete,
im Interesse der Sicherheit unseres Landes einen Blick
auf die Möglichkeiten der Rekrutierung zu werfen;
({10})
die Kollegin Lietz hat das ja auch schon sehr dezidiert
getan. Die sicherheitspolitische Welt des 21. Jahrhunderts verlangt hoch motiviertes, qualifiziertes und gut
ausgebildetes Personal. Wir brauchen die Besten und die
Klügsten.
({11})
Mit dem gegenwärtigen System der Wehrpflichtarmee
erreichen wir nach wie vor die Breite der Gesellschaft.
({12})
- Doch, das tun wir!
({13})
Der Anteil derjenigen, die sich aus dem Grundwehrdienst heraus als Zeitsoldaten verpflichten, ist groß. Wir
wissen aus den Erfahrungen derjenigen unserer Partner,
die die Wehrpflicht abgeschafft haben, dass die Rekrutierung ein großes Problem darstellt, wenn die Streitkräfte nur ein Arbeitgeber unter vielen sind. Dieses Problem wird sich aus meiner Sicht vor dem Hintergrund
des demographischen Wandels noch verstärken. Außerdem ist die Feststellung, eine Freiwilligenarmee wäre
preiswerter, eine oft verbreitete Mär; der Herr Staatssekretär hat dies dankenswerterweise ganz deutlich unterstrichen.
Liebe Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich komme zum Schluss. - Der Staat hat gegenüber
seinen Bürgern die Aufgabe der Risikovorsorge, der Sicherheitsvorsorge. Wir sollten alle Argumente offen und
fair miteinander austauschen. Dann - das ist meine feste
Überzeugung - werden wir zu dem Ergebnis kommen,
dass die Wehrpflichtarmee eine angemessene Antwort
auf die Herausforderungen der Zukunft ist.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP und die PDS lehnen die Wehrpflicht ab. Ich
gebe zu, unter meinen Stichworten stand bis zur Rede
des Kollegen Nachtwei auch noch: die Grünen.
({0})
Die PDS lehnt die Wehrpflicht nicht erst seit dem Urteil
des Verwaltungsgerichtes Köln ab, sondern ist grundsätzlich gegen die Wehrpflicht, übrigens auch als Lehre
aus einer gewissen Vergangenheit; dazu komme ich
gleich noch. Die SPD tut sich mit dem Urteil schwer, ich
könnte es auch andersherum sagen: Sie nehmen es auf
die leichte Schulter und hoffen nun auf „bessere Richtersprüche“. Die CDU/CSU ficht ohnehin für die Wehrpflicht; das ist nicht neu, es macht die Wehrpflicht allerdings nicht besser.
({1})
Die PDS ist der Meinung: Die Wehrpflicht ist ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert.
({2})
Wir lehnen sie aus drei Gründen ab: Es gibt hierzulande
zwar eine Wehrpflicht, aber keine Wehrgerechtigkeit.
Die FDP hat gesagt: Die Einberufungspraxis ist eine
Lotterie. Das stimmt - mit einem Unterschied: Lotto
kann man spielen, man kann es auch sein lassen. Die
Wehrlotterie ist hingegen kein wahlfreies Glücksspiel,
sondern eine Pflichtveranstaltung.
Der zweite Grund für unsere Ablehnung: Die Wehrpflicht ist nicht nur eine Pflichtveranstaltung, sie ist ein
Zwangsdienst. Die PDS lehnt Zwangsdienste jeder Art
ab, also auch die so genannten Wehrersatzdienste, egal
unter welchem Namen sie verordnet werden.
Der dritte Grund: Die Wehrpflicht ist nicht irgendein
Zwangsdienst, sie ist ein Zwang zum Kriegsdienst, allemal angesichts der herrschenden Militärdoktrin, die
weltweite Einsätze inzwischen als Normalfall vorschreibt;
({3})
wir haben unter dem vorigen Tagesordnungspunkt gerade darüber debattiert.
Die Wehrpflicht ist also überholt, sie ist ungerecht
und sie ist obendrein friedensgefährdend;
({4})
auch deshalb sagen wir Nein.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte das
Thema „Wehrpflicht“ nun allerdings noch etwas ausweiten. Ich teile nämlich die Auffassung:
Wer soziale Hilfe in Anspruch nimmt, darf nicht
diskriminiert werden.
Eigentlich müsste ich jetzt Beifall aus den Reihen der
SPD-Fraktion hören, denn dieser Satz stammt aus Ihrem
noch gültigen Grundsatzprogramm. Ihre Politik anno
2004 sieht allerdings ganz anders aus: Wer soziale Hilfe
braucht, wird von Ihnen in Arbeit gezwungen, egal zu
welchen Bedingungen und zu welchem Preis. Das ist das
Herzstück Ihrer so genannten Arbeitsmarktreformen.
({6})
Während die einen also gegen Zwangsdienste beim
Militär kämpfen, führen andere Zwangsdienste auf dem
Arbeitsmarkt ein. An dieser Stelle schließt sich leider die
übergroße Koalition von Grünen bis zur CSU. Nach Ihrer Argumentation gegen Zwangsdienste, Frau DümpeKrüger, die bemerkenswert war, hätten Sie große Teile
der Hartz-Pakete eigentlich ablehnen müssen, damit solche Zwangsdienste am Arbeitsmarkt nicht eingeführt
werden.
({7})
Die PDS will beides nicht: Sie will keinen Zwang zum
Krieg und keinen Zwang zur Fron.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Klaas Hübner, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Rahmen dieser Debatte müssen wir darüber
sprechen, und zwar unaufgeregt, welche Wehrform die
bessere für unser Land und für unsere Streitkräfte ist.
Dazu muss man zuerst betrachten, welche Wehrform die
Streitkräfte momentan haben und wie sie sich bisher dargestellt hat.
({0})
Meines Erachtens hat sich die Wehrpflicht bisher eindeutig bewährt, und zwar sowohl gesellschaftspolitisch
als auch sicherheitspolitisch. Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform hat zu einer hohen gesellschaftlichen
Akzeptanz unserer Bundeswehr geführt. Die Wehrpflicht
bindet die Bürger in die Landesverteidigung ein und fördert die Identifikation sowohl mit dem Staat als auch mit
seinen Streitkräften. Die Integration der Bundeswehr in
die Gesellschaft - damit haben wir bürgernahe Streitkräfte - ist zu einem Qualitätsmerkmal geworden, das
als ein herausragender gesellschaftspolitischer Erfolg für
unser Land angesehen werden kann.
({1})
Mit der Wehrpflicht werden dadurch, dass auf Rekruten aus allen Bevölkerungskreisen zurückgegriffen wird,
weitgehend sozial repräsentative und aufgeschlossene
Streitkräfte sichergestellt. Durch die Wehrpflicht wird
das Spektrum der gesamten Gesellschaft widergespiegelt. Das halte ich für sehr wichtig, zumal dadurch das
Leistungs- und Bildungspotenzial der Bevölkerung für
die Streitkräfte umfassender genutzt werden kann. Gerade dieses gesamtgesellschaftliche Bildungs- und Leistungspotenzial hat zu der herausragenden Qualität der
Bundeswehr insbesondere auch bei den neuen und wichtigen friedenserhaltenden Einsätzen geführt.
Gehen Sie einmal in das Gefechtsübungszentrum in
der Letzlinger Heide und sprechen dort mit den Ausbildern, die die Soldaten auf die Auslandseinsätze vorbereiten.
({2})
- Auf diesen Punkt komme ich noch zu sprechen, Herr
Nolting. - Sie werden feststellen, dass der Umgang mit
Wehrpflichtigen im Inland, die gerade keine Profis sind,
dazu führt, dass die Truppenführer und Untertruppenführer, die ins Ausland gehen, bestimmte zivile Fähigkeiten
besitzen und einen anderen Umgang mit der Bevölkerung haben. Nicht umsonst zählt die Bundeswehr überall
dort, wo sie im Ausland eingesetzt wird, in der Regel mit
zu den beliebtesten ausländischen Streitkräften. Ein
Grund liegt auch darin, dass sich unsere Soldaten immer
wieder mit Wehrpflichtigen auseinander setzen müssen.
Das halte ich für eine positive Fähigkeit, die auch weiterhin zwingend vermittelt werden muss.
Wer sich also von der Wehrpflicht verabschieden will,
der muss wissen, dass die Bundeswehr einen neuen Charakter bekommt.
({3})
Das ist dann nicht mehr die Bundeswehr, die wir jetzt
haben. Meines Erachtens sollten wir uns das sehr genau
überlegen.
({4})
- Ich rede positiv über sie. Das bringt mich übrigens zu
einem wichtigen Punkt: Wissen Sie, woher die Zeit- und
Berufssoldaten rekrutiert werden? 25 Prozent des Offiziersnachwuchses werden aus dem Bereich der Wehrpflichtigen rekrutiert. 45 Prozent der Wehrpflichtigen
verpflichten sich während ihres Wehrdienstes als Zeitsoldaten. Mehr als neun Millionen deutscher Männer haben seit Bestehen der Bundeswehr den Grundwehrdienst
geleistet und damit zu einer engen Verbundenheit zwischen Bundeswehr und Bevölkerung beigetragen. Sie
haben mitgewirkt, Akzeptanz und Vertrauen für die Aufgaben der Sicherheitspolitik und der Bundeswehr in der
Gesellschaft zu erhalten.
Zum finanziellen Aspekt - Staatssekretär Wagner hat
das angesprochen -: Wenn Sie die Wehrpflicht abschaffen
({5})
- von mir aus auch aussetzen - und die Wehrpflichtigen
durch Zeitsoldaten ersetzen, dann wird das zu einer milliardenschweren Mehrbelastung des Einzelplans 14 führen. Angesichts der finanzpolitischen Lage ist es unlauter, zu sagen, der Etat müsse erhöht werden. Sagen Sie
bitte, woher das Geld kommen soll. Wenn das nicht geht
- und das kann es nicht -, dann lautet die Konsequenz,
dass dieses Geld dort fehlen wird, wo wir es dringend
brauchen. Aufgrund der neuen Aufgaben, die wir der
Bundeswehr zugewiesen haben, brauchen wir es nämlich für ihre materielle Aus- und Umrüstung. Deshalb ist
das Argument, das Sie hier einführen, sehr unlauter. Insbesondere in Bezug auf ihre neuen Aufgaben wäre das
wirklich ein Nachteil für die Bundeswehr.
An der Wehrpflicht lässt sich auch festmachen, in
welchem Verhältnis wir den Staat und die Bürger in unserem Lande sehen. Ich glaube, wir alle müssen uns die
Frage stellen, ob wir die Bundeswehr weiterhin als einen
integrativen Bestandteil unserer Gesellschaft sehen wollen oder ob wir mit dieser Diskussion dem Vorschub
leisten wollen, dass Sicherheit eine Ressource wird, die
auch outgesourced werden kann. Ich denke, das kann
nicht in unserem Sinne sein.
({6})
- Frau Kollegin, weil sie so ist, wie sie ist, genießt die
Bundeswehr ein sehr hohes Ansehen in unserem Land.
Die Zeit- und Berufssoldaten und auch die Wehrpflichtigen haben herausragende Leistungen erbracht. Ich
denke, man kann gar nicht oft genug sagen, dass unseren
Soldatinnen und Soldaten dafür zu danken ist.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Herrmann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion um die Wehrpflicht ist sicherlich so alt wie das
Wehrpflichtgesetz selbst. Seit der Einführung des Wehrpflichtgesetzes im Jahre 1956 hat man sich immer wieder mit der Wehrpflicht beschäftigt. Ich glaube, das ist
auch richtig und gut so; denn die heutige Form der
Wehrpflicht hat es 1956 noch nicht gegeben. Ich denke,
ihre Weiterentwicklung ist Teil eines gesellschaftlichen
Prozesses. Dieser Prozess ist nicht nur für die Gesellschaft wichtig, sondern auch für die Bundeswehr.
Das Konzept der inneren Führung und die Wehrpflicht haben die Bundeswehr geprägt. Sie ist gesellschaftlich absolut integriert. Ihr Demokratieverständnis
ist so ausgeprägt, wie es bisher bei noch keiner Armee in
unserer Gesellschaft der Fall war. Ihre Leistungsfähigkeit ist uneingeschränkt. Ich glaube, das können wir
unseren Soldatinnen und Soldaten - egal ob sie Wehrpflichtige oder Berufs- bzw. Zeitsoldaten sind - eindeutig attestieren.
({0})
Daraus resultierend hat sich der so genannte Bürger in
Uniform entwickelt. Frau Mogg, Sie haben den Bürger
in Uniform ja bereits angesprochen. Ich glaube, er verbindet die Bundeswehr mit der Gesellschaft. Das ist ein
sehr wichtiger Aspekt. Ich glaube, man kann ihn nicht
hoch genug hervorheben.
({1})
Dr. Bartels - er ist leider nicht mehr anwesend - hat
vorhin gesagt, er hätte sich diese Diskussion über die
Wehrpflicht zu einem anderen Zeitpunkt gewünscht. Das
hätte ich mir auch. Die Diskussion über die Wehrpflicht
gehört sicherlich nicht an das Ende einer parlamentarischen Woche.
({2})
Deswegen sage ich ganz klar: Die Fraktionen von CDU/
CSU und FDP haben gefordert, diese Aktuelle Stunde
auf einen anderen Zeitpunkt vorzuverlegen und sie nicht
am Ende einer Sitzungswoche durchzuführen. Das wäre
der Bedeutung dieses Themas angemessen gewesen.
({3})
- Na ja, ich denke, Sie haben einen entscheidenden Einfluss darauf genommen.
({4})
Wir hätten uns die unsägliche Debatte am gestrigen Tage
ersparen und dieses Thema lieber dort behandeln sollen.
({5})
- Wir können vielleicht alle zusammen singen, es kann
aber nur einer reden. Von daher würde ich Sie bitten, mir
einmal zuzuhören.
({6})
Es gibt viele Gründe für, aber auch gegen die Wehrpflicht. Ich glaube, die Ausgangslage ist eindeutig definiert. Gemäß Art. 12 a des Grundgesetzes soll insbesondere die Landesverteidigung durch die Wehrpflicht
sichergestellt werden. Es ist gar keine Frage: Die Landesverteidigung ist im Laufe der Jahre neu definiert worden. Das Bundesverfassungsgericht sieht auch Auslandseinsätze zur Landesverteidigung als Grundlage für
die Wehrpflicht an. Die asymmetrische Bedrohung und
internationale Verpflichtungen tragen dazu bei, dass die
Wehrpflicht gerechtfertigt ist.
In der Diskussion ist mir folgender Punkt etwas zu
kurz gekommen: Wir dürfen die Wehrpflicht nicht vernachlässigen. Sie darf aus der Liste der Methoden, mit
denen die alte Landesverteidigung - so, wie sie gedacht
ist - sichergestellt werden soll, also nicht herausgestrichen werden. Ich glaube, das würde dem Ganzen nicht
gerecht.
Die Rechtmäßigkeit der Wehrpflicht ist unbestritten;
das hat Herr Wagner eben auch gesagt. Es gibt ein Urteil
des Verfassungsgerichts vom 20. Februar letzten Jahres,
in dem ganz klar steht, dass die Wehrpflicht rechtmäßig
ist. Sie ist aber nicht nur unter verfassungsrechtlichen
Grundsätzen zu werten, sondern auch unter der - ich zitiere - „politischen Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit“.
Der eigentliche Auftrag der Wehrpflicht ist es nicht
- darüber haben wir eben diskutiert -, die anderen
Dienste in unserem Staat aufrechtzuerhalten. Aber sie resultieren daraus. Ohne die zusätzlichen Dienste, bei denen sich junge Männer freiwillig verpflichten,
({7})
wäre unsere Gesellschaft wesentlich ärmer. Bei Polizei,
BGS, THW, Katastrophenschutz und Feuerwehr leisten
viele junge Menschen einen wichtigen und guten Beitrag
für die Gesellschaft. Es ist richtig, dass die jungen Männer diesen Dienst leisten.
Ein weiteres Thema ist die Nachwuchsgewinnung.
50 Prozent der Berufs- und Zeitsoldaten verpflichten
sich aufgrund ihrer Tätigkeit als Wehrpflichtige. Dies
tun sie - das muss man beachten - meist erst nach dem
sechsten oder siebten Monat. Zu dem Zeitpunkt haben
sie sich gefunden und entschieden, Berufs- oder Zeitsoldat zu werden. Diese wichtige Aussage höre ich in Gesprächen mit Kommandoführern immer wieder.
Über die Probleme in anderen Ländern ist ebenfalls
schon berichtet worden. Denken Sie an die belgische Armee. Nachdem man die Wehrpflicht abgeschafft hat, ist
sie vollkommen überaltert. Ähnliches wird uns auch bevorstehen. Dem kann man sicherlich nicht so ohne weiteres entgehen. Die Bereitschaft, zur Armee zu gehen,
wird immer geringer werden. Ein anderes Problem hat
Spanien. Dort sinkt das Niveau, weil die jetzt eingestellten Soldaten teilweise einen IQ von 85 besitzen. Das ist
Sonderschulniveau. Ich glaube nicht, dass dies zur Professionalisierung beiträgt. Im Übrigen überlegen die
USA zurzeit, ob sie die Wehrpflicht, die sie kurzfristig
ausgesetzt haben, wieder einführen.
Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit möchte ich zum
Abschluss nur sagen, dass die Wehrpflicht für die Bundeswehr in der Vergangenheit und der Gegenwart von
besonderer Bedeutung war und ist. Das Bundesverfassungsgericht misst ihr einen hohen staatspolitischen
Rang zu. Wir sind gut beraten, die Wehrpflicht beizubehalten. Ich sage ganz deutlich: Wer sie aussetzen will,
wird sie abschaffen. Meine Damen und Herren von der
SPD, ich schätze es sehr, dass Sie sich für die Wehrpflicht einsetzen. Aber tragen Sie auch dazu bei, dass es
nicht bei leeren Worthülsen bleibt. Entwickeln Sie mit
den Wehrpflichtigen feste Planungen, sodass wir auch in
Zukunft auf die Wehrpflicht vertrauen können.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Lenke, selbstverständlich werde ich Ihnen gerne
meine Meinung sagen, wenn Sie mich ausreden lassen;
denn Sie rufen immer so viel dazwischen, dass das
schwierig wird. Tatsächlich hatte der eine oder andere
Redner echte Probleme.
({0})
Die Debatte über die Zukunft der Wehrpflicht ist für
mich eine berechtigte Diskussion, die jetzt stattzufinden
hat. Wir brauchen einen vernünftigen Zeithorizont und
eine vernünftige Fragestellung, wie wir mit der Wehrpflicht zukünftig umgehen. Ich finde diese Frage nicht,
wie der eine oder andere es hier dargestellt hat, unberechtigt, sondern durchaus berechtigt. Wie sieht es mit
der Wehrgerechtigkeit und der Einberufungsgerechtigkeit aus? Wie steht es mit den veränderten Anforderungen an die Armee? Darauf müssen wir Antworten finden.
Wir sollten aber die Diskussion ergebnisoffen führen.
Wir sollten uns nicht, wie Sie von der FDP das tun, von
vornherein festlegen. Sie haben ein Konzept für eine Berufsarmee und wollen das umsetzen. Es geht aber nicht
nur darum, wie das organisiert werden kann. Es geht
nicht nur um finanzielle Fragen, sondern damit gehen
auch gesellschaftspolitische Fragen einher. Wir brauchen
innerhalb dieser Gesellschaft eine breite Diskussion, um
Veränderungen an einem solch zentralen Thema im Konsens herbeiführen zu können.
Sie haben der Koalition einen Streit in dieser Sache
vorgeworfen. Dazu kann ich nur sagen: Uns war im Rahmen der Koalitionsvereinbarungen von vornherein klar,
dass es hier einen Dissens gibt, den es aufzulösen gilt.
Dabei haben wir miteinander eine Zeitschiene vereinbart. Wenn ich allerdings sehe, welche Unterschiede es
in dieser Frage zwischen der CDU/CSU und der FDP
gibt,
({1})
dann befürchte ich, dass Sie sich niemals zu einer Koalition zusammenfinden könnten. Spätestens bei dieser
Frage würde eine mögliche Koalition scheitern. Das ist
für mich ganz klar.
Die Überlegung, die Wehrpflicht dadurch zu manifestieren, dass auf der Grundlage der terroristischen Bedrohung der Tätigkeitsbereich der Bundeswehr auf Aufgaben im Innern ausgedehnt wird, zum Beispiel bei der
Objektbewachung, halte ich für gewagt. Mit einer Ausweitung der Aufgaben kann doch nicht die Wehrpflicht
gerettet werden. Ich denke, darüber muss man sehr ernsthaft nachdenken. Wir haben die Fragen gestellt. Die
SPD-Fraktion hat sich für die Beantwortung dieser Fragen einen ganz klaren Zeitrahmen gesetzt. Wir werden
die Diskussion intern fortführen. Wir werden im November nächsten Jahres auf einem Parteitag die Frage ausführlich diskutieren und darüber beschließen. Daher gibt
es aus meiner Sicht Planungssicherheit.
Sie, Frau Lenke, erheben den Vorwurf, wir wollten
das Thema in den Wahlkampf ziehen.
({2})
Eine solch zentrale Frage darf durchaus auch im Wahlkampf diskutiert werden. Da darf man sich positionieren
und den Menschen in diesem Lande sagen, wie man sich
die Zukunft der Wehrpflicht vorstellt.
Lassen Sie mich noch einige Ausführungen zur Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr machen. Frau
Lenke, Ihr Beitrag ließ vermuten, die Koalition hätte
eine Grundgesetzänderung vorgelegt. Dem ist mitnichten so.
({3})
Es gibt einzelne Personen, die sich dazu geäußert haben.
({4})
Wenn mich jemand fragen würde, Frau Lenke, so wie
die Justizministerin gefragt worden ist, ob es rechtlich
möglich sei, ein soziales Pflichtjahr einzuführen, dann
würde ich antworten, dass das bei einer Grundgesetzänderung möglich sei. Damit habe ich aber nicht gesagt,
ob ich das soziale Pflichtjahr will, ob ich es für richtig
oder für falsch halte. Ich halte die Diskussion über ein
soziales Pflichtjahr ohne jeden Zweifel für falsch.
Ich verweise an dieser Stelle auf die Ergebnisse der
Impulse-Kommission, die das Familienministerium eingesetzt hat. In dieser Kommission waren alle großen
Wohlfahrtsverbände, die A- und B-Länder und die Fraktionen durch die parlamentarische Begleitgruppe vertreten. Das Ergebnis der Kommission war eindeutig: keine
Pflichtdienste. Übrigens habe ich zur Kenntnis genommen, dass die geschätzte Frau Kollegin Maria Eichhorn
heute in einer Presseerklärung mitgeteilt hat, die CDU
sehe dies auch so. Andererseits suchte sie wieder einmal
den politischen Streit und versuchte, das Ganze kleinkariert auseinander zu dividieren, indem sie gesagt hat,
dass die Forderung von fünf Leuten von der SPD, aber
nur von zwei Leuten von der CDU/CSU erhoben worden
sei. Das ist kleinlich. Man sollte sich stattdessen inhaltlich vernünftig positionieren.
({5})
Die Frage, ob es ein soziales Pflichtjahr geben soll, ist
keine Frage, die die SPD-Bundestagsfraktion oder die
Koalition aufgeworfen hat. Diese Frage wurde vielmehr
von Einzelpersonen aufgegriffen. Jeder hat das Recht,
seine persönliche Meinung zu einer solchen Frage zu sagen; das ist unbestritten. Es gibt keine Initiative unsererseits, in diese Richtung vorzugehen.
Ich komme auf die Ergebnisse der Impulse-Kommission zurück, da sie deutlich Alternativen und Möglichkeiten aufzeigt, die man unter Umständen nutzen kann,
falls der Zivildienst einmal wegfallen sollte. Ich hätte
gerne, dass wir über die Wehrpflicht ergebnisoffen diskutieren und fragen, welche möglichen und sinnvollen
Alternativen es gibt. Für die Ergebnisse der ImpulseKommission muss man sehr dankbar sein, auch dafür,
dass die Ministerin diese Kommission initiiert und organisiert hat. Denn mit den Ergebnissen werden wir in Zukunft gemeinsam arbeiten.
Es gibt übrigens Parallelstrukturen. Die Frage der Zukunft der Wehrpflicht kann unterschiedlich beantwortet
werden. Ebenso können unterschiedliche Antworten auf
die Frage der sozialen Absicherung der alternativen
Dienste gegeben werden. So seriös, wie die ImpulseKommission die Fragen beantwortet hat, werden wir uns
mit der Frage der Zukunft der Wehrpflicht beschäftigen.
Sie werden zu gegebener Zeit von der SPD-Bundestagsfraktion auf diese Frage geeignete und richtungsweisende Antworten erhalten. Wir werden die Menschen in
diesem Lande auf diesem Weg mitnehmen.
Danke schön.
({6})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 1998, beim Regierungsantritt von Rot-Grün, konnte
man erahnen, dass die Wehrpflicht unter dieser Regierung wohl keine gute Zukunft haben wird. Ich halte es
für wichtig, zu unterstreichen, dass der Zivildienst mit
der Wehrpflicht zusammenhängt. Die Parlamentarische
Staatssekretärin aus dem Familienministerium war bei
dieser Debatte zeitweise anwesend. Jetzt ist sie ins Wochenende gegangen.
({0})
Das Familienministerium ist für den Zivildienst zuständig. Deshalb wäre es gut, wenn dieses Ministerium auf
der Regierungsbank vertreten wäre.
In den letzten Jahren wurde mit Salamitaktik versucht, sowohl die Wehrpflicht im Verteidigungsbereich
zu schwächen als auch den Zivildienst durch Hemmnisse
bei Zuteilungen von Geld auszuhöhlen.
({1})
Jetzt verschärft sich die öffentliche Debatte über dieses
Thema. Die Debatte ist begrüßenswert, nicht aber die
Art, wie sie geführt wird. Wir haben zwei Minister - allerdings gesellen sich zurzeit noch zwei weitere Minister
mit den nicht unbedeutenden Ressorts Justiz und Inneres
hinzu -, die widersprüchlich vorgehen, wie wir es bei
Rot-Grün auch aus anderen Zusammenhängen kennen.
Die Familienministerin, die aktiv die Abschaffung der
Wehrpflicht betreibt, versucht, den Verteidigungsminister durch den in ihrem Zuständigkeitsbereich liegenden Zivildienst gleichsam durch die Hintertür vom
Kurs des Beibehalts der Wehrpflicht abzubringen. Das
ist Fakt.
({2})
Ich wünsche Verteidigungsminister Struck Stehvermögen bei der Wehrpflicht und hoffe, dass es nicht zu Umfallern oder Unfällen kommt. Wir warten ab, wie sich
der Verteidigungsminister dazu äußern wird.
({3})
Hinzu kommt, dass den Grünen offenbar wieder einmal eine Beruhigungspille verpasst werden muss,
({4})
um einen in anderen Fragen gefügigen Koalitionspartner
zu erhalten. Das ist die derzeitige Lage.
Wie wichtig die Verzahnung einer Bundeswehr mit
Wehrpflichtigen aus der Mitte der Gesellschaft ist - das
wurde in dieser Debatte bereits angesprochen -, ergeben
viele Gespräche zu diesem Thema. Militärexperten beispielsweise stellen fest, dass die Bundeswehr bei Auslandseinsätzen - zum Beispiel in Afghanistan - deshalb
so hoch geschätzt ist, weil unsere Soldaten, die sich länger verpflichten, ursprünglich aus der Wehrpflicht kommen, gesellschaftlich vernetzt sind und damit eine große
Kommunikationskompetenz im Umgang mit der Bevölkerung in diesen Ländern haben. Wenn die Bundesregierung schon nicht die modernste Ausstattung für unsere
Soldaten bereitstellt, dann haben die Soldaten wenigstens im psychologisch-kommunikativen Bereich eine
Kompetenz, die weltweit zum Tragen kommt.
Was das Thema Zivildienst angeht, ist festzuhalten,
dass die Träger und Wohlfahrtsverbände in hohem Maße
die wichtigen ehrenamtlich Tätigen aus dem Zivildienst
rekrutieren.
Die schönen Sonntagsreden zum Ehrenamt nutzen dabei wenig, meine Damen und Herren von Rot-Grün. Sie
müssen sich mit den Verbänden unterhalten, und zwar
nicht nur in den Kommissionen, sondern auch vor Ort.
Dort herrscht nämlich blanke Angst um die Strukturen
vor Ort. Uns von der Union ist klar: Die Bundesregierung will diese Strukturen, die sich im Ehrenamt bewährt haben, zerstören.
Auch an die Adresse der Wohlfahrtsverbände sei gesagt: Wenn man jetzt nach der Devise vorgeht „Lieber
den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“,
dann sollte man bedenken, dass sich der Finanzminister
schon darauf freut, beim Wegfall des Zivildienstes die
885 Millionen Euro seinem Haushalt einzuverleiben.
Nur Träumer können davon ausgehen, dass das Geld in
gleicher Höhe für den Aufbau der Freiwilligendienste in
den Haushalt eingestellt wird.
({5})
Ich sage Ihnen noch etwas voraus: Spätestens 2006
wird es in Deutschland wieder eine Regierung unter
Unionsführung geben.
({6})
Wir werden mit unserem Koalitionspartner über dieses
Thema reden.
({7})
Wenn Sie wirklich die Wehrpflicht abschaffen und den
Weg zu einer Berufsarmee bereiten, dann werden Sie
- das sei vor allem an die Adresse der Grünen gerichtet -, wenn wir die Regierung stellen, wieder alte Feindbilder heraufziehen lassen und davor warnen, dass wir
mit einer Berufsarmee einen Staat im Staate bekommen
würden.
({8})
Es ist gut, dass es eine offene Debatte über das soziale
Pflichtjahr gibt. Vertreter der großen Parteien äußern
sich sowohl für als auch gegen ein Pflichtjahr. Ich
möchte dabei zu bedenken geben: Bei all den Diskussionen müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass gerade
die jungen Menschen zur Mitverantwortung in unserer
Gesellschaft animiert werden sollten. Das muss der
kleinste gemeinsame Nenner sein. Ein Engagement für
Staat und Gesellschaft ist der zentrale Punkt, um Strukturen in unserem Land zu erhalten und zu fördern.
Das heißt aber auch, dass die Wehrpflicht und der Zivildienst so attraktiv gestaltet werden müssen, dass die
jungen Menschen in unserem Land daraus etwas Positives für ihre Lebensgestaltung mitnehmen und das auch
beim Dienst direkt spüren. Es ist auch eine Imagefrage,
wie die Bundeswehr und der Zivildienst ausgestaltet
werden.
({9})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün,
bringen Sie also eine klare Linie in Ihren Laden. Wir
verfolgen bereits eine klare Linie. Eines kann die Regierung phänomenal, nämlich eine große Verunsicherung
bei den Menschen in den verschiedensten Politikbereichen herbeiführen. Eines dieser vielen Verunsicherungspotenziale haben wir in dieser Aktuellen Stunde debattiert.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und ein
schönes Wochenende.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Damit sind wir am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf Mittwoch, den 5. Mai 2004, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und unseren Gästen auf
der Tribüne ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.