Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich bitte Sie, sich zu erheben.
({0})
Am Sonnabend, dem 17. April 2004, verstarb unsere
Kollegin Anke Hartnagel im Alter von 62 Jahren.
Geboren während des Zweiten Weltkrieges in Berlin,
wuchs sie in Hamburg auf und machte dort ihre Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau, sammelte
erste Berufserfahrung und absolvierte die Fortbildung
zur Sparkassenbetriebswirtin. Als sie vor mehr als
30 Jahren Leiterin einer Sparkassenfiliale in Hamburg
wurde, war sie die zweite Frau, die das in Hamburg „geschafft“ hatte.
Wo immer sie lebte, hatte sie ein Auge für die Bedürfnisse der Menschen, die Unterstützung brauchten. Als
sie nach zehn Jahren an der Elfenbeinküste und in Südamerika nach Deutschland zurückkehrte, engagierte sie
sich sofort wieder an ihrem Wohnort Hamburg-Fuhlsbüttel, zunächst als Mitglied der Hamburger Bürgerschaft und ab 1998 als Mitglied des Deutschen Bundestages.
Ihrem Engagement für die Menschen in den unterentwickelten Teilen der Welt ist Anke Hartnagel auch während ihrer Zeit als Mitglied des Deutschen Bundestages
treu geblieben.
Als Mitglied des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und zugleich des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
hat sie immer wieder die politischen Diskussionen durch
ihren Erfahrungsschatz bereichert. Sie machte deutlich,
dass menschliches Interesse und Mitgefühl die Antriebsfeder für jedes politische Engagement sind.
Aufgrund ihres hohen Pflichtgefühls hat sie ihre Arbeit im Bundestag selbst dann noch fortgeführt, als die
schwere Krankheit begann, ihre Kräfte aufzuzehren.
Dass sie ihre Krankheit offen ansprach, sich nicht damit
versteckte, sondern immer beanspruchte, tätig zu sein,
hat Menschen Mut gemacht.
Ihrem Mann und ihrer Familie drücken wir unser tiefes Mitgefühl aus. Wir werden Anke Hartnagel in ehrender Erinnerung behalten. - Ich danke Ihnen.
Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Dr. Hermann
Scheer zu seinem heutigen 60. Geburtstag sehr herzlich.
Ich möchte aber auch einer Kollegin und mehreren Kollegen, die in den zurückliegenden Wochen ebenfalls ihren 60. Geburtstag begingen, gratulieren. Es sind dies:
Christine Lucyga, Bundeskanzler Gerhard Schröder
sowie die Kollegen Ernst Küchler, Ludwig Stiegler
und Walter Kolbow. Ihnen allen nachträglich die besten
Glückwünsche des Hauses!
({1})
Sodann teile ich mit, dass nach einer interfraktionellen Vereinbarung die verbundene Tagesordnung um die
in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert
werden soll:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT: zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen in
Drucksache 15/2965
({2})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis,
Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Günter
Nooke, Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Irmingard ScheweGerigk, Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abgeordneten Joachim Günther ({6}), Horst
Friedrich ({7}), Eberhard Otto ({8}),
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Planung
und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für
den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschallund Weidendammer Brücke vorlegen
- Drucksache 15/2981 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber,
Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine
Kurth ({10}), Rainder Steenblock, Volker Beck
({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Chancen und Potenziale des Deutschlandtourismus in der erweiterten
Europäischen Union konsequent nutzen
- Drucksache 15/2980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({12})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2003 - Einzelplan 20 - Drucksache 15/2885 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Äußerungen aus der
CSU zur Finanzierungslücke von rund 100 Milliarden
Euro in den Konzepten der CDU zur Reform der Sozialund Steuersysteme
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Chancen der
Grünen Gentechnik nutzen - Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren
- Drucksache 15/2979 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Laurischk,
Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags - Regionale
und interregionale Zusammenarbeit - Schaffung von
Eurodistrikten
- Drucksache 15/1111 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur allgemeinen Wehrpflicht
und zu Plänen für ein soziales Pflichtjahr
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Abgesetzt werden sollen die Tagesordnungspunkte
10 a und 10 b - Energieforschungsprogramm -, 12 - Demokratisierung in Moldau -, 13 - Übereinkommen zum
Schutz des menschlichen Lebens auf See - sowie die
zweite und dritte Beratung des in Tagesordnungspunkt 25 b aufgeführten Entwurfs eines Register-Führungsgesetzes. Da die Bundesregierung eine Erklärung
des Herrn Bundeskanzlers zur Erweiterung der Europäischen Union angekündigt hat, an die sich eine Aussprache anschließt, ist die vorgesehene vereinbarte Debatte
obsolet geworden.
Ferner soll die Beratung des FDP-Antrags „Sperrzeiten für Außengastronomie“ bereits nach Tagesordnungspunkt 9 stattfinden und die Änderung des Tierseuchengesetzes, Tagesordnungspunkt 16, ohne Debatte
erfolgen.
Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche
Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Hans Büttner ({15}), Reinhold Hemker, Dr. Peter Danckert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Winfried Hermann,
Volker Beck ({16}), Michaele Hustedt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sportförderung in den
auswärtigen Kulturbeziehungen ausbauen
- Drucksache 15/1879 überwiesen:
Sportausschuss ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen ({18})
- Drucksache 15/2150 ({19})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen
Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen
und Altersbezügen ({20})
- Drucksachen 15/2563, 15/2592 ({21})
Präsident Wolfgang Thierse
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22})
- Drucksachen 15/2986, 15/3004 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Kerstin Andreae
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({23})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/2987 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Walter Schöler
Dr. Günter Rexrodt
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Hans Eichel das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit sind die
zentralen Leitbilder, an denen sich eine zukunftsorientierte Politik messen lassen muss. Denn fast alle politischen Entscheidungen betreffen nicht nur die heutige
Generation, sondern haben auch Auswirkungen auf
kommende Generationen.
({0})
Vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden demographischen Wandels bedeutet die Orientierung an diesen Leitbildern mehr denn je: Keine Generation darf auf
Kosten der nachrückenden Generation leben; andernfalls
ist die langfristige Stabilität unserer Gesellschaft gefährdet.
({1})
- Wissen Sie, zu Ihrem Zwischenruf „Genau wie die
Schulden!“ muss ich Ihnen sagen: Sie haben ja Recht.
Nur, es ist noch gar nicht so lange her, dass ich den größten Schuldenberg der Geschichte von Ihnen übernehmen
musste. Auch das ist die Wahrheit.
({2})
Die Herausforderungen des demographischen Wandels betreffen insbesondere auch die Altersvorsorge. Die
Probleme Altersvorsorge und demographischer Wandel
hängen unmittelbar zusammen. Mit der Einführung der
kapitalgedeckten Altersvorsorge, der so genannten
Riester-Rente, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode einen wichtigen Schritt zu einer nachhaltigen
Alterssicherung vollzogen. Jetzt geht es darum, eine zukunftsfähige und transparente Lösung für die Besteuerung von Alterseinkünften zu finden.
Dazu gehört neben der eigentlichen Besteuerung der
Einkünfte im Alter eine auf diese Besteuerung abgestimmte, einheitliche steuerliche Regelung zur Behandlung der Altersvorsorgebeiträge. Hierzu dient der vorliegende Entwurf eines Alterseinkünftegesetzes.
Die Altersvorsorge wird künftig in zunehmendem
Maße steuerfrei gestellt, sodass die Steuerlast für die erwerbstätige Generation sinkt. Im Gegenzug wird sehr
langfristig auf eine volle Besteuerung der Renten umgestellt. Durch die sehr weichen Übergangsregelungen
wird die Masse der Sozialversicherungsrenten auch weiterhin steuerlich unbelastet bleiben.
Mit der Vorlage des Entwurfs eines Alterseinkünftegesetzes wird der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts
zur gleichmäßigen Besteuerung von Sozialversicherungsrenten, Beamtenpensionen und Erwerbseinkommen umgesetzt. Wir haben gehandelt - diesen Vorwurf
kann ich Ihnen nach Ihren Zwischenrufen nicht ersparen -, nachdem es der Regierung Kohl in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit nicht gelungen ist, eine gerechte
und verfassungsfeste Neuregelung auf den Weg zu bringen.
({3})
Auch das ist ein Beispiel für den eklatanten Reformstau,
den Sie hinterlassen haben.
({4})
Schwerpunkt des Gesetzentwurfes ist, wie schon erwähnt, der schrittweise Übergang zur nachgelagerten
Besteuerung von Alterseinkünften - unter weit reichender Schonung der bestehenden Renten und der rentennahen Jahrgänge.
({5})
- Wissen Sie, mit Petersberg können Sie langsam nun
wirklich nicht mehr kommen.
({6})
Wenn Sie einmal nachlesen, was Herr Koch in seinem
Buch geschrieben hat, werden Sie feststellen, dass es genau das Richtige war, nämlich dass Sie nicht den Mut
hatten, dieses Thema am Beginn der Wahlperiode einzubringen.
({7})
Sie wissen, dass das zur Folge hatte - so original Herr
Koch -,
({8})
dass der Finanzminister damals eigentlich hätte gehen
müssen. Machen Sie das in Ihren eigenen Reihen aus,
aber nicht mit uns!
Des Weiteren enthält der Gesetzentwurf Regelungen
zur Besteuerung von Beamten- und Werkspensionen,
Regelungen, durch die im Bereich der kapitalgedeckten
betrieblichen Altersvorsorge ebenfalls zur nachgelagerten Besteuerung übergegangen wird, und Regelungen,
die das Verfahren bei der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge, der Riester-Rente, vereinfachen und den
Verbraucherschutz verbessern.
Auf der Basis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 2002 hatte die Bundesregierung eine
Sachverständigenkommission eingesetzt, deren Vorschläge in den vorliegenden Entwurf eines Alterseinkünftegesetzes eingegangen sind. Im Ergebnis haben wir
eine systematisch schlüssige und folgerichtige Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen erreicht. Die vorgelegte Neuregelung ist zudem gesamtwirtschaftlich vorteilhaft und sozial tragfähig.
Unser Vorschlag trägt außerdem dazu bei, das Besteuerungssystem transparenter und einfacher zu machen.
Kernelement beim schrittweisen Übergang zur nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften ist die
Freistellung der Altersvorsorgebeiträge der Erwerbstätigen. Bereits im ersten Jahr werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um knapp 2 Milliarden Euro entlastet; in jedem Folgejahr steigt die Entlastung um eine
weitere Milliarde Euro an. Nach 20 Jahren ist die volle
Entlastung der Erwerbstätigen mit jährlich 20 Milliarden
Euro erreicht. Die schrittweise ansteigende steuerliche
Berücksichtigung von Altersvorsorgeaufwendungen erhöht das Nettoeinkommen und erweitert so den Spielraum für die eigene Zukunftsvorsorge. Das war mit der
Riester-Rente vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung ausdrücklich gewollt und notwendig.
Da während der erwerbsmäßig aktiven Lebensphase
wegen der Höhe der dann erzielten Einkommen typischerweise höhere Steuersätze greifen als im Alter, führt
der Übergang auf die nachgelagerte Besteuerung der
Renten auch unter Berücksichtigung der späteren Steuerlast auf die Rente unter dem Strich zu einer Entlastung
der Steuerzahler. Auch bei gesamtwirtschaftlicher Betrachtung ist die nachgelagerte Besteuerung de facto ein
Steuersenkungsprogramm, denn die eben genannten Entlastungen werden durch die erhöhte Besteuerung der Altersbezüge nur teilweise kompensiert. Dass mir das als
Finanzminister nicht ganz leicht gefallen ist; das muss
ich an dieser Stelle, glaube ich, nicht ausdrücklich betonen.
Beide Übergangsphasen - die zur Vollbesteuerung der
Renten und die zur vollen Abziehbarkeit der Altersvorsorgebeiträge - sind dabei so aufeinander abgestimmt,
dass eine Zweifachbesteuerung vermieden wird. Sollte
es in einigen wenigen Spezialfällen - das war ja auch ein
wichtiger Gegenstand der Debatte - die in den Medien
gerne zu einem Massenphänomen aufgebauscht wurden,
doch zu einer Doppelbesteuerung kommen, kann der
Betroffene durch einen entsprechenden Nachweis gegenüber dem Finanzamt bewirken, dass auch hier eine
Zweifachbesteuerung verhindert wird; das ist nur recht
und billig.
Aber auch für die Rentner besteht kein Grund zu Befürchtungen: Die große Mehrheit der Rentner muss auch
in Zukunft keine Steuern auf ihre Renten zahlen. Für
drei von vier steuerpflichtigen Rentenbeziehern wird das
neue Recht ohne steuerliche Auswirkung sein. Lediglich
diejenigen steuerpflichtigen Rentenempfänger, die über
erhebliche Nebeneinkünfte verfügen, werden nach dem
neuen Recht steuerbelastet.
Schon nach dem geltenden Recht müssen im
Jahr 2005 2 Millionen Rentner Einkommensteuer zahlen, weil bei ihnen zu ihrer Rente noch andere Einkommen hinzukommen. Nach dem Gesetzentwurf sind bei
allein stehenden so genannten Bestandsrentnern und bei
den Neufällen des Jahres 2005 Rentenbezüge bis zu einer Höhe von 18 900 Euro im Jahr oder 1 575 Euro im
Monat steuerunbelastet. Ich wiederhole: 18 900 Euro im
Jahr oder 1 575 Euro im Monat sind steuerunbelastet,
wenn neben der Rente keine anderen Einkünfte vorliegen. Auch künftig bleiben Durchschnittsrenten also steuerunbelastet. Das gilt auch dann, wenn eine normale Betriebsrente hinzukommt. Zum Vergleich: Bei allein
stehenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, also
bei denjenigen, die sich noch in der aktiven Phase des
Berufslebens befinden, setzt die Besteuerung bereits bei
einem Einkommen von knapp 10 800 Euro ein. Das
hängt natürlich - das ist klar - mit der Besteuerung hinsichtlich der Vorsorgebeiträge zusammen. Sonst könnte
das bei den Renten so nicht funktionieren.
Eine steuerliche Mehrbelastung wird überwiegend
nur dann entstehen, wenn zu der Rente noch andere Einkünfte aus Werkspensionen, Vermietung und Verpachtung oder von noch erwerbstätigen Ehepartnern
hinzukommen. In diesen Fällen ist die Rente übrigens
häufig nur das Nebeneinkommen. Das trägt auch dazu
bei, dass der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wieder mehr Gewicht bekommt.
Durch den vorgelegten Gesetzentwurf sind die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten der Rentenempfänger aus verfassungsrechtlicher Sicht weitestgehend ausgeschöpft. Eine noch weiter gehende oder
noch länger fortgesetzte Privilegierung der Rentenempfänger gegenüber den aktiv Erwerbstätigen wäre verfassungsrechtlich kaum noch vertretbar.
Meine Damen und Herren, der demographische Wandel erfordert eine Politik, die bereits heute die sich in den
kommenden Jahren und Jahrzehnten abzeichnenden Veränderungen der Bevölkerungsstruktur mit berücksichtigt. Was wir brauchen, sind tragfähige und verlässliche
Rahmenbedingungen für Jung und Alt. Das gilt insbesondere für die Altersvorsorge. Wir brauchen ein Miteinander und ein Füreinander der Generationen. Wir
brauchen Solidarität zwischen Jung und Alt. Diese Solidarität ist keine Einbahnstraße, sie gilt wechselseitig.
Mit dem Entwurf des Alterseinkünftegesetzes legt die
Bundesregierung einen Vorschlag vor, der diese Anforderungen an eine zukunftsgerichtete Politik ebenso erfüllt wie die Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an eine Neuregelung geknüpft hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ich appelliere an Sie - das sage ich vor allem
vor dem Hintergrund der Vordiskussionen -: Lassen Sie
das Gesetz nicht einfach nur passieren, sondern stimmen
Sie ihm zu!
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus-Peter Flosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute das Alterseinkünftegesetz. Die Bundesregierung und die Fraktionen von Rot-Grün haben hier jeweils einen gleichlautenden Gesetzentwurf vorgelegt,
der die Neuordnung insbesondere der steuerlichen Seite
der gesetzlichen Rentenversicherung sowie der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge vorsieht. Dieser
Gesetzentwurf ist jedoch in keiner Weise der große
Wurf, als der er hier verkauft wird. Er wird nicht nur von
der Opposition wenig Zustimmung bekommen, sondern
er wird auch bei der Bevölkerung wenig Zustimmung
finden, weil er in wesentlichen Punkten an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten vorbeigeht.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat 2002 und nicht
1998, also nach vier Jahren Regierungszeit von RotGrün, festgestellt, dass die jetzige Regelung verfassungswidrig ist, weil der Gleichheitsgrundsatz verletzt
ist. Wir haben zurzeit folgende Situation: Pensionen
werden zu 100 Prozent besteuert, Renten dagegen nicht.
Ein 65-jähriger Rentner zum Beispiel muss nur
27 Prozent seiner Rente versteuern, 73 Prozent sind von
der Besteuerung freigestellt.
Die Folge ist, dass es bis zum 1. Januar 2005 zu einer
Neuregelung kommen muss; denn ansonsten können die
Pensionen ab Januar des nächsten Jahres nicht mehr besteuert werden. Deshalb muss auch der Bundesrat zustimmen. Die Länder haben ein großes Interesse daran,
dass hier eine Regelung gefunden wird. - Das ist die
Ausgangslage.
Bei der Erarbeitung dieser wichtigen Neuordnung des
gesamten Systems und der Abstimmung mit Experten
muss natürlich größte Sorgfalt geübt werden, damit das
Vertrauen der jetzigen Rentner und die Zustimmung der
nächsten Generation erlangt werden. Wir alle haben aber
die Anhörung erlebt und inzwischen stapelweise Gutachten und Stellungnahmen vorliegen. Die gesamte
Fachbranche sagt, dass dies bis jetzt durch und durch ungereimt ist und in keiner Weise von einer Vereinfachung
des Steuerrechts geredet werden kann.
({1})
Das Bundesfinanzministerium hat vorgerechnet, dass
in Zukunft 2 Millionen Rentner mehr Steuern zahlen
müssen und dass 1,3 Millionen Rentner erstmals zur
Steuerzahlung herangezogen werden. Herr Minister, Sie
haben gesagt, dass 18 900 Euro steuerfrei bleiben. Das
ist richtig. Sehr viele prüfen derzeit aber, ob diese Besteuerung überhaupt gerechtfertigt ist; denn das Bundesverfassungsgericht hat in einem zweiten Urteil festgelegt, es dürfe nicht zu einer Zweifachbesteuerung
kommen. Wenn die Rente später besteuert wird, dann
müssen die Beiträge für diese Rente selbstverständlich
steuerfrei gestellt werden.
Mit Ihrem ersten Entwurf haben Sie diese Forderung
überhaupt nicht erfüllt. Das haben das Gutachten und
auch die Stellungnahmen in der Anhörung ergeben. Es
wurde insbesondere bemängelt, dass Sie den Grundfreibetrag im Alter als steuerfreien Vorteil darstellen. Wir
wissen: Wenn die Doppelbesteuerung nicht vermieden
wird, dann besteht die Gefahr eines neuen Verfahrens
vor dem Bundesverfassungsgericht. Wir von der Union
sind froh, dass wir uns in der Diskussion durchsetzen
konnten und Sie einer Öffnungsklausel und einer eventuellen Einzelfallprüfung zugestimmt haben. Wir haben
uns in dieser Frage geeinigt. Dies haben wir auch bezogen auf die Billigkeitsprüfung für Hochbetagte getan:
Der Rentner darf bei einem einfachen Fehler nicht gleich
als Steuerhinterzieher belangt werden können. Schließlich haben wir uns auch auf ein mögliches Quellenabzugsverfahren ab dem Jahre 2007 geeinigt. Das sind
leider auch schon alle unsere Gemeinsamkeiten.
Herr Eichel, nach Ihrer Rede müssen wir irgendwann
einmal konkret werden. Sie haben allgemeine Ausführungen über die Notwendigkeit einer Vorsorge gemacht.
Der Entwurf, den Sie am 12. Dezember 2003 hier vorgelegt haben, entspricht einer Kampfansage an die private
und die betriebliche Vorsorge.
({2})
Wir alle wissen: Sie haben es trotz Ihres Nachhaltigkeitsgesetzes in wenigen Jahren geschafft, das Vertrauen
in die gesetzliche Rente nachhaltig zu zerstören. Jeder
weiß heute, Vorsorge ist nötig. Sie wissen aber auch,
dass die Riester-Rente überhaupt nicht funktioniert.
({3})
Nur jeder Siebte der Anspruchsberechtigten hat die
Riester-Rente bisher abgeschlossen, weil sie zu kompliziert ist und kein Mensch sie versteht.
({4})
Sie haben jetzt einen weiteren Vorstoß gewagt, gemäß
dem Frauen und Männer in Zukunft gleiche Beiträge für
die Riester-Rente zahlen müssen. Die gesamte Branche
ist der Meinung, dass dies der endgültige Todesstoß für
die Riester-Rente ist.
({5})
- Herr Poß, für ein Gesetz, durch das Sie die Menschen
durch und durch bevormunden, können Sie natürlich
keine Zustimmung von uns verlangen.
({6})
Sie haben eine Vorlage vorgelegt, nach der in Zukunft
nur noch die Beiträge als Vorsorgeaufwendungen abzugsfähig sind, die nicht beleihbar und nicht kapitalisierbar sind. Sie wollen den Menschen vor allen Dingen vorschreiben, dass sie ihre persönlich angesparten Beiträge
nicht vererben können. Dafür werden Sie keinerlei Zustimmung in der Bevölkerung erhalten. Sie werden auch
keine Zustimmung für Ihre Regelung erhalten, nach der
bei der abzugsfähigen privaten Altersvorsorge kein Kapitalbetrag ausgezahlt werden kann. Viele Rentner haben mit 60 oder 65 Jahren das Bedürfnis, einen Teil des
Kapitals zu erhalten, um beispielsweise ihre Hypotheken
abzulösen.
({7})
Zudem haben Sie die Vorsorge auf eine Leibrente begrenzt, wenn Sie das Wort „Versicherungsunternehmen“
aus dem Gesetzestext auch herausgenommen haben. Sie
wollen den Menschen letztendlich vorschreiben, dass sie
ausschließlich eine Vorsorge wie bei der gesetzlichen
Rentenversicherung treffen können.
Sie sollten stattdessen in dieser Phase die Möglichkeit
nutzen, den gesamten Finanzmarkt mit neuen Möglichkeiten der Altersversorgung auszustatten. Bei jeder Gelegenheit klagen Sie über fehlendes Wachstum, aber Sie
verzichten darauf, Wettbewerb im Finanzmarkt stattfinden zu lassen. Wir wollen den Wettbewerb der Banken,
der Investmentgesellschaften und der Versicherungen.
Sie wollen lenken und den Menschen vorschreiben, wie
sie zu leben oder ihre Altersversorgung zu gestalten haben. Das wollen wir nicht.
({8})
Wenn Vorsorgeprodukte nicht attraktiv sind, bleibt
das Problem, dass junge Menschen in eine Armutsfalle
geraten; denn sie müssen für sich selbst sorgen und natürlich auch für die jetzigen Rentner zahlen. Deshalb ist
die Attraktivität der Altersvorsorge so wichtig. In Ihrem
ersten Entwurf wollten Sie beispielsweise die Steuerfreiheit von Lebensversicherungen völlig beseitigen
und die volle Steuerpflicht auf alle Lebensversicherungserträge ausdehnen.
({9})
- Herr Poß, rufen Sie nicht dazwischen! Sie können
nachher zu diesem Punkt reden.
({10})
- Die unflätigen Bemerkungen von Herrn Poß, der bei
keiner Sitzung des Finanzausschusses dabei gewesen ist,
sind unverschämt. Sie sollten sich zurückhalten.
({11})
Wir haben Ihnen ein Kompromissangebot gemacht,
um die Lebensversicherungen wettbewerbsfähig zu halten. Die Lebensversicherung ist so beliebt, weil sie einfach ist. Was aber machen Sie jetzt? - Sie schlagen eine
Fünftelungsmethode gemäß § 34 EStG vor. Das heißt,
jede Auszahlung muss in Zukunft nach einer besonderen
Abfindungsmethode berechnet werden. Das versteht
kein Mensch. Das ist außerdem für die Bürger die teuerste und steuerlich unattraktivste Methode.
({12})
Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Sie das den
Menschen antun wollen.
Ihr Gesetzentwurf umfasst 100 Seiten Gesetzestext
und Begründung. Die Kompliziertheit dieses Gesetzes
ist einer der traurigen Höhepunkte und ein Musterbeispiel dafür, dass unser Einkommensteuergesetz nicht
mehr reparabel ist. Folgen Sie endlich den Vorschlägen
der Union zur Vereinfachung des Steuerrechts!
({13})
Der Minister erklärt: Das von uns geschaffene Gesetz
ist transparent und einfach. - Darüber können wir in der
Tat nur lachen. Den Menschen bleibt nur noch die Hoffnung auf eine betriebliche Altersversorgung. Sie von
den Regierungsfraktionen sollten im Grunde stolz darauf
sein, dass seit dem Jahre 2001 das Ausmaß der betrieblichen Altersversorgung hinsichtlich Pensionskassen und
Direktversicherungen deutlich gestiegen ist, weil die
Entgeltumwandlung für jeden einzelnen Arbeitnehmer
möglich ist.
Jetzt aber schlagen Sie vor, die bisherige Form der
Direktversicherung durch Aufhebung der Pauschalbesteuerung wegfallen zu lassen. Ihr erster Gesetzentwurf
enthielt eine ausschließliche Begrenzung der betrieblichen Altersversorgung auf 4 Prozent des Bruttolohnes,
obwohl wir heute wesentlich mehr Möglichkeiten haben;
denn nicht nur 4 Prozent des Bruttogehalts des Arbeitnehmers, sondern - das ist unsere Forderung - auch
4 Prozent vom Arbeitgeber sollen zur Finanzierung der
Vorsorge möglich sein. Viele Arbeitnehmer hätten ihre
Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung durch den
Arbeitgeber verloren, wenn Ihr Gesetz beschlossen worden wäre.
Nun haben Sie Gott sei Dank einen zusätzlichen Steuerfreibetrag von 1 800 Euro angeboten. Wir fordern nach
wie vor 4 Prozent für die vom Arbeitgeber finanzierte
Vorsorge, weil hier eine Anpassung an die Bemessungsgrundlage erfolgen muss. Es muss ein dynamischer Prozess entstehen; denn die Menschen müssen gemäß der
Bemessungsgrundlage auch dynamisch höhere Beiträge einzahlen. Natürlich müssen Sie ebenso die Inflation betrachten.
({14})
Herr Schild, jetzt bieten Sie zusätzlich 1 800 Euro als
vom Arbeitgeber finanzierte Altersversorgung. Gleichzeitig fordern Sie, dass diese Summe mit Sozialversicherungsbeiträgen belegt wird, obwohl das heute im Wesentlichen nicht der Fall ist.
({15})
Im Alter müssen die Rentner dafür noch einmal Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Worin soll die Attraktivität einer betrieblichen Altersversorgung liegen, wenn
der Unterschied zu einer privaten Kapitalanlage nicht
mehr sichtbar ist?
({16})
Sie setzen deutlich falsche Schwerpunkte. Diese Unsystematik schmerzt und hat die Suche nach Kompromissen
erschwert.
Aber dass Sie es zulassen, dass vorzeitig Pensionierte,
die das Unternehmen frühzeitig verlassen haben, eine
höhere Rente als Betriebstreue oder Erwerbsunfähige bei
ihrem Ausscheiden bekommen, weil Sie ein Fehlurteil
des Bundesarbeitsgerichts nicht korrigieren wollen, ist
für uns überhaupt nicht nachvollziehbar. Die gesamte Finanzbranche, die mit betrieblicher Altersvorsorge zu tun
hat, ist schockiert darüber, dass Sie dies nicht korrigieren
wollen. Fachleute rechnen damit, dass jährlich 30 bis
40 Millionen Euro auf den Pensions-Sicherungs-Verein
zukommen werden, der diese Pensionen sichern soll,
weil Sie nicht korrigierend eingreifen wollen.
Nach neuen Hiobsbotschaften für die Rentner für das
nächste Jahr - auch dann ist wieder mit einer Nullrunde
zu rechnen - werden auch die im Berufsleben Stehenden, die Aktiven hinsichtlich ihrer Vorsorgemöglichkeiten zutiefst verunsichert. Nach Aussagen von Experten
wollen die Bürger Wohnungseigentum, eine sichere
Rente und ein Stück finanzielle Freiheit. Sie wollen
keine Bevormundung. Es besteht die große Gefahr bei
diesem Gesetz, dass die Rentner belastet werden, aber
die Jungen nicht für ihr Alter vorsorgen, weil die Vorsorgeprodukte so unattraktiv sind, dass sie hierfür keine
Entscheidung treffen werden. Wir brauchen aber in diesem Lande einfache, nachvollziehbare und klare gesetzliche Regelungen, die von den Bürgern verstanden und
akzeptiert werden.
Dieses Gesetz ist eine laufende Produktion von Verunsicherungen. Wir haben unsere Bedenken von Anfang
an geäußert und unsere Meinung in der gesamten Phase
im Gegensatz zu Ihnen nicht wegen besserer Erkenntnisse ändern müssen. Unterstützen Sie deshalb unseren
Entschließungsantrag und lehnen Sie die Vorlage von
Rot-Grün ab!
Ich danke Ihnen.
({17})
Lieber Kollege Poß, wir sollten auch während leidenschaftlicher Debatten nicht Verdächtigungen aussprechen. Unter Parlamentariern ist das nicht üblich.
({0})
Ich erteile nun Kollegin Christine Scheel, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Zeitungslandschaft in den letzten Tagen zu diesem Thema anschaut und heute den Leitartikel
in der „Süddeutschen Zeitung“ liest, dann kommt man
zu der Überzeugung, dass all diejenigen, die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Union versucht, Volksverdummung zu betreiben, völlig Recht haben.
({0})
Sie suchen krampfhaft Gründe, warum Sie dieses Gesetz
hier ablehnen können, um ihm dann im Bundesrat aus
angeblich staatspolitischer Verantwortung zuzustimmen.
({1})
Das ist scheinheilig, das täuscht die Öffentlichkeit und
das hat mit Seriosität und Glaubwürdigkeit, meine Damen und Herren von der Union, nichts mehr zu tun.
({2})
Wir haben uns gemeinsam in den vergangenen Wochen auf der Fachebene sehr viel Zeit genommen - ich
lobe an dieser Stelle bewusst auch die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker der CDU/CSU und der FDP - und
sehr gute Debatten geführt. Wir haben uns mit den Vorschlägen, die Sie eingebracht haben, auseinander gesetzt
und die Vorschläge der Union weitestgehend aufgenommen. Zu den FDP-Vorschlägen komme ich noch. RotGrün hat in großen Teilen Unterstützung gegeben. Was
aber nicht geht, ist, dass Vorschläge, vor allen Dingen
diejenigen der FDP-Fraktion, aufgenommen werden, die
zusätzliche Milliardenlöcher in die Haushalte schlagen
würden. Das können wir auch aus staatspolitischer Verantwortung nicht machen.
(Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig
({3})
Deswegen haben wir ein Gesetz vorgelegt, das inhaltlich
sehr gut ist, das staatspolitisch verantwortlich ist und
auch gegenüber den Ländern, den Kommunen und dem
Bund unserer Aussage gerecht wird, dass wir keine weitere Neuverschuldung wollen.
Herr Minister Eichel hat mit einem weinenden Auge
auf eine Tatsache hingewiesen. Wir reden hier über Rentenbesteuerung, dürfen aber nicht vergessen, dass dieses
Gesetz dazu führt, dass diejenigen, die im Erwerbsleben
stehen, bis zum Jahre 2010 um 5 Milliarden Euro entlastet werden. Diese Entlastung ist in der Debatte bislang
völlig untergegangen.
Wenn man sich auf der fachlichen Ebene so weit annähert, dann verstehe ich nicht, dass Herr Kauder, der
immer wieder gerne von dem Chaos spricht, das hier
produziert wird,
({4})
am Wochenende selbst Chaos erzeugt hat.
({5})
Am Montag hat Herr Kauder noch eine Totalblockade
im Bundestag wie auch im Bundesrat verkündet. Daraufhin hat Frau Merkel, die schließlich weiß, dass die Zustimmung des Bundesrates notwendig ist, festgestellt,
dass das Gesetz vielleicht doch eine Mehrheit im Bundesrat erzielen könnte. Dann wiederum hat Herr Kauder
am Dienstag angekündigt, dass im Bundesrat unter minimaler Beteiligung der unionsregierten Länder - in diesem Zusammenhang wurden Thüringen, das Saarland
und Sachsen genannt - eine Zustimmung erfolgt.
({6})
Interessanterweise hat aber der Ministerpräsident von
Thüringen, Dieter Althaus, davon offenbar nichts gewusst. Er hält das Gesetz gegenwärtig nicht für zustimmungsfähig. Ich weiß allerdings nicht, warum.
({7})
Sie wiederum verkünden, dass Thüringen zustimmen
wird. Daran wird deutlich, welches Schmierentheater die
Union zu diesem Thema aufführt.
({8})
Ich hoffe sehr, dass dieses parteitaktische Verwirrspiel
der Union bald ein Ende hat. Denn ein so langfristiges
Projekt wie die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte ist dafür denkbar ungeeignet.
({9})
Wir alle müssen dafür sorgen, dass die Bevölkerung
die notwendigen Informationen bekommt. Es geht nicht
an, Informationen zu verbreiten, die auf alten Vorlagen
beruhen und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nichts
mehr zu tun haben, um die Menschen zu verwirren.
Auch das ist unverantwortlich.
({10})
Wir setzen mit dem Gesetzentwurf den Auftrag des
Bundesverfassungsgerichts um, Renten und Pensionen
steuerlich gleich zu behandeln. Ich möchte Sie in diesem
Zusammenhang daran erinnern, dass wir diesem Auftrag
nicht irgendwann nachkommen können, sondern dass
wir verpflichtet sind, ihn bis spätestens 2005 zu erfüllen.
Ich gehe zwar davon aus, dass der Bundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen wird, aber angenommen, die
Ankündigungen von Herrn Kauder würden realisiert und
der Bundesrat würde den Gesetzentwurf ablehnen, dann
wäre die jetzige Besteuerung von Pensionen, die seit
vielen Jahren Bestand hat, verfassungswidrig. Es würde
zu jährlichen Steuerausfällen in Höhe von 10 Milliarden Euro und zu einer Flut von Klagen kommen. Dieses
Chaos würden Sie anrichten, wenn der Bundesrat dem
Gesetzentwurf nicht zustimmt.
({11})
Die nachgelagerte Besteuerung ist der richtige Weg
zur Reform der Rentenbesteuerung. Darin sind sich alle
einig. Politiker auf Bundes- und Landesebene, Wissenschaftler und Verbände haben in den vergangenen Jahren
darauf hingewiesen, dass die nachgelagerte Besteuerung
der richtige Weg ist. Auch die Union hat sich in jedem
Wahlkampf in verschiedenen Hochglanzbroschüren immer wieder für die nachgelagerte Besteuerung ausgesprochen.
Umso verwunderlicher ist es, dass Sie ein solch großes Reformwerk infrage stellen, das viele Generationen
betrifft. Für die derzeit Beschäftigten, Selbstständige wie
abhängig Beschäftigte, junge und ältere Menschen wird
in den nächsten Jahrzehnten in einem gleitenden Übergang die nachgelagerte Besteuerung eingeführt. Dieses
Reformwerk so umzusetzen, dass es sozial ausgewogen
ist und zu Entlastungen durch die steuerliche Freistellung der Rentenversicherungsbeiträge führt, die gleichermaßen für einen stärkeren Einsatz zugunsten der
privaten Altersvorsorge wie auch der betrieblichen Vorsorge genutzt werden können, ist ein Kraftakt.
Wir vom Bündnis 90/Die Grünen haben seit vielen
Jahren einen solchen Systemwechsel eingefordert; denn
damit erreichen wir, dass der Einzelne konsequent nach
seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit besteuert wird
und dass hinsichtlich der Pflichtbeiträge zu den Sozialversicherungen, die für die Steuerpflichtigen nicht verfügbar sind und bislang zu einem großen Teil besteuert
waren - dass diese Regelung ungerecht ist, wissen wir
alle -, ein Kurswechsel erfolgt. Das ist der richtige Weg,
den auch Sie immer wieder beschrieben haben. Daraus
ergibt sich auch an dieser Stelle die große Verwunderung
über Ihr Verhalten.
Die Altersvorsorgebeiträge werden bis 2025, und
zwar beginnend mit 60 Prozent vom nächsten Jahr an,
von der Steuer freigestellt. Erst die entsprechenden Altersbezüge werden besteuert, und zwar allmählich steigend - beginnend mit 50 Prozent vom nächsten Jahr an bis 2040. Dann werden alle Alterseinkünfte steuerlich
genauso behandelt wie Erwerbseinkünfte. Die Gleichbehandlung von Erwerbs- und Alterseinkünften ist völlig
konsistent, wenn die Altersvorsorgebeiträge steuerfrei
sind. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, dass die
Steuern dann anfallen, wenn die Versicherungsleistungen dem Steuerpflichtigen tatsächlich zukommen.
Es gibt einen sehr langen Übergangszeitraum. Ich
sage Ihnen ganz offen, dass es auch mir gefallen hätte,
wenn es gelungen wäre, den Übergangszeitraum zu verkürzen. Das hätte nämlich eine einfache Umsetzung und
Anwendung des Gesetzes bedeutet. Man muss aber auf
der einen Seite sehen, dass der Übergangszeitraum deswegen länger ist, weil die heutigen Rentnerinnen und
Rentner nicht über Gebühr besteuert werden dürfen. Die
Umstellung muss also langsam erfolgen. Auf der anderen Seite hätten wir die steuerliche Freistellung der Vorsorgeleistungen von heute auf morgen nicht finanzieren
können; denn das hätte eine Belastung für die Haushalte
des Bundes, der Länder und der Kommunen in Höhe von
20 Milliarden Euro bedeutet. Weil dies nicht zu verantworten gewesen wäre und weil wir weitestgehend sicherstellen wollen, dass es zu keiner Zweifachbesteuerung
kommt, haben wir für einen langen Übergangszeitraum
gesorgt.
Wir haben auf der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses die Entscheidung getroffen, und zwar im Prinzip gemeinsam, dass der so genannte Sonderausgabenabzug für alle unverändert bis 2010 fortbesteht - auch
das ist übrigens eine Forderung der Union - und dass er
danach bis 2019 sozialverträglich abgeschmolzen wird.
Davon profitieren vor allem Bezieher von kleinen Einkommen. In den Genuss dieses Vorteils kommen aber
nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern auch Selbstständige; das ist auch richtig so. Wir waren uns ja in der
gestrigen Beratung einig, dass es besser ist, dies auf alle
zu übertragen, weil dies die Handhabung vereinfacht
und weil es gerechter zu sein scheint, wenn dies für alle
und nicht nur für einen Teil der Bevölkerung gilt. Deshalb haben wir für eine entsprechende Änderung gesorgt.
Ein weiterer Punkt ist - das ist kein Geheimnis -, dass
die private und die betriebliche Altersvorsorge neben
der gesetzlichen Altersvorsorge immer mehr an Bedeutung für die Sicherung des Lebensstandards im Alter gewinnt. Es geht um bessere Chancen für die jungen Generationen, die sich eine eigene Altersvorsorge nach ihren
Vorstellungen aufbauen wollen. Deshalb bieten wir entsprechende Möglichkeiten an. Ich finde es gut, dass die
Junge Union kein Blatt vor den Mund nimmt und die
Blockadehaltung ihrer Parteispitze kritisiert; das ist mutig. Sie hat auch Recht. Im Interesse der jungen Generation können wir der Jungen Union nur beipflichten. Wir
sehen das genauso.
({12})
Wir haben unter Verbraucherschutzgesichtspunkten
Berichtspflichten verbessert und Unisextarife eingeführt. Männer und Frauen werden in Zukunft - verfassungsgemäß - gleich behandelt. Wir haben auch Änderungen bei den Lebensversicherungen vorgenommen.
Herr Flosbach, da Sie die Lebensversicherungen angesprochen haben, möchte ich nur noch einmal daran erinnern, dass die Union in ihren Vorschlägen zu den Petersberger Beschlüssen, auf die Sie immer so gerne
verweisen, eine Änderung der Besteuerung der Lebensversicherungen vorsieht, und zwar auch für die bestehenden Verträge. Genau das wollten wir nicht. Es wird
Vertrauensschutz für die bestehenden Verträge geben.
Wir werden dafür sorgen, dass vom Jahr 2005 an Steuerprivilegien zugunsten der Lebensversicherung abgebaut
werden.
Letzte Bemerkung: Ich wünsche mir, dass die Union
den Eiertanz, den sie zum Schaden der Bürger und Bürgerinnen aufführt, beendet, dass sich die Union ihrem
Verfassungsauftrag im Bundesrat nicht entzieht und dass
alle politisch Verantwortlichen in diesem Land ihrer Verantwortung nachkommen und den Weg für die nachgelagerte Besteuerung freimachen. Hören Sie mit Ihrem
Theater auf! Seien Sie endlich ehrlich! Geben Sie sich
einen Ruck und stimmen Sie dem heute vorliegenden
Gesetzentwurf zu! Sie werden das im Bundesrat sowieso
tun.
Danke schön.
({13})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Volker Kauder das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Scheel, Sie haben mich
völlig falsch zitiert. Ich wurde am Wochenende in einem
Gespräch mit einer Zeitung gefragt: Wird der Vermittlungsausschuss vom Bundesrat angerufen, wenn Sie
dieses Gesetz im Deutschen Bundestag ablehnen? Daraufhin habe ich erklärt, dass wir ein Vermittlungsverfahren zurzeit nicht anstreben. Das war meine Formulierung. Sie von der Koalition reagieren aber reflexartig mit
den Worten „Blockade, Blockade“. Sie sollten sich mehr
darauf konzentrieren, gute Gesetze zu machen, als gleich
„Blockade“ zu schreien.
({0})
Dass wir zunächst einmal erklärt haben, ein Vermittlungsverfahren nicht anzustreben, heißt noch lange
nicht, dass wir blockieren wollen. Es gibt noch andere
Möglichkeiten, die Sie offenbar überhaupt nicht einkalkulieren. Sie hätten also viel ruhiger und gelassener sein
sollen.
Ich komme zum Schluss. Sie haben hier, im Deutschen Bundestag, mehrere Rentengesetze eingebracht.
Ich sage klar: Wenn Sie das gemacht hätten, was das
Bundesverfassungsgericht verlangt, nämlich die nachgelagerte Besteuerung in einem Gesetz zu regeln, und dies
nicht noch mit allerlei Unsinnigkeiten verbunden hätten,
dann wäre die Debatte viel einfacher gewesen.
({1})
Kollegin Scheel, Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung.
({0})
Herr Kollege Schauerte, ich glaube nicht, dass Sie
sich Sorgen machen müssen, dass ich mich ins Unglück
stürze. Das werde ich nicht tun.
Herr Kauder, ich habe nur an Sie appelliert. Wenn Sie
signalisieren, dass der Bundesrat zustimmt - das haben
Sie am Dienstag gesagt -, dann wäre es doch nur ehrlich,
wenn die Union diesem Gesetz auch hier zustimmte. Sie
wissen ganz genau, dass dieses Gesetz, das heute mit der
Mehrheit von Rot-Grün und, wie ich immer noch hoffe
- ab und zu bin ich optimistisch -, auch mit Ihren Stimmen verabschiedet wird, unverändert in den Bundesrat
geht. Sie haben gesagt, man werde den Vermittlungsausschuss nicht anrufen, was ich sehr begrüße.
({0})
Das bedeutet, dass dieses Gesetz vom Bundesrat verabschiedet wird und unverändert bleibt.
Genau das macht die Scheinheiligkeit aus, die ich angesprochen habe. Man muss sich entscheiden: Entweder
lehnt man ab oder man stimmt zu. Aber man kann dieses
Gesetz hier nicht mit Getöse ablehnen und an anderer
Stelle zustimmen, weil man weiß, dass es eigentlich gut
ist.
({1})
Ich erteile nunmehr dem Kollegen Andreas Pinkwart,
FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zunächst für meine Fraktion den
Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen für
die sehr sachliche Beratung, die wir zu dem vorliegenden Gesetzentwurf im Ausschuss durchführen konnten,
danken. Ich bedanke mich ebenfalls bei den Fachbeamten des Bundesfinanzministeriums dafür, dass sie unsere
Beratungen sehr nachdrücklich unterstützt haben. Ich
halte es für wichtig, das den weiteren Ausführungen voranzustellen, weil ich diesen Gesetzentwurf für sehr bedeutend erachte. Er betrifft Millionen von Bürgerinnen
und Bürgern im Lande. Es geht um die Gestaltung der
Zukunft in unserem Land. Deswegen ist es wichtig, dass
diese Beratungen sehr sachlich, sehr konstruktiv geführt
werden. Wir haben uns daran beteiligt.
Wir wären sehr gern mit Ihnen gemeinsam zu einer
vertretbaren Lösung gekommen. Dass das nicht gelungen ist, bedauern wir. Wir sind der Auffassung, dass man
nicht beliebig darüber hinweggehen kann, dass man über
bestimmte Punkte inhaltlich keine Einigung hat erzielen
können, obwohl das notwendig gewesen wäre. Vielmehr
muss man dann zu seinen Positionen stehen. Auch das
möchte ich hier zum Ausdruck bringen.
({0})
Was ist der Hintergrund? Es klang bereits an: Dieser
Gesetzentwurf ist durch das Verfassungsgerichtsurteil
notwendig geworden. Es ist aber auch aus einem anderen Grund notwendig - auch das haben wir hier erörtert -, zu einer nachgelagerten Besteuerung zu kommen,
und zwar wegen der Steuersystematik. Dem wird in unserem Gesetzentwurf zu einer grundlegenden Steuerreform, über den wir später noch beraten werden, Rechnung getragen.
({1})
Aber wir können das nicht losgelöst von den Problemen
diskutieren, die wir mit Blick auf die Altersvorsorge in
unserem Land haben.
Als Sie seinerzeit die Riester-Rente, die auch Gegenstand des Gesetzentwurfs ist, eingeführt haben, sind Sie
noch davon ausgegangen, dass das Rentenniveau von
67 Prozent auf 63 Prozent gesenkt wird. Heute wissen
wir, dass wir im Jahr 2030 nur noch ein Rentenniveau
von 43 Prozent erwarten dürfen. Das zeigt, wie notwendig es ist, in diesem Land über private Altersvorsorge
viel konsequenter nachzudenken, als es bei dieser Vorlage geschehen ist.
({2})
Wir müssen bei dieser Beratung an die denken, die in
den nächsten Jahren in Rente gehen werden, aber wir
müssen genauso an die Bürgerinnen und Bürger denken,
die in den nächsten Jahrzehnten über ihre private Vorsorge noch einen Beitrag dazu leisten müssen, dass sie
eine faire Altersvorsorge erwarten können. Vor diesem
Hintergrund möchte ich jetzt einige grundlegende Bemerkungen machen. Uns hat nämlich Grundlegendes getrennt und nicht irgendwelche Detailpunkte.
Das Erste, was ich hier feststellen möchte, ist Folgendes: Bei dem Übergang zur nachgelagerten Besteuerung
müssen wir uns vor Augen führen, wie die unterschiedlichen Gruppen - in dem Fall die Selbstständigen und die
nicht selbstständig Tätigen - bezogen auf ihre Altersvorsorgeaufwendungen in der Vergangenheit besteuert worden sind.
({3})
Da müssen wir feststellen: Bei Arbeitnehmern liegt der
Sachverhalt so, dass der Arbeitgeberbeitrag stets steuerfrei blieb, wohingegen die Selbstständigen in diesem
Land in der Vergangenheit keinen steuerfreien Arbeitgeberbeitrag bekommen haben und ihre Altersvorsorge
auch nicht in einem entsprechend hohen Umfang durch
Sonderausgabenabzüge steuerfrei hätten bilden können.
Das heißt, diese beiden Gruppen sind in der Vergangenheit ganz offensichtlich ungleich besteuert worden.
({4})
Jetzt gehen Sie hin und wollen etwas, das in der Vergangenheit ungleich besteuert worden ist, mit dem neuen
Regime Ihres Gesetzentwurfs gleich behandeln. Aber
wer versucht, Gleiches ungleich zu behandeln, handelt in
gleicher Weise ungerecht wie jener, der meint, Ungleiches gleich behandeln zu müssen. Das ist die Fundamentalkritik an dieser Stelle.
({5})
Frau Scheel, Sie haben da so eine kleine Formulierung eingefügt, die den Eindruck erweckt, als würden
Sie es mit Ihrem fließenden Übergang für die zukünftigen Rentnergenerationen einfacher gestalten und die Belastung geringer halten. Dazu muss ich Ihnen sagen: Im
Vergleich zu dem, was wir Ihnen vorgeschlagen haben,
führt Ihr Lösungsansatz zu einer stärkeren Belastung,
nicht nur bei den Selbstständigen - das habe ich herausgearbeitet -, sondern auch bei den Arbeitnehmern. Das
will ich Ihnen einmal an einem ganz einfachen Beispiel
darstellen.
Ich gehe von dem Fall aus, dass eine Person nach
45 Versicherungsjahren zum 1. Januar 2005 in Rente
geht und 1 000 Euro Monatsrente - das unterstellen wir
einfach einmal, damit es sich hier auch darstellen lässt erhält. Nach Ihrem Entwurf erhöhen dann 50 Prozent
dieser 1 000 Euro das zu versteuernde Einkommen. Das
sind 500 Euro. Diese 500 Euro legen Sie 2005 fest. Sie
werden als Nominalbetrag festgelegt.
({6})
- Frau Scheel, hören Sie doch erst einmal zu! - Die gleiche Person wird im Jahr 2015 nach der bisherigen Rentenentwicklung, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Preissteigerungsrate, also dann, wenn die Rente nur in
Höhe der Preissteigerungsrate angehoben werden sollte,
eine Rente in Höhe von 1 200 Euro beziehen. Sie wird
nach Ihrem Modell nicht mehr 500 Euro, sondern
700 Euro monatlich zu versteuern haben.
Nach unserer Vorlage ist bei dieser 50-prozentigen
Einbeziehung der Alterseinkünfte in das neue Steuerregime eine Dynamisierung sichergestellt. So wie wir das
in unserer einfachen Regelung vorschlagen, wird die
Person 2015 ebenfalls nur 50 Prozent ihrer monatlichen
Altersrente, sprich: 600 Euro, und nicht 700 Euro zu versteuern haben.
Nun mögen Sie sagen, das sei eine Bagatelle. Wir
meinen, dass - bei einem durchschnittlichen Steuersatz
von 25 Prozent - 25 Euro pro Monat für diesen Rentner
ein gravierender Betrag sind. Das zeigt, wie unsystematisch Ihre Konstruktion dieses über 35 Jahre angelegten
Übergangsprozesses ist.
({7})
Kollege Pinkwart, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Scheel?
Sehr gern.
Herr Kollege Pinkwart, steuersystematisch sind die
Ausführungen, die Sie gerade gemacht haben, richtig,
aber Ihre Aussagen rufen doch andere Wirkungen hervor. Ich möchte Sie von daher fragen, ob Sie das nicht
klarstellen wollen.
Sie haben gesagt, dass bei einer monatlichen Rente
von 1 000 Euro 500 Euro steuerpflichtig sein werden.
Ich möchte Sie hier bitten, klar zu sagen, dass ein Alleinstehender oder eine Alleinstehende bis zu 19 000 Euro
Renteneinnahmen im Jahr völlig steuerfrei beziehen
darf. Bei Verheirateten würde natürlich der doppelte Betrag gelten.
({0})
- Wenn keine anderen Einkünfte da sind, selbstverständlich. Aber wir reden ja hier nach dem, was Herr Pinkwart
gesagt hat, über die Besteuerung der Rente.
Meine Sorge ist, Herr Professor Pinkwart, dass jetzt
in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass jeder,
der Renteneinkünfte in Höhe von 1 000 Euro hat, plötzlich 500 Euro Steuern bezahlen muss. Das ist definitiv
falsch. Ich bitte Sie, das richtig zu stellen.
({1})
Frau Kollegin Scheel, zunächst einmal danke ich Ihnen, dass Sie mir in Bezug auf meine Darstellung grundsätzlich Recht gegeben haben. Das ist sehr zu begrüßen
und auch sehr fair. Ich bitte Sie, mir die gleiche Fairness
bezogen auf meine konkreten Ausführungen entgegenzubringen. Ich habe nämlich nicht gesagt, dass eine
Steuerlast in dieser Höhe anfiele, sondern ich habe deutlich gemacht, dass das zu versteuernde Einkommen pro
Monat um 500 Euro erhöht wird. Das heißt, diese
500 Euro erweitern die Bemessungsgrundlage. Nichts
anderes habe ich hier dargestellt.
({0})
Es ist auch klar, dass der Bereich des steuerfreien
Existenzminimums, der nicht der Besteuerung unterliegt, in Ihrem Regime genauso behandelt wird wie in
unserem. Insofern ist meine Sachdarstellung in jeder
Hinsicht völlig korrekt.
({1})
Kollege Pinkwart, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Hendricks?
Ja, gerne.
Herr Kollege Pinkwart, sind Sie zunächst bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass Ihr Rechenbeispiel nicht zutrifft, weil in dem langen Zeitraum zwischen 2005 und
2015 die Grundfreibeträge gemäß der Maßgabe, die
das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, erhöht
werden und infolgedessen Rentner, wenn ihre Einkünfte
steigen, genauso wie Arbeitnehmer von der Erhöhung
der Grundfreibeträge profitieren? Von daher kann Ihr
Rechenbeispiel schon nicht zutreffend sein.
Sind Sie mit mir im Übrigen der Auffassung, dass das
von Ihnen vorgeschlagene einfache Modell den Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes nicht entspricht, weil wir damit zwar im Jahre 2005 die Schere
zwischen der Besteuerung von Beamtenpensionen und
der von Renteneinkünften etwas schließen würden, sie
sich danach aber wieder sukzessiv weiter öffnen würde?
Infolgedessen würden wir den Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes nicht entsprechen, wenn wir außer
dem Grundfreibetrag, der sich auf alle Einkunftsarten
auswirkt, einen steigenden Freibetrag für Rentner vorsehen würden, während wir ihn für Arbeitnehmer und Pensionäre nicht vorsehen.
Frau Hendricks, zunächst einmal ist hier festzustellen,
dass Ihr erster Einwand dem entspricht, der auch von
Frau Scheel vorgetragen worden ist. Die Dynamisierung
des Grundfreibetrages ist in unserem Konzept ebenso
vorgesehen. Das heißt, meine Argumentation wird dadurch in keiner Weise entkräftet.
Das weitere Problemfeld, auf das Sie hingewiesen haben, ergibt sich aus der Konstruktion, die Sie vorgelegt
haben. Dieses Argument wäre kein Argument gegen unseren Vorschlag, weil wir diesen Punkt natürlich berücksichtigen würden. Gerade Sie, Frau Hendricks, müssen
sich, da Sie ja auch das Finanzministerium vertreten,
hier der berechtigten Kritik an dem Vorschlag, den Sie
vorgelegt haben, stellen. Wir haben einen Gegenentwurf
vorgelegt und Sie wiederholt darum gebeten, ihn durchzurechnen. Frau Scheel hat eben diesbezügliche Zahlen
genannt, aber uns liegt bis heute dazu keine Antwort vor.
Sie hätten sich ja ruhig substanziiert mit unserem Vorschlag auseinander setzen und in den Beratungen Ihre
Einwände vortragen können. Das haben Sie versäumt.
Wir bringen unsere Kritik dort, wo sachlich diskutiert
wird, und hier in gleicher Weise an.
({0})
- Wenn Sie sich mit einer Frage beteiligen wollen, können wir die Reihe der Zwischenfragen fortsetzen. Aber
mit Blick auf meine Redezeit würde ich gerne fortfahren
und noch einen oder zwei weitere inhaltliche Punkte ansprechen.
Ein weiteres Problem, das wir haben - das klang auch
in der Rede von Herrn Flosbach an -, ist die grundsätzliche Haltung der Regierungskoalition zum Eigentum, zu
der Frage: Wie gestalten wir private, kapitalgedeckte Altersvorsorge? Bei dieser Frage waren wir in den Sachgesprächen teilweise schon viel weiter. In den Gesprächen
gab es von Ihnen, jedenfalls gelegentlich, Hinweise, man
könne über Teilkapitalisierbarkeit, über Vererbbarkeit
nachdenken, wenn jemand zusätzlich privat vorsorgt. In
den Endberatungen haben Sie diese Möglichkeiten der
Flexibilisierung und der Steigerung der Attraktivität der
privaten Altersvorsorge wieder zurückgenommen bzw.
keine Bereitschaft gezeigt, sich darauf einzulassen.
Sie wollen, wenn Sie ehrlich sind, die beiden Säulen
der in Deutschland akzeptierten privaten Altersvorsorge,
nämlich die Wohneigentumsbildung und die Kapitallebensversicherung, durch vielfältige Maßnahmen, die
Sie hier im Hause vorlegen, im Kern erschüttern. Das ist
doch Ihr Ansatz: Sie wollen die Eigenheimzulage abschaffen und gleichzeitig steuerliche Begünstigungen
von Wohneigentum zur Altersvorsorge ausschließen. Sie
wollen der Kapitallebensversicherung, die in Deutschland über 80 Millionen Mal vorhanden ist, die ein eingeführter Artikel der privaten Altersvorsorge ist, nicht nur
die Privilegien entziehen - da würden wir mitgehen; das
ist nicht der Punkt -, sondern sie ausweislich der Berechnungen des Finanzministeriums doppelt so hoch wie
einfache Sparpläne und um ein Vielfaches höher als Aktienfonds besteuern. Das ist eine systematische Verweigerung gegenüber der in Deutschland praktizierten Form
der privaten Altersvorsorge. Dagegen wehren wir uns
massiv.
({1})
Ich möchte zum Abschluss etwas zu dem Vorgehen
bei den weiteren Beratungen sagen. Von den fundamentalen Kritikpunkten hat Herr Flosbach viele angeführt,
die CDU/CSU hat sie in ihrem Entschließungsantrag
zum Ausdruck gebracht. Die FDP-Fraktion geht darüber
noch hinaus, aber teilt diese berechtigten Bedenken. In
Anbetracht der grundlegenden Probleme dieses Gesetzentwurfes müssen wir ihn hier ablehnen. Wenn wir es in
Bezug auf diese Fragen ernst meinen, muss das Gesetz
auch im Bundesrat angehalten werden. Wir erwarten von
der Union das gleiche Verhalten im Deutschen Bundestag und im Bundesrat. Wir erwarten, dass im Vermittlungsausschuss in den zentralen Punkten dieses Gesetzentwurfes eine Nachbesserung erreicht wird.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Horst Schild, SPDFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen Verabschiedung des Alterseinkünftegesetzes setzen wir einen Meilenstein in der Besteuerung
der Alterseinkünfte. Das lassen wir uns auch nicht kleinreden.
({0})
Wir beenden damit eine seit Jahrzehnten bestehende Unsicherheit in der Frage, wie Einkünfte im Alter zu besteuern sind. Allen, die dieses Thema in der Vergangenheit verfolgt haben, ist spätestens seit dem ersten Urteil
des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1980 klar
geworden, dass wir politisch handeln müssen. Ich wiederhole hier ganz deutlich, was der Bundesfinanzminister gesagt hat: Die Union hat - dafür kann man Verständnis haben - in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit nie die
politische Kraft gehabt, dieses Problem zu lösen.
({1})
Es ist völlig klar, dass der Einwurf „Petersberg“ kommen wird. Ich will gar nicht darauf zu sprechen kommen
- das hat der Minister vorhin angesprochen -, zu welchem Zeitpunkt Sie das Thema aufgegriffen haben. Es
war zum Ende Ihrer Regierungszeit; ein bisschen länger
waren Sie ja dabei.
({2})
Aber all die Probleme, die insbesondere aus Ihren Reihen heute als Beleg dafür angeführt werden, dass Sie
nicht zustimmen können, hätten wir - das sage ich in aller Deutlichkeit - auch bei 50 Prozent Ertragsanteil gehabt; das war ja Ihre Maßgabe. Keines der Probleme, die
vor allen Dingen die Sozialpolitiker in Ihren Reihen
heute benennen, wäre dadurch gelöst worden.
({3})
Ich gebe gern zu, dass das Alterseinkünftegesetz eine
schwierige Materie darstellt. Es enthält auch unpopuläre
Maßnahmen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat
uns einen Termin gesetzt und wir müssen jetzt handeln.
Die Bereitschaft auf der Seite der Bundesregierung
und der Koalitionsfraktionen, einen Konsens mit der Opposition herbeizuführen, war groß. Ich sage ganz freimütig: Mein Eindruck war, dass die Finanzpolitiker der
Union und der FDP ernsthaft zu einer Zusammenarbeit
bereit waren.
({4})
Herr Flosbach hat uns in der ersten Lesung im Dezember letzten Jahres eine konstruktive Zusammenarbeit
angeboten, „damit über dieses Thema im Bundestag entschieden wird und wir uns damit nicht erneut lange im
Vermittlungsausschuss beschäftigen müssen“. Wir haben
zahlreiche Gespräche geführt - ich erinnere daran, dass
es mindestens vier oder fünf Gespräche auf Arbeitsebene
gegeben hat -, um zu einem Konsens zu kommen. Wir
haben mit Rücksicht auf die Opposition sogar den Zeitpunkt der Verabschiedung dieses Gesetzes deutlich nach
hinten verschoben.
Dann wurde von der Parteiführung der CDU/CSU die
Strategie festgelegt. Sie lautet, keine politische Mitverantwortung zu übernehmen - selbst an den Stellen, an
denen wir kurz vor einer Einigung standen.
({5})
Sie wollen nämlich mit dem Thema Rentensteuer bei
den kommenden Wahlen auf Stimmenfang gehen.
({6})
Es gibt keine sachlichen Gründe für Ihr Verhalten. Es ist
zwar Ihr gutes Recht als Opposition, die Sache hintanzustellen. Aber eines muss man im Deutschen Bundestag
dann deutlich sagen: Es sind nicht sachliche, sondern
parteitaktische Gründe, die Ihr Verhalten bestimmen.
({7})
Sie wollen Rentner verunsichern und unberechtigte
Ängste schüren.
({8})
Das macht auch Ihr Entschließungsantrag deutlich.
({9})
Herr Kollege Flosbach, wir werden Ihrem Dokument
des politischen Eiertanzes zur Befriedigung der unterschiedlichen Interessen in Ihren Reihen natürlich nicht
zustimmen. Ich will in diesem Zusammenhang auf einige Ihrer Kritikpunkte eingehen. Sie sagen, das Alterseinkünftegesetz sei nicht eingebettet in ein schlüssiges
Gesamtkonzept der Alterssicherung und Altersvorsorge.
({10})
Der Bundesfinanzminister hat vorhin ganz deutlich gesagt: Unser Prinzip ist Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit.
({11})
- Sie müssen das auch nicht, Herr Michelbach. Wir werden den Wählern deutlich machen, dass wir ein schlüssiges Gesamtkonzept haben.
Ich will nicht weiter auf Ihr Konzept eingehen. Auch
mir ist nicht ganz klar, was Sie wollen. Im Vergleich zu
dem Gesetz, das der Deutsche Bundestag heute beschließen soll, wird ganz deutlich, dass Ihrem Konzept jede
Logik, jede Stimmigkeit und jede politische Redlichkeit
fehlt. Sie beklagen die Kompliziertheit dieses Gesetzentwurfes. Trotzdem haben Sie im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens mindestens fünf bis zehn Punkte eingebracht, die zur weiteren Verkomplizierung des Gesetzes
geführt hätten.
({12})
Ich will gar nicht über das reden, was die FDP eingebracht hat.
Ich will ein einfaches Beispiel für die Unstimmigkeit
Ihrer Vorschläge anführen. Sie beklagen, dass wir den
Bestandsschutz bei den Lebensversicherungen nicht
in aller Konsequenz sicherstellen. Wir wollen, dass Lebensversicherungen, die bis zum 31. Dezember 2004
abgeschlossen werden, unter den Bestandsschutz fallen.
Aber der Sonderausgabenabzug, der im Jahre 2014 ausläuft, kann nicht bestehen bleiben.
Man könnte sich nun darüber unterhalten, was das für
Konsequenzen hat; ich will in diesem Zusammenhang
jetzt nicht über die finanziellen Probleme reden. Wer im
Jahre 2004 eine Lebensversicherung abschließt, der wird
diese Versicherung noch 20, 30 oder 60 Jahre haben. Wir
müssten also für diesen langen Zeitraum im Einkommensteuergesetz ein eigenständiges Sonderausgabenabzugsrecht für diesen immer kleiner werdenden
Personenkreis schaffen. Das soll ein Beitrag zur Steuervereinfachung sein? Das kann man zwar wollen. Aber
dann darf man uns nicht vorwerfen, wir wollten eine
komplizierte Regelung, wohingegen Sie eine einfache
Regelung wollen.
({13})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Ihre politische Zielsetzung ist weiterhin - Kollege Meister hat das
noch gestern im Finanzausschuss gesagt - die Öffnung
der Produkte im Rahmen von § 10 Einkommensteuergesetz. Sie wollen mehr als die kapitalgedeckte Leibrente
vorsehen. Aber Sie haben dazu im Finanzausschuss des
Deutschen Bundestages keinen Antrag gestellt. Ich bitte
darum, hier einmal zu erläutern, weshalb Sie dazu keinen Antrag stellen.
({14})
- Sie haben keinen Antrag gestellt.
Die Formulierungshilfe, die Sie erbeten haben, zeigt,
weshalb nicht. Es wird nämlich deutlich, dass dies auf
Dauer zusätzliche Steuerausfälle in Milliardenhöhe zur
Folge hat. Auch Ihre Sozialpolitiker müssten zur Kenntnis nehmen: Je attraktiver in der ersten Säule die kapitalgedeckte Leibrente gestaltet wird, desto mehr Menschen
ziehen sich aus dem Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung zurück. Das führt auch für dieses System zu
Folgewirkungen. Ich vermute einmal: Auch das ist wieder ein Beleg dafür, dass Sie in Ihren Reihen keine Klarheit darüber haben, was Sie wollen.
({15})
Dann werden weitere Popanze aufgebaut. Sie wollen
beispielsweise das Wohneigentum in das vorliegende
Gesetz integrieren.
({16})
In keinem der Gespräche, die wir auf der Arbeitsebene
geführt haben, und in keiner der Beratungen des Finanzausschusses ist vonseiten der FDP oder der Union der
Antrag gestellt worden,
({17})
im Hinblick auf das Wohneigentum über das, was wir im
Einkommensteuergesetz mit dem modifizierten Entnahmemodell festgelegt haben, hinauszugehen. Hier im
Deutschen Bundestag sagen Sie aber: Die Nichtberücksichtigung des Wohneigentums ist einer der Punkte, weshalb die Union nicht zustimmen kann. - Das ist doch unredlich; das ist doch scheinheilig.
({18})
Sie suchen krampfhaft nach Möglichkeiten, um sich
zu verstecken und sich hier im Deutschen Bundestag der
Zustimmung zu diesem Gesetz, das notwendig ist und
im Hinblick auf die Besteuerung der Alterseinkünfte und
die Generationsgerechtigkeit ein Meilenstein ist, zu entziehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Vorsitzenden der Jungen Union verweisen - auch wir haben
junge Leute in unserer Partei,
({19})
die bisweilen etwas sagen, was uns nicht gefällt -, der
offensichtlich im Gegensatz zu vielen Mitgliedern der
Bundestagsfraktion das Problem erkannt hat, als er gesagt hat, die Union müsse endlich auch dieses Thema angehen. Der junge Mann hat wenigstens verstanden, um
was es dabei geht, nämlich um Generationengerechtigkeit.
({20})
Man könnte noch lange über Ihren Entschließungsantrag sprechen. Aber eines will ich ganz deutlich machen:
An einer Stelle wird kritisiert, dass mit diesem Gesetzentwurf hohe Steuerausfälle verbunden sind. Das ist
richtig. Das geht auch nicht anders, wenn wir die zukünftigen Generationen Schritt für Schritt von den Aufwendungen für die gesetzliche, die betriebliche und die
private Altersvorsorge entlasten wollen. Aber auf diesem
Wege, mit dem, was wir der jungen Generation steuerlich bieten, schaffen wir Spielraum - wenn auch nicht im
Jahre 2005, aber in den nächsten Jahren -, eine zusätzliche betriebliche und private Altersvorsorge zu betreiben.
Meine Damen und Herren von der Union, der parteipolitische Formelkompromiss, der in Ihrem Entschließungsantrag zutage tritt, soll doch nur die unvereinbaren
Positionen innerhalb der Fraktion, zwischen CDU und
CSU und vielleicht auch zwischen Finanz- und Sozialpolitikern verdecken. Dies ist doch auch in der Vergangenheit deutlich geworden. Ich weiß nicht, ob das, was
in der Presse steht, immer auf authentischen Aussagen
beruht. Aber wir alle haben doch zur Kenntnis nehmen
müssen, dass es offensichtlich zwischen dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union, der für Finanzen und Haushalt zuständig ist, und dem, der für die
Sozialpolitik zuständig ist, unterschiedliche Auffassungen gegeben hat.
({21})
Ich habe gelesen - wenn es denn wirklich so gesagt worden ist -, dass der eine Kollege über den anderen meint,
dieser habe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
nicht recht verstanden. Wenn es so gesagt worden sein
sollte, dann habe ich dafür große Sympathien; er hat in
der Tat Recht.
Es gelingt der Union einfach nicht, in der Sozial- und
Finanzpolitik zu fundierten einheitlichen Positionen zu
kommen. Deshalb ersetzen Sie die Sachpolitik durch
parteitaktische Spielereien. Das müssen wir heute zur
Kenntnis nehmen. Das ist die Ursache, warum sich die
Union trotz weitgehender Fortschritte, die wir in den Gesprächen erzielt haben, nicht durchringen konnte, im
Deutschen Bundestag Farbe zu bekennen. Es ist natürlich das Recht der Opposition, nicht Farbe zu bekennen,
aber darauf muss man hier in diesem Hause auch ganz
deutlich hinweisen dürfen.
({22})
Ich möchte jetzt ein paar Sätze zur Sache sagen
({23})
und deutlich machen, was wir mit diesem Gesetzentwurf
erreicht haben.
({24})
- Ihr Problem ist doch, dass Sie keine Entscheidungen
treffen, weil Sie in Ihren Reihen zu keiner einheitlichen
Lösung kommen. Deswegen muss man hier auch dazu
etwas sagen. Denn die Bürger verstehen nicht mehr, was
bei Ihnen abläuft.
({25})
Aus den Zeitungskommentaren zu den parteitaktischen
Spielchen, die hier betrieben werden, wird deutlich, dass
die Bürger Ihre Spielchen nicht verstehen. Deswegen
wollte ich darauf deutlich hinweisen.
Wir sind uns darüber einig, dass der Systemwechsel
hin zur nachgelagerten Besteuerung bei den Alterseinkünften - in den Petersberger Beschlüssen war er nicht
enthalten - notwendig ist. Dieser Systemwechsel ist die
angemessene Antwort auf unsere Probleme und er
schafft den zukünftigen Generationen den Spielraum zur
Vorsorge.
Im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge sind wir
entgegen dem, was die Kollegen Flosbach und Pinkwart
gesagt haben, einen deutlichen Schritt vorangekommen.
Bisher konnten wir uns nur im Rahmen des § 3 Nr. 63
Einkommensteuergesetz bewegen. Nur für den kleinen
Personenkreis, der eine Direktversicherung abschloss,
gab es die Möglichkeit der Pauschalbesteuerung auf der
Grundlage des § 40 b Einkommensteuergesetz. Jetzt haben wir für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer ein Volumen von über 4 000 Euro erreicht, das ist
ein Fortschritt. Diejenigen, die fordern, diese müssten
unbelastet bleiben, müssen sich angesichts der Lage der
Sozialversicherungssysteme rechtfertigen; denn diese
können keine zusätzlichen Ausfälle verkraften.
({26})
Lassen Sie mich ein paar Worte zur Kapitallebensversicherung sagen. Es ist zumindest zwischen Koalition und der Union unstrittig gewesen, dass es das bisherige Steuerprivileg zukünftig nicht mehr geben soll.
Strittig war die Frage, welches Instrument man anwenden soll. Sie haben dazu einen Antrag gestellt, wir haben
eine andere Position vertreten.
Da hier so getan wird, als sei das der Tod der Lebensversicherung, möchte ich Folgendes sagen: Der Präsident der deutschen Aktuarsvereinigung, Herr Kurt
Wolfsdorf - er ist vielen bekannt, er war Vorstandsmitglied eines großen Versicherungsunternehmens -, sagte
gestern in der „FAZ“:
Die Kapitallebensversicherung ist auch ohne Förderung attraktiv.
Sie wird es auch weiterhin sein und wir werden den Lebensversicherungen, die die Voraussetzung der Altersvorsorge erfüllen, eine Progressionsmilderung bieten.
Unser Gesetzentwurf führt zu einer verfassungskonformen Neuregelung. Wir haben damit den Auftrag des
Bundesverfassungsgerichts - bedauerlicherweise ohne
die Mithilfe der Opposition - erfüllt. Wir tragen die Verantwortung, wir nehmen sie wahr. Insbesondere die Verbesserungen im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge
wurden - wie auch schon beim Altersvermögensgesetz ohne Zutun der Union beschlossen. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat die Union leider nichts
Neues zu bieten.
Ich danke Ihnen.
({27})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg
Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Schild, Lautstärke ersetzt Argumente nicht.
({0})
Mir scheint, Sie haben versucht, mit Lautstärke die Tatsache zu überspielen, dass wir in der Zeit zwischen Dezember letzten Jahres - Vorlage des Entwurfs durch das
Bundesfinanzministerium - und Anfang März, der Woche vor Ostern, von Ihrer Seite nichts, aber auch gar
nichts an Änderungsvorschlägen auf den Tisch bekommen haben.
({1})
- Lieber Herr Schild, Sie haben dreieinhalb Monate lang
erklärt: Dieses Gesetz in der Fassung vom Dezember
2003 ist das beste, das es gibt, und es besteht kein Änderungsbedarf.
({2})
Gestern aber haben wir 50 Umdrucke durchgearbeitet
und dieses Gesetz in wesentlichen Punkten verändert.
Das muss hier einmal gesagt werden.
({3})
Dreieinhalb Monate lang gab es keine Möglichkeit, mit
den Bundestagsfraktionen von Rot und Grün und Vertretern des Bundesfinanzministeriums über die Sache zu reden. Das Höchste war, dass wir am Anfang der Berichterstattergespräche auf Ihren Wunsch hin die Vertreter
des Bundesfinanzministeriums haben vor der Tür stehen
lassen, damit wir uns in der Sache überhaupt bewegen
konnten.
({4})
Der Grund für dieses Verfahren liegt darin, dass sich
Ihr Finanzminister überhoben hat. Er hat nicht nur versucht, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, sondern er hat auch die deutsche Politik damit
beglückt, sich mit der betrieblichen Altersvorsorge und
einer Bastelstunde an der Riester-Reform zu beschäftigen. Das ist der zentrale Punkt von Eichel, einem Minister auf Abruf.
Das Arbeitsmotto bezüglich dieses Gesetzes war
wohl, alles irgendwann einmal anzusprechen, aber nichts
wirklich zu Ende zu denken. Der Entwurf war unübersichtlich, kompliziert und hätte nicht zu einer Vereinfachung des Einkommensteuerrechts geführt. Wenn wir
uns nicht in die Diskussion eingebracht hätten, wenn wir
nicht wesentliche, fundierte Änderungsvorschläge entwickelt hätten, hätten wir heute überhaupt kein Problem,
darzustellen, dass dieses Gesetz Unsinn und damit abzulehnen ist.
Jetzt haben wir uns darauf eingelassen und - zugegeben - von unseren über ein Dutzend Änderungsvorschlägen haben Sie große Teile übernommen.
({5})
Sie stellen sich jetzt vor uns hin und sagen: Jetzt haben
wir so viel von euch übernommen, jetzt müsst ihr zustimmen.
Meine Damen und Herren, wir sind hier nicht auf dem
Marktplatz. Wir haben abzuwägen und müssen feststellen, dass das Gesetz immer noch wesentliche Webfehler
enthält. Deshalb werden wir als Teil des Bundestages
dieses Gesetz heute ablehnen.
({6})
Ich will Ihnen gerne zumindest drei der zentralen
Webfehler darstellen. Ein zentraler Webfehler dieses Gesetzes ist beispielsweise die Behandlung der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Der Gesetzentwurf verkompliziert die kapitalgedeckte Altersvorsorge und macht sie
insgesamt für den Bürger unattraktiver.
({7})
Nach geltendem Recht können Beiträge zur Kapitallebensversicherung im Rahmen der Vorsorgehöchstbeträge zu 88 Prozent steuermindernd berücksichtigt werden und die Auszahlung der während der Laufzeit
angesammelten Erträge sowie der Schlussüberschussbeteiligung erfolgt für Verträge mit einer Mindestlaufzeit
von zwölf Jahren steuerfrei. Dieses so genannte zweifache Steuerprivileg soll nach Ihrem Willen abgeschafft
werden. Sie wollen auch die Begünstigung der Beitragszahlung für bestehende Verträge auslaufen lassen.
Diese Änderungen führen zu einer Benachteiligung
der Lebensversicherung gegenüber jeder anderen Art
von Kapitalanlage.
({8})
Träte das Gesetz in Kraft, würde das faktisch das Aus für
die Kapitallebensversicherung bedeuten. Die Lebensversicherungen wären in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig.
({9})
Sie müssen sich schon mit den Fakten konfrontieren
lassen: Noch im Jahre 2003 haben 8,6 Millionen Deutsche Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt es in
Deutschland 91,5 Millionen Lebensversicherungsverträge. Sie sagen, die Lebensversicherung sei überaltert,
und bieten Ihr Riester-Alternativmodell an. Vergleichen
wir doch einmal den Bestand von etwa 91 Millionen
Lebensversicherungsverträgen mit den kümmerlichen
3 Millionen Menschen, die sich auf Ihr Riester-Konzept
eingelassen haben. Stellt sich da wirklich noch die
Frage, welches das bessere, wettbewerbsfähigere und
zukunftsfähigere Modell ist? Die Antwort liegt auf der
Hand: über 90 Millionen Lebensversicherungsverträge
gegenüber kümmerlichen 3 Millionen Riester-Verträgen,
wobei zehnmal so viele berechtigt wären.
({10})
- Doch, das muss man so darstellen.
({11})
Sie müssen doch einfach feststellen, dass die Menschen zwischen dem Altersvorsorgeprodukt Lebensversicherung und dem Altersvorsorgeprodukt Riester-Rente
wählen, dass sie sich von der Riester-Rente abwenden
und Ja zur Lebensversicherung sagen. Deshalb ist es an
dieser Stelle ein zentraler Webfehler, dass Sie das Produkt Lebensversicherung kaputtmachen.
({12})
Der zweite große Webfehler liegt tatsächlich in der
Riester-Rente. Sie sind mit dem Anspruch angetreten,
mit diesem Gesetz den Riester-Flop zu beheben; denn
mit dieser ersten Jahrhundertreform, die Rot-Grün eingeleitet hat, sind Sie zu kurz gesprungen. Deshalb wollten Sie dieses Gesetz verbessern. Aber, meine Damen
und Herren, was haben Sie getan? Erstens haben Sie einer alten Forderung der Union nachgegeben und endlich
die Möglichkeit eines Dauerzulagenantrags zugelassen.
({13})
Zweitens haben Sie versucht, die Regelungen der
Riester-Rente zu vereinfachen. Zugegebenermaßen reduzieren Sie zwar die Anzahl der Kriterien von elf auf
fünf. Aber gleichzeitig zur Reduktion der Kriterien führen Sie eine Berichtspflicht allgemeiner Art ein, die zur
Folge haben wird, dass nicht nur die alten, bereits bestehenden Riester-Zertifikate neu angemeldet werden müssen - das ist, nebenbei gesagt, eine klassische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Behörden, die die RiesterVerträge zu zertifizieren haben -, sondern dass zusätzlich auch ethische, soziale und ökologische Belange ausgewiesen werden müssen. Unter der Überschrift „Vereinfachung der Riester-Rente“ solche Berichtspflichten
einzuführen, das ist ein Treppenwitz.
({14})
Damit wir uns nicht falsch verstehen, will ich Ihnen
sagen: Wir können Ihre Initiative, was die Berichtspflicht hinsichtlich ethischer, sozialer und ökologischer
Gesichtspunkte angeht, nachvollziehen. Wir sind auch
nicht dagegen, dass die Anbieter diese Berichte formulieren. Aber das im Gesetz festzuschreiben ist der falsche Weg.
({15})
Darüber hinaus stellt sich angesichts der aktuellen
Lage in Deutschland die Frage, warum wir uns, wenn
wir uns über ethische, soziale und ökologische Gesichtspunkte berichten lassen, nicht auch über die wirtschaftlichen Impulse einer solchen Anlage berichten lassen.
({16})
Wir müssten uns doch auch über die neuen Arbeitsplätze, die die Anlage geschaffen hat, berichten lassen.
({17})
Wollen Sie sich wirklich nur über ethische, soziale und
ökologische Aspekte berichten lassen? Wollen Sie nicht
auch über neu geschaffene Arbeitsplätze informiert werden?
({18})
Wenn wir also über Berichtspflichten reden, dann müssen wir uns auch über einen ordentlich abgestimmten
Kanon unterhalten.
({19})
Über die Einführung so genannter Unisextarife
möchte ich hier gar nicht lange sprechen.
({20})
- Denn, lieber Herr Schild, alle Beteiligten wissen, dass
Sie dem Produkt Riester-Rente mit dieser Entscheidung
erheblichen Schaden zufügen. Statt einen Neustart zu
unternehmen - wie das von Ihnen geplant ist -, tragen
Sie dazu bei, dass die Riester-Rente endgültig zum
Rohrkrepierer wird.
({21})
- Doch, lieber Herr Schild.
({22})
Der wesentliche Grund dafür ist, dass Sie daran gescheitert sind, die Riester-Rente zu öffnen. Denn wenn Sie die
Riester-Rente für Selbstständige geöffnet hätten, denen
Sie nach wie vor den Zugang zu Riester-Produkten verwehren, hätte man noch über eine Regelung sprechen
können. Aber Sie tun Folgendes: Sie verschlechtern für
die Selbstständigen in Deutschland die Möglichkeit, für
ihre Altersvorsorge Lebensversicherungen zu nutzen
und sperren Sie aus der Nutzung des Riester-Konzepts
aus.
({23})
Damit benachteiligen Sie die Selbstständigen in
Deutschland. Meine Damen und Herren, Respekt und
herzlichen Glückwunsch zu diesem grundsätzlichen Ansatz!
Schlussendlich lassen Sie durch Ihren Entwurf die
zentrale Chance in dieser Legislaturperiode für den Finanzplatz Deutschland verstreichen. Der Begriff „Leibrente“ als einzige staatlich bzw. steuerlich begünstigte
Altersvorsorge ist viel zu eng gefasst.
({24})
Angesichts des Effektes des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung werden in Zukunft alle Vorsorgeprodukte, die vererblich, übertragbar, beleihbar, veräußerbar
und kapitalisierbar sind, benachteiligt.
({25})
Das schädigt den Finanzplatz Deutschland, weil Sie den
Wettbewerb, statt ihn auch bei der Altersvorsorge zuzulassen, aussperren. Sie haben sich dagegen entschieden,
eine Vielzahl von Anlageprodukten zuzulassen und den
damit einhergehenden Wettbewerb auch in Deutschland
zuzulassen. Auch hier haben die Selbstständigen das
Nachsehen: Sie haben keinen Zugang zur Riester-Rente
und der enge Begriff der Leibrente führt zu einer Diskriminierung der Vermögensbildung.
Das sind drei zentrale Webfehler, die uns dazu führen,
dass wir sagen müssen: Dieses Gesetz ist Ausschussware
mit groben Webfehlern und wir werden dem nicht zustimmen.
({26})
Alterssicherung ist Vertrauenssache. Deshalb muss
die rentenpolitische Flickschusterei, die die Bundesregierung seit mittlerweile fünf Jahren betreibt, endlich beendet werden. Die Menschen wissen doch heute nicht
mehr, wie viel Geld ihnen im Alter zur Verfügung stehen
wird. Sie warten darauf, dass endlich ein Konzept vorgelegt wird, das deutlich macht, welchen Produkten sie
vertrauen können und wie sie die zu erwartenden Ausfälle durch den Zusammenbruch des gesetzlichen Rentenversicherungssystems kompensieren können.
Das Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen wird diesem Anspruch in keiner
Weise gerecht; es ist letztendlich nur ein weiterer Beitrag
zur Komplizierung unseres Steuerrechts.
Herzlichen Dank.
({27})
Ich erteile das Wort Kollegin Christel Humme, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wenn man die Debatte so verfolgt, muss man feststellen,
dass eine Tatsache völlig unterzugehen scheint: Heute ist
ein guter Tag, denn wir machen die Riester-Rente attraktiver.
({0})
Wir verankern in der Riester-Rente endlich gleiche Tarife für Männer und Frauen. Das heißt, um 15 Prozent
höhere Beiträge für Frauen bei gleicher Leistung wird es
zukünftig in der Riester-Rente nicht mehr geben.
({1})
Das ist gut so, schließlich wird diese Säule der privaten
Altersvorsorge durch öffentliche Mittel, durch Steuergelder, gefördert.
Gleiche Tarife für Männer und Frauen gebieten uns
der Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes
und unser Wissen, dass ausnahmslos alle für ihr Alter
zusätzlich zur gesetzlichen Rente vorsorgen müssen.
Diese wichtigen Gründe waren ausschlaggebend für unsere Entscheidung, diese Gründe führten aber auch dazu,
dass es im Bundestag dafür eine breite Mehrheit - die
heute leider gar nicht zum Ausdruck kommt - gegeben
hat. Nicht nur Männer und Frauen von Rot-Grün haben
dafür gestritten, nein, ich weiß genau: Für gleiche Tarife
für Männer und Frauen in der Riester-Rente haben sich
auch Männer und Frauen der Union und Männer und
Frauen der FDP eingesetzt. Damit haben wir gemeinsam
ein gutes Stück Geschlechtergerechtigkeit erreicht.
({2})
Ich hätte mir gewünscht, dass auch diese Stimmen von
Ihrer Seite heute hier zu Wort gekommen wären;
({3})
denn diesen Männern und Frauen, die mitgestritten haben, danke ich an dieser Stelle recht herzlich.
({4})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in der Tat machen
wir die Riester-Rente mit den so genannten Unisextarifen attraktiver. Frauen sind hierbei die Gewinnerinnen;
das haben wir politisch so gewollt.
({5})
Unser Ziel war und ist weiterhin die eigenständige Alterssicherung für Frauen. Die Rentenreform 2001 war
dafür ein entscheidender Schritt. Die Unisextarife sind
der konsequente zweite Schritt auf dem Weg zur eigenständigen Alterssicherung für Frauen.
({6})
Gerade Frauen können sich nicht mehr auf die gesetzliche Rentenversicherung allein verlassen. Sie brauchen
mehr noch als Männer ein zweites Rentenstandbein;
denn aufgrund von Kindererziehung, Pflege und unterdurchschnittlichem Einkommen sind ihre gesetzlichen
Rentenansprüche in der Regel geringer. Weniger Einkommen aber und noch dazu höhere Beiträge - mit dieser doppelten Benachteiligung von Frauen machen wir
endlich Schluss.
({7})
Unsere Entscheidung für Unisextarife - das haben wir
auch heute Morgen gesehen - hat für viel Aufregung gesorgt, was mich schon ein bisschen verwundert. Vom
Schlag gegen die Riester-Rente, vom Sargnagel für das
Riester-Geschäft, gar vom Todesstoß für die RiesterRente, Herr Flosbach, war hier die Rede. Vertreter der
konservativen Medien und der Versicherungswirtschaft
lieferten sich regelrecht einen Wettstreit um den dramatischsten Kommentar - und das, obwohl 12,7 Millionen
potenzielle Kundinnen geworben werden könnten, wenn
man nur wollte. Herr Fahrenschon, Unisextarife bedeuten
nicht den Tod der Riester-Rente, sondern das Gegenteil.
({8})
„Frauen leben länger und müssen deshalb höhere Beiträge zahlen“, mit dieser Logik macht es sich die Versicherungswirtschaft viel zu einfach. Die Lebenserwartung hängt nicht alleine vom Geschlecht ab, sondern von
einem Bündel von Einflussfaktoren. Deshalb haben die
USA unterschiedliche Tarife für Männer und Frauen
schon längst abgeschafft, und zwar für alle privaten Versicherungsverträge.
({9})
Vom Todesstoß für die Riester-Rente zu sprechen,
wenn Frauen die berechtigte Forderung nach gleichen
Lebenschancen erheben, offenbart ein Rollenverständnis, das es zwar immer noch gibt, das aber schon längst
überholt ist. Bei diesem Rollenverständnis wird davon
ausgegangen, dass es einer Frau dann am besten geht,
wenn ihr Mann gut versorgt ist. Liebe Kollegen, liebe
Kolleginnen, wen kümmert das Anrecht von Frauen auf
eigene Rentenansprüche? Wen kümmern die vielen allein stehenden Frauen, die, selbst wenn sie es wollten,
nicht durch einen Mann versorgt werden? Ich sage Ihnen: Uns kümmert das. Auch deshalb haben wir für gleiche Tarife für Männer und Frauen in der Riester-Rente
gesorgt.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Andreas Storm, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
welchem rentenpolitischen Umfeld findet die heutige
Debatte eigentlich statt? - Noch nie in der Geschichte
der Bundesrepublik wurde innerhalb von so kurzer Zeit
eine solche Vielzahl von Belastungen für Rentnerinnen und Rentner beschlossen.
({0})
Von Rot-Grün kommt alle drei Monate eine neue Hiobsbotschaft. 1. Januar 2004: Verdoppelung der Krankenkassenbeiträge bei Betriebs- und Versorgungsrenten.
1. April 2004 - das ist erst drei Wochen her -: Verdoppelung des Pflegebeitrags für Rentnerinnen und Rentner,
was im Klartext eine Kürzung der Renten um 0,85 Prozent bedeutet. 1. Juli 2004: Die jährliche Rentenanpassung fällt in diesem Jahr aus. Das, was Sie Nullrunde
nennen, ist vor dem Hintergrund der Rentenkürzung
durch die Erhöhung des Pflegebeitrags vor drei Wochen
in Wirklichkeit ein klare Minusrunde.
Damit ist das Ende der Fahnenstange aber noch lange
nicht erreicht. Vor sieben Wochen hat Rot-Grün hier im
Deutschen Bundestag eine neue Rentenformel beschlossen, welche die Rentenentwicklung bis zum Jahr 2010
weit von der Lohnentwicklung der Beitragszahler abkoppelt. Legt man die Wachstumsprognose zugrunde,
die die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute vorgestern vorgelegt haben, bedeutet das im Klartext, dass sich
die Rentnerinnen und Rentner im kommenden Jahr auf
eine weitere Nullrunde einstellen müssen.
({1})
Da helfen auch alle wachsweichen Dementis des Sozialministeriums nicht weiter, Frau Schmidt: Dadurch, dass
Sie den Nachhaltigkeitsfaktor auf den Riester-Faktor
draufschlagen, bleibt für eine Rentenerhöhung so gut
wie kein Spielraum. Eine solche Kumulation von Belastungen innerhalb von wenigen Monaten ist in der deutschen Sozialgeschichte beispiellos.
({2})
Das ist das Umfeld, in dem wir heute über das Alterseinkünftegesetz zu entscheiden haben.
Worum geht es bei diesem Alterseinkünftegesetz?
Natürlich liegt der Schwerpunkt des Gesetzes auf der
Neuregelung der Rentenbesteuerung. Hinsichtlich des
Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung herrscht in
der Tat über die Fraktionsgrenzen hinweg eine grundsätzliche Übereinstimmung; es war schließlich eine
langjährige Forderung von uns.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille betrifft die dringend erforderliche Ausweitung der ergänzenden kapitalgedeckten
Altersvorsorge neben der gesetzlichen Rentenversicherung.
({3})
An dieser Stelle wäre dringend Klarheit und Verlässlichkeit geboten gewesen.
({4})
Nach Ihrem Notsparpaket vom vergangenen November und dem so genannten RV-Nachhaltigkeitsgesetz
vom März 2004 beraten wir heute mit dem Alterseinkünftegesetz bereits das dritte Teilstück Ihrer Rentenreform. Eine Gesamtkonzeption ist in diesem Dreiklang
allerdings nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Kein Element passt zum anderen. Sie haben die einmalige
Chance vertan, eine umfassende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge sowie eine Neuregelung der
steuerlichen Behandlung der Alterseinkünfte aus einem
Guss vorzulegen. Gefordert wäre eine Reform, bei der
die Statik des Gesamtgebäudes der reformierten Alterssicherung trägt. Stattdessen haben Sie bei der gesetzlichen Rentenversicherung mit der Abrissbirne begonnen,
bevor überhaupt genügend Bautrupps für den Aufbau
der ergänzenden Vorsorge bereit standen. Dieser Dilettantismus betrifft alle Bewohner des Gebäudes, sowohl
die Rentnerinnen und Rentner als auch die junge Generation, die Beitragszahler.
Mit der im vergangenen Monat beschlossenen Rentenreform und der Neuregelung der Rentenbesteuerung,
die heute beschlossen wird, sinkt das Nettorentenniveau für die jüngere Generation von heute etwa zwei
Drittel auf nur noch die Hälfte ab. Das ist ein rentenpolitischer Paradigmenwechsel.
({5})
Damit nehmen Sie endgültig Abschied vom Ziel einer
Lebensstandard sichernden Rente. Die Wahrheit ist: Die
gesetzliche Rente hat für die jüngere Generation nur
noch den Charakter einer beitragsfinanzierten Basissicherung.
({6})
Angesichts dieses Paradigmenwechsels bezüglich des
Sicherungsziels muss den Jüngeren unmissverständlich
und klar gesagt werden, dass sie ergänzend vorsorgen
müssen. Deswegen müssen gleichzeitig die notwendigen
Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit eine flächendeckende ergänzende Altersvorsorge rasch aufgebaut werden kann. Wenn dies nicht gelingt, dann werden
bereits heute die Ursachen für die Altersarmut von morgen gelegt.
({7})
Um diese Wahrheit haben Sie sich vor sieben Wochen
mit Ihrem bizarren Streit um die Höhe von Rentenniveau
und Beitragssatz herumgedrückt. Mit den unhaltbaren
Versprechungen zum Sicherungsniveau der gesetzlichen
Rente wiegen Sie die Menschen einmal mehr in einer
falschen Sicherheit. Man braucht sich auch nicht über
die mangelnde Akzeptanz der ergänzenden Vorsorge in
der Bevölkerung zu wundern; denn - das hat heute Morgen schon mehrfach eine Rolle gespielt - die bisherige
Bilanz der Riester-Rente ist mehr als enttäuschend. Sie
ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die
Abschlusszahlen verharren bei 4 Millionen. Gleichzeitig
wissen wir, dass bisher nur etwa 1,5 Millionen Berechtigte ihren Zulagenantrag auf Förderung gestellt haben.
Daran wird deutlich: Dieses Verfahren wird von den
Menschen im Moment nicht angenommen.
Mit der Einführung des Dauerzulagenantrags haben
Sie einen Webfehler korrigiert. Das halten wir für richtig, das war eine richtige Entscheidung. Sie glauben aber
doch wohl nicht ernsthaft, dass die Riester-Rente allein
durch diese Maßnahme und wenige andere Korrekturen
zu einem Renner wird. Lassen Sie die Zahlen aus der
Versicherungswirtschaft einmal ganz nüchtern auf sich
wirken: Im Jahre 2003 wurden nur noch 500 000
Riester-Verträge abgeschlossen. In diesem Jahr wird es
eine weitere Abwärtsbewegung geben.
({8})
- Herr Kollege Schmidt, das bedeutet im Klartext: Wenn
es so weitergeht, dann werden Sie es nicht annähernd
schaffen, dass nach diesem Jahrzehnt möglichst jeder
über eine ergänzende Altersvorsorge verfügt.
({9})
Wenn das nicht gelingt, dann ist das nicht nur ein Problem für Rot-Grün. Es ist eine zentrale sozialpolitische
Herausforderung für uns alle;
({10})
denn die Antwort auf die Frage, ob die Jüngeren im
Jahre 2030 oder 2040 eine ausreichende Alterssicherung
haben, hängt davon ab, ob wir in diesen Monaten die
richtigen Weichenstellungen treffen. Davon sind wir
meilenweit entfernt.
({11})
Man muss sich doch einmal überlegen, warum die
Menschen das Angebot der Riester-Rente aus Ihrer Rentenreform im Jahre 2001 bisher nicht annehmen. Das
liegt daran, dass Ihre Konzeption an den Bedürfnissen
vieler Menschen vorbeigeht. Die Frage, was Altersvorsorge ist, deckt sich nicht unbedingt mit dem, was in einigen Lehrbüchern einiger Ihrer Berater steht. Warum
überlassen Sie es den Menschen nicht selbst, wie sie für
das Alter vorsorgen wollen? Ein entscheidender Punkt
ist, dass die Menschen mehr Freiräume haben wollen.
Nur dann werden sie ermutigt, für ihre eigene Vorsorge
mehr zu tun.
Zu diesen Freiräumen gehört beispielsweise die Möglichkeit für ein so genanntes Teilkapitalwahlrecht.
Wenn sie für das Alter Geld ansparen, ist es für viele
Bürger wichtig, dass sie am Beginn des Ruhestandes
selbst entscheiden können, ob ein Teil des angesparten
Kapitals zur freien Verfügung steht. Klar ist, dass natürlich der größere Teil in monatlichen Rentenzahlungen
ausgezahlt werden muss. Aber eine gewisse Entscheidungsfreiheit über das selbst angesparte Kapital ist eine
wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen diese
Altersvorsorgeprodukte annehmen.
({12})
Das gilt auch für einen weiteren Punkt. Viele Menschen wollen, wenn ihnen etwas passiert, mehr Sicherheit für ihre Angehörigen. Dazu gehört neben mehr Flexibilität bei der Altersvorsorge auch die Möglichkeit der
Vererbbarkeit des angesparten Altersvermögens. Ihr
Alterseinkünftegesetz lässt als steuerlich begünstigte
Altersvorsorgeprodukte aber nur eng definierte Versicherungsprodukte zu. Wenn dann auch noch mit der Abschaffung des Steuerprivilegs für die Kapitallebensversicherung weit über das Ziel hinausgegangen wird, dann
brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn wir als Ergebnis dieser Gesetzgebung in zwei oder drei Jahren
wahrscheinlich feststellen müssen: Am Ende steht nicht
mehr, sondern möglicherweise sogar weniger an privater Vorsorge als jetzt.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Frage: Wie
schaffen wir es, dass wieder mehr betriebliche Altersvorsorge aufgebaut wird? Die Rahmenbedingungen für
die betriebliche Altersvorsorge werden von Ihnen nicht
nur nicht verbessert, sondern sogar noch verschlechtert.
Die attraktive Pauschalbesteuerung soll abgeschafft werden. An ihre Stelle rückt zwar ein Freibetrag von
1 800 Euro. Aber warum waren Sie eigentlich nicht bereit, unseren Vorschlag aufzugreifen, neben dem Steuerfreibetrag von 4 Prozent für vom Arbeitnehmer finanAndreas Storm
zierte Beiträge weitere 4 Prozent aufzunehmen, die es
dem Arbeitgeber ermöglichen, sich an der Altersvorsorge weiter zu beteiligen? Dies wäre ein klares Signal:
Wir brauchen mehr betriebliche Altersvorsorge.
({13})
Eine entscheidende Frage ist offen geblieben: Wie
schaffen wir es, dass nach Möglichkeit jeder Arbeitnehmer bis zum Jahr 2010 ergänzend vorsorgt? Es gibt innovative Vorschläge, zum Beispiel den der BertelsmannStiftung, nach dem beim Abschluss eines Arbeitsverhältnisses regelmäßig eine Entgeltumwandlung vorgenommen werden soll. Es soll aber auch die Möglichkeit geben, dass der Arbeitnehmer sich dafür entscheiden kann,
davon keinen Gebrauch zu machen und den Lohn vollständig ausgezahlt zu bekommen. Mit einem solchen
Modell würde die Entgeltumwandlung zum Regelfall.
Wir würden so erreichen, dass die betriebliche Altersvorsorge innerhalb von ganz kurzer Zeit eine sehr viel
breitere Grundlage als heute bekommt. Das wäre ein innovativer Ansatz, der die Sache rund machte. Aber davon ist in Ihrem Gesetzentwurf weit und breit nichts zu
finden.
({14})
Sie werden sich nach dieser Debatte wahrscheinlich
zurücklehnen, weil Sie meinen, Sie hätten Ihre Hausaufgaben bei der Rente gemacht. Weit gefehlt! In Wahrheit
brauchen wir eine grundlegende Neukonzeption der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge. Die kapitalgedeckte Altersvorsorge muss zu einer echten Förderrente für die gesamte Bevölkerung werden. Die Frage
muss beantwortet werden, was Altersvorsorge in Zukunft leisten soll und welche Anforderungen an Altersvorsorgeprodukte zu stellen sind. Dazu fehlen Ihnen offenbar die Kraft und die Einsicht.
Es ist klar: Dieses Gesetz ist wie seine beiden Vorgänger keine Blaupause für eine nachhaltige Reform der Alterssicherung in Deutschland. Die Halbwertszeit der Reformen von Rot-Grün nimmt von Reform zu Reform
weiter ab. Wir befinden uns nicht am Ende der Debatte
über die Neuordnung der Alterssicherung. Im Gegenteil:
Mit diesem Gesetz wird die Debatte neu eröffnet. Sie haben eine riesige Chance vertan. Keine der grundlegenden Fragen ist ausreichend beantwortet.
({15})
Deshalb wird es spätestens nach der Bundestagswahl 2006 einen neuen Anlauf für eine grundlegende
Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und der ergänzenden privaten und betrieblichen Vorsorge geben
müssen.
({16})
Wir sind dazu bereit.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Mit dem vorliegenden Gesetz will die Regierungskoalition ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Die CDU verbiegt sich seit Tagen, weil sie nicht
den Mut hat, den Menschen zu sagen, was sie ihnen zumuten will. Deshalb will die CDU - das ist schon von
den Kollegen der FDP angesprochen worden - das Gesetz hier im Bundestag ablehnen und im Bundesrat passieren lassen. Es ist schon auffällig, dass sich die CDU
ständig hinter der Regierung versteckt
({0})
und glaubt, mit Tricks eine saubere Weste behalten zu
können. Warum haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, nicht den Mut, den Menschen zu sagen, dass Sie in vielen Fragen Teil einer großen Koalition mit SPD und Grünen sind?
({1})
Was mich aber viel mehr bewegt und was alle Abgeordneten viel mehr bewegen sollte, ist die Frage, auf
welcher Zahlengrundlage wir entscheiden. Stimmen eigentlich die Zahlen, die uns die Regierung vorlegt? Ich
will Ihnen an einem Beispiel erläutern, warum man sehr
misstrauisch sein sollte.
Die Bundesregierung schaltete am 9. März 2004 für
knapp 1 Million Euro Anzeigen in den großen Tageszeitungen mit der Überschrift: „Heute verlässlich für morgen. Die Rente.“ Nun kann man erst einmal kommentieren: Die Rente ist genauso wenig verlässlich wie die
Zahlen, die Sie verwenden. In der Anzeige gab die Regierung nämlich vor, in einer Grafik das Verhältnis der
Anzahl der Beitragszahler zu den Rentnern darstellen zu
wollen. Das mutete sehr dramatisch an. Während im Jahr
2000 noch 4,13 Beitragszahler einen Rentner finanzieren, wären es im Jahr 2020 nur noch 2,9. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ schrieb dazu - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -: „Das ist ganz schön erschreckend und erschreckend falsch.“
Frau Ministerin Schmidt hat nämlich nicht die Beitragszahler, sondern die 15- bis 65-Jährigen zur Grundlage ihrer Berechnungen genommen und dadurch den
Quotienten völlig zerzerrt. Ich wollte mit einer Anfrage
ein mögliches Missverständnis aufklären, doch es stellte
sich heraus, dass die Ministerin bewusst falsche Zahlen
verwandte. Hätte die Regierung nämlich die verfügbaren
Zahlen vom Verband der Rentenversicherungsträger genommen, dann wäre die schön-schaurige Prognose nicht
möglich gewesen.
Jeder kann einmal eine Zahl verwechseln. Das ist
nicht so schlimm. Aber schlimm ist es schon, wenn man
falsche Zahlen verwendet, um ein bestimmtes politisches
Ziel zu verfolgen. In diesem Fall war das politische Ziel,
die Rentenkürzung mit falschen Zahlen zu begründen
und den Menschen Angst zu machen. Besonders kritikwürdig finde ich es, wenn man beim Verwenden falscher
Zahlen ertappt wird und dann nicht einmal den Mut hat,
die Bürgerinnen und Bürger über diese Falschinformation zu informieren und sie richtig zu stellen. Ich bin als
Einzelabgeordnete nicht in der Lage, jede Zahl, die die
Bundesregierung präsentiert, auf ihre Richtigkeit hin zu
überprüfen.
({2})
Dazu müssten einzelne Abgeordnete mit mehr Kontrollrechten ausgestattet sein, was die Mehrheit in diesem
Hause verhindert.
Mit diesem Gesetz soll eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden. Wir werden
erleben, dass es den Bundesrat passiert. Ich möchte allerdings daran erinnern, dass wir grundlegende Veränderungen im Rentensystem brauchen. Die PDS hat ein
Konzept für ein gerechtes Rentensystem vorgelegt, das
eine Rente von allen für alle ermöglichen würde. Das ist
die Kernforderung. Wir müssen dafür sorgen, dass wieder mehr Menschen in die Rentensysteme einzahlen
können. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen
vernünftige Arbeitsverhältnisse haben und dass sie nicht
in Minijobs und Ich-AGs gedrängt werden. Dann wird es
auch möglich sein, eine Rente von allen für alle auskömmlich zu finanzieren.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Storm, es ist zwar das gute Recht der Opposition,
Kritik zu üben, aber dass Sie sich jetzt einen schlanken
Fuß machen wollen und beklagen, dass Rentner und
Rentnerinnen, die Betriebsrenten beziehen, mit der Pflegeversicherung belastet werden, obwohl das entsprechende Gesetz von uns seinerzeit gemeinsam im Konsens erarbeitet worden ist, erachte ich als bodenlos.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin
Andreae ({0})
Wir stimmen schließlich auch nicht der Einführung einer
Praxisgebühr zu, um hinterher zu erklären, das sei die
Praxisgebühr der CDU/CSU. Es ist schlimm, was Sie
sich hier geleistet haben und dass Sie jetzt versuchen,
sich einen schlanken Fuß zu machen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Storm?
Nein, der Kollege ist mir zu unsachlich.
({0})
Ich habe Herrn Storm schon heute Morgen um sechs Uhr
im Rundfunk gehört. Da gingen seine Äußerungen in
eine ähnliche Richtung.
Wir beraten heute den Entwurf des Alterseinkünftegesetzes. Mit diesem Gesetzentwurf setzen wir das Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2002 um. Das
ist übrigens nicht die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die Alterseinkünfte betrifft.
Wir müssten uns heute nicht damit beschäftigen, wenn
die Opposition in der Vergangenheit in ihrer Regierungsverantwortung die Hausaufgaben gemacht hätte.
({1})
Wir alle sind uns darin einig, dass die derzeitige Rentenversicherung nicht mehr den Lebensstandard sichert
und dass zusätzlich eine betriebliche und private Altersvorsorge notwendig ist. Finanzminister Eichel hat heute
schon über die staatlich geförderte Riester-Rente gesprochen, die von Rot-Grün eingeführt worden ist. Wir helfen
damit den Arbeitnehmern, eine private Altersversorgung
aufzubauen. Das haben Sie aufseiten der Opposition seinerzeit versäumt.
Allen Unkenrufen zum Trotz bestätigen uns die Zahlen, dass dieses Angebot angenommen wird. Während
im April 2001 erst 29 Prozent der Beschäftigten Verträge
über eine zusätzliche Altersvorsorge abgeschlossen hatten, verfügten im März 2003 - nur knapp zwei Jahre später - bereits 57 Prozent aller versicherungspflichtigen
Beschäftigten über eine entsprechende zusätzliche Absicherung. In diesem Zusammenhang sollten die circa
4 Millionen im Rahmen der Riester-Rente abgeschlossenen Verträge nicht verschwiegen werden.
Damit haben inzwischen fast 20 Millionen Beschäftigte Anspruch auf eine zusätzliche Altersversorgung.
Das ist aus meiner Sicht durchaus ein Erfolg.
({2})
Im Übrigen hat es auch bei der Einführung der vermögenswirksamen Leistungen eine Zeitlang gedauert, bis
die Menschen dieses Angebot in Anspruch genommen
haben.
Ich erinnere des Weiteren daran, dass Herr Laumann
im Wahlkampf 2002 durch die Lande gezogen ist, um
die Menschen davon abzuhalten, Verträge zur RiesterRente abzuschließen, mit der Begründung, dass sich bei
einem Regierungswechsel wieder alles ändern würde.
({3})
Das ist eine Erfolgsgeschichte, die man nicht kleinreden sollte.
({4})
Indem man sie kleinredet, trägt man nicht dazu bei, dass
die Menschen Verträge zur Altersvorsorge abschließen.
Ich möchte noch eine weitere Maßnahme herausstellen. Von den Beschäftigten wird heutzutage eine immer
größere Flexibilität verlangt. Ein Jobwechsel ist mittlerweile fast eine notwendige Alltäglichkeit geworden.
Aber was wird bei einem Jobwechsel aus der angesparten betrieblichen Altersvorsorge? In den allermeisten
Fällen konnten die Anwartschaften nicht zum neuen Arbeitgeber mitgenommen werden. Die Folge war eine unübersichtliche Aufsplitterung des Betriebsrentenanspruchs in viele Kleinstansprüche. Dies hat die
Wechselbereitschaft der Arbeitnehmer nicht gerade erhöht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erleichtern
wir es, bei einem Betriebswechsel die Betriebsrentenanwartschaften zum neuen Arbeitgeber mitzunehmen,
wenn darüber Einvernehmen erzielt wird.
Die Union hat in der Vergangenheit - das zog sich
auch heute durch die Debatte - die Vereinfachung der
Riester-Rente gefordert. Herr Flosbach hat die Kompliziertheit der Regelungen beklagt. Dem ist entgegenzuhalten, dass wir die Regelungen mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf vereinfachen.
({5})
Die Zahl der Zertifizierungskriterien wird von elf auf
fünf verringert und - auch das wird von Ihnen begrüßt ein Dauerzulagenantrag wird eingeführt.
({6})
Die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen wird die
beitragspflichtigen Einnahmen prüfen; dies muss dann
nicht mehr im Antrag ausgefüllt werden. Ein einheitlicher Sockelbetrag wird zu mehr Transparenz und Sicherheit führen. Das alles sind Neuerungen. Die Anbieter
müssen nun bei Vertragsabschluss die effektive Gesamtrendite des Produkts nennen. Damit wird für direkte Vergleichbarkeit der Riester-Angebote gesorgt. Das ist im
Interesse derjenigen Arbeitnehmer, die Altervorsorgeverträge abschließen wollen. Deren Interessen haben wir
im Auge.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Ihrer lang erhobenen Forderung nach Vereinfachung der
Riester-Rente sind wir also nachgekommen. Deshalb
können Sie heute auch zustimmen.
({8})
Wenn Sie das aber nicht tun, dann muss ich feststellen,
dass Sie nicht wissen, was Sie wollen, und dass Sie offensichtlich auch nicht wissen, was Sie tun. Sie machen
ziemliche Klimmzüge und bemühen sich verzweifelt, zu
begründen, warum Sie nicht zustimmen können. Ich
meine, dass das, was wir auf den Weg bringen, eine gute
Regelung ist. Wir kommen damit dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach.
Ich appelliere noch einmal an Sie: Tun Sie den Rentnerinnen und Rentnern einen Gefallen! Verunsichern Sie
sie nicht und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu!
({9})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe
eines Alterseinkünftegesetzes. Ich weise darauf hin, dass
zu der Beschlussfassung des Finanzausschusses, die Gegenstand der nun folgenden Abstimmung sein wird, inzwischen der Bericht des Ausschusses auf Drucksache
15/3004 vorliegt. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2986, die
genannten Entwürfe eines Alterseinkünftegesetzes in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Opposition bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition bei
Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2992? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsan-
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ab-
gelehnt worden.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 15/2988? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der FDP bei Enthaltung von CDU/CSU abge-
lehnt worden.
Zu TOP 3 gibt es eine persönliche Erklärung der Ab-
geordneten Ina Lenke nach § 31 der Geschäftsord-
nung, die wir hiermit zu Protokoll nehmen.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Merz, Dr. Michael Meister, Heinz
Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Ein modernes Steuerrecht für Deutschland Konzept 21
- Drucksache 15/2745 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
der Abgeordnete Friedrich Merz.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir legen Ihnen heute zunächst in Form eines
Antrags Vorschläge zu einer ganz grundlegenden Modernisierung und Vereinfachung des deutschen Einkommensteuerrechtes vor. Wie kompliziert das deutsche
Steuersystem mittlerweile geworden ist, konnten die Zuhörerinnen und Zuhörer der Debatte über den ersten Tagesordnungspunkt des heutigen Tages nachvollziehen:
Das deutsche Einkommensteuerrecht ist nicht mehr aus
sich selbst heraus verständlich. Es erschließt sich dem
steuerpflichtigen Bürger nicht mehr. Es ist in den letzten
Jahren leider nicht besser, sondern noch viel schlechter
geworden. Neben dem Verlust der sprachlichen Verständlichkeit leidet das deutsche Einkommensteuerrecht
unter einer nicht mehr überschaubaren und systemwidrigen Fülle und Komplexität an Einzelvorschriften und
Ausführungsbestimmungen.
Ich will Ihnen dazu nur einige wenige Daten nennen.
Wir haben in Deutschland mittlerweile rund 100 so genannte Steuerstammgesetze. Die Zahl der Gesetze, in
denen auch steuerliche Regelungen enthalten sind, also
Gesetze, die ganz andere Regelungssachverhalte betreffen, die aber auch steuerliche Regelungen enthalten, ist
nicht feststellbar. Ich wiederhole: Im Bestand des deutschen Rechts ist die Zahl der Gesetze, die auch steuerliche Bestimmungen enthalten, nicht feststellbar. Zu den
bestehenden Steuergesetzen gibt es mittlerweile rund
5 000 Interpretationsschreiben des Bundesministers
der Finanzen. Insgesamt existieren zusätzlich etwa
96 000 Verwaltungsvorschriften. In der letzten Wahlperiode des Deutschen Bundestages, in der Wahlperiode
zwischen 1998 und 2002, sind allein bei den Ertragsteuern, also bei Einkommensteuer und Körperschaftsteuer,
60 Gesetzesänderungen vollzogen worden. Hinzu kamen
fast 250 Interpretationsschreiben des Bundesministers
der Finanzen.
Im Rahmen der Änderungen der letzten Wahlperiode
sind ungefähr 100 Vorschriften des deutschen Einkommensteuergesetzes gleich mehrfach geändert worden.
Zum Teil sind sie geändert worden, bevor die vorangehende Änderung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht
worden ist.
({0})
Es ist kein Wunder und es darf niemanden überraschen, dass wir es mit einer zunehmenden Steuerverweigerung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
zu tun haben. Sie verstehen dieses Gesetz nicht mehr
und sie wollen es auch nicht mehr verstehen.
({1})
Wir müssen deshalb zu einer ganz grundlegenden
Vereinfachung unseres Einkommensteuerrechtes zurückkehren. Das Wichtigste jenseits aller Details - ich
werde auf einige zu sprechen kommen - ist, dass sich
diejenigen, die die Steuergesetze anwenden müssen, auf
die Beständigkeit der bestehenden Regelungen wieder
für einen längeren Zeitraum verlassen können und dass
Ruhe und Beständigkeit in die Gesetzgebung insbesondere beim Steuerrecht zurückkehren. Die Planbarkeit
und die Verlässlichkeit des deutschen Steuerrechts jenseits aller Inhalte und jenseits aller Details sind ganz wesentliche Voraussetzungen für die Rückkehr zu Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Niemand aus
dem Inland und niemand aus dem Ausland wird in
Deutschland investieren, wenn er sich nicht wenigstens
für einen überschaubaren Zeitraum auf Beständigkeit
und Planbarkeit der steuerlichen Rahmengesetzgebung
verlassen kann.
({2})
Zu den grundsätzlichen inhaltlichen Fragen will ich
Folgendes sagen: In einer komplexen Welt ist auch das
Steuerrecht an verschiedenen Stellen naturgemäß komplex. Es kann nicht überall nur einfache Antworten geben; einfache Antworten können auch falsche Antworten
sein. Deswegen kommt es darauf an, dass wir uns wieder
an Grundsätzen und an steuerlichen Fundamentalprinzipien orientieren. Dazu zählen aus meiner Sicht:
Erstens: die Erkennbarkeit des Besteuerungsgegenstandes. Diejenigen, die das Steuerrecht anwenden, müssen wissen, was besteuert werden soll.
Zweitens. Die Besteuerung selbst muss nach dem
Prinzip der Leistungsfähigkeit erfolgen.
Drittens. Bei der Besteuerungshöhe muss eine angemessene Berücksichtigung des europäischen und des
globalen Umfeldes stattfinden.
Lassen Sie mich zu diesen drei Grundsätzen im Einzelnen Folgendes ausführen:
Hinsichtlich der Erkennbarkeit des Besteuerungsgegenstandes im Einkommensteuerrecht, im gesamten
Ertragsteuerrecht kommt es darauf an, dass wir eine
klare Abgrenzung zwischen dem vornehmen, was besteuert wird, und dem, was auch in Zukunft steuerfrei
bleiben muss. Auch in Anlehnung an die wissenschaftliche Diskussion, die es dazu gibt, schlagen wir vor, dass
ganz grundsätzlich das Markteinkommen besteuert
wird, dass also das Markteinkommen der Besteuerungsgegenstand für Einkommensteuer und Körperschaftsteuer ist.
Damit erübrigt sich eine komplizierte Abgrenzung, so
wie wir sie heute in § 3 des Einkommensteuergesetzes
haben, etwa zu den sozialen Transferleistungen. Soziale
Transferleistungen, zum Beispiel Krankenversicherungsleistungen, zum Beispiel Leistungen der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe, sind grundsätzlich nicht
Markteinkommen. Wenn sich der Einkommensteuergesetzgeber auf die Besteuerung des Markteinkommens
konzentriert, erübrigen sich alle heute noch notwendigen
extrem komplizierten Abgrenzungen.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem
Zusammenhang auch eine Bemerkung zu den übrigen
Ertragsteuern, die wir heute in Deutschland zusätzlich
zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer haben. In
einem solchen System der Besteuerung des Markteinkommens hat eine Vermögensteuer als Substanzsteuer
keinen Platz mehr.
({3})
Wir sollten deswegen, schon aus Gründen der Rechtshygiene, in Deutschland endlich das Vermögensteuergesetz auch förmlich aufheben und es durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur außer
Vollzug gesetzt sehen.
({4})
In diesem System hat die Erbschaftsteuer anders als
die Vermögensteuer sehr wohl ihren Platz. Die Erbschaftsteuer ist keine Substanzsteuer, sondern sie ist im
steuerlichen System der Bundesrepublik Deutschland
eine einkommensteuerähnliche Einmalbelastung der Erben. Insofern hat die Erbschaftsteuer anders als die Vermögensteuer durchaus auch in Zukunft ihre Existenzberechtigung. Ich will allerdings hinzufügen: Wir müssen
darauf achten, auch bei einer möglichen Neuordnung des
Erbschaftsteuerrechts, dass der Übergang gerade mittelständischer Betriebe, die durch die Eigentümer geführt
werden - börsennotierte Aktiengesellschaften werden
nicht vererbt -, von der Erbschaftsteuer so weit wie
möglich entlastet wird,
({5})
damit die Fortführung ermöglicht und durch die Erbschaftsteuerlast nicht unmöglich gemacht wird.
({6})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem
Zusammenhang noch einen Hinweis - ich kann damit
auch gleich einen Zwischenruf aus den Reihen der SPDFraktion aufnehmen -: Natürlich hat in einem solchen
Konzept einer neuen Einkommen- und Körperschaftsteuer die Gewerbesteuer in Deutschland, die ohnehin
- auch im europäischen Vergleich - ein Fremdkörper im
Einkommensteuersystem ist, keinen Platz mehr,
({7})
insbesondere deshalb, weil die Gewerbesteuer nach wie
vor eine ganze Reihe von ertragsunabhängigen Bestandteilen enthält. Wäre es nach Ihrem Willen gegangen, wären die ertragsunabhängigen Teile der Gewerbesteuer
zum Jahreswechsel sogar massiv ausgedehnt worden.
Die Gewerbesteuer ist und bleibt ein Fremdkörper im
System.
({8})
Sie hat auch im europäischen Wettbewerb keinen Platz
mehr. Sie muss abgeschafft und durch eine Beteiligung
der Städte und Gemeinden in Deutschland an der Einkommensteuer - und Körperschaftsteuer ersetzt werden.
({9})
Ich habe bereits gesagt, dass einer der wesentlichen
Besteuerungsgrundsätze die Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit sein soll. Das heißt, dass grundsätzlich jedes Einkommen, unabhängig von seiner Entstehung, unabhängig von seiner Verwendung, auch unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens, in dem
es gegebenenfalls entsteht, einmal - aber auch nur einmal - besteuert werden muss. Daraus ergibt sich eine
ganze Reihe von Konsequenzen bis hin in den Unternehmensteuerbereich.
Erlauben Sie mir, zwei Aspekte herauszugreifen, die
einen größeren Teil der Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland auch im Zusammenhang mit der Diskussion über unser Einkommensteuersystem immer wieder
beschäftigen. Das Erste sind die so genannten steuerfreien Sonntags-, Nacht- und Feiertagszuschläge. Um
es von unserer Seite noch einmal klarzustellen: Selbstverständlich tragen alle diejenigen, die an Sonntagen, in
Schichtarbeit, an Feiertagen tätig sind, die regelmäßig
Nachtarbeit leisten müssen, eine besondere Last. Selbstverständlich muss diese besondere Last angemessen vergütet werden. Aber es kann nicht Aufgabe der allgemeinen Steuerzahler sein, diese besondere Last durch
besondere Steuerbefreiungen abzugelten. Es muss Aufgabe der Arbeitgeber sein und bleiben, diese besondere
Last zu vergüten. Für den Steuergesetzgeber ist und
bleibt jedes Einkommen, unabhängig von Entstehung
und Verwendung, gleich. Diesen Gleichheitsgrundsatz
gilt es insbesondere bei den so genannten Sonntags-,
Nacht- und Feiertagszuschlägen anzuwenden, die heute
noch eine besondere Privilegierung erfahren. Wir schlagen langfristige Übergangsregelungen vor, sodass sich
die Tarifvertragsparteien in Deutschland auf eine Veränderung einstellen können. Am Ende dieses Übergangszeitraums darf es aber auch an dieser Stelle keine Ausnahmen mehr geben. Wer Ausnahmen für wenige
fordert, muss wissen, dass er im Ergebnis höhere Steuersätze für alle fordert.
({10})
Zweitens. Meine Damen und Herren, das Prinzip der
Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit muss eine besondere Ausprägung bei der Berücksichtigung der Familien, insbesondere bei der Berücksichtigung der Familien mit Kindern, erhalten. Ich will auch an dieser Stelle
noch einmal sehr deutlich sagen: Ich halte es für unverzichtbar, dass auch in Zukunft als Ausfluss aus Art. 6 des
Grundgesetzes, der bekanntlich Ehe und Familie unter
den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt,
das Ehegattensplitting aufrechterhalten wird, also die
Erwerbsgemeinschaft von Mann und Frau auch im Steuerrecht uneingeschränkt und grundlegend verankert
bleibt.
({11})
Wichtiger ist aus meiner Sicht aber die angemessene, das
heißt stärkere Berücksichtigung der Kinder in Ehen und
eheähnlichen Lebensgemeinschaften.
({12})
Meine Damen und Herren, unser Vorschlag, den Kinderfreibetrag auf die Höhe des Erwachsenenfreibetrages deutlich anzuheben, entlastet überproportional Familien mit Kindern. Damit würde es erstmalig in diesem
System möglich sein, auf Transferleistungen in Form
von Kindergeld an solche Eltern zu verzichten, die über
ein ausreichend hohes Einkommen verfügen und die Finanzierung ihrer Kinder aus eigener Kraft leisten können. Ich will es noch einmal sehr deutlich sagen: Kindergeld hat ohne Wenn und Aber auch in Zukunft seine
Berechtigung, aber Transferleistungen an Eltern können
und dürfen nach unserer Überzeugung erst dann geleistet
werden, wenn die eigene Leistungsfähigkeit nicht mehr
ausreicht. Wenn sie ausreicht, dann muss die Berücksichtigung von Kindern abschließend durch eine Freibetragsregelung zum Ausdruck kommen. Höher und gut
verdienende Familien brauchen dann keinen Transfer,
keine Kindergeldleistungen mehr aus öffentlichen Kassen.
({13})
Dies setzt allerdings systembedingt voraus, dass der
Kinderfreibetrag angemessen und damit deutlich höher
festgesetzt wird, als es gegenwärtig der Fall ist.
({14})
Ich habe zu Beginn bereits auf das internationale Umfeld hingewiesen, in dem wir uns mit unserem Steuersystem bewegen. Erlauben Sie mir, dass ich eine sehr aktuelle Debatte aufgreife, die in den letzten Tagen auch
im Hinblick auf die Osterweiterung der Europäischen
Union geführt wird.
({15})
Nun ist es ja interessant zu beobachten, dass der Bundeskanzler, dem noch vor Jahr und Tag die Steuern in
Deutschland zu hoch waren - wir teilen ausdrücklich
diese Einschätzung -, plötzlich entdeckt, dass sie anderswo zu niedrig sind. Die meisten Länder von denen,
die jetzt neu in die Europäische Union eintreten, haben
jedoch ihre Steuersysteme auf ihre Mitgliedschaft in der
EU vorbereitet. Zum Teil haben sie Maßnahmen ergriffen, die wir in Deutschland längst hätten ergreifen sollen, nämlich eine deutliche Absenkung der Ertragsteuersätze
({16})
und eine Verschiebung der Steuerbelastung von den direkten zu den indirekten Steuern. Ich werde darauf zum
Schluss noch einmal zu sprechen kommen.
Diesen Ländern Steuerdumping vorzuwerfen geht an
der Sache vorbei.
({17})
Von Steuerdumping, meine Damen und Herren, lässt
sich nur dann sprechen, wenn etwa wie früher in Holland
oder in den irischen Docklands ausländischen Investoren
andere, in der Regel niedrigere Steuersätze und andere
steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden als inländischen Investoren. Es hat aber bisher niemand behauptet, dass dies auf die neuen EU-Länder zutreffe. Dies kann auch niemand behaupten, weil die
osteuropäischen Länder, die in wenigen Stunden in die
Europäische Union eintreten, dieses nicht machen. Sie
bieten inländischen wie ausländischen Investoren gleiche und zum Teil hoch attraktive steuerliche Rahmenbedingungen an.
Das Problem ist nicht Osteuropa, das Problem ist
Deutschland.
({18})
Wir haben in Deutschland unverändert viel zu hohe
Steuersätze. Trotz der anerkennenswerten Bemühungen
der rot-grünen Bundesregierung in den letzten Jahren,
die Steuerbelastung zu senken,
({19})
ist Deutschland noch immer ein Hochsteuerland. Wir haben nach wie vor mit die höchsten Unternehmensteuern.
Außerdem haben die Unternehmen in Deutschland, die
hier investieren - auch dies gehört der Vollständigkeit
halber dazu, wenn wir zu Recht über die Wachstumsund Beschäftigungskrise klagen -, eine zu geringe Kapitalrendite. Die Kapitalrendite ist in allen anderen europäischen Ländern höher als in Deutschland. In Deutschland sind die Steuersätze mitverantwortlich für die
geringe Kapitalrendite. Das muss in diesem Gesamtzusammenhang erwähnt werden. Deswegen müssen die
Steuersätze in Deutschland herunter.
Ich zitiere einen früheren, auch von Ihnen hoch geachteten - wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sogar
in der SPD als Mitglied geführten - Sachverständigen
und langjährigen Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Hans-Karl Schneider, der einmal gesagt hat: Wer
mehr als die Hälfte seines Einkommens an das Finanzamt abführen muss, ist mehr darauf bedacht, Steuern zu
sparen, als darauf, Geld zu verdienen. - Das gilt unverändert auch heute. In Deutschland wird viel zu viel über
Steuervermeidungsstrategien und viel zu wenig über Investitions- und Beschäftigungsstrategien nachgedacht.
({20})
Deshalb müssen die Steuersätze herunter und muss die
Bemessungsgrundlage verbreitert werden.
Ich räume ein: Auch mit der Umsetzung unseres Vorschlages, die Grenzbelastung bei der Einkommenund Körperschaftsteuer auf einheitliche 36 Prozent zurückzuführen, lägen wir im internationalen Vergleich
noch immer bei einer relativ hohen Steuerlast. Ich verstehe deshalb gut, dass an anderer Stelle, etwa im Sachverständigenrat, über Möglichkeiten nachgedacht wird,
diese zu hohe Grenzbelastung für die Unternehmen in
Deutschland, unabhängig von ihrer Rechtsform, in einem solchen System weiter abzusenken. Ich habe Vorbehalte gegen eine solche Steuerspreizung. Wie wollen wir
den Arbeitnehmern in Deutschland, die nicht nur unter
hohen Steuern, sondern noch mehr unter hohen Sozialversicherungsbeiträgen leiden, vermitteln, dass etwa Unternehmensgewinne deutlich niedriger besteuert werden
als Arbeitnehmereinkünfte? Gleichwohl wird der Druck
auf die Ertragsteuern in den nächsten Jahren stärker werden. Auch in diesem Zusammenhang wird die Osterweiterung der Europäischen Union eine erhebliche Auswirkung auf die steuerpolitische Debatte in Deutschland
haben.
Deswegen müssen wir nach Wegen suchen, schnell zu
Ergebnissen zu kommen. Wir können nicht mehr bis
zum nächsten Regierungswechsel warten. Deutschland
hat nicht die Zeit, eine weitere halbe Legislaturperiode
des Deutschen Bundestages lethargisch dazusitzen und
darauf zu warten, dass der Aufschwung möglicherweise
durch die Weltkonjunktur herbeigeführt wird.
({21})
Wenn Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
in diesem Zusammenhang nach der Bezahlbarkeit einer
solchen Reform - wir werden uns heute Nachmittag mit
weiteren Themen dieser Art beschäftigen - fragen, dann
will ich Ihnen eine Antwort geben in Bezug auf die Berechnungen der Haushaltsabteilungsleiter der Finanzministerien
({22})
- der Steuer- und Haushaltsabteilungsleiter -,
({23})
die ich schätze und achte und die ihren Auftrag zu erfüllen haben, deren Arbeit ich in vollem Umfang respektiere: Diese Arbeit bezieht sich auf ein statisches Regelwerk. Sie gehen vom gegenwärtigen Status quo der
Arbeitsmarktverfassung, von den gegenwärtigen Sozialversicherungssystemen, von den gegenwärtigen sozialen
Sicherungssystemen, von den gegenwärtigen sozialen
Transfersystemen und vom gegenwärtigen Steuersystem
aus. Das, was wir Ihnen heute hier vorschlagen, ist isoliert betrachtet in der Tat heute nicht bezahlbar.
({24})
Aber - bevor Sie klatschen - all das, was wir Ihnen vorschlagen, steht im Kontext einer größeren Reformagenda in Deutschland, einer grundlegenden Korrektur
der Arbeitsmarktverfassung und der Lohnfindungssysteme, der Reformen der sozialen Transfersysteme, die
endlich von Ihren beschäftigungsfeindlichen Anreizwirkungen befreit werden müssen, und umfassender Reformen der sozialen Sicherungssysteme bis hin zur Abkopplung eines Teiles der sozialen Sicherungssysteme
vom Beschäftigungsverhältnis. In diesem Zusammenhang sind die Spielräume für eine grundlegende Reform
der Einkommen- und Körperschaftsteuer in Deutschland
viel, viel größer, als mancher Skeptiker, auch hier im
Hause, in den letzten Wochen und Monaten vorgetragen
hat.
({25})
Wenn wir in Deutschland den Mut hätten, im Rahmen
einer solchen umfassenden Reformagenda widerspruchsfrei das eine mit dem anderen zu verbinden, dann
kämen wir viel schneller aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise heraus,
({26})
dann könnten wir viel schneller die viel zu hohe Staatsquote senken und die Steuerlast der Bürgerinnen und
Bürger wie der Unternehmen in Deutschland senken.
Dass es geht, haben andere Länder in Europa und außerhalb Europas längst vorgemacht. Dass es nicht geht, hat
auch mit der Regierungspolitik der letzten fünfeinhalb
Jahre zu tun.
Herzlichen Dank.
({27})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Poß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Merz, wir sollten den heutigen Morgen nutzen,
um einige Fragen ganz grundsätzlich zu klären. Zum
Beispiel sollten wir darüber reden, wie wir uns auf den
Beitritt der neuen Länder zum 1. Mai einstellen. Dieser
Beitritt hat die öffentliche Diskussion in den letzten Tagen stark bestimmt. Ich erkläre für die SPD hier ganz
eindeutig: Wir können uns nicht vorstellen, mit den baltischen Staaten oder anderen Staaten hinsichtlich niedriger Steuersätze konkurrieren zu können. Das ist der Weg
in die falsche Richtung.
({0})
Wir müssen unsere Stärken ausbauen. Unsere Position ist, dass wir dafür neben privatem auch öffentliches
Geld brauchen. Herr Merz, Ihr Weg ist - Sie haben es
eben angedeutet -, dass Deutschland über Steuersenkungen konkurrenzfähig wird. Über diese Alternativen können die Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl abstimmen.
Im Übrigen teile ich in dieser Frage ausdrücklich das,
was Herr Stoiber heute im „General-Anzeiger“ gesagt
hat. Herr Faltlhauser, Sie können nachher die Haltung
der CSU näher erläutern. Wir werden dann sehen, wie
einig CDU und CSU sind und wie geschlossen die Opposition ist. Herr Stoiber sagt auf die Frage mit Blick auf
die Beitrittsländer, ob er einen fairen Steuerwettbewerb
gewährleistet sehe:
Es besteht die Gefahr, dass EU-Hilfen von einzelnen Ländern zum Steuer-Dumping gegenüber anderen Ländern missbraucht werden. Einzelne Länder
halten ihr Steuereinkommen gering, weil sie auf einen Ausgleich durch EU-Höchstfördersätze rechnen können.
Ich glaube, Herr Stoiber hat insoweit Recht.
({1})
Er plädiert in diesem Zusammenhang auch nicht ausdrücklich, wie Sie es tun, für einen Wettbewerb.
Ich finde es gut, wenn die Bürgerinnen und Bürger
die verschiedenen Alternativen der konkurrierenden Parteien klar erkennen können. Es wird manchmal der Vorwurf erhoben - gelegentlich auch aus der Anhängerschaft der SPD -, Unterschiede seien nicht mehr
erkennbar.
({2})
- Auch ich denke das.
Ein zweiter Punkt. Sie haben etwas zu den Finanzen
der Kommunen gesagt. Wir wissen, dass sich viele
Kommunen in einer schwierigen Finanzsituation befinden. Herr Merz, Sie haben gesagt, die Gewerbesteuer
werde ersatzlos abgeschafft
({3})
und werde durch eine Beteiligung an der Einkommenund Körperschaftsteuer ersetzt. In Ihrem Antrag steht
wörtlich - ich hoffe, dass Sie ihn gelesen haben -:
Deshalb soll die Gewerbesteuer in enger Abstimmung mit den Kommunen durch eine wirtschaftskraftbezogene Gemeindesteuer ersetzt werden...
({4})
Sie haben eben davon gesprochen, dass sozusagen eine
Beteiligung an der Einkommen- und Körperschaftsteuer
erfolgt. In Ihrem Antrag sprechen Sie aber von einer
„wirtschaftskraftbezogenen Gemeindesteuer“. Sie müssen den Bürgerinnen und Bürgern, die in den Städten auf
Lebensqualität Wert legen, schon klar sagen, was Sie
wollen.
({5})
Wenn man sich jenseits des Wortnebels einmal mit den
Fakten beschäftigt, dann erkennt man, dass Sie auch hier
in Wahrheit keine Antwort haben.
({6})
- Ich habe wörtlich aus Ihrem Antrag zitiert. Vielleicht
haben Sie ihn nicht gelesen.
({7})
Der dritte Punkt. Sie haben vollkommen zu Recht den
Stellenwert der Familie beschrieben. Wir haben im Gegensatz zu Ihnen in den letzten Jahren die Familienleistungen von 40 Milliarden Euro auf insgesamt über
60 Milliarden Euro erhöht. Sie sprechen von der Förderung der Familie, wir handeln. Auch das müssen die
Bürgerinnen und Bürger wissen.
({8})
Wenn Sie im Rahmen Ihres Konzeptes den Freibetrag
erhöhen und das Kindergeld für die Bezieher geringer
Einkommen so belassen wollen, dann müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen - um sich über die politische
Alternative klar zu werden -, was das bedeutet. Das bedeutet nämlich, Herr Merz, dass der Freibetrag so erhöht
wird, wie es erforderlich ist, um Spitzenverdiener weiter
zu entlasten. Das ist die Wahrheit, die hinter dieser Bemerkung steht. Auch hierbei besteht zwischen den Parteien im Deutschen Bundestag eine Alternative.
({9})
Schließlich sagen Sie, Deutschland sei ein Hochsteuerland. Das gibt die Analyse, gemessen an der volkswirtschaftlichen Steuerquote, natürlich nicht her. Wir
hatten in der Europäischen Union im Jahre 2002 die
niedrigste volkswirtschaftliche Steuerquote mit 21,7 Prozent. Wir haben sie im Jahre 2003 weiter auf unter
21 Prozent gesenkt. Auch das sollten die Menschen wissen: Wir brauchen eine auskömmliche Steuerquote,
wenn wir Bildung, Forschung und Chancengerechtigkeit
finanzieren wollen.
({10})
Wir können den Menschen keine Steuersenkungen in
Aussicht stellen, die, so wie Sie dies vorsehen, offenkundig sozial ungerecht und nicht finanzierbar sind. Auch
hier bietet sich für die Bürgerinnen und Bürger eine Alternative.
({11})
Wir haben mit all den Maßnahmen, die wir seit 1998
beschlossen haben, Steuerentlastungen von knapp
60 Milliarden Euro durchgesetzt. Dabei gab es teilweise
Kompromisse im Vermittlungsausschuss, weil man sich
dort angesichts der Mehrheitsverhältnisse einigen muss.
Bei uns lohnt sich Leistung wieder.
({12})
- Natürlich. - Der steuerliche Grundfreibetrag wurde
von 6 200 auf 7 664 Euro angehoben. Auf den ersten
verdienten Euro zahlen die Menschen in diesem Jahr
eine Steuer von 16 Prozent. Bei Ihnen betrug der Steuersatz 26 Prozent. Hier ergeben sich konkrete Alternativen, von denen die Menschen profitieren.
({13})
Davon war bei Ihnen nichts zu hören.
Wenn die Union meint, ein modernes Steuerrecht sei
das Nonplusultra für die volkswirtschaftliche Genesung,
dann gaukelt sie den Menschen etwas vor. Durch Sie und
durch andere wird durch das Versprechen unfinanzierbarer Steuersenkungen und durch eine unsoziale steuerliche Umverteilung ein ganz bestimmter wirtschaftspolitischer Zeitgeist beschworen. Manche nennen solche
parteipolitischen Vorstellungen sogar „modern“.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält daran fest, dass in
der Steuerpolitik zwei bewährte Grundsätze zu beachten sind: soziale Gerechtigkeit und seriöse Finanzierung.
Das sind unsere Leitmotive. Von diesen lassen wir uns
durch keinen Zeitgeist dieser Welt abbringen. Auch darüber können die Menschen Gott sei Dank in Wahlen
entscheiden.
({14})
Wir reichen einer ungerechten und unseriösen Steuerpolitik nicht die Hand. Hier geht es um eine grundlegende
politische Richtungsentscheidung.
Von welchem Geist Herr Merz beseelt ist, hat er in
wünschenswerter Klarheit am letzten Sonntag in der
„Welt am Sonntag“ in einem Interview zum Ausdruck
gebracht. Er hat dort wörtlich gesagt:
Bei uns bekommt derjenige am meisten Zustimmung, der am lautstärksten nach Umverteilung ruft
und Faulheit belohnen will.
Ich kenne in der Öffentlichkeit niemanden, der klatscht,
wenn Faulheit belohnt werden soll.
({15})
Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Weiter sagen
Sie, Herr Merz:
Umverteilung ist doch nichts anderes als der Versuch, Leistung ohne Gegenleistung zu bekommen.
Das hat mit der Lebenswirklichkeit ebenfalls nichts
zu tun. In diesen beiden Sätzen steckt eine Weltanschauung, die den Sozialstaat offenbar als lästig empfindet.
({16})
Hier wird eine Verachtung für sozial Benachteiligte offensichtlich.
({17})
Dies ist eine politische Einstellung, die sich am Rande
unserer Verfassung bewegt. Das ist der Kern Ihres Interviews.
({18})
Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 20 des
Grundgesetzes ein „sozialer Bundesstaat“. Kennzeichen
und Aufgabe eines Sozialstaates ist es, dort umzuverteilen, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, für sich selbst
zu sorgen. In der wortreichen und blumigen Prosa des
steuerpolitischen Programms der Union heißt es zwar
auch, dass der Staat helfen muss, wenn die Menschen ihren gegenwärtigen und die Sicherung ihres zukünftigen
Bedarfs nicht selbst finanzieren können. Aber angesichts
Ihrer Zitate, Herr Merz, können die Menschen in
Deutschland solche nach Sozialstaat klingenden Ankündigungen offensichtlich nicht ernst nehmen. Zumindest
Teile der Union - gemeint sind Sie, Herr Merz, und nicht
Herr Seehofer - stehen für eine andere Republik, eine
Republik nach dem Motto: Hilf dir selbst, dann hilft dir
Gott! Dieser Teil der Union wird immer stärker.
Deswegen sage ich: Die Union verabschiedet sich
von einem langjährigen Konsens, von einem Konsens,
der bisher von den Volksparteien getragen wurde.
({19})
Dazu gehörte auch die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, dass die seit langem bewährte soziale
Marktwirtschaft, der Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit weiterhin prägende Kennzeichen der Gesellschaft
der Bundesrepublik Deutschland sein werden. Auch darüber können die Menschen abstimmen. Das sind klare
Alternativen.
Aber auch in der Union gibt es Politiker, die nicht
mehr verstehen, warum sich die CDU und Frau Merkel
vom Sozialstaat verabschieden wollen. Horst Seehofer,
Norbert Blüm, Heiner Geißler und andere haben in den
vergangenen Wochen die gesamte Politik der Union,
nicht nur die Steuerpolitik, scharf kritisiert. Herr
Seehofer hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es
nicht ausreicht, neu zu denken. Darüber hinaus muss
man auch prüfen, ob das Neue finanzierbar ist. Horst
Seehofer hat der CDU genau vorgerechnet, dass ihre Reformvorschläge zur Steuer-, Gesundheits- und Rentenpolitik über 100 Milliarden Euro kosten würden und sie
für diese Ausgaben keine Deckungsvorschläge gemacht
hat.
Sie, Herr Merz, haben versucht, das mit der Dynamik,
die Sie erzeugen wollen, zu erklären. Diese gibt aber
nach allen seriösen wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen nicht genügend Finanzierungsspielraum.
({20})
Das heißt, Sie stehen für finanzpolitische Abenteuer. Sie
lassen sich für einfache Steuerkonzepte und für Steuererklärungen auf Bierdeckeln feiern und sind im Grunde
genommen ein finanzpolitischer Abenteurer. Das muss
man klar und deutlich aussprechen.
({21})
- Nein.
Horst Seehofer hat Recht. Wenn Sie sagen, wir müssen den sozialen Ausgleich - beispielsweise bei der so
genannten Kopfpauschale - über die Steuern herstellen,
dann müssen Sie den Menschen auch sagen, dass das mit
den Steuersätzen, die in Ihren Konzepten stehen, nicht
möglich ist, weil diese zur Finanzierung nicht ausreichen. Die ungedeckten Vorschläge in Milliardenhöhe
kommen von denselben Leuten - Herr Merz, auch Sie
haben solche von diesem Pult aus schon gemacht -, die
sonst bei jeder Gelegenheit darauf hinweisen, dass die
Bundesregierung die Maastricht-Kriterien nicht einhalten kann. Eine solche Politik ist weder seriös noch
glaubwürdig.
Wer würde nicht gern die Steuern senken?
({22})
Aber was nützen diese Ankündigungen, wenn weder
Kommunen noch Länder - das haben die Finanzminister
festgestellt - Steuersenkungen finanzieren können? Die
Finanzminister aller Länder - Herr Faltlhauser wird hier
noch reden -, nicht irgendwelche Abteilungsleiter, haben
ebenso wie zwei wirtschaftswissenschaftliche Institute
festgestellt, was von diesen Einfachsteuerkonzepten zu
halten ist. Ihre klare Botschaft lautet: Die Konzepte sind
nicht finanzierbar, sie haben ungerechte Verteilungswirkung und nur geringe ökonomische Effekte. Auch diese
wurden untersucht.
Herr Merz, da das Urteil so ausfällt, sage ich Ihnen:
Lassen Sie das mit dem Bierdeckel! Lassen Sie den Populismus! Überlegen Sie, ob Sie mit anderen zusammen
den Sozialstaat mit der Abrissbirne wirklich einreißen
wollen. Sie werden auf unseren Widerstand treffen.
({23})
Ich bin trotz aller Umfragen ganz gewiss, dass die SPD
in den nächsten Wochen und Monaten so stark werden
wird, um Ihnen bei diesen abenteuerlichen Plänen in den
Arm zu fallen. Sie kommen damit nicht durch, wenn den
Menschen klar wird, was hinter Ihren Plänen wirklich
steckt.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig
Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Poß, ich möchte drei kurze
Anmerkungen zu Ihrer Rede machen. Ich glaube erstens, es war nicht sachgerecht, bei einem solch wichtigen
Thema als Erstes Klassenkampfparolen auszugeben;
({0})
denn die Bürger in unserem Lande - das sage ich ganz
deutlich - wollen Veränderungen, vor allem eine Veränderung: Sie wollen weniger Rot-Grün in unserem Land.
Das ist die Situation.
({1})
Zweitens. Auf die gemachten Reformüberlegungen
haben Sie nur abwehrend reagiert. Damit bestätigen Sie,
dass aus sozialdemokratischer Sicht das Recht so bleiben
soll, wie es ist. Eines kann ich Ihnen versichern: So wie
es ist, kann und darf es nicht bleiben, es muss verändert
werden. Dass Sozialdemokraten an der Spitze strukturkonservativer Kräfte unseres Landes stehen, ist mir unbegreiflich.
({2})
Drittens. Sie haben erklärt, wie die Bürger in unserem
Lande entlastet werden. Seit 1998 hat es aber durchaus
auch Belastungen durch Rot-Grün gegeben. Es gibt Berechnungen, die besagen, dass der Saldo der Entlastungen und Belastungen eine Mehrbelastung der Bürger von
8 Milliarden Euro ausmacht. Das muss man den Menschen sagen; denn das spüren sie.
Deutschland befindet sich in einer schweren strukturellen Krise. Nur mit dem Tunnelblick von Rot-Grün
kann man den Eindruck gewinnen, dass es in unserem
Land keine Probleme gibt. Deutschland braucht wirksame und durchgreifende Reformen, besonders im Steuerrecht, und zwar nicht erst nach der nächsten Bundestagswahl im Jahre 2006 oder 2007, sondern schon heute.
Noch besser wäre es, entsprechende Vorschläge wären
schon längst beschlossen worden.
Wir begrüßen es, dass nach der FDP auch die Union
erkennt, dass im Steuerrecht Reformen erforderlich sind.
Aber nach unserer Auffassung - nehmen Sie mir das
nicht übel; auch der Kollege Merz nicht - befinden Sie
sich immer noch im „Vormärz“.
({3})
Trotzdem begrüße ich es ausdrücklich, dass dem Parlament ein Konzept der Union in Form eines Antrages
vorliegt. Aber - das ist Teil des Antrages - anstatt dafür
zu plädieren, das Steuerrecht sofort einfacher, verständlicher und die Steuersätze niedriger zu gestalten, soll das
Steuerkonzept der Union in mehreren Schritten verwirklicht werden. Es heißt in dem Antrag, die schnell realisierbaren Teile seien im Rahmen eines steuerpolitischen
Sofortprogramms vorwegzunehmen. Wir haben nichts
dagegen, aber wir brauchen eine Gesamtreform, und
zwar nicht übermorgen, sondern morgen oder am besten
noch heute!
({4})
Wer in der heutigen Zeit fordert, dass eine Steuerreform über Jahre hinaus in mehreren Stufen umzusetzen
ist, verkennt, dass wir jetzt klare Signale für Wachstum
in unserem Land brauchen, und zwar für Selbstständige
und für Handwerksbetriebe, von denen besonders die an
der Grenze zu den östlichen Nachbarn in der neuen Europäischen Union unter einen enormen Wettbewerbsdruck geraten werden. Es reicht nicht, zu sagen, es
müsse irgendwann eine Steuerreform kommen, sondern
wir brauchen sie jetzt und so schnell wie möglich. Wir
brauchen eine unverzügliche Vereinfachung unseres
kompletten Steuerrechtes, mit der die Steuersätze auf
Dauer gesenkt werden.
({5})
Manchmal habe ich den Eindruck, wir in Deutschland
verschlafen unsere Zukunft. In zwei Tagen, am 1. Mai,
treten zehn neue Länder der Europäischen Union bei. Im
Vorgriff darauf hat Österreich schon ein deutliche Reduzierung seiner Steuersätze vorgenommen. Ab 2005 wird
die Körperschaftsteuer auf 25 Prozent gesenkt und nach
Aussage des österreichischen Finanzministers entspricht
das einer effektiven Steuerlast von 21 Prozent. Damit ist
Österreich zum Beispiel gegenüber Slowenien oder Polen absolut wettbewerbsfähig.
({6})
In Deutschland werden Körperschaften mit der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer belastet. Diese liegen bei insgesamt 39 Prozent. Das ist die Wirklichkeit in
unserem Land.
Es ist erstaunlich, dass einigen Politikern in Deutschland erst vor wenigen Wochen klar geworden zu sein
scheint, dass die Erweiterung der Europäischen Union
am 1. Mai erfolgt und wir uns ab diesem Zeitpunkt in
Europa im direkten Wettbewerb mit Ländern befinden,
die Steuersätze um und unter 20 Prozent haben. Dass es
Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Stoiber
erst jetzt auffällt, dass Deutschland in diesem schärferen
Wettbewerb eine schlechte Ausgangsposition hat, erstaunt tatsächlich. Die Erkenntnis ist schon viel älter,
aber gehandelt wird leider nicht. Die Bundesregierung
hat es an dieser Stelle verschlafen, in unserem Land die
Notwendigkeit zusätzlicher Steuerreformen klar zu machen. Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung und
ist kurzfristig nicht zu beseitigen. Hier müssen wir als
Parlament treiben. Hier werden wir als FDP treiben, damit endlich Reformen durchgeführt werden, mit denen
wir für die Zukunft unseres Landes besser aufgestellt
sein werden.
({7})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Die Aufgabe, Deutschland zu reformieren, darf nicht nur darin
bestehen, Leistungen für Bürger einzuschränken. Wir
müssen Anreize setzen, damit in unserem Land wieder
mehr investiert wird, damit mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, damit das Wirtschaftswachstum in Gang
kommt und wir die Entwicklung Europas nicht bremsen,
sondern wir wieder zur Lokomotive Europas hinsichtlich
des Wachstums in der Europäischen Union werden.
Den besten Weg hierfür zeigt das Steuerkonzept der
FDP auf. Der Gesetzentwurf liegt ausformuliert vor, und
es wäre schön, wenn er nicht erst nach der nächsten Bundestagswahl im Jahre 2007 oder 2008 in Kraft treten
könnte, sondern sofort. Deshalb appelliere ich hier an
Rot-Grün, aber auch an die Union: Nehmen Sie
schnellstmöglich den Gesetzentwurf der FDP als Grundlage für ein modernes Steuerrecht. Warten Sie nicht mit
den Veränderungen, handeln Sie jetzt!
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen
vor allem von der Union! Sie müssen mich heute noch
einmal ertragen; denn wir haben noch eine Aktuelle
Stunde vor uns.
({0})
Zu den Ausführungen von Herrn Thiele möchte ich
nur drei Worte sagen: Polemik, Polemik, Polemik.
({1})
Herr Merz, Sie haben auf Ihren Antrag „Ein modernes
Steuerrecht für Deutschland - Konzept 21“ Bezug genommen. Ich gebe Ihnen Recht, dass wir beim Steuerrecht zu Vereinfachungen kommen müssen
({2})
und dass es für viele Menschen unerträglich ist, festzustellen, dass unser Steuerrecht aufgrund von Einzelfallentscheidungen in den letzten Jahrzehnten insgesamt immer komplizierter, damit aber auch immer ungerechter
geworden ist.
({3})
Ich gebe Ihnen auch Recht, dass wir mehr Berechenbarkeit, Planungssicherheit und Kalkulierbarkeit brauchen, weil das für die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland Voraussetzungen sind, die sie für
ihre wirtschaftliche Entwicklung brauchen. Der Standort
Deutschland bleibt, was die Standortentscheidungen der
Unternehmen angeht, attraktiv, wenn solche voraussehbaren Entscheidungen und die Veränderungen, die in gewissen Bereichen bestimmt notwendig sind - darauf
komme ich noch zu sprechen -, auch in den Unternehmen und in den Köpfen ihrer Mitarbeiter klar sind, damit
sie wissen, was auf sie zukommt.
Wir wissen auch, dass wir es im Zusammenhang mit
der EU-Osterweiterung - aber nicht erst dadurch; das
war schon vorher der Fall - mit Ländern zu tun haben, in
denen, gerade im Bereich der Unternehmensbesteuerung, Steuersätze gelten, die weit unter unseren liegen.
Den Rednern der FDP, die darauf hinweisen, dass der
Körperschaftsteuersatz in Österreich von 35 bzw.
40 Prozent auf 25 Prozent gesenkt wurde, kann ich in
diesem Zusammenhang nur „Guten Morgen!“ sagen;
denn in der Bundesrepublik Deutschland beträgt der
Körperschaftsteuersatz bereits 25 Prozent.
({4})
- Herr Dr. Solms, es ist richtig, dass die Gewerbesteuer
noch hinzukommt.
({5})
- Ja, aber auch in Österreich gibt es Zuschlagsteuern;
das wissen Sie.
({6})
Wenn man ehrlich ist, muss man alle Steuerarten, die,
was die Leistungsfähigkeit betrifft, eine Rolle spielen,
berücksichtigen. Man kann nicht immer nur einzelne
Steuerarten, deren Satz niedrig ist, herausgreifen und
sagen: Das ist aber Klasse; da müssen auch wir hinkommen. Man muss auch berücksichtigen, welche Konsequenzen das in fiskalpolitischen Zusammenhängen insgesamt hat.
({7})
Ich sage Ihnen auch, dass zum Beispiel in der Slowakei Steuersätze von drei mal 19 Prozent gelten: bei der
Einkommen- bzw. Lohnsteuer, bei der Körperschaftsteuer und bei der Mehrwertsteuer. Diese Entscheidung
ist dort getroffen worden. Ich bin mir aber nicht sicher,
ob die Entscheidung bezüglich dieser Steuersätze, was
die Belastung der Bevölkerung insgesamt anbelangt,
dort in den nächsten Jahren aufrechterhalten wird. Denn
man muss einen Einkommensteuersatz in Höhe von
19 Prozent für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen auch im Verhältnis zu unseren Vorschlägen sehen. Im Gesetzblatt steht für das nächste Jahr ein Eingangssteuersatz von 15 Prozent.
({8})
Das gilt auch für den Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent; denn bei uns beträgt der Mehrwertsteuersatz
16 Prozent.
Hinzu kommt noch etwas anderes, was man nicht vergessen darf:
({9})
Bei uns ist der gesamte Bedarf an Lebensmitteln und an
dem, was die Menschen zum Leben brauchen - Kulturgüter, Zeitungen und vieles mehr -, mit 7 Prozent Mehrwertsteuer belegt.
({10})
In der Slowakei zahlen normale Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerinnen 19 Prozent Einkommensteuer. Die
Mehrwertsteuerbelastung für die Artikel, die ich gerade
genannt habe, und auch für Lebensmittel beträgt dort
aber 19 Prozent. Wenn man sich also die Einkommenssituationen hier und dort anschaut und sie in Verhältnis zueinander setzt, stellt man fest, dass die Belastung der Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen zum Beispiel
in der Slowakei wesentlich höher ist, als das bei uns der
Fall ist.
({11})
- Ich kritisiere, dass pauschal immer so getan wird, als
ob niedrige Steuersätze auch niedrige Belastung bedeuten. Wer das Zusammenwirken der verschiedenen Steuerarten betrachtet, weiß, dass das nicht richtig ist.
({12})
Ich bitte Sie, dass wir mit Blick auf die EU-Osterweiterung mit großer Ernsthaftigkeit überlegen, was man
tun kann, damit die Attraktivität des Standortes Deutschland gewährleistet bleibt und sich punktuell auch verbessert. Wir wissen, wir haben wirtschaftliche Schwächen,
wir haben nicht das Wachstum, das wir brauchen; das ist
völlig klar.
Was aber nicht geht, ist, dass wir uns bei den Steuersätzen für Körperschaften daran orientieren, dass sie in
anderen Ländern teilweise unter 15 oder sogar unter
10 Prozent liegen. Das wäre unfair gegenüber 80 Prozent
aller Unternehmen, kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die keine Körperschaftsteuer
zahlen, sondern Einkommensteuer, weil sie Personenunternehmen sind. Denen kann man keinen Steuersatz von
nur 10 oder 15 Prozent anbieten, weil wir dann Schwierigkeiten hätten - das hat auch Herr Poß ausgeführt -,
die notwendigen Finanzierungen für unsere Infrastruktur
und für die Zukunftsaufgaben in diesem Land, Bildung
und Forschung, zu leisten. Das wissen Sie. Deswegen
muss man hier sehr vorsichtig sein.
Ich persönlich sage: Wir müssen das alles noch in den
verschiedensten Zusammenhängen diskutieren. Ich halte
es für richtig, dass der Bundeskanzler sagt: Man muss
sich über bestimmte Grundlagen verständigen, die für
alle Länder gelten sollen. Ich halte es für richtig, dass gesagt wird: Wir müssen bei den Unternehmensteuern dafür sorgen, dass die Bemessungsgrundlage in allen Mitgliedstaaten die gleiche ist. Auch ich persönlich halte es
für richtig - das hat nicht der Kanzler gesagt, das sage
ich jetzt -, dass man darüber nachdenkt, Mindeststeuersätze einzuführen, genauso wie wir es bei der Mehrwertsteuer oder bei der Umsatzsteuer kennen, dass wir einen
bestimmten Korridor vorgeben. Das werden wir für die
Zukunft in den europäischen Gremien zu diskutieren haben; denn es kann nicht angehen, dass Wettbewerb immer nur zu Dumping, zu einer Bewegung nach unten
führt.
Wir brauchen die Finanzierbarkeit unserer Systeme;
das gilt für alle anderen Länder auch. Viele haben im
Wettbewerb aufzuholen - das ist richtig -, sie brauchen
in dieser Zeit Vorteile - auch das ist richtig -, aber die
Sätze müssen sich mit der Zeit angleichen, und das kann
nicht auf dem niedrigsten Level geschehen, wenn wir
das finanzieren können wollen, was notwendig ist. Deswegen bitte ich in diesem Zusammenhang auch um mehr
Redlichkeit: Wenn man Dinge vergleicht, soll man Äpfel
mit Äpfeln vergleichen und nicht Birnen mit Äpfeln, wie
Sie das immer tun.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat jetzt Professor Kurt Faltlhauser, Staatsminister der Finanzen des Freistaats Bayern.
({0})
Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Poß hat gerade den Versuch gemacht, die Geschlossenheit der Union in der Steuerpolitik infrage zu stellen,
indem er darauf hingewiesen hat, dass es einen Bericht
mit Berechnungen über die Kosten der verschiedenen
Konzepte gibt, die auf dem Markt sind, und wie sie zu
beurteilen sind. Dieser Bericht war die Auftragsarbeit
der Verwaltung; der Auftrag ist von den Ministerpräsidenten vergeben worden. Wertungen durch die Minister
sind an keiner Stelle bestätigt worden.
({2})
Ich erkläre als Finanzminister des Freistaates Bayern
({3})
ausdrücklich, dass das, was hier heute als Gegenstand
der Debatte vorliegt, das Ergebnis langer Arbeit und intensiver Debatte zwischen CDU und CSU, zwischen
Herrn Merz und mir,
({4})
zwischen den Fachleuten ist. Die Union hat mit diesem
Papier ein intensiv diskutiertes Konzept auf dem Tisch;
wir haben ein Konzept.
Diese Bundesregierung steht dagegen mit leeren Händen da; das ist der eigentliche Punkt.
({5})
Sie hätten auch Ihre Kreativität bemühen können, Herr
Poß, um ein entsprechendes Konzept nach Ihrem Gusto
vorzulegen.
({6})
Der Kollege aus Schleswig-Holstein hat sich jetzt alleine
bemühen müssen und hat ein Konzept auf den Tisch gelegt. In der wichtigen Frage der grundsätzlichen Reform
der Steuerpolitik hat die Opposition, sowohl die FDP
- ich will es inhaltlich nicht beurteilen - als auch die
Union, ein Konzept auf dem Tisch. Wir stehen vor den
Bürgern und sagen zu ihnen: Das ist unser Angebot.
Zugegeben, entscheidend in diesem Zusammenhang
ist zunächst die Frage der Finanzierbarkeit. Angesichts
dessen, dass die Bundesregierung die Nettoneuverschuldung in diesem Jahr voraussichtlich auf etwa 45 Milliarden Euro erhöhen wird - zu den 29,3 Milliarden Euro,
mit denen man gerechnet hat, werden bis zu 15,8 Milliarden Euro hinzukommen -, angesichts dessen, dass
die Nettoneuverschuldung in Nordrhein-Westfalen im
letzten Jahr 6,5 Milliarden Euro betragen hat - eine solche Neuverschuldung in einem einzigen Jahr in einem
einzigen Land, das müssen Sie sich vorstellen -, muss
man die Frage stellen, ob die Luft für eine entsprechende
Entlastung vorhanden ist.
Herr Merz hat hier schon eine sehr präzise Antwort
auf diese Frage gegeben. Ich will nun drei für mich bedeutsame Gründe anführen, warum ich meine, dass wir
jetzt mit einem derart umfassenden Konzept auf den
Markt müssen.
Erstens. Wir sprechen in allen Debatten - das war
auch in der Debatte heute früh der Fall - von der dringenden Notwendigkeit verstärkter Eigenvorsorge in den
Sozialsystemen, also bei der Gesundheits- und der Altersvorsorge, durch den Bürger. Wenn wir das Thema
Eigenvorsorge zur Diskussion stellen und die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür schaffen, müssen wir den Bürgern auch den Spielraum geben,
diese Eigenvorsorge finanzieren zu können.
({7})
Wir müssen zeitgleich also auch die entsprechenden Entlastungen auf den Weg bringen, damit die Bürger die
Chance haben, finanziell Eigenvorsorge zu leisten. Wir
brauchen ein Gesamtkonzept;
({8})
denn wir können nicht etwas fordern, ohne die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Der zweite Grund betrifft den Steuerwettbewerb.
Unsere Steuerquote liegt gegenwärtig knapp unter
22 Prozent; das ist richtig. Damit haben wir den Steuerwettbewerb aber nicht gewonnen. Irland ist mit Steuersätzen von 12,5 Prozent vorgeprescht und hat diesen
Körperschaftsteuersatz, der früher auf den Docks von
Dublin üblich war, für das ganze Land festgelegt.
Litauen, Zypern und Lettland gehen ab dem 1. Mai mit
einem Körperschaftsteuersatz von 15 Prozent in den
europäischen Wettbewerb.
Herr Kollege Merz, Sie sagen, hier werde Dumping
betrieben. Ich glaube nicht, dass das das Problem ist. Wir
sind ausdrücklich für Wettbewerb innerhalb eines föderalen Systems und damit ausdrücklich für Wettbewerb
auf europäischer Ebene. Selbstverständlich gehört zu einem solchen Wettbewerb auch das Instrument der Steuern. Das kann man doch nicht ausschließen. Ein Problem
entsteht erst dann, wenn gleichzeitig uno actu demjenigen, gegen den der Wettbewerb betrieben wird, in erheblichem Maße Transferleistungen gewährt werden. Hier
kommen wir in Konflikte, die unter beihilferechtlichen
Gesichtspunkten zu überprüfen sind.
Dieser Umstand, dass wir auf der einen Seite durch
deutlich niedrigere Steuersätze herausgefordert werden,
auf der anderen Seite aber deutliche Transferleistungen
gewähren, erstaunt auch die Bürger. Das müssen wir vertieft erörtern. Ich gehe davon aus, dass morgen in der
Aussprache zur EU-Erweiterung entsprechende weitere
inhaltliche Vorklärungen - von Klärungen kann man
nicht sprechen - getroffen werden.
Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({9})
Ich persönlich glaube, Frau Scheel, dass man gegenwärtig keine Mindeststeuern einführen kann.
({10})
Dagegen spricht das Einstimmigkeitsprinzip. Das können und wollen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit
Sicherheit nicht aufheben.
Inzwischen zweifle ich an meiner alten Auffassung,
dass wir die direkten Steuern nicht harmonisieren dürfen
und können.
({11})
Ich glaube vielmehr, der Binnenmarkt insgesamt erfordert zunehmend, dass man auch die Harmonisierung der
direkten Steuern betrachtet. Wir haben es uns zu leicht
gemacht, indem wir nur die indirekten Steuern harmonisiert haben. Die Harmonisierung ist eine mittel- und
langfristige Aufgabe. Gegenwärtig kann das angesichts
der niedrigen Steuersätze einiger Länder im Osten nicht
Thema sein.
Der dritte und, wie ich meine, entscheidende Grund,
warum wir jetzt entsprechend initiativ werden müssen,
ist die Verkomplizierung; Kollege Merz ist darauf
schon eingegangen. Es wurden Zahlen genannt, wie
viele Gesetze und Verordnungen wir haben. Beispielsweise gibt es 182 Paragraphen im Einkommensteuerrecht. Ich habe mich gestern auf der traditionellen
Finanzamtsvorstehertagung mit den Leitern der Finanzämter getroffen. Diese haben mir vorgehalten und detailliert erläutert, dass sie in vielerlei Hinsicht nicht mehr in
der Lage sind, das Steuerrecht, das wir haben, mit ihren
Fachleuten zu vollziehen. Denn nicht nur die Gegebenheiten des Steuerrechtes sind kompliziert und durch
diese Bundesregierung immer komplizierter geworden,
sondern auch die Geschwindigkeit der Änderungen hat
sich erhöht und die Qualität des Steuerrechtes - dabei
schaue ich Sie von Rot-Grün an - ist in den letzten Jahren miserabel geworden ist.
({12})
Wir muten unseren Beamten eine ungeheure Arbeit zu.
Man hört immer wieder, dass es bei den Beamten viel
Frustration gibt. Dies liegt vor allem an der Aufgabenstellung und an der Geschwindigkeit, mit der die Arbeitsgrundlagen geändert werden.
({13})
Herr Eichel sagt, auch er sei für eine drastische Vereinfachung, man könne ihn sofort dabei haben. Gleichzeitig sagt er aber, wir könnten uns gegenwärtig keine
Nettoentlastung im Steuerrecht leisten. Dies ist ein dramatischer Widerspruch in sich. Frau Hendricks, wenn
man vereinfachen will, dann muss man natürlich auch
eine Vielzahl von Sonderregelungen - zum Beispiel die
Steuerbefreiungen gemäß § 3 Einkommensteuergesetz,
Werbungskosten oder Sonderausgaben - beseitigen.
Dies ist im Ergebnis eine Belastung für weite Teile der
Bevölkerung. Wenn man das alleine so stehen lässt, dann
ist das ein Programm zur Steuererhöhung.
({14})
Also müssen Sie die Steuersätze uno actu und gleichzeitig senken. Ansonsten haben Sie kein Konzept.
({15})
Wir haben ein solches. Es enthält Vereinfachungen und
Senkungen. Frau Hendricks, Sie und der Finanzminister
können Ihre Reden von Vereinfachung wirklich vergessen, wenn Sie nicht gleichzeitig auch bereit sind, Steuersenkungen durchzuführen.
Wir haben ein Konzept vorgelegt, das Ihnen in der
Drucksache 15/2745 vorliegt. Danach wollen wir pragmatisch in zwei Stufen vorgehen. Zunächst soll durch
die Steuersätze in Höhe von 12 bis 36 Prozent eine Nettoentlastung von rund 10 Milliarden Euro erreicht werden. Diese Steuersätze sind später auch für eine Stufenlösung vorgesehen, und zwar nicht weil hier
grundsätzliche Divergenzen bestünden, sondern weil ein
linearer Tarif einfach preiswerter ist. Stufen kosten Geld;
das kann jeder nachrechnen.
Es gibt hier aber eine Differenz zu dem, was der immer wieder zitierte Professor Kirchhof vorgelegt hat.
Dieser hat eine Flat Tax von 25 Prozent vorgeschlagen.
Ich erkläre für mich ausdrücklich, dass ich in der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland
eine Flat Tax für nicht vertretbar halte.
({16})
Für mich ist die Progression der Einkommensteuer ein
Kernpunkt unseres Sozialstaatsprinzips. Andere in Europa können kampfbereit ruhig eine Flat Tax einführen.
Ich bin nicht dafür. Welche Art des Anstiegs man einführt - einen Stufentarif, Herr Solms, oder eine Progression -, ist, wenn man von der finanziellen Wirkung absieht, eher eine Geschmackssache. Insofern haben wir
uns auf einen guten Kompromiss geeinigt. Gemäß dem
Vorschlag von Friedrich Merz soll in der zweiten Stufe
dann ein Stufentarif vereinbart werden.
Bei der Erbschaftsteuer wollen wir die Betriebsübernehmer entlasten. Deshalb haben wir, solange das
Unternehmen fortgeführt wird, eine Reduzierung der
Steuerbelastung um jährlich 10 Prozent in das Sofortprogramm eingebaut. Dies ist sofort umzusetzen. Ich
glaube, wir haben hier ein überzeugendes Konzept vorgelegt. Herr Kollege Runde und Herr Poß, ich höre aus
Ihren Reihen, dass das positiv beurteilt wird. Auch von
den Finanzministern der A-Länder höre ich sehr positive
Reaktionen. Ja, dann machen wir es doch endlich! Draußen gehen jährlich Arbeitsplätze verloren, weil es diese
zusätzliche Steuerbelastung aufgrund der Regelungen
zur Erbschaftsteuer gibt. Die Unternehmen geben deshalb auf, wodurch wir Arbeitsplätze verlieren. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Machen Sie mit!
({17})
Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({18})
Voraussetzung dafür ist aber, dass Sie diese Gelegenheit nicht nutzen, um aus ideologischen Gründen bei der
Erbschaftsteuer insgesamt wieder draufzupacken. Frau
Hendricks, wir brauchen uns nicht darüber zu wundern,
wenn beim Gang über die Brücke in die Steuerehrlichkeit Zögerlichkeiten festzustellen sind. Auch ich würde
nicht zurückkommen, wenn es ständig Drohungen gäbe,
dass die Erbschaftsteuer doch noch erhöht wird.
({19})
Sie haben hier eine Chance. Ergreifen Sie sie bitte! Wir
machen dann mit.
Bei Erstellung dieses Gesamtkonzepts sind wir jede
einzelne Position - auch des § 3 Einkommensteuergesetz - durchgegangen. Das war kein einfacher Job. Das
heißt, die Union, CDU und CSU, hat zu einer sehr tief
greifenden Übereinstimmung bei vielen Details gefunden. Auf diese Weise sind wir in der Lage, schnell gesetzgeberisch tätig zu werden.
Wir haben uns dabei drei Aufgaben gestellt: Erstens.
Wir wollen ein einheitliches, zusammenhängendes und
systematisches Einkommensteuerrecht vorlegen. Es gibt
zwar bereits eine Vorlage auf der Basis des Kölner Konzeptes, aber auch die dortigen Experten meinen, dass es
noch weiterentwickelt und vertieft werden muss. In zwei
Jahren wird mit Sicherheit ein Gesamtkonzept auf dem
Tisch liegen, Herr Kollege Merz, das dann schnell umgesetzt werden kann.
Zweitens. Wir müssen die Unternehmensbesteuerung angehen. Dabei wollen wir am Dualismus von
progressiver Einkommensteuer und proportionaler Körperschaftsteuer festhalten. Ziel muss sein, die Besteuerungsrechtsform und Finanzierungsneutralität unter Berücksichtigung der europäischen und internationalen
Entwicklungen sicherzustellen. Dabei sind eine Reihe
von Vorgaben zu berücksichtigen. Ich nenne hier nur das
Wahlrecht zwischen Einnahmeüberschussrechnung und
Steuerbilanzierung. Das Steuerbilanzrecht muss unter
Lösung von handelsrechtlichen Maßgeblichkeiten verselbstständigt und neu gefasst werden. Eine steuerliche
Gewinnermittlung auf der Grundlage von IAS oder IFRS
halten wir - das wurde vorgeschlagen - für nicht vertretbar. Das würde dieses Land und die hiesigen Betriebe
mit Sicherheit überfordern.
Diese Aufgabenstellung hat in diesem Land weder
diese Bundesregierung noch ein Verband - auch wir
noch nicht - in der grenzüberschreitenden Komplexität
abschließend gelöst. Herr Merz, wir haben uns zwei
Jahre Zeit dafür gegeben, um diese Probleme mithilfe
der entsprechenden Experten zu lösen, damit wir auch in
diesem Bereich ein international wettbewerbsfähiges
Steuerrecht für die Unternehmen schaffen können.
Drittens. Die letzte Hausaufgabe ist die Gemeindefinanzreform. Dazu gehört auch die Reform der Gewerbesteuer, die man nur noch als Fossil bezeichnen kann.
Man kann die Finanzierungsprobleme der Kommunen,
die wir sehen und anerkennen, nicht dadurch lösen, dass
man sich bei der Substanzbesteuerung der Unternehmen
schadlos hält. Das ist zu einfach. Das haben wir verhindert. Wir haben durch das Sofortprogramm und die Absenkung der Gewerbesteuerumlage zumindest einen ersten Schritt getan.
Wir wollen die Einnahmen der Kommunen verlässlicher machen und gleichzeitig die Substanzbesteuerung
der Unternehmen beseitigen. Das wollen wir gemeinsam
mit den Kommunen machen. Ich kann nur an die Gemeinden appellieren, dass sie - lassen Sie es mich so
ausdrücken - ihre Konsumentenhaltung überdenken. Sie
dürfen nicht nur warten, welches Konzept kommt, und
nachrechnen, was es für sie für Konsequenzen hat, um
dann erst zu handeln. Auch von dieser Seite muss mehr
politische Kreativität kommen.
({20})
Uns bleiben noch zwei Jahre, um unsere Hausaufgaben zu erledigen. Dann wird ein über den heutigen Antrag hinausgehendes Gesamtkonvolut an steuerlicher
Konzeption vorliegen, wie es in der Nachkriegsgeschichte dieses Landes noch nie der Fall war. Die Umsetzung wird zügig erfolgen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass uns der Wähler dafür den Auftrag gibt.
Dieses Land wird dann beim Steuerrecht wieder wettbewerbsfähig werden. Dies wird den Anstoß für einen
Ruck in diesem Land geben, damit es zu einem vernünftigen Wachstum kommt und wir wieder Politik machen
können.
Ich bedanke mich.
({21})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Faltlhauser, ich stimme Ihnen in Ihrer Bewertung des europäischen Steuersystems zu. Ich
stimme in Ihrer Aussage zur Flat Tax zu. Ich widerspreche Ihrer Aussage, dass aufgrund der Erbschaftsteuer
täglich Arbeitsplätze verloren gehen. Ich will damit
nicht die Reformbedürftigkeit der Erbschaftsteuer in Abrede stellen. Aber es gibt in der Bundesrepublik
Deutschland keinen einzigen Nachweis dafür, dass aufgrund der Erbschaftsteuer ein Unternehmen in Konkurs
gegangen ist. Darum widerspreche ich dieser Aussage
sehr deutlich. Das darf so nicht stehen bleiben.
({0})
Ich habe in vielen Debatten darum gebeten, mir ein
Beispiel dafür vorzulegen, aber es hat mir noch keiner
ein Beispiel nennen können. Wir haben auch entsprechende Umfragen bei den Landesfinanzverwaltungen
gemacht. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen:
Es gibt kein Beispiel.
({1})
Das heißt nicht, dass man sich dieses Themas nicht annehmen sollte; das will ich gar nicht bestreiten. Aber für
Ihre Behauptung gibt es keinen Beleg.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?
Ja, bitte.
Frau Staatssekretärin, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass beim Generationenübergang die Investitionskraft insbesondere der besser situierten Unternehmen
am stärksten geschwächt wird und damit tagtäglich die
Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert bzw. der Verlust von Arbeitsplätzen eingeleitet wird?
Herr Kollege, ich will gar nicht bestreiten, dass die
Belastung mit der Erbschaftsteuer die Investitionskraft
im fortgeführten Unternehmen schmälert. Das ist doch
keine Frage. Ich habe auch nicht in Abrede gestellt, dass
wir diesbezüglich Überlegungen anstellen sollten. Ich
bin wirklich dafür, sich das gründlich anzusehen. Ich
habe die Reformnotwendigkeit nicht in Abrede gestellt.
Ich habe nur der Behauptung widersprochen, dass täglich Arbeitsplätze wegen der Erbschaftsteuer verloren
gehen, weil das nicht stimmt. Es gibt eine zehnjährige
Stundung. Selbstverständlich werden Stundungen von
der Finanzverwaltung verlängert, wenn es sonst zur Insolvenz des Unternehmens käme.
({0})
Es ist doch alles Unsinn, was Sie hier behaupten. Man
muss wirklich keinen Unsinn behaupten, um möglicherweise eine gemeinschaftliche Initiative zur Erbschaftsteuer befördern zu wollen.
({1})
Ich bin gerne dazu bereit, aber man sollte keine überzogenen Äußerungen machen, die nicht stimmen.
({2})
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Ja.
Auch ich möchte Ihnen zum Geburtstag gratulieren.
Sie haben erklärt, dass es keinen Fall gäbe, in dem der
Zusammenhang mit der Erbschaftsteuer nachgewiesen
werden könne. Sie können sich vorstellen, dass die meisten Unternehmen im Plenum nicht öffentlich genannt
werden wollen. Das ist berechtigt, denn man möchte sich
nicht öffentlich vorführen lassen. Einen Fall kennen wir
alle: Müller-Milch. Herr Müller hat sein Verhalten ausdrücklich mit der Erbschaftsteuer begründet, egal ob wir
das für richtig oder falsch halten.
Aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen, in dem
wir beide zu Hause sind, könnte ich Ihnen ohne jedes
Problem an die 20 große Familiengesellschaften und Unternehmen nennen, die alle genau aus diesem Grunde
Vorkehrungen getroffen haben und mittlerweile Firmensitze und Holdingsitze etc. ins benachbarte Ausland,
nach Belgien, in die Schweiz oder nach Österreich, verlegt haben. Erwecken Sie doch nicht den Eindruck, als
gäbe es diese Absetzbewegung wegen unserer Erbschaftsteuer nicht! Sie müssen es besser wissen.
Herr Kollege Schauerte, ich widerspreche nicht Ihrem
Eindruck, dass sehr viele Unternehmen alle möglichen
Anstrengungen unternehmen, um keine Erbschaftsteuer
zahlen zu müssen. Es gibt aber viele Steuerberater und
Wirtschaftsprüfer, die sagen, das sei auch ohne Sitzverlegung legal möglich; man müsse in Deutschland nicht
zwingend Erbschaftsteuer zahlen.
Ich widerspreche auch nicht der Aussage von Herrn
Müller, dem Inhaber des Familienunternehmens MüllerMilch, dass er nicht bereit sei, seine neun Kinder
200 Millionen Euro Erbschaftsteuer zahlen zu lassen.
Das bedeutet aber nicht, dass das Unternehmen MüllerMilch in Gefahr geraten wäre,
({0})
wenn seine neun Kinder die insgesamt 200 Millionen
Euro Erbschaftsteuer mit den entsprechenden Freibeträgen und über zehn Jahre verteilt hätten entrichten müssen. Zum Vergleich: Das Unternehmen Müller-Milch ist
in der Lage, jedes Jahr für Öffentlichkeitskampagnen
100 Millionen Euro auszugeben.
({1})
Sind dann 200 Millionen Euro, verteilt auf neun Kinder
und über zehn Jahre, vielleicht nicht doch zu erwirtschaften?
({2})
Wäre das Unternehmen deswegen in seiner Existenz bedroht, ja oder nein? Diese Frage stellt sich doch.
({3})
Offensichtlich reizen Sie die Kollegen zu vielen Zwischenfragen. Mehr als drei werde ich in einer kurzen
Rede nicht zulassen. Wenn Sie das aber möchten, bitte.
({0})
Ich verstehe nicht, warum Sie sich an Ihrem Geburtstag so echauffieren.
({0})
Können Sie nachvollziehen, dass es einem Unternehmer wie Herrn Müller sehr schwer gefallen ist, so in die
öffentliche Diskussion zu kommen? Herr Müller konnte
nachweisen, dass er im Wettbewerb mit den Großkonzernen, die keine Erbschaftsteuer zahlen müssen, die
notwendige Expansion am Markt nicht leisten konnte
({1})
und durch die Investitionen, die er in den neuen Bundesländern getätigt hat, in Verbindung mit dem Kapitalabfluss durch eine Erbschaftsteuerzahlung in große finanzielle Schwierigkeiten gekommen wäre. Das hat er
nachgewiesen. Ich bitte Sie deshalb, Herrn Müller zu
verstehen,
({2})
dass er dieses Anliegen
Herr Kollege, was ist Ihre Frage?
- im Gegensatz zu vielen anderen mittelständischen
Unternehmern öffentlich vorgebracht hat.
Herr Kollege Michelbach, meine Beurteilung des
Vorgangs habe ich gerade dargelegt. Ich kann nicht
nachvollziehen, dass es Herrn Müller schwer gefallen
ist, sein Anliegen in der Öffentlichkeit darzulegen; denn
er ist selber mit einem Interview an die Öffentlichkeit
getreten.
({0})
Kritik am Steuersystem ist immer wohlfeil. Die Opposition kann zwar immer wieder versuchen, den Bürgerinnen und Bürgern einzureden, das Steuersystem sei unverständlich oder ungerecht. Aber dabei darf natürlich
nicht die wichtige Tatsache außer Acht gelassen werden,
dass bei den einfachen Lebenssachverhalten - das betrifft die Masse aller Steuerpflichtigen und Steuererklärungen - das geltende Recht sehr leicht zu erklären und
auch zu vollziehen ist.
({1})
Erfreulicherweise werden in Nordrhein-Westfalen schon
Modellversuche durchgeführt.
In der steuerpolitischen Reformdebatte wäre demnach
schon viel gewonnen, wenn die Opposition den Bürgerinnen und Bürgern zwei Sachverhalte ehrlich nennen
würde. Erstens. Das Steuerrecht ist im Wesentlichen deshalb komplex, weil teilweise vielschichtige Lebenssachverhalte zu berücksichtigen sind. Das macht Vereinfachungen schwierig. Ich nenne nur als Beispiel, dass Sie
in einem der letzten Steuergesetzgebungsverfahren um
einbringungsgeborene Anteile für Personengesellschaften im Einkommensteuerrecht gekämpft haben. Wahrscheinlich können die wenigsten von Ihnen erklären,
worum es sich dabei handelt. Aber es haben auch nur die
wenigsten mit einbringungsgeborenen Anteilen im Einkommensteuerrecht zu tun, auch wenn es sich dabei um
eine wichtige, komplizierte Materie handelt.
Eine Reform des Steuerrechts darf nicht nur unter
dem Gesichtspunkt der Vereinfachung durchgeführt
werden. Denn eine Vereinfachung bedeutet noch lange
nicht, dass die Reform auch gerecht oder gesellschaftlich
wünschenswert ist. Deswegen haben sich die Finanzminister den Vorschlag ihrer Steuerabteilungsleiter zu
Eigen gemacht, Herr Kollege Faltlhauser, und sind bei
ihrer gründlichen Bewertung zu dem Ergebnis gekommen, dass es kein Patentrezept für eine grundsätzliche
Vereinfachung des Steuerrechts gibt.
Keines der derzeit diskutierten Modelle erfüllt die an
eine echte Steuerreform anzulegenden Kriterien. Das ist
nicht zuletzt auf die teilweise enormen Mindereinnahmen zurückzuführen, die trotz der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage unterm Strich verbleiben würden.
Das gilt insbesondere für das Konzept der Opposition.
Mit den von der CDU/CSU selbst errechneten Steuermindereinnahmen in Höhe von 10,7 Milliarden Euro bei
voller Jahreswirkung wird die unabdingbare Aufkommensneutralität, auf die alle öffentlichen Haushalte zumindest gegenwärtig achten müssen - das muss nicht
unbedingt für alle Zeiten gelten -, verfehlt.
Die kurzfristige Kassenwirkung würde sogar noch zu
weitaus höheren Steuerausfällen in einer Größenordnung
von 16 Milliarden Euro in den Jahren 2005 und 2006
führen. Es liegt auf der Hand, dass das nicht hinnehmbar
ist.
Das von der Union vorgelegte Konzept hätte zudem
- das gilt auch für die anderen so genannten radikalen
Konzepte beispielsweise von Herrn Kirchhof und Herrn
Solms - hochgradig problematische Verteilungswirkungen zur Folge. Von den Entlastungen würden Spitzenverdiener weit überproportional profitieren; die
Finanzierung hingegen bliebe zum guten Teil den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit niedrigerem
oder mittlerem Einkommen überlassen. Wenn es nach
der CDU/CSU geht, dann zahlen also die kleinen Leute
die Zeche, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens
profitieren sie nicht von der massiven Senkung der
Spitzensteuersätze. Zweitens sollen sie auf steuerliche
Vergünstigungen verzichten. Drittens sollen sie sich an
den Lasten einer höheren Verschuldung beteiligen. Für
so eine Art Reform stehen wir nicht zur Verfügung.
({2})
Ich stelle demgegenüber fest: Die Bundesregierung
tritt natürlich für Steuervereinfachung und mehr Transparenz im Steuerrecht ein. Hierbei sind aber klare Vorgaben zu beachten. Erstens. Eine Steuerreform muss für
den Staat finanzierbar sein. Zweitens. Sie muss sozial
gerecht sein. Drittens muss sie die Europatauglichkeit
des Steuersystems verbessern und zu einer besseren
Position im internationalen Steuerwettbewerb führen.
Aus guten Gründen hat daher kürzlich die Ministerpräsidentenkonferenz den Finanzministern den Auftrag
erteilt, die Konsenspunkte der unterschiedlichen Reformkonzepte herauszufiltern. Sollten sich auf diesem
Weg Reformperspektiven eröffnen, bei denen alle drei
Vorgaben, die ich eben nannte, erfüllt sind und bei denen
auch die Aussicht auf politische Durchsetzbarkeit besteht, werden wir uns dem sicherlich nicht verschließen.
Die von einem langen propagandistischen Vorlauf begleiteten Steuerpläne von CDU und CSU sind daneben
ein vergeblicher Versuch, davon abzulenken, dass sich
seit 1999 in der Steuerpolitik sehr viel zum Positiven
entwickelt hat.
({3})
Die Bundesregierung hat mit ihrer Steuerreform 2000
das größte Steuersenkungsprogramm in der Geschichte
der Bundesrepublik umgesetzt. 2005 wird der Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer, der im Jahre 1998
noch bei 25,9 Prozent lag - das fiel in Ihre Regierungsverantwortung -, auf 15 Prozent gesunken sein. Das ist
ein historischer Tiefstand. Von 2005 an wird der Spitzensteuersatz 42 Prozent betragen. 1998, also vor knapp
sechs Jahren, als Sie in der Regierungsverantwortung
waren, lag er noch bei 53 Prozent. Insgesamt sorgt die
Steuerreform 2000 für Entlastungen in Höhe von rund
32 Milliarden Euro bis 2005, und zwar nicht einmalig,
sondern Jahr für Jahr.
({4})
Wir haben damit nicht nur im historischen, sondern
auch im internationalen Vergleich sehr niedrige Steuersätze. Um das an zwei ganz konkreten Beispielen deutlich zu machen: Ein Lediger mit einem Einkommen von
25 000 Euro zahlte 1998 noch 4 700 Euro Steuern. 2005
wird er nur noch 3 600 Euro zahlen. Er hat also 1 100 Euro
mehr in der Tasche. Eine Arbeitnehmerfamilie mit zwei
Kindern und einem Einkommen von 37 500 Euro wurde
1998 unter Einbeziehung des Kindergeldes noch mit
3 000 Euro belastet. 2004 zahlt sie unter Einbeziehung
des Kindergeldes nur noch knapp 60 Euro. Von 2005 an
bekommt sie unter dem Strich sogar 12 Euro heraus. Ein
Plus von 12 Euro im Jahr 2005 statt eines Minus von
3 000 Euro im Jahr 1998 für eine Arbeitnehmerfamilie
mit zwei Kindern! Das soll uns erst einmal jemand nachmachen.
({5})
Im Unternehmensteuerbereich hat sich ebenfalls
Entscheidendes getan. Seit 2001 haben wir ein europataugliches, deutlich vereinfachtes und international wettbewerbsfähiges Unternehmenssteuerrecht. Die Körperschaftsteuer haben wir auf 25 Prozent für thesaurierte
und ausgeschüttete Gewinne reduziert. Zur Erinnerung:
In der Zeit, als Sie die Regierungsverantwortung hatten,
lagen die Steuersätze bei 45 und 30 Prozent. Mit dem
neuen Halbeinkünfteverfahren haben wir auch in Europa
Maßstäbe gesetzt. Italien hat das System bereits übernommen. Frankreich wird dem Beispiel wohl folgen.
In Zukunft werden wir weiter daran arbeiten, das
deutsche Steuerrecht internationalen Gegebenheiten und
Standards anzupassen. Unter anderem wird das Außensteuerrecht entsprechend zu reformieren sein. Außerdem
wollen wir das EG-Recht künftig aktiver - so weit das in
unseren Möglichkeiten liegt; wir sind hier ja schon immer aktiv gewesen - in die Richtung beeinflussen, wie
sie vorhin von Herrn Faltlhauser angesprochen worden
ist, nämlich eine Verknüpfung mit den Infrastrukturfördermitteln herzustellen, die nicht nur die neuen EU-Länder, sondern auch die bisherigen Mitglieder der EU erhalten.
Die Bundesregierung hat im Übrigen auf dem Feld
der Subventionen, das sie alleine beeinflussen kann und
auf dem sie nicht durch Ihre Mehrheit im Bundesrat behindert werden kann, Wesentliches geleistet. Von 1998
bis 2004 werden die Finanzhilfen von 11,4 Milliarden
Euro auf knapp unter 7 Milliarden Euro, also um rund
4,4 Milliarden Euro bzw. knapp 40 Prozent gesenkt.
40 Prozent weniger Subventionen als bei der Regierungsübernahme! Im Finanzplan bis 2007 ist ein weiterer Abbau auf weniger als die Hälfte vorgesehen.
Das, was die Opposition auf diesem Gebiet zu bieten
hat, gleicht eher einem Trauerspiel. Von der im ursprünglichen Konzept vom Kollegen Merz noch vorgesehenen „radikalen Streichung steuerlicher Vergünstigungen“ ist kaum mehr etwas übrig geblieben. Selbst die
wohnungsbaupolitisch verfehlte und ökologisch fragwürdige Eigenheimzulage soll unangetastet bleiben.
({6})
- Daran können Sie sehen, wie mutig Sie sind und wie
modern Ihr Steuerrecht in einer Zeit ist, in der es Leerstände nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern
sogar auch in ländlichen und städtischen Räumen im
Westen unserer Republik gibt.
CDU und CSU können mit dem heute vorgelegten
Antrag kaum überdecken, dass sie eigentlich keine gemeinsame finanzpolitische Position haben. Sonntags trafen sich die Präsidien der beiden Parteien. Der Berg
kreißte und gebar eine Maus, die er „Konzept 21“
nannte. Bekanntlich haben Mäuse kein sehr langes Leben.
({7})
Frau Kollegin Hendricks, Sie sind mittlerweile schon
mehrfach mit Glückwünschen bedacht worden. Nun
möchte auch ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses
herzlich gratulieren. Das hätte ich gerne vorher gemacht;
leider wusste ich es aber nicht. Umso herzlicher ist mein
Glückwunsch.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Otto Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jeden Monat, beinahe jede Woche müssen wir
diese Debatte führen. Die gesamte Fachwelt in Deutschland, alle steuerpflichtigen Bürger in Deutschland, die
Steuerverwaltung - alle wissen, dass es mit diesem chaotischen Steuerrecht so nicht weitergehen kann.
({0})
Das Steuerrecht ist zu kompliziert, die Steuerbelastung ist zu hoch, die Steuergerechtigkeit ist grundsätzlich verletzt. Nur die Bundesregierung hat das noch nicht
verstanden und deswegen kommen wir nicht voran. Das
ist ganz einfach.
({1})
Frau Kollegin Hendricks, Sie wissen so gut wie ich:
Wenn damals, nach den Petersberger Beschlüssen,
({2})
die vom Bundestag beschlossene Reform vom Bundesrat, dem der damalige hessische Ministerpräsident, Ihr
heutiger Finanzminister, angehörte, nicht blockiert worden wäre, dann hätten wir seit dem 1. Januar 1998 einen
Spitzensteuersatz von 39 Prozent.
({3})
Also: Rühmen Sie sich der 42 Prozent, die im nächsten
Jahr gelten sollen, nicht! Ihre Politik hat uns viele Jahre
Geld gekostet. Alle Bürger müssen das bezahlen und dafür tragen Sie die Verantwortung.
({4})
Ich möchte auf die Notwendigkeiten zurückkommen.
Wir haben hier am 12. Februar ein ausformuliertes,
neues Einkommensteuergesetz eingebracht. Es hat in der
Fachwelt hohe Anerkennung gefunden. Wir haben in einem Wettbewerb sogar einen Preis von 40 000 Euro gewonnen. Ich glaube, das ist in der Geschichte der Bundesrepublik noch keiner Partei gelungen. Diese
Einbringung war eine Aufforderung an alle Fraktionen
dieses Hauses, sich dieser elementar notwendigen Aufgabe zu stellen. Das war keine Aktion der Opposition,
um sich zu profilieren. Das geschah vielmehr in der
Hoffnung, dass wir noch in dieser Legislaturperiode
Steuersenkungen, Steuergerechtigkeit und Einfachheit
durchsetzen können, wenn alle Fraktionen mitarbeiten.
Vonseiten der Regierungskoalition höre ich immer
wieder, dass sie nicht bereit ist, diesen Weg zu gehen.
Unser Angebot bleibt bestehen. Ich freue mich, dass die
CDU/CSU als gemeinsame Fraktion jetzt, nach sicherlich schwierigen Diskussionen zwischen den beiden Parteien, hier Thesen vorlegt, die in dieselbe Richtung gehen wie unsere Vorstellungen. Auf dieser Basis lässt sich
ein gemeinsames Reformkonzept durchsetzen.
({5})
Herr Kollege Faltlhauser, ich bedanke mich auch bei Ihnen, dass Sie daran mitgewirkt haben.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf einige Probleme im Zeitablauf hinweisen. Es ist so, dass wir keine
Zeit mehr verlieren dürfen. Wenn es in dieser Legislaturperiode wegen der Haltung der Koalitionsfraktionen, der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, zu einer gemeinsamen Reform also nicht mehr kommt - nach dem,
was Frau Kollegin Hendricks gesagt hat, müssen wir davon ausgehen -,
({6})
dann müssen wir sofort nach der gewonnenen Bundestagswahl handlungsfähig sein. Diese Wahl findet
Ende 2006 statt.
({7})
Eine solche Reform kann also frühestens zum
1. Januar 2008 in Kraft treten. Das wird aber nur gelingen, wenn wir konzeptionell so weit vorbereitet sind,
dass die Gesetzgebungsarbeit bis Mitte 2007 erledigt ist.
Deswegen müssen die Vorbereitungen jetzt getroffen
werden, und zwar mit konkreten Ergebnissen; sonst
schaffen wir das nicht.
({8})
Herr Kollege Faltlhauser, ich habe, was den Zeitplan
und die Prioritäten anbetrifft, ein Problem. Ich glaube,
dass die Gemeindefinanzreform als Erstes auf den Weg
gebracht werden muss; denn die Abschaffung oder die
Ersetzung der Gewerbesteuer ist der Schlüssel zur
Steuervereinfachung. Die Gewerbesteuer ist ein Fremdkörper in unserem Steuerrecht und passt auch in das europäische Steuerrecht überhaupt nicht hinein.
Wir brauchen also eine gemeindefreundliche Ersatzfinanzierung. Die können wir nur gemeinsam finden.
Das wird nicht nur über einen Zuschlag zur Einkommenund Körperschaftsteuer möglich sein; vielmehr brauchen
wir eine deutliche Erhöhung des Anteils der Gemeinden an der Umsatzsteuer,
({9})
damit die Gemeinden eine gleichmäßig fließende verlässliche Steuerquelle erhalten. Der Verteilungsschlüssel
kann wirtschaftsbezogen und damit wirtschaftsfreundlich ausgestaltet werden.
Darüber müssten wir uns am schnellsten einigen. Das
ist aber - das weiß ich genau; wir haben uns mit dieser
Frage intensiv beschäftigt - das Schwierigste von allem.
({10})
Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam ein Konzept
dazu vorzulegen, damit wir dann ohne Gewerbesteuer
ein wirklich einfaches Steuerrecht realisieren können.
Die Gemeinden sind für unsere wirtschaftliche Entwicklung von fundamentaler Bedeutung.
({11})
Die Gemeinden haben heute kein Geld. Da herrscht die
blanke Not. Dringend erforderliche Reparaturarbeiten an
Schulen, Kindergärten, Sportstätten, Krankenhäusern
und Straßen werden mangels ausreichender Finanzausstattung nicht vorgenommen. Gelder für Jugendarbeit
werden gestrichen. Büchereien, Sportstätten, Museen
und Theater werden geschlossen. Eintrittsgelder für verbleibende kommunale Einrichtungen werden - bei verkürzten Öffnungszeiten - erhöht. Die Gemeinden haben
mit ihrem Auftragsverhalten für das örtliche Gewerbe
eine fundamentale Bedeutung. Wenn wir sie nicht in die
Lage versetzen, wieder vernünftige Haushalte zu gestalten und Ausgaben zu tätigen, werden wir auch die regionale Wirtschaftskraft nicht stärken. Dieser Zusammenhang ist zu sehen.
Wenn das nicht gelingt, dann bricht uns die Basis, der
kleine Mittelstand und das Gewerbe, weg. Auf diesem
Weg befinden wir uns gerade. Wenn Sie das nicht erkennen und nicht bereit sind, zu Lösungen zu kommen, dann
sehe ich für die weitere wirtschaftliche Entwicklung
schwarz.
({12})
Da nützt es auch nichts, wenn Sie uns neue Zahlen nennen, was die Exporterfolge anbetrifft; denn die Exportstatistik sagt überhaupt nichts darüber aus, wo die Wertschöpfung stattgefunden hat. Die Wertschöpfung findet
in immer größerem Maße in ganz anderen Ländern und
nicht in der Bundesrepublik Deutschland statt.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas sagen,
weil ich eine bestimmte Diskussion leid bin. Sie halten
uns immer vor, wir hätten in Deutschland die niedrigste
Steuerquote. Entscheidend ist die Belastung des Gewerbes, der Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes.
Dazu hat uns interessanterweise der Bundesfinanzminister Eichel am 24. März dieses Jahres in einem Brief an
die Fraktionsvorsitzenden in diesem Haus im Zusammenhang mit der Frage der Abgeltungsteuer mitgeteilt,
dass eine Abgeltungsteuer nicht möglich sei, weil sie zu
einer Besserbehandlung der Kapitaleinkünfte gegenüber
dem investierten Kapital führen würde. Er hat geschrieben: Erträge aus Fremdkapital, also Zinsen, wären nur
mit der niedrigeren Abgeltungsteuer belastet, zum Beispiel 30 Prozent, während Erträge aus Eigenkapital
- jetzt kommt es - selbst nach In-Kraft-Treten der letzten Stufe der Steuerreform 2000 ab dem Jahr 2005 mit
bis zu 52,24 Prozent belastet blieben.
({13})
- Das hat uns der Bundesfinanzminister vorgerechnet. Ich habe es nachgerechnet. Es stimmt. Darin ist die Kirchensteuer noch nicht einmal enthalten.
Wenn Sie hören, welche Steuersätze in Estland oder
in der Slowakei - 19 Prozent - oder jetzt in Österreich
- etwas über 20 Prozent - vorgeschlagen werden, erkennen Sie, wo wir im Steuerwettbewerb liegen. Wettbewerb ist im Gegensatz zu der Auffassung der verehrten
Kollegin Frau Scheel kein Dumping, sondern Wettbewerb ist das Bemühen um die besten Bedingungen.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit.
Wir müssen uns diesem Wettbewerb stellen, sonst
werden wir keinen Erfolg haben. Dazu haben wir unsere
Vorschläge gemacht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Andreae.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Solms, ich gebe Ihnen darin Recht, dass die
Finanzausstattung der Gemeinden der entscheidende
Punkt ist, an dem wir beginnen sollten. Dabei will ich
darauf hinweisen, dass wir im letzten Herbst in Zusammenarbeit mit den Kommunen ein Modell vorgestellt haben, das gewährleisten soll, dass die Finanzstruktur der
Kommunen verbessert wird.
Wenn ich lese, dass die CDU/CSU in ihrem „Konzept 21“ diese Gemeindefinanzreform in enger Abstimmung mit den Kommunen vornehmen will, dann ergibt sich für mich daraus schon die Frage, wo Sie von
der CDU/CSU im letzten Herbst waren, als auch die
Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Ihrer Parteien
diese Gemeindefinanzreform einschließlich der Modernisierung der Gewerbesteuer forderten. Wo waren Sie
da? Sie haben sie im Regen stehen lassen. Auch das ist
ein Grund, warum die Finanzlage der Gemeinden noch
immer so desaströs ist.
({0})
Sie plädieren jetzt für eine wirtschaftskraftbezogene
Gemeindesteuer. Es bleibt völlig im Leeren, was Sie eigentlich wollen. Das ist insgesamt das Problem dieses
Konzeptes 21. Es bewegt sich in einem Bereich von medientauglichen Halbwahrheiten. Es ist halbkonkret. An
vielen Stellen bleibt offen, was genau Sie wollen und
wie Sie es machen wollen.
({1})
Die Frage, die das Konzept wirklich verschleiert, ist die
Art und Weise der Gegenfinanzierung. Am Schluss dieses Konzeptes findet sich ja ein Finanztableau, allerdings nur für das Sofortprogramm. Da kommen Sie auf
die besagten 10 Milliarden. Das DIW hat Ihr Konzept
durchgerechnet und sagt, es kostet 13 Milliarden. Das
Finanzministerium spricht von 16 Milliarden. Wir werden nachher - es ist ja interessant, dass auch Herr Merz
gesagt hat, dass man das im Gesamtkontext sehen
müsse ({2})
eine Debatte über den Gesamtkontext Ihrer Reformen
führen. Herr Seehofer spricht davon, dass im Gesamtkontext Kosten in Höhe von 100 Milliarden Euro entstehen. Dass Sie ein Konzept haben, wie Sie das gegenfinanzieren wollen, können Sie mir nicht im Ernst sagen.
({3})
Auch ich finde, dass Sie Recht damit haben, dass
Vereinfachung Not tut.
({4})
Auch ich gebe zu: Ein einfacheres Steuersystem ist ein
gerechteres Steuersystem, weil dann die Leute verstehen, wo ihre Steuern bleiben und wie sich die Einnahmen strukturieren. Nur, das Junktim, dass Vereinfachung
nur mit Tarifentlastung gehe, sehen wir so nicht. Wir haben eine Einkommensteuerreform auf den Weg gebracht, die im Jahre 2005 zu einem Eingangssteuersatz
von 15 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 42 Prozent führt. Bei den Eckwerten macht das insgesamt
11 Prozentpunkte weniger aus als 1998. Da ist unsere
Tarifentlastung. Das ist gut so. Aus unserer Sicht ist
aber kein weiteres Entlastungsvolumen möglich.
Ich sehe allerdings, dass wir im Bereich der Unternehmensbesteuerung etwas tun müssen. Wir stehen
hier vor wirklich großen Herausforderungen. Ich warne
aber davor, einfache Zusammenhänge herzustellen. Ich
halte es wirklich für billig, zu behaupten, dass es im
Zuge der EU-Osterweiterung zu Ungerechtigkeiten
komme, weil die neuen Länder zum einen niedrige Steuersätze hätten und zum anderen hohe Subventionen empfangen würden. Ich glaube, man muss viel genauer hinschauen, wie sich die Subventionen und die Steuersätze
entwickelt haben, wo es Mitnahmeeffekte gibt und von
welchen Erwartungen dies geprägt war. Mir ist es zu billig, wenn gesagt wird, die Subventionen seien zu hoch,
dadurch würden nur niedrige Steuersätze finanziert.
({5})
Nichtsdestotrotz müssen wir uns die Frage stellen,
wie wir uns angesichts der neuen Wettbewerber aufstellen wollen. Wir müssen dabei aber seriös vorgehen. Ich
kann in den Vorschlägen des „Konzepts 21“ zur Unternehmensteuerreform keine Antwort auf diese Frage finden.
({6})
Sie halten es sich offen, Sie werden nicht konkret. Es
hört sich zwar schön an, wenn Sie sagen, Sie wollten alles einfacher machen und die Tarife senken. Aber wenn
es darauf ankommt, bleibt es unklar.
({7})
Ein weiterer Punkt noch, der mir besonders wichtig
ist: die Familienpolitik. Sie sprechen davon, dass die
Kinderfreibeträge und das Kindergeld erhöht werden
sollen. Seit 2001 haben wir in Deutschland 180 Milliarden Euro für familienpolitische Leistungen und
Maßnahmen ausgegeben. Trotzdem haben wir ein
Demographieproblem. Ich behaupte, dass das Demographieproblem, also die mangelnde Bereitschaft, heute
Kinder zu bekommen, eng mit der ungelösten Frage der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf zusammenhängt.
Deswegen will ich nicht, dass die Transferleistungen erhöht werden, sondern ich will, dass wir Geld für die Verbesserung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten in die
Hand nehmen. Qualifizierte und flexible Maßnahmen
für Kinder unter drei Jahren und mehr Ganztagsschulen
eröffnen die Chance, dass sich wieder mehr junge Menschen für Kinder entscheiden. Ich bezweifle, dass Sie
mit Ihrem Ansatz in der Familienpolitik, nämlich eine
weitere Erhöhung der Transferleistungen vorzusehen,
wirklich der Lebenswirklichkeit junger Menschen nahe
kommen.
({8})
Noch einmal: Eine Einkommensteuerreform ist erfolgt. Wir haben die Eckwerte der Steuertarife gesenkt.
Jetzt einen Unterbietungswettbewerb zu starten halten
wir für unseriös. Entlastungsvolumina im Einkommensteuerbereich sehen wir nicht.
Sie treiben uns immer wieder bei der Frage des Stabilitätspaktes. Das ist angesichts der gemeinsamen Verantwortung aller politischen Ebenen bezüglich des Schuldenstandes und der Einhaltung der Maastricht-Kriterien
auch richtig. Aber Ihre Vorstellungen und Vorschläge
hinsichtlich der Finanzierung zeigen nichts von dieser
gemeinsamen Verantwortung.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie versprechen aus unserer Sicht Manna vom Himmel. Mehr
Ehrlichkeit stünde Ihnen gut zu Gesicht. Aus Ihrem
Bierdeckel ist eine Tischdecke mit vielen einzelnen Bereichen, kleinen Regelungen und Änderungen geworden.
Von einem Gesamtkonzept kann man hier leider nicht
mehr sprechen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr von
Stetten.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Seit Monaten diskutieren wir über die Notwendigkeit einer umfassenden Reform des deutschen Steuerrechts. Aber heute, vor allem nach dem Redebeitrag von
Herrn Poß, ist klar geworden: Die Regierung und auch
die Fraktionen von Rot-Grün wollen überhaupt keine
Steuerreform mit den Merkmalen einfacher, niedriger
und gerechter. Sie verweigern sich einem modernen
Steuerrecht, das unser Land so dringend braucht.
Aber es ist ja nicht die erste Initiative, die Sie mit Ihrer Abgeordnetenmehrheit hier im Deutschen Bundestag
verhindern und blockieren.
({0})
- Natürlich blockieren Sie! Sie blockieren dieses wichtige Gesetz.
Herr Dr. Solms hat für die FDP deren Steuervorschläge auf den Tisch gelegt und auch wir bringen unsere Steuervorschläge heute ein. Nur die Regierung, von
der man das, Frau Staatssekretärin, eigentlich am ehesten hätte erwarten können, ist trotz Tausenden von Mitarbeitern nicht in der Lage, uns Parlamentariern ihr Programm vorzulegen und deutlich zu machen, wie Sie sich
die Zukunft vorstellen. Die Handlungsunfähigkeit der
Bundesregierung ist der eigentliche Skandal am heutigen
Vormittag.
({1})
Stattdessen kommt Minister Eichel wieder mit der
Abschaffung der Eigenheimzulage. Frau Staatssekretärin, Sie haben es angesprochen: Bei unserem Konzept
bleibt die Eigenheimzulage erhalten, weil sie - trotz vieler Falschmeldungen - mit der Reform der Einkommensteuer überhaupt nichts zu tun hat. Sie haben, keine drei
Monate nachdem wir uns im Vermittlungsausschuss auf
eine gemeinsame Position geeinigt haben, diese Position
wieder aufgekündigt und die betroffenen Bürger erneut
tief verunsichert. Die Betroffenen rufen bei uns an und
fragen, welche Versprechen dieser Regierung eigentlich
noch gelten. Bei uns rufen die Betroffenen noch an; ich
weiß, dass bei Ihnen schon lange niemand mehr anruft.
Sie sind in den Wahlkreisen - wir merken das jede Woche - auf Tauchstation gegangen. Sie sind überhaupt
nicht mehr ansprechbar, weil Sie das, was von der Bundesregierung wöchentlich neu in die Welt gesetzt wird,
nicht mehr vertreten wollen.
({2})
Wir haben es heute gehört: Steuerpflichtige Bürger
und deutsche Unternehmen verlassen in Scharen unser
Land und gehen dorthin, wo es nicht nur niedrigere Steuern, sondern vor allem auch nachvollziehbare Gesetze
gibt. Transparenz ist eines der Hauptziele unseres heutigen Antrages. Übrigens war das auch einmal eines Ihrer Ziele. Noch im Jahr 2000 hat die Bundesregierung
die Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch
ein gerechtes Steuer- und Abgabensystem angekündigt,
doch das Gegenteil - auch das haben wir heute mehrfach
gehört - war der Fall. Der Rat der Wirtschaftsweisen hat
in seinem Jahresgutachten 2003/04 eindeutig festgestellt, dass das Steuersystem des Jahres 2003 weit entfernt von den Zielen der Bundesregierung aus dem
Jahr 2000 ist.
Mit Erlaubnis der Präsidentin darf ich die von der
Bundesregierung selbst vorgeschlagenen Gutachter mit
drei Sätzen zitieren.
({3})
Die Gutachter schreiben:
Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig
erhebliche Defizite. Das deutsche Steuerrecht wird
zunehmend als chaotisch wahrgenommen. … Der
deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leitbild, an
dem sich die Haushalte und Investoren … ausrichten könnten.
Die Gutachter fordern daher einen grundlegenden Umbau der Einkommensteuer und der Unternehmensbesteuerung. Zusätzlich soll die Gewerbesteuer ersetzt werden.
Sie schlagen Einkommensteuersätze vor, die bei etwa
15 Prozent beginnen und bei etwa 35 Prozent enden sollen.
Bei diesen Gutachtern handelt es sich um hochqualifizierte Persönlichkeiten. Einen dieser Gutachter, Herrn
Professor Weber, hat der Bundeskanzler vor kurzem unter Beifall aller Fraktionen und aller gesellschaftlichen
Gruppen als neuen Präsidenten der Bundesbank vorgeschlagen.
Ich stelle also fest: Ihre eigenen Gutachter schlagen
Ihnen genau das vor, was Friedrich Merz und der bayerische Finanzminister vor wenigen Minuten ausführlich
erläutert und vorgestellt haben.
({4})
Herr Poß, Hauptleidtragender Ihrer Verweigerungspolitik ist wieder einmal der Mittelstand.
({5})
Sie brauchen gar nicht abzuwinken. Allein im Jahr 2003
gab es 40 000 Unternehmenspleiten. Frau Hendricks,
das bedeutet, alle zwölf Minuten gibt es einen mittelständischen Betrieb weniger. Auch wenn Sie heute Geburtstag haben, können wir Ihnen diese Feststellung
nicht ersparen: Dabei handelt es sich nicht um Unternehmen, die irgendwann einmal zu Beginn des Internetzeitalters von Glücksrittern gegründet wurden. Die sind alle
schon in den letzten Jahren verschwunden. Es handelt
sich vielmehr um mittelständische Betriebe, die schon
seit Jahren am Markt existieren und sich jetzt einfach
nicht mehr halten können, weil sie von der Bürokratie
erdrückt werden oder aus dem Steuerchaos nicht mehr
herausfinden. Sie haben mit Ihren Fehlentscheidungen
diese Betriebe mit auf dem Gewissen.
({6})
Eine letzte Bemerkung.
({7})
Ich darf Sie bitten: Handeln Sie jetzt! Werden Sie Ihrer
Verantwortung gerecht!
({8})
Geben Sie Deutschland ein einfaches und gerechtes
Steuersystem! Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen: Wir können nicht bis 2006, also bis zur nächsten
Bundestagswahl, warten. Das würde viele weitere Arbeitsplätze kosten. Wir brauchen jetzt ein neues Steuersystem. Deswegen darf ich Sie bitten, dem Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Staat verlangt von seinen Bürgern Steuerehrlichkeit. Dem steht aber zu Recht der Anspruch der
Bürger entgegen, dass in der Steuerpolitik nicht geflunkert und nicht vernebelt wird.
({0})
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist
leider ein Musterbeispiel für Flunkern und bewusstes
Im-Unklaren-Lassen.
Seit dem Herbst vorigen Jahres kündigen CDU und
CSU an, es werde einen Entwurf einer großen Steuerreform geben. Doch über Eckpunkte ist die Union noch
immer nicht hinausgekommen. Manches in Ihrem Antrag liest sich sogar ganz hübsch. Das ist auch kein Wunder; denn Sie beschränken sich weitestgehend auf das
Schöne und Gute. Klartext ist das nicht.
Warum legen Sie eigentlich keinen Gesetzentwurf
vor?
({1})
- Herr Kollege Seiffert, schauen Sie doch einmal in das
Grundgesetz! Eine Oppositionsfraktion hat das Recht,
einen Gesetzentwurf einzubringen.
({2})
Wenn Sie meinen, das sei für Sie als Oppositionsfraktion
etwas zu mühsam, dann muss ich Ihnen sagen: Sie haben
doch Zugriff auf das Fachwissen von wirklich guten und
tüchtigen Beamten in den Ministerien der Länder.
({3})
Beispielsweise hat das bayerische Finanzministerium
einen guten Ruf. Bedienen Sie sich doch einfach der
Unterstützung beispielsweise des Kollegen Professor
Faltlhauser, der leider etwas früher gehen musste.
In einem Gesetzentwurf - das ist vielleicht der Nachteil, den Sie sehen, Herr Seiffert - muss man ganz konkret werden. Man kann sich darin nämlich nicht auf das
beschränken, was die Menschen gerne präsentiert bekommen wollen. Hätten Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt, hätten Sie auch nicht so ohne weiteres mit einfachen Floskeln die Unterschiede, die es im Steuerbereich
zwischen den Vorstellungen der CDU und denen der
CSU gibt, übertünchen können. Ich werfe Ihnen gar
nicht vor, dass es in Ihren Vorstellungen Unterschiede
gibt. Aber das müsste man ehrlicherweise auch den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes sagen.
Ich nenne ein Beispiel: den Stufentarif; Herr Merz
hat ihn seit etlichen Wochen herausgekehrt. Herr Merz
spricht voller Begeisterung vom Stufentarif, der angeblich alles einfacher mache; da könne man dann auf dem
Bierdeckel ausrechnen, wie hoch die eigene Steuerpflicht sei.
({4})
Vorweg noch der Hinweis: Die Autoren Ihres Antrages sagen, nicht sie selbst würden einen Entwurf vorlegen, der ihren Grundsätzen folge. Sie fordern vielmehr:
Wir haben ein paar Grundsätze und die Bundesregierung
möge bitte schön einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorlegen.
Herr Meister hat in diesem Antrag zwei Teile meisterlich formuliert.
({5})
Teil A beinhaltet das steuerpolitische Grundkonzept der
Zukunft. Für die fernere Zukunft ist ein so genannter
Zieltarif mit bestimmten Stufen vorgesehen.
Dann gibt es einen konkreten Teil - er kommt überwiegend aus München -, ein Sofortprogramm.
({6})
- Der ist sogar viel besser,
({7})
weil er zum Teil richtig konkret ist. Da wird einfach gesagt: Es ist ein linear-progressiver Tarif vorgesehen,
weil er sich bewährt hat.
Ich bestätige ja Herrn Faltlhauser und auch der CSU
insgesamt gerne, dass sich ihre Darlegungen zur Steuerpolitik von dem, was Herr Merz der deutschen Öffentlichkeit verkündet, wohltuend unterscheiden. Da herrschen eine relative Nüchternheit, Konkretheit und sogar
Wirklichkeitsnähe. Auf die legt Herr Merz nicht so
furchtbar viel Wert;
({8})
aber man kann vielleicht nicht alles haben.
Ich will nur einmal in Erinnerung rufen, was Herr
Professor Faltlhauser schon vor ein paar Jahren zum
Stufentarif geschrieben hat, damals nicht mit Blick auf
Herrn Merz - dieser hatte sich diese Meinung damals
noch nicht zu Eigen gemacht -, sondern mit Blick auf
Herrn Uldall; das war aber dieselbe Soße. Unter der
Überschrift „Die Lösung kann nur sein: Weg mit dem
Stufengag“ wurde 2001 im „Handelsblatt“ ein schönes
Interview mit Herrn Faltlhauser veröffentlicht. Hieraus
ein Zitat:
Es wird immer wieder behauptet, ein Stufentarif sei
dem linear-progressiven Formeltarif überlegen,
weil er gerechter und einfacher sei. Dies ist schlicht
falsch: Der Stufentarif vereinfacht nichts, er ist
gleichzeitig weniger leistungsgerecht. Einige meinen nun, jeder Steuerpflichtige könne im Stufenmodell seine Steuerbelastung ohne Schwierigkeiten
selbst berechnen. Das ist reine Illusion.
({9})
Komplex, verwaltungsaufwändig und streitanfällig
ist allein die Ermittlung der Bemessungsgrundlage,
die Anwendung des Tarifs ist dagegen ein Rechenvorgang und mit Tabellen und Computerprogrammen leicht zu vollziehen.
Recht hat Herr Professor Faltlhauser!
({10})
Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie in den eigenen
Reihen noch Erklärungsbedarf haben; das ist ja in Ordnung. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie in den Darstellungen
nach außen so tun, als wüssten Sie schon, was Sie wollen.
({11})
Was ich Ihnen noch viel mehr vorwerfe - ich glaube,
ein großer Teil der Öffentlichkeit tut dies auch -, ist,
dass zwischen dem, was Sie an programmatischen Zielvorstellungen verkünden, und dem, was Sie tatsächlich
tun, eine sehr große Lücke klafft, ein großer Gegensatz
besteht. Seit Jahren bekennen Sie sich - solange er abstrakt ist - zu dem Grundsatz, Sonderregelungen und
Vergünstigungen im Steuerrecht und natürlich auch
Subventionen müssten abgebaut werden, damit man
Spielraum zur Senkung des Tarifes bekomme. Dem
kann man nur beipflichten.
({12})
Dass wir die Tarife seit 1998 kräftig gesenkt haben,
darauf hat Frau Hendricks schon hingewiesen; das brauche ich nicht zu wiederholen. Bloß, bei dem Abbau von
Steuervergünstigungen und der damit einhergehenden
Senkung von Tarifen
({13})
sind wir fast immer auf den erbitterten Widerstand der
Unionsfraktion gestoßen. Denn Sie haben immer mit
einem rein opportunistischen Verhalten nach interessierten Gruppen geschielt, weil Sie glaubten, das brächte Ihnen irgendetwas ein. Da die Zeit nicht ausreicht, Ihr gesamtes Sündenregister hier auszubreiten, nenne ich nur
wenige Beispiele.
({14})
Wenn man Ihren Antrag liest und sich dann daran erinnert, wie Sie sich vorher verhalten haben, reibt man
sich die Augen. Der Antrag liest sich geradezu wie eine
Beichte. Ich erinnere einmal an die heftigen Debatten,
die Sie geführt haben, als vor ein paar Jahren die so genannten AfA-Tabellen aktualisiert wurden, als man näher an die tatsächliche Nutzungsdauer von Investitionsgütern heranging und die Abschreibung in einigen
Bereichen über einen längeren Zeitraum erstreckt werden musste. Damals haben Sie massiv dagegen polemisiert.
Was liest man heute in Ihrem Antrag?
Abschreibungen können künftig nur noch in Höhe
eines aus Vereinfachungsgründen typisierten Werteverzehrs, der sich an der tatsächlichen Nutzungsdauer eines Wirtschaftsgutes bemisst, steuerlich berücksichtigt werden.
({15})
Das wollten wir schon damals. Dagegen sind Sie Sturm
gelaufen.
({16})
Noch schöner: Heute Vormittag hat der Kollege
Flosbach zum Alterseinkünftegesetz und zur nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften gesprochen.
({17})
Er hat ein richtig engagiertes Plädoyer dafür gehalten,
eine breite Palette von Möglichkeiten zu eröffnen. Es ist
sicherlich erfreulich, wenn man Vermögen bilden kann,
das man zur Alterssicherung heranziehen kann. Sie haben sich dafür ausgesprochen, es möglichst frei verwenden zu können.
Was steht in Ihrem Antrag? Dort heißt es zu den Vorsorgeanforderungen:
Die Abzugsfähigkeit wird beschränkt auf solche
Vorsorgesysteme, die ausschließlich der Alterssicherung dienen.
({18})
Reue, die aus dem Herzen kommt, klingt anders.
({19})
Das ist noch nicht einmal ein Lippenbekenntnis zu Ihren
eigenen Sünden. Sie anonymisieren die Sünden, es handelt sich um irgendwelche Sünden, die man keiner EinJörg-Otto Spiller
zelperson zuordnen kann. Gehen Sie in sich! Die Einsicht und die Einkehr folgen dann sicher.
({20})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Wir reden heute nicht über das Urheberrecht, aber wir
müssen einfach festhalten, dass alle Parteien außer der
PDS das Programm der FDP gnadenlos geplündert haben. Aus einer Steuersenkungspartei sind nun vier Steuersenkungsparteien geworden, die um die Wette die
Steuern senken wollen und den Staat ruinieren. Die FDP
steht nun ziemlich nackt da und kann nur noch mit dubiosen Schwarzgeldkonten in den Medien glänzen.
Ich will mich aber auf die CDU konzentrieren. Das
Steuerkonzept der CDU ist ein Konzept für Besserverdienende. Die CDU will die FDP-Wähler gewinnen und
hofft, dass die Arbeiter und Angestellten, die immer
noch CDU wählen, den dramatischen Kurswechsel nicht
bemerken. Die ehemalige Volkspartei CDU ist programmatisch auf dem Weg hin zu einer neoliberalen Partei,
die nur noch die Vermögenden dieser Gesellschaft im
Auge hat und dabei ist, die Wortverbindung „soziale
Marktwirtschaft“ aufzulösen.
({0})
Etliche Vorredner sind bereits auf das Gutachten der
Länderfinanzminister eingegangen. In diesem Gutachten der Finanzminister der Länder ist deutlich gemacht
worden, wohin der Trend der Steuermodelle von CDU,
CSU und FDP geht. Gewinner wären Steuerpflichtige in
derzeit hoher Progressionsstufe mit wenig Abzügen, also
Menschen, die sehr gut verdienen.
Verlierer wären dagegen Steuerpflichtige mit geringen Einkommen und hohen Abzügen oder hohen steuerfreien Einkünften. So soll der Bezieher eines zu versteuernden Einkommens in Höhe von 15 000 Euro von der
CSU - die genauen Unterschiede werden nachher in der
Aktuellen Stunde besprochen werden - um 286 Euro,
von der FDP um 507 Euro und von Herrn Merz bzw. der
CDU sogar um 787 Euro entlastet werden. Das hört sich
zunächst einmal sehr gut an.
Wenn man das aber mit den Entlastungen, die für Bezieher hoher Einkommen vorgesehen sind, vergleicht, ist
das nur ein Trinkgeld. Topverdiener mit einem Jahreseinkommen in Höhe von einer halben Million Euro sollen von der CSU um etwa 15 700 Euro im Jahr entlastet
werden. Herr Merz will sie um fast 32 000 Euro entlasten und die FDP sogar um fast 36 000 Euro.
Schauen wir uns doch einmal an, wie das Geld in
Deutschland verteilt ist. Schon im Jahre 2002 besaßen in
Deutschland 33 Milliardäre zusammen ein Nettogeldvermögen von 106 Milliarden Euro. Das ist eine Zahl,
die sich die meisten gar nicht vorstellen können. Auf die
reichsten 10 Prozent der Haushalte entfielen 50 Prozent
aller Geldvermögenswerte.
Die Umverteilung von unten nach oben ist bereits seit
vielen Jahren in vollem Gange. Leider hat trotz gegenteiliger Versprechen auch die rot-grüne Regierung daran
nichts geändert. Allein die Aussetzung der Vermögensteuer von 1997 bis 2003 führte zu einem Steuerausfall
von rund 50 Milliarden Euro. Das ist mehr als das Doppelte zum Beispiel des Haushaltes des Landes Berlin.
SPD und Grüne hatten den Bürgern vor der Wahl die
Wiedereinführung der Vermögensteuer versprochen;
doch sie haben ihr Versprechen bis heute nicht eingelöst.
Wir sind sehr gespannt, wann sie das endlich tun werden.
({1})
Die Konzepte von CDU, CSU und FDP sind auch aus
einem anderen Grund asozial zu nennen.
({2})
Sie entziehen dem Staat Geld, das er für die Erhaltung
von Städten und Gemeinden, zur Finanzierung von Bildung und Wissenschaft und zur Finanzierung von Ordnung und Sicherheit dringend braucht.
({3})
Eines haben Sie vergessen zu erklären: Würde das
CDU-Modell umgesetzt, müsste der Staat im ersten Jahr
einen Ausfall von 32 Milliarden Euro und mittelfristig
von 25 Milliarden Euro im Jahr verkraften. Leider haben
Sie uns hier nicht erklärt, welche Aufgaben der Staat
dann nicht mehr erfüllen soll, welche Aufgaben Sie
streichen wollen.
({4})
Wir als PDS sind gegen diese dauernde Umverteilung
von unten nach oben. Wir fordern unter anderem die
Wiedereinführung der Vermögensteuer. Wir erinnern die
SPD gerne an ihr Versprechen, das sie gegeben und auf
mehreren Parteitagen bekräftigt hat, und wir fordern eine
Erhöhung der Erbschaftsteuer auf Großvermögen.
Wir können nur hoffen, dass das Konzept von Herrn
Merz immer nur auf dem Bierdeckel stehen und nie umgesetzt werden wird; denn das wäre verheerend für die
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ortwin Runde, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
spannende Frage, die sich anlässlich der heutigen Debatte stellte, war die, wie die Diskussion in der CDU/
CSU weitergeht. Es war hochinteressant, dass mit Herrn
Merz und Herrn Faltlhauser hier zwei Protagonisten des
Streites anwesend waren.
In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass der
Kompromiss in der CDU zur Steuerpolitik richtig wacklig ist.
({0})
Hier ist schon daran erinnert worden, dass es bereits
Schlagzeilen des Inhalts gab, dieser Stufentarif sei eher
ein Gag. Ich fand es ganz elegant, wie Herr Faltlhauser
dieses Problem heute gelöst hat, indem er zu dem
Stufentarif sagte: Über meine Aussagen von damals will
ich nicht mehr reden, aber bezogen auf Kirchhof gilt:
Dessen Tarif, diese Flat Tax, die eine ähnliche Qualität
wie der Stufentarif hat, ist wirklich absurd. - So kann
man Kollegen aufs Allerschönste abohrfeigen. Das war
in der Tat interessant.
({1})
Die gesamte Öffentlichkeit hat ja sehr gespannt auf
den 6. März gewartet,
({2})
den Tag, an dem sich CDU und CSU auf ein gemeinsames Steuerkonzept einigen wollten. Das, was dabei herausgekommen ist, liegt uns nun vor.
({3})
Es ist interessant, wie man diese Ergebnisse charakterisieren kann. Dazu hat Herr Solms zu Recht gesagt, dass
sie kein konkretes Sofortprogramm darstellen, sondern
dass sie eher Thesencharakter haben. Das müsste bei
Ihnen von der CDU/CSU ja eigentlich auf heftigen Widerstand stoßen. Aber in der Einleitung Ihres Antrags
gibt es bestimmte Hinweise. Da steht:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf: ... Ein steuerpolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln und sich dabei von folgenden Gedanken leiten zu lassen.
Dieses Sofortprogramm, das von Herrn Faltlhauser als
sehr konkret beschrieben worden ist, besteht also nur aus
Gedanken.
({4})
Wie konkret das Ganze ist, wird deutlich, wenn man
sich Ihre Aussagen zur Gewerbesteuer ansieht; denn
daran merkt man auch, wie klar Ihre Konzeption ist. Da
heißt es:
Die Kommunen könnten neben der heute bereits
bestehenden Beteiligung an der Einkommensteuer
auch an der Körperschaftsteuer beteiligt werden. In
einem solchen Beteiligungsmodell müssten ...
Weiter heißt es, es
könnten Hebesätze angelegt werden.
({5})
Über die Zerlegungsmaßstäbe könnte ein gerechter
interkommunaler Ausgleich geschaffen werden.
Ich muss Ihnen sagen: Das sind, wenn man an die Not
der Betroffenen in den Kommunen denkt, wirklich Luftnummern, für die diese wenig dankbar sind.
({6})
Hieran wird sehr deutlich, dass nichts geklärt ist. Lieber Herr von Stetten, wie sollen wir ein solches Sofortprogramm umsetzen? Was sollen wir davon umsetzen?
Wie kann man so etwas umsetzen? Das geht doch gar
nicht. Das ist kein Programm oder Konzept, sondern das
Gegenteil davon.
({7})
Ganz gespannt bin ich darauf, wie sich Ihr Dissens in
der Europadebatte auflösen wird. Man muss ja sagen,
dass der Steuerstreit in der CDU/CSU immer unterschiedliche Protagonisten hat. Erst waren es Faltlhauser
und Merz. Hier kam es zu all den qualifizierten Aussagen von Faltlhauser zu diesem Konzept. Dann hat
Seehofer Faltlhauser zu dessen Entlastung abgelöst. Daraufhin kam es zur Auseinandersetzung zwischen
Stoiber und Merkel, was den Steuerwettbewerb und das
Steuerdumping in Europa angeht. Man ist ja richtig gespannt darauf, wie sich diese Situation auflösen wird.
In dieser Europadiskussion fand ich den Ansatz ganz
interessant, nicht nur bei der Mehrwertsteuer, sondern
auch bei den direkten Steuern eine Harmonisierung herbeizuführen. Dazu wird man sicherlich in einem ersten
Schritt die Bemessungsgrundlagen der Unternehmensteuern festlegen müssen. Dann kann man darüber nachdenken, ob man Korridore für Mindest- und Höchstsätze
braucht, um auch hier zu einer gewissen Harmonisierung
zu kommen.
Zum Steuerwettbewerb sage ich also Ja. Es darf aber
nicht passieren - hier stimme ich sowohl Stoiber als
auch Bundeskanzler Schröder zu -, dass andere Länder
ihre Infrastrukturinvestitionen nicht über Steuereinnahmen finanzieren können und darauf hoffen, dass das
Dritte tun. Das geht nicht. Das muss man ganz deutlich
sagen.
({8})
Ich schätze aber, dass diese Länder, was ihre Ausgabenotwendigkeiten angeht, nach und nach unter Druck
geraten werden und dann dankbar wären, wenn der
fürchterliche und vernichtende Wettbewerb zwischen
den kleinen der neu beitretenden Mitgliedstaaten etwas
geregelt würde. Das ist meines Erachtens ein wichtiger
Ansatz. Ich glaube, es wäre gut, die Harmonisierung des
europäischen Steuerrechts so anzugehen.
Ich habe heute von Herrn Merz erwartet, dass er in
seiner Rede das kleine Problem des Konfliktes mit Herrn
Seehofer auflöst. Wie will er den Steuerzahlern 10 bis
16 Milliarden Euro zurückgeben und gleichzeitig insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme fast
100 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen? Er hatte zu
der Verschiebung der Steuerbelastung von direkten zu
indirekten Steuern gesagt:
Ich werde darauf zum Schluss noch einmal zu sprechen kommen.
Ich hätte erwartet, dass er dieses Rätsel noch in dieser
Sitzung und noch in der gleichen Rede auflöst. Da kam
aber nichts.
({9})
Man hätte sich auch unter Fachleuten darüber unterhalten müssen, was 100 Milliarden Euro an Mehrwertsteuerprozentpunkten ausmachen. Wenn man 8 Milliarden
Euro für einen Prozentpunkt ansetzt, wären wir plötzlich
bei einer Mehrwertsteuer von 28 Prozent. Das ist schon
richtig verwegen!
Herr Solms, ich habe mit Freude und einem gewissen
Behagen gesehen, wie die CDU-Kollegen bei Ihrer Rede
immer kräftig mit dem Kopf nickten, als Sie sagten, bei
dem Gewerbesteuerersatz, den Sie andenken, solle man
auch an höhere Umsatzsteueranteile denken. Da stellt
man dann fest: Gut, wenn diese Umsatzsteuer schon einmal verteilt wird - zwischen Herrn Merz und Ihnen -,
kann man das ja richtig großzügig, in luftigen Dimensionen machen.
({10})
Dabei muss man eines feststellen: Was nicht geht - da
komme ich auf das zurück, was Herr Poß gesagt hat -,
ist, den Bürgern bei der Einkommensteuer Erleichterungen zu versprechen, später aber zu sagen: Ich ersetze die
Gewerbesteuer, die die Unternehmen heute bezahlen,
durch Einkommensteueranteile.
({11})
Sie kommen dann auch noch mit dem Umsatzsteueranteil. Welche Verteilungswirkung das hat, das ist ja sehr
deutlich.
Man merkt, meine Damen und Herren von der CDU/
CSU, dass das Ganze eine sehr einseitige Lastenverteilung mit sich bringt. Wenn man die nicht geschulterten
Probleme der Ablösung der Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme von der Erwerbstätigkeit mitbetrachtet, dann, stellt man fest, ist die Gefahr des Sozialstaatsabbaus bei solchen Konzepten allemal und immer gegeben. Man kann also insgesamt zu dem Ergebnis
kommen:
({12})
Der Berg hat gekreißt, es ist ’ne Maus draus geworden
({13})
und diese Maus schlägt Rad, macht Luftnummern.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2745 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c und Tagesordnungspunkt 16
auf:
24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
- Drucksachen 15/2887, 15/2945 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit
und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung
- Drucksache 15/2948 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen
- Drucksache 15/2946 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 27. März 2003 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Tadschikistan zur Vermeidung der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steu-
ern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 15/2925 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 9. September 2002 über
die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Strafgerichtshofs
- Drucksache 15/2723 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Rechtsfragen hinsichtlich der Rechtsstellung von Angehörigen der Bundeswehr bei
Kooperationen zwischen der Bundeswehr und
Wirtschaftsunternehmen sowie zur Änderung
besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/2944 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Entsorgung von Gewerbeabfall unbürokratisch und einfach gestalten
- Drucksache 15/2010 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({6}), Hans-Michael Goldmann,
Joachim Günther ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bürgernähe durch mehr Wettbewerb bei der
Fahrzeugüberwachung
- Drucksache 15/2751 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Weis, Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk
Fischer ({9}), Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU, der Abgeordneten Franziska EichstädtBohlig, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker
Beck ({10}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Joachim
Günther ({11}), Horst Friedrich ({12}),
Eberhard Otto ({13}), Dr. Wolfgang
Gerhardt und der Fraktion der FDP
Planung und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für den Bereich beiderseits
der Spree zwischen Marschall- und Weidendammer Brücke vorlegen
- Drucksache 15/2981 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Undine Kurth ({15}), Rainder
Steenblock, Volker Beck ({16}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Potenziale des Deutschlandtourismus in der erweiterten Europäischen Union konsequent nutzen
- Drucksache 15/2980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({17})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2003 - Einzelplan 20 - Drucksache 15/2885 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
16 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Tierseuchengesetzes
- Drucksache 15/2943 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({18})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. März
2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Türkei über die Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung, insbesondere des Terrorismus und der organisierten Kriminalität
- Drucksache 15/2724 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({20})
- Drucksache 15/2994 Berichterstattung:
Abgeordnete Tobias Marhold
Norbert Geis
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2994,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuordnung der Gebühren in
Handels-, Partnerschafts- und Genossenschaftsregistersachen ({21})
- Drucksache 15/2251 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23})
- Drucksache 15/2993 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Andrea Astrid Voßhoff
Jerzy Montag
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2993, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Gesundheit und
Soziale Sicherung ({24}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann,
Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und
Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimitteln
- Drucksachen 15/1568, 15/2604 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Wodarg
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1568 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Äußerungen aus der CSU zur Finanzierungslücke von rund 100 Milliarden Euro in den
Konzepten der CDU zur Reform der Sozialund Steuersysteme
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Waltraud Lehn, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es reiche nicht aus, neu zu denken, sondern man müsse
auch sehen, ob das Neue finanzierbar sei. - Mit dieser
Feststellung hat Horst Seehofer die abenteuerlichen Reformpläne der CDU kommentiert.
({0})
- Das ist eine gute Frage.
({1})
Die CDU sieht im Einzelnen Folgendes vor: 40 Milliarden Euro für die Kopfpauschale im Gesundheitswesen, 22 Milliarden Euro für veränderte Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung, 10 Milliarden
Euro bei der Steuerreform, 12 Milliarden Euro für eine
geplante Mindestrente, 18,6 Milliarden Euro für eine Erhöhung des Kindergeldes. Das ergibt zusammen den
stolzen Betrag von 102,6 Milliarden Euro.
Nach der wohlwollenden Rechnung von Herrn
Seehofer sind es 100 Milliarden Euro - diese Zahl hat er
selber ins Gespräch gebracht -, die Sie für Ihr wohlklingendes und mit großem Getöse verkündetes Reformpaket benötigen. Finanziert werden soll das Ganze durch
Steuermittel. Woher das Geld dafür kommen soll - im
Klartext: wem man es wegnimmt -, das bleibt Ihr Geheimnis.
({2})
Ich behaupte nicht, dass Sie es nicht wissen; ich werfe
Ihnen nur vor, dass Sie es uns nicht sagen, jedenfalls weder Herr Merz noch Frau Merkel.
Was auf den ersten Blick wie ein Sozialprogramm
aussieht, ist in Wahrheit eines der schlimmsten und rigidesten Umverteilungsprogramme, das man in diesem
Hause je gesehen hat,
({3})
jedenfalls wenn es so kommen sollte. Das wäre allerdings verheerend. Bestensfalls könnte man Ihre Überlegungen als Lug und Trug einstufen. Aber das sehen Sie
natürlich anders. Auf den ersten Blick verteilt die CDU
großzügigst Geld, das sie aber nicht hat und das es nicht
gibt. Sie müssten es sich irgendwoher holen. Aber wie
und von wem?
Sie müssten die Mehrwertsteuer in Deutschland um
13 Prozentpunkte erhöhen.
({4})
Der Mehrwertsteuersatz in Deutschland würde auf
29 Prozent steigen. Das wäre ein absoluter Spitzenwert
in Europa.
({5})
- Ich habe großes Verständnis dafür, dass Sie das aufregt. - Entscheidend ist: Diese angeblich sozialen Geschenke begünstigen zu über 80 Prozent die Hoch- und
Besserverdienenden in unserer Gesellschaft.
({6})
Das Geld für diese Merkel-Gunst würde nämlich bei allen eingesammelt werden.
({7})
Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen und
komme zunächst einmal zur Gesundheitspolitik. Die
CDU - wohlgemerkt: nicht die CSU - will hier einen
Systemwechsel. Die gesetzliche Krankenversicherung
soll nicht länger über einkommensabhängige Beiträge,
sondern über so genannte Kopfpauschalen finanziert
werden,
({8})
die für alle Versicherten - unabhängig davon, wie viel
sie verdienen - gleich hoch sind. Im Klartext heißt das:
Herr Schrempp zahlt genauso viel wie seine Sekretärin.
({9})
Diese Kopfpauschale wurde mit 264 Euro beziffert.
({10})
Dass Sie das der Bevölkerung nicht sagen können, ist
doch völlig klar.
({11})
Um das soziale Ungleichgewicht, das durch dieses
Konzept entstehen würde, wenigstens etwas wieder auszugleichen, will die CDU Einkommensschwachen Zuschüsse aus Steuermitteln zahlen.
({12})
Was kostet das denn? Das würde 40 Milliarden Euro
kosten. Woher nehmen Sie das Geld?
({13})
Sie greifen den Leuten in die Tasche, indem Sie beispielsweise - etwas anderes bleibt Ihnen kaum übrig die Mehrwertsteuer erhöhen.
({14})
Sie nehmen und verteilen es also so, dass derjenige mit
hohem Einkommen viel weniger bezahlt, als er bezahlen
könnte. Den Ausgleich schaffen Sie dadurch - Sie wollen den ganz Armen ja etwas geben -, dass Sie es bei allen wieder einkassieren.
Ich will ein zweites Beispiel nennen, und zwar aus der
Rentenpolitik.
Frau Kollegin, Sie müssen sich mit Ihrem Beispiel
bitte sehr kurz fassen, da Sie Ihre Redezeit bereits überzogen haben.
Ich lasse das Beispiel weg,
({0})
da die nachfolgenden Redner dazu durchaus ebenfalls
Stellung nehmen können.
({1})
Alles in allem: Sie sind sich in der Sache nicht einig.
Sie verschweigen, wie Sie das Ganze finanzieren wollen.
Der einzige, der bei Ihnen den Mut hat, dies zu thematisieren, ist Herr Seehofer.
({2})
Ich sage Ihnen: Das Bild, das Sie der Öffentlichkeit vermitteln, ist von Streitereien und Uneinheitlichkeit geprägt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Sie versuchen, Ihre innere Zerrissenheit zu verschweigen, zu kaschieren und der Öffentlichkeit Handlungsfähigkeit vorzutäuschen. Das hat dieses Land nicht
verdient.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Es wirft wirklich ein bezeichnendes
Licht auf diese Regierungskoalition, dass ihr offenbar
nichts Besseres für eine Aktuelle Stunde einfällt, als die
Unterschiede in der Sozialpolitik von CDU und CSU zu
thematisieren.
({0})
Es wäre übrigens ganz nett gewesen, wenn aus Ihren
Reihen einige Leute mehr zu der von Ihnen beantragten
Aktuellen Stunde gekommen wären. Ich finde es fast erbärmlich, wie schlecht Sie hier - auch quantitativ - vertreten sind.
({1})
Statt die Probleme dieses Landes zu lösen, was eine
Regierung zumindest einmal versuchen sollte, beschimpft die Koalition die Opposition dafür, dass CDU
und CDU um die richtigen Konzepte dafür ringen, wie
man den Menschen bei Krankheit, Gebrechlichkeit und
Alter dauerhaft und verlässlich wieder Sicherheit geben
kann.
({2})
Die linke Seite dieses Hauses sucht offenbar deshalb
ihr Heil in der Diffamierung der Union, weil sie selbst
das Vertrauen in ihre eigene Problemlösungskompetenz
schon längst verloren hat.
({3})
Wer wie Sie in der Regierung sitzt und keine eigenen
Lösungen anzubieten hat, wie er dieses Land aus der
schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krise seit der
Nachkriegszeit herausführen kann, der kann seine Zuflucht nur noch in Beschimpfungen der Opposition suchen.
({4})
Nehmen Sie nur für einen Augenblick die volkswirtschaftlichen Rahmendaten zur Kenntnis, vor deren Hintergrund die Finanzierungsprobleme der Sozialsysteme
in der Tat gelöst werden müssen. Die amtierende Bundesregierung, die heute bei dieser wichtigen Frage ebenfalls nicht sehr stark vertreten ist, hat es zum ersten Mal
in der Geschichte der Europäischen Union geschafft,
dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen jedes
Menschen in unserem Lande im unteren Drittel der europäischen Tabelle angelangt ist. Während die CDU/CSU
jahrzehntelang am Bau des europäischen Hauses mitgearbeitet hat,
({5})
sind wir durch die Leistungen der Damen und Herren auf
der linken Seite dieses Hauses in eine Kellerwohnung
eingezogen.
({6})
Die Menschen trauen es einer Regierung, die schon damit überfordert ist, die Rücknahme von Bierdosen zu organisieren oder LKWs auf Autobahnen zu zählen,
({7})
einfach nicht mehr zu, dass sie uns aus diesem Keller herausführt.
Wenn es Ihnen, meine sehr verehrten Damen und
Herren auf der linken Seite dieses Hohen Hauses, wirklich darum gehen würde, den ramponierten Sozialstaat
wieder auf ein festes Fundament zu stellen und das Vertrauen in den Sozialstaat und seine sozialen Systeme
wiederzugewinnen, dann hätten Sie sich bei Ihrem Antrag nicht hinter Äußerungen des Kollegen Seehofer in
einem Interview vor zweieinhalb Wochen verstecken
müssen. Sie hätten dann nämlich in jeder Sitzungswoche
einen Anlass gefunden, diese aktuellen Probleme auf das
Tableau dieses Hauses zu bringen.
({8})
In jeder Parlamentswoche bietet die demographische
Entwicklung in Deutschland hinreichend Anlass dazu.
An jedem x-beliebigen Tag eines jeden Jahres werden in
Deutschland über 1 000 Kinder zu wenig geboren, um
unseren Bevölkerungsaufbau auch nur halbwegs in der
Balance zu halten. Jeder, der auch nur die vier Grundrechenarten beherrscht, weiß, dass bei einer solchen demographischen Entwicklung die jetzigen umlagefinanzierten
Sozialsysteme einfach nicht mehr zu finanzieren sind
und nicht mehr funktionsfähig sind.
({9})
Das ist eine simple mathematische Erkenntnis. Man
kann sie entweder - das haben wir gemacht - zum Ausgangspunkt von Reformmodellen machen oder man
kann sie einfach nach dem Motto ignorieren: Wir rasen
mit unserem Wagen auf den Abgrund zu und machen
erst einmal die Augen zu oder beschweren uns über die
Länge des Bremsweges. - Das ist keine Lösung.
({10})
Natürlich ist der Umbau unseres Sozialsystems, eines
Transfersystems, in dem jährlich Hunderte von Milliarden hin und her bewegt werden, nicht einfach. Er birgt
Risiken und kostet auch etwas. Es ist vollkommen richtig, wenn auf die Finanzierungsschwierigkeiten seriös
hingewiesen wird. Der Unterschied zwischen uns und
Ihnen ist allerdings: Wir benennen diese Probleme, um
dafür nach Lösungen zu suchen und um Lösungen zu
ringen.
({11})
Sie benennen die Probleme, um Ihre Untätigkeit in dieser Frage zu rechtfertigen.
({12})
Die jüngere Generation von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in unserem Lande hat genug davon, dass
die Schröders und Münteferings in der Politik sie immer
wieder dazu zwingen, jahrzehntelang in Umlagesysteme
einzuzahlen, von denen sie genau wissen, dass sie sich
im Alter darauf nicht verlassen können. Sie geben uns
für das Alter keine Sicherheit mehr.
({13})
- Jetzt gibt es sogar Zwischenrufe von der Regierungsbank. Es ist eigentlich die Aufgabe der Koalitionsabgeordneten, gute Zwischenrufe zu machen.
Die jungen Menschen in unserem Lande wissen: Wer
Monat für Monat umgelegt wird, der hat keine Mittel
mehr, um am Ende des Monats etwas für seine private
Vorsorge zurückzulegen.
({14})
Wir als junge Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion
haben im letzten Jahr gemeinsam unsere Positionen zur
Generationengerechtigkeit vorgelegt. Wir haben in Eckpunkten dargelegt, wie wir den Ausstieg aus der Umlagefalle schaffen können.
({15})
Wir brauchen weniger Vollkaskodenken, mehr Wahlfreiheit, mehr Eigenverantwortung und sozial ausbalancierte
Prämienmodelle in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung. Wir Jüngeren wollen die größeren Lasten
einer immer älter werdenden Bevölkerung gerne mittragen. Wir müssen diese Lasten aber so organisieren und
verteilen können, dass die jüngere Generation unter dieser Last nicht zusammenbricht.
({16})
Herr Kollege, bitte schauen Sie auf die Uhr.
Ich werde nur noch meinen Schlusssatz sprechen,
Frau Präsidentin: Wenn SPD und Grüne nicht willens
oder in der Lage sind, diese Probleme einer Lösung zuzuführen, dann sollten sie diese Regierungsbank
schnellstens frei machen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Krings, ich möchte gerne auf Ihre Ausführungen eingehen, denn so einfach können Sie es sich nicht machen.
({0})
Die gesamte Union, sowohl die CDU/CSU-Führung als
auch diejenigen, die in den jeweiligen Fachbereichen arbeiten, weiß genau, dass bei allen zentralen Projekten,
über die wir in dieser Republik diskutieren, in ihren eigenen Reihen ein ganz großer Dissens besteht. Das betrifft die Rentenreform - die haben wir heute Morgen behandelt; Sie haben sie abgelehnt, obwohl in all Ihren
Parteiprogrammen steht, dass die nachgelagerte Besteuerung kommen muss -,
({1})
die Gesundheitsreform, die Pflegeversicherung und die
Steuerpolitik.
({2})
Es ist kein Wunder, dass Herr Seehofer der CDU die
so genannte 100-Milliarden-Frage gestellt hat.
({3})
Schauen wir uns die einzelnen Punkte an, die Sie vorgeschlagen haben. Wir haben heute Vormittag unter anderem den Vorschlag zur Steuerpolitik beraten. In diesem
Vorschlag tauchen 10 Milliarden Euro auf, die das
Ganze kostet. Das betrifft aber nur einen ganz kleinen
Teil. Das, was Herr Merz vorgeschlagen hat, kostet, wie
wir alle wissen, 37 Milliarden Euro. Wenn man ehrlich
ist, dann muss man das sagen. Das tun Sie aber nie.
Alle wissen, dass die Union Forderungen zum Kindergeld erhoben hat, die zwar gut klingen, aber mit über
18 Milliarden Euro nicht finanzierbar sind. Sie wissen
auch, dass die Gesundheitsprämie nach Aussagen mancher 40 Milliarden Euro kostet; Herr Kauder hat aber
von „nur“ 27 Milliarden Euro gesprochen. Sie haben
Vorschläge zur Mindestrente mit einem Volumen von
rund 12 Milliarden Euro gemacht. Weiterhin haben Sie
Anrechnungszeiten für die Kindererziehung vorgeschlagen, die rund 22 Milliarden Euro kosten. Wir erleben bei
jeder Haushaltsberatung in diesem Haus, dass die Union
mit Vorschlägen glänzt, wofür man noch mehr Geld ausgeben kann. Summa summarum sind es nicht 100 Milliarden Euro; es ist weitaus mehr, womit die Vorschläge
der Union die öffentlichen Haushalte belastet würden.
Sie haben auch inhaltliche Differenzen; Herr Merz hat
darauf hingewiesen. Es ist nicht so, dass die rot-grüne
Regierungskoalition erfunden hätte, dass es Schwierigkeiten in Ihren Reihen gibt.
({4})
Sie sagen selbst, dass Sie Riesenschwierigkeiten haben.
Herr Merz sagt wörtlich:
Was mir bei der CSU und bei Stoiber auffällt, ist,
dass sie in Bayern den Prozess der Reformen unglaublich beschleunigen und in der Bundespolitik
eher auf der Bremse stehen.
({5})
Ich verstehe die CSU in diesem Punkt nicht. Vielleicht hat man das Gefühl, man müsse in der Opposition ein bisschen gefälliger sein. Diese Zeiten sind
aber vorbei.
({6})
Da kann ich ihm nur beipflichten. Denn das, was Sie machen, ist eine Täuschung der Öffentlichkeit.
({7})
Jeder, der sich die Mühe macht, nicht nur die Überschriften der Zeitungen zu lesen, sondern auch das Kleingedruckte zu verfolgen, stellt doch fest, dass die Union bei
keinem einzigen Projekt, das die Zukunft dieses Landes
prägen soll, eine einheitliche Auffassung hat, und dass
die Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, was auf sie zukommt. Das ist doch der Punkt.
({8})
Es ist schon überraschend, wenn Herr Merz sagt, dass
die CDU ihre Parteitagsbeschlüsse habe und diese der
Maßstab seien. Er rät ganz dringend, keinen Millimeter
hinter diese Beschlüsse zurückzuweichen. Er gibt an,
dass er immer gesagt habe: Wenn man meint, dass man
am Ende eines solchen Reformprozesses, wie auch immer er ausschaut - das wissen wir noch nicht -, Geld
braucht, dann muss man über die indirekten Steuern reden, zu denen auch die Mehrwertsteuer gehört - er
spricht auch von Mehrwertsteuer und nicht von Umsatzsteuer, verehrte Herren; Sie haben das vorhin bei der
Kollegin der SPD moniert -, auch wenn sich einige
Leute darüber aufregen.
Wenn Herr Merz und andere Vertreter der Union der
Auffassung sind, dass die CDU und die CSU ein echtes
Strukturproblem haben - besonders hinsichtlich der ungelösten Machtfrage an der Spitze -, dann kann ich ihnen nur empfehlen, den Mut aufzubringen, mit ihren
Konzepten in Bayern anzutreten. Das aber tun Sie nicht.
({9})
Ich wünsche mir etwas mehr Ehrlichkeit in der Debatte, statt so zu tun, als kosteten Ihre Vorschläge kein
Geld. Tatsächlich bedeuten sie eine enorme Belastung
der Bürger und Bürgerinnen. Letztendlich haben Sie den
Weg zu einer wesentlich höheren Mehrwertsteuer eingeschlagen. Die Lösung kann aber nicht darin bestehen,
Reformkonzepte vorzulegen, die mit Steuererhöhungen
finanziert werden sollen.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei der Vorbereitung auf diese Debatte sind mir spontan
einige Gedanken in den Sinn gekommen. Wenn man das
Thema einer Aktuellen Stunde erfährt, dann fragt man
sich zunächst, ob sie sachlich begründet ist oder ob sie
einen politisch-taktischen Hintergrund hat.
({0})
Was die heutige Aktuelle Stunde angeht, erscheint
mir Ihre Absicht ziemlich durchsichtig. Ich glaube, Sie
verfolgen damit vor allem den Zweck, die von der FDP
beantragte Stunde zur Haltung der Bundesregierung zur
allgemeinen Wehrpflicht und zu Plänen für ein soziales
Pflichtjahr auf morgen Nachmittag an den Rand der Tagesordnung zu verdrängen.
({1})
Dafür gibt es gute Gründe. Die Grünen, die nicht
müde werden, öffentlich die Abschaffung der Wehrpflicht zu fordern, müssen eingestehen, dass sie in dieser
Frage zahnlose Tiger sind. Bei der SPD würden die offenen Konfliktlinien hinsichtlich des sozialen Pflichtjahres
deutlich, die zwischen Struck, Schily und Zypries auf
der einen Seite und Renate Schmidt und Teilen der Fraktion auf der anderen Seite bestehen. Sie haben insofern
eine berechtigte Scheu davor, dass die Aktuelle Stunde
zu diesem Thema an prominenter Stelle auf der Tagesordnung erscheint. Deswegen glaube ich, dass die heutige Aktuelle Stunde vor allen Dingen taktisch begründet
ist.
({2})
Aber auch wenn man Ihr Motiv kennt, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, so staunt man und fragt
sich, ob Ihnen nichts Besseres eingefallen ist als dieses
mühsam konstruierte Thema. Gibt es keine anderen aktuellen Probleme, über die wir gemeinsam diskutieren
müssten?
({3})
Ich schlage Ihnen einige Themen für eine Aktuelle
Stunde vor: Was macht die Koalition falsch, dass sich
die rot-grünen Wachstumsprognosen nie erfüllen? Das
ist ein interessantes Thema.
({4})
Was macht sie falsch, dass im vierten Jahr in Folge die
Maastricht-Kriterien verfehlt werden?
({5})
Diese interessanten Themen wollen Sie nicht erörtern.
({6})
- Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist Ihnen leider
nicht gegeben, Frau Kollegin Lehn. - Stattdessen soll
über die Reformen und die damit verbundenen Kosten
diskutiert werden.
Bevor wir über die möglichen Kosten reden, die mit
der Durchführung von Reformvorschlägen der Opposition verbunden wären, ist zu diskutieren, welche Kosten
sich bereits daraus ergeben haben bzw. noch ergeben
werden, dass die Reformen durch die rot-grüne Koalition nicht oder nur halbherzig durchgeführt werden.
({7})
Lassen Sie uns die Wachstumsraten in den Jahren
2001 bis 2003 betrachten. Sie hatten ein Wachstum von
2,75 Prozent in 2001, von 2,25 Prozent in 2002 und
2 Prozent in 2003 prognostiziert.
({8})
Das tatsächliche Wachstum betrug 0,6 Prozent, 0,2 Prozent und minus 0,1 Prozent. Da ein Wachstum von
1 Prozent ein Mehr von rund 5 Milliarden Euro an Steuereinnahmen und 1,5 Milliarden Euro an Sozialabgaben
bedeutet, läuft dies auf ein Minus von 31,5 Milliarden Euro in den Steuer- und Sozialkassen innerhalb von
nur drei Jahren hinaus. Dass diese Rechnung stimmt,
wird auch an dem Rekorddefizit von fast 40 Milliarden Euro deutlich, das Sie dieses Jahr im Haushalt erzielen werden, obwohl Sie doch mittlerweile längst den
Weg zur Haushaltskonsolidierung bzw. zu einem ausgeglichenen Haushalt einschlagen wollten.
({9})
Das sind die Istkosten Ihrer Politik, in denen Ihr tatsächliches Versagen zum Ausdruck kommt. Das müssen
Sie sich vorhalten lassen.
({10})
Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich die Situation in 2004 leider nicht verbessern wird.
({11})
Nun zu Herrn Seehofer: Er beziffert die Kosten auf
100 Milliarden Euro. Ich unterstelle einmal, dass dieser
Angabe eine richtige Schätzung der Zahlen zugrunde
liegt. Es sind in jedem Fall Bruttozahlen, denen Eigenfinanzierungseffekte aus induziertem Wachstum gegenüberstehen könnten.
({12})
- Ihre Skepsis ist durchaus berechtigt. Es kommt allerdings sehr darauf an, wie man dabei vorgeht.
Es steht leider zu befürchten, dass die von der CDU
vorgeschlagene halbherzige Steuerreform mit einer Nettoentlastung von 10 Milliarden Euro ähnlich verpuffen
wird wie die Stufen der rot-grünen Steuerreform. Wir
meinen dagegen, dass eine umfassende Steuerreform,
die durch einen konsequenten Abbau von Subventionen
gegenfinanziert wird, echte Wachstumseffekte zeitigen
wird. Die FDP hat als einzige Fraktion einen Vorschlag
für eine solche Steuerreform in den Deutschen Bundestag eingebracht.
Noch ein paar Anmerkungen zum Thema Gesundheitssystem - das ist mit 45 Milliarden Euro der größte
Brocken -: Ich glaube, jedem ist mittlerweile klar, dass
ein Kurieren an den Symptomen nicht mehr ausreicht.
Im Zusammenhang mit dem GMG ist das ganz offensichtlich geworden. Ich bin überzeugt, dass das Unionskonzept einer Kopfprämie ebenso in die Irre führt wie
der rot-grüne Vorschlag einer Bürgerversicherung. Eine
Bürgerversicherung ist eine „Zwangs-AOK“, die frisches Geld in ein marodes System bringen soll. Bei der
Kopfprämie
({13})
handelt es sich immerhin um einen Ansatz, der geeignet
ist, die fatale Wirkung der Lohnkostenbindung bei der
Finanzierung der sozialen Sicherung aufzuheben, allerDr. Heinrich L. Kolb
dings um den Preis einer Einheitsversorgung mit hohem
Transferbedarf für den sozialen Ausgleich. Auch die Demographiefestigkeit ist hier nur unzureichend gegeben.
Zudem werden der Wettbewerb und die Wahlmöglichkeiten eingeschränkt.
Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten sind aber zentrale Gestaltungselemente eines zukunftsfähigen Gesundheitswesens. Deswegen schlagen wir, die FDP, für
das Gesundheitswesen eine Pflicht zur Versicherung der
Basisversorgung mit der Möglichkeit vor, den darüber
hinausgehenden Versicherungsschutz frei nach eigenen
Bedürfnissen zu gestalten. Der Versicherte soll seinen
Versicherer, den Umfang des Versicherungsschutzes und
die Leistungserbringer frei wählen können. Das führt zu
mehr Wettbewerb auf allen Ebenen und zu einer Verbesserung der Effizienz, steigert die Versorgungsqualität
und reduziert den Zuschussbedarf deutlich.
({14})
Ich bin leider am Ende meiner Redezeit. Nur noch so
viel: Die Kollegin Lehn hat gesagt, es reiche nicht aus,
neu zu denken. Noch weniger reicht allerdings aus, nicht
neu zu denken. Das ist das, was wir Ihnen vorwerfen
müssen.
({15})
Ich fordere Sie auf: Treten wir in einen Wettbewerb der
Konzepte ein! Die FDP hat zu allen Zweigen der sozialen Sicherung gute Vorschläge gemacht, über die es sich
nachzudenken lohnt.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Klaus Kirschner, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst ist dem Kollegen Horst Seehofer zu danken, dass
er den - hoffentlich von Erfolg gekrönten - Versuch unternimmt, seinen Fraktionskolleginnen und -kollegen der
CDU das Einmaleins der Grundrechenarten - ein mal
eins ist eins und nicht zwei - beizubringen. Lieber Herr
Kollege Kolb, Luftbuchungen sind nun einmal nicht unwichtig, wie Sie glauben. Das, was der Kollege Seehofer
zu Recht angeprangert hat, sind nämlich Luftbuchungen.
Herr Seehofer kommt zu dem Ergebnis, dass sich aus den
CDU-Vorschlägen für einen Kopfprämienausgleich im
Gesundheitswesen - darauf ist schon hingewiesen worden -, eine Verbesserung der Kindererziehungszeiten
und der Mindestrente, eine Kindergelderhöhung sowie
eine Steuerreform ein nicht gedeckter Scheck in Höhe
von mehr als 102 Milliarden Euro pro Jahr ergibt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Sie versprechen den Bürgerinnen und Bürgern das Blaue vom
Himmel, als ob von dort die Milliarden nur so herunterregneten.
Dass so viele Nullen auf keinen Bierdeckel passen,
erschwert offensichtlich der CDU und insbesondere dem
Kollegen Merz die Berechnung und den Durchblick. Besonders augenfällig werden Ihre Luftbuchungen bei der
vom CDU-Parteitag in Leipzig beschlossenen Kopfpauschale für die gesetzlich Krankenversicherten. Unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Einzelnen - an diesem Beispiel wird das deutlich - sollen alle
gesetzlich Krankenversicherten gleich hohe Kopfprämien zahlen. Nach Ihrer Ideologie wollen Sie, dass die
Putzfrau im Krankenhaus genauso viel wie der Chefarzt
an Kopfprämie zahlt.
({0})
- Sie haben vielleicht insoweit Recht, dass der Chefarzt
gar kein Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung
ist. Dann hat er sich natürlich außerhalb des gesetzlichen
Krankenversicherungssystems gestellt.
Im Prinzip bedeutet das, was Sie wollen, dass Geringverdienende und Familien mit Kindern stärker belastet
und dass Besserverdienende entlastet werden. Dies ist
Umverteilung von unten nach oben, nichts anderes. Das
wird auch dadurch nicht besser, dass der Erfinder dieser
Ideologie, der ehemalige Bundespräsident und frühere
Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor
Herzog, der im Übrigen vermutlich als Beihilfeberechtigter und Privatversicherter ein besonders schillerndes
Beispiel dafür ist
({1})
- das muss auch einmal gesagt werden -, dass diejenigen, die anderen ständig Wasser predigen, selbst Wein
trinken,
({2})
für den Ausgleich 41 Milliarden Euro aus Steuermitteln
mobilisieren will. Gleichzeitig versprechen Sie den Bürgerinnen und Bürgern Steuersenkungen. Sie werden
schon dadurch wortbrüchig, dass Sie den bisherigen Arbeitgeberbeitrag dem Lohn zuschlagen und damit die
Steuer erhöhen. Über den weiteren Steuerbedarf, den Sie
zur Finanzierung Ihrer unsozialen Umverteilung benötigen, schweigen Sie sich geflissentlich aus.
Ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes die Finanzierung des Gesundheitswesens in die jährlichen Auseinandersetzungen um die Verteilung des Bundeshaushalts
hineinziehen? Das Gesundheitswesen steht dann in
Haushaltskonkurrenz beispielsweise zu Bildung, Forschung, Straßenbau oder Bundeswehr. Man braucht
keine prophetische Gabe, um vorauszusagen, dass die
Finanzierung der notwendigen Gesundheitsausgaben
von Jahr zu Jahr unsicherer werden wird.
Auch deshalb ist Horst Seehofer voll zuzustimmen,
der in einem Beitrag für die Zeitschrift „die Ersatzkasse“
- sie alle können das nachlesen - das Kopfprämienmodell als gesundheitspolitischen Irrweg bezeichnet hat. Er
kommt dort zu dem Fazit:
Es ist absurd, die Probleme des demographischen
Wandels dadurch lösen zu wollen, dass gerade die
Familien durch die Umstellung des Finanzierungsmodells der GKV besonders belastet werden. Dieser falsche Ansatz stünde einer adäquaten Lösung
diametral entgegen.
({3})
- Lieber Herr Kollege, das sagt der Kollege Seehofer.
Wo er Recht hat, hat er Recht. Sie haben eben Unrecht,
weil Sie von den Dingen keine Ahnung haben.
({4})
Man muss bedenken, dass insbesondere Familien und
Geringverdienende durch den Steuerausgleich zu Bittstellern staatlicher Almosen werden, deren Höhe von der
jeweiligen Haushaltslage abhängig ist. Sie halten es offenbar für eine moderne Gesundheitspolitik, dass ein
Drittel der Menschen zu Bittstellern des Staates wird.
Das ist Ihre Art der Modernisierung.
({5})
Im Übrigen sollten Sie sich an der Schweiz ein Beispiel
nehmen. Da können Sie sich einmal anschauen, wie modern eine Gesundheitspolitik ist, die ein Drittel der Bevölkerung zu Bittstellern des Staates macht!
Die Lösung komplexer Probleme passt nun einmal
nicht auf einen Bierdeckel. Alle Vorschläge Ihrerseits
zeigen eines: Sie haben von der alten Machterhaltungspartei kohlscher Prägung hin zu einer an Problemlösungen orientierten Inhaltspartei noch einen weiten Weg zurückzulegen.
({6})
Ich rate Ihnen eines - das gilt auch für Sie, Herr Kauder -:
Hören Sie auf den Kollegen Horst Seehofer!
({7})
Stampfen Sie Ihr Kopfprämienmodell ein, auch wenn es
durch das dann wirksam werdende EU-Wettbewerbsrecht einen einzigen interessanten Aspekt besitzt, nämlich die Abschaffung der Monopole und Anbieterkartelle
Kassenärztlicher bzw. Kassenzahnärztlicher Vereinigungen und der bisherigen Krankenhausbedarfsplanung!
Trotzdem: Die Kopfprämie ist - um es mit Horst Seehofers Worten zu sagen - ein gesundheitspolitischer Irrweg, da sie das Solidarprinzip umkehrt. Sie können aber
an diesem Modell festhalten und damit unsere
Wahlchancen weiter erhöhen.
({8})
- Ja, sicher. - Ich rate Ihnen eines: Sie sollten einmal auf
Ihren früheren Generalsekretär Heiner Geißler hören. Er
sagte zu Ihrem Kopfprämienmodell Folgendes, und zwar
an Sie selbst gerichtet: „Wer so stiehlt, den wählt man
nicht.“
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wie weit muss man eigentlich auf den Hund gekommen sein, dass man sich nicht mehr anders zu helfen
weiß, als eine Aktuelle Stunde so zu verdrehen? Ihnen
geht es nicht um die Themen, die diesem Land wirklich
am Herzen liegen. Herr Kollege Kolb hat bereits auf die
Winkelzüge der Geschäftsordnung hingewiesen. Allein
das lässt tief blicken.
({0})
Liebe Frau Kollegin Scheel, es ist schon ein besonderes Beispiel von Chuzpe oder Scheinheiligkeit, dass Sie
hier „So eine Gemeinheit; wir müssen uns dringend über
die CDU/CSU unterhalten“ gesagt haben, während
gleichzeitig in großen Lettern „Meuterei gegen Ausbildungsabgabe“ zu lesen ist. In dem entsprechenden Artikel
ist davon die Rede, dass Rot-Grün tief zerstritten ist und
dass bis zu 20 Abgeordnete der Grünen die SPD-Pläne ablehnen. Erklären Sie uns doch einmal hier, im Parlament,
was bei Ihnen los ist!
({1})
Eine große westdeutsche Tageszeitung hat es auf den
Punkt gebracht:
Dem Bundesfinanzminister fliegt wieder einmal der
Haushalt um die Ohren. Der Aufschwung findet
zwar statt, leider aber anderswo. Deutschland verliert immer mehr Arbeitsplätze und die Stimmung
im Volk ist mies wie nie.
Der „Spiegel“ spricht vom „Alles-paletti-Kanzler“ und
andere Zeitungen bezeichnen den Bundeskanzler
Schröder mittlerweile als „Schönwetteronkel“. Vom großen Reformator ist nichts mehr übrig geblieben und
seine Mehrheit, die Koalitionsfraktionen, setzt hier eine
Aktuelle Stunde an, um sich über die Probleme und die
inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen CDU und
CSU zu unterhalten.
({2})
Mitleiderregend ist das Bild, das Sie abgeben!
({3})
Ich habe noch ein anderes Beispiel. Es gibt das
schöne Bild: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt
mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst. - Das sollten Sie nicht vergessen. Das ist genau Ihr Problem.
({4})
Ich kann Ihnen auch sagen, warum wir uns über die
Zukunft der sozialen Sicherungssysteme unterhalten:
weil es natürlich eine der spannendsten Angelegenheiten
des Standorts Deutschlands ist, sich einmal mit dem Paradoxon, mit dem Dilemma des deutschen Gesundheitssystems auseinander zu setzen. Eigentlich würde die
demographische Entwicklung zu einer steigenden Nachfrage nach Gesundheitsgütern führen. Es handelt sich
dabei eigentlich um einen Wachstumssektor in Deutschland. Wir waren einmal die Apotheke der Welt. Wir haben einmal Industrieunternehmen gehabt, die medizinischen Fortschritt entwickelt und geprägt haben. Unter
Ihrer Regierung sind wir dazu gekommen, dass wir nur
noch kopieren.
({5})
Wir haben keine Möglichkeiten mehr. Ihr einziges Problem ist, dass Sie mit den aktuellen Mitteln der Gesundheitspolitik nur noch Kostendämpfung betreiben. Sie
machen genau das Gegenteil von Wachstumsanschub.
({6})
Sie versuchen alles, um die Kostensteigerungen irgendwie aufzuhalten bzw. die Kosten zu senken.
Dann kommen Sie auch noch mit einem Ladenhüter.
Der Begriff der Kopfpauschale kommt doch nicht von
der CDU oder der CSU. Es ist Ihr Berater, der Regierungsberater Rürup, der in Ihrem Auftrag diese Dinge
entwickelt.
({7})
Im Gegensatz dazu sagen Sie dann: Die Bürgerversicherung löst das Problem. - Sie haben bis heute nicht verstanden, dass durch neue Beitragszahler, die Sie durch
die Bürgerversicherung bekommen würden, sofort entsprechende Ansprüche induziert würden. Wenn wir uns
die Krankenkassen anschauen, dann stellen wir fest: Es
gibt Schwierigkeiten; es müssen Verwaltungsreformen
durchgeführt werden. - Sie haben bis heute niemandem
erklären können, wieso Ihr Konzept dagegen lautet: Wir
machen eine Einheitskasse.
({8})
Sie haben bis heute noch nicht eingestanden, dass mit
der Bürgerversicherung die Schwankungen, die wir momentan im System der gesetzlichen Krankenversicherung haben und mit denen wir uns herumschlagen müssen, letztlich institutionalisiert würden.
Ich sage klipp und klar: Der Weg, den Sie gehen wollen, führt zwar zu mehr Mitteln - das ist unbestritten -,
aber die wesentlichen Strukturprobleme, die wir im Bereich des Gesundheitswesens haben, werden nicht gelöst.
({9})
Da vergeben Sie sich eine Chance für die Zukunft.
({10})
Im Gegensatz zu Rot-Grün sind wir von der CDU/
CSU uns sehr wohl darüber im Klaren, welche Probleme
es im Lande gibt. Sie waren im Übrigen noch nie so groß
wie nach fünf Jahren schröderscher Willkürpolitik.
({11})
Weil wir wissen, dass die Probleme nur in verantwortlicher Teamarbeit gelöst werden können, werden wir das
genauso machen. Wir vergeuden unsere Zeit auch nicht
mit überflüssigen Debatten zu den innerparteilichen Diskussionen der anderen Seite. Wir werden uns allein
schon deshalb einigen und ein konkretes Konzept vorlegen, weil uns eines klar ist: Ihre Zeit ist abgelaufen zum Glück für Deutschland.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich verstehe gar nicht, warum Sie am Thema der Aktuellen Stunde herumkritteln. Es ist gut gewählt oder mindestens wichtig.
({0})
Es geht in der Demokratie doch darum, die alternativen
Konzepte öffentlich zu vertreten. Wenn wir jetzt einmal
Ihre Konzepte unter die Lupe nehmen, dann ist das, wie
ich finde, kein Grund zu sagen: Fällt Ihnen nichts Besseres ein? - Wir sollten über die Alternativen reden.
({1})
Das machen wir heute zum Teil. Da braucht sich niemand aufzuregen. Das gehört dazu. Das ist gegenüber
der Öffentlichkeit nur richtig.
Lassen Sie uns also einmal über einige Sachen reden,
auch wenn das in der Aktuellen Stunde nur begrenzt
möglich ist. - Die Frage aufzuwerfen, wie finanzierbar
die Reformkonzepte sind, ist notwendig. Sie, Herr
Dr. Kolb, haben auf Maastricht hingewiesen. Da muss
man doch auch schauen, ob Reformkonzepte Finanzlücken reißen oder inwieweit sie eine Dynamik entfachen,
die dafür sorgt, dass sie sich selbst finanzieren. Auch
darüber können wir streiten.
Es ist aber schon interessant, zu sehen, dass das Steuerreformkonzept der Union in einem ersten Schritt eine
Nettoentlastung von 10 Milliarden und dann bis zu 30 bis
40 Milliarden verspricht und parallel dazu in einem Vorschlag zur Gesundheitsreform der soziale Ausgleich
durch Steuern finanziert werden soll. Sie müssen doch
verstehen, dass sich die Leute Sorgen machen. Wenn Sie
nämlich auf der Steuerseite ein solches Loch reißen,
kann ja für den sozialen Ausgleich nicht mehr viel übrig
bleiben. Das hat Herr Seehofer angesprochen. Danach
hat er gefragt. Sie haben aber keine Antwort darauf geliefert. Das ist ein Problem.
({2})
Sie sollten nicht so polemisch darüber hinweggehen,
sondern sich bewusst machen, dass es sich hierbei um
eine wahlentscheidende Auseinandersetzung handelt.
({3})
Sie müssen nämlich sagen, ob Sie einen sozialen Ausgleich auch finanzieren können. Sie können ja nicht auf
der einen Seite etwas abstrakt durch Steuern finanzieren
wollen, auf der anderen Seite aber über steuerliche Nettoentlastungen in einem hohen zweistelligen Bereich reden.
Ich fordere Sie auf, erst einmal ehrlich und handlungsleitend über eine Vereinfachung des Steuersystems
und mehr Transparenz zu reden. Das werden wir jedenfalls tun. Wenn wir uns in diesen Punkten einig sind,
können wir darüber sprechen, ob es überhaupt Raum für
Nettoentlastungen gibt. Wir müssen zunächst beim Subventionsabbau vorankommen. Wir sind da bescheidener
und versprechen nicht so viel Nettoentlastung. Ich finde,
dass Ihre Aussagen insbesondere mit Blick auf Ihre Gesundheitsreform sehr widersprüchlich sind.
Lassen Sie uns des Weiteren noch einen Punkt in Ihrem Konzept zur Gesundheitsreform näher betrachten.
Es ist hier gerade zu Recht gesagt worden, dass das System der pauschalen Kopfprämien keine Erfindung der
Herzog-Kommission ist, sondern - das ist richtig - von
Herrn Rürup als Alternative zum Lauterbach-Modell
vorgeschlagen worden ist. Der Hauptkritikpunkt, der
mich umtreibt, ist die Absicherung und die Art und
Weise des sozialen Ausgleichs; ich hatte ja eben schon
auf die Finanzierungslücke hingewiesen.
Darüber hinaus stellt ein weiterer Punkt erst recht
eine Schwäche in Ihrem Konzept dar. Hier ist gerade von
Herrn Fahrenschon die Mär erzählt worden, Rot-Grün
strebe eine Einheitskasse an. Das ist kompletter Unsinn.
({4})
Wir wollen definieren, was gesetzlich krankenzuversichern ist. Darum geht es uns. Wir wollen aber dann einen Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten
Krankenkassen. Sie dagegen beziehen 10 Prozent der
Bevölkerung nicht in die Solidargemeinschaft ein, indem Sie sie im privaten System belassen und lassen die
restlichen 90 Prozent der Bevölkerung den Solidarausgleich bezahlen. Die Überwindung dieser ungerechten
Trennung von privat und gesetzlich versichert haben Sie
in Ihrem Herzog-Reformmodell noch nicht vollzogen.
Auch in dieser Frage wird es zu einer wahlentscheidenden Auseinandersetzung zwischen uns kommen. Sie verhalten sich an dieser Stelle wettbewerbsfeindlich, indem
Sie eine ganz bestimmte Klientel schonen.
({5})
Zum Abschluss möchte ich Folgendes sagen: Der
Kollege Krings hat hier ja sehr vollmundig davon gesprochen - ich habe dabei alle Diskussionen des heutigen Tages im Auge -, was alles nötig ist, um die Zukunft
unseres Landes zu meistern. Stichworte waren: Generationengerechtigkeit, Vermeidung von Vollkaskomentalität. Der Kollege Merz ruft hier - das ist wohl nicht zu
kritisieren - dazu auf, mehr Mut zu haben und der Bevölkerung auch ehrlich zu sagen, was die Reformen kosten und welche Zumutungen mit ihnen verbunden sind.
In Bezug auf diesen Punkt haben Sie - das muss ich einmal ganz deutlich sagen - heute Morgen bei den Diskussionen in diesem Hause komplett versagt.
({6})
Der Herr Storm, der wirklich ein guter Rentenexperte ist,
hat nämlich als Begründung der ablehnenden Haltung
gegenüber unserem Konzept in seinem Redebeitrag geschimpft, dass wir die Rentner belasten. Ja, wie verhält
es sich denn jetzt mit dem Mut zur Offenheit? Wie wollen Sie denn die nachgelagerte Besteuerung als faires
und generationengerechtes Projekt, bei dem die heute
Aktiven entlastet werden sollen, damit sie Vorsorge betreiben können, seriös darstellen? Sie schlagen sich jetzt
schon in die Büsche, um 2005, wenn die Steuerbescheide kommen, dann wohl sagen zu können, Sie hätten
nichts damit zu tun, dass jetzt die Rentner - im Übrigen
die, denen es besser geht - auch steuerlich ihren Beitrag
leisten müssen. Sie haben offensichtlich nicht den Mut,
der Bevölkerung zu sagen, dass sie an gewissen Stellen
auch belastet wird. Da haben Sie heute Morgen komplett
versagt.
Lieber Herr Krings, kämpfen Sie einmal in Ihren
eigenen Reihen für diesen Mut. Dann können Sie sich
wieder hier vorne hinstellen; sonst lassen Sie das bitte
bleiben.
Danke.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hans-Ulrich Krüger, SPDFraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Nach Art. 20 unseres Grundgesetzes ist die
Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Ungeachtet aller parteipolitischen
Unterschiede haben viele maßgebliche Kräfte aus diesem Hause hieraus das Gebot einer sozialen Politik abgeleitet und den modernen Sozialstaat überhaupt erst ermöglicht.
Von diesem Gebot des Grundgesetzes haben sich offenbar Teile der CDU in verantwortungsloser
({0})
und gleichzeitig uns alle beschämender Art und Weise
verabschiedet.
({1})
Laut Friedrich Merz - immerhin dem Finanzexperten der
Bundestagsfraktion der CDU/CSU - ist nämlich Umverteilung nichts anderes als der Versuch, Leistung ohne
Gegenleistung zu bekommen, und bekommt derjenige
am meisten Zustimmung, der am lautstärksten nach Umverteilung ruft und Faulheit belohnen will. Ich frage Sie,
meine Damen und Herren von der CDU, wie Sie mit dieser Arroganz, mit dieser Verachtung für sozial benachteiligte Menschen fertig werden können. Sind Sie etwa
alle so abgehoben, dass Sie nicht mehr wissen, wie sich
eine Sozialrentnerin fühlt, die Wohngeld beantragen
muss, um ihre Miete bezahlen zu können, wie sich die
allein erziehende Mutter fühlt, wenn eines ihrer Kinder
auf Klassenfahrt gehen will und dafür das Geld nicht
reicht?
Die Aussagen des Herrn Merz beschimpfen Menschen, die zum größten Teil unschuldig in soziale Not
geraten sind und die eben nicht die Chance gehabt haben, am Wohlstand zu partizipieren.
({2})
Diesen Menschen zu helfen ist für uns Sozialdemokraten
Ausdruck unseres Sozialstaatsverständnisses und keine
Belohnung von Faulheit.
({3})
Wenn Sie dies nicht so sehen, wenn Sie diese Grundfesten des Sozialstaates infrage stellen wollen, dann sagen
Sie es, aber bitte nicht nur uns, sondern auch den Menschen draußen im Lande.
Unser Steuersystem ist nach dem Motto „Starke
Schultern tragen mehr als schwache“ aufgebaut. Das ist
auch gut und richtig so. Es ist Ausdruck sozialer Gerechtigkeit.
({4})
Wenn daher ein progressiver Einkommensteuertarif dafür sorgt, dass der Stärkere deutlich mehr zahlt als der
Schwache, und zwar über 36 Prozent hinaus, so ist das
gerecht, sowohl bei der Steuer als auch beim Krankenversicherungsbeitrag gemäß Einkommen und nicht etwa
gemäß einer Kopfpauschale, bei der Geringverdiener
und gut Verdienende gleich viel zu zahlen haben.
Wenn es eine Ungerechtigkeit in diesem Zusammenhang überhaupt gab, dann die, dass Einkommensmillionäre ihre Steuerschuld in der Vergangenheit in unverantwortlicher Art und Weise auf null reduzieren konnten.
({5})
Dies haben wir abgestellt. Gerechtigkeit bedeutet aber
auch, den Menschen kein X für ein U vorzumachen und
sie ehrlich darüber aufzuklären, was man will. Um es mit
den Worten des schon mehrfach erwähnten Horst
Seehofer zu sagen: Es reicht nicht aus, neu zu denken,
man muss auch sagen, ob das Neue finanzierbar ist.
Man muss daher auch darstellen: Woher kommen die
40 Milliarden Euro für die Kopfpauschale im Gesundheitswesen? Woher kommen die 22 Milliarden Euro für
die veränderten Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung? Woher kommen die heute schon mehrfach
angesprochenen 10 Milliarden Euro für die Steuerreform? Woher kommen die 12 Milliarden Euro für die geplante Mindestrente? Woher kommen die 18,6 Milliarden Euro für die Kindergelderhöhung? Wer hier derart
leichtfertig mit mehr als 100 Milliarden Euro umgeht
und gleichzeitig sagt - wie von der FDP soeben
ausgeführt -, die Debatte betreffe Peanuts, der hat die
Zeichen der Zeit nicht erkannt; er handelt zynisch und
kaltschnäuzig.
({6})
Wir jedenfalls, die SPD, und offenbar auch die CSU
haben bislang noch nicht gehört, woher die CDU diese
mehr als 100 Milliarden Euro konkret nehmen will. Daher nennen wir das, was hier veranstaltet wird, unseriös
und unsozial. Hören Sie bitte durchaus auf Ihren Kollegen Seehofer, der dies bemerkt und angeprangert hat.
Mit sozialer Gerechtigkeit hat es nämlich überhaupt
nichts zu tun, wenn steuerpolitische Wolkenkuckucksheime, wie wir das heute Morgen gehört haben, in die
Welt gesetzt werden, ohne dass man sagen kann, welcher
Bürger, welche Bürgerin die Zeche hierfür bezahlen
muss.
Wer den Menschen weismachen will, ein einfaches
Steuerrecht sei gleichzeitig ein gerechtes, der muss sich
auch über die Konsequenzen im Klaren sein, nämlich
darüber, dass die Abschaffung steuerpolitischer Notwendigkeiten der vergangenen Jahre nur dazu führen
würde, dass der Starke entlastet und der Schwache belastet wird.
Mit der SPD wird es daher keine Diskussion über eine
weitere Absenkung des Spitzensteuersatzes und keine
Diskussion über eine Schwächung des Staates geben.
Wer glaubt, hier noch Spielraum zu haben, der irrt und
der muss klar und deutlich sagen, dass er einen schwachen Staat haben will, bei dem sich nur Reiche, privat
Versicherte und Vermögende die notwendigen Leistungen bei Krankheit oder im Alter einkaufen können.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Einerseits unfinanzierbare Vorschläge zu unterbreiten
und andererseits von einer Neiddebatte zu reden, das
passt nicht nur nicht zusammen, das ist auch zynisch und
hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Kehren Sie, meine
Damen und Herren von der CDU, daher zurück zu der
Erkenntnis, dass es das Gebot sozialer Gerechtigkeit ist,
das diese Republik zusammenhält.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kolb, Sie haben vorhin gesagt, Sie erwarten von uns,
dass wir nachdenken. Es stimmt: Wir werden für das
Nachdenken und nicht bloß für die Anwesenheit bezahlt.
Ich hoffe daher, dass sich alle - sowohl auf der Koalitionsseite als auch auf der Oppositionsseite - Gedanken
machen.
Es ist eine grundsätzliche Aufgabe der Politik - also
auch der Opposition -, Konzepte für die Gestaltung dieses Landes zu entwickeln.
({0})
Es ist völlig legitim, dass man bei der Entwicklung von
Konzepten seiner Fantasie freien Lauf lässt und sich
nicht von vornherein nur auf das Machbare beschränkt.
Man kann sich völlig neue Welten denken. Auch das ist
legitim. Aber man muss in der Politik unterscheiden
zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was in
die Realität umgesetzt werden kann. Ich wünsche mir
manchmal auch das Traumhaus am Meer und gleichzeitig im Gebirge, ein Haus mit Autobahnanschluss, aber
doch völlig ruhig gelegen. Diese Fantasien hat jeder.
Aber er behält sie für sich und äußert sie nicht.
Sie müssten uns eigentlich dankbar sein, dass wir Ihnen heute eine solche Steilvorlage geben, Ihre Konzepte
darzustellen. Das ist doch nichts Negatives. Wenn Sie
von Ihrer Konzeption überzeugt sind, dann müssten Sie
es doch eigentlich begrüßen, dass Ihnen die Regierungskoalition die Möglichkeit gibt, Ihre Konzepte darzustellen.
({1})
Da Ihre Fantasien nichts mit der Realität zu tun haben, betreiben Sie eine schlechte Politik. Sie widersprechen sich gegenseitig. Sie sagen an einem Tag A und am
anderen Tag B. Sie haben keine Konzeption für die Familienpolitik und auch keine Konzeption für die Sozialund Gesellschaftspolitik. Als Familienpolitikerin muss
ich Ihnen sagen, dass Sie noch dem 19. Jahrhundert verhaftet sind, obwohl wir bereits im 21. Jahrhundert angekommen sind. Sie sollten die Lebenswirklichkeit von
Familien nicht ignorieren.
Es gibt unterschiedliche Lebensformen. Wenn ich mir
Ihre Konzeption anschaue, dann muss ich feststellen,
dass bei Ihnen nur ein Familienmodell im Mittelpunkt
steht. Alle anderen Formen des Zusammenlebens sind
für Sie nicht existent. Sie vertreten ein rückwärts gewandtes Familienbild.
({2})
- Vielleicht sollten Sie sich Ihre Beschlüsse, die Sie verabschiedet haben, einmal genau anschauen. Dann können wir miteinander darüber reden.
({3})
Ihr Familienbild ist geprägt von einem erwerbstätigen
Vater und einer nicht berufstätigen Mutter - sie übt
höchstens einen Minijob aus -, die Kinder betreut. Ich
schätze diese Form des Familienlebens und jedem muss
es freistehen, so zu leben. Aber das ist nur eine Form des
Zusammenlebens. Man kann ein Lebensmodell nicht
zum Maßstab für alle Menschen machen. Jeder von Ihnen müsste sich einmal fragen, ob die Menschen tatsächlich so leben, wie Sie es sich vorstellen.
Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt, die Familie in
das Zentrum Ihrer Politik zu stellen und zu fördern. Sie
hätten eine Chance gehabt; stattdessen haben Sie Luftbuchungen gemacht. Wir haben, nachdem wir 1998 die Regierung übernommen haben, die Familie als Aufgabe der
Politik begriffen und gesagt: Familien müssen finanziell
entlastet werden. Damit stand in der ersten Periode unserer Regierungszeit die finanzielle Entlastung der Familie
im Mittelpunkt. Ich nenne nur am Rande die Erhöhung
des Kindergeldes, das BAföG usw.
Seit 2002 sind wir dabei, strukturelle Verbesserungen
für Familien zu schaffen. Wir sind mit 4 Milliarden Euro
in die Ganztagsbetreuung von Schulkindern eingestiegen. Sie haben Jahrzehnte gewartet und nichts gemacht.
Marlene Rupprecht ({4})
Wir werden weiter die Betreuung der unter Dreijährigen
fördern, damit Kinder unter drei Jahren Chancen bekommen, mit anderen Kindern zusammen zu sein und sich zu
entwickeln. Das heißt, in den Bereichen Erziehung, Bildung und Betreuung haben wir ein Zukunftsprogramm
auf den Weg gebracht.
Man sollte sich einmal anschauen, was Sie dort tun,
wo Sie es könnten. Ich komme aus Bayern. Welchen
Kahlschlag gab es dort seit der Landtagswahl!
({5})
Dazu muss ich Ihnen sagen: Die Schulpolitik wurde
ohne Konzeption heruntergefahren. In der Jugendpolitik
hat man die Förderung der Jugendverbände so reduziert,
dass das nur noch ein Sterbegeld für ein langsames Sterben ist, aber nicht zum Überleben reicht. Wenn ich die
Konzeptionen für Veränderungen in der Bürokratie anschaue,
({6})
dann kann ich dazu nur sagen: gnadenloses Vorgehen;
unsozial bis zum Gehtnichtmehr. Es ist wie ein Feigenblatt, wenn gesagt wird: Wir sind mit den Reformen, die
die CDU will, nicht einverstanden; wir sind sozial. - Ich
sage immer: Schaut auf das, was die sagen, und schaut
auf das, was die tun!
({7})
In Bayern wird zwar anders geredet, aber nach der Linie
der CDU gehandelt: Es wird in diesem Land ein sozialer
Kahlschlag durchgeführt.
Sie hätten heute eine Chance gehabt; die haben Sie
nicht genutzt. Sie haben nicht dargestellt, was Sie wollen
und wie Sie dies finanzieren wollen.
({8})
Oben auf der Tribüne sitzen Bürgerinnen und Bürger.
Die wollen wissen, woher Sie die für die Umsetzung Ihrer Vorschläge nötigen 102 Milliarden Euro nehmen und
wem Sie sie aus der Tasche holen, um tatsächlich umzuverteilen.
({9})
Stehen Sie doch zu dem, was Sie produziert haben! Ich
sehe Feigheit und Sprachlosigkeit auf Ihrer Seite.
Frau Kollegin!
Vielleicht schaffen Sie es woanders.
Danke schön.
({0})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Peter Dreßen, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
Morgen haben wir im Plenum eine Darbietung der besonderen Art erleben dürfen. Lassen Sie mich mit einem
Zitat beginnen:
Liebhabern politischer Schmierenstücke muss man
am heutigen Donnerstag die Bühne Bundestag
empfehlen. Dort steht der erste Akt eines Werkes
mit dem Titel Versuchte Volksverdummung an, inszeniert und aufgeführt … von der Merkel-StoiberTruppe.
({0})
Diese Ankündigung, welche die Darbietung der
Union im Plenum trefflich beschreibt, konnten die Bürgerinnen und Bürger heute Morgen der „Süddeutschen
Zeitung“ entnehmen. „Die schwarzen Gaukler“, wie es
im Leitartikel von Susanne Höll weiter heißt, haben
heute im Bundestag gegen das Alterseinkünftegesetz gestimmt und gegen den Entwurf von Rot-Grün gewettert.
Auf der nächsten Sitzung des Bundesrates wird die
Union dann aber brav die Hand heben. Schließlich handelt es sich bei dem Alterseinkünftegesetz nicht nur um
die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr setzen wir auch um, was die Union einst
vehement gefordert hat.
({1})
Sie denken, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger mit
ihrer Taktiererei hinters Licht führen können. Das funktioniert aber nicht, weder beim Alterseinkünftegesetz
noch bei all den anderen populistischen Vorschlägen, mit
denen Sie in regelmäßigen Abständen an die Öffentlichkeit treten. Denn ebenso regelmäßig bleiben Sie die Antwort auf die Frage schuldig, wie Sie Ihre generösen Versprechungen eigentlich finanzieren wollen.
Mit dieser Aktuellen Stunde wollten wir Ihnen heute
die Chance geben, den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, wie Sie die Quadratur des Kreises hinbekommen
wollen.
({2})
Herr Krings, es ging nicht um Beschimpfung, sondern
um Aufklärung. Das haben Sie schlichtweg missverstanden.
({3})
Sie hätten hier aufklären können, woher Sie die
100 Milliarden Euro, die Sie für die Umsetzung Ihrer
Vorschläge benötigen, nehmen und wen Sie damit belasten. All diese Chancen hatten Sie heute, leider haben Sie
sie nicht genutzt.
Herr Seehofer sagte: „Es reicht nicht, wenn man neu
denkt, sondern man muss auch sagen, ob das Neue finanzierbar ist.“ - Sie haben mit Ihren Vorschlägen nichts
Neues gedacht. Sozialabbau und Besserstellung der
eigenen Klientel überzeugen nicht als innovative Ideen.
Sie wollen die sozial ungerechte Kopfpauschale einführen. Die Förderung einer sozialen Schieflage ist Ihnen
40 Milliarden Euro wert. Durch die finanzielle Förderung der Erziehungsleistung in der Rente und durch
mehr Kindergeld zementieren Sie ein antiquiertes Frauenbild. Wichtiger als die materielle Förderung sind für
die jungen Menschen, insbesondere für die jungen
Frauen, Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Dafür
hat die Bundesregierung die richtigen Weichen gestellt.
Mit unserem 4-Milliarden-Programm sind wir auf dem
richtigen Weg. Wir wollen, dass Familie und Arbeit miteinander vereinbar sind.
({4})
Sie wollen das Geld an den Bedürfnissen junger Menschen vorbei ausgeben, und das in einer Höhe von fast
21 Milliarden Euro.
Mit den Ausgaben für Mindestrente und Steuerreform
kommen wir, summa summarum, auf einen Betrag von
102 Milliarden Euro. In dieser Summe fehlen noch die
täglichen Schnellschüsse. Frau Kollegin Scheel ist auf
die Haushaltsberatungen bereits eingegangen. Wenn wir
all das verwirklichen wollten, was Sie uns in den Haushaltsberatungen vorschlagen - Ausbau sechsspuriger
Autobahnen und vieles andere -, bräuchten wir immense
Summen. Die Mittel für Vorschläge wie flächendeckende Lohnkostenzuschüsse sind in dem Betrag von
102 Milliarden Euro ebenso wenig enthalten.
Sie richteten mit fadenscheinigen Argumenten einen
Lügenausschuss ein, in dem Sie uns Wahlbetrug unterstellten.
({5})
Da Sie 2006 keine Regierungsverantwortung übernehmen werden, werden Sie auch nicht in die Verlegenheit
kommen, sich wegen nicht eingehaltener Versprechen
erklären zu müssen. Das hätten Sie aber heute hier tun
können. Schon als Kind hatte ich Zweifel, wie sich Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus der Grube ziehen konnte. Diese Zweifel reichen bei weitem nicht an
meine Bedenken heute heran, wenn Sie mir erklären, wie
Sie Ihre Vorschläge finanzieren wollen.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ({0})
- Drucksache 15/2816 ({1})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2})
- Drucksache 15/2997 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl-Josef Laumann
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/3003 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Otto Fricke
Volker Kröning
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({4}) zu dem Antrag der Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verabschiedung eines Optionsgesetzes
- Drucksachen 15/2817, 15/2997 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Josef Laumann
Zu dem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden heute über den Arbeitsmarkt. Dabei
ist es besonders wichtig, dass wir diejenigen in ihre
Schranken weisen, die für Pessimismus in Deutschland
sorgen: die Schlechtredner, die Miesmacher, die Reformverhinderer und die Chaosbeschwörer.
({0})
Das sind diejenigen, die Wachstum und Fortschritt verhindern wollen. Sie dürfen und werden unsere Reformen
nicht aufhalten.
({1})
Klar gesagt: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe - um sie geht es beim Optionsgesetz - ist
längst überfällig. Wir haben über Jahrzehnte hinweg den
Fehler gemacht, zwei Fürsorgesysteme, ein staatliches
und ein kommunales, nebeneinander, teilweise sogar gegeneinander - jedenfalls waren sie nicht aufeinander abgestimmt - erhalten zu haben … Damit muss Schluss
sein, Arbeitslosen- und Sozialhilfe müssen zusammengelegt werden.
Die Menschen müssen endlich aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit vermittelt werden. Wir dürfen uns nicht
darauf konzentrieren, Arbeitslosigkeit zu finanzieren. So
haben es über Jahrzehnte hinweg alle gefordert, aber leider sind keine ausreichenden Fortschritte erzielt worden.
({2})
Wir müssen das Prinzip des Förderns und des Forderns
anwenden. All dies geschieht mit dem, was wir gesetzgeberisch auf den Weg gebracht haben.
Wir beraten jetzt über das Kommunale Optionsgesetz.
Das gehört natürlich in den Gesamtzusammenhang des
Themas, über das ich gerade gesprochen habe. Ich will
aber ebenso klar sagen: Das Kommunale Optionsgesetz
hängt nicht untrennbar an dem, was wir kurz und bündig
als Hartz IV bezeichnen. Das Schicksal des Kommunalen Optionsgesetzes ändert nichts an unserem Fahrplan
für die Zusammenlegung der beiden Fürsorgeleistungen
Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
({3})
Ich sage das so klar und deutlich, weil ich feststelle, dass
die Opposition das anscheinend nicht auseinander halten
kann oder vielleicht auch nicht will.
({4})
Manche jedenfalls versuchen, die Diskussion über die
konkrete technische und organisatorische Ausgestaltung
des Systemwechsels zum 1. Januar 2005 zu missbrauchen. Sie missbrauchen sie dazu, die Lösung einer
zwischen Bundesagentur und Kommunen geteilten Trägerschaft infrage zu stellen, die wir im Vermittlungsausschuss vereinbart haben. Diese Regelung der geteilten
Trägerschaft steht seit Anfang dieses Jahres im Gesetz.
Daran haben sich alle zu halten, ob ihnen das nun passt
oder nicht. Am liebsten wäre mir, es passte allen.
Alle sollten spätestens jetzt damit aufhören, den Städten und Gemeinden sowie den Landkreisen in unserem
Land vorzugaukeln, es werde sich an der gemeinsamen
Trägerschaft noch etwas ändern. Diese Debatte führt allenfalls zu einer Verunsicherung der Beteiligten, insbesondere auf kommunaler Ebene.
({5})
Eigentlich sollte daran niemand ein Interesse haben.
({6})
Wir machen niemandem etwas vor. Vor uns liegt eine
gewaltige Kraftanstrengung. Der Umbau der Bundesagentur für Arbeit und die Einführung der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende sind zwei Herkulesaufgaben, die wir der Bundesagentur anvertraut haben. Wir
- der Vorstand der Bundesagentur genauso wie ich, das
Ministerium und alle Fachleute, mit denen wir zusammenarbeiten - sind überzeugt, dass beide Aufgaben erfüllt werden können. Deshalb werden wir die Erfüllung
der Aufgaben mit aller Entschlossenheit weiter verfolgen.
Dabei wird es Prioritäten geben. Priorität hat zweifelsfrei die Einführung der neuen Leistung pünktlich
zum 1. respektive 2. Januar 2005. Jedem Bezieher und
jeder Bezieherin der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende muss Anfang des kommenden Jahres die
neue Leistung zur Verfügung stehen. Wir sind auf diesem Weg. Trotz aller Schwierigkeiten, die das macht,
sind wir auf einem guten Weg. Wir werden das auch hinbekommen. Voraussetzung ist natürlich, dass all diejenigen, die ein Interesse an Lösungen haben, an einem
Strang ziehen.
Dabei ist die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften ein ganz wichtiger Punkt. Nach dem Gesetz werden
wir Arbeitsgemeinschaften schaffen zwischen den örtlichen, kommunalen Repräsentanten auf der einen Seite,
die in diesem Sektor arbeiten und sich insbesondere um
die Sozialhilfeempfänger, in diesem Fall die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger, kümmern, und den örtlichen Agenturen für Arbeit auf der anderen Seite.
Im SGB II ist vorgesehen, dass die kommunalen Träger und die Agenturen für Arbeit vor Ort kooperieren
und diese Arbeitsgemeinschaften bilden. Darin liegt also
die entscheidende Aufgabe. Was dort entsteht, ist auch
alles andere als irgendein zentrales Monstrum. Vielmehr
entstehen Arbeitsgemeinschaften auf kommunaler
Ebene. Wir werden alles tun - die Bundesagentur tut das
auch -, um die Bildung dieser Arbeitsgemeinschaften zu
unterstützen.
Um das noch etwas konkreter zu beschreiben: Zurzeit
findet in meinem Ministerium eine erste Besprechung
mit Vertretern von 20 kreisfreien Städten und Landkreisen sowie der entsprechenden Agenturen für Arbeit statt.
Zwischen diesen Trägern werden jetzt Pilotarbeitsgemeinschaften vereinbart. Unser Ziel ist es, möglichst
schnell ein möglichst umfassendes Netz solcher Pilotarbeitsgemeinschaften zu schaffen. Das wird - so hoffe
und erwarte ich - eine entsprechende Ausstrahlung haben und die Bereitschaft insgesamt erhöhen, ans Werk zu
gehen, statt sich in organisatorischen Diskussionen und
Auseinandersetzungen zu erschöpfen.
({7})
Die Situation am Arbeitsmarkt ist viel zu ernst, als
dass wir uns wieder der deutschen Leidenschaft hingeben könnten, sich in organisatorischen Diskussionen zu
verkrallen, statt sich ganz auf das zu konzentrieren, worum es geht, nämlich so viele Menschen so rasch wie
möglich aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen bzw. ihnen auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu helfen.
({8})
Deshalb appelliere ich an alle - wir brauchen die Mitwirkung von allen, von möglichst vielen -: Wenn Sie
wollen und mögen, machen Sie in Ihren Wahlkreisen
möglichst Werbung für die Arbeitsgemeinschaften. Die
Bundesagentur braucht dringend Klarheit darüber, welche Kommunen sich an der Bildung von Arbeitsgemeinschaften beteiligen. Daran werden sich übrigens auch
Landkreise beteiligen. Vor Ort sieht die Welt ja ohnedies
anders aus, als sie in manchen politischen Auseinandersetzungen dargestellt wird.
Die Städte und Gemeinden, vor allen Dingen die großen Städte, werden mitmachen. Die Landkreise werden
sich nach und nach anschließen. Die Spitzenorganisationen der Städte, die Städtetage und der Städte- und Gemeindebund, stehen ohnehin voll und ganz dahinter.
Langsam, aber sicher wird man auch die Auseinandersetzungen bzw. Diskussionen mit dem Landkreistag leid,
der sich in bürokratisch-juristischen Auseinandersetzungen erschöpft, statt sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Wir haben hier kein Kompetenzgerangel und
keine Kompetenzhuberei, sondern vernünftige Arbeit für
die Arbeitslosen abzuliefern.
({9})
Jetzt steht das Kommunale Optionsgesetz auf unserer
Tagesordnung. Hier geht es darum, insbesondere in den
Finanzfragen Klarheit zu schaffen. Sie wissen, dass sich
mein Ministerium seit einiger Zeit bemüht, mit der Bundesagentur und vor allen Dingen mit den Ländern und
der kommunalen Ebene zu einer gemeinsamen Lösung
zu kommen.
({10})
- Herr Kollege, Sie sind ja sehr auf die Finanzen fixiert.
Das ist auch richtig; denn das ist das Wichtigste.
({11})
Deswegen haben wir uns im Vermittlungsverfahren auf
den Umfang der finanziellen Ausstattung aller Beteiligten verständigt.
({12})
Zu diesem Zweck führt man ja Vermittlungsverfahren
durch. Die Kommunen sind aber der Meinung, dass
diese Finanzmittel nicht ausreichen. Hierzu führen wir,
ohne dabei Vorwürfe zu erheben, sehr ernsthafte Gespräche.
({13})
Nutzen Sie diese Situation nicht, um abzulenken und
Unsicherheit zu stiften. Ich bin überzeugt, dass wir,
wenn alle guten Willens sind, zu einer Lösung kommen
können. Wir wollen möglichst eine Einigung hinsichtlich der Berechnungsmethodik erzielen.
({14})
Vor allen Dingen müssen wir uns über das verständigen, was man zur Stunde nur schätzen bzw. prognostizieren kann: Welche Entwicklungen wird es beispielsweise bei der Sozialhilfe geben? Wie wird sich die Zahl
der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger entwickeln?
Was passiert mit den Unterkunftskosten? Wir müssen
uns also über die Berechnungsmethoden verständigen
und wir brauchen Lösungen für Entwicklungen, die man
heute nur prognostizieren, aber erst im Nachhinein feststellen kann. Deshalb glaube ich, es ist das Wichtigste,
dass wir uns auf eine Revisionsklausel verständigen und
mit ihrer Hilfe eine Spitzabrechnung vornehmen, die den
Kommunen absolute Sicherheit gibt. Daran sind wir interessiert.
({15})
Das wollen wir. Hier wird niemand über den Tisch gezogen.
Ich wiederhole unsere Zusage, dass den Kommunen,
nachdem wir uns über die Berechnungsmethoden dieses
Finanzmodells verständigt haben, aus der Gesamtoperation unter dem Strich ein Gewinn in Höhe von
2,5 Milliarden Euro bleibt. Diese Zusicherung gilt. Sie
schließt allerdings ein, dass die Länder, die durch diese
Operation in der Größenordnung von etwa 2,5 Milliarden Euro begünstigt werden, bereit sein müssen, diesen
Betrag an die Kommunen weiterzugeben.
({16})
Natürlich brauchen die Kommunen auch Klarheit
über die Ausgestaltung des Optionsrechts. Diese Klarheit wird geschaffen, wenn Sie den heute vorliegenden
Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden und
ihm auch der Bundesrat zustimmt.
({17})
Hierzu hat sich die Opposition in den bisherigen Beratungen ablehnend geäußert. Sie werden verstehen, dass
uns das überhaupt nicht beeindruckt,
({18})
sondern dass wir unverändert an Sie appellieren, sich
nicht auch auf diesem Feld in einer Organisationsdebatte
zu verlieren. Das sagen Ihnen alle Experten. Lesen Sie
das im Sachverständigengutachten nach! Darin wird Ihnen bescheinigt, dass das Mehr an Bürokratie, das durch
ein Gesetz, wie Sie es sich vorstellen, geschaffen würde
- Sie wollen ja auch noch eine Verfassungsänderung -,
den Reformprozess aufhalten und insgesamt zu UnsiBundesminister Wolfgang Clement
cherheit führen, aber nicht zu Lösungen beitragen
würde.
({19})
Deshalb lautet meine Bitte: Gehen Sie den Weg mit,
den wir Ihnen mit dem vorliegenden Entwurf eines Optionsgesetzes vorgeschlagen haben. Dieser Weg ist der
beste, der ohne Verfassungsänderung möglich ist. Er
wird meiner Überzeugung nach auch dem Grundgedanken der Vereinbarung, die wir im Vermittlungsausschuss
getroffen haben, gerecht.
Meine Damen und Herren, es wird viel über Mitwirkung der Kommunen gesprochen; vor allen Dingen
von Ihnen, der CDU/CSU, die Sie die Kommunen ja neu
entdeckt haben.
({20})
Finanziell haben Sie für die Kommunen bisher in den
Ländern, in denen Sie die Verantwortung tragen, relativ
wenig getan, sowohl gegenwärtig als auch in der Vergangenheit. Ich sage Ihnen: Helfen Sie lieber mit, dass
jetzt auf der kommunalen Ebene geschieht, was geschehen muss. Bei der Bundesagentur für Arbeit verfügen
wir über ausreichend Mittel, um noch Zehntausenden
von Jugendlichen durch das JUMP-plus-Programm zu
einer Ausbildung, Umschulung oder Vorqualifizierung
zu verhelfen. Da liegt noch Geld für Arbeitsplätze für
Zehntausende junge Arbeitslose.
({21})
Dort liegt übrigens auch noch Geld für Zehntausende
von Arbeitsplätzen für Langzeitarbeitslose. Statt wie Sie
eine, wie ich finde, überzogene Organisationsdiskussion
zu führen, sollten wir allesamt in unseren Kommunen
dazu beitragen - das ist mir wichtig -, dass etwas in Bewegung kommt, was die Leute von der Straße bringt,
was gerade junge Leute in Ausbildung und Arbeit, in
Ausbildungsplätze und Umqualifizierung bringt.
({22})
Dabei können Sie helfen. Das wäre mehr wert als das,
was Sie versuchen, nämlich Verunsicherung unter die
Menschen zu bringen. Sie werden es nicht schaffen, Sie
werden uns dabei nicht aufhalten - gewöhnen Sie sich an
den Gedanken!
({23})
Wir alle - Sie und wir - haben am Arbeitsmarkt genug
Zeit verloren. Wir werden nicht noch mehr Zeit verlieren
wollen, sondern alles tun, um unseren Fahrplan einzuhalten.
Dass etwas geschieht, sehen Sie, wenn Sie einen
Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit werfen: Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter 20 Jahren liegt
jetzt gottlob unterhalb von 4 Prozent, bei den Jugendlichen unter 25 Jahren unterhalb von 8 Prozent.
({24})
- Das ist immer noch zu viel. Es ist immer noch
schlecht, auch wenn es im europäischen Maßstab übrigens nicht ganz so schlecht ist.
Wir werden uns auf unsere Aufgaben konzentrieren
und diesen Prozess vorantreiben. Ich bin überzeugt, dass
wir erfolgreich sein werden. Wichtig ist, dass die Kommunen zur Zusammenarbeit bereit sind. Ich bin überzeugt, sie sind es. Wir haben die Pflicht, die finanziellen
Grundlagen zu klären - das tun wir mit Hochdruck -,
und Sie haben aus meiner Sicht die Pflicht, konstruktiv
mitzuwirken. Das tun Sie am besten, wenn Sie mitgehen
auf dem Weg, den wir mit dem Optionsgesetz vorgezeichnet haben.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.
({25})
Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Bundesminister! Meine Damen und Herren! Das Problem bei dieser Debatte heute ist, dass wir ein Gesetz beraten, bei dem schon die Überschrift nicht stimmt.
({0})
Dort heißt es „optionale Trägerschaft“, in Wahrheit ist in
dem Gesetz von Trägerschaft aber gar nicht die Rede.
Hier wird von Ihnen ein Organleihemodell vorgeschlagen. Ich glaube, dass es gar keinen Streit darüber geben
muss: „Option“ hätte bedeutet, dass die Aufgabe in diesem Fall zur Kommune kommt und sie diese in Eigenverantwortung wahrnimmt.
({1})
Die Wahrheit ist auch - um dabei ganz ruhig zu bleiben -: „Organleihe“ bedeutet, dass das Organ, in diesem
Fall die Kommune, zur Aufgabe wandert, diese Aufgabe
aber in den Entscheidungssträngen der Bundesagentur
für Arbeit verbleibt.
({2})
Das ist der Streit um den Unterschied, den wir haben:
Wollen wir einem Landkreis, einer kreisfreien Stadt die
Möglichkeit geben, in Eigenverantwortung zu handeln,
oder wollen wir nur die Möglichkeit einräumen, in den
Entscheidungsstrukturen der Bundesagentur für Arbeit
mitarbeiten zu können? Ich finde, es ist auch in Ordnung, dass wir darüber streiten. Hier geht es ganz
einfach darum, ob der Wettbewerb der Ideen vieler
kommunaler Träger und Beschäftigungsorganisationen
in der schwierigen Frage, wie man trotz der schwierigen
Arbeitsmarktlage Langzeitarbeitslose integrieren kann,
in diesem Land noch stattfindet oder ob er nicht mehr
stattfindet.
Dieses Gesetz bedeutet - das wissen auch Sie -, dass
mit dem 1. Januar 2005 ein Ende der kommunal verantworteten Beschäftigungspolitik bevorsteht. Dies bedeutet nicht notwendigerweise das Ende der gemeinsamen
Beschäftigungsbemühungen von Kommune und Arbeitsamt, aber das Ende einer kommunal verantworteten
Beschäftigungspolitik. Das wird die Beschäftigungspolitik in unserem Land ärmer machen; davon bin ich überzeugt.
({3})
Es sollte Sie sehr nachdenklich machen, dass der
Deutsche Landkreistag, der immerhin 323 von 439 kommunalen Körperschaften vertritt, die überhaupt optieren
können, sagt: Unter den Bedingungen dieses Gesetzes
können wir uns das überhaupt nicht vorstellen.
({4})
Ein weiterer Punkt: Jeder von uns, der sich mit kommunaler, mit regionaler Arbeitsmarktpolitik beschäftigt
hat, weiß doch - den Eindruck habe ich seit Jahren -,
dass die besten Ergebnisse dort zustande kommen, wo
die kommunalen Gebietskörperschaften vernünftig mit
dem Arbeitsamt zusammenarbeiten und umgekehrt. Das
ist die Wahrheit und das kann niemand bestreiten. Aber
es ist eben ein ganz großer Unterschied, ob dies in einem
Jobcenter stattfindet, in dem die Entscheidungsstrukturen der Bundesagentur gelten, oder ob es in einem Jobcenter stattfindet, wo regional denkende und handelnde
Kommunalpolitik den Ton angibt.
({5})
Diesen Unterschied müssen wir in diesem Gesetz herausarbeiten. Das Gesetz, das Sie vorgelegt haben, hat
mit Subsidiarität nichts zu tun; es ist ein Gesetz, das die
Zentralität verstärkt.
Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich nun
aus dem Protokoll der Anhörung vom vergangenen
Montag zitieren. In dieser Anhörung hat Professor
Dr. Wieland von der Goethe-Universität Frankfurt auf
eine Frage unseres verehrten und sachkundigen Kollegen Wolfgang Meckelburg
({6})
geantwortet:
Wenn Sie dieses Optionsmodell mit der Organleihe
verwirklichen, bedeutet das letztlich, Sie geben eigentlich den Vorteil der kommunalen Selbstverwaltung auf. Kommunale Selbstverwaltung lebt ja von
der demokratischen Legitimation von unten nach
oben. Die kommunalen Stellen sind aus der örtlichen Gemeinschaft heraus legitimiert und handeln
daraus. Wenn Sie hier optieren, wenn Sie von der
Möglichkeit Gebrauch machen, die im Gesetzentwurf vorgesehen ist, begeben Sie sich gewissermaßen unter die Weisungshoheit der Bundesagentur
für Arbeit, die zugleich die Verantwortung dafür
übernehmen muss.
Durch diese Aussage wird ganz deutlich, was passiert,
wenn dieses Gesetz verabschiedet wird.
Herr Clement, ich sage Ihnen ganz offen: Das, was
Sie vorgelegt haben, entspricht nicht dem Sinn und Geist
unserer gemeinsamen Entschließung vom 18. Dezember
des letzten Jahres,
({7})
die die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe mit einer Option auf eine kommunale Trägerschaft zum Inhalt hatte. Das wissen Sie. Darüber bin ich
persönlich sehr enttäuscht. Das wird auch Auswirkungen
darauf haben, wie wir in Zukunft miteinander umgehen.
In einem Punkt Ihrer Rede, die Sie gerade gehalten
haben, gebe ich Ihnen Recht: Ihr Vorschlag ist die einzige Möglichkeit, die es gibt, um dieses Problem unterhalb des Ranges einer Verfassungsänderung zu lösen.
Darin gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht. Ich muss mich
aber fragen, warum wir die Verfassung nicht ändern können, wenn wir der Meinung sind, dass die Kommunen
einen erheblichen Beitrag in Eigenverantwortung erbringen können. Wenn wir in Deutschland die Verfassung für
den Tierschutz ändern können, dann werden wir doch
wohl auch in der Lage sein, sie für die Schwächsten am
Arbeitsmarkt zu ändern, damit der Arbeitsmarkt in
Strukturen kommt, die wir uns doch eigentlich alle gewünscht haben.
({8})
- In diesem Punkt hätten wir die Verfassung ändern können. Das ist gar kein Problem.
({9})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der uns
auch nachdenklich stimmen soll. Ich habe am Montag in
der Anhörung einen Vertreter der Bundesagentur für Arbeit gefragt, wie man dieses Problem seiner Meinung
nach verwaltungstechnisch in den Griff bekommen
könne. Er hat gesagt - das können Sie im Protokoll der
Anhörung nachlesen -, dass man dafür etwa 40 950 Stellen brauche. Heute gebe es etwa 14 000 Mitarbeiter bei
der BA, die sich um die Arbeitslosenhilfe kümmern.
Man wird also weitere rund 26 000 Menschen irgendwie
zur Bundesagentur bringen müssen, eventuell über Gestellungsverträge aus den Kommunen oder über die Beauftragung Dritter.
Die Bundesagentur hat schon heute 91 000 Mitarbeiter. Sie wollen nun die Zahl der Stellen bei einer derart
großen Behörde um 26 000 erweitern. Diese werden
zwar nicht alle in einem Arbeitsverhältnis mit ihr stehen,
aber auf deren Payroll. Denn auch die von den Kommunen Gestellten werden auf der Lohnliste der Bundesagentur für Arbeit stehen und in deren Entscheidungsstrukturen eingebunden sein. Wenn Sie so weitermachen, dann
ist die Arbeitsverwaltung bald größer als die Bundeswehr. Das kann nicht gut gehen.
({10})
Zum Schluss bitte ich Sie, dass Sie Folgendes überdenken: Die Holländer - Herr Clement kommt wie ich
aus einer Ecke, wo die Niederlande nicht ganz fern sind können auf dem Arbeitsmarkt Erfolge verzeichnen, seit
sie ihn regionalisiert haben. Wenn ein Land mit
16,2 Millionen Einwohnern Erfolge verzeichnen kann,
wenn es regionalisiert, dann glaube ich, dass in einem
Land mit 82 Millionen Einwohnern - das ist die Größe
unseres wiedervereinigten Vaterlandes - eine Regionalisierung erst recht anschlägt.
Umkehren wollen Sie ja nicht mehr. Sie haben deutlich genug gesagt, dass Sie mit dem Kopf durch die
Wand gehen werden. Sie müssen aber davon ausgehen,
dass wir die Hand dazu nicht reichen.
Ich stelle fest, dass dieses Gesetz nicht dem Sinn und
dem Geist der Entschließung vom 18. Dezember 2003
entspricht.
({11})
Ich sage noch einmal: Wenn wir gewusst hätten, dass so
etwas dabei herumkommt, dann hätte es die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe nicht gegeben, weil wir nicht mitgemacht hätten. Es ist nicht zu
verantworten, dass sie in dieser Form zusammengeführt
werden. Den Menschen, die Arbeitslosenhilfe erhalten,
wird dadurch nämlich sehr viel Geld weggenommen, obwohl sie nicht zu viel haben. Gleichzeitig werden ihnen
keine effizienteren Betreuungsstrukturen angeboten. Das
ist unverantwortlich.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, der gelöst werden
muss. Dabei geht es um die Mieten, also um die Unterkunftskosten, und darum, wie stark die Kommunen hier
belastet werden. Das muss gelöst werden. In NordrheinWestfalen wird sich keine einzige Kommune mehr außerhalb des Ausgleichsstocks befinden, wenn das, was
jetzt im Gesetz steht, Realität wird.
Ich kann Ihnen nur raten: Ändern Sie den Weg! Ansonsten wird bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen am 26. September 2004 deutlich werden, wer für
diese Finanzsituation verantwortlich ist.
Schönen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Laumann, wir sind heute hier zusammengekommen, weil weder Sie noch wir am 18. September 2003 eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung im
Vermittlungsausschuss gefunden haben. Die Verfassungsänderung wurde im Vermittlungsausschuss weder
vorgeschlagen noch durchgesetzt.
({0})
Deswegen reden wir heute darüber, wie die Option für
die Kommunen aussehen kann.
Ich finde es interessant, dass Sie in diesem Zusammenhang hier gesagt haben, dass das, was wir vorschlagen, unterhalb der Verfassungsänderung ein guter und
gangbarer Weg sei.
({1})
Herr Laumann, nehmen Sie Ihre eigenen Wort ernst und
machen Sie mit! Eines ist doch klar und darin sind wir
alle uns auch vollkommen einig: Wir brauchen die Kommunen bei der Umsetzung der anstehenden Arbeitsmarktreformen.
({2})
Wir brauchen die Kommunen. Sie müssen sich um die
Langzeitarbeitslosen kümmern und sie müssen auf der
sozialen Ebene, beispielsweise bei der Drogenberatung,
gute Angebote machen. Aber sie müssen eben auch - dafür brauchen wir die Bundesagentur für Arbeit - bei der
Vermittlung tätig werden. Wir brauchen beide und wir
brauchen die Kooperation der Kommunen mit der
Bundesagentur für Arbeit, weil jeweils eine Seite etwas besser kann als die andere. Diese Kooperation müssen wir vorbereiten.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt aufgreifen, den der Minister vorhin angesprochen hat: Wir brauchen die Kommunen. Deshalb ist es auch völlig klar,
dass wir das Ziel, das wir durch die Zusammenlegung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erreichen wollten,
nämlich zu einer Entlastung der Kommunen in Höhe von
2,5 Milliarden Euro zu kommen, auch weiterhin verfolgen werden. Das ist unser politischer Wille.
Die Daten, die heute vorliegen, wurden im Vermittlungsausschuss übrigens gemeinsam mit der Opposition
zugrunde gelegt. Sie waren also die Grundlage für die
gemeinsame Entscheidung.
({3})
Diese Daten entsprechen heute nicht mehr der Realität,
da die Entlastung offenbar nicht vollständig so erfolgt,
wie wir das gehofft haben. Deswegen wird hierüber auch
weiterhin geredet werden. Die Wahrheit wird wahrscheinlich in der Mitte liegen: Herauskommen werden
sicherlich nicht die 5 Milliarden Euro, die jetzt von der
kommunalen Seite eingeklagt werden. Aber offenbar ist
die Realität am Arbeitsmarkt auch nicht so, dass tatsächlich 2,5 Milliarden Euro erbracht werden. Es ist wichtig,
das eindeutig festzustellen.
Ich möchte für meine Fraktion noch einmal sagen,
dass wir den Vorschlag, eine Revisionsklausel einzuführen, in diesem Zusammenhang als sehr vernünftig und
produktiv ansehen. Wir halten es für notwendig, dass die
finanzpolitischen Spielräume der Kommunen auch und
gerade durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe erweitert werden, damit auch die Betreuungsmöglichkeiten von Kindern unter drei Jahren weiter
verbessert werden. Das ist nämlich auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen erforderlich.
({4})
Die Opposition schlägt jetzt die Verschiebung der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
vor; Herr Koch will gar - ich komme darauf noch zu
sprechen - einen Boykott. Das würde den Kommunen
zusätzlich schaden. Eine Verschiebung der Maßnahmen
würde nämlich gerade nicht zu einer Entlastung der
Kommunen führen.
Wir brauchen die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aber auch aus einem ganz anderen Grund. Seit Jahren wäre sie notwendig gewesen; sie
ist längst überfällig.
({5})
Wir hätten dies bereits in den 90er-Jahren tun müssen.
Sie haben das in den 90er-Jahren verschlafen.
({6})
- Diese absurden Doppelstrukturen gibt es nur in
Deutschland: Steuerfinanzierte Systeme - Arbeitslosenund Sozialhilfe - existieren nebeneinander her; die
Langzeitarbeitslosen werden in zwei Schubladen einsortiert, die Sozialhilfeempfänger teilweise zu Bittstellern
diskreditiert, weil die Leistungen nicht pauschaliert sind.
({7})
Das alles ist von Ihnen über Jahre hinweg gepflegt worden, übrigens immer verbunden mit dem Ziel, die Sozialhilfe abzusenken. Wir wollen, dass die Sozialhilfeempfänger Zugang zur aktiven Arbeitsmarktpolitik
haben und nach der Reform vernünftig und zügig betreut
werden.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ja, Herr Kollege Niebel. Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Dückert. - Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass es sinnvoll ist, die beiden steuerfinanzierten Leistungen zusammenzulegen, stelle Ihnen aber
die Frage, weshalb Sie vor knapp drei Jahren unseren
Antrag, genau das zu tun, hier in diesem Hause abgelehnt haben.
({0})
Herr Niebel, Ihre Arbeitsmarktpolitik hatte schon immer - das ist in den letzten Monaten wieder ganz deutlich zutage getreten - die Absenkung der Sozialhilfe
zum Ziel. Das war immer ein Element und Baustein Ihrer Strategie. Heute wollen Sie
({0})
angesichts unserer fortgesetzten Reformen - ich wiederhole: Sie hätten sie in Ihren über 20 Jahren Regierungsbeteiligung einleiten können - die Bundesagentur für
Arbeit sogar zerschlagen.
({1})
Die unsoziale Strategie Ihrer Arbeitsmarktpolitik und die
kontraproduktiven Elemente beim Umgang mit der Bundesagentur für Arbeit haben sich auch in Ihren damaligen Anträgen widergespiegelt.
({2})
Deswegen konnten wir sie beim besten Willen nicht unterstützen, Herr Niebel.
Lassen Sie mich zurückkommen: Es ist überfällig, die
Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum 1. Januar 2005 zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende zusammenzulegen und die Kommunen als Partner auf gleicher
Augenhöhe in diese Aufgabe einzubinden. In dieser Situation - das ist ein riesiges Projekt, das viele Veränderungen mit sich bringt und viele Schwierigkeiten birgt stellt sich Herr Koch von der CDU quer
({3})
und ruft die Kommunen zum Boykott in der Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit und den Arbeitsämtern auf, weil ihm das Modell, das für die Trägerschaft des Arbeitslosengeldes II vorgeschlagen wird,
nicht passt. Ich halte das für einen unglaublichen Vorgang. Dieser Boykottaufruf von Herrn Koch ist nichts
anderes als ein Zeichen dafür, dass die Opposition mittlerweile hemmungslos im Umgang mit Langzeitarbeitslosen geworden ist und sie in Geiselhaft ihrer Politik
nehmen will.
({4})
Blockade und Angstmacherei - das war stets eine
Strategie Ihrer Arbeitsmarktpolitik. Angesichts dessen
tue ich mich schon schwer mit dem von Ihnen, Herr
Laumann, immer so freundlich vorgetragenen Angebot,
ernsthaft in der Sache zu streiten. Denn um die Sache
geht es Ihnen offensichtlich überhaupt nicht.
({5})
Es geht Ihnen um Diskreditierung und Zerschlagung einer Arbeitsmarktreform, die absolut notwendig ist.
({6})
Das Optionsgesetz, das wir heute diskutieren, ist ein
Stück weit ein Aufhänger für diese Debatte, weil das,
was wir bereits verabschiedet haben und was Gesetz ist,
die Umsetzung der Reform notwendig und möglich
macht.
({7})
Die Arbeitsgemeinschaften sind inzwischen Gesetz.
Zum 1. Januar 2005 kann die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kommen.
({8})
- Genau das blockieren Sie, Herr Niebel. Ihr Kollege
Laumann schlägt die ganze Zeit vor, die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe um ein Jahr zu
verschieben. Herr Koch ruft sogar die Kommunen zum
Boykott auf, um die angeschobenen Arbeitsmarktreformen aufzuhalten.
({9})
Was Sie wollen, ist fahrlässig.
({10})
Wir wollen den Kommunen eine Optionsmöglichkeit
einräumen. Die Organleihe, die wir vorschlagen, ist ein
faires Angebot. Die Kommunen bekommen in einem
sehr überschaubaren Rahmen eine Handlungsfreiheit.
Sie haben einen finanzpolitischen Spielraum in Form
von Budgets, über die sie frei verfügen können, und sie
erhalten einen Spielraum in Form von Zielvereinbarungen. Nur dann, wenn sie die politischen Zielvereinbarungen, die sie selber abschließen, verletzen, greift die Aufsichtspflicht. Das ist in diesem Gesetz festgelegt.
Das ist exakt die Vereinbarung, die wir im Vermittlungsausschuss getroffen haben. Darüber reden Sie nämlich nicht mehr: Wir haben in einem Entschließungsantrag festgelegt, dass die Einbindung der Kommunen
durch Zielvereinbarungen erfolgt. Genau das wird hiermit eingelöst. Der Handlungsspielraum der Kommunen
wurde so groß wie möglich konzipiert, ohne die Verfassung ändern zu müssen. Das geben sie selber zu. Deswegen sage ich noch einmal: Machen Sie bei den Veränderungen mit!
({11})
Ich möchte zum Schluss noch eines ansprechen. Die
Reform, die auf die Menschen zukommt, ist ein riesiges
Projekt. Viele Arbeitslose, viele Kommunen, viele Träger und viele Angebote am Arbeitsmarkt sind davon betroffen. Es gibt in der Tat große Probleme in dem Bereich. Die Lösung kann aber nicht darin bestehen, nur
die Probleme zu nennen, sondern wir müssen Strategien
zur Lösung der Probleme erarbeiten.
({12})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. - Nun heißt es überall, es
sei schwierig, zum 1. Januar 2005 die Auszahlung zu organisieren. Es besteht - so wurde in der Anhörung gesagt - eine 20-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die
Software nicht gut funktioniert. Ich erwarte von den
Kommunen und von der Bundesagentur für Arbeit,
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende
kommen.
- dass sie neben den Vorschlägen zur Software einen
Plan B entwickeln, um die Probleme zu lösen,
({0})
anstatt die Reform zu verschieben.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit
hat zu Recht gesagt: Wir brauchen die Kommunen.
Seine grüne Kollegin hat zu Recht gesagt: Wir brauchen
die Kommunen. - Sie legen hier ein Organleihegesetz
vor, das mit Option nichts am Hut hat und das dazu führen wird, dass die Kommunen das nicht machen werden.
Sie spielen Mikado mit den Lebenschancen von Millionen von Menschen - weil wir die Kommunen brauchen!
({0})
Wir haben am 18. Dezember des letzten Jahres nach
einem relativ langen Vermittlungsverfahren einen gemeinsamen Entschließungsantrag von Bundestag und
Bundesrat hier in diesem Haus beschlossen, mit dem
eine eigenständige Trägerschaft für Kommunen, die
optieren wollen, gewährleistet werden sollte. Das Organleihegesetz, das Sie vorlegen, hat mit diesem Beschluss
überhaupt nichts zu tun.
({1})
- Frau Barnett, wir wissen schon aus der Medizin, dass
Organleihe nicht funktionieren kann.
({2})
Wir brauchen Kommunen, die sich mit einer fairen, berechenbaren Chance um die Integration auf dem Arbeitsmarkt kümmern können. Aus diesem Grunde haben wir
gemeinsam mit der Union einen Entschließungsantrag
eingebracht, der eine transparente Regelung mit grundgesetzlicher Absicherung der Option einfordert, damit
diese Aufgabe übernommen werden kann.
Wir haben in dem Vermittlungsverfahren eine Reform
beschlossen. Das ist - da haben Sie völlig Recht - schon
Gesetz. Insofern können wir gar nichts blockieren. Wir
wollen nur Fairness, wir wollen, dass Sie uns nicht bei
dem Beschluss betrügen, den wir gemeinsam getroffen
haben.
({3})
Wir haben dreierlei beschlossen: erstens - das wollten
Sie - die grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesagentur, zweitens die Möglichkeit, Arbeitsgemeinschaften zu
bilden - Sie können die Kommunen dazu aufgrund des
grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstbestimmungsrechts nicht verpflichten -, und drittens die Option. Wenn Sie ein Gesetz vorlegen, mit dem sich die
Kommunen faktisch in die Abhängigkeit der Bundesagentur für Arbeit begeben, um dann als Organ der Bundesagentur mit deren Dienstvorschriften arbeiten zu
müssen - das wird kein verantwortlich denkender Kommunalpolitiker machen -, werden Sie keine Kommunen
finden, die optieren werden.
Insofern bleiben nur die ersten beiden Alternativen,
die grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesagentur und
die Möglichkeit, Arbeitsgemeinschaften zu bilden.
({4})
Wir haben in der Anhörung gehört - lesen Sie das
bitte im Protokoll nach, Herr Clement! -, dass sich die
Kommunen angesichts ihrer Haushaltssituation mittelfristig sehr genau überlegen werden, ob sie Angebote
und Dienstleistungen für Aufgaben zur Verfügung stellen, für die sie nicht mehr zuständig sind. Die Zuständigkeit erfolgt grundsätzlich durch die Bundesagentur.
Wir laufen Gefahr, dass mittelfristig Strukturen wegbrechen, die den Menschen vor Ort die letzte Chance zur
Integration geboten haben. Sie selbst haben festgestellt,
Herr Clement, dass die Kommunen aufgefordert werden
müssten, sich bei JUMP plus und Ähnlichem zu beteiligen, weil ihre Mitwirkung notwendig ist. Das hätten Sie
sicherlich nicht gemacht, wenn sie es nicht besser machen würden als die Bundesagentur.
({5})
Sie haben noch nicht angesprochen, was am 1. Januar
kommenden Jahres geschehen wird, wenn sich eine
Vielzahl der Kommunen nicht einer Arbeitsgemeinschaft anschließen wird. In dem Fall haben die Mitarbeiter der Bundesagentur Aufgaben zu erfüllen, für die sie
keine Kompetenzen haben. Denn für den Personenkreis,
um den es dabei geht - langfristig arbeitslose Menschen -, ist der Verlust des Arbeitsplatzes meistens nur
eines von sehr vielen Problemen.
({6})
- Ich mache mir keine Hoffnungen. Ich habe vielmehr
bittere Angst, dass es Anfang nächsten Jahres zu einem
sozialen Chaos kommt, weil Sie sich nicht an die Vereinbarungen gehalten haben.
({7})
Außerdem sind Ihnen von der Regierungsbank keine
Zwischenrufe erlaubt.
({8})
Herr Minister, ich habe Verständnis für Ihre Erregung,
aber Sie dürfen von der Regierungsbank aus keine Zwischenrufe machen.
Frau Präsidentin, ich habe kein Verständnis für die Erregung des Herrn Minister. Der Herr Minister hat sich
schlichtweg nicht an eine im Vermittlungsausschuss getroffene Vereinbarung gehalten und jetzt versucht er,
durch die Hintertür zu fliehen.
({0})
Die die Regierung tragenden Fraktionen und er werden dafür verantwortlich sein, wenn Anfang nächsten
Jahres die Existenz von Millionen Menschen gefährdet
wird. Sie tragen die politische Verantwortung dafür.
({1})
Wir hören immer wieder, dass angesichts der Vielzahl
von Datensätzen, die zu übertragen sind, und der Problematik mit den Schnittstellen - es gibt 440 unterschiedliche Träger der Sozialhilfe, 180 Agenturen für
Arbeit, die unterschiedlichsten EDV-Programme und unterschiedlich erfasste Daten - erhebliche Schwierigkeiten auf uns zukommen. Hinzu kommt, dass unseres Wissens die EDV zumindest zurzeit nicht funktioniert, nicht
einmal insofern, als ein belastbarer Test durchgeführt
werden könnte. Einen solchen Test haben Sie am
19. Mai geplant.
Als Konsequenz daraus werden die Datensätze von
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hand eingegeben werden müssen. Außerdem werden aus der Portokasse oder aus welcher Kasse auch immer Abschlagszahlungen gewährt werden müssen.
({2})
Die Betroffenen werden leider nicht vor Ihrem Ministerium, sondern vor den Agenturen für Arbeit stehen und
diejenigen belasten, die sich darum bemühen, diese
Menschen wieder in Arbeit zu vermitteln. Was Sie machen, ist unverantwortlich, Herr Clement!
({3})
Mir graut davor, dass nach dem Dosenpfand, dem virtuellen Arbeitsmarkt und der LKW-Maut das nächste
große Desaster dieser Regierung kommt. Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Clement: Geben Sie den Kommunen, so wie wir es vereinbart haben, die gerechte Möglichkeit, die Aufgaben zu übernehmen, wenn sie dies
wollen. Die Kommunen, die das nicht wollen, werden
sich dann sicherlich den Arbeitsgemeinschaften anschließen. Das ist dann vermutlich auch das Beste, weil
die Selbstbestimmung der Kommunen das entscheidende Kriterium dafür ist, ob sie den Wettbewerb um die
besten Ideen gewinnen können. Nur dann können die
Menschen, um die es hierbei geht, eine Chance zur Integration und zur Teilhabe am gesellschaftliche Leben bekommen.
Wir werden jedenfalls in weiteren Vermittlungsverfahren nicht mehr so blauäugig sein, Herr Clement, uns
auf Entschließungen oder Protokollnotizen zu verlassen.
Die Zusammenarbeit mit Ihnen wird schwieriger, weil
wir Ihnen nicht trauen können.
({4})
Wir werden in weiteren Vermittlungsverfahren Punkt für
Punkt, Komma für Komma und Buchstabe für Buchstabe beschließen müssen, weil Sie nicht ehrlich und
redlich sind und weil Sie belogen und betrogen haben.
({5})
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Optionsgesetzes vollziehen wir heute den letzten Schritt der
Reformen am Arbeitsmarkt.
({0})
Wir legen damit pünktlich ein faires Angebot vor, das
die Möglichkeiten des Grundgesetzes voll ausschöpft.
Denn wir alle wissen, dass eine Grundgesetzänderung
im Bundesrat nicht mehrheitsfähig gewesen wäre. Die
Vorwürfe, die gerade mein aufgeregter Vorredner in
einer aus meiner Sicht unflätigen Weise erhoben hat - er
hat unter anderem von Lügen gesprochen -, muss ich an
dieser Stelle für meine Fraktion ganz deutlich zurückweisen.
({1})
Lieber Herr Niebel, als ich Ihre Rede verfolgt habe, habe
ich gedacht: Wer so schreit, der muss sich auch nach seiner Kinderstube fragen lassen. Ich habe jedenfalls gelernt: Wer schreit, hat Unrecht. Sie haben Unrecht in dieser Angelegenheit.
({2})
In der Sache selbst müssen wir jetzt, unabhängig von
persönlichen Sichtweisen, die Debatten schnell beenden
und zu einer zügigen Umsetzung kommen. Roland Koch
hat gestern die Kommunen zur Blockade aufgerufen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich finde,
es ist ein Skandal, dass Sie damit zum Gesetzesboykott
aufgerufen haben. Viel schlimmer ist aber, dass Sie Ihre
politischen Interessen auf dem Rücken der Arbeitslosen,
den Schwächsten der Gesellschaft, durchzusetzen versuchen. Das diskreditiert Sie.
({3})
Sie behaupten, die Kommunen würden nicht mitmachen.
Tatsächlich gibt es aber zahlreiche kommunale Initiativen. Bremsen Sie diese nicht ab! Behindern Sie die Zusammenarbeit nicht! Die Menschen in diesem Land sehnen sich nach Überwindung der sozialen Unsicherheit
sowie nach Zusammenarbeit und praktikablen Lösungen. Solche haben wir auch vorgeschlagen.
({4})
Wir haben gehört, dass es schon viele gute Beispiele
gibt. Im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit ist eine
Gruppe gebildet worden, die Musterarbeitsgemeinschaften voranbringen soll. Diese sollten wir unterstützen; denn jetzt sind Taten und nicht große Reden gefragt.
Jetzt ist die Stunde der Praxis. Es gibt keine Ausflüchte
mehr, man müsse erst noch auf die eine oder andere gesetzliche Regelung warten. Alle arbeitsmarktpolitischen
Akteure sollten zügig an die Arbeit gehen. Den Zeitplan
- darauf haben Vorrednerinnen und Vorredner schon hingewiesen - gilt es einzuhalten. Es hilft auch nichts, wenn
wir diese notwendige und sinnvolle Reform hinausschieben. Einige behaupten, ein solches Mammutprojekt
brauche mehr Zeit. Ich sage dazu: Erstens haben wir
noch acht Monate Zeit. Zweitens haben wir schon viel
zu viel Zeit bis zur Umsetzung dieses wichtigen Vorhabens verstreichen lassen.
({5})
Jeder weiß: Nur wenn man mutig ist, die notwendigen
Reformen anzupacken, kann man wieder Zuversicht und
Vertrauen in der Gesellschaft gewinnen und dafür sorgen, dass die Beschäftigung in diesem Land zunimmt.
Wir brauchen Menschen, die zupacken, und keine Menschen, die alles mies machen.
({6})
Die Arbeitsagenturen und die Kommunen müssen die
Bildung von Arbeitsgemeinschaften jetzt zügig angehen.
Dafür haben wir den notwendigen Spielraum geschaffen.
Das Optionsgesetz stellt klar, dass Gemeinden, die es
sich zutrauen, die Aufgabe allein übernehmen können.
Diese Gemeinden erhalten dann die gleichen Pauschalen
für Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten,
wie sie auch den Arbeitsagenturen bzw. den Arbeitsgemeinschaften zustehen.
Das Optionsgesetz ändert im Übrigen nichts an der
Finanzverteilung. Das haben viele in der Vergangenheit
verwechselt. Bund und Länder haben im Übrigen gemeinsam gerechnet. Möglicherweise haben sie die Fallzahlen unterschätzt. Das betrifft dann aber alle: Sie als
Opposition genauso wie uns, den Bund genauso wie die
Länder. Tun Sie nun also nicht so, als ob der Bund Ihnen
etwas Falsches vorgelegt und sich, wie Herr Koch jetzt
behauptet, einen großen Teil vom Kuchen gegriffen
hätte! Das ist schlicht gelogen. Mit dieser Verdrehung
der Tatsachen und dieser Unsachlichkeit kommen wir
keinen Millimeter weiter.
({7})
Die Länder müssen im Übrigen auch die Ehrlichkeit
besitzen, die Einsparungen an die Kommunen weiterzugeben. Hier liegt unter anderem der Hase im Pfeffer.
Darauf sollten wir in diesem Haus gemeinsam achten.
Wir stehen jedenfalls zu unserer Verantwortung und
werden auf eine seriöse Nachberechnung rasch reagieren. Der Minister hat gerade noch einmal deutlich zugesichert - er hat kein Glaubensbekenntnis abgelegt,
sondern ein Versprechen gegeben -, dass die Bundesregierung sowie die Bundestagsfraktionen von SPD und
Grünen dafür stehen, dass die Kommunen tatsächlich
um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Eine solche
Zusicherung sollte endlich Mut machen, die Arbeit zur
Bildung von Arbeitsgemeinschaften aufzunehmen.
Wir wissen, dass sich die Opposition in diesem Zusammenhang rein destruktiv verhält. Sie haben die Bundesagentur für Arbeit oft genug schlechtgeredet. Die
FDP will sie sogar zerschlagen.
({8})
- Das ist fein formuliert, bedeutet aber im Ergebnis
nichts anderes. - Die CDU/CSU behauptet landauf,
landab, dass die Arbeitsagenturen es nicht könnten und
dass man diesen keine Arbeit mehr geben dürfe. Das
läuft letztendlich auf das Gleiche hinaus. Insofern müssen wir deutlich sagen: Wir stehen zu dieser Reform und
wir sind davon überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit eine Chance
verdient haben. Sie können zusammen mit den in den
Kommunen Beschäftigten dazu beitragen und dafür sorgen, dass Sozialhilfeempfänger stärker als in der Vergangenheit in Arbeitsverhältnisse integriert werden.
Es geht darum, praktische Beispiele wie das aus
Essen bekannter zu machen. Ihr ewiges Schlechtreden,
das Sie in der Vergangenheit und auch heute praktiziert
haben, muss aufhören. Wir haben in Essen gemeinsam
erlebt - wir kennen das auch aus Heilbronn und aus anderen Orten -, dass es klappen kann. Wer die positiven
Beispiele nicht lobt, sondern nur auf negative Beispiele
verweist, der baut in diesem Land nichts auf, sondern der
baut ab. Wir wollen aufbauen und nicht abbauen.
({9})
Jetzt geht es darum, mit den neuen Strukturen in Arbeitsgemeinschaften offensiv umzugehen. Die Fortführung der kommunalen Beschäftigungsgesellschaften
ist - danach wird oft genug gefragt - gesichert. Gerade
bei der Beschäftigungsförderung brauchen wir die ausdrückliche Zusage, dass sich diese Beschäftigungsgesellschaften keine Sorgen machen müssen. Wir befinden
uns im Verfahren, das im SGB II geregelt ist. In den Arbeitsgemeinschaften kann die Aufgabe vergeben werden. Die Maßnahmen können, wie es bis jetzt nach dem
Bundessozialhilfegesetz geschieht, voll und ganz beibehalten werden. Deshalb muss mit der Verunsicherung
Schluss sein. Sie ist verantwortungslos; schließlich brauchen wir genau diese Trägerstrukturen für eine aktive
Arbeitsvermittlung.
Außerdem gibt es die Möglichkeit der Übergangsregelung. Darauf kann man zurückgreifen, im Übrigen
auch dann, wenn der Leistungsbezug nicht gleich funktioniert. Ich bin aber davon überzeugt: Er wird funktionieren. In Jobcentern kann man auch ganz pragmatisch
Vereinbarungen treffen, die vorsehen, dass an mehreren
Stellen Leistungen erbracht und Auszahlungen getätigt
werden.
Die Beschäftigungsgesellschaften können - das ist wegen unserer gesetzlichen Grundlage etwas Neues - sogar
Bestandteil der Arbeitsgemeinschaften werden. Das
heißt: Sie wären nicht nur Beauftragte, sondern ein Teil
der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Insofern finde ich es
wichtig, dass das Bild der Arbeitsgemeinschaften
schlüssig und logisch ist. Mit den Verschiebebahnhöfen
muss endlich Schluss sein. Leistungen kommen aus einer Hand.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Auch bei den
Ausschreibungsverfahren haben wir dafür gesorgt,
dass auf die regionalen Belange in Zukunft wesentlich
mehr Rücksicht genommen wird.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das geschieht durch kleinere Lose und durch das
Achten auf Qualität. Dadurch, dass den Qualitätskriterien mehr Gewicht beigemessen wird, sorgen wir dafür,
dass die kleinen leistungsfähigen Strukturen in der Fläche erhalten bleiben. Das wird ein aktiver Beitrag zum
Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit vor Ort sein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Bundeswirtschaftsminister, die Bundesregierung steuert bei der Einführung des Arbeitslosengeldes II auf die größte Bruchlandung der letzten Jahrzehnte zu. Ein bizarres Bild zeichnet sich ab: Der
Chefpilot des Jumbos Bundesagentur für Arbeit, Herr
Weise, funkt SOS, die EDV-Programme für den Weiterflug fehlen, das Höhenruder klemmt,
({0})
der Finanzsprit für die Kommunen und die Landkreise
reicht nicht und die Pilotenmannschaft bittet um die Erlaubnis zur Notlandung. Was macht der Cheffluglotse im
sicheren Berlin, Herr Clement? - Er befiehlt: Augen zu,
Blindflug bis zur Bruchlandung.
({1})
Die Leidtragenden einer solchen Gesetzeskatastrophe
- 3,5 Millionen Menschen, über 2 Millionen Langzeitarbeitslose, hinzu kommen die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger - haben schon jetzt große Sorge. Ich sage an
dieser Stelle ohne Häme: Wir hätten uns gewünscht, dass
das Projekt der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe gelingt und zu einem Erfolg für Deutschland wird. Deshalb haben wir im Vermittlungsausschuss alle Kräfte mobilisiert und unseren Beitrag
geleistet.
({2})
Die zentralen Absprachen im Vermittlungsausschuss
wurden aber - das wissen Sie genau - nicht eingehalten.
Deshalb sage ich an dieser Stelle klar und deutlich: Wir
lehnen jede Verantwortung für die sich anbahnende Gesetzeskatastrophe ab. Wir distanzieren uns von diesem
Gesetzesmurks.
({3})
Die Bereitschaft zur Mitwirkung der Gemeinden, der
Städte und der Landkreise wird Tag für Tag mehr verspielt. Für die meisten Städte stellt sich im Hinblick auf
die Lösung der Arbeitsgemeinschaft natürlich die
Frage: Wie schauen die Finanzen aus? Das ist auch für
diese Alternative die entscheidende Frage. Nachdem Sie
eine echte Option abgelehnt haben, wird die Bereitschaft, in eine Arbeitsgemeinschaft einzusteigen, nicht
wachsen, wenn Sie die grundlegende Frage, wie es mit
den Finanzen der Kommunen weitergeht, nicht klären.
Wieder einmal fehlen nach den Berechnungen der
Kommunen Milliarden, in diesem Falle 5 Milliarden
Euro. Sie sagen: Es sind weniger. Das Problem wird sich
schon noch lösen. - Wenn Sie uns nicht glauben, auch
den Kommunen und den Kreisen nicht vertrauen, dann
vertrauen Sie doch zumindest der rot-grünen Regierung
der Landeshauptstadt München; denn das sind Ihre politischen Freunde!
({4})
Dort hat man ausgerechnet, dass bei dem Verfahren, das
Sie jetzt einführen wollen, allein die Landeshauptstadt
München mit 92 Millionen Euro zusätzlich belastet
würde. Deshalb ist die Bereitschaft bei den Kommunen
gering. Deshalb werden Sie auch keine neuen Kommunen dafür gewinnen.
Was ist die Folge? - Die Folge ist, dass die Bundesagentur die in der Tat gewaltige Aufgabe der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe allein
schultern muss. 40 000 Mitarbeiter - darüber haben wir
schon gesprochen - werden zusätzlich benötigt.
({5})
Ich möchte an das Beispiel von Karl-Josef Laumann
anknüpfen. Die Bundeswehr schrumpfen und die Bundesagentur aufblähen, das ist der rote Faden in der Politik dieser Bundesregierung und das zeigt, wohin der Weg
geht. Statt Verschlankung und Beschränkung auf das
Kerngeschäft der Arbeitsvermittlung, die nach allgemeiner Ansicht notwendig sind, franst die Bundesagentur zu
einer allgemeinen Sozialagentur aus. Sie wird zukünftig
eine Bundessozialagentur und weniger eine Bundesvermittlungsagentur sein. Bei der Vorbereitung der Umsetzung dieses gewaltigen Vorhabens wurde - das lässt sich
schon jetzt sagen - fehlerhaft kalkuliert und mit dem Beharren auf ihrer Fortsetzung tragen Sie die Verantwortung.
Wenn am 2. Januar kommenden Jahres, also 2005,
mindestens 3,5 Millionen Menschen die neuen Leistungen erhalten sollen, um buchstäblich ihr Auskommen zu
haben, um finanziell überleben zu können, dann, so sagt
die Bundesagentur, müssen wir am 1. Oktober dieses
Jahres beginnen, arbeitstäglich mehrere Zehntausend
dieser Anträge zu bescheiden. Ab dem 1. August müssen
die Daten gesammelt werden. Das ist nicht einfach. Es
müssen Anträge versandt werden, die Anträge müssen
ausgefüllt werden, sie müssen zurückkommen, sie müssen ausgewertet werden. Das muss EDV-tauglich gestaltet werden. Dies geht nur, wenn ein funktionsfähiges
EDV-System vorhanden ist. Deshalb ist das so wichtig.
Deshalb kommen wir in dieser Debatte auch immer wieder auf das EDV-Programm zurück.
Erst am 19. Mai, in wenigen Wochen, soll eine Risikostudie der Bundesagentur vorliegen, die klärt, ob die
Technik überhaupt funktioniert und eingesetzt werden
kann. Wenn es bei diesem komplizierten Vorhaben zu
Fehlern kommt, dann gilt - so sagt die Bundesagentur;
das ist ihr eigenes Eingeständnis -: Es ist kein zeitlicher
Puffer mehr vorhanden. Sie befinden sich auf ganz dünnem Eis. Ein Fehler - und Sie brechen ein. Ich wünsche
es nicht.
({6})
Ich wünsche es auch den Arbeitslosen nicht. Ich sage
Ihnen: Es ist durchaus vorstellbar, dass am 2. Januar
kommenden Jahres die Menschen an den Türen der
Arbeitsagenturen rütteln, weil sie ihr Geld noch nicht erhalten haben.
({7})
- Sie brauchen nicht so dazwischenzuschreien! - Ich
sage Ihnen eines: In den 50 Jahren der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland sind wir von Volksaufständen Gott sei Dank verschont geblieben.
({8})
Aber wenn Sie so weitermachen, gibt es für die Zukunft
keine Garantie.
Jetzt komme ich zu einem weiteren ernsthaften Problem: Weil jetzt alle Kraft der Mitarbeiter der Bundesagentur - ich weise an dieser Stelle die Unterstellungen,
die Sie ständig aussprechen, nämlich dass wir ihre Leistung nicht würdigen oder ihnen nichts zutrauen würden,
zurück - auf dieses Projekt, das erkennbar mit schweren
Mängel behaftet ist, konzentriert werden muss, werden
die anderen Vorhaben der Hartz-Reformen, die auch Sie
so dringend einfordern, insbesondere die Umsetzung der
so genannten Hartz-III-Reform, also eine bessere Organisation der Arbeitsämter, nur noch in einer Leichtbzw. Softfassung verwirklicht werden.
({9})
- Logisch, Sie müssen ja alle Kräfte auf Hartz IV konzentrieren.
Zum Schluss richte ich deshalb meinen dringenden
Appell an Sie und den Cheffluglotsen Wolfgang
Clement, der die Verantwortung trägt: Stoppen Sie den
Blindflug! Verhindern Sie die Bruchlandung!
({10})
Und tun Sie alles, dass aus Hartz IV nicht eine Maut II
wird!
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Reform des Arbeitsmarktes stagniere, ist zu hören. Die
Einführung des so genannten Arbeitslosengeldes II zum
1. Januar 2005 sei gefährdet. Noch immer sei unklar, ob
und wie die Kommunen und die Bundesagentur für Arbeit zusammenwirken sollen. Obendrein gebe es auch
noch Softwareprobleme. - Das sind - wie ich finde: zu
Unrecht - die Schlagzeilen der letzten Tage. Wir haben
nämlich kein Softwareproblem, sondern wir reden über
ein Hardcoreprogramm,
({0})
das Millionen Arbeitslose, potenzielle Arbeitslose und
deren Angehörige in die Armut treiben wird. Das ist das
eigentliche Thema, und nicht, wer dann das Ganze mit
welcher Software durchführt.
({1})
Sie wissen, dass die PDS gegen diese so genannte Arbeitsmarktreform ist. Sie firmiert unter dem Namen
Hartz und ist Teil der Agenda 2010. Erst vor wenigen
Wochen haben eine halbe Million Menschen bundesweit
dagegen demonstriert; wie ich finde, zu Recht. Nun
staune ich allerdings, dass sich, wie man lesen kann,
Kronzeugen zu Wort melden, von denen ich das gar
nicht erwartet hätte, nämlich die viel zitierten Wirtschaftsweisen. Sie haben gestern ihren Jahresbericht
vorgelegt. Eine Aussage in diesem Bericht lautet: Die
Agenda 2010 hat keine Besserung gebracht; sie schuf
massenhafte Verunsicherung; sie belastet den Binnenmarkt; sie bremst das Wachstum und schafft keine Arbeitsplätze. Das sind starke Worte, allemal dann, wenn
man sie an den großspurigen Versprechungen im Zusammenhang mit Hartz misst. Da war nämlich noch von einer drastischen Senkung der Arbeitslosigkeit die Rede.
({2})
Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Sie sprechen
nicht für Rot-Grün - im Gegenteil.
({3})
Nun wollen Sie trotz alledem das Arbeitslosengeld II
einführen. Auch wenn wir gemeinsam die einschlägigen
Tabellen rauf- und runterrechneten, kämen wir für Familien mit Kindern, für Alleinstehende, für Ältere im Westen oder Jüngere im Osten immer wieder zu demselben
Ergebnis: Sie greifen Bedürftigen in die Tasche. Sie gehen sogar ans Ersparte. Sie zwingen Arbeitslose in unterbezahlte Jobs und drohen ihnen obendrein mit Strafen. Doch damit nicht genug: Sie drehen generell an der
Lohnspirale. Betroffen sind also nicht nur die Arbeitslosen, sondern alle, die jetzt noch Arbeit haben. Oder mit
den Worten des DGB-Chefs Sommer, der dieses in dieser Woche auf den Punkt brachte: Sie benehmen sich so,
als sei Arbeit Dreck.
Ein Wort noch an den Kollegen Singhammer. Sie haben sich ja eben zum Anwalt der Langzeitarbeitslosen
aufgeschwungen.
({4})
Sie haben nur vergessen, dass Sie sich freudig an diesem
Klau von Sozialleistungen beteiligt haben, indem Sie am
19. Dezember der Einführung des Arbeitslosengeldes II
für Menschen an der Armutsschwelle zugestimmt haben.
({5})
Kurzum: Es spricht sehr viel dafür, die Tätigkeit der
Bundesagentur für Arbeit den neuen Bedingungen anzupassen. Aber die Vorhaben, die genau dieses Ziel verfolgen, etwa entsprechend ausgestattete moderne Jobcenter,
schieben Sie auf die lange Bank. Die Repressionen gegenüber Arbeitslosen wollen Sie zugleich aber forcieren.
Sie meinen noch, das sei ein ehrgeiziges Ziel. Ich finde,
das ist nicht ehrgeizig, sondern eher ehrabschneidend.
({6})
Ich erteile das Wort der Kollegin Doris Barnett, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind die Guten, wir haben es angepackt: Doppelstrukturen weg! Denn die Experten der Hartz-Kommission
empfahlen vor knapp zwei Jahren die Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Damals, im
August 2002, waren wir uns einig, dass das der richtige
Ansatz ist. Der Rahmen für die Reformen ist also schon
lange klar, und zwar allen Beteiligten: Bund, Ländern
und Kommunen. Der Vorschlag hatte damals mit Option
nichts am Hut, wie Sie eigentlich wissen müssten, sondern es wurde klar und eindeutig von der Hartz-Kommission formuliert, dass die BA ({0}) die Zuständigkeit
haben und die Betreuung im Jobcenter erfolgen sollte.
Ziel unseres Gesetzentwurfes ist und bleibt, dass wir
die Kenntnisse und Erfahrungen der Akteure am Arbeitsmarkt nutzen, um eine Absenkung der Arbeitslosigkeit zu erreichen und aus Leistungsbeziehern Erwerbstätige zu machen, die möglichst keinerlei Unterstützung
mehr bedürfen. Aber nach fast zwei Jahren sollen wir
noch immer nicht dürfen können, weil Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, die Augenhöhe
nicht passt. Sie verbelzebuben die Arbeitsgemeinschaften zwischen Kommunen, deren Beschäftigungsgesellschaften und den Arbeitsämtern, obwohl diese schon
lange, zum Teil seit Jahren, sehr gut funktionieren. Fragen Sie doch einmal in Köln nach, ob sie sich als Büttel
der BA fühlen!
Außerdem erinnere ich an die Ausführungen des Vertreters des Deutschen Städtetages in der Anhörung, der
darauf hingewiesen hat, dass bei der Zusammenlegung
der Aufgaben der Sozial- und Arbeitslosenhilfe Kooperation Grundbedingung ist, weil es keiner Seite allein
möglich ist, diese Herkulesaufgabe zu schultern.
Aber auch wenn eine Kommune optiert - das soll sie
ja, wenn sie es will -, würde sie für viele Aufgabenstellungen des SGB III im Unterverhältnis die Agentur für
Arbeit beauftragen müssen. Oder glauben Sie allen Ernstes, die Sozialämter vermitteln die Arbeitssuchenden
dann bundesweit? Denn darauf haben die Empfänger des
Arbeitslosengeldes II Anspruch. Also läuft das echte Leben auch unter dieser Annahme wieder auf eine Arbeitsgemeinschaft hinaus.
Ich will damit aufzeigen, dass wir uns der Optionsmöglichkeit der Kommunen nicht verschließen, dass
aber die Lebenswirklichkeit nicht immer so ist, wie es
sich manche vorstellen, dass es nämlich möglich sei, die
Option in Reinform zu praktizieren. Denken Sie doch
nur daran, dass es neben den Arbeitslosenhilfeempfängern auch noch Arbeitslosengeldempfänger gibt. Diese
bleiben auf jeden Fall im Zuständigkeitsbereich der Arbeitsagentur. Aber auch in diesem Fall müsste eine vernünftige Kommune, selbst wenn sie optiert, ein Interesse
daran haben, diese schnellstmöglich zu vermitteln, damit
sie nicht erst zu ihren Arbeitslosengeld-II-Kunden werden. Auch deshalb würde hier eine Schnittmenge entstehen, die deutlich für eine Arbeitsgemeinschaft spricht.
Weil die Eventualitäten des Lebens vielfältiger sind,
als man es vernünftigerweise in ein Gesetz schreiben
sollte, kann ich trotz Ihrer ablehnenden Haltung nur dafür werben, mit uns das jetzt vorliegende Optionsgesetz
zu beschließen und die Akteure endlich an die Arbeit zu
lassen.
({1})
Weil wir einer flexiblen Handhabung den Vorzug vor
schematischer Gleichmacherei geben, werden wir jede
vernünftige Lösung fördern. Die guten Beispiele, die es
bereits gibt - zum Beispiel in Köln und Düsseldorf -,
können Pate stehen und helfen, viele Detailfragen zu
klären. Dann kommen wir auch mit unserem eigentlichen Ziel, Menschen wieder in Arbeit zu bringen,
schneller vorwärts.
Bei den Debatten in den letzten Tagen hatte ich allerdings eher den Eindruck, wir streiten über bürokratische
Details und Vorurteile gegenüber den jeweiligen Fähigkeiten der Verwaltungen - natürlich ist die eigene immer
die bessere -, was vielleicht auch damit zusammenhängt,
dass man auf Kompetenzzuwachs hofft. Aber eigentlich
muss es uns doch darum gehen, dem arbeitslosen Menschen zu helfen. Da nützt es nichts, durch Verschiebung
des Gesetzes so zu tun, als könne man durch Zuwarten
möglicherweise noch bessere Lösungen finden - in
zwei, drei oder fünf Jahren, wann auch immer, wahrscheinlich nach der Bundestagswahl. Wir brauchen die
Instrumente wie Jobcenter jetzt. Die Menschen wollen
jetzt vermittelt werden, sie wollen jetzt in Arbeit oder
Fortbildung und dabei interessiert es sie herzlich wenig,
ob ihr Gegenüber von der Agentur für Arbeit, von der
Stadtverwaltung oder von der Kreisverwaltung kommt.
Aber so soll es ja nicht sein. Zuerst will die Opposition geklärt haben, wie das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu interpretieren ist, nämlich so, wie die
CDU/CSU es in ihrem Gesetzentwurf vom September
2003 geschrieben hat: „Zuweisung aller Vermittlungs-,
Beratungs- und Leistungsaufgaben an die kreisfreien
Städte und Landkreise“. So steht es in Ihrem Gesetzentwurf. Dieser sah damals eine Grundgesetzänderung vor.
Das ist das genaue Gegenteil von dem, was in dem
Hartz-Papier steht. Aber in der Beschlussempfehlung
des Vermittlungsausschusses - vielleicht lesen Sie die
einmal, Herr Niebel - wird bezüglich der Option der
kommunalen Träger bestimmt, dass das Nähere ein
„Bundesgesetz“ regelt - so, wie die Hartz-Kommission
es vorgeschlagen hat. Im fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag zum Ergebnis des Vermittlungsausschusses vom 18. Dezember 2003 fordern Sie mit uns erneut, dass die Vorlage eines entsprechenden
Gesetzentwurfs zu erfolgen habe. Von einer Grundgesetzänderung war wieder weit und breit nichts zu lesen.
Wenn Sie hier jetzt mit Entrüstung behaupten, wir hielten uns nicht an Absprachen, dann ist das schon verwunderlich. Denn Sie tun so, als hätten wir tatsächlich über
eine Grundgesetzänderung gesprochen. Es waren aber
die B-Länder, die Ihre Forderungen letztendlich ablehnten.
Es trifft nicht zu, dass die Kommunen zu Bittstellern
der Bundesagentur werden. Auch hier hilft ein Blick in
das von uns gemeinsam verabschiedete Papier vom
18. Dezember. Dort wird eindeutig über Zielvereinbarungen mit den Kommunen gesprochen. Genau das,
was Sie im Dezember letzten Jahres mit uns beschlossen
haben, stellen Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, jetzt mit Ihrem Entschließungsantrag infrage. Ihr Ziel ist und bleibt ganz offensichtlich, auf Biegen und Brechen zu verhindern, dass wir Erfolg damit
haben, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Darum geht es Ihnen in Wirklichkeit. Mit dem von uns vorgelegten Gesetz, das Sie im Bundesrat verhindern wollen, haben wir den Kommunen die Möglichkeit an die
Hand gegeben, im Rahmen einer Zielvereinbarung arbeitslose Menschen in Beschäftigung zu bringen.
Jeder, der etwas von Politik und Taktik versteht, begreift, um was es Ihnen geht. Ihnen geht es nicht um die
Optionsmöglichkeit, die Herr Koch für ganz Hessen und
nicht nur für den Main-Kinzig-Kreis hätte haben können. Er hat sie nicht gewollt und hat bis heute nicht gesagt, warum.
({2})
Sie wollen blockieren, weil Sie Angst haben, dass wir
Erfolg haben könnten. Deswegen sage ich Ihnen: Tun
Sie sich selbst einen Gefallen und stimmen Sie zu! Dann
können Sie den Erfolg mit uns teilen.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Wolfgang Meckelburg für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich laufe
jetzt Gefahr, ähnlich schnell zu reden wie Frau Barnett,
weil ich ebenfalls einige Zettel mehr habe, als ich für
meine Rede brauchen werde.
({0})
Ich will als letzter Redner unserer Fraktion und auch als
letzter Redner in dieser Debatte den Versuch unternehmen, die Argumente zu bündeln, die gegen das sprechen,
was heute verabschiedet werden soll.
Ich habe aus der „WAZ“, einer großen Zeitung im
Ruhrgebiet, einen Artikel von vorgestern mitgebracht.
({1})
- Man müsste einmal nachschauen, wem sie gehört. Darin steht, dass in den Städten schon das Wort von der
Maut II kursiert.
({2})
Genau diese Diskussion läuft zurzeit in den Kommunen
und Städten. Wenn Sie mit Sozialhilfeträgern reden,
dann können Sie die Einschätzung hören, dass die Gefahr besteht, dass die Zusammenlegung von Sozialhilfe
und Arbeitslosenhilfe am 1. Januar 2005 ähnlich
schlimm ausgeht wie die Einführung der Maut.
Wir haben jetzt aber noch etwas Zeit, darüber zu reden, ob wir wirklich die Vernunft ausschalten und uns
sehenden Auges in diese Gefahr begeben wollen. Die
beste Lösung wäre, wenn Sie heute sozusagen kurz vor
dem Zieleinlauf den Gesetzentwurf zurückziehen würden, weil er in dieser Form nicht tauglich ist.
({3})
Ich konnte eben fast den Eindruck gewinnen, dass Rot
und Grün die Urheber des Themas Zusammenlegung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind. Es hat lange
gedauert, bis Sie sich zu einer Zusammenlegung entschlossen haben. Sie haben in der letzten Legislaturperiode mehrere entsprechende Anträge von uns abgelehnt.
Seit Hartz ist diese Politik aber hoffähig geworden. Das
ist auch gut so. Es besteht jetzt breite Übereinstimmung
darin, dass dieses Vorgehen sinnvoll ist. Dennoch sind
wir in vielen Fragen nicht einer Meinung. Ich will in diesem Zusammenhang drei Punkte ganz deutlich ansprechen.
Erster Punkt. Uns war schon während der Beratung in
der letzten Legislaturperiode klar, dass wir nur dann zu
einer Lösung kommen werden, wenn Sie die Kommunen
im Boot haben und wenn Sie den Kommunen nicht das
Gefühl geben, dass ihnen eine Aufgabe zugeschustert
wird, die sie selbst zu finanzieren haben. Genau diese
Diskussion findet zurzeit statt. Es geht also um die
Frage, ob - wie versprochen - die Kommunen um
2,5 Milliarden Euro entlastet werden oder ob sie - damit
rechnen sie - mit 5 Milliarden Euro belastet werden. Das
ist ein Unterschied von 7,5 Milliarden Euro. Es wäre gut
gewesen, wenn wir heute darüber Klarheit geschaffen
hätten. Das gilt nicht nur für das Optionsmodell, sondern
auch für das andere diskutierte Modell.
Herr Minister, man kann Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie in einem Interview gesagt haben, dass wir
zu den finanziellen Auswirkungen eine Verständigung
im Vermittlungsverfahren erreicht hätten. Dies sei im
Nachhinein von den Kommunen angesichts der finanziellen Dimensionen infrage gestellt worden. Sie haben
ferner die Ansicht geäußert, dass die Kommunen
5 Milliarden Euro mehr vom Bund haben wollten, als es
im Vermittlungsverfahren vereinbart worden sei. Das ist
schlicht und einfach falsch. Es ist eine Entlastung von
2,5 Milliarden Euro vereinbart worden. Dabei geht es
nicht um Nachforderungen, sondern um eine richtige
Berechnung. Es wäre schön gewesen, wenn wir heute
das Signal ins Land hätten senden können, dass das Geld
vorhanden ist.
({4})
Ein weiterer Punkt betrifft die Organleihe. Der geschätzte Kollege Laumann hat eben aus der Anhörung
zitiert. Sie können das nennen, wie Sie wollen. Eine
kommunale Trägerschaft mit einem eigenen Handlungsspielraum, wie es im Vermittlungsausschuss vereinbart
wurde, ist das, was heute verabschiedet wird, nicht. Sie
machen die kommunalen Träger in Ihrem Entwurf zu
kommunalen Stellen, die zu Organen der Bundesagentur
werden. Dies ist letztlich eine Auftragsverwaltung.
Wenn Sie einmal in Ihren Antrag hineinschauen, dann
finden Sie auf Seite 2 die sehr überzeugende Formulierung von den „zugelassenen kommunalen Stellen“. Das
zeigt, wer an wessen Tropf hängt. So stellen wir uns eine
kommunale Trägerschaft nicht vor. Den Kommunen
bleibt nach diesem Gesetz kaum Spielraum für eine eigenständige regionale Beschäftigungspolitik. Das ist für
uns ein wichtiger Grund, Nein zu sagen. Es geht hier
nicht um eine Strukturdiskussion, Herr Minister
Clement, sondern um die Frage: Wer kann es besser? Ich
glaube, wir können den Kommunen mehr zutrauen, als
Sie es in Ihrem Gesetz vorsehen.
({5})
Ich frage mich wirklich: Warum versucht Rot-Grün
mit aller Macht, eine zentralstaatliche Lösung durchzusetzen? Wir haben doch gute Erfahrungen; die Kommunen leisten doch Gutes.
({6})
Woher nehmen Sie von Rot-Grün eigentlich die Zuversicht, dass die Bundesagentur für Arbeit das alles besser
kann? Sie war schon früher für 2 Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger und für die Langzeitarbeitslosen
zuständig. Die Zahlen sind doch nicht zurückgegangen;
sie sind angestiegen.
({7})
Jetzt kommen noch mindestens 1,2 Millionen erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger hinzu. Warum soll das über
die Bundesagentur für Arbeit besser gehen?
Frau Barnett, warum lernen wir nicht - wir haben das
auch an anderen Stellen versucht - von den Niederlanden
({8})
- nein, wir tun es gerade nicht -, die als ein kleineres
Land mit 14 Millionen Einwohnern den Kommunen die
Trägerschaft überlassen, und zwar mit der Begründung,
dass ein Land mit 14 Millionen Einwohnern für eine
zentrale Stelle zu groß sei. Wir erlauben uns mit
82 Millionen Einwohnern genau das Gegenteil; wir machen daraus eine Mammutveranstaltung. Dies ist falsch
und bedeutet über 40 000 Mitarbeiter mehr.
Wir sind nicht im Zeitplan.
({9})
- Nicht abwarten. - Damit es klar ist: Wir haben am
18. Dezember 2003 als Ergebnis eines Vermittlungsverfahrens gemeinsam beschlossen, dass Sie bis Ende Februar 2004 einen Gesetzentwurf vorlegen. Ich stelle fest:
Der erste Punkt, der Termin, wurde nicht eingehalten.
Dann steht dort unter Punkt 1: Falls das Bundesgesetz
nicht bis Ende April in Kraft getreten ist - es wird heute
verabschiedet; aber es tritt nicht in Kraft; das heißt, man
hat keine genaue Gewissheit, was möglich ist -, sind die
Fristen entsprechend anzupassen.
Es ist der 31. August 2004 genannt worden, bis zu
dem sich die Kommunen entscheiden sollen.
({10})
Was passiert hier eigentlich? Die Frist vorne wird immer länger und die Frist hinten immer kürzer. Welche
Kommunen sollen sich angesichts eines so kurzen Zeitfensters denn wirklich für ein solches Modell entscheiden? Wir haben in diesem Zeitraum acht Kommunalwahlen. Zusätzlich wird am 26. September in
Nordrhein-Westfalen gewählt. In Phasen, in denen Wahlen anstehen, können Sie den Räten solche grundlegenden Entscheidungen nicht zumuten. Deswegen ist die
Frage, wann was in Kraft tritt, eine Frage, die uns sehr
bewegt.
({11})
- Lassen Sie die Verdrehung meines Namens! Das kenne
ich schon aus dem Rat der Stadt Gelsenkirchen. Das war
vor 20 Jahren. Das brauchen Sie nicht zu wiederholen;
das ist nicht neu.
({12})
Meine Damen und Herren, es wäre schön gewesen,
heute zur Verabschiedung des Gesetzes hier im Bundestag einmal wirklich alle Fragen geklärt zu haben: die
Finanzierung, die Frage der eigenständigen kommunalen
Trägerschaft, die Zeitschiene. Können Sie sich, meine
Damen und Herren von Rot-Grün, überhaupt noch vorstellen, welches Signal es für Deutschland wäre, wenn
Sie endlich einmal ein bis zu Ende gedachtes und in sich
stimmiges Konzept mit einem Schlag durchbrächten,
({13})
wenn Sie heute bei der Verabschiedung Sicherheit für
die Kommunen und hinsichtlich der Finanzen schaffen
würden? Sie bekommen das nicht hin. Dies alles bleibt
Stückwerk. Es entsteht Verunsicherung nach dem heutigen Beschluss.
Deswegen haben wir als Fraktion der CDU/CSU einen Entschließungsantrag eingebracht
({14})
- genau, zusammen mit der FDP -, in dem wir die Bundesregierung in vier Punkten auffordern, das Kommunale Optionsgesetz so umzugestalten, dass erstens die
optierenden Kreise und kreisfreien Städte tatsächliche
Träger werden - das sind sie nämlich jetzt nicht - und in
Eigenverantwortung die Aufgaben erfüllen können, die
in diesem Gesetz vorgesehen sind, dass Sie zweitens
eine verfassungskonforme Regelung vorlegen, wodurch
den Kommunen entsprechend dem Entschließungsantrag
direkt vom Bund Geldmittel an die Hand gegeben werden, dass drittens bei den Mitteln für Verwaltungs- und
Eingliederungspauschalen auskömmliche Summen, das
heißt höhere als bisher, ausgewiesen werden und dass
Sie viertens durch gegebenenfalls notwendige Gesetzesänderungen sicherstellen, dass den Kommunen tatsächlich die zugesagten Einsparungen von jährlich
2,5 Milliarden Euro verbleiben.
({15})
Wenn Sie das alles heute schon geschafft hätten, wären wir einen wichtigen Schritt weiter. Das wäre ein Signal: Jetzt geht es richtig los. Wir wären dabei. Aber Sie
haben es wieder nicht geschafft.
({16})
Deswegen wird die Sache den Weg gehen, den sie gehen
muss. Jedenfalls werden Sie das heute alleine verabschieden müssen.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Nun geht es wirklich los. Denn wir kommen nun zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch auf Drucksache
15/2816. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 15/2997, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP auf Drucksache 15/3005. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 5 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache
15/2997 zum Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Verabschiedung eines Optionsgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, diesen
Antrag auf Drucksache 15/2817 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Schmidt ({0}), Ulrich Adam, ErnstReinhard Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr
- Drucksache 15/2824 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich dem ersten Redner das Wort erteile, wäre
ich dankbar, wenn wir den üblichen Wechsel in der Besetzung der beteiligten Kolleginnen und Kollegen erstens möglichst zügig und zweitens möglichst geräuschlos vornehmen könnten.
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Christian
Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Bei dem vorliegenden Antrag „Für den
Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr“ handelt es sich nicht um ein dahingeschriebenes
Blatt Papier, sondern um eine zentrale Problematik, die
sich in diesem Jahr mehr und mehr zeigt. Anspruch und
Wirklichkeit klaffen wieder einmal auseinander.
({0})
Wie wird die Zielsetzung, die letztes Jahr verkündet
wurde, in diesem Jahr umgesetzt? Da sind große Fragezeichen zu setzen.
Gründe dafür sind die pure Finanznot und vielleicht
auch ein Schuss Ideologie: Die Frage der Landesverteidigung soll ad acta gelegt werden.
Christian Schmidt ({1})
Ich erlaube mir, Ihnen nach dem Prinzip „Schlag nach
bei Struck“ vorzulesen und in Erinnerung zu rufen, was
der Verteidigungsminister, dem wir, Herr Staatssekretär,
von hier aus alles Gute und gute Besserung wünschen
({2})
- schon wieder im Einsatz -, in den Verteidigungspolitischen Richtlinien geschrieben hat, die ich mit Interesse gelesen habe - ich zitiere -:
Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen
und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen
bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im
Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption.
Nationale Sicherheitskonzeption heißt nicht Ressortkonzeption, sondern dass sich alle zusammensetzen und
überlegen, was sie tun müssen, können und sollen, damit
unser Land sicher bleibt und unsere Bürgerinnen und
Bürger vor den drohenden Gefahren zum Teil völlig
neuer Art, die wir noch vor zehn oder 15 Jahren für völlig unmöglich gehalten haben, geschützt werden. Das
heißt auch, dass man von dem, was bis vor 15 Jahren
war, Abschied nehmen muss.
Natürlich geht es dabei nicht um das, was früher Territorialverteidigung hieß, also so zu tun, als ob es darauf
ankäme, anstürmende fremde Heere zu bekämpfen und
zu domestizieren. Es geht vielmehr um die Frage - dies
erfordert schon ein Stück Mitdenk- und Handlungsbereitschaft und -fähigkeit -, wie ich mit dem Potenzial,
das ich aus diesen Zeiten habe, umgehe, ob ich im Sinne
einer destruktiven Zerstörung sage: Ich verscherbel das
alles, tue es weg und dann fangen wir neu an. - Das ist
vergleichbar mit dem, was
Wir kassieren die Rentenreform von CDU/CSU
und FDP erst einmal und dann bekommen alle wieder
Geld. Es hat bis zum Februar des nächsten Jahres
- 1999 - gedauert, als er zugeben musste, dass er kein
Geld für eine Rentenerhöhung in der Kasse hatte. - Genau diese Gefahr scheint bei der Bundeswehrreform
auch zu bestehen.
Das ist angesichts der jetzigen Situation problematisch, da am 11. März dieses Jahres eine Illusion ausgeräumt worden ist, die Illusion nämlich, Europa könnte
von den neuen Gefahren, insbesondere des Terrorismus, verschont bleiben. Unser Land ist auch vorher
nicht davon verschont geblieben und deswegen müssen
wir in eine internationale Koalition gegen den Terror
eintreten. Wir müssen unseren Beitrag leisten. Das tun
wir: in Afghanistan und auch woanders. Hierfür gilt immer wieder unser Dank den Soldaten, die einen Anspruch darauf haben, dass sie eine entsprechende Ausstattung bekommen und behalten.
Die andere Frage ist aber: Wie gehen wir mit den Risiken um, die unser eigenes Land betreffen? Müssen wir
uns darauf vorbereiten? Diese Fragen sind eigentlich
durch die Verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministers beantwortet worden. Seine Antwort
lautet: nationale Sicherheitskonzeption. Ich sage: Ja, er
hat Recht. Wir nennen das Gesamtverteidigungskonzept. Das ist das, was wir wollen. Aber worin besteht denn dieses Konzept? Bislang hat sich lediglich der
Bundesinnenminister dahingehend geäußert, dass man
eine gemeinsame Übung mit THW, BGS und Bundeswehr machen könnte, um zu klären, wie die so genannte
zivil-militärische Zusammenarbeit funktioniert. Was
muss man denn da üben? Ist die Bundeswehr überhaupt
notwendig?
Dazu möchte ich wieder zitieren - es geht um die
Frage der Landesverteidigung und bedrohliche Entwicklungen in unserem eigenen Lande -:
Sie kann den Einsatz deutlich umfangreicherer eigener Streitkräfte erfordern. Angesichts der sicherheitspolitischen und strategischen Lage können die
hierfür erforderlichen zusätzlichen Kräfte zeitgerecht wieder aufgestellt werden.
Es ist interessant, das zu hören. Ich bekomme allerdings einen anderen Eindruck von den Strukturen, die
wir bisher als Territorialverteidigung kennen. Aus heutiger Sicht kann man übrigens über die Frage nachdenken,
ob es damals richtig war, die Verteidigungskreiskommandos abzuschaffen.
({0})
Sie haben die Zusammenarbeit zwischen den zivilen
Stellen und den Katastrophenschutzorganen der Bundeswehr in hervorragender Weise sichergestellt. Wenn ich
das, was der Generalinspekteur vor kurzem hierzu gesagt hat, richtig verstanden habe, sollen in diesem Bereich im Sinne einer Föderalisierung Änderungen vorgenommen werden.
({1})
Ich habe schon gedacht, mit dem Begriff „Föderalisierung“ werde versucht, vor allem die Bayern zu ködern;
denn Föderalismus wird hier als etwas Positives betrachtet. Das wird selbstverständlich auch in anderen Bundesländern so gesehen.
Aber was steckt hinter „Föderalisierung“? Dahinter
steckt die Absicht, die flächendeckende Struktur, die
notwendig ist, um zivil-militärische Zusammenarbeit
überhaupt zu organisieren, durch einen Verbindungsoffizier bei den jeweiligen Landesregierungen zu ersetzen,
der dann, mit einem PC ausgestattet, eine Art virtuelle
Sicherheit organisieren kann. Mehr kann er aber nicht
tun. Das ist das Problem, das uns unruhig schlafen lässt.
({2})
Es geht auch um ein anderes Problem, das man an einigen Stellen nachlesen kann: Ich meine die Umsetzung
von Erfahrungen in die VPR:
Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe
gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr
Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder.
Christian Schmidt ({3})
Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung habe ich aus den
Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesministers der Verteidigung zitiert.
Herr Kollege, darf ich Sie zwischendurch darauf hinweisen, dass nach den überarbeiteten Richtlinien unserer
Geschäftsordnung für Zitate keine Genehmigung mehr
erforderlich ist?
({0})
Es wäre allerdings schön, wenn sie authentisch wären.
({1})
Herr Präsident, da es mir nicht zusteht, die Sitzungsleitung in irgendeiner Weise zu kommentieren, möchte
ich das so aufgefasst wissen, dass ich als jemand, der im
besten Sinne konservativ ist, Traditionen, die sich gut
entwickelt haben und nicht verzichtbar sein sollten, fortführen will. Das möchte ich nicht nur auf die Verteidigungskreiskommandos übertragen. - Ich habe Ihren
Hinweis zur Kenntnis genommen.
Zurück zum Thema. Ich meine, das darf aber nicht
heißen, dass die Reservelazarettstrukturen nicht angepasst, sondern schlichtweg aufgelöst werden und dass
die Aufwuchsfähigkeit bzw. die Rekonstitutionsfähigkeit, die mehrfach zitiert wurde, eigentlich nirgendwo
widergespiegelt wird. Wie sieht eigentlich das Reservistenkonzept aus? Welche Rolle sollen Reservisten in Zukunft spielen? Welche Vorbereitungen wurden für die
Risiken getroffen, die uns drohen? Über diese Fragen
muss diskutiert werden.
Ich hoffe, dass in der Konzeption der Bundeswehr,
die wir in den nächsten Wochen erwarten, auf diese Fragen - da habe ich allerdings große Zweifel - vernünftige
Antworten gegeben werden. Ich hoffe, dass das getan
wird und dass die Verantwortlichen im Verteidigungsministerium wissen, wovon sie reden. Sie sind nicht unter
der Knute des Finanzministers und anderer und können
nicht daran gehindert werden, das aufzuschreiben, von
dem sie wissen, dass sie es eigentlich aufschreiben und
umsetzen müssten.
({0})
Deswegen hoffe ich, dass wir jetzt nicht den zweiten
Schritt vor dem ersten oder sogar einen falschen Schritt
tun. Das heißt, wir müssen die notwendigen Debatten
führen und uns im Dialog darüber einig werden, wie unser Land zu sichern ist und wie wir uns zukünftig im Zusammenspiel aller Kräfte gegen neue Gefahren wappnen
können. Es ist nicht zulässig und nicht sinnvoll, Strukturen aufzugeben, die in ihrer jetzigen Form nie mehr wiederherzustellen sind. Diese Strukturen zu erhalten ist das
Hauptanliegen unseres Antrags. Ich bitte Sie alle, diesem
Antrag zuzustimmen. Er beschreibt die Notwendigkeit
seriöser Politik, die die Grundlage dafür schafft, das,
was Transformation der Bundeswehr genannt wird, in
Zukunft in einer vernünftigeren Art und Weise zu organisieren.
Vielen Dank.
({1})
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorliegende Antrag der CDU/CSU und auch die zum
Teil bedeutungsschwangere Rede des Kollegen Schmidt
können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir das, was
Sie wollen, insbesondere nach dem 11. September 2001,
schon längst verfolgen: Wir gewährleisten umfassende
Sicherheit nach innen und nach außen. Wir werden dabei
aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der antragstellenden Fraktion, keinesfalls dem von Ihnen verfolgten Ansatz folgen, die bewährte, grundgesetzlich gewollte,
klare Trennung zwischen Strukturen und Zuständigkeiten der inneren und der äußeren Sicherheit aufzuweichen.
({0})
Wir machen keineswegs bei der Absicht der CDU/CSU
mit, die Bundeswehr zum Lückenfüller für Aufgaben zu
machen, die in erster Linie andere Institutionen, wie zum
Beispiel die Polizeien der Länder, wahrzunehmen haben.
({1})
Die Bundesregierung begegnet den absehbaren inneren und äußeren Herausforderungen und Risiken mit einer vorbeugend angelegten, ressortübergreifenden Politik. Diese beinhaltet auch die Bereitschaft und die
Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte sowie Stabilität
und Sicherheit notfalls mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Für die Bundeswehr bleibt die Verteidigung
Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung der zentrale
und eigentliche verfassungsrechtliche und politische
Auftrag. Verteidigung beschränkt sich im Sinne des
Grundgesetzes jedoch nicht nur auf die Verteidigung an
den Landesgrenzen, sondern fängt dort an, wo Risiken
und Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und
seiner Verbündeten entstehen. Um diese Fähigkeiten zu
erreichen und weiter auszubauen, wurde die Bundeswehrreform des Jahres 2001 auf den Weg gebracht, die
wir jetzt mit dem von Verteidigungsminister Dr. Struck
eingeleiteten Transformationsprozess fortsetzen. Hierzu
richten wir die Bundeswehr klar auf die Einsätze zur
Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus
aus.
Nun im Einzelnen zu den von Ihnen aufgeworfenen
Problempunkten. Ich gehe zunächst auf die Aspekte des
Heimatschutzes ein. Die Behauptung, wir würden diese
Aspekte unberücksichtigt lassen, geht ins Leere. Vielmehr hat der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger eine neue, umfassende Bedeutung gewonnen. Diese Kernaufgabe umfasst neben der derzeit
eher unwahrscheinlichen Aufgabe der Landesverteidigung im herkömmlichen Sinn auch den Schutz der Bevölkerung und von lebenswichtiger Infrastruktur vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen. Dies
gehört im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben
zum subsidiären Aufgabenspektrum der Bundeswehr,
hierzu stehen im Bedarfsfall entsprechende Kapazitäten
zur Verfügung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es steht doch außer
Frage, dass die Bundeswehr im Rahmen des geltenden
Rechts wie bisher auch künftig immer dann zur Verfügung stehen wird, wenn nur sie über die erforderlichen
Fähigkeiten verfügt oder der Schutz der Bürgerinnen
und Bürger sowie wichtiger Infrastruktur allein durch
die Bundeswehr geleistet werden kann.
({2})
Die Bundeswehr ist wie in der Vergangenheit auch in der
Zukunft in der Lage, subsidiär die für diese Aufgaben
zuständigen Innenbehörden von Bund und Ländern zu
unterstützen. Auch in den neuen, im weiteren Transformationsprozess einzunehmenden Strukturen der territorialen Kommandobehörden wird die Bundeswehr die
Zusammenarbeit mit den Bundesländern, den Regierungsbezirken, den kreisfreien Städten und den Landkreisen sicherstellen. Mehr noch, Herr Kollege Schmidt:
Die Unterstützung des Krisenmanagements auf Regional- und Kommunalebene wird durch optimierte Fähigkeiten der Bundeswehr zur zivil-militärischen Zusammenarbeit künftig verbessert werden. Deswegen geht
Ihr Hinweis auf lediglich virtuelle Sicherheit bei der
praktischen Gestaltung der Umsetzung ins Leere.
({3})
Der verehrte Präsident des Verbandes der Reservisten
der Deutschen Bundeswehr sitzt in der ersten Reihe und
schaut mich freundlich an; er wird nachher auch reden.
Lieber verehrter Herr Kollege Beck, Reservistinnen
und Reservisten werden auch künftig einen hohen Stellenwert einnehmen; wir sind uns darüber einig. Wir wollen dieses qualifizierte und motivierte Personal, das ein
wichtiges Potenzial darstellt, sowohl bei Einsätzen im
Inland als auch bei Auslandseinsätzen noch besser nutzen. Mit der neuen Konzeption betreffend die Reservistinnen und Reservisten wird auch deren kurzfristige Einberufung zur Hilfeleistung bei Katastrophen und
schweren Unglücksfällen im Inland möglich.
Zur Reservelazarettorganisation. Hier möchte ich
mit einer Mär aufräumen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir die Anteile der Reservelazarette, die dem
Schutz der Bevölkerung im Falle von Katastrophen oder
Anschlägen dienen, auch weiterhin erhalten. Jeder, der
sich damit beschäftigt, weiß - ich gehe davon aus, dass
die sehr geschätzte Frau Kollegin Lietz in dieser Debatte
noch das Wort dazu ergreifen wird -, dass diese fachärztlichen Komponenten, die das zivile Gesundheitswesen im Bedarfsfall in dem entsprechenden Brennpunkt
verstärken können, auch weiterhin zur Verfügung stehen
werden. Die Reservistinnen und Reservisten des Sanitätsdienstes werden auch künftig eine wichtige Rolle
spielen. Durch eine engere Anbindung an aktive Einheiten und Verbände, die sie bei ihren gesamten Aufgaben
im In- und Ausland unterstützen sollen, wird ihr Potenzial noch wirksamer ausgeschöpft werden können.
Ein Wort zum Thema Bundeswehrkrankenhäuser.
Sie sind auf dieses Thema zwar nicht eingegangen, aber
ich möchte dazu etwas sagen, weil man ständig in den
Zeitungen darüber liest. Da der Umfang der Bundeswehr
sinkt, muss man natürlich auch die Bettenzahl anpassen
und entsprechend reduzieren. Der Bedarf an ärztlichem
und nicht ärztlichem Klinikpersonal leitet sich aus der
nationalen Zielvorgabe für die Einsätze der Bundeswehr
ab. Die fachgerechte Ausbildung des Klinikpersonals
und dessen Übung ist bei strukturbedingt rückläufigen
Fallzahlen nur mit einer ausreichenden Anzahl ziviler
Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Deswegen
werden wir Bundeswehrkrankenhäuser in ausreichender
Größe im geeigneten regionalen Umfeld realisieren.
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Auch auf
dieses Thema sind Sie, Herr Kollege Schmidt, nicht eingegangen. Es ist wichtig, dass Ihr Antrag umfassend betrachtet wird und dass auch dessen Schwächen deutlich
herausgearbeitet werden. Es ist künftig nicht mehr erforderlich, dass eine solch große Anzahl nicht aktiver Truppenteile besteht wie bisher. Diese große Anzahl hat sich
nämlich aus der früheren Aufgabe der Landesverteidigung aufgrund der groß angelegten Aggression aus dem
Osten hergeleitet, die heute aber nicht mehr gegeben ist.
Diese Überkapazitäten werden unter den heutigen
sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen eindeutig
nicht mehr benötigt. Künftig werden die freiwillig beorderten Reservistinnen und Reservisten sehr zielgenau
und damit wesentlich effizienter als bisher besonders im
Hinblick auf ihre zivilberuflichen Qualifikationen und
Spezialkenntnisse zur Ergänzung der Fähigkeiten der aktiven Truppe genutzt werden.
Mit dem derzeit laufenden Transformationsprozess
wird die Bundeswehr auf einen Kurs gebracht, der unserer Meinung nach operationell geboten, betriebswirtschaftlich vertretbar, haushalterisch zu beherrschen,
rüstungswirtschaftlich sinnvoll und insgesamt zukunftsfähig ist. Die Bundeswehr wird zielgerichtet auf die
künftig wahrscheinlichen Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes
gegen den internationalen Terrorismus ausgerichtet. Die
künftig bereitgehaltenen Kapazitäten der Bundeswehr
werden für ihre jeweiligen Einsätze richtig ausgebildet
und ausgerüstet und im Rahmen des geltenden Rechts
auch zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur in Deutschland geeignet sein. Die neu
gestaltete Bundeswehr wird damit den Herausforderungen der Zukunft gerecht und wird durch unsere Politik
auch künftig in der Lage sein - das ist das
Entscheidende -, den Schutz der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema Struktur der Bundeswehr. Morgen werden wir uns an diesem Ort in einer
von der FDP beantragten Aktuellen Stunde mit der Frage
der Wehrpflicht beschäftigen. Ich will Ihnen aber schon
heute sagen: Wir werden das Thema Aussetzung der
Wehrpflicht so lange auf die Tagesordnung setzen, bis
die Wehrpflicht auch endlich ausgesetzt wird.
({0})
Dann werden wir eine zukunftsfähige und den Anforderungen gerechte Struktur für die Bundeswehr haben.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns das einmal
genau anschauen, dann sehen wir, dass der Verteidigungsminister das Ende der Wehrpflicht bereits im Visier hat. Es werden jetzt lediglich noch die Rahmenbedingungen für die Entscheidung hergestellt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Gesichtswahrung ist hier offensichtlich angesagt. Politisch kann
ich das ja verstehen. Das geht aber zulasten der Angehörigen der Bundeswehr, weshalb das nicht zu tolerieren
ist. Dem Generalinspekteur und seinen Planern im
BMVg wird ein weiteres Jahr für die Planung entzogen.
Das ist aus unserer Sicht unverantwortlich. Die Angehörigen der Bundeswehr haben es verdient, hier endlich
Planungsvertrauen und Planungssicherheit zu erhalten.
({2})
Das Thema Wehrpflicht hätte schon längst abgeschlossen sein können. Die Bundesregierung bzw. der
damalige Verteidigungsminister Scharping hätte im
Jahr 2000 nur die guten Vorschläge der WeizsäckerKommission aufgreifen müssen, die sich weitgehend mit
dem bereits 1999 von der FDP-Fraktion vorgelegten
Bundeswehrkonzept deckten, und Sie hätten die Aussetzung der Wehrpflicht beschließen müssen.
({3})
Die Anschläge vom 11. September 2001 und vom
11. März 2004 waren grausam und haben uns gelehrt,
dass sich die tödliche Gefahr des Extremismus und des
Terrorismus regional nicht einschränken lässt. Daher
sind die Strukturen der Sicherheitsinstitutionen, wo immer es möglich und sinnvoll ist, auch auf diese Bedrohungen einzustellen. Das soll und kann aber nicht heißen, dass die Bundeswehr auch die Erfüllung von
Polizeiaufgaben übernehmen soll.
({4})
Offensichtlich sucht die Union krampfhaft nach einer
Legitimation für die Wehrpflicht.
({5})
Die Bundeswehr hat sich mit ihrem Potenzial, zum
Schutz und zur Abschreckung gegen eine äußere Bedrohung beizutragen, bewährt. Dabei waren die Polizeien
des Bundes und der Länder immer für die innere Sicherheit zuständig. Das muss auch in Zukunft so bleiben. Die
Ministerpräsidenten und die Innenminister der Länder,
die massiv Stellen bei der Polizei abgebaut haben, sind
jetzt gefordert. Herr Kollege Schmidt, gerade Bayern
und Nordrhein-Westfalen führen diese Negativliste an.
Auch dort sollten Sie ansetzen.
({6})
Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist im Grundgesetz geregelt und hat sich bewährt. Im Rahmen der
Amtshilfe - aber auch nur dann - darf die Bundeswehr
eingesetzt werden. Auch darauf werden wir in Zukunft
achten.
({7})
Die Bürgerinnen und Bürger würden einen Einsatz ihrer wehrpflichtigen Söhne niemals befürworten, wenn
diese Selbstmordattentätern oder professionellen Terroristen gegenübergestellt würden. Ich frage Sie: Wollen
Sie wirklich den Einsatz junger Wehrpflichtiger zur Terrorismusbekämpfung?
({8})
Wollen Sie die jungen Wehrpflichtigen wirklich nur als
billige Wachleute einsetzen? Wir werden dort nicht mitmachen und unterstützen dies nicht.
({9})
Die FDP-Bundestagsfraktion will, dass jede Institution
auf ihrem Platz ihren Auftrag erfüllt. Dafür sind die notwendigen Rahmenbedingungen vom Parlament vorzugeben. Wir haben hierzu ein Konzept vorgelegt.
Wir brauchen dringend eine große Reform für die
Bundeswehr, die diesen Namen auch verdient. Die Bundeswehr muss entschlackt und von so unsinnigen Aufgaben wie zum Beispiel der Fähigkeit zum personellen
Aufwuchs auf 500 000 Soldaten befreit werden. Ungeheure Kapazitäten werden vergeudet, um eine Leistung
aufrechtzuerhalten, die während des Kalten Krieges
zwar von vitaler Bedeutung war, heute jedoch völlig
überflüssig ist. Die Struktur, die von Ihnen gefordert
wird, bindet Personal und kostet sehr viel Geld. Es geht
hierbei um die Beschaffung, Lagerung und Bewachung
der Ausrüstung und Bewaffnung für 200 000 zusätzliche
Soldaten. Eine Sicherheitsvorsorge dieser Art ist im gegenwärtigen sicherheitspolitischen Umfeld nicht mehr
angemessen. Das dafür benötigte Geld sollte sinnvoller
zur Nachwuchswerbung, zur besseren Besoldung der
Soldatinnen und Soldaten und zur Beschaffung modernster Ausrüstung eingesetzt werden.
({10})
Meine Damen und Herren, die FDP will eine Trennung der zukünftig hochgradig professionellen Einsatzarmee und der Einheiten und Verbände, in denen Reservisten Dienst leisten können. In allen Bundesländern
sollten Truppenteile einer so genannten Nationalgarde
oder einer Territorialarmee aufgestellt werden, die
60 000 Soldaten umfassen sollte: 5 000 Aktive und
55 000 Reservisten. Diese muss den Status als Teilstreitkraft erhalten, vom BMVg geführt und mit den Bundesländern partnerschaftlich verbunden werden. Sie sollte
vorrangig im Bereich der humanitären und Katastrophenhilfe sowie des militärisch relevanten Objektschutzes eingesetzt werden. Die Übernahme polizeilicher
Aufgaben soll jedoch nach unserer Meinung nicht Auftrag sein.
Diese Territorialarmee müsste auch in der Lage sein,
im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt
zu werden. Ich denke, die Vorstellungen der FDP sind
praktikabel. Sie versprechen, dass die Bundeswehr mit
einer endlich soliden finanziellen Ausstattung den Aufträgen gerecht wird und gewappnet ist.
({11})
Ich komme zum Schluss. Herr Kollege Schmidt, es
reicht nicht aus, wenn Sie als Opposition an die Bundesregierung nur Forderungen stellen. Die FDP als Oppositionsfraktion hat ein eigenes Konzept aufgestellt.
({12})
Auch Sie als Opposition sind gefragt, hier eigene Konzepte vorzustellen und nicht nur Forderungen an die
Bundesregierung zu richten. Ich habe nicht mehr Zeit,
um unser eigenes Konzept weiter zu erläutern.
Das ist zutreffend, Herr Kollege.
Ich empfehle Ihnen, unter www.guenthernolting.de
nachzusehen.
({0})
Dort können Sie das gesamte Konzept abrufen.
Vielen Dank.
({1})
Der letzte Vorschlag, Herr Kollege Nolting, war sicher gut gemeint, könnte aber die fatale Wirkung haben,
dass demnächst mit der Frage zu rechnen ist, ob auf diesem Weg Debatten nicht überhaupt eingespart werden
könnten.
({0})
Bis zum Vollzug einer solchen Anregung fahren wir
in der Rednerliste fort. Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
fürchterlichen Anschläge von Madrid haben besonders
deutlich gezeigt, dass auch die europäischen Länder im
Visier des internationalen Terrorismus stehen. Man
konnte das schon vorher an verhinderten Anschlägen
und an einigen aufgedeckten Planungen erkennen. Es
wäre eine Illusion, zu meinen, dass Länder, bei denen
nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Regierungen gegen den Irakkrieg waren, von Anschlägen ausgenommen wären. Schließlich müssen wir feststellen, dass
inzwischen der fortdauernde Irakkrieg regelrecht als
Brandbeschleuniger bei dem Entfachen des Feuers des
internationalen Terrorismus wirkt.
Selbstverständlich ist es die erste Pflicht des Staates,
für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der offenen Gesellschaft zu sorgen. Daran kann es keinen Zweifel geben. Hierfür müssen direkte Gefahrenabwehr,
Strafverfolgung, Bekämpfung von Unterstützern des
Terrorismus und von Nährböden des Terrorismus Hand
in Hand gehen. Dazu gehört auch die Vorbereitung auf
den nicht auszuschließenden schlimmsten Fall.
In den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministers vom letzten Jahr wird festgestellt,
dass auf absehbare Zeit mit einem konventionellen Angriff nicht zu rechnen ist und deshalb die herkömmliche
Landesverteidigung nicht mehr akut ist. Aus diesem
Grunde könne - so die richtige Schlussfolgerung - auf
Strukturen und Fähigkeiten der Bundeswehr verzichtet
werden, die ausschließlich für die Landesverteidigung
vorgesehen gewesen seien.
Selbstverständlich - das ist in den Verteidigungspolitischen Richtlinien deutlich zum Ausdruck gekommen bleibt es Aufgabe der Bundeswehr, zum Schutz des Landes und seiner Bürger beizutragen: erstens im Ausland
durch Teilnahme an internationaler Krisenbewältigung,
die Auswirkungen auf die Sicherheit Deutschlands hat,
zweitens durch Rettungseinsätze und drittens - das ist
durch Vorredner schon angesprochen worden - durch
Amtshilfe im Innern im Rahmen der bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundlagen, angefangen bei der Katastrophenhilfe bis hin zu Einsätzen zur
Luftsicherheit.
Vor diesem Hintergrund hat das Verteidigungsministerium die Auflösung der Reservelazarettorganisation
als Struktur nur für die Landesverteidigung beschlossen.
Die Union behauptet nun, die Reduzierung dieses Teils
der Verteidigungsinfrastruktur sei vor allem finanzpolitisch motiviert und beeinträchtige den Schutz der Bevölkerung. Das ist nicht nur falsch, das ist lächerlich. Die
Reservelazarettgruppen - zurzeit noch 56 an der Zahl waren immer für die Landesverteidigung gedacht. Sie
waren nie für den Katastrophenschutz eingeplant.
({0})
Ihre Mobilisierung würde mindestens drei bis fünf Tage
dauern. Um aber Großschadensfällen begegnen zu können - von einem Terroranschlag ganz zu schweigen müssen Stunden genügen. Das muss an einem Tag laufen. Also geht das Angebot dieser Reservelazarette voll
an den Anforderungen einer solchen Krisensituation vorbei.
Circa 100 Ärzte pro Lazarettgruppe müssten dann aus
zivilen Krankenhäusern abgezogen werden. Das heißt,
die zivile Krankenversorgung würde dadurch geschwächt. Schließlich wurde das Material dieser Reservelazarettgruppen zuletzt Ende der 80er- und Anfang der
90er-Jahre erneuert. Das ganze System verfügt über
keine eigenen Fahrzeuge usw. Insofern entspricht dieses
System nicht mehr dem Bedarf. Staatssekretär Kolbow
hat sehr deutlich darauf hingewiesen, dass die Elemente,
die für den Schutz der Bevölkerung weiterhin notwendig
und nützlich sind, selbstverständlich übernommen werden. Was das Personelle angeht, ist ein viel schnelleres
Alarmierungssystem für Reservisten, Ärzte usw. von
entscheidender Bedeutung.
Zur Erinnerung an die Union: Unter Ihrer Regierungsverantwortung wurde das System der Zivilverteidigung und der Gesamtverteidigung sehr weit reduziert.
Wie sehen Sie das eigentlich heute? War das ein Fehler
oder war das zu Ihrer Regierungszeit nur finanzpolitisch
motiviert? Wie erklären Sie sich das?
({1})
Ich komme nun zur zweiten Forderung der Union,
dem Gesamtverteidigungskonzept.
({2})
Wer wollte bestreiten, dass auf dem Feld der inneren und
äußeren Sicherheit und des Katastrophenschutzes eine
eingespielte und flexible Kooperation elementar ist und
Gesamtkonzepte notwendig sind? Aber dabei sollten Sie
doch nicht den völlig falschen Eindruck erwecken, als
wären wir bei null. Es gibt ein weit reichendes Gesamtkonzept. Das kann man sehr wohl sagen. Was die gesamte Sicherheitspolitik angeht, so wird das Weißbuch
Aufschluss darüber geben, was zurzeit in Arbeit ist.
({3})
Schließlich ist die Forderung nach einem sicherheitspolitischen Gesamtkonzept, auch bezogen auf terroristische Bedrohungen, gerade aus dem Mund der Union
reichlich unglaubwürdig. In diesem einen Fall setzen Sie
sich massiv für einen angeblich verbesserten Bevölkerungsschutz durch das Aufrechterhalten traditioneller
Elemente ein. Auf der anderen Seite - das gehört auch
zu einem weitsichtigen Bevölkerungsschutz - hat zumindest Ihre Führung in der Vergangenheit eine Politik
mitgetragen und tut dies bis zum jetzigen Zeitpunkt, die
mit dem Irakkrieg dem weltweiten internationalen Terrorismus enormen Auftrieb gegeben hat. Überwinden Sie
also bitte erst einmal Ihre Grundwidersprüche, bevor Sie
vollmundig von der Bundesregierung Gesamtkonzepte
verlangen.
({4})
Ihr Antrag ist beispielhaft für das krampfhafte Bemühen
der Union, die traditionelle Art der Landesverteidigung
irgendwie am Leben zu erhalten und darüber eine Restlegitimation für die Wehrpflicht zu behalten.
({5})
Im notwendigen Bemühen um einen möglichst wirksamen Bevölkerungsschutz, um nüchterne Risikoabschätzung und -vorsorge leistet die Union den Aufgaben mit
diesem Antrag - Kollege Schmidt, Sie sind nur zum Teil
auf diesen Antrag eingegangen - einen Bärendienst. Angesichts der realen Herausforderungen ist dieser Antrag
schlichtweg peinlich.
Danke.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst-Reinhard
Beck, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Nachtwei, die Einführung des
Irakkriegs als Wahlkampfthema war meines Erachtens
unangemessen. Ich weise das namens meiner Kollegen
zurück.
({0})
Die Unkalkulierbarkeit ist zur Realität in den Streitkräften geworden, Planungssicherheit wird es auf
absehbare Zeit nicht mehr geben.
Diese Aussage von Generalinspekteur Schneiderhan auf
der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik am 22. April dieses Jahres gibt ziemlich genau die
derzeitige Umbruchsituation in der Bundeswehr - und
nicht nur dort - wieder. Die Soldaten und ihre Familien
wünschen sich Verlässlichkeit von Staat und Gesellschaft und ein höchstmögliches Maß an Sicherheit und
Schutz angesichts neuer Formen der Bedrohung.
Ernst-Reinhard Beck ({1})
Veränderungsprozesse in der Politik bewegen sich
immer zwischen den beiden Extremen Bewahren oder
Verändern. Verfechter der Variante Streichen, Kürzen,
Auflösen fordern, sich möglichst schnell von bisherigen
Strukturen zu verabschieden und an Stelle des überholten Alten zukunftsträchtiges Neues zu setzen. Allzu viel
Neues habe ich aber von Ihnen nicht gehört, lieber Kollege Kolbow.
Der konservative Ansatz möchte möglichst vieles an
Bewährtem bewahren und nur das unbedingt Notwendige verändern. Ich erinnere in diesem Zusammenhang
an die Auflösung des Bundesamtes für Zivilschutz im
Jahr 1999. Damals hielt man den Zivilschutz für überflüssig und zu teuer. Heute wissen wir, dass zumindest
das Erste ein Irrtum war. Seit diesem Jahr gibt es wieder
ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.
Wir stehen mit der jetzt eingeleiteten Bundeswehrreform wieder an einem ähnlichen Punkt, an dem wir uns
entscheiden müssen, von welcher Philosophie der Umbau geleitet werden soll. Wenn ich es richtig sehe, hat
sich die Bundeswehr bereits seit den 90er-Jahren bei den
für die Auslandseinsätze notwendigen Umstrukturierungen für einen eher behutsamen evolutionären Weg, bei
der Landesverteidigung und beim Heimatschutz jedoch
für die Methode Tabula rasa entschieden. Dies geschieht
gegenwärtig durch die Auflösung der Reservelazarettorganisation und nicht aktiver Truppenteile sowie durch
die nahezu völlige Demontage der territorialen Verteidigungsorganisation.
Wenn man die schrecklichen Bilder nach den Terroranschlägen in Madrid vor Augen hat, dann löst die geplante Auflösung der Reservelazarettorganisation in
der Tat Verwunderung aus. Könnte es irgendjemand verstehen, wenn im Falle einer so schweren Katastrophe die
Bundeswehr um medizinische Hilfe gebeten würde und
nicht in der Lage wäre, diese zu leisten?
Sicher ist es richtig, dass die 56 Reservelazarettgruppen mit ihren 68 000 Reservisten und 7 000 bis
8 000 Ärzten für einen verlustreichen Krieg gegen die
konventionellen Armeen des Warschauer Paktes geplant
wurden. Es ist auch richtig, dass sie eine lange Mobilmachungszeit benötigen. Es mag zutreffen, dass eine so
große Zahl von Reservelazarettgruppen nicht mehr benötigt wird, dass die Strukturen schwerfällig und die
Ausrüstung zum Teil veraltet ist. Aber rechtfertigt dies
bereits den völligen Verzicht auf die bisher vorgehaltenen Fähigkeiten und Strukturen, die vor allem in der
Kompetenz des dort eingesetzten Personals liegen?
Angesichts der bereits jetzt bestehenden Fähigkeitslücken im Zivilschutz sollte der qualitative wie auch der
quantitative Umfang der Reduzierung gründlich bedacht
werden. Terroranschläge, Naturkatastrophen oder große
Unfälle sind in Zeitpunkt und Intensität selten vorhersehbar. Darin sind wir uns sicherlich einig. Notwendig
und erforderlich sind eine sofortige Reaktion und die
umgehende Versorgung von Verletzten. Schon aus Zeitgründen verbieten sich aufwuchsabhängige Organisationsformen. Darin stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege
Nachtwei.
Aber warum sollte es nicht möglich sein, eine rasche
Mobilmachung des Sanitätspersonals anzustreben? Wieso
kann eine angepasste Reservelazarettstruktur nicht in
den nationalen Katastrophenschutz eingeplant werden?
({2})
Meines Erachtens sollte der Vorschlag, eine Taskforce
aus Ärzten und qualifiziertem, schnell verfügbarem Sanitätspersonal zu bilden, die binnen weniger Stunden die
Arbeit aufnehmen kann, geprüft werden. Im Falle einer
so genannten Großschadenslage könnten dann weitere
Reservekräfte innerhalb von Tagen mobilisiert werden.
({3})
Wenn dies nur durch eine stärkere Einbindung der Reservisten in aktive Verbände möglich ist, dann sollte
auch dieser Weg beschritten werden. Dies wäre nicht nur
ein wichtiger Schritt zu einem verbesserten Katastrophenschutz. Vielmehr blieben gleichzeitig viele freiwillige Fachärzte und Spezialisten des Sanitätsdienstes im
Reservistenstatus eingebunden. Besser eingebunden als
ausgemustert!
({4})
Die Bundesregierung plant ferner, alle nicht aktiven
Truppenteile aufzulösen. Ich kann davor nur warnen.
Unterschätzen Sie nicht die psychologische Wirkung,
die von einer Entpflichtung von circa 250 000 Soldaten
der Reserve ausgeht! Motivationsfördernd ist dies nicht.
Einmal aufgelöst, werden wir auf diese Strukturen nie
mehr zurückgreifen können. Ich plädiere nicht für die
völlige Erhaltung, sondern dafür, dass Anzahl, Ausrüstung und Binnenstruktur der nicht aktiven und der teilaktiven Verbände an die neuen Aufgaben der Bundeswehr
angepasst werden. Angesichts der geplanten Generalausmusterung sicherheitsrelevanter Strukturen aus der Bundeswehr frage ich mich, ob die Bundesregierung wirklich gut beraten ist, aus Kostengründen lediglich auf die
Methode „streichen, kürzen und auflösen“ zu setzen.
Die Bundesregierung hat erklärt, dass der Schutz
Deutschlands und seiner Bürger nach wie vor Kernaufgabe der Bundeswehr ist. Der Staatssekretär hat dies
wiederholt. Aber gleichzeitig demontiert die Bundesregierung weitgehend die bereits dünne territoriale Verteidigungsorganisation. Botschaft und Realität klaffen
hier weit auseinander. Es soll nur noch vier Wehrbereichskommandos und zwölf Landeskommandos geben.
Unterhalb dieser Ebene sind keine aktiven Kräfte mehr
vorgesehen. Dies ist das Aus für die zivil-militärische
Zusammenarbeit auf der Ebene der Landkreise und der
kreisfreien Städte.
({5})
Nun höre ich, dass diese Aufgabe von Reserveoffizieren wahrgenommen werden soll. Dies ist zwar ehrenvoll.
Man muss sich jedoch fragen, ob dieses Notkorsett den
Anforderungen wirklich gerecht wird. Können die gerade in Katastrophenfällen notwendigen Koordinierungsaufgaben im Nebenamt geleistet werden? Wie wird
die Bundeswehr in den Verwaltungen wahrgenommen?
Wird sie überhaupt noch wahrgenommen? In einem
Ernst-Reinhard Beck ({6})
großen Flächenland wie Baden-Württemberg wären
mindestens 42 Beauftragte zu installieren und auch zu
führen. Ist dies das sichere Netz, auf das wir uns im Katastrophenfall und im Heimatschutz abstützen können?
Das ist eine wirklich ernste Frage.
All diese Punkte bestärken mich in der Befürchtung,
dass der geplante Abbau sicherheitsrelevanter Strukturen
endgültige Tatsachen schafft, die nur sehr schwer und
unter großem Aufwand revidiert werden könnten. Reservelazarettorganisation, Beorderung von Reservisten und
Auflösung von nicht aktiven Verbänden - darin sind wir
uns sicherlich einig - sind lediglich Detailfragen. Sie
können nur sinnvoll im Rahmen eines Gesamtverteidigungskonzepts beantwortet werden. Solange dieses nicht
vorliegt, verbieten sich grundlegende Strukturveränderungen.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
CDU/CSU-Antrag trägt den schönen Titel „Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr“. Dies ist geradezu eine harmlose Bezeichnung.
Das Papier ist kurz und es ist schnell zu lesen. Man
möchte eigentlich hinzufügen: Entsprechend ist der Inhalt. Dahinter steckt nichts anderes als ein Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik. Wollten wir dem folgen, würden die vergangenen mehr als 50 Jahre
erfolgreicher deutscher Sicherheitspolitik negiert und
auf den Kopf gestellt werden.
Grundlage des Antrags ist offensichtlich das Papier
mit dem Titel „Landesverteidigung und Heimatschutz
als Teil des Gesamtkonzepts Sicherheit“, ein ebenfalls
harmloser Name. Denn wer kann schon etwas gegen
Heimatschutz und Landesverteidigung haben? In dem
Papier wird auf Seite 5 ausgeführt - ich zitiere -:
In den zurückliegenden Jahren wurden die Strukturen, die einen Heimatschutz in Deutschland tragen
könnten, in ihrer Wirksamkeit stark reduziert. Diesem Entschluss lag die - aus heutiger Sicht - irrige
Annahme zugrunde, dass sich die Bedrohungslage
für unser Land verringert habe …
So weit, so gut und auch fast vollständig. Meine sehr
verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie
hätten ruhig deutlich sagen können: Die CDU/CSU-geführte Regierung unter Helmut Kohl hat nach 1990 den
Zivilschutz in seiner Substanz geschwächt.
({0})
Gleichzeitig behaupten Sie, dass der Verteidigungsminister in den Verteidigungspolitischen Richtlinien den
Aspekt des Heimatschutzes vernachlässigt habe. Meine
sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU,
entweder haben Sie die Verteidigungspolitischen Richtlinien nicht gelesen oder Sie haben sie nicht verstanden.
({1})
Allein zwölf Passagen in diesen Richtlinien beschäftigen
sich mit dem Aspekt der inneren Sicherheit.
({2})
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien bilden die
Grundlage des von Ihnen geforderten umfassenden Gesamtverteidigungskonzeptes. Sie entsprechen in ausgewogener Art und Weise den neuen Herausforderungen
im Inneren wie im Äußeren.
Doch was wollen Sie eigentlich?
({3})
Sie wollen Art. 35 und Art. 87 a des Grundgesetzes dahin gehend ändern, dass „… die Bundeswehr auch bei
der Verhinderung einer unmittelbar drohenden Katastrophe oder eines unmittelbar drohenden schweren Unglücksfalles sowie bei der Bewältigung ihrer Folgen eingesetzt werden kann“.
({4})
Soweit Ihr Papier. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Schon bei einer drohenden Katastrophe oder
einem drohenden Unglücksfall soll die Bundeswehr im
Innern eingesetzt werden können. Da stellen sich diverse Fragen: Wer definiert das? Ein Unglücksfall oder
eine Katastrophe kann immer drohen. Wer kann das vorhersagen?
Es kann doch nicht einmal Ihre Absicht sein, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Sicherheitskräfte und damit unser Land sozusagen im dauernden Notstand leben zu lassen.
({5})
Diese Vorstellungen der Union hätten einen für uns nicht
hinnehmbaren Interpretationsspielraum hinsichtlich der
Befugnisse von Kräften der inneren und äußeren Sicherheit zur Folge. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern
würde sozusagen in das Benehmen der Innenminister der
Länder gestellt werden.
({6})
Wir haben in Deutschland bisher aus sehr wohl erwogenen Gründen einen Konsens. Die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit ist politisch und gesellschaftlich gewollt. Es ist ein großer Vorteil seit der Gründung
der Bundesrepublik Deutschland, dass innere und äußere
Gewalt im Prinzip strikt getrennt sind. Eine Bundeswehr, die de facto ein Instrument zur Anwendung des inneren Gewaltmonopols werden würde, lehnen wir ab.
({7})
Wir halten daran fest: Nur in vom Grundgesetz genau
festgelegten Situationen wird die Bundeswehr im Innern
eingesetzt, und das mit großem Erfolg, wie die HilfeleisRolf Kramer
tungen der Bundeswehr bei den diversen Einsätzen gezeigt haben. Dafür sei den Soldatinnen und Soldaten von
dieser Stelle aus noch einmal gedankt.
({8})
In einem Punkt sind wir ganz sicherlich einer Meinung: Der 11. September 2001 hat die Welt sicherheitspolitisch verändert. Die Terroranschläge vom 11. März
dieses Jahres in Madrid haben deutlich gemacht, dass
Europa und damit natürlich auch Deutschland im Fokus
der Bedrohung stehen. Eine Grundgesetzänderung, um
den generellen Einsatz der Bundeswehr zu ermöglichen,
würde den Bevölkerungsschutz nicht verbessern, aber
die bewusst gewählte Sicherheitsarchitektur unseres
Grundgesetzes fundamental verschieben. Es würde eine
Sicherheit suggeriert werden, die so nicht erreicht werden kann.
Es ist doch einsichtig, dass - um nur ein Beispiel zu
nennen - die Debatte über die Sicherung der Bahnhöfe
durch Soldaten an der Realität vorbeigeht.
({9})
Ganz abgesehen davon, dass Soldaten für den zivilen
Bereich nicht ausgebildet sind, lassen sich 7 500 Bahnhöfe bundesweit, 38 000 Kilometer Schiene, 30 000 Züge
pro Tag mit etwa 4 Millionen Reisenden nicht effektiv
schützen, indem man die Bundeswehr aufmarschieren
lässt.
({10})
Dieses Beispiel gilt nur für einen Bereich des öffentlichen Lebens. Die Sicherheit wäre nur vorgetäuscht, eine
reine Placebomaßnahme. Dafür sollte uns allen die Sicherheit unserer Bevölkerung zu wertvoll sein.
In diesem Zusammenhang ist aber bedenklich, dass
die Länder in den vergangenen Jahren 12 000 Polizeistellen abgebaut haben.
({11})
Das dadurch entstandene Vakuum durch Militär ersetzen
zu wollen wäre eine in mehrfacher Hinsicht zu billige
Lösung. Man muss es auch einmal deutlich sagen: Ein
hundertprozentiger Schutz gegen alle Terrorszenarien
wird nicht möglich sein, nicht einmal dann, wenn wir
tragende Grundsätze unserer freiheitlichen Verfassung
opferten. Wir Sozialdemokraten wissen, was wir an unserer Verfassung haben. Sie gilt es zu bewahren!
({12})
Aber wir können uns auf die Gefahren vorbereiten,
indem das Zusammenwirken der Kräfte für den Notfall
und den Katastrophenschutz weiter verbessert wird auch gegen Anschläge, die bisher außerhalb unserer Vorstellungskraft lagen. Natürlich ist hier auch die Bundeswehr gefordert. Ein entsprechender Vorschlag für gemeinsame Übungen im zivil-militärischen Bereich liegt
bereits vor.
Die Bundeswehr kann schon heute in besonderen
Ausnahmesituationen und zur nationalen Gefahrenabwehr und zu Hilfeleistungen herangezogen werden. Dies
gilt auch für die Abwehr von terroristischen Angriffen.
Was im Grundgesetz allerdings nicht explizit erwähnt
wird, ist die Abwehr von Gefahren aus der Luft und von
der See. In diesem Zusammenhang ist evident, dass nur
die Bundeswehr die Mittel und Methoden hat, um in solchen Fällen einzugreifen und für Abhilfe zu sorgen. Hier
besteht ein gesetzlicher Handlungsbedarf. Die Koalitionsfraktionen haben deshalb den Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes in die parlamentarische Beratung
eingebracht. Ob in diesen speziellen Fällen eine Klarstellung im Grundgesetz notwendig ist, bedarf noch der
Klärung durch die Verfassungsjuristen. Es geht dabei
nicht um das Einräumen zusätzlicher Befugnisse, sondern um die Verdeutlichung von schon bestehendem
Recht und das Schaffen von Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Lassen Sie uns mit Augenmaß sowie mit Achtung vor den Menschen und der Verfassung an diese
Aufgabe herangehen!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Lietz, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
haben es bereits gehört: Die Bundeswehr steht vor einem
fundamentalen Umbruch. Laut den Verteidigungspolitischen Richtlinien werden wir bis zum Jahr 2010
35 000 Soldaten haben, die in der Lage sein sollen, als
schnelle Eingreiftruppe zu fungieren und überall in der
Welt zur Verfügung zu stehen. Zusätzlich sollen
70 000 Soldatinnen und Soldaten zur Friedenserhaltung
eingesetzt werden können, und zwar an maximal fünf
verschiedenen Einsatzorten weltweit mit bis zu
14 000 Soldaten pro Einsatz. Zusammen mit den
145 000, die für Nachschub, Organisation und Versorgung sorgen sollen, macht das einen Gesamtbestand
von 250 000 Soldaten in der Bundeswehr aus.
Wenn man die Anzahl der Soldaten verringert, muss
man nicht automatisch die Sicherheit, die Anforderungen und die Finanzen verringern. Das passt nicht zusammen. Man muss nämlich die Fähigkeiten des einzelnen
Soldaten erhöhen.
({0})
Das Verteidigungsministerium schlägt aber vor, bis
zum Jahr 2010, also innerhalb von sechs Jahren, im Rahmen der Verteidigungspolitischen Richtlinien insgesamt
26 Milliarden Euro zu sparen. Das sind immerhin
2 Milliarden Euro mehr, als wir im Moment pro Jahr zur
Verfügung haben. Wer glaubt, dass wegen der Reduzierung der Gesamttruppenstärke auf 250 000 der Sicherheitsbedarf und die Finanzen ebenfalls reduziert werden können - Herr Kollege Arnold, Sie haben in der
Presse sogar verlauten lassen, dass die Sanitätsstärke
entsprechend der Anzahl der Soldaten verringert werden
kann -, der hat die Einsatzszenarien nicht realisiert.
Das Verteidigungsministerium hat formuliert, dass
wir im schlimmsten Fall - ich hoffe und weiß, dass der
nicht immer eintritt - 105 000 Soldatinnen und Soldaten
in Einsatzgebieten rund um die Welt, nicht nur am Hindukusch, haben sollten. Wenn Sie diesen schlimmsten
Fall so programmieren, dann müssen Sie auch den Sicherheitsbedarf, der damit verbunden ist, entsprechend
anpassen. Das tun Sie allerdings nicht.
({1})
Der Verteidigungsminister und der Generalinspekteur
haben in ihren Ankündigungen offen gelassen, wie sie
den Szenarien begegnen wollen, die sie quasi auf dem
Reißbrett geplant haben.
Das Sanitätswesen der Bundeswehr muss in der Zukunft sehr viel höheren Anforderungen gerecht werden,
als das zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Fall ist. Knapp
8 000 Soldatinnen und Soldaten sind im Moment im
Einsatz. Sie alle wissen, wie die Einsatzzeiten des Sanitätspersonals aussehen. Kaum dass die Ärzte zu Hause
sind, fahren sie schon wieder an neue Einsatzorte. Darunter leiden die Familien. Die Bundeswehrkrankenhäuser haben zum Teil reduzierte Operationskapazitäten, weil die Anästhesisten und die Chirurgen an
bestimmten Einsatzorten sind. Wenn Sie sich vor Augen
führen, dass Facharztausbildungen wegen Fehlzeiten
verlängert werden müssen, damit sie überhaupt zustande
kommen, dann erkennen Sie, in welcher Situation das
Sanitätswesen zum jetzigen Zeitpunkt ist.
Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, eine
nachvollziehbare Bedarfs- und Vorsorgeplanung für die
Bundeswehrkrankenhäuser und das Sanitätswesen vorzulegen. Gerade was die Bundeswehrkrankenhäuser anbetrifft, bekommt man völlig unterschiedliche Antworten, wenn man im Verteidigungsministerium nachfragt.
Ich appelliere schon deswegen an die Verantwortung des
Verteidigungsministeriums, weil gerade das zivile Personal in den Krankenhäusern einen Anspruch darauf hat,
informiert zu werden: Sagen Sie der Öffentlichkeit endlich klipp und klar, welche Bundeswehrkrankenhäuser
bestehen bleiben sollen. Lassen Sie die Menschen in den
Krankenhäusern nicht im Ungewissen.
Es ist nämlich klar, dass von den acht Krankenhäusern, die wir jetzt haben, lediglich drei als vollwertige
Krankenhäuser erhalten bleiben werden, nicht mehr. Der
Rest wird geschlossen, dient der tropenmedizinischen
Versorgung, als Polikliniken oder zu was auch immer.
Wir werden aber nur noch genau drei vollwertige Krankenhäuser haben. In diesen drei verbleibenden Krankenhäusern müssen wir dann unser gesamtes Sanitätspersonal ausbilden. Das heißt, wir müssen in den
verbleibenden Krankenhäusern zusätzliche Ausbildungskapazitäten und zusätzliche Versorgungsmöglichkeiten für Soldaten schaffen. Schließlich brauchen wir
diese Krankenhäuser für die Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Einsatzmedizin. Das kann kein ziviles Krankenhaus in der Bundesrepublik Deutschland leisten.
Zusätzlich brauchen wir eine höhere Zahl von zivilen
Patienten, denn etliche Krankheiten, die Bestandteil der
Facharztausbildung sind, gibt es bei jungen Soldaten
nicht. Deshalb ist es sehr wichtig, dass endlich die zivilen Bettenkontingente dieser Krankenhäuser in die Bestimmungen des SGB V einbezogen werden. Wir beantragen schon seit mehreren Jahren, entsprechende
Schritte zu unternehmen. Dafür haben wir bis jetzt leider
keine Mehrheiten gefunden.
({2})
- Dann sollte jeder mit Verantwortlichen in den Ländern
sprechen, zu denen er gute Beziehungen hat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr hat bisher gute
Arbeit geleistet. Es handelt sich um gut ausgebildete
Leute, die in bis jetzt hoch leistungsfähigen Funktionseinheiten wirken. Der vorgegebene Standard allerdings,
der ausdrücklich fordert, dass die medizinische Versorgung in Einsatzgebieten der Qualität der Versorgung in
der Heimat entspricht, ist in Gefahr. Dieser Anspruch
steht auf dem Spiel. Ich möchte Sie sehr herzlich bitten,
dazu beizutragen, dass militärische Fähigkeiten, die wir
bis jetzt noch auf diesem Gebiet haben, nicht auch noch
verloren gehen und dass die medizinische Versorgung
der Soldaten im Einsatz weiterhin gewährleistet ist. Ich
habe große Sorgen, dass das in Zukunft nicht mehr der
Fall sein wird.
Eine verantwortungsvolle medizinische Versorgung
von bis zu 105 000 Soldaten im Einsatz - ich muss das
noch einmal sagen - verlangt einfach mehr und besser
ausgebildetes Sanitätspersonal.
({3})
Wir können uns da nicht auf andere europäische NATOMitglieder verlassen, weil ihre Standards geringer sind
als unsere und ihre Fähigkeiten hinter unseren zurückfallen. Lediglich die Vereinigten Staaten von Amerika haben noch hoch qualifiziertes Personal und technisch hervorragend ausgestattete Armeekrankenhäuser.
In dieser Diskussion sollten wir nicht zuletzt deswegen auch einmal ernsthaft darüber nachdenken, auf welche Weise wir Nachwuchsgewinnung betreiben, also
geeignete Personen rekrutieren. Die Unsicherheit, die
unter den Bundeswehrangehörigen selbst, aber auch in
der Öffentlichkeit bezüglich des Arbeitgebers Bundeswehr herrscht, ist ausgesprochen groß. Wenn wir qualifizierten Nachwuchs haben wollen, müssen wir ihm etwas
bieten, insbesondere auch im Sanitätswesen der Bundeswehr. Ich habe mich sehr gefreut, dass der Verteidigungsminister angekündigt hat, dass die Einsatzzeiten
demnächst vier Monate betragen werden. Wir haben
lange dafür gekämpft. Auf meine Frage allerdings, zu
welchem Zeitpunkt dieser Beschluss umgesetzt würde,
ist mir gesagt worden, dieses finde im Rahmen der
Durchsetzung der Verteidigungspolitischen Richtlinien
statt.
Meine Damen und Herren, zum Schluss noch ein
Satz: Es macht mich traurig, dass viele verantwortungsbewusste Offiziere in diesen Tagen über Maulkorberlasse Sprechverbote bekommen und ihnen sogar die
Entfernung von ihren Aufgabengebieten angedroht
wurde, wenn sie ihre Sorgen über die jetzt anstehende
Reform und deren Schwächen zum Ausdruck bringen.
Eine Regierung bzw. ein Minister, der von seinem Plan
überzeugt ist und zu ihm steht, sollte sich auch der Diskussion in den eigenen Reihen stellen.
Vielen Dank.
({4})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erhält die Kollegin Karin Evers-Meyer, SPD-Fraktion,
das Wort.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr hat letzte Woche
eine aktuelle Bevölkerungsbefragung zum sicherheitspolitischen Meinungsbild veröffentlicht. Diese Studie
belegt, dass das Gefühl von Sicherheit abnimmt. Niemand wird von der Hand weisen können, dass es nicht
nur so ein Gefühl ist, das da abnimmt, sondern dass sich
die Bedrohungslage tatsächlich verschärft hat.
In einer solchen Situation sollten wir die Menschen in
unserem Land nicht mit falschen Heilsversprechungen
aufs Glatteis führen, sondern für Aufklärung sorgen.
({0})
Die CDU/CSU-Opposition tut dies leider nicht, weder
mit ihrem vorliegenden Antrag noch mit ihren wiederholten populistischen Forderungen nach einem Einsatz
der Bundeswehr im Innern. Sie schüren damit die
Ängste in der Bevölkerung und suggerieren, es werde
nicht genügend zu deren Schutz getan.
({1})
Natürlich stellen sich die Bürgerinnen und Bürger die
Frage: Warum darf die Bundeswehr Deutschland am
Hindukusch verteidigen, nicht aber am Hamburger
Hauptbahnhof? Darauf gibt es drei ganz klare Antworten:
Erstens. Die Bundeswehr ist dafür weder ausgebildet
noch ausgerüstet. Sie steht im Moment vor ganz anderen, neuen Herausforderungen. Wir können unsere Soldatinnen und Soldaten jetzt nicht auch noch zu Hilfssheriffs machen.
Zweitens. Die Polizeien der Länder und des Bundes
sowie der Bundesgrenzschutz sind für die innere
Sicherheit zuständig. Sie sind die Spezialisten, sie sind
dafür ausgebildet. Insbesondere unser Bundesgrenzschutz ist dank unseres Ministers Otto Schily heute dafür
besser ausgerüstet denn je.
({2})
So brauchen wir auch den Vergleich mit den in Sachen
Sicherheit gerne als Vorbild zitierten USA überhaupt
nicht zu scheuen. Ein Vergleich von Zuständigkeiten und
Umfang staatlicher Sicherheitsleistungen in Deutschland
mit dem Department of Homeland Security zeigt, dass
die deutsche Organisation der amerikanischen Organisation in Bezug auf Kompetenzbreite und potenzielle
Durchgriffsmöglichkeiten in nichts nachsteht. Auch der
Anteil finanzieller Aufwendungen ist im Verhältnis zum
jeweiligen Gesamthaushalt mit rund 1,6 bis 1,7 Prozent
nahezu identisch. Ich weiß also die innere Sicherheit
beim Bundesinnenminister in guten Händen.
Drittens. Es gibt ohne Zweifel besondere Spannungslagen und Katastrophenfälle, in denen wir die
Bundeswehr mit ihren spezifischen Fähigkeiten brauchen. In diesen Fällen kann sie aber - das ist hier bereits
gesagt worden - schon heute eingesetzt werden. Mit
dem Luftverkehrssicherheitsgesetz wurden in diesem
Bereich bestehende Lücken geschlossen. Wo noch Lücken bestehen, werden wir auch diese schließen und die
Einsatzfähigkeit weiter optimieren.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU will uns
mit ihrem Antrag weismachen, dass wir den Heimatschutz vernachlässigen, weil wir die Bundeswehr zu einer effizienten, gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten
international einsatzfähigen Truppe machen. Zwar erkennen auch Sie die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Bundeswehr an; auch Sie wollen diese international einsatzfähige Armee, die mit unseren Partnern in
Europa und der NATO mithalten kann. Gleichzeitig wollen Sie aber eine Bundeswehr, bei der nicht nur alles so
bleibt, wie es ist, sondern die mit alten Strukturen weitere Aufgaben übernimmt.
Unsere Bundeswehr ist jedoch keine Eier legende
Wollmilchsau. Die CDU/CSU setzt mit ihren Forderungen ihre konfuse Politik der Widersprüche auch auf dem
Gebiet der Sicherheitspolitik fort:
({3})
Sie fordern Steuersenkungen und wollen mehr Geld ausgeben, Sie wollen Bürokratieabbau und halten Ihre
schützende Hand über jeden, der auch nur im Verdacht
steht, Ihrer Wählerklientel anzugehören. Ich bitte Sie,
die Bundeswehr dabei aus dem Spiel zu lassen. Die Bundeswehr steht vor neuen, großen Herausforderungen.
Wir sind auf einem guten Weg, diese Herausforderungen
zu meistern. Diesen Weg wollen wir konsequent weitergehen und die Reform der Bundeswehr nicht aus parteitaktischem Kalkül überfrachten und damit letztlich zum
Scheitern verurteilen.
({4})
Ich möchte noch einige Dinge zur geplanten Auflösung der Reservelazarette sagen. Der Verteidigungsminister hat in seinen von allen gelobten Verteidigungspolitischen Richtlinien den Verzicht auf allein für den
Verteidigungsfall bereitgehaltene Strukturen angewiesen. Gleichzeitig hat er aber auch den Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger als Auftrag der
Bundeswehr festgeschrieben. Diesen Vorgaben folgend
wird die Reservelazarettorganisation als Struktur der
Landesverteidigung aufgelöst.
Diese Auflösung wird jedoch keineswegs negative
Auswirkungen auf den Katastrophenschutz haben. Reservelazarette waren bisher als zusätzliche Militärkrankenhäuser für den Verteidigungsfall vorgesehen. Die
heutigen 56 Lazarettgruppen wären erst nach einer sehr
zeitintensiven und von der Feststellung des Verteidigungsfalls abhängigen allgemeinen Mobilmachung einsatzbereit. Für die Aufgaben im Katastrophenschutz waren und sind sie wirklich nicht optimal vorbereitet. Das
wollen wir ändern.
Wesentliche Kernelemente der Lazarettorganisation
bleiben auch nach der Entscheidung über deren Auflösung erhalten. Dazu gehören insbesondere fachärztliche
Komponenten, die auch für die Katastrophenhilfe genutzt werden können und mit denen man in der Lage ist,
das zivile Gesundheitswesen bei einem Massenanfall
von Verletzten gezielt zu verstärken.
Auch die Reservisten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr werden weiterhin eine sehr wichtige Rolle spielen, Herr Beck. Sie werden jetzt verstärkt mit der aktiven
Truppe zum Einsatz kommen,
({5})
diese unterstützen und so die Reaktionsfähigkeit des Sanitätsdienstes in Katastrophen- und besonders schweren
Unglücksfällen verbessern.
({6})
Hierzu werden Verfahrensweisen erarbeitet, die eine
schnellere Unterstützung im Katastrophenfall ermöglichen. Die bisherige Alarmierungs- und Einberufungspraxis bedarf, wie schon gesagt, eines zeitlichen Vorlaufs, der den raschen Anforderungen eines plötzlichen
Katastrophenfalls nicht gerecht wird.
Die Bundeswehr gibt damit keine für den Katastrophenschutz relevanten wesentlichen Fähigkeiten auf. Im
Gegenteil: Sie wird ihre Reservistenorganisation so optimieren, dass diese - gemeinsam mit der aktiven Truppe den Katastrophenschutzorganisationen und dem zivilen
Gesundheitswesen im Bedarfsfall die bestmögliche Unterstützung leisten kann.
({7})
Die Fähigkeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu einer bedarfsgerechten, reaktionsschnellen Unterstützung
ziviler Kräfte im Katastrophenfall wird damit nicht nur
erhalten bleiben, sondern noch optimiert.
Gleiches gilt im Übrigen auch für die neue Reservistenkonzeption der Bundeswehr, die in enger Kooperation
mit dem Reservistenverband und mit anderen Verbänden
erarbeitet wurde. Die Reserve wird auf die wahrscheinlicheren Aufgaben der Bundeswehr und auf ein ausgewogenes Verhältnis von Auftrag, Fähigkeiten und Mitteln
auch für die Reserve ausgerichtet.
Mobilmachungsstrukturen alter Art für die herkömmliche Verteidigung an Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angreifer werden nicht mehr benötigt und
daher abgeschafft, ohne dass aber die Kompetenzen zerstört würden. Reservisten und Reservistinnen werden
weiterhin im gesamten Aufgabenspektrum ihren Beitrag
leisten. Die zivil-militärische Zusammenarbeit wird
durch gemeinsame Übungen mit den zuständigen zivilen
Stellen weiter intensiviert.
Zur Steigerung von Professionalität und Einsetzbarkeit der Reserve wird eine erhöhte Übungsfrequenz der
freiwillig beorderten Reservisten und Reservistinnen angestrebt. Die Gestaltung von Wehrübungen und Übungen wird klar auf die neuen Aufträge im Rahmen der
Aufgaben der Bundeswehr auszurichten sein.
Meine Damen und Herren, es bleibt daher festzuhalten: Alle in Deutschland maßgeblichen Stellen arbeiten
mit Nachdruck an der Neuausrichtung der Sicherheitsbehörden auf die neue Bedrohungslage. Die Bundeswehr
wird da, wo es notwendig und sinnvoll ist, ihren Beitrag
auch für die Sicherheit im Innern leisten. Die Transformation der Bundeswehr zu einer international einsetzbaren Eingreiftruppe steht diesem Ziel gewiss nicht entgegen.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2824 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Regelungen über Altschulden
landwirtschaftlicher Unternehmen ({0})
- Drucksache 15/1662 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Jürgen Türk,
Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen ({2})
- Drucksache 15/2468 ({3})
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
- Drucksache 15/3002 Berichterstattung:
Abgeordnete Ilse Aigner
Ernst Bahr ({5})
Jürgen Koppelin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann ist es so beschlossen.
Dann bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen,
die an dieser Debatte nicht mehr teilnehmen können oder
wollen, den Saal möglichst geräuschlos zu verlassen, damit diejenigen Platz nehmen können, die an dieser Debatte dringend teilnehmen wollen oder müssen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für
die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Gerald Thalheim.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Heute ist für mich in meiner Abgeordnetenlaufbahn, wenn man das so bezeichnen will, ein
besonderer Tag. Am 21. Dezember 1990 habe ich als neu
gewählter Abgeordneter hier im Reichstagsgebäude einen Antrag zu einem Altschuldenmoratorium für die
ostdeutsche Landwirtschaft unterschrieben. Damals
hätte ich mir nicht vorstellen können, 14 Jahre später bei
der endgültigen Regelung des Gesetzes hier im Bundestag für die Bundesregierung zu sprechen. Ich hätte mir
auch nicht vorstellen können, dass es so lange dauern
und so schwierig werden würde, eine Regelung herbeizuführen, und dass das ungelöste Altschuldenproblem
nicht nur in der Landwirtschaft eine so schwierige Hypothek darstellen würde.
Wir haben in den letzten Wochen kontrovers über die
Situation in Ostdeutschland diskutiert. Entindustrialisierung und viele andere Worte sind gefallen. Einer der
Gründe für diese Situation liegt in den Folgen der fehlerhaften Währungsunion und ganz besonders darin, wie
die Altschulden behandelt wurden. Nach der Währungsunion waren die Betriebe einfach nicht in der Lage,
die damals in Mark der DDR aufgenommenen Kredite in
D-Mark zurückzuzahlen. Das galt nicht nur für die
LPGs, das galt genauso für die Industrieunternehmen,
die aus den volkseigenen Betrieben hervorgegangen waren, und für die Wohnungsgesellschaften. Deshalb
musste der Bund im Falle der Industrie und der Wohnungsunternehmen weitgehend auf die Rückzahlung
verzichten.
Angesichts der heutigen Debatte, in der wechselseitig
viele Vorwürfe gemacht wurden, wer für was verantwortlich ist, muss man sagen: Dieser Forderungsverzicht, der in Milliarden zu Buche geschlagen ist, ist eine
der Ursachen für die Probleme, die wir heute in Deutschland haben.
Für die Nachfolgebetriebe der Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften wurde mit der so genannten Rangrücktrittsvereinbarung eine bilanzielle Entlastung vereinbart. Damit konnten zwar kurzfristig Insolvenzen vermieden werden. Aber das Problem wurde
nicht wirklich gelöst. Im Gegenteil: Die Altschuldenbelastung der LPG-Nachfolgebetriebe ist von 1,6 Milliarden Euro 1991 auf heute 2,5 Milliarden Euro angewachsen.
Das hat folgende Ursachen: Zum Ersten waren die
Betriebe nach der Wiedervereinigung einfach nicht in
der Lage, Gewinne zu erwirtschaften. Aus diesen Gewinnen hätte eine Rückzahlung erfolgen müssen. Einer
der Gründe für diese Situation war die Tatsache, dass die
Kredite, die für Investitionen aufgenommen worden
sind, einfach nicht mehr werthaltig waren. Zum Zweiten
setzten die Rangrücktrittsvereinbarungen nur wenige
Anreize, die Altschulden zügig zurückzuzahlen. Zum
Dritten gab es für hoch verschuldete Unternehmen überhaupt keine realistische Chance, die Altschulden zurückzuzahlen. Gerade für diese Betriebe fehlte angesichts
dessen, dass man, bildlich gesprochen, vor einer Wand
stand, von der jeder wusste, dass sie nicht zu überspringen ist, jede Motivation, sich anzustrengen.
Das alles ist längst bekannt. Aber CDU/CSU und
FDP, damals in der Regierungsverantwortung, haben
nichts unternommen, um dieses Problem zu lösen.
Erst nach dem Regierungswechsel 1998 wurde eine
Lösung des Problems ernsthaft in Angriff genommen.
({6})
- Lieber Peter Jahr, wenn man hier neu dabei ist, soll
man nicht dazwischenrufen.
Verehrter Herr Staatssekretär, die Geschäftsordnung
sieht keine Staffelung der Zulässigkeit von Zwischenrufen nach der Zugehörigkeit zum Bundestag vor.
({0})
Darauf muss ich Sie schon aufmerksam machen.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
1996 gab es einen leisen Versuch, der dann aber ganz
schnell wieder beiseite gelegt wurde.
Wie gesagt: Nach dem Regierungswechsel wurde das
Problem ernsthaft in Angriff genommen. Grundlage für
das heute zu beschließende Gesetz sind das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts und die in der Folge in
Auftrag gegebene wissenschaftliche Überprüfung.
Auch wenn nicht alle Altschuldenbetriebe mit dem
Ergebnis einverstanden sind, werden mit dem Landwirtschafts-Altschuldengesetz die Fehler der Rangrücktrittsvereinbarungen korrigert. Die Anreize zu einer zügigen
Bedienung der Altschulden werden erhöht. Es ist
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
durchaus zulässig, hier von zusätzlichem Druck, von
Verschärfungen zu reden. Legale Steuervermeidungsmöglichkeiten werden eingeschränkt. Der Abführungsprozentsatz, bezogen auf die Gewinne, wird erhöht.
Außerdem können die Betriebe auf der Basis der prognostizierten Gewinnentwicklung ihre Verpflichtungen
mit einer Einmalzahlung abgelten. Diese Einmalzahlung ergibt sich aus dem so genannten Barwert der künftigen Zahlungen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
der Unternehmen wird damit angemessen berücksichtigt.
Das Vorgehen ist das Ergebnis umfangreicher Prüfungen und zahlloser Diskussionen. Lieber Kollege
Goldmann, auch der Vorschlag, den jetzt die FDP vorlegt, nämlich einen Pauschalsatz von 33 Prozent zu verwenden, ist geprüft worden. Das wäre sicherlich eine
Vereinfachung hinsichtlich der Bürokratie. Aber für die
einen wären 33 Prozent noch eine nicht zu überspringende Hürde, für die anderen, die leistungsfähiger sind,
ein zusätzliches Geschenk. Insofern kam diese Lösung
nicht infrage.
Bei der Erarbeitung des Gesetzes musste eine schwierige Abwägung der Interessen des Bundes als des letztendlichen Gläubigers der Altschulden und der Nachfolgebetriebe der LPGs, die mit Altschulden belastet sind,
herbeigeführt werden.
Nach der ersten Lesung ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung äußerst intensiv mit den Betroffenen diskutiert worden. Zum einen gab es eine grundsätzliche Zustimmung zu der Herangehensweise, was uns sehr wichtig
war; zum anderen gab es aber noch Änderungswünsche.
Als Agrarpolitiker bin ich sehr zufrieden, dass diese im
parlamentarischen Verfahren aufgenommen wurden. Das
gilt für die Reduzierung des Abführungsprozentsatzes
auf 55 Prozent und für die Wahl des mehrjährigen
Durchschnitts bei der Ermittlung des Diskontierungszinssatzes.
Außerdem wurde ein Mindestabführungsbetrag
vereinbart; das entspricht den Finanzinteressen des Bundes. Durch diese Regelung wird es zu einer schnelleren
Rückzahlung kommen. Insofern sind in dem Gesetz, das
wir heute beschließen werden, sowohl agrarpolitische
Aspekte als auch die Finanzinteressen des Bundes berücksichtigt. Ich habe eingangs genannt, auf welche
Höhe sich mittlerweile die Altschulden summieren.
Ich will diese Gelegenheit nutzen, an die betroffenen
Betriebe zu appellieren, die Möglichkeiten, die dieses
Gesetz vorsieht, zu nutzen und sich insbesondere durch
die Nutzung der Ablöseregelung ein für alle Mal von den
Altschulden zu verabschieden.
Herr Präsident, in den 14 Jahren, von denen ich eingangs sprach, bin ich nie wegen Überziehung der Redezeit auffällig geworden. Insofern gestatten Sie mir bitte,
noch eine Bemerkung hinzuzufügen.
({1})
Das Fazit dieser Regelung lautet: Was lange währt,
wird endlich gut. Ich kann nur an die Kolleginnen und
Kollegen aus den anderen Fraktionen appellieren, dem
Gesetz zuzustimmen. Ich hatte kürzlich eine Diskussion
mit einem renommierten CDU-Agrarpolitiker, der den
anwesenden Vertretern von Landwirtschaftsbetrieben
sagte: „Stimmt dieser Regelung zu oder kritisiert sie
nicht! Wir hätten das nicht hinbekommen.“
Herr Kollege Goldmann, auch an Sie will ich mich
wenden. Die 33-Prozent-Regelung wäre im Jahre 1991
oder 1992 sicherlich vernünftig gewesen, ist es aber
eben nicht mehr im Jahre 2004.
Insofern appelliere ich an Sie alle, diesem ausgesprochen guten Gesetz im Interesse der ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe zuzustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Herr Kollege Thalheim, den Dank für die regelmäßige Einhaltung der Redezeit, die eigentlich unter den
Bedingungen unserer Geschäftsordnung eine schiere
Selbstverständlichkeit sein sollte, verbinde ich mit der
ausdrücklichen Hoffnung, dass Ihre heutige Überschreitung derselben in Zukunft wieder die seltene Ausnahme
bleibt.
Nun erhält der Kollege Dr. Peter Jahr für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit der Schlussdebatte über die Altschuldenregelung in landwirtschaftlichen Unternehmen betreiben
wir in diesem Hohen Hause ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Mit der Behandlung der Altschuldenproblematik, die aus DDR-Zeiten stammt, weht ein klein
wenig der Hauch der Wendezeit durch den Plenarsaal.
({0})
Immerhin: Zum Zeitpunkt der D-Mark-Eröffnungsbilanz hatten die landwirtschaftlichen Unternehmen Kreditverbindlichkeiten in Höhe von umgerechnet 3,9 Milliarden Euro. Schon bei oberflächlicher Analyse war
festzustellen, dass bei normaler Umrechnung der Altschulden die überwiegende Mehrzahl der betroffenen
Betriebe in die Gesamtvollstreckung getrieben worden
wäre. Gerade weil damals nicht genügend regionale
Neugründer vorhanden waren, wären nicht nur Zigtausende von Arbeitsplätzen gefährdet gewesen, sondern im
östlichen Teil unseres Vaterlandes hätte sich nie eine flächendeckende, wettbewerbsfähige Landwirtschaft etablieren können.
({1})
Das Hauptproblem der so genannten Altschulden war
die extrem unterschiedliche Werthaltigkeit dieser
Kredite. Es gab zum Beispiel die Kredite für Neuinvestitionen in einen nach DDR-Maßstäben hoch modernen
Milchkuhstall, dessen Ausrüstung und Technologie nach
der Wende völlig veraltet waren. Daneben gab es den
Kredit, der auf einem Beschluss der SED-Kreisleitung
beruhte. Damit wurde der Betrieb verpflichtet, kommunale Straßen, Kindergärten oder Kinderferienlager zu
bauen und zu bezahlen. Bezahlt wurden diese Dinge
durch die LPGs, finanziert durch Kreditierung seitens
der Genossenschaftsbank der ehemaligen DDR.
Selbstverständlich hätte man 1990 theoretisch auch
die Möglichkeit gehabt, die Werthaltigkeit der Kredite
durch eine Einzelfallbewertung konkret zu prüfen und zu
korrigieren. Aber seien wir zumindest heute ehrlich:
Diese Einzelfallbewertung wäre schon allein aufgrund
des Datenumfangs zum Scheitern verurteilt gewesen.
Zusätzlich erhob sich auch die Frage: Wer hätte diese
Wertfeststellung eigentlich treffen können? Welcher
Sachverständige konnte 1990 nachvollziehbar feststellen, welchen Wert eigentlich eine Milchviehanlage mit
2 000 Tieren auf fremden Grund und Boden ohne
Erbbaurechtsvertrag hatte? Was war eine Anlage mit
1 200 Säuen wert, die nicht nur auf fremdem Grund und
Boden stand, sondern dessen Bodeneigentümer in den
alten Bundesländern wohnte und im Rahmen eines so
genannten Kreispachtvertrages enteignet wurde?
({2})
Aus diesen Gründen war es richtig, dass 1990 die damalige CDU/CSU/FDP-geführte Bundesregierung sanierungsfähige Unternehmen mit Altschulden durch
zwei Maßnahmen unterstützte: Zum einen wurden Altschulden in Höhe von circa 0,7 Milliarden Euro von der
Treuhand übernommen. Zum anderen wurden damals
Schulden in Höhe von rund 2 Milliarden Euro durch
zwischen den Unternehmen und den altkreditführenden
Banken abgeschlossene zivilrechtliche Rangrücktrittsvereinbarungen beglichen und somit die landwirtschaftlichen Unternehmen entlastet.
({3})
Durch diese Rangrücktrittsvereinbarungen traten folgende günstige Wirkungen ein: Kredite, die durch Altschulden begründet waren, wurden nachrangig eingestellt und durften in der Bilanz als Eigenkapital
ausgewiesen werden. Die Unternehmen wurden damit
bilanziell de facto schuldenfrei gestellt, hatten Eigenkapital und konnten neue Kredite aufnehmen. Die Altschulden mussten nur im Falle einer Gewinnerwirtschaftung zurückgezahlt werden. Lediglich 20 Prozent des
handelsrechtlichen Überschusses mussten abgeführt
werden, das heißt, 80 Prozent konnten die Unternehmen
behalten. Zinsen fielen dabei nur in Höhe des so genannten Euribor-Zinssatzes an. Zinseszinsen wurden nicht erhoben.
Die Rangrücktrittsvereinbarung war übrigens auch
für die altschuldenführenden Banken ein gutes Geschäft.
Die Banken waren im Endeffekt so gestellt, als hätten
die LPG-Nachfolgeunternehmen die im Rahmen der
Rangrücktrittsvereinbarung gezeichneten Altschulden
bereits zurückgezahlt. Im Endeffekt führte das allerdings
dazu, dass viele Unternehmen lediglich die jährlichen
Verwaltungsgebühren entrichten mussten, sich aber andererseits wirtschaftlich stabilisierten.
Zugegebenermaßen war die damalige Altschuldenregelung sehr großzügig. Ich weiß auch, dass viele landwirtschaftliche Unternehmen bei neuen Krediten auch
heute noch eine solche Rangrücktrittsvereinbarung unterzeichnen würden. Aber das kann man auch anders formulieren: Diese Regelung wurde von Union und FDP in
Kraft gesetzt, als die Politik des Aufbaus Ost noch Fantasie hatte. Diese Regelung wurde in Kraft gesetzt, als
die Landwirtschaft noch als Wirtschaftszweig betrachtet
wurde.
({4})
Im April 1997 erging das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, in dem einerseits die Verfassungsmäßigkeit der getroffenen Altschuldenregelung bestätigt
und andererseits der Gesetzgeber verpflichtet wurde, die
Zielerreichung der bilanziellen Belastungen zu überprüfen. Das Bundesverfassungsgericht ordnete de facto eine
Mid-Term-Review an, der die damalige schwarz-gelbe
Bundesregierung auch nachkam.
Aus diesem Grund wurde 1998 von der Bundesregierung eine entsprechende wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben. Man muss sagen, dass ihr Ergebnis nur für Laien eine Überraschung war: Mit der bis
heute gültigen bilanziellen Entlastung würden bis 2010
lediglich 5 Prozent der Unternehmen ihre Altschulden
vollständig zurückzahlen. Insgesamt würde die Summe
des Altschuldenbestands der Unternehmen bis 2010
durch aufgelaufene Zinsen sogar wieder ansteigen. Aus
Sicht der Bundesregierung war es somit erforderlich, die
Altschuldenregelung anzupassen. Weil man auch einmal
überparteiliche Gemeinsamkeiten festhalten sollte, stelle
ich für meine Fraktion fest: Dieser Anpassungsbedarf ist
unstreitig.
({5})
- Ich dachte, auch auf der linken Seite des Hauses würde
jetzt geklatscht. Aber Sie haben gleich noch eine Chance
zu klatschen.
Allerdings war meine Fraktion über den Realisierungszeitraum ein wenig erstaunt. Man könnte auch so
formulieren: Sie brauchten nach Vorlage des Gutachtens
ganze fünf Jahre, um einen beratungsreifen Gesetzestext
vorzulegen,
({6})
und das, obwohl Sie schon vor der Bundestagswahl 1998
eine schnelle Lösung der Altschuldenfrage versprochen
hatten. Sie erweckten bereits im Wahlkampf 1998 den
Eindruck, den entsprechenden Gesetzestext in der
Schublade zu haben.
({7})
Nach dem Regierungswechsel 1998 habe ich den
Fortgang der Dinge aus sächsischer Perspektive mit großem Interesse verfolgt. Denn seinerzeit sind wir im sächsischen Landtag - man kann fast sagen: monatlich - von
den Sozialdemokraten gedrängt worden, endlich einen
entsprechenden Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag
auf den Weg zu bringen. Meine Damen und Herren insbesondere von der SPD, offenbar haben Sie beim Wechsel von der Oppositionsbank auf die Regierungsbank
vergessen, Ihre Schubladen mitzunehmen.
({8})
Entweder war Ihr Entwurf nicht mehr da oder er war,
wie die Juristen zu sagen pflegen, unauffindbar verräumt.
({9})
Die Suche war zugegebenermaßen nicht ganz einfach.
Denn immer, wenn Sie gerade in Ihr verstaubtes Archiv
hinabsteigen wollten, kam etwas dazwischen. Da war die
BSE-Geschichte - hier könnte man fragen, was Rinderwahn mit Altschulden zu tun hat -, dann wurde die
Ministerin ausgewechselt. Aus heutiger Sicht muss man
sagen: Glücklicherweise hat sich Frau Künast nicht in
den Altschuldenprozess eingeschaltet; denn sonst wären
wir noch nicht so weit.
({10})
Dann kam auch noch eine Bundestagswahl dazwischen.
Aber im Jahre 2002 war alles ganz einfach: Man musste
nur noch auf eine Gute-Laune-Phase des Finanzministers warten und blitzschnell zuschlagen.
({11})
Unter Berücksichtigung dieser Umstände war das ein
regelrechtes Schnellverfahren. Das sage ich nur deshalb,
weil Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, manchmal auch anders können. Ich erinnere
bloß an das Thema Ausbildungsplatzabgabe, bei dem ich
mir ein ähnlich langes Nachdenken wünschen würde.
({12})
Der vorliegende Gesetzentwurf zerfällt im Wesentlichen in zwei Teile: Erstens wird die bestehende
Rangrücktrittsvereinbarung massiv verschärft. Zweitens
können sich die Unternehmen von dieser verschärften
Verpflichtung freikaufen, indem sie einen einmaligen
Ablösebetrag bezahlen.
Obwohl ich selbst am Anfang der Diskussion - damit
meine ich 1998 - lieber die bestehenden Altkredite auf
ihre Werthaltigkeit überprüft gesehen hätte, um daraus
den Ablösebetrag zu ermitteln, bin auch ich mittlerweile
- nach Abwägung aller Umstände - der Auffassung,
dass der Grundansatz dieses Gesetzes richtig ist.
({13})
Frau Wolff, wenn Sie mitschreiben wollen: Das wäre
dann die zweite Gemeinsamkeit.
({14})
Allerdings wird die Decke der Gemeinsamkeiten jetzt
immer dünner. Bei der gedruckten Fassung des Gesetzentwurfs sieht meine Fraktion noch erheblichen Nachbesserungsbedarf. Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass die verschärfte Rangrücktrittsvereinbarung
hart an der Kante der Verfassungskonformität entlang
schlittert. Dabei geht es mir weniger um den abzuführenden Prozentsatz, den Sie ja von 65 auf 55 Prozent senken
wollen, es geht vielmehr um die veränderte Bemessungsgrundlage für den Gewinn. Selbst ein Abführungssatz von 55 Prozent führt in der Praxis häufig dazu, dass
der gesamte handelsrechtliche Überschuss abgeführt
werden muss.
Zweiter Kritikpunkt: Die Ablöseregelung allein an
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens zu orientieren ist nicht richtig. Selbstverständlich
ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen sehr unterschiedlich, aber seien wir ehrlich: Es gibt
da auch subjektive Faktoren. Es gibt nun einmal gute
und weniger gute Geschäftsführer, es gibt nun einmal
erfolgreiche und weniger erfolgreiche Unternehmen.
Meine Fraktion ist deshalb der Auffassung, dass es nicht
Aufgabe des vorliegenden Gesetzentwurfs sein kann,
gutes Management zu bestrafen und schlechtes Management zu belohnen.
({15})
Ihr Gesetzentwurf folgt an dieser Stelle - ich gebe zu,
das ist fast unzulässigerweise verkürzt dargestellt - zu
stark dem Sozialhilfeprinzip. Die Betriebe würden sich
darauf einstellen: Sie würden praktisch all ihre Fantasie
einsetzen, um sich möglichst arm darzustellen. Dagegen
würden Sie sich wundern, wie dasselbe Unternehmen
gegenüber seiner Hausbank plötzlich einen Verlust in einen konzeptionellen Gewinn umwandelt bzw. umwandeln muss, denn neue Kredite bekommt man natürlich
nur, wenn man konzeptionellen Gewinn ausweist - getreu dem Motto „Wenn du zur Altschuldenstelle fährst,
dann nimm das Fahrrad, brauchst du einen Kredit von
der Hausbank, dann fahre mit dem Mercedes vor“.
Ich weiß auch nicht, wie die zuständige Behörde objektiv einschätzen soll, ob der seitens des Betriebes vorgeschlagene Ablösebetrag angemessen ist. Deshalb
schlägt meine Fraktion zur Ermittlung der Gewinnerwartung von Unternehmen ein standardisiertes, betriebsgruppenindividuelles mathematisches Verfahren vor,
welches die Verzinsung von Produktionsfaktoren angemessen berücksichtigt. Diese de facto kalkulatorische
Gewinnermittlung und der daraus ermittelte Ablösebetrag könnten den Verwaltungsaufwand erheblich senken
und überhaupt erst eine Entscheidungsgrundlage für die
Ablösevereinbarung bilden. Leider haben Sie unseren
Antrag im Ausschuss abgelehnt, sodass wir den vorliegenden Gesetzentwurf leider ebenfalls ablehnen müssen.
Nun noch ein paar Worte zum Gesetzentwurf der
Liberalen. Die FDP will den großen Schnitt dadurch
machen, dass sie ganz einfach festlegt: Jeder soll ein
Drittel seiner Altschulden begleichen und basta. Die
Vorteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand: Es handelt sich um ein extrem einfaches Verwaltungsverfahren.
Ein mit der Prozentrechnung halbwegs vertrauter Bearbeiter könnte die Bescheide erstellen. Der Finanzminister bekommt sogar mehr Geld als im Regierungsentwurf
eingeplant; dafür gibt es einen Pluspunkt - so sind wir
zu den Liberalen. Andererseits liegt in der extremen
Pauschalität gerade das Problem: Kleine Schuldner
würden unter- und große Schuldner würden überfordert.
Das Problem, was wir mit denjenigen Unternehmen machen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit diesen Ablösesatz objektiv nicht aufbringen können, bleibt ungelöst: Keine Bank der Welt würde diesen
Unternehmen den Ablösebetrag finanzieren. Das heißt,
in der Einfachheit Ihres Gesetzes liegt zugleich die große
Gefahr; das wäre ein Minuspunkt. Ich mache es einfach
jetzt: Pluspunkt und Minuspunkt ergeben null, deshalb
wird sich meine Fraktion bezüglich des Gesetzentwurfs
der FDP der Stimme enthalten.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, trotzdem ist
es noch nicht ganz zu spät, die guten Anregungen von
CDU und FDP in die für das Gesetz maßgeblichen Verwaltungsvorschriften zu etablieren:
Erstens. Bestimmen Sie die Gewinnerwartung des
Unternehmens nicht durch Befragung, sondern mathematisch, also in einem standardisierten Verfahren.
Zweitens. Entbinden Sie das Unternehmen bei einer
bestimmten Angebotshöhe von aufwendigen Kontrollverfahren, getreu dem Motto: Je niedriger das Angebot,
desto höher die Kontrolldichte.
Weil ich davon ausgehen muss, dass sich meine Fraktion heute bei der Schlussabstimmung völlig unverdientermaßen nicht durchsetzen kann, erlaube ich mir noch
einen Appell an die Damen und Herren von Rot-Grün:
Erstens. Überlassen Sie die Ausformulierung der entsprechenden Verwaltungsvorschriften nicht allein der
Bundesregierung und der Verwaltung!
Zweitens. Sorgen Sie bei der praktischen Umsetzung
des Gesetzes für ein nachvollziehbares, faires Verfahren,
welches auch die Verhältnismäßigkeit gegenüber denjenigen Unternehmen wahrt, die ihre Altschulden vollständig zurückgezahlt haben bzw. als Neu- und Wiedereinrichter mit immensen Neukrediten belastet sind!
Drittens. Sorgen Sie dafür, dass gutes Management
nicht bestraft und Missmanagement nicht belohnt wird!
Viertens. Beugen Sie Missbrauch vor!
Auch in der Landwirtschaft sollte nämlich gelten:
Leistung muss sich wieder lohnen.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Behm vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie wir gemerkt haben, verführt dieses
Thema dazu, zurückzublicken. Ich bitte Sie, dass Sie
auch mir einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit
erlauben.
Bevor am 9. November 1989 die Mauer fiel, hat es
40 Jahre lang zwei deutsche Staaten gegeben. In diesen
40 Jahren hat sich bedingt durch die Zuordnung zu unterschiedlichen politischen Systemen eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung vollzogen. Auf
beiden Seiten der Mauer lebten Deutsche: im Wesen
gleich, mit einer gemeinsamen Geschichte und Kultur,
mit familiären und freundschaftlichen Kontakten untereinander - die hat es damals Gott sei Dank gegeben -,
mit den gleichen Empfindungen, wenn es um Liebe und
Schmerz, um Gerechtigkeit und um die Sehnsucht nach
einer friedlicheren Welt ging. Deswegen hatte ich schon,
als es die DDR noch gab, einen Hang zu den Grünen.
({0})
Ich gehe davon aus, dass Sie alle hier mit mir froh
sind, dass Deutschland wiedervereint ist. Die Vereinigung war tatsächlich eine große Leistung. Der Vereinigungsvertrag und einige daraus abgeleitete Gesetze dagegen verdienen weniger Beifall. Auf die Lasten der
deutschen Teilung häuften sich Vereinigungslasten.
Diese Lasten tragen alle Deutschen, aber nicht alle gleichermaßen: Es gibt besonders betroffene Gruppen. Als
Beispiele möchte ich nur die Kapitel „Rückgabe vor Entschädigung“, „Bodenreform“ und „Altschulden“ nennen. Die Betroffenen leben zum größten Teil im Osten
Deutschlands.
Der 9. November 1989 liegt fast 15 Jahre zurück und
die deutsche Einheit besteht seit fast 14 Jahren. Insofern
ist es aus meiner Sicht dringend geboten, mit den Vereinigungsfolgen endlich aufzuräumen. Aus diesem Grund
habe ich es begrüßt, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Regelung der Altschulden in der Landwirtschaft vorgelegt hat.
Dieser Entwurf ist so umstritten wie selten ein Gesetzgebungsvorhaben: Landwirtschaftsbetriebe mit Altschulden - LPG-Nachfolgebetriebe - bewerten die
neuen Regelungen zur Rückzahlung der Altschulden in
der Regel sehr kritisch: Sie befürchten aufgrund der erhöhten Gewinnabführung eine massive Gefährdung ihrer
Solvenz. Betriebe ohne Altschulden - Wieder- und Neueinrichter - halten dagegen die neuen Regelungen für zu
lax: Sie machen den Vorwurf, dass die LPG-Nachfolger
weiterhin subventioniert werden und dass damit der
Staat die von ihnen seit langem kritisierte Wettbewerbsverzerrung fortsetze. Beide Seiten sind sich jedoch darüber einig - Herr Jahr hat das vorhin gesagt -, dass Regelungsbedarf besteht. Prinzipiell wird auch die
entscheidende Neuerung des Gesetzentwurfs anerkannt,
dass nämlich die Altschulden durch einen betriebsindividuell festzusetzenden, einmalig zu zahlenden Ablösebetrag endgültig getilgt werden können. Insbesondere zum
Vollzug des Gesetzes gab es aber erheblichen Gesprächsbedarf.
In einer Vielzahl von Gesprächen mit betroffenen
Landwirten und Verbänden haben wir Parlamentarier die
Gelegenheit gehabt, Kritik und Anregungen aufzunehmen. Im Ergebnis haben die Koalitionsfraktionen den
Regierungsentwurf an einigen Punkten geändert. Diese
Änderungen sollen bewirken, dass möglichst viele Betriebe die einmalige Chance ergreifen, ihre Altschulden
abzulösen: Erstens haben wir den Abführungssatz von
65 Prozent auf 55 Prozent vermindert. Zweitens haben
wir den Abdiskontierungszinssatz zur Ermittlung des
Ablösebetrages auf der Basis eines mehrjährigen Mittelwertes festgelegt. Dies wirkt sich mindernd auf den Ablösebetrag aus. Drittens haben wir einen Mindestablösebetrag in Höhe der eingesparten Bank- und
Wirtschaftsprüfungskosten eingeführt.
Mit diesen Änderungen sind die Rückzahlungsbedingungen so gestaltet, dass sie angemessen und für die
Betriebe zu schultern sind. Im Übrigen werden auch zukünftig nur die Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften, zur Bedienung der Altschulden herangezogen. Herr
Jahr, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe
wird also ausdrücklich berücksichtigt. Aus diesem
Grund ist auch an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht zu zweifeln.
Den Kritikern, die das Gesetz als Subvention für rote
Barone brandmarken, sei gesagt: Aufgrund der von
CDU und FDP geschaffenen Rechtslage ist seit Jahren
klar, dass die LPG-Rechtsnachfolger ihre Altschulden
nie komplett zurückzahlen werden. Es ist Rot-Grün nicht
möglich, das Rad zurückzudrehen. Die Rückzahlungsbedingungen lassen sich heute nicht beliebig, sondern nur
im Rahmen der Verhältnismäßigkeit verschärfen. Durch
unseren Gesetzentwurf schaffen wir keine zusätzliche
Subventionswirkung. Im Gegenteil: Er führt zu zusätzlichen Einnahmen für den Erblastentilgungsfonds in dreistelliger Millionenhöhe.
CDU und FDP haben die Rückzahlung der DDR-Kredite mit ihrer damaligen Regelung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Ohne das aktuelle Landwirtschafts-Altschuldengesetz würde es weiterhin den
Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung zulasten von Neuund Wiedereinrichtern geben. Der rot-grüne Gesetzentwurf führt dazu, dass LPG-Nachfolgebetriebe und neu
gegründete Betreibe nunmehr zumindest bezüglich der
Schulden gleichgestellt sind. Damit kann ein Kapitel
leidvoller Vereinigungsgeschichte endlich geschlossen
werden.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, das Klima der Gesprächsführung
- es ist ja keine Auseinandersetzung - macht deutlich,
dass wir alle froh sind, dass wir hier zu einer Lösung
kommen werden, die der besonderen Situation des ländlichen Raums und der Landwirtschaft im Osten Rechnung trägt.
Als ich 1998 in den Bundestag kam, war mir - das
muss ich zu meiner Schande gestehen - die Altschuldenproblematik nicht sehr bekannt. Bei Besuchen vor Ort,
bei Gesprächen mit vielen Betroffenen und bei einer
fraktionsinternen Anhörung haben wir uns sehr intensiv
um die Materie bemüht. Ich sage es ganz einfach: Ich bin
sehr stolz darauf, dass meine kleine Fraktion an dieser
Stelle einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
({0})
Lieber Peter Jahr, ich bin ein bisschen enttäuscht von
euch. Du hast hier vorhin 18 Minuten lang geredet. Ich
denke, wenn ihr vorher schon ähnlich viel Kraft aufgewendet hättet, dann hättet auch ihr einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen können.
({1})
In diesem Gesetzentwurf hätten dann möglicherweise
die Dinge gestanden, die ihr wollt und die wir dann nicht
über den Verordnungsweg hätten regeln müssen.
Es lohnt sich nicht, über diese Sache zu streiten. Alle,
die die Materie nicht kennen, werden sie auch am Ende
der Debatte nicht verstanden haben. All diejenigen, die
sich mit dem Thema auskennen, merken sowieso, ob wir
uns damit wirklich ernsthaft auseinander setzen oder ob
wir uns nur herumstreiten. Das will ich nicht tun.
Ich habe mit tief betroffenen Wiedereinrichtern gesprochen, die mir schwerste Vorwürfe gemacht haben,
wie mit diesem Problem umgegangen wurde. Ich habe in
Gaststätten gesessen, die den LPG-Nachfolgern gehörten. Ich bin auf Straßen gefahren und war in Kindergärten zu Besuch, die noch einen Teil der Altschulden ausmachten und die Bedrängnis verstärkten. Es geht darum,
in diesem speziellen Fall ein vernünftiges Maß an Zukunftschancen und Gerechtigkeit herzustellen.
Lieber Herr Thalheim, ich glaube, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der von Rot-Grün getragen
wird, den Anforderungen, die wir an ihn stellen, nicht
gerecht wird. Ich meine, er ist steuersystematisch äußerst
fragwürdig. Ich bin der Meinung, dass Sie das selbst erkannt haben, weil Sie das zunächst anvisierte Einnahmeziel von 600 Millionen Euro auf 370 Millionen Euro reduziert haben. Sie werden mit dem individuellen
Prüfverfahren, das Sie durchführen lassen wollen, einen
bürokratischen Moloch aufbauen, der ebenfalls dazu beitragen wird, dass dieser Betrag nicht erzielt wird.
Die individuelle Prüfung erscheint zunächst sehr
vernünftig. Es leuchtet allerdings bei genauerer Betrachtung nicht ein, dass jemand, der in den letzten Jahren gut
gewirtschaftet hat, heute dafür bestraft werden soll, und
derjenige, der sich sehr wenig Mühe gegeben hat, dafür
honoriert wird. Das ist doch wirklich nicht logisch. Lassen Sie uns auch - Herr Dr. Jahr hat es schon angesprochen - über Möglichkeiten reden, den Zahlungsverpflichtungen zu entgehen. Untergesellschaften sind nun
einmal ein sehr geeignetes Mittel, um Zahlungsverpflichtungen auszuweichen. Der Nachweis eines Gutachtens - das ist zwar ein bisschen umstritten, aber die
Subventionswirkungen sind erheblich - wird im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht aufgegriffen.
Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden,
den ich in drei Punkten kurz skizzieren will und den ich
für den besseren halte. Das Problem in unserem Gesetzentwurf - das ist völlig richtig - ist die Festlegung der
Ablösung der Altschulden auf 33 Prozent. Aber schauen
wir uns die Forderungen der anderen an: Die Wiedereinrichter verlangen einen Ablösebetrag von mindestens
50 Prozent und die LPG-Nachfolgebetriebe meinen,
15 Prozent seien die oberste Grenze. Die Mitte dieser
beiden Zahlen liegt bei etwa 33. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich wäre sogar bereit gewesen, über 25 Prozent
nachzudenken.
Unser System hat einen Riesenvorteil. Es sichert innerhalb von 15 Jahren die Einnahmen. Das muss man
besonders in einer Zeit berücksichtigen, in der wir den
Menschen in den neuen Ländern verstärkt helfen wollen.
Unser Vorschlag sichert dem Bund die Einnahmen und
beendet im Grunde genommen die Auseinandersetzung
über diese Problematik.
Wer nicht in der Lage ist, den von uns vorgeschlagenen Ablösebetrag - von mir aus können es auch 25 Prozent sein - aufzubringen, der wird sich allerdings auf
dem zukünftigen Agrarmarkt nicht behaupten können.
Insofern ist der pauschalisierte Satz eine sehr unbürokratische Maßnahme, die meiner Meinung nach ein
hohes Maß an Gerechtigkeit beinhaltet. Sie würde auch
dazu beitragen, insgesamt zu einer Befriedung zu kommen, die diesem Problem gerecht wird.
Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung,
der von Rot-Grün getragen wird, nicht zustimmen. Wir
sind aber hoffentlich alle froh darüber, dass wir dieses
Thema befriedigend abgearbeitet haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Bahr von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Jahr, Sie
haben Ihre Rede gut angefangen, indem Sie wie Herr
Thalheim, Frau Behm und auch Herr Goldmann zunächst sachlich dargestellt haben, worum es geht. Das ist
erfreulich. Aber die Art und Weise, wie Sie dann versucht haben, zu begründen, dass unser Gesetzentwurf an
der Sache vorbeigeht oder zumindest nichts taugt, hat
wenigstens mir persönlich den Eindruck vermittelt, dass
wir mit dem, was wir hier vorlegen, sehr gut liegen. Deswegen werden wir es so beschließen.
({0})
Das Landwirtschafts-Altschuldengesetz, Herr Jahr,
zeigt, dass man schon 1990 mit Fantasie so manche Probleme in vielen Wirtschaftsbereichen wie der Industrie,
des Handwerks und des Mittelstandes erfolgreich hätte
lösen können. Wir legen auch dank der Mitarbeit des damaligen Mitgliedes des Bundestages, Dr. Thalheim, eine
Lösung vor, die sich noch heute sehen lassen kann und
zum Erfolg führt.
In den übrigen Wirtschaftsbereichen hätte man sicher
mit Fantasie auch einiges machen können, anstatt alles
platt zu machen, was wir heute bedauern.
Das Landwirtschafts-Altschuldengesetz wurde nach
der Wiedervereinigung verabschiedet und die Umstrukturierung der Landwirtschaftsbetriebe ist mehr oder weniger gelungen. Die Betriebe haben sich stabilisiert.
Durch diese Maßnahmen wurde vermieden, dass sanierungsfähige Unternehmen in Konkurs gehen. Insofern ist
die Situation deutlich besser als vor zwölf oder
14 Jahren.
Jedoch wird das politische Ziel, dass bis 2010 alle betroffenen Landwirtschaftsbetriebe ihre Altschulden zurückzahlen, auf der Basis der gegenwärtigen Rangrücktrittsvereinbarungen nicht erreicht. Sie bieten den
Betrieben wenig Anreize, Schulden zu bedienen. Eine
Änderung des geltenden Landwirtschafts-Altschuldengesetzes ist aus haushaltspolitischer Sicht unumgänglich; denn aufgrund der aufgelaufenen und der weiter
auflaufenden Zinsen steigen die Forderungen an. Letztlich ist der Bund über den Erblastentilgungsfonds der
Gläubiger der Altschulden. In ihm werden die wesentlichen Elemente der finanziellen Erblasten der ehemaligen
DDR zusammengefasst, verzinst und auch getilgt.
Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist die beschleunigte Ablösung der Altschulden durch die Betriebe entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Deshalb wird die Bemessungsgrundlage
verbreitert und der Abführungssatz erhöht. Zugleich
wird den landwirtschaftlichen Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, ihre Altschulden freiwillig in einem
einheitlichen Ablöseverfahren gegen Zahlung eines unternehmensindividuell bestimmten Ablösebetrages vorzeitig zurückzuzahlen. Für Unternehmen, die auf absehbare Zeit keine oder nur sehr geringe Gewinne
erwirtschaften, wird ein Mindestablösebetrag eingeführt.
Dieser entspricht dem Barwert der aufgrund der Auflösung der Rangrücktrittsvereinbarung ersparten Aufwendungen an Bankgebühren und an Wirtschaftsprüferkosten.
Unternehmen, die die Altschulden nicht ablösen, werden auch künftig nur im Falle der Gewinnerzielung die
Zahlung leisten müssen, dann allerdings erhöhte Zahlungen.
({1})
Altschuldenbedingte Insolvenzen wird es also in diesem Zusammenhang auch in Zukunft nicht geben. Der
derzeit aufgelaufene Gesamtschuldenbetrag liegt bei
2,5 Milliarden Euro. Mit der alten Regelung hätten wir
einen Barwert von 320 Millionen Euro zu erwarten. Mit
der neuen Regelung, die wir jetzt vorlegen, werden es
560 Millionen Euro sein.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass der FDP-Entwurf eine relativ ungerechte Lösung darstellen würde,
wenn er auch unbürokratischer ist, was ich sehr wohl in
Rechnung stellen will. Er würde aber einige Unternehmen bevorteilen. Wir wollen aber Subventionen abbauen
und nicht neue schaffen. Andere Betriebe würden vielleicht unter dieser Last zusammenbrechen. Deswegen
halten wir es für sinnvoll, diese Regelung abzulehnen.
Eine sinngemäße Anpassung des Rangrücktritts wäre im
Ernst Bahr ({2})
Übrigen auch juristisch problematisch. Insofern ist Ihr
Antrag auch aus dieser Sicht nicht sehr gut geeignet.
In Anbetracht der allgemeinen haushaltspolitischen
Lage wäre es außerdem unverantwortlich, auf die Rückzahlungen staatlich gewährter Kredite durch leistungsfähige Unternehmen zu verzichten. Das ist einfach nicht
machbar.
({3})
- Nein. Wir sprechen über fiktive Zahlen; das wissen wir
auch.
Es ist gelungen, eine Lösung der Altenschuldenproblematik aufzuzeigen, bei der jeder Betrieb eine Chance
erhält, seine Altschulden entsprechend den ökonomischen Möglichkeiten zu bedienen.
({4})
- Herr Goldmann, ich sage noch einmal: Wir sind von
fiktiven Zahlen ausgegangen. Wir haben versucht, das so
seriös wie möglich zu berechnen. Das ist eine solide
Grundlage für das, was wir geschaffen haben.
Wir gehen davon aus, dass derjenige, der Gewinne
macht, auch Schulden bedienen muss. Das ist ein ganz
realer Grundsatz. Es wird niemand überfordert. In dem
Sinne ist das, was wir hier machen, eine zumutbare Lösung. Mit der Lösung des Altschuldenproblems wird
auch der Konflikt zwischen den Agrargenossenschaften
und den Wieder- und Neueinrichtern ein für alle Mal beendet. Insofern ist das eine gute Lösung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! An 18 Minuten Redezeit der CDU/CSU-Fraktion kann ich nicht vorbei. Herr Jahr, Sie haben den
Geist der Wendezeit beschworen. Das hat fast an Nostalgie gegrenzt. Das hätten Sie als Vertreter Ihrer Fraktion
gerade nicht sagen dürfen. Denn Sie sind daran schuld,
dass die Schulden so immens angewachsen sind. Sie
sind daran schuld, dass es bis 1998 keine vernünftige
Regelung im Sinne des Bundes und der Betriebe gegeben hat.
({0})
14 Jahre nach der Wiedervereinigung muss ich konstatieren, dass es der damaligen CDU/CSU-Regierung
nicht gelang oder auch nicht gelingen wollte, dieses Problem vom Tisch zu bekommen. Sie haben in Ihrer Rede
gesagt, Herr Jahr, dass die alte Regelung großzügig gewesen sei. Sie war so großzügig, dass sie die Betriebe in
die Schuldenfalle geführt hat und ihnen keine Luft mehr
zum Atmen ließ.
({1})
Der Druck wurde von Jahr zu Jahr größer. Wie hoch die
Verschuldung angestiegen ist, wurde bereits anhand von
Zahlen dargelegt. Letztlich ist keine akzeptable Lösung
für den Bund und die betroffenen Betriebe in Aussicht
gestellt worden.
Wir alle wissen, dass die alte Regelung nicht unbedingt dazu motivierte, die Schuldenlast zu tilgen. Bisher
müssen 20 Prozent der Gewinne zur Schuldentilgung
eingesetzt werden. Dabei gibt es einige Gestaltungsmöglichkeiten und keine zeitliche Begrenzung. Wir wissen
aber auch, dass die Verbindlichkeiten zu einem nicht unerheblichen Teil aus Investitionen entstanden sind, die
bereits im Rahmen der Treuhandentschuldung 1991 zu
100 Prozent als entschuldungsfähig anerkannt wurden.
Aufgrund der damaligen Finanzsituation wurden aber
nur 78 Prozent entschuldet. Die restlichen Schulden sind
an den heute zur Debatte stehenden Betrieben hängengeblieben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eröffnen
wir endlich die Möglichkeit, durch die freiwillige Zahlung
({2})
eines einmaligen Ablösebetrages die Vergangenheit abzuschließen und Planungssicherheit für zukünftige Investitionen zu bekommen.
Ich kann und will nicht verhehlen, dass der ursprünglich vorgelegte Gesetzentwurf aus meiner praxisnahen
und ostdeutschen Sicht förmlich nach Änderung verlangte. Warum? - Erstens gab für mich das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts von 1996 die Richtung vor.
Danach sollte die Ablösung der Altschulden bei ordnungsgemäßer Wirtschaftsführung möglich sein, ohne,
um es salopp auszudrücken, in den Ruin zu führen. Hierbei geht es auch um Arbeitsplatzsicherung.
Zweitens. Die Absenkung des Abführungsprozentsatzes von ursprünglich 65 Prozent auf 55 Prozent bietet
wesentlich mehr Betrieben die Chance zur Ablösung.
Unser Ziel ist es, den größten Teil der Betriebe zu motivieren, unser Angebot anzunehmen.
Aus diesem Grund wird drittens bei der Barwertberechnung nicht, wie vorgesehen, der Referenzzinssatz
zum Ende der Antragsfrist angesetzt, sondern der Durchschnitt seit Bestehen dieses Zinssatzes, also seit 1997.
Auf diese Weise entstehen reelle Berechnungsgrundlagen.
Viertens. Wir haben eine Mindestablöseregelung
eingefügt. Auch und gerade Betriebe mit geringen Ertragsaussichten sollen die Chance der Entschuldung bekommen. Sie können damit Bankgebühren und andere
Aufwendungen sparen und den Gegenwert als Mindestablöse abführen.
Dem, der von der Ablöseregelung keinen Gebrauch
machen will, bleibt die Variante der jährlichen Bedienung der Schulden aus dem Gewinn.
Waltraud Wolff ({3})
Heute wird auch über unseren Entschließungsantrag
abgestimmt, der den Auftrag zur Umsetzung unterstützt.
An dieser Stelle möchte ich mich beim BMF und
beim BMVEL für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken.
({4})
Aber wir haben noch einiges vor uns. Deshalb bringe ich
an dieser Stelle meinen Wunsch zum Ausdruck, dass die
Durchführungsverordnung sehr zügig kommt, um für die
Betriebe Sicherheit zu schaffen.
Wie bei allen Themen rund um die deutsche Wiedervereinigung wird auch die Diskussion um die landwirtschaftlichen Altschulden sehr kontrovers und emotional
geführt. Ich habe den Wunsch, dass wir künftig sachlich
bleiben, dass die verschiedenen Interessengruppen auf
eine erneute Emotionalisierung verzichten und dass wir
alle gemeinsam einen Schlussstrich unter die Altschulden ziehen.
Schwarz-Gelb hatte lange genug Zeit, ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Sie bringen jetzt Ihre Vorschläge vor, Herr Jahr. Sie hätten sie jedoch schon vor
1998 einbringen sollen. Aber wie bei der EU-Agrarreform oder bei der Organisationsreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist die CDU/CSU nicht
in der Lage, sich zugunsten der richtigen Sache zu entscheiden, wenn es dabei zu Missstimmungen in der eigenen Wählerklientel kommen könnte.
Es ist aber noch nicht zu spät. Setzen Sie doch hier
und heute ein Zeichen. Sie selbst haben schließlich gesagt, unser Gesetzentwurf sei im Grundsatz gut und richtig. Lassen Sie uns dieses Kapitel gemeinsam zu Ende
schreiben und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Danke schön.
({5})
Die Rede der Kollegin Petra Pau nehmen wir mit
Ihrem Einverständnis zu Protokoll.1) Damit schließe ich
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen, Drucksache 15/1662. Der
Haushaltsausschuss empfiehlt unter I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3002 ({0}), den Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Opposition angenommen.
1) Anlage 3
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
15/3002 ({1}) empfiehlt der Haushaltsausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter III seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3002 ({2}) empfiehlt der Haushaltsausschuss,
den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der FDP zur
endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftli-
cher Unternehmen auf Drucksache 15/2468 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der FDP zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Enthaltung
der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Die weitere Beratung
entfällt damit.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Gerda Hasselfeldt, Peter H.
Carstensen ({3}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion CDU/CSU
Grüne Gentechnik in Deutschland nutzen Verlässliche Rahmenbedingungen für einen
verantwortungsvollen Einsatz in der Landwirtschaft schaffen
- Drucksache 15/2822 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Rechtsauschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit
des Saatgutes sicherstellen
- Drucksache 15/2972 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({5})
Rechtsauschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeodneter
und der Fraktion der FDP
Chancen der Grünen Gentechnik nutzen Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren
- Drucksache 15/2979 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({6})
Rechtsauschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute diskutieren wir erneut über die Frage, wie wir mit
der Grünen Gentechnik umgehen sollen. Darüber haben
wir schon mehrfach geredet. Wir werden in den kommenden Wochen im Zusammenhang mit der Debatte
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung alle grundsätzlichen Fragen besprechen. Wir wissen, dass die Positionen durchaus kontrovers sind. Das zeigt sich auch an
den uns heute vorliegenden Anträgen. Jeweils einen haben die CDU/CSU - Drucksache 15/2822 -, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen sowie die FDP vorgelegt.
Die Opposition betont sehr gerne die Möglichkeiten,
die sich mit dieser innovativen Technik verbinden. Auch
wir tun dies, verweisen aber gleichzeitig darauf, dass der
Nachweis der Schadensfreiheit und des positiven
Nutzens für die Menschen sowie für die Natur und insbesondere für die Artenvielfalt in vielen Punkten noch
aussteht. Wir sind der Meinung, dass man darauf gerade
bei Lebensmitteln, die tagtäglich von einer großen Zahl
von Menschen verzehrt werden, in keiner Weise verzichten darf, und zwar auch deshalb nicht, weil sonst das
Vertrauen der Verbraucher, die die Lebensmittel kaufen
sollen, in die Produkte unserer Landwirtschaft nicht gesichert werden kann.
({0})
Wenn ich mir die beiden Anträge der Oppositionsfraktionen anschaue, dann stelle ich fest, dass der Antrag der
Union relativ allgemein gehalten ist. Das Gesetz, über
das wir in den kommenden Wochen beraten, wird sehr
viel konkreter sein. Es heißt im Antrag der Union - auch
wir und die Europäische Union vertreten diese Auffassung -, dass die Koexistenz mehrerer Anbauformen - es
geht dabei um den Anbau mit und ohne Gentechnik - ein
tragender Grundsatz ist. Außerdem ist die Rede davon,
dass es sowohl für die Landwirte als auch für die Verbraucher eine echte Wahlfreiheit geben muss. Für die
Landwirte besteht diese Freiheit darin, frei zu entscheiden, wie sie anbauen; für die Verbraucher besteht sie darin, frei zu entscheiden, was sie kaufen wollen.
Wer das berücksichtigt, der kann sich auch in dieser
Diskussionsrunde nicht mehr davor drücken, eine klare
Position zu beziehen, aus der hervorgeht, ob man der
Auffassung ist, dass es zum Beispiel Pflanzen gibt, die in
unseren Breiten einfach nicht koexistenzfähig sind, und
wie man es mit dem Raps hält. Wir wissen ganz genau,
dass die Auskreuzung unter Umständen weite Flächen
und große Distanzen betreffen kann, je nachdem, wie
stark der Wind ist.
Einer der Punkte, über die wir uns unterhalten müssen,
wird die Frage sein, ob man noch mit Zwischenflächen
arbeiten kann. Außerdem muss man ganz klar sagen, was
man unter Wahlfreiheit versteht. Wahlfreiheit beginnt mit
einer ehrlichen, richtigen und stimmigen Kennzeichnung. Eine solche Kennzeichnung beginnt beim Saatgut,
und zwar deswegen, weil es „ein bisschen genverändert“
eben nicht gibt. Entweder etwas ist - technisch nachweisbar - genverändert oder nicht. Man kann hier nicht „rummuscheln“, sondern muss sich klar äußern. Schließlich
wissen wir ganz genau, dass Saatgut als Grundlage für
Lebensmittelpflanzen und auch für Futtermittelpflanzen
die Möglichkeit einer Genveränderung vielfach verstärken kann, wenn man nicht sehr präzise ist.
All das wissen wir heute. Deswegen hatte ich eigentlich erwartet, dass im Antrag der Union, den wir heute
beraten, genau wie in unserem Antrag festgestellt wird:
Jawohl, gerade beim Saatgut - diese Frage muss jetzt
entschieden werden - muss die Kennzeichnung so sein,
dass das, was im Saatgut technisch nachweisbar ist, auch
nachgewiesen wird. Leider finde ich in Ihrem Antrag
dazu nichts. Dass Sie nicht deutlich werden, dass Sie
sich wieder verweigern, finde ich sehr bedauerlich. Mit
Ihrem Antrag hätten Sie eine Gelegenheit gehabt, sich
sehr klar zu äußern.
({1})
Wir tun das.
Ich will Sie zum Abschluss einfach auffordern, sich
zur Grenze des technischen Nachweises der Reinheit des
Saatgutes ganz konkret - ich benutze jetzt einen Ihrer
Ausdrücke - zu bekennen. Ich glaube, das wäre ein guter
Beitrag, auf der einen Seite Vorurteile abzubauen und
auf der anderen Seite zu helfen, Konflikte zu lösen. Vielleicht ändern Sie Ihre Einstellung. Wenn ja, dann stimmen Sie unserem Antrag zu! Ich würde mich darüber
freuen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
unserer heutigen Initiative wollen wir Sicherheit bei der
Nutzung der Gentechnik in Deutschland schaffen: Sicherheit für die Bürger, Sicherheit für die Landwirte, Sicherheit für die Forschung und Sicherheit für die Unternehmen der Pflanzenzucht.
Dieses Bemühen unsererseits, verehrte Frau Vorrednerin, ist nicht neu. Bereits 2001 haben wir in diesem
Haus eine Kennzeichnung von genetisch veränderten
Bestandteilen in Lebensmitteln gefordert. Wir haben dabei einen Grenzwert von 1 Prozent vorgeschlagen. Das
heutige Ergebnis von 0,9 Prozent ist von unserem damaligen Vorschlag nicht sehr weit entfernt. Dass wir, die
CDU/CSU, als Erste für diese Transparenz und für die
Wahlfreiheit des Verbrauchers eingetreten sind, und
zwar hier, in diesem Hause, wird in den Diskussionen
über dieses Thema immer wieder gern verschwiegen.
Ich möchte Sie bitten, das in Zukunft endlich einmal zur
Kenntnis zu nehmen und auch öffentlich zu erklären.
({0})
Ebenso wird gern verschwiegen, dass es bei der
Kennzeichnung um eine Zusatzinformation für den
Verbraucher und nicht um einen Warnhinweis zu einem
neuen Produkt oder Ähnliches geht. Genlebensmittel
sind nicht gefährlich. Ich zitiere den EU-Kommissar
Byrne, der vorgestern dem „Tagesspiegel“ gesagt hat:
Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind genauso sicher wie herkömmlich produzierte. Es besteht keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit.
Es wäre gut, wenn das auch von Ihrer Seite einmal öffentlich vertreten würde und nicht immer das Gegenteil
behauptet würde.
({1})
Kennzeichnung - ich sage das noch einmal deutlich heißt also Sicherheit und nicht Risiko. Sicherheit für die
Landwirte schaffen wir durch mehrstufige umfassende
wissenschaftliche Prüfung der gezüchteten Pflanzen.
Wissenschaftliche und praktische Erfahrungen sind die
Grundlage für die Wahlfreiheit jedes Landwirts. Deshalb
muss die Diskriminierung derjenigen Landwirte aufhören, die sich freiwillig für die Möglichkeiten der Biotechnik entscheiden oder entscheiden werden.
({2})
Es ist doch gerade Rot-Grün, Frau Dr. DäublerGmelin, das mit aller Macht einen großflächigen Erprobungsanbau in Deutschland verhindert und damit die
Möglichkeit ausschließt, die notwendigen eigenen Erkenntnisse für die Sicherheit der Landwirte in unserem
Land zu gewinnen.
({3})
- Herr Tauss, man muss Lautstärke und Inhalt ein bisschen auseinander halten. - Wie viele Diskussionen über
Verhältnisse in England oder in Kanada oder wo auch
immer könnten wir uns ersparen, auch in diesem Hause,
wenn wir uns endlich auf öffentlich gewonnene und
durch wissenschaftliche Begleituntersuchungen abgesicherte Fakten aus dem eigenen Land beziehen könnten!
Da sind Sie in der Pflicht!
({4})
Es ist wirklich bezeichnend für Ihre Politik, dass sich
jetzt die Bundesländer von sich aus dieser Aufgabe annehmen und dabei auch noch von Ihnen beschimpft werden. Frau Höfken hat das kürzlich einen Anschlag auf
die Verbraucher genannt. Die Bundesländer erfüllen die
Pflicht, die Sie fahrlässig versäumen, und gehen jetzt
nach vorn, um den großflächigen Erprobungsanbau in
Deutschland möglich zu machen. Erst daraus können wir
die praktischen Erkenntnisse gewinnen, die eben schon
gefordert worden sind.
Pflanzenspezifische Abstandsregeln wie in anderen
EU-Ländern auch werden meines Erachtens im Ergebnis
dazu führen, dass alle Landwirte - ich sage ausdrücklich: alle Landwirte, auch die Ökolandwirte - sicher unter der Grenze von 0,9 Prozent bleiben können. Ich bitte
Sie, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine politische europäische Entscheidung ist, die besagt: Bei einem
Anteil von unter 0,9 Prozent ist das gentechnikfrei. Das
ist die entscheidende Grenze. Sie ist politisch so gesetzt
worden. Die müssen wir in unserem Land auch anerkennen.
({5})
- Ich rede nicht von Saatgut. Beim Saatgut - das wissen
Sie - haben wir eine andere Gefechtslage. Da gibt es einen anderen Vorschlag. Die EU-Kommission wird demnächst eine entsprechende Wertung auf den Tisch legen.
Auch die Behauptung, die jetzt immer wieder verbreitet wird, nämlich Gentechnik sei nicht wieder rückholbar, wenn man einmal damit begonnen habe, ist - das
will ich noch einmal sagen - in keiner Weise wissenschaftlich begründet. Es gibt eine aktuelle Studie der
Universität Bern vom 13. April - sie ist also zwei Wochen alt - mit einem Umfang von etwa 200 Seiten, die
wiederum zeigt, dass die Merkmale transgener Pflanzen
nach einigen Jahren aus der Population verschwinden,
wenn die entsprechenden Pflanzen nicht mehr angebaut
werden, weil sie gegenüber den bisherigen Pflanzen
nicht superior sind, das heißt, ihnen mit der Zeit unterliegen. Gentechnik ist also nicht eine Büchse der Pandora,
wie immer wieder öffentlich gesagt wird; sie ist vielmehr eine sichere und beherrschbare Technologie.
Die Anwendung im eigenen Land brauchen wir - das
wird auch immer übersehen - für die Zukunftssicherung
unserer Forschung. Bisher waren wir in Deutschland
weltweit mit an der Spitze. Doch während in anderen
Ländern massiv in die Forschung investiert wird, insbesondere in China - Frau Däubler-Gmelin führt gerade
ein Gespräch mit einer Abordnung -, werden im eigenen Land die Chancen der Forschung ständig verschlechtert.
({6})
Damit verlieren auch unsere Pflanzenzüchter im weltweiten Wettbewerb an Boden. Wer wie diese Regierung
den eigenen Unternehmen das Leben schwer macht, arbeitet den internationalen Multis, wie Sie sie immer so
schön bezeichnen, direkt in die Hände. Sie bieten ihnen
den Markt geradezu auf dem Silbertablett an, wenn Sie
die eigenen Pflanzenzüchter benachteiligen und ihnen
die Chance nehmen, sich am internationalen Wettbewerb
zu beteiligen.
Dazu passt, dass Sie vor drei Tagen, also am Montag
dieser Woche, in Brüssel der Importgenehmigung für
Bt-Mais-Produkte aus Übersee nicht widersprochen haben. Gleichzeitig verhindern Sie aber im eigenen Land,
dass ein Erprobungsanbau mit diesen Produkten stattfindet. In diesem Punkt ist Ihre Argumentation doppelzüngig. So etwas machen wir nicht mit.
({7})
Letzter Satz: Wir stehen für Wettbewerbsfähigkeit
und sichere, praktikable Rahmenbedingungen; Rot-Grün
steht für Verunsicherung der Bevölkerung und für Vernachlässigung des Standortes Deutschland.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Schön wäre es, wenn das wahr wäre,
was der Kollege Heiderich da eben gesagt hat. Den Verbraucherschutz ernst nehmen heißt auch, die Bedenken
unabhängiger Organisationen ernst nehmen. Es geht
dann nicht an, sie in Stammtischmanier als irre zu beschimpfen und uns Grüne der Straftaten zu bezichtigen,
die wir mitnichten begangen haben, so wie das der Kollege Merz gemacht hat. Das ist meiner Meinung nach
nicht dadurch zu entschuldigen, dass man ihn selbst in
den Kreisen der CDU/CSU als Quartalsirren bezeichnet.
Hier ist schon eine richtige Entschuldigung fällig.
({0})
Wahl- und Entscheidungsfreiheit ist ein hohes Gut.
Sie setzt echte Wahlfreiheit und ein hohes Schutzniveau
für Mensch und Umwelt, wie es die CDU/CSU in ihrem
Antrag schreibt, voraus. Angesichts dessen, was weiterhin im CDU/CSU-Antrag steht, kann man diese Aussage
nur als irreführend bezeichnen. Die CDU/CSU fordert
hier nämlich wie auch im Bundesrat die Aufgabe der guten fachlichen Praxis und des Schutzes ökologischer Gebiete. Sie will die Haftungsregelungen aufweichen,
({1})
ein untransparentes Standortregister schaffen, das den
Namen dann nicht mehr verdient, und kurze Anzeigefristen für den Anbau gentechnisch veränderter Organismen, sodass sich der Nachbar nicht mehr darauf einstellen kann.
Das markiert, wie Sie sehr wohl wissen, einen
Dammbruch und den Beginn unkontrollierter Auskreuzungen. Das provoziert eben genau die Konfrontation, die Sie angeblich nicht wollen. Solch ein Vorgehen
bezeichne ich tatsächlich als fahrlässig. Da werden die
Leute sauer. Wir als Grüne unterstützen eine gesellschaftliche demokratische Diskussion, die mit legalen
Mitteln geführt wird. So verhalten wir uns auch als Partei im Hinblick auf unsere Wähler. Diese sollen sich
nämlich frei und jeder für sich entscheiden können, ob
sie genfoodfrei leben wollen.
Dazu gehört aber auch, dass wir uns mit Pioneer in
Iowa unterhalten und deren Argumente wahrnehmen.
Pioneer hat zum Beispiel gesagt: Wenn der Markt es verlangt, dann wird auch von uns gentechnikfreies Saatgut
angeboten. Das ist eine bemerkenswerte Aussage, wie
ich finde.
({2})
Wir wissen natürlich, dass es dazu nötig ist, dass sich
Pioneer darum bemüht, dass auch die Gesetze in den
USA geändert werden. Uns beunruhigt jedenfalls, dass
sich die unionsregierten Länder von den Lobbyisten der
Gentechnikindustrie instrumentalisieren lassen.
Die FDP geht im Übrigen mit den Forderungen in ihrem Antrag noch über die im CDU/CSU-Antrag hinaus.
({3})
Sie fordert nämlich, dass ein freiwilliges Kataster eingeführt wird. Bezüglich dieses Punktes dürfen wir Sie
auf die Rechtslage hinweisen; denn die Freisetzungsrichtlinie steht dem eindeutig entgegen. Das Gentechnikgesetz ist die wesentliche Grundlage für Wahlfreiheit.
Deswegen werden wir dafür kämpfen.
Die zweite wichtige Grundlage ist der Schutz der
Wahlfreiheit in Bezug auf die gentechnikfreie Produktion, das heißt beim Saatgut. Ich unterstütze ausdrücklich das, was meine Kollegin Däubler-Gmelin eben gesagt hat: Wir setzen uns massiv dafür ein - und hoffen
auch auf Ihre Unterstützung -, dass sich die Nachweisgrenze auf den Schwellenwert bezieht, damit die Wahlfreiheit nicht Makulatur wird.
({4})
Wir können hier natürlich - das sage ich gerade vor
dem Hintergrund des letzten Satzes des Kollegen
Heiderich - auf die Analysen von US-Wissenschaftlern
verweisen, die festgestellt haben, dass konventionelles
Saatgut nach rund acht Jahren großflächigem Anbau
- das heißt nach kurzer Zeit - in hohem Maße gentechnisch verunreinigt ist; bei Mais und Soja sind es über
50 Prozent, bei Raps sogar 80 Prozent. Das möchten wir
nicht haben und ich hoffe, auch Sie nicht.
({5})
Aber ich will auch kurz etwas zu den Umwelt- und
Gesundheitsrisiken sagen, die auf unserer USA-Reise
ein großes Thema waren.
({6})
Nicht bekannt bedeutet auf keinen Fall nicht gefährlich,
dann schon eher: nicht untersucht. Es gibt weltweit nur
zehn wissenschaftlich anerkannte Studien. Kollege
Heiderich, wir sind übrigens für wissenschaftliche Forschung.
({7})
Aber ich darf auch darauf hinweisen, dass von diesen
zehn Untersuchungen fünf - nämlich die von unabhängigen Instituten - nachteilige Effekte und die anderen fünf
- die von der Industrie - keine nachteiligen Effekte festgestellt haben. Das dürfte doch Anlass geben, das Vorsorgeprinzip hochzuhalten.
({8})
Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die gesundheitlichen Effekte. Sie wissen, dass die französische
Kommission für biomolekulare Forschung, CBG, soeben
im Rahmen des Zulassungsverfahrens der EU-Kommission für einen Bt-Mais gesundheitliche Schäden bei Ratten festgestellt hat.
({9})
Auch das ist ernst zu nehmen. Es gibt eine Reihe von
weiteren Untersuchungen, die umstrittener sind. Ich erinnere nur an den Fall Pusztai. Wenn noch keiner tot umgefallen ist, dann liegt das daran, dass man noch keine
ausreichenden Erkenntnisse hat.
Ich fordere Sie auf und bitte Sie, sich mit uns für den
Schutz der gentechnikfreien Produktion einzusetzen
durch ein Gentechnikgesetz, das die Forderungen der
Wahlfreiheit und der Freiheit des Saatgutes von Gentechnikkontamination erfüllt.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollegin Höfken, Freiheit ist ein Menschenrecht; darauf
möchte ich hinweisen. Beim Saatgut sollten wir uns an
das Sortenrecht halten und sollten diese Begriffe hier
nicht durcheinander werfen.
({0})
Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Ministerin
Künast mir gestern zu der Bewertung der Rattenversuche gesagt hat, sie sei der Meinung, daran könne schon
etwas sein, aber es gebe Minister in der Bundesregierung, die anderer Meinung seien, weswegen sich die
Bundesregierung enthalten habe. Nach fünf Jahren Moratorium hat sie noch immer keine einheitliche Meinung.
Das finde ich ein Armutszeugnis.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen: Gegner Grüner Gentechnik sind in aller Regel satte Menschen. Wer sich um seine Zukunft und die seiner Kinder
sorgt,
({2})
wer Angst um den eigenen Arbeitsplatz und seine Altersversorgung hat, der kümmert sich um vieles, aber
nicht darum, ob eine der Zutaten im Müsliriegel von
gentechnisch veränderten Organismen stammt oder
nicht. Er ist nämlich froh, wenn er sich die Müsliriegel
für seine Kinder überhaupt leisten kann. Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen und einem äußerst geringen Wirtschaftswachstum interessiert die Menschen die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes und nicht, ob die Margarine
Bestandteile von gentechnisch veränderten Organismen
enthält. Die Grünen haben uns hier eine Luxusdiskussion aufgezwungen, die den Menschen im Lande nicht
hilft.
({3})
Ministerin Künast hat erst gestern im Ausschuss wiederholt, dass der Verzehr von Produkten von gentechnisch veränderten Organismen keine Gefährdung der
Gesundheit erwarten lässt. Die FDP stimmt ihr zu.
({4})
Die Gesundheit der Menschen ist ein sehr hohes Gut.
Der Verbraucherschutz dient der Gesundheit der Menschen. Wenn eine Züchtungsmethode hilft, Kulturpflanzen zu züchten, die der Gesundheit der Menschen nützen, dann ist dies ein guter Grund, die Anwendung
dieser Züchtungsmethode zu unterstützen.
Grüne Gentechnik kann der Gesundheit der Menschen nützen. Nehmen wir das Beispiel Weizen. Weizen,
der nicht mit Pilzgiften belastet ist, bietet Vorteile für
seine Verwendung als Nahrungs- oder Futtermittel. Das
ist unmittelbar einleuchtend. Dennoch ist ein Freisetzungsversuch in Sachsen-Anhalt, der der Erprobung von
pilzresistentem Weizen dienen sollte, gerade von Greenpeace massiv behindert worden. Die Organisation nennt
sich „Grüner Frieden“ und handelt gänzlich unfriedlich,
wenn sie fremde Felder entgegen den Interessen der
Eigentümer bestellt.
({5})
Daher ist es gut, dass die Gemeinnützigkeit dieses unfriedlich handelnden Konzerns überprüft wird.
Die FDP setzt sich in ihrem Antrag dafür ein, dass die
Chancen der Grünen Gentechnik in Deutschland genutzt
werden. Dafür brauchen wir Regeln für die Koexistenz.
Sie müssen sich an der Verbreitungsbiologie der Pflanzen
orientieren. Ich darf noch hinzufügen: Im Wesentlichen
sind die Kenntnisse vorhanden. Wo Wissenslücken bestehen, ist es Aufgabe der Institute der Ressortforschung,
diese Lücken zu schließen. Derzeit behindert Ministerin
Künast die BBA dabei, ihre Forschungsaufgaben zu erfüllen. Es ist schon einmalig, dass eine Ministerin mehr
Kenntnisse einfordert und gleichzeitig verhindert, dass
die Institutionen in ihrem Verantwortungsbereich entsprechende Forschungen durchführen.
Die im Regierungsentwurf enthaltene gesamtschuldnerische Haftung lehnt die FDP ebenfalls ab. Schäden
müssen ausgeglichen werden und gleichzeitig muss gelten: Wer sich korrekt verhalten hat, kann nicht zur Haftung herangezogen werden.
Da von den zugelassenen Sorten gesundheitliche
Schäden und eine Beeinträchtigung von Natur und Umwelt nicht zu befürchten sind, ist nach Auffassung der
FDP sehr viel mehr Gelassenheit angebracht. Deswegen
lehnen wir die Forderung der Koalition ab, beim Saatgut
Schwellenwerte festzulegen, die sich an den Nachweisgrenzen orientieren. Das ist weder erforderlich noch
praktikabel.
Die polarisierte Diskussion hat die Risikowahrnehmung der Menschen in Deutschland verzerrt und die
Menschen verunsichert, obwohl keine Gefahren bestehen. Die Grüne Gentechnik wird in fünf Jahren bei uns
eine Selbstverständlichkeit sein.
({6})
Ihre Startschwierigkeiten sind durch schlechte Kommunikation zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft
verursacht worden. In Deutschland wurde aus dem Desaster um die Genehmigung der ersten Insulinproduktionsanlage in Hessen offensichtlich nichts gelernt. Ich
bedauere dies ausdrücklich.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege René Röspel von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Happach-Kasan, ich gebe zu, dass
ich mich bei Ihrer Rede aufgeregt habe. Trotzdem will
ich mich nicht allzu ausführlich dazu äußern.
Ich habe vor einigen Wochen in Gesprächen mit Reisbauern aus Thailand und auch mit Vertretern von Misereor und „Brot für die Welt“ - es handelt sich um Organisationen, die sicherlich nicht verdächtig sind,
ideologisch zu sein; sie machen aber vor Ort in den Entwicklungsländern Politik - über die Problematik der Bekämpfung des Welthungers durch Gentechnik diskutiert.
Meine Gesprächspartner sehen diese Problematik in
einem ganz anderen Licht, als Sie es dargestellt haben.
Das muss ich deutlich sagen.
({0})
Ich will mich aber mit diesem Punkt nicht weiter befassen, weil wir dieses Thema jedes Mal behandeln.
Herr Röspel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Happach-Kasan?
Ja, natürlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Röspel, ich gehe davon aus, dass Sie
wie auch wir Gespräche mit dem Entwicklungsdienst der
evangelischen Kirche geführt haben. Sie haben sich sicherlich auch intensiv mit diesem Problem befasst. Ist
Ihnen dabei nicht aufgefallen, dass die zahlreichen Probleme, die in den Entwicklungsländern existieren und
die uns die Vertreter und Vertreterinnen dieser Länder
vorgestellt haben, nichts mit der Anwendung einer bestimmten Züchtungsmethode zu tun haben? Diese Probleme haben vielmehr damit zu tun, dass in diesen Ländern Regierungen an der Macht sind, die die Interessen
der Menschen nicht gut vertreten, und dass es dort Konzerne gibt, die die Schwächen dieser Regierungen ausnutzen. Die Züchtungsmethode ist aber letztlich völlig
unmaßgeblich für die Not, die in diesen Ländern
herrscht.
Liebe Frau Kollegin Happach-Kasan, auch ich habe
Gespräche geführt. Ich weiß nicht, über welches Thema
Sie diskutiert haben. In meinen Gesprächen ging es ausdrücklich um den Einsatz gentechnisch veränderten
Saatgutes und gentechnisch veränderter Pflanzen. Es
handelt sich beispielsweise um Bt-Baumwolle in Indien,
wo die Einbrüche bei den Ernten dramatisch sind. Wir
als satte Westeuropäer können uns diese Einbrüche
durchaus erlauben. Für einen indischen Bauern ist es
eine Katastrophe, wenn ein neues, gentechnisch verändertes Produkt schlechter ist. Genau über diese Probleme
haben wir gesprochen. Sie haben möglicherweise nicht
über die Probleme diskutiert, die mit der Gentechnik zu
tun haben, sonst hätten Sie hoffentlich ein anderes Bild.
({0})
Wir wollen heute über drei Anträge, die sich mit dem
Einsatz der Grünen Gentechnologie beschäftigen, diskuRené Röspel
tieren. Der Antrag der SPD und der Grünen ist überschrieben mit: „Wahlfreiheit für die Landwirte durch
Reinheit des Saatgutes sicherstellen“. Die CDU/CSU hat
ihrem Antrag den Titel gegeben: „Grüne Gentechnik in
Deutschland nutzen - Verlässliche Rahmenbedingungen
für einen verantwortungsvollen Einsatz in der Landwirtschaft schaffen“. Die FDP überschreibt ihren Antrag
mit: „Chancen der Grünen Gentechnik nutzen - Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz
grundlegend korrigieren“. Allein die Überschriften machen den Unterschied in der Intention der Anträge deutlich, was nicht sehr häufig der Fall ist. Die rot-grüne
Koalition will die Interessen von Landwirten und Verbrauchern wahren und schützen; das steht auch in der
Überschrift unseres Antrages. Die Opposition stellt die
Einführung der Grünen Gentechnik in den Vordergrund;
das hat Herr Heiderich vorhin betont.
({1})
Wie aber ist die Situation in Deutschland und in Europa? In Deutschland gibt es bisher wie in den meisten
EU-Ländern keinen Anbau gentechnisch veränderter
Pflanzen zu kommerziellen Zwecken. Seit 1998 - das
wissen die meisten von Ihnen - gibt es - auch wegen der
unterschiedlichen wissenschaftlichen Einschätzung eines solchen Anbaus - ein EU-Moratorium, solche Pflanzen nicht anzubauen. Dies wird sich verändern. Auf EUEbene ist die Freisetzungsrichtlinie verabschiedet worden. Wir haben sie umzusetzen. Die EU-Kommission
wird die ersten gentechnisch veränderten Pflanzen für
den Anbau zulassen. Es werden mehr werden.
Um es klarzustellen: Ich persönlich halte das In-Verkehr-Bringen gentechnisch veränderter Pflanzen nach
wie vor für falsch.
({2})
Die FDP schreibt in ihrem Antrag - ich darf zitieren -:
Die Potenziale der Grünen Gentechnik sind vielfältig und sie werden weltweit seit zehn Jahren auf inzwischen mehr als 60 Mio. Hektar
- das ist das Mehrfache der Fläche der Bundesrepublik genutzt.
Das ist richtig. Aber ist das auch wirklich ein Argument? Man muss nämlich, wenn man ehrlich ist, ergänzen: Die Begleitforschung, die die Auswirkungen eines
solches Anbaus betrachtet,
({3})
findet weltweit auf weniger als 1 Prozent der Fläche
statt; in Europa übrigens auf 15 Prozent der Fläche, weil
wir genauer hinschauen.
({4})
Die Begleitforschung findet erst seit fünf oder sechs Jahren statt - und meist sogar in einem Umfang, der die
besonderen Charakteristika gentechnisch veränderter
Pflanzen nicht berücksichtigt.
({5})
Alles in allem: Die Erfahrungen im Umgang mit gentechnisch veränderten Pflanzen sind noch sehr gering.
Deswegen finde ich es eher problematisch, dass die Anbaufläche zunimmt.
({6})
- Sie können gerne eine intelligente Zwischenfrage stellen. Aber das Herumplärren nutzt mir nun wirklich
nichts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tauschen ja regelmäßig wissenschaftliche Untersuchungen im Ausschuss aus. Die einen benennen die Probleme; die anderen verneinen sie. Die von Ihnen genannte Studie, Herr
Heiderich, ist übrigens nur über einen sehr kurzen Zeitraum durchgeführt worden.
({7})
Den Glauben, innerhalb von fünf Jahren die Auswirkungen von Veränderungen nachvollziehen zu können, die
in der Evolution mehrere Jahrhunderte bis Jahrtausende
gebraucht haben, halte ich für irreal. Ich könnte Ihnen
die Studie der Universität Kiel entgegenhalten, in der
klar dargelegt wird, dass es, baut man zunächst gentechnisch veränderten Raps und danach bei normaler Fruchtfolge nicht gentechnisch veränderten Raps an, acht Jahre
lang eine gentechnische Verunreinigung zur Folge hat,
die höher als 0,9 Prozent ist.
Mich stimmen diese Untersuchungen nachdenklich.
Meine Zweifel sind nicht ausgeräumt. Ich würde meine
Arbeit als Abgeordneter schlecht machen, wenn ich
nicht darüber nachdenken würde, welche Auswirkungen
damit für die Zukunft dieser Gesellschaft und der Umwelt wirklich einhergehen. Ich bin immer sehr erstaunt
darüber, wie eindeutig Sie von der CDU/CSU und der
FDP davon ausgehen, dass es überhaupt keine Probleme
bei einer Freisetzung geben wird.
({8})
Ich würde das nie sagen. Ich glaube, dass die Rückholbarkeit, anders als Sie es gesagt haben, in der Tat ein
Problem ist.
Aber, wie eingangs gesagt, die Grundentscheidung ist
gefallen. Wir haben keine andere Wahl; wir werden auf
EU-Ebene und damit auch in Deutschland die Zulassung
gentechnisch veränderter Pflanzen bekommen. Die rotgrüne Koalition wird deshalb das Gentechnikrecht novellieren. Unser Ziel ist dabei: Landwirte und Verbraucher sollen sich entscheiden können, ob sie gentechnisch
veränderte Lebensmittel herstellen oder kaufen. Wir
wollen sicherstellen, dass ein Nebeneinander, eine so genannte Koexistenz, zwischen denen, die die Gentechik
einsetzen wollen, und denen, die darauf verzichten
wollen, möglich ist. Darüber werden wir in der nächsten
Woche reden.
Der heutige Antrag setzt an einem zentralen Punkt an:
an der Reinheit des Saatgutes. Wenn sich ein Landwirt
entscheidet, weiterhin konventionell oder biologisch,
also gentechnikfrei, zu produzieren, steht für ihn eines
im Vordergrund: Seine Produkte, sein Mais, sein Weizen, dürfen nicht mehr als 0,9 Prozent gentechnisch erzeugter Bestandteile enthalten. Wenn seine Produkte diesen Wert überschreiten, muss er sie als gentechnisch
verändert kennzeichnen. Dann ist es natürlich nur einleuchtend und sinnvoll, bereits beim Saatgut dafür zu
sorgen, dass die Verunreinigungen so niedrig wie möglich sind.
({9})
Das ist doch einigermaßen logisch.
Die EU-Kommission wollte unterschiedliche Schwellenwerte beim Saatgut einführen. Bei Soja sollte das
Saatgut zum Beispiel zu 0,7 Prozent verunreinigt sein
dürfen
({10})
bzw. 0,7 Prozent gentechnisch verändertes Saatgut enthalten dürfen. Von 0,7 Prozent im Saatgut ist es nicht
weit bis zu 0,9 Prozent im Endprodukt. Für denjenigen,
der gentechnikfrei anbauen will, ist es eine Katastrophe,
wenn er wegen solcher Verunreinigungen sein Produkt
als gentechnisch verändert bezeichnen muss.
Wir wissen, dass ein niedriger Schwellenwert mehr
Aufwand bedeutet. Das aber ist uns der Verbraucherschutz wert. Unser Ziel bleibt, dass diejenigen, die gentechnikfrei produzieren wollen, das weiterhin tun können.
({11})
Wir wollen echte Wahlfreiheit für Landwirte und Verbraucher.
Ich schließe mit meinem Appell an die Opposition:
Helfen Sie dabei mit, Landwirte und Verbraucher zu
schützen! Unterstützen Sie unseren Antrag!
Vielen Dank.
({12})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie jüngste Meinungsumfragen belegen, gibt es in der
deutschen Bevölkerung starke Vorbehalte, ja sogar diffuse Ängste vor Grüner Gentechnik. Das Ganze führt zu
absurden Vorstellungen. So äußern in Umfragen 50 Prozent der Befragten, dass sie keine Tomaten mit Genen
essen würden. Der liebe Gott oder die Natur haben es
aber nun einmal so eingerichtet, dass alles, was lebt, notwendigerweise Gene hat. Dazu gehören auch Salat,
Obst, Gemüse und Fleisch.
({0})
Meine Damen und Herren, ganz anders ist es bei
Roter Gentechnik. Sie findet demgegenüber nämlich
breite Akzeptanz. Zur Anwendung des humanen Insulins
bei Tausenden von Diabetikern jeden Tag gibt es aufgrund der hervorragenden Verträglichkeit und Wirksamkeit überhaupt keine Alternative. Keiner käme auf die
Idee, stattdessen wieder, wie früher, natürlich gewonnenes Insulin aus Schweinebauchspeicheldrüsen zu verwenden. Das würde nämlich zu schweren Nebenwirkungen führen.
({1})
Es ist vor diesem Hintergrund wichtig und richtig, die
Ängste und Befürchtungen der Menschen ernst zu nehmen und zum Beispiel im Rahmen der neuen Kennzeichnungsverordnung die Wahlfreiheit insbesondere in Bezug auf Lebensmittel zu ermöglichen.
Es ist aber auch wichtig, die Menschen objektiv über
die Chancen zu informieren, besonders vor dem Hintergrund des vom Bundeskanzler mit großer Medienwirksamkeit ausgerufenen Jahres der Innovationen und Technologie, das auch dem daniederliegenden Forschungsund Wirtschaftsstandort Deutschland neue Impulse geben sollte. Dabei ist es auch wichtig, darüber zu informieren, dass bereits heute gentechnisch veränderte Pflanzen einer strengen, mehrjährigen Sicherheitsüberprüfung
unter Beteiligung mehrerer deutscher und europäischer
Behörden und Institute und Einbeziehung sowohl wissenschaftlichen als auch politischen Sachverstands unterliegen, bevor sie im Freien angebaut, geschweige denn
zur Produktion von Lebensmitteln eingesetzt werden dürfen.
({2})
Die bereits genannte Kennzeichnungspflicht sichert darüber hinaus die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers.
Meine Damen und Herren, weltweit wird die Gentechnik bereits seit Jahren erfolgreich genutzt, ohne dass
es gravierende negative Auswirkungen auf Verbraucher
oder Umwelt gäbe. Im Jahre 2003 wurden auf
68 Millionen Hektar weltweit gentechnisch veränderte
Organismen angebaut.
({3})
Zum Vergleich: Die Gesamtanbaufläche in Deutschland
beträgt 12 Millionen Hektar.
Auch in Deutschland sind mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel bereits heute
sehr weit verbreitet. Lebensmittel wie Käse und Wein
werden mit Enzymen und Hefen hergestellt, die ihren
Ursprung in gentechnisch veränderten Organismen haben. Tierfutter enthält große Anteile an Gensoja.
80 Prozent des Sojas, das in der Tierernährung eingesetzt wird, wird in Ländern produziert, die gentechnisch
veränderte Organismen anbauen.
Warum aber wollen wir nun Grüne Gentechnik? Warum wollen wir dort auf Chancen hinweisen? Die Grüne
Gentechnik hat zum Beispiel im Bereich der Umwelt
- aus dem ich komme - Vorteile: Ein geringerer Einsatz
von Pflanzenschutzmitteln ist möglich; das ist ein starkes Argument zum Beispiel für den kleinbäuerlich strukturierten Anbau von Baumwolle in China. Ein Anbau an
ungünstigen Standorten ist besser möglich. Ferner kann
weniger Dünger eingesetzt werden.
Mit Grüner Gentechnik kann man Energie sparen. Ich
verweise zum Beispiel auf Amylopektinkartoffeln, die
als Stärkelieferant in der Papierproduktion angewandt
werden. Dort werden deutlich weniger energieintensive
Verarbeitungen nötig. In Zukunft ist der Einsatz biogener Pflanzen denkbar.
Meine Damen und Herren, dennoch ist ein umfangreicher Erprobungsanbau erforderlich, um Regeln für
gute landwirtschaftliche Praxis zu erarbeiten und die Koexistenz zwischen Landwirten, die sich für GVOs entscheiden, und denen, die dagegen sind, zu ermöglichen.
Dafür brauchen wir ein Gentechnikrecht, das den Anbau
ermöglicht und für einen gerechten Interessenausgleich
sorgt. Die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches bieten
dafür eine gute Grundlage. Die Regeln jedoch, die Sie in
Ihrem Entwurf des Gentechnikgesetzes vorsehen, weichen ausdrücklich davon ab. Unser Antrag weist dagegen in die richtige Richtung.
Auch die im Gentechnikgesetzentwurf vorgesehenen
Beweiserleichterungen verstoßen gegen die bisherige
deutsche Rechtsauffassung. Die Bundesregierung sieht
vor, dass dann, wenn der direkte Verursacher eines Schadens nicht ermittelt werden kann, jeder Nachbar, der
kreuzungsfähige GVOs anbaut, für den Ausgleichsanspruch haftet. Er soll auch dann haften, wenn alle Regeln
der guten landwirtschaftlichen Praxis eingehalten wurden. Das ist so, als ob dann, wenn ein Unfallverursacher
im Verkehr nicht zu ermitteln ist, derjenige haften
würde, der am nächsten an der Unfallstelle vorbeigefahren ist. Das kann es nicht sein.
({4})
Deshalb weist ein Vorschlag des Bundesrates, in dem
über die Einrichtung eines Haftungsfonds vergleichbar
mit dem bewährten Klärschlammfonds nachgedacht
wird, in die richtige Richtung.
({5})
Wenn es dem Bundeskanzler und den Regierungsfraktionen mit dem Jahr der Innovationen und Technologie tatsächlich ernst ist, dann sollten Sie den Gesetzentwurf dringend überarbeiten und das, was die Deutsche
Forschungsgemeinschaft in ihrer Stellungnahme zu Ihrem Gesetzentwurf zu bedenken gibt, wirklich ernst nehmen: Statt Risiken und Chancen der Gentechnik abzuwägen, enthalte der Entwurf nahezu ausschließlich
Vorschriften im Interesse der Gefahrenabwehr, ohne deren Notwendigkeit zu belegen. Durch unverhältnismäßig
hohe Auflagen werde die Nutzung der Grünen Gentechnik in Landwirtschaft und Forschung nahezu ausgeschlossen. Ich denke, das spricht für sich.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2822, 15/2972 und 15/2979 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Manzewski, Joachim Stünker,
Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD, den Abgeordneten
Siegfried Kauder ({0}), Dr. Norbert
Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU, den
Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck
({1}), Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sowie den Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - § 201 a StGB ({2})
- Drucksache 15/2466 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Siegfried Kauder ({4}),
Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum verbesserten Schutz der Privatsphäre
- Drucksache 15/533 ({5})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Otto Fricke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre
- Drucksache 15/361 ({6})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Schutz der Intimsphäre
- Drucksache 15/1891 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8})
- Drucksache 15/2995 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Siegfried Kauder ({9})
Jörg van Essen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
kommen jetzt zu einem etwas erfreulicheren Thema. Am
heutigen Tag debattieren wir nämlich abschließend über
den interfraktionellen Gesetzentwurf zur Verbesserung
des Schutzes der Intimsphäre. Damit beenden wir ein
längeres und interessantes Gesetzgebungsverfahren.
Über die hierin angesprochene Problematik wird
schon seit längerem diskutiert. Während die Vertraulichkeit des nicht öffentlich gesprochenen Wortes einen umfassenden strafrechtlichen Schutz genießt, hat es bislang
für die viel stärker in das Persönlichkeitsrecht eingreifenden Bildaufnahmen nichts Vergleichbares gegeben.
Lediglich deren Verbreitung und öffentliche Schaustellung ohne Einwilligung der Abgebildeten war im Einzelfall bislang rechtlich geschützt.
Nicht zuletzt der Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten hat jedoch deutlich gemacht, dass dieser
Zustand nicht länger hingenommen werden kann. Beschäftigt man sich intensiver mit der Thematik, stellt
man erschreckt fest, dass sich unser Land offenbar immer mehr zu einem Volk von Voyeuren entwickelt.
({0})
Offensichtlich ist es für viele Menschen interessant, immer stärker in den höchstpersönlichen Lebensbereich
von anderen einzudringen. Tabuzonen spielen dabei leider eine immer geringere Rolle.
Die Technik - liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie
wissen das - hat ihren Teil dazu beigetragen. Dazu zählen insbesondere versteckt installierte Minikameras, mit
denen heimlich in Dusch- und Umkleidekabinen oder in
Solarien Bilder gefertigt werden, oder neuerdings auch
moderne Handys mit integrierter Kamera. Diese werden
blitzschnell in die Umkleidekabine gehalten und so werden im wahrsten Sinne des Wortes scharfe Bilder gemacht. Via Internet sind diese Fotos dann zum Leidwesen der Betroffenen auch noch häufig binnen kürzester
Zeit über ein weltweites Netz zu verbreiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischen unseren
Fraktionen bestand deshalb frühzeitig Einigkeit darüber,
dass wir zu handeln haben. Nur über das Wie gab es anfangs noch unterschiedliche Auffassungen. Unproblematisch waren dabei sicherlich die spektakulären Fälle zu
behandeln, die wir alle am Anfang der Gesetzgebungsinitiative im Auge hatten.
Je intensiver wir uns jedoch mit dieser Thematik beschäftigten, desto deutlicher wurden auch die hiermit
verbundenen Schwierigkeiten. Dabei ging es insbesondere um die Frage, wann in diesem Zusammenhang
strafwürdiges Verhalten beginnen soll und ob bzw. wie
die Praxis mit diesem neu geschaffenen Instrument umgehen kann. Zu denken war auch daran, Pressefreiheit
und Strafverfolgung durch das neue Gesetz nicht unangemessen zu beeinträchtigen.
Ich denke, all das ist uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sehr gut gelungen. Geschützt werden soll
deshalb nur der letzte Rückzugsbereich von Menschen,
also die Wohnung, die nicht zwangsläufig die eigene zu
sein braucht, oder ein gegen Einblicke besonders geschützter Raum. Allgemein zugängliche Orte sind damit
bereits aus dem räumlichen Schutzbereich der Strafbarkeit ausgeklammert. Der Grund hierfür ist relativ klar:
Mit Bildaufnahmen, die in der Öffentlichkeit hergestellt
werden, würde ein zu breites Spektrum an Alltagshandlungen unter Strafe gestellt werden.
Damit strafwürdiges Verhalten vorliegt, müssen jedoch noch weitere Kriterien erfüllt sein, nämlich dass
durch diese unbefugt gefertigten Bildaufnahmen der
höchstpersönliche Lebensbereich des Abgebildeten
betroffen ist. Hierüber haben wir lange Zeit debattiert,
uns letztendlich aber auf diese Regelung geeinigt.
Dieser Begriff lehnt sich an den bereits im Strafrecht
verwendeten Begriff des persönlichen Lebensbereichs
an. Er ist einerseits etwas einengender als dieser, da
nicht alles, was der Privatsphäre unterliegt, aber ein neutrales Verhalten darstellt, eines strafrechtlichen Schutzes
bedarf. Andererseits reduziert er sich aber auch nicht auf
die Intimsphäre allein, das heißt auf Sexualität, Tod und
Krankheit. Das bedeutet nicht, dass damit alle ansonsten
gemachten Bildaufnahmen keinem strafrechtlichen
Schutz mehr unterliegen. Insbesondere hinsichtlich der
Verbreitung von Bildaufnahmen bleibt es bei dem nunmehr zusätzlichen Schutz des § 33 des Kunsturhebergesetzes.
Ich gehe davon aus, dass wir der Rechtsprechung damit ein gutes Instrument an die Hand geben und dass sie
keine großen Probleme mit diesem neuen Gesetz haben
wird. Ich glaube, je weiter wir den Tatbestand gefasst
hätten, desto größer wären die Probleme gewesen. Je
mehr man nämlich mit konstruierten Beispielsfällen
konfrontiert wird, desto deutlicher wird neben dem dringenden Bedarf für dieses Gesetz der Umstand, dass wir
tatsächlich all diejenigen Handlungen, die wir unter
Strafe stellen wollten, auch unter Strafe gestellt haben,
und dass diejenigen Fälle, die wir nicht unter Strafe stellen wollten, nach diesem Gesetzentwurf auch weiterhin
straflos bleiben.
Es gab ein großes Problem, das noch nicht ganz ausgeräumt ist; denn Medienvertreter reagierten zeitweise
sehr zurückhaltend auf diesen Gesetzentwurf.
({1})
Sie befürchteten, hierdurch - ähnlich wie Voyeure - erhebliche Probleme bei ihrer Arbeit zu bekommen. Dies
vermag ich jedoch allenfalls in Einzelfällen im Bereich
der so genannten Yellow Press zu erkennen.
Das möchte ich gerne anhand eines Beispiels verdeutlichen. In einer gemeinsamen Stellungnahme der Medienverbände und -institutionen, die uns allen zugegangen ist, wird ein hypothetischer Fall gebildet, der - so
die Kritik - die journalistische Tätigkeit unangemessen
beeinträchtigen würde. Da geht es um einen hochrangigen Politiker - um wen auch sonst -, der von einem Fotografen dabei erwischt wird, wie er mit einer Frau, die
nicht die seine ist, in einem Wohnwagen verschwindet.
- Toll!
({2})
Um es deutlich zu machen: Hierüber darf natürlich
nach wie vor berichtet werden. Auch gegen die Aufnahme vor dem Wohnwagen dürfte noch nichts einzuwenden sein. In und an dem Wohnwagen hat eine Kamera in einer besonderen Situation aber nichts zu
suchen.
({3})
Hier gilt für Politiker ebenso wie für die Menschen, die
uns heute zuhören, und auch für Journalisten: Was dort
geschieht, geht niemanden etwas an. Das kann man auch
nicht mit dem Hinweis auf ein etwaiges öffentliches Interesse rechtfertigen. Im Übrigen vermag ich hier schon
kein öffentliches Interesse zu erkennen.
Neben der Pressefreiheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir auch an das Persönlichkeitsrecht des
Einzelnen zu denken. Dies ist nicht zuletzt durch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum so genannten Lauschangriff sogar gestärkt worden. Was den
Strafverfolgungsbehörden verwehrt bleibt, kann der
Presse schlechterdings nicht erlaubt sein.
({4})
Lassen Sie mich abschließend den Kollegen Kauder,
van Essen, Ströbele und Montag, die sehr engagiert mit
mir an diesem Gesetzentwurf gearbeitet haben, danken.
Ich fand es sehr interessant, ich fand es spannend und ich
muss sagen: Es hat Spaß gemacht mit Ihnen.
Relativ schnell - das ist ja nicht so häufig - wichen
auf Berichterstatterseite Emotionen einer sachlichen und
fachlichen Diskussion. Ich glaube, es war richtig, dass
wir uns für den Gesetzentwurf Zeit genommen haben
und dass wir auch noch die „Praxisanhörung“ aus Bayern abgewartet und den hiernach entsprechend modifizierten Gesetzentwurf des Bundesrates zum Gegenstand
unserer gemeinsamen Anhörung gemacht haben. Die
Anhörung, die meiner Auffassung nach eine ausgesprochen gute war, hat nämlich die Schwächen der bis dahin
vorliegenden Gesetzentwürfe aufgezeigt und uns letztendlich den Weg gewiesen, der zu dem gemeinsamen
Entwurf der Bundestagsfraktionen führte und der - das
möchte ich betonen, liebe Kolleginnen und Kollegen unser gemeinsames, eigenständiges Werk geworden ist.
Dafür vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freiheit der Presse ist nicht grenzenlos. Das ergibt sich aus
Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes. Die Pressefreiheit ist
zu Recht grundrechtlich geschützt und sie ist ein hohes
Gut. Aber auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist
ein hohes Gut und grundgesetzlich geschützt. Dieses
Recht ist ebenfalls nicht grenzenlos.
Der Auftrag des Bundesdatenschutzbeauftragten
war klar: Im Bereich der Privatsphäre gibt es eine Lücke.
Das nicht öffentlich gesprochene Wort ist besser geschützt als Einblicke in die bzw. Abbildungen aus der
Privatsphäre. Der Gesetzgeber hatte den Auftrag umzusetzen. Die Diskussion war - da schließe ich mich dem
Kollegen Manzewski an - sehr sachlich, fundiert und
schwieriger, als wir alle anfangs dachten.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion waren
der Meinung, dass die Privatsphäre nicht an der Wohnungstür endet, sondern dass es auch intime Situationen
im öffentlichen Leben gibt, beispielsweise dann, wenn
ein Mensch nach einem Verkehrsunfall oder nach einem
Attentat mit dem Tod oder um das Leben ringt.
Es war schwierig, diese Sachverhalte in einen Gesetzestatbestand zu fassen, deswegen wurde der Anwendungsbereich im Laufe der Diskussion immer enger.
Letztlich ist die Wohnung und ein „gegen Einblick besonders geschützter Raum“ übrig geblieben. Wir haben
uns mit Rechtsbegriffen schwer getan, wie Sie schon an
der Formulierung hören. Der Raum ist im allgemeinen
Sprachgebrauch dreidimensional zu verstehen. In diesem Gesetzentwurf ist er zweidimensional ausgefallen;
das, was das Gesetz üblicherweise das „umfriedete Besitztum“ benennt, fällt auch darunter.
Die Presse ist, als die Diskussion über den Schutz der
Privatsphäre anlief, Sturm gelaufen: Man sah die Pressefreiheit über Gebühr strapaziert und war der Meinung,
Siegfried Kauder ({0})
man müsse eine so genannte Rechtswidrigkeitsklausel
in den Straftatbestand einführen. Wir von der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion hätten damit keine allzu großen Probleme gehabt, aber es gehört nun einmal zu einer
Diskussion und zu einem Konsens unter den Fraktionen,
dass das eine oder andere auf der Strecke bleibt. Man
muss den Pressevertretern aber auch klar sagen, dass
sich das Eis für sie in einem Bereich dünner gestaltet als
bisher: Bisher war es nicht strafbar, in die Privatsphäre
hineinzuspähen. Das Hineinspähen, das Herstellen von
privaten Fotos durch die Presse war nicht strafbewehrt,
sondern nur das Verbreiten und öffentlich Zurschaustellen.
Das Horten von Fotos, die aus der Intim- und Privatsphäre und aus einer Wohnung stammen, ist nach dem
Gesetzentwurf nicht mehr erlaubt. Es bleiben die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, die aber den bisherigen
Bereich nur unzulänglich abdecken. Deswegen hätte ich
es durchaus als vertretbar angesehen, wenn wir wie in
unserem Entwurf § 193 StGB, der für Beleidigungsdelikte gilt, auch für den Bereich des Schutzes der Privatsphäre übernommen hätten. Es ist uns nicht gelungen,
aber ich glaube, die Presse kann mit diesem Ergebnis
durchaus leben.
Für uns war auch ein anderer Bereich wichtig; denn
Stoßrichtung dieses Gesetzes ist nicht die Pressefreiheit.
Stoßrichtung ist vielmehr der Schutz der Privatsphäre
vor Ausspähen und Hineinfotografieren. In der praktischen Anwendung gibt es immer wieder Fälle, in denen
Beziehungen auseinander gehen und auf der einen oder
anderen Seite oder auf beiden Seiten intime Fotos zurückbleiben, die dann - unverändert oder am Computer
bearbeitet - an Stammtischen kursieren. Das wollen wir
nicht.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben
uns auch in diesem Zusammenhang einen weiteren
Schutzbereich gewünscht. Er wurde in der interfraktionellen Diskussion immer mehr eingeschränkt. Jetzt liegt
eine Gesetzeskonstruktion vor, die in der Rechtsprechung - ich stimme hierbei nicht ganz mit dem Kollegen
Manzewski überein - ganz erhebliche Probleme aufwerfen wird.
Das in der Beziehung mit Genehmigung gefertigte Foto
darf nicht wissentlich unbefugt gebraucht werden. Nun wissen wir Juristen, dass das Element der Wissentlichkeit ein
Vorsatzelement und die Befugnis ein Rechtfertigungselement ist. Würde in der Rechtsprechung vorgegangen,
wie der Kollege Ströbele es meint - die Wissentlichkeit
macht nach seiner Meinung das Rechtfertigungselement
zum Tatbestandselement -, könnte sich mancher Straftäter auf dem Irrtumsweg aus der Verantwortung herausschleichen.
Auch das gibt Anlass zu Überlegungen: Der Straftäter, der Fotos aus einer intimen Beziehung publiziert, ist
gegenüber dem Pressevertreter privilegiert. Wir nehmen
das zur Kenntnis.
Es handelt sich um einen gemeinsamen Entwurf, den
wir mittragen. Trotzdem muss man sagen, dass es
Punkte gibt, die in der Öffentlichkeit auf Unverständnis
stoßen werden und die in der Justizpraxis zu Anwendungsproblemen führen werden. Man muss aber auch
zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise das Schweizer
Recht viel weiter geht als das deutsche Recht; trotzdem
ist das dort geltende Recht praktikabel.
Wir haben uns in der Diskussion aus gutem Grund
darauf verständigt, auf die Versuchsstrafbarkeit zu verzichten, weil wir der Meinung waren, dass die Vorbereitung für das Anfertigen von Fotos im Vorfeld nicht in
den Straftatbestand aufgenommen werden soll. Auch mit
diesem Punkt ist man der Presse durchaus entgegengekommen. Sie sehen also: Einen Auftrag von einem Bundesdatenschutzbeauftragten zu bekommen, ist die eine
Seite; ihn in Recht umzuformen, ist eine andere, außerordentlich schwierige Angelegenheit.
Die Lösung ist - ich glaube, das kann ich für alle sagen - nicht allzu elegant geworden; sie ist aber praktikabel. Die Rechtsanwendung wird zeigen, ob noch Nachbesserungsbedarf besteht oder nicht. Ich bin mir sicher,
dass die Presseöffentlichkeit diesen Straftatbestand sehr
wohl im Auge behalten wird. Man wird aber auch immer
wieder daran erinnern müssen, dass der wesentliche Bereich der Medienberichterstattung durch § 33 Kunsturheberrechtsgesetz ohnehin schon abgedeckt war, sodass
nur noch eine geringe Strafbarkeitslücke zu schließen
war.
Ich sage abschließend: Es gibt nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines jeden Bürgers. Dazu gehört nun einmal auch
die Privatsphäre, die es zu schützen gilt.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian
Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich wollte eigentlich am Anfang meiner Rede sagen,
dass es gar keinen Grund gibt, sich heute hier im Bundestag zu streiten, weil wir alle diesem Gesetz zustimmen wollen.
({0})
Nun hat der Kollege Kauder aber doch einen Punkt genannt, den ich klarstellen will: Wir unterscheiden in diesem Gesetz nicht zwischen Pressevertretern und sonstigen Menschen, sondern alle werden gleich behandelt.
({1})
Das Gesetz gilt also in allen seinen Absätzen für alle,
also in gleichem Maße für Pressevertreter und für alle
anderen Menschen. Das heißt, Journalisten und Privatpersonen, die Aufnahmen von anderen Personen machen, sind gleichgestellt.
Weil wir uns hier im Bundestag eigentlich nicht mehr
untereinander streiten müssen - wir haben diskutiert und
sind zu diesem Ergebnis gekommen, das nun von allen
getragen wird -, will ich nur einige Bemerkungen für die
Öffentlichkeit machen. Es ist nämlich in der Tat so, dass
dieses Gesetz - so, wie es jetzt vorgelegt wird - noch bis
heute in den Medien, von Medienvertretern, von der dpa
und von anderen, kritisiert wird. Man könnte manchmal,
wenn man die Stellungnahmen liest, den Eindruck haben, dass wir hier einen konzentrierten Angriff auf die
Pressefreiheit machen, möglicherweise sogar, um die
Politiker, die Abgeordneten, den Bundeskanzler zu
schützen. Dem ist nicht so. In diesem Gesetz wird die
Veröffentlichung, also das, was die Journalisten von den
Privatleuten, die Fotos machen, eigentlich unterscheidet,
überhaupt nicht erwähnt. Es geht in diesem Gesetz nicht
um die Veröffentlichung; das bleibt wie bisher auch im
Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Fotografie geregelt.
Hier geht es lediglich um eine Lücke in dem Bereich, in
dem der Privatmann, die Privatfrau und natürlich auch die
Journalisten gerne Aufnahmen machen und - das ist ja kein
theoretischer Fall - in der Vergangenheit auch immer wieder gemacht haben. Wir haben all diese Fälle aus der Praxis
diskutiert. Mit der heutigen Kameratechnik - kleine Fotoapparate an einem Stock, in einer Streichholzschachtel
oder ähnlich verborgen - werden Fotoaufnahmen von
ganz intimen Situationen gemacht, die vielleicht zunächst einmal nur zu Hause aufbewahrt werden. Es besteht dann aber immer die Möglichkeit, dass Einzelne
diese gebrauchen und weitergeben, ohne dass sie unbedingt veröffentlicht werden.
Wir haben festgestellt - auch der Datenschutzbeauftragte hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass das gesprochene Wort mehr geschützt ist als das Bild des Menschen oder auch mehrerer Menschen zusammen. Das
heißt: Wenn ich heute durch den Tiergarten gehe und jemand neben mir nimmt mein Gespräch mit einer anderen
Person mittels einer technischen Einrichtung auf, dann
macht er sich selbst dann strafbar, wenn es sich um ein
ganz banales Gespräch handelt, bei dem nichts Intimes
oder Geheimnisvolles besprochen wird. Allein das kann
schon strafbar sein, wenn ich einen Strafantrag stellen
würde. Eine Aufnahme aus dem intimsten Bereich wenn sich Menschen also ganz intim nahe kommen, sei
es im Tiergarten,
({2})
zu Hause oder auch, wie Sie das geschildert haben, in einem Bauwagen wird bisher in keiner Weise strafrechtlich sanktioniert. Dieses Ungleichgewicht kann schon
aufgrund des Grundsatzes der Gleichbehandlung nicht
bestehen bleiben.
Deshalb haben wir nun diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir sagen allen Journalisten, die Sorge um ihre Arbeit haben: Ihr dürft auch weiterhin Abgeordnete, Bundeskanzler, Talkmaster und Tennisstars fotografieren,
sogar in ganz persönlichen Zusammenhängen. Wenn es
sich um eine Person der Zeitgeschichte oder das eigenartige Institut einer relativen Person der Zeitgeschichte
handelt, dürft ihr diese Fotografien auch veröffentlichen.
Im Gesetz wird nun aber eine Grenze festgelegt: Ihr
dürft keine Fotografien aus dem höchst persönlichen
bzw. intimen Bereich der Menschen herstellen. Diese
bergen ja immer die Gefahr in sich, dass man mit ihnen
etwas macht. Ich kann mir eigentlich keinen Journalisten
vorstellen, der sich rechtfertigt und sagt, dass Fotos von
Menschen, die in einem geschützten Bereich - zum Beispiel in einer Wohnung oder in einem Garten - ganz persönlichen Bedürfnissen nachgehen und sich entsprechend verhalten, rechtmäßig sind und es ihm deshalb
erlaubt sein muss, entsprechende Fotos herzustellen.
Dieser Raum muss für alle Menschen geschützt bleiben.
({3})
Ich halte es mit dem Bundesverfassungsgericht, das
das in der schon angesprochenen Entscheidung zum großen Lauschangriff ganz banal formuliert hat: Es muss einen Raum für jeden Menschen - für jeden Mann und für
jede Frau - geben, in dem er in Ruhe gelassen wird und
in dem er sich so verhalten kann, wie es seiner Persönlichkeit entspricht, soweit er nicht gegen Strafgesetze
verstößt. Dort hat auch die Presse nichts zu suchen. Diesen Raum wollen wir für alle Menschen - auch für die
Personen der Zeitgeschichte und auch für die Politiker schließen.
Ich glaube, das ist eine Errungenschaft, weil das Persönlichkeitsrecht gemäß dem Grundgesetz für alle Menschen gilt. Jeder sollte in gleichem Maße geschützt sein
und geschützt bleiben. Deshalb verabschieden wir dieses
Gesetz heute gemeinsam.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe für meine Fraktion schon in der 14. Legislaturperiode, vor etwa drei Jahren, erstmals einen Gesetzentwurf
zum besseren Schutz der Intimsphäre eingebracht. Anlass für diese Aktivität war für mich nicht nur die Mahnung des Datenschutzbeauftragten - das ist hier schon
angesprochen worden -, sondern die sich damals häufenden Berichte darüber, dass kleine Kameras in Solarien und Umkleideräumen von Betrieben angebracht
worden waren und die jeweiligen Arbeitgeber und Betreiber die sich umziehenden Frauen fotografiert oder
gefilmt haben.
Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden,
schützt besonders die Frauen, die häufig Opfer solcher
Aktivitäten sind, und zwar nicht nur der beschriebenen
Aktivitäten, sondern auch Opfer der Tätigkeit von Paparazzi, die sich nicht scheuen, auf Bäume zu klettern, um
in den intimsten Bereich von insbesondere bekannten
Frauen einzudringen, Fotos zu machen und diese zu
verkaufen, schwerpunktmäßig natürlich an Boulevardblätter, die dafür entsprechend viel Geld zahlen.
Es ist schon mehrfach angesprochen worden, dass wir
bisher nur das vertraulich gesprochene Wort schützen,
aber der Schutz vor heimlich gemachten Fotos noch
fehlte. Dass dieser Schutz noch dringender geworden ist,
haben die bisherigen Beiträge gezeigt. Dadurch, dass Fotohandys immer mehr Verbreitung finden, besteht natürlich noch mehr die Möglichkeit, solche Fotos anzufertigen. Es wird überdies zunehmend leichter, sie dann
elektronisch zu verarbeiten. Deshalb ist es ganz dringend, dass wir in diesem Zusammenhang strafrechtliche
Grenzen aufzeigen.
({0})
Ich bin wie meine Vorredner der Auffassung, dass wir
nicht in die Pressefreiheit eingreifen. Ich bin sehr überrascht, dass selbst heute noch entsprechende Vorwürfe
publiziert worden sind. Wir haben den hohen Wert der
Pressefreiheit in unseren Diskussionen immer berücksichtigt. Wir haben ausgelotet, ob das Nebeneinander
des Schutzes des Persönlichkeitsrechtes des Einzelnen
vor ungewollten Aufnahmen auf der einen Seite und des
hohen Gutes der Pressefreiheit auf der anderen Seite
richtig miteinander abgewogen ist.
Uns hat insbesondere - auch das haben die Vorredner
schon angesprochen - die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes sehr geholfen. Das Bundesverfassungsgericht - das findet unsere volle Unterstützung hat deutlich gemacht, dass es einen Kernbereich gibt, in
dem niemand etwas unbefugt zu suchen hat. Das gilt
auch für die Presse. Deshalb will ich kritisch sagen - das
sehe ich wie der Kollege Manzewski -, dass die Beispielsfälle, die uns von den entsprechenden Organisationen der Presse vorgelegt worden sind, nicht überzeugen
können. Daran konnten wir sehen, dass es keinen einzigen wirklichen Fall gegeben hat, bei dem nicht auch in
Zukunft die berechtigten Interessen der Presse gewahrt
bleiben. Daran wird das Gesetz nichts ändern.
Von daher findet der Gesetzentwurf die Zustimmung
der FDP-Bundestagsfraktion. Der Kollege Manzewski
hat angesprochen, dass wir von sehr verschiedenen Positionen ausgegangen sind. Wir als FDP konnten uns einen
weiter gehenden Schutz vorstellen. Deshalb sieht unser
Gesetzentwurf einen sehr viel größeren Schutzbereich
vor, als er in dem gemeinsamen Gesetzentwurf zum
Ausdruck kommt.
Mich hat damals das Argument des Kollegen Montag
überzeugt - ich danke ihm nachdrücklich für seine Beiträge -, der betont hat, dass dies ein sehr sensibler Bereich ist: Wenn wir den ersten Schritt in diese Richtung
machen, dann sollten wir uns auf den Kernbereich des
zu Schützenden beschränken. Wir schauen uns an, ob die
Regelungen wirken und das erreicht wird, was wir wollen. Beim Strafrecht muss man vorsichtig sein. Erst
wenn sich zeigt, dass danach noch Schutzlücken bestehen, können wir über eine Erweiterung nachdenken.
Aber zunächst einmal fangen wir mit dem Kernbereich
an.
({1})
Das macht deutlich, dass wir in der Diskussion sehr
sorgfältig vorgegangen sind. Ich habe mit dem Kollegen
Montag schon einen der Mitdiskutanten angesprochen,
dem zu danken ist. Der Kollege Manzewski hat das Verfahren ganz hervorragend moderiert und damit zu dem
guten Ergebnis beigetragen.
({2})
Auch der Kollege Kauder hat ganz hervorragende Beiträge geleistet.
Der Gesetzentwurf ist im Parlament über die Fraktionsgrenzen hinweg erarbeitet worden. Das haben wir
nicht häufig. Deshalb ist es umso erfreulicher, dass wir
zu einem gemeinsamen Ergebnis und, wie ich finde, guten Ergebnis kommen. Ob es elegant ist, Herr Kollege
Kauder, weiß ich nicht, aber es ist gut. Das ist das Wichtigste.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Hilbrecht von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich nun die Schließung der Strafbarkeitslücke bei unbefugten Bildaufnahmen aus einem anderen
Blickwinkel betrachten. Die hier notwendige Abwägung
zwischen Persönlichkeitsinteresse und öffentlichem Interesse betrifft, wie meine Vorredner gesagt haben, auch
den gesamten Medienbereich. Darüber hinaus ist die politische und gesellschaftliche Verständigung über eine
solche Balance ein wichtiger Beitrag für unsere Grundwertekultur. Genau aus diesem Grund haben wir in den
Beratungen im Ausschuss für Kultur und Medien diesem
Thema ganz breiten Raum gegeben.
Im Bereich der Medien zielt dieser Gesetzentwurf
auch darauf, den bisweilen - das haben meine Vorredner
auch gesagt, aber ich werde es wiederholen - unerträglichen Paparazzijournalismus zu verhindern. Auch das hat
etwas mit Kultur oder auch mit Unkultur unserer Gesellschaft zu tun. Hierin sind wir uns einig.
({0})
Es kann nur im Interesse aller verantwortungsvollen Medienberichterstatter sein, dass wir etwas dagegen unternehmen. Wir alle wissen, wovon wir sprechen, und wir
alle kennen die Bilder, wie in schamloser Weise in den
privaten Lebensbereich eingedrungen wird, um Bildaufnahmen zu machen. Ich danke Ihnen, dass Sie darauf
hingewiesen haben, dass es besonders die Frauen sind,
die darunter zu leiden haben. Adressat dieses Gesetzes
ist also nicht die gesamte Medienbranche, sondern sind
die schwarzen Schafe der Medienzunft.
Wir wissen, dass die Journalisten in der Regel die erforderliche Gratwanderung zwischen Schutz- und Freiheitsrechten mit großer Verantwortung wahrnehmen. Das
möchte ich hier betonen. Aber überall haben die Menschen auch ein Interesse an Boulevard- und Sensationsjournalismus. Trotzdem stellen die meisten in der Bevölkerung bei schockierenden Bildern, die oft genug
veröffentlicht werden, immer wieder die Fragen: Ist das
eigentlich erlaubt? Könnt ihr nicht etwas dagegen tun?
Es ist gut und richtig, dass wir jetzt ein Gesetz auf den
Weg bringen, das sich gegen das Spannerunwesen - ich
möchte das beim Namen nennen - und gegen diese verantwortungs- und geschmacklose Berichterstattung wendet.
Der Presserat, die Journalistenverbände, öffentlichrechtliche und private Sendeanstalten und weitere Medienverbände haben sich bei uns zu Wort gemeldet. Sie sehen sich mit der Schaffung des neuen Straftatbestandes in
ihrer verfassungsrechtlich geschützten Berufsausübung
behindert und sagen, er hindere sie bei der Aufdeckung
von Missständen. Sie sagen weiter, ihre Arbeit liege im
öffentlichen Interesse und deshalb sei in diesem Fall das
Eindringen in den höchstpersönlichen Lebensbereich von
Strafe freizustellen. Die Medienvertreter - meine Vorredner haben auch darauf hingewiesen - fordern die Aufnahme einer Rechtfertigungsklausel ins Gesetz. Danach
sollen Bildaufnahmen im höchstpersönlichen Lebensbereich weiterhin straffrei bleiben, wenn sie der Wahrnehmung berechtigter öffentlicher Interessen dienen. So war
die Formulierung.
Wir haben auch das im Ausschuss genau unter die
Lupe genommen. Wir haben in einem eigens angesetzten
Expertengespräch Medienvertreter angehört. Die Medienvertreter haben dort ihre Interessen verteidigt und wir
haben viele Rücksprachen gehalten. Trotz alledem haben
wir uns dazu entschieden, diese Rechtfertigungsklausel
nicht in das Gesetz aufzunehmen.
Ich möchte anmerken, dass ich als Abgeordnete aus
einem der neuen Länder eine besondere Sensibilität mitbringe, wenn es um Persönlichkeitsrechte wie auch um
Meinungs- und Pressefreiheit geht. Wir wissen, wie es in
der DDR darum bestellt war. Wir sind unter anderem für
die Pressefreiheit, die ein wichtiger Eckpfeiler unserer
demokratischen Gesellschaft ist, auf die Straße gegangen.
Trotz dieses Hintergrunds bin ich nach langem Abwägen zu dem Ergebnis gekommen, dass die von den Medien vorgeschlagene Klausel nicht in das Gesetz gehört.
Die Kollegen von der Union und der FDP im Kulturausschuss haben es anders gesehen. Trotzdem haben wir
- darüber freue ich mich - dem Gesetzentwurf im Ausschuss gemeinsam zugestimmt.
Ich denke, mit dem Rechtfertigungsgrund „zur Wahrnehmung berechtigter öffentlicher Interessen“ würde der
neu geschaffene Straftatbestand so stark eingeschränkt,
dass er sozusagen nach Belieben wieder ausgehebelt
werden könnte. Wir hätten dann doch wieder einen
Gummiparagraphen. Die Formulierung „berechtigte öffentliche Interessen“ lässt, wie wir alle wissen, sehr viel
Raum für Interpretationen.
Nach der geltenden Rechtslage ist aus unserer Sicht
kein besonderer Rechtfertigungsgrund notwendig; meine
Kollegen haben im Vorfeld darauf hingewiesen. Ich
freue mich, dass diese Einschätzung auch von den
Rechtsexperten der Union und der FDP geteilt wird.
Ich denke, wir können heute mit dem Gesetz eine
Strafbarkeitslücke schließen und zugleich einen sehr
wichtigen Beitrag für die Kultur unseres Zusammenlebens leisten, für die Ausbalancierung zwischen individueller Freiheit jedes Einzelnen - also auch der Presse und dem berechtigten öffentlichen Interesse.
Wir werden dabei selbstverständlich auch die Einwände der Medienvertreter im Blick behalten und wir
werden, wie bei allen Gesetzen, die Auswirkungen sehr
aufmerksam beobachten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der umfassende Schutz der Intimsphäre jedes Einzelnen lag und liegt uns allen sehr am Herzen und ich
bin froh, dass wir doch in den meisten Punkten übereinstimmen und eine gemeinsame Formulierung gefunden
haben. Das liegt hauptsächlich daran, dass der Schutz
der Privatsphäre unbestreitbar ein Thema ist, bei dem
man eigentlich nur einer Meinung sein kann.
Nach durchaus nicht immer einfachen und auch nicht
immer kurzen Verhandlungen mit Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, haben Sie
eingelenkt und uns - das hat uns sehr gefreut - auch ein
bisschen beigegeben; wie Sie sich vorstellen können,
würden wir uns das öfter wünschen.
In unserer hoch technisierten und immer globaler
werdenden Medienwelt gewinnen Bildaufnahmen immer mehr an Bedeutung. Durch Bildaufnahmen kann informiert, aber auch manipuliert werden. Die Vertraulichkeit des Wortes in jeglicher Form ist ausreichend
geschützt. Was den Schutz des heute schon oft erwähnten so genannten höchstpersönlichen Lebensbereiches
gegen unbefugte Bildaufnahmen angeht, gab es jedoch
nach wie vor Lücken. Diese Lücken werden nun behoben. Das war dringend notwendig.
Wir alle wissen es nur zu gut: Digitalkameras und Fotohandys sind an der Tagesordnung. Wie schnell werden
damit Aufnahmen gemacht, die oft auf unwürdigste Art
und Weise in die Privatsphäre der betroffenen Person
eingreifen! Das ist besonders dann der Fall, wenn diese
Aufnahmen in Situationen gemacht werden, in denen
wir uns eigentlich unbeobachtet fühlen dürfen.
Allein die Herstellung derartiger Fotos greift tief in
die Würde des Betroffenen ein. Diese Aufnahmen dann
auch noch weiterzugeben - egal in welcher Form - ist
ungleich verletzender.
({0})
Deshalb waren wir uns auch einig: Nach dem nun eingefügten § 201 a StGB ist es strafbar, eine Person abzulichten, die sich in ihrem ganz privaten Rückzugsbereich, also dem so genannten höchst persönlichen
Lebensbereich, aufhält. Dazu zählen klassischerweise
- auch das ist erwähnt worden - die Wohnung, das Hotelzimmer und grundsätzlich alle Räumlichkeiten, die
vor unbefugtem Einblick schützen sollen. Hinzu kommt,
dass dies ohne die Zustimmung der Person geschieht und
die Bilder an Dritte - zur Veröffentlichung oder
Ähnliches - weitergegeben werden. Die Aufnahme des
Begriffes des „höchst persönlichen Lebensbereichs“
sorgt aber auch dafür - auch das ist schon gesagt worden -, den Straftatbestand nicht unangemessen weit auszudehnen. Auch das war uns allen wichtig.
Zum Thema Pressefreiheit ist von meiner Vorrednerin schon sehr viel gesagt worden. Ich sehe es durchaus
ähnlich. Es gibt keine Existenzgefährdung für Blätter
wie „Gala“, „Bunte“ und „die aktuelle“, um nur einige
Zeitschriften zu nennen.
({1})
- Richtig. - Es trifft hauptsächlich den Paparazzo, der
aus zwei Kilometern Entfernung mit Superzoom aus der
Hecke ins Wohnzimmer fotografiert, oder den Spanner
von nebenan, der sich einfach an Badezimmerfotos der
Nachbarin ergötzen möchte. Denken Sie aber auch an
das ganz aktuelle Beispiel der Fotos von der verstorbenen Prinzessin Diana, die jetzt wohl im Umlauf sind und
die eine sterbende Prinzessin zeigen sollen, und daran,
für welchen Aufruhr das in der Öffentlichkeit gesorgt
hat! Das sollte uns zeigen, dass wir auf dem richtigen
Weg sind.
Ich möchte auch noch ein konkretes Beispiel aus dem
täglichen Leben nennen. Man stelle sich die Konstellation vor, dass eine Beziehung zu Ende geht. In glücklichen Zeiten sind Bildaufnahmen entstanden, die sich
eindeutig auf die Intimsphäre des Beteiligten bzw. der
Beteiligten beziehen. Dabei muss es nicht immer um Sexualität oder Nacktheit gehen. Es kann auch Krankheit
und Tod oder der ganz normale Alltag, zum Beispiel im
Schlafanzug morgens vor dem Spiegel, sein. Nach einer
Trennung sieht sich nun der Expartner veranlasst, diese
aus Rache - wem auch immer - zur Verwendung zu geben oder in das Internet zu stellen und auch noch seine
Exfreundin darauf hinzuweisen. Das, was früher noch
ein schlechter Spaß war, ist nun strafbar. So soll es auch
sein. Auch hierüber sind wir uns einig.
({2})
An dem Gesetzentwurf ist eine kleine Sache noch zu
bemängeln. Herr Ströbele, Sie wissen, dass ich Ihnen äußerst ungerne widerspreche. Sehen Sie es mir nach!
({3})
Ich sehe wie der Kollege Kauder im Zusammenhang mit
dem neuen § 201 a Abs. 3 StGB ein Beweisproblem in
der Praxis, das der Richter lösen muss. Wir begeben uns
hier schon in die Irrtumslehre. Herr Ströbele, hier sind
wir juristisch einfach anderer Meinung. Ich glaube aber,
dass wir das so stehen lassen können. Uns ist der Gesetzentwurf jedenfalls so wichtig, dass wir die Bedenken, die
wir in diesem Bereich haben, hintangestellt haben. Dazu
stehen wir nach wie vor.
Erlauben Sie mir - meine Redezeit gibt das gerade
noch her - eine ganz kurze persönliche Anmerkung zum
Thema Graffiti. Auch hier wünsche ich mir eine solch
pragmatische und zielgerichtete Lösung.
In diesem Sinne: vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaela Noll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich begrüße wie alle meine Vorredner den gefundenen Kompromiss. Der Schutz des Einzelnen vor unbefugten Bildaufnahmen wird verbessert; denn wenn schon
Kindern vor Gericht Schmerzensgeld wegen veröffentlichter Paparazzifotos zugesprochen wird, dann ist die
unbefugte Bildaufnahme eben kein Kavaliersdelikt
mehr. Die verschiedenen Gerichtsurteile haben dies bestätigt. Wir alle sind uns einig, dass hier eine strafrechtliche
Verfolgung notwendig ist. Das ist Aufgabe des Staates.
Aber es geht nicht nur um die besonders medienwirksamen Fälle prominenter Opfer. Ich denke, wir sollten hier
auch für diejenigen Opfer Partei ergreifen, die nicht im
Rampenlicht stehen bzw. nicht stehen wollen. wie - ein
kleiner Scherz am Rande - beim Abitur.
({0})
Das war für uns alle nicht länger hinnehmbar. Es war
also allerhöchste Zeit, zu handeln.
Die Bürger wollen zeitnahe Problemlösungen. In diesem
Zusammenhang muss ich doch noch Kritik anbringen. Es
macht keinen Sinn, dass Gesetzentwürfe erst einmal drei
Jahre in der Versenkung verschwinden, um dann wieder auf
die Agenda gesetzt zu werden. Nur zur Erinnerung, falls
Sie es vergessen haben: Diese Strafbarkeitslücke wollte
die Bundesregierung schon in der letzten Legislaturperiode schließen; das haben Sie, Herr Kollege van Essen
eben bereits angesprochen. Wir hätten sie bereits schließen können, wenn Sie von der Regierungskoalition vor
drei Jahren mitgemacht hätten.
Ich möchte meine Kritik nicht fortsetzen; denn ich bin
froh, dass wir es geschafft haben. Es ist uns gemeinsam
gelungen, einen Konsens zu finden. Dafür möchte ich
mich auch bei meinen Kollegen von den Koalitionsfraktionen bedanken; denn den kriminalpolitischen Handlungsbedarf, den Sie heute bejahen, haben Sie noch im
Februar 2003 ganz anders bewertet. Frau Kollegin
Schewe-Gerigk, Sie haben damals gesagt, es gebe bereits ausreichende rechtliche Möglichkeiten, und haben
dann auf die Unterlassungsklage, und Schadenersatzansprüche sowie das Kunsturhebergesetz verwiesen.
Ein Jahr später - das bewerte ich sehr positiv - haben
wir es trotzdem noch geschafft, eine Einigung zu erzielen.
({1})
In unserer Zeit stehen Daten und Fotos speziell durch
Internet und Fotohandys innerhalb von Sekunden weltweit zur Verfügung. Viele von Ihnen kennen die Geräte,
mit denen man solche Bilder machen kann. Sie sind zum
Teil so groß wie eine Scheckkarte. Was heißt das Ganze
für den Bürger? Es bleibt oft im Verborgenen, wer wann
wo welche Aufnahmen von Personen gemacht hat. Diese
Gefahren hat 1999 auch der Datenschutzbeauftragte gesehen.
Ich glaube, dass einige der Gäste auf der Besuchertribüne bereits am Brandenburger Tor waren und dort unter
Umständen schon Fotos geschossen haben. Vielleicht
finden sich auf diesen Bildern andere Touristen wieder.
Aber damit müssen Touristen rechnen; schließlich haben
sie sich auf einen öffentlichen Platz begeben. Etwas anderes muss allerdings gelten, wenn Bildaufnahmen im
höchstpersönlichen Lebensbereich gemacht werden,
Stichwort Hotelzimmer, Stichwort Damentoilette. Ich
denke an Aufnahmen, von denen Sie nichts wissen und
von deren Veröffentlichung, womöglich im Internet, Sie
keine Kenntnis haben. Es ist für Sie alle wichtig, davor
ausreichend geschützt zu werden.
({2})
Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht.
Der Fokus liegt jetzt nicht mehr auf dem, was hinterher, wenn es schon zu spät ist, passiert; vielmehr geht es
darum, die Hemmschwelle im Vorfeld zu erhöhen, damit solche Bilder gar nicht mehr hergestellt werden. Wir
wollen erreichen, dass diese Fotos einfach vom Markt
verschwinden. Eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren ist eine deutliche Warnung.
Sehr geehrter Kollege Manzewski, jetzt will ich Sie
kurz mit ins Boot holen. Sie haben in der letzten Debatte
zu diesem Thema im Jahre 2003 gesagt, es gehe darum,
erhebliche Probleme in der Praxis zu vermeiden. „Wir
sind aufgefordert, nur Gesetze zu schaffen, die der Justiz
helfen und die Justiz nicht belasten.“ Vielleicht hätten
Sie Ihren Kollegen Ströbele einmal zur Seite nehmen
müssen, dass das Wörtchen „wissentlich“ nicht in den
Gesetzestext kommt; denn in der Rechtsanwendung wird
das bestimmt Probleme schaffen. Aber auch die werden
wir lösen.
Ich möchte noch kurz ein Wort zur Pressefreiheit sagen. Die Pressefreiheit wurde mit diesem Gesetzentwurf
nicht infrage gestellt. In diesem Punkt kann ich ausnahmsweise dem Kollegen Ströbele zustimmen. Die
Feststellung, dass die Pressefreiheit ein hohes Gut ist
und dass der Staat verpflichtet ist, die Pressefreiheit zu
schützen, wo immer er kann, ist zweifellos richtig; denn
ohne Pressefreiheit kann eine lebendige Demokratie
nicht existieren. Das ist unbestritten. Sie wird durch diesen Gesetzentwurf gewahrt, auch wenn die Presse das
zum Teil anders sieht.
Wir haben die Strafbarkeitslücke geschlossen. Alle,
die jetzt Fotos aus dem höchst persönlichen Lebensbereich illegal herstellen, benutzen oder vertreiben, sind
ein Fall für die Staatsanwaltschaft.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP eingebrachten Entwurf eines
Strafrechtsänderungsgesetzes, § 201 a StGB. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/2995, den Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit auch in dritter Beratung einstimmig angenom-
men worden.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 15/2995 zu dem von
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf
zum verbesserten Schutz der Privatsphäre. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/533 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen wor-
den.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Rechtsausschuss, den Gesetzentwurf der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 15/361 zum verbesserten
Schutz der Intimsphäre ebenfalls für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
1) Der Redebeitrag der Abgeordneten Petra Pau ({0}) wird zu
Protokoll genommen. ({1})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Schließlich empfiehlt der Rechtsausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung, den vom Bundesrat
eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Schutz der Intimsphäre - ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht
der Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung zweier Beschlussempfehlungen
des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu Anträgen auf Genehmigung zur
Durchführung der Strafverfolgung zu erweitern und jetzt
sofort als Zusatzpunkte 7 und 8 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Somit rufe ich die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung
hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung der Strafverfolgung
- Drucksache 15/3007 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3})
Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung
hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung der Strafverfolgung
- Drucksache 15/3008 Berichterstattung:
Abgeordneter Eckart von Klaeden
Wir kommen sofort zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3007, die Genehmigung zur
Durchführung der Strafverfolgung zu erteilen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
In seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3008
empfiehlt der Ausschuss ebenfalls, die Genehmigung zur
Durchführung der Strafverfolgung zu erteilen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sperrzeiten für Außengastronomie verbraucherfreundlicher gestalten
- Drucksachen 15/674, 15/1287 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brähmig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre ich
nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich hoffe, dass wir an den vorigen Debattenpunkt
anknüpfen können und diese Problematik hier einmal
genauso sachlich und in Ruhe miteinander diskutieren
können.
Was ist der derzeitige Rechtsstand? Es gibt eine Technische Anleitung Lärm. Sie setzt Lärmgrenzwerte fest
und sie setzt auch fest, wann die Nachtzeit beginnt. Von
dieser Technischen Anleitung Lärm ist die Außengastronomie ausdrücklich ausgenommen. Die Rechtspraxis ist
allerdings eine ganz andere. In der Rechtspraxis berufen
sich Gerichte und auch Gemeinden auf diese Technische
Anleitung Lärm. Das hat zur Folge, dass in weiten Teilen
der Republik Außengastronomie - Biergärten, Straßencafés, Weinterrassen - um 22 Uhr schließen müssen. Das
ist der Ausgangspunkt.
Da wir das ändern wollen, fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag auf, in zwei Punkten tätig zu
werden. Wir wollen erstens, dass während der Sommerzeit der Beginn der Nachtzeit in diesem immissionsschutzrechtlichen Sinne auf 23 Uhr oder 24 Uhr - wir
wären mit einer Festlegung auf 23 Uhr schon zufrieden festgelegt wird. Wir wollen zweitens, dass für menschlichen Lärm andere Grenzwerte festgesetzt werden als
etwa für Maschinenlärm, dass also das Lachen, Reden,
Singen anders behandelt wird als Maschinenlärm, das
Hämmern, Bohren oder Sägen.
({0})
Wir wollen ausdrücklich nicht, dass der Bund etwas
regelt. Natürlich wollen wir nicht, dass in Berlin entschieden wird, wann in Düsseldorf die Altstadtkneipe
oder das Weinrestaurant am Rhein oder was auch immer
für den Außenbetrieb schließen muss, sondern wir wollen vom Bund aus den Spielraum erweitern, damit Länder, Städte und Gemeinden das so festlegen können, wie
sie es für richtig halten. Das verstehen wir unter bürgernaher Politik.
({1})
Es gibt einige Gründe dafür. So ist ein völlig verändertes Konsumentenverhalten zu verzeichnen. Auch
die Deutschen gehen später aus und bleiben länger sitzen. Wir haben das Ziel, ein florierendes Stadtwesen zu
schaffen. Dazu gehört gerade die Außengastronomie.
Sobald man außen zumacht, sind die Innenstädte tot. Wir
haben in Deutschland eine florierende Biergartenkultur.
Der Tourismus in Deutschland lebt förmlich von dieser
Kultur. Sie wollen wir fördern und damit insbesondere
auch den Tourismusstandort Deutschland.
({2})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir wollen, dass mehr Menschen aus anderen Ländern - Franzosen, Italiener, Engländer - zu uns kommen, müssen wir
etwas verändern. Wenn sie schön gemütlich im Biergarten sitzen, können sie es nämlich nicht verstehen, dass
um 22 Uhr alles hochgeklappt wird und sie gehen müssen.
Ein weiteres wirtschaftliches Argument - ich bitte
Sie, das nicht zu unterschätzen -: Im letzten Sommer,
diesem Jahrhundertsommer, gab es das große Problem,
dass die Leute, als die vollen Biergärten um 22 Uhr
schließen mussten, nicht in die Innenräume, sondern
nach Hause gegangen sind. Unterm Strich waren das
Umsatzausfälle. Vor diesem Argument sollte man die
Augen nicht verschließen, sondern es zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln.
({3})
Nun möchte ich gerne auf ein paar Gegenargumente
eingehen. Mir bleibt leider nur wenig Zeit, da ich lediglich fünf Minuten Redezeit habe. Ich weiß ja, welche
Gegenargumente kommen, da Sie, liebe Kollegin Irber,
nach mir reden werden. Somit will ich nur auf zwei eingehen:
Erstens. Es ist totaler Unsinn, wenn davon geredet
wird, durch die von uns vorgeschlagene Regelung würde
mehr Bürokratie aufgebaut.
({4})
Wir wollen keine weiteren Lärmschutzvorschriften erlassen, sondern wir wollen die bisherigen Lärmschutzwerte verändern. Das hat überhaupt nichts mit zusätzlicher Bürokratie zu tun. Im Gegenteil: Dadurch, dass wir
den vom Bund vorgegebenen Rahmen ausweiten, verringern wir die Bürokratie, weil jetzt die Länder und Gemeinden so handeln können, wie sie es gerne wollen.
Unser Vorschlag führt also zu Bürokratieabbau und nicht
zu mehr Bürokratie.
({5})
Zweitens. Sie werfen uns immer vor, wir wollten alles
von Berlin aus regulieren. Auch das ist völliger Unsinn.
({6})
Wir wollen den Rahmen ausweiten, schreiben aber niemandem etwas vor; im Gegenteil. Wenn Sie doch nur
einmal in der Lage wären, unseren Antrag überhaupt zu
lesen, dann könnten wir miteinander diskutieren.
({7})
Wir wollen nur den Rahmen setzen. Entscheiden sollen
die Städte und die Gemeinden vor Ort. Wir in Berlin mischen uns in diese Entscheidungen damit überhaupt
nicht ein.
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Sie
haben jetzt die Einführung einer Ausbildungsabgabe in
die Diskussion gebracht. Sie treffen damit die Branche
ganz erheblich. Mit der Annahme unseres Vorschlages
könnten Sie etwas beschließen, was keinen Cent kostet,
was aber der Branche und den Menschen in Deutschland
hilft.
({8})
Deshalb bitte ich Sie: Springen Sie endlich über Ihren
ideologischen Schatten und stimmen Sie dem Antrag
heute zu.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brunhilde Irber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP besitzt ein gutes Timing: Das Frühlingswetter,
gerade dieser Tage hier in Berlin, animiert zum Besuch
von Biergärten und Straßencafés. In den vor uns liegenden Monaten mit lauen Frühlings- und Sommerabenden
wird es wieder viele Menschen in die Biergärten und
Straßencafés ziehen. Damit ergibt sich eine Einnahmequelle für die Gastronomie. Das begrüßen wir ausdrücklich.
({0})
Ich will auch gar nicht verhehlen, dass wir, wie schon
in den vorhergehenden Beratungen ausführlich dargestellt, um jedes Bundesland und um jede Kommune froh
sind, die die vorhandenen Möglichkeiten zur Verkürzung
der Sperrzeiten in der Außengastronomie nutzen. Bis
hierher sind wir uns einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Mit dem Thema Sperrzeiten in der Außengastronomie
beschäftigen wir uns ja beinahe jedes Jahr wieder zu Beginn der sommerlichen Zeit. Die Kollegen haben heute
schon gesagt, dass auch ihnen bewusst ist, dass alle Jahre
wieder der Antrag der FDP zu diesem Thema kommt.
({1})
Ich hätte es mir heute einfach machen und meine Reden
vom 29. Juni 2001 oder vom 8. Mai 2003 erneut vortragen können, denn neue Argumente habe ich in Ihrem
Antrag nicht gefunden. Auch in den Ausschussberatungen
gab es keine neuen Argumente. Deswegen glaube ich,
dass es eigentlich überflüssig ist, diesen Antrag zu beraten. Aber wir müssen es tun, weil er gestellt worden ist.
Sie fordern die Bundesregierung jetzt nicht mehr zur
Änderung des § 18 des Gaststättengesetzes auf. Denn die
meisten Bundesländer haben mittlerweile nur noch die
Besenstunde zwischen 5 und 6 Uhr. Sogar Bayern hat
sich jetzt dazu entschlossen. Das begrüße ich ausdrücklich.
Mit diesem Antrag zielen Sie ausschließlich auf die Definition der Nachtzeit im immissionsschutzrechtlichen
Sinne ab. Die Nachtzeit soll gemäß Ihrem Antrag in den
Sommermonaten erst um 23 Uhr oder idealerweise gar
erst um 24 Uhr beginnen. Ich stimme Ihnen wie vor
einem und auch vor drei Jahren zu: Insbesondere bei jüngeren Leuten haben sich das Ausgehverhalten und die
Lebensgewohnheiten geändert.
({2})
Viele werden gerade in der Sommerzeit zu regelrechten
Nachteulen. Auch ich gehöre im Übrigen dazu.
Aber des einen Freud ist des anderen Leid. Sie dürfen
die Nachbarschaft und die Anwohner nicht vergessen.
Das ist das, was uns bewegt. Die Anwohner haben ein
Recht auf eine ungestörte Nachtruhe. Wir alle setzen uns
dafür ein, mögliche nächtliche Ruhestörungen zu minimieren. Damit beugen wir auch gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers.
Man darf nicht nur die Einkünfte der Gastronomie sehen, sondern muss auch das berechtigte Interesse der
Anwohner auf ungestörte Nachtruhe ins Auge fassen.
({3})
- Das geht eben nicht, Herr Burgbacher; ich komme
noch darauf.
Ihre Forderung nach einer Technischen Anleitung
„Menschlicher Kommunikationslärm“ missachtet dieses
Recht auf Nachtruhe. Sie würden damit einen bürokratischen Wust aufbauen.
({4})
- Natürlich!
({5})
Wenn wir diesen Antrag heute hier beschließen, würde
es eine Technische Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“ geben. Dann müssten Grenzwerte festgesetzt werden, die eingehalten werden müssten. Der Staat
und seine Verwaltungsorgane hätten dann die Pflichten
der Exekutive. Die Einhaltung müsste bei Beschwerden
überprüft werden.
Nehmen wir einmal den folgenden Fall an: Anwohner X
fühlt sich in seiner nächtlichen Ruhe gestört. Er ruft die
Polizei. Die Polizei muss anrücken und den Lärmpegel
messen. Daran würde sich ein Verfahren wegen Störung
der Nachtruhe anschließen. Ich weiß nicht, wie der Vollzug genau aussehen müsste; aber es würde ein riesiger
bürokratischer Aufwand entstehen.
({6})
Ich glaube, das wäre ein Arbeitsbeschaffungsprogramm
für Lärmmessungsingenieure und würde eine Mehrarbeit
für die Polizeien der Länder bedeuten.
Ich glaube nicht, dass wir einem solchen Gesetzentwurf zustimmen sollten. Einen verbraucherfreundlichen
Ansatz kann ich dabei überhaupt nicht entdecken. Sie
fordern in Ihrer Kleinen Anfrage vom 19. März dieses
Jahres den Abbau von Bürokratie in der Tourismusbranche. In dem heute debattierten Antrag fordern Sie,
„einen unbürokratischen, verbraucherfreundlichen und
praxistauglichen Vorschlag zur Änderung des Bundesimmissionsschutzrechts“ für die Sommerzeit vorzulegen. Jetzt frage ich mich: Was ist an Ihrem Antrag unbürokratisch, praxistauglich oder verbraucherfreundlich?
({7})
Verbraucher sind nicht nur diejenigen, die im Straßencafé sitzen, sondern auch diejenigen, die am Morgen um
5 oder 6 Uhr aufstehen müssen, um zur Arbeit zu gehen,
und nicht schlafen können, weil sie durch den Lärm in
den Cafés gestört werden.
Sie sehen lediglich die Umsatzzahlen in der Gastronomie und meinen, allen Städten müsste am besten eine
Verschiebung des Sperrzeitbeginns bis 24 Uhr genehmigt werden. Dabei missachten Sie aber die Rechte der
Anwohner. Ich glaube nicht, dass das zielführend ist.
Wir haben als Gesetzgeber die Rechte aller Bürger zu
schützen; das ist unsere Aufgabe.
Wenn Leute in fröhlicher Runde beieinander sitzen,
dann können sie auch um 22 Uhr in den Innenraum gehen. Die Kommunen können die Zeiten schon heute verlängern. In der „Passauer Neuen Presse“ vom heutigen
Tage stand, dass die Stadt Passau die Sperrzeiten in der
Außengastronomie auf 23 Uhr festgesetzt hat. Verlängerte Öffnungszeiten sind also schon jetzt möglich. Weshalb sollen wir dann bitte schön eine Technische Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“ schaffen?
Ich denke, wir werden unsere bisherige Haltung, die
sich bewährt hat, nicht ändern. Es bedarf keiner bundesweit einheitlichen Regelung. Die Kompetenz lassen wir
bei den Ländern. Damit behalten die Kommunen das
Recht, die Sperrzeiten für ihre Außengastronomie selbst
festzulegen.
({8})
Dort kennt man nämlich am besten die Interessen und
die Bedürfnisse der Bevölkerung und aller Beteiligten.
Man weiß auch, wo eine Gastronomie im Außenbereich
störend ist und wo sie nicht störend ist.
({9})
Ich habe nichts dagegen, wenn eine abgelegene Waldwirtschaft, in deren Umgebung niemand wohnt, länger
geöffnet hat.
({10})
Ich habe aber etwas dagegen, wenn diese Gastwirtschaft
in einem Wohngebiet, neben einem Krankenhaus oder
einem Altenheim liegt. Wir würden mit einer Technischen Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“
längeren Öffnungszeiten derart gelegener Gastwirtschaften Tür und Tor öffnen.
Ich glaube daher, dass Ihr Antrag obsolet ist. Wir
brauchen ihn nicht und wir werden ihn deshalb ablehnen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wilhelm Busch hat einmal trefflich bemerkt:
„Das Trinkgeschirr, sobald es leer, macht keine rechte
Freude mehr.“
({0})
Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, werden
auch in diesem Sommer die Biergläser ab 22 Uhr leer
bleiben. Wenn es gerade gemütlich wird, findet die Biergartenkultur in Deutschland per Anordnung ihr abruptes
Ende.
Nicht nur bei den wirtschaftlichen Parametern wird
Deutschland unter der Regierung Gerhard Schröder vom
restlichen Europa abgehängt; auch bei der abendlichen
Lebensqualität ziehen unsere Nachbarn gnadenlos an
uns vorbei. Die Toskana-Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen und SPD weiß die Vorzüge flexibler Öffnungszeiten in der Gastronomie im südlichen Europa Jahr für
Jahr zu schätzen.
({1})
Ich möchte hinzufügen: Auch ich habe dieses Flair in
Ljubljana, Budapest und Prag bei Arbeitsgruppenreisen
in angenehmer Erinnerung behalten.
Unsere Bürger und ausländischen Gäste müssen in
einem Hochsommer wie dem des letzten Jahres die Annehmlichkeiten von geschlossenen Räumen bei 30 Grad
Celsius genießen. Da ist es kein Wunder, dass unsere
heimische Gastronomie unter Konsumverzicht leidet.
Die Wirtschaft liegt am Boden und die letzten konsumbereiten Kunden werden indirekt nach Hause geschickt.
Sie kaufen sich dann das Bier in der Kaufhalle und sitzen mit Freunden im Grünen bzw. auf dem Balkon.
Schon vor zwei Jahren haben wir dieses Thema im
Deutschen Bundestag debattiert. Geändert hat sich in der
Zwischenzeit nichts. Das ist ein großes Ärgernis für die
Unternehmer und Gäste in Deutschland. Der Antrag unseres Kollegen Ernst Burgbacher zur Liberalisierung der
Sperrzeiten in der Außengastronomie will dieses Ärgernis beseitigen. Freiluftgaststätten wie zum Beispiel
Biergärten sollen in Zukunft bis mindestens 23 Uhr und
höchstens bis 24 Uhr öffnen dürfen. Wir haben diesen
Antrag vor zwei Jahren unterstützt und unsere Meinung
dazu ist unverändert.
Die heutige Debatte sagt viel über den aktuellen Zustand des Wirtschaftsstandortes Deutschland aus.
Wieder einmal verpasst die rot-grüne Bundesregierung
eine gute Möglichkeit, dem gastronomischen Mittelstand in Deutschland unter die Arme zu greifen. Ich
brauche es eigentlich nicht zu erwähnen: Er hat es mehr
denn je nötig.
Hier und heute könnte die Regierung, ohne Kosten für
den Staat zu verursachen, aktive Wirtschaftsförderung
betreiben. Aber die rot-grüne Bundesregierung hat einen
viel besseren Ansatz, für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu sorgen. Sie droht dem teilweise
um seine Existenz kämpfenden Mittelstand mit der ideologischen Keule der Ausbildungsplatzabgabe.
({2})
Leider vergisst die Regierung dabei, dass beispielsweise
das Gastgewerbe seiner gesellschaftlichen Verantwortung überdurchschnittlich gerecht wird. Mit rund 7 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschland und einer
überdurchschnittlichen Ausbildungsquote bietet das
Gastgewerbe weiterhin vielen jungen Menschen eine
Berufs- und Lebensperspektive.
Allerdings braucht das Gastgewerbe Perspektiven für
eine bessere Zukunft, um den im letzten Jahr aufgestellten Ausbildungsrekord in der Hotellerie und Gastronomie auch in diesem Jahr wieder erreichen zu können.
Was läge also näher als eine Zustimmung von Rot-Grün
zu einem Antrag, dessen Umsetzung keine Kosten verursacht und dem Gastgewerbe zusätzliche Umsätze bescheren könnte?
Leider setzt sich die irrationale Wirtschaftspolitik der
Regierung Schröder auch in anderen Politikfeldern fort.
Beispielsweise will sich die Bundesregierung für eine
EU-Richtlinie einsetzen, die Frankreich die Einführung
eines ermäßigten Steuersatzes für Restaurantdienstleistungen ermöglichen soll. Gleichzeitig will die Bundesregierung dies den deutschen Gastwirten aber weiterhin
strikt verwehren.
({3})
- Ich denke schon, dass das alles zusammengehört. Kurz gesagt, Bundeskanzler Schröder setzt sich für einen preiswerten Urlaub in Frankreich ein und sorgt für
einen gleich bleibend teuren Urlaub im eigenen Land.
({4})
Dabei hat ein wissenschaftliches Gutachten in Frankreich ergeben, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz
auf Gastronomiedienstleistungen circa 40 000 neue
Arbeitsplätze schaffen kann. Wir gratulieren der Regierung zu dieser wirtschaftspolitischen Meisterleistung.
Wo bleibt endlich Ihr Einsatz für eine Harmonisierung
der Umsatzsteuer im europäischen Gastgewerbe?
Lassen Sie mich zu dem heute zu debattierenden Antrag zurückkommen.
({5})
Dessen Ablehnung begründet Rot-Grün mit dem Ruhebedürfnis der Anwohner von Außengastronomie. Lachen und Reden fallen nach Ihrer Auffassung unter den
Immissionsschutz. Dies ist eine sehr seltsame Interpretation von menschlicher Kommunikation. Aber, liebe Kolleginnen der Regierungskoalition, machen Sie sich keine
Sorgen um das Ruhebedürfnis der Anwohner. Angesichts Ihrer bewährten Regierungspolitik wird es auch
im Hochsommer für die meisten Bürger kaum Anlass zu
Jux und Dollerei geben.
({6})
Wer etwas verhindern will, sucht Gründe. Wer etwas
bewegen will, sucht Wege. Was Rot-Grün heute anbietet,
ist die Aneinanderreihung von Gründen. Wege in die Zukunft kann man von dieser Regierung nicht mehr erwarten.
Danke.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Undine Kurth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf den Rängen! Mit einigem Unwillen
müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die FDP alljährlich und regelmäßig den Bundestag mit ein und demselben Antrag beschäftigt. Auch wenn es sich um das sehr
sympathische Thema Biergarten dreht und wir jetzt vielleicht besser in einem solchen sitzen sollten, ist das nicht
besonders erfreulich.
Herr Brähmig, wenn Sie den Niedergang der gesamten Wirtschaft der Bundesrepublik an den Öffnungszeiten von Biergärten festmachen wollen, ist das nicht ganz
angemessen.
({0})
Das stete Wiederholen eines Themas kann natürlich
sinnvoll sein,
({1})
wenn dies im Sinne von Max Weber das „Bohren dicker
Bretter“ bedeuten würde, wenn man neue Argumente
bringen würde, wenn Sie Argumente berücksichtigen
würden, die bisher vorgetragen worden sind. Aber das ist
nicht der Fall. Lieber Herr Burgbacher, ich schätze Sie
wirklich sehr. Ihr Antrag entbehrt zwar nicht des Eifers,
aber er entbehrt neuer Argumente.
({2})
So viel zur Einleitung meines Beitrags; denn jetzt
bleibt mir nur übrig, auf die vorgetragenen Argumente
unsere bereits bekannten Antworten zu geben und damit
klar zu machen, warum wir nicht zustimmen können.
Natürlich wissen auch wir, dass sich die Lebensgewohnheiten verändert haben. Wir finden das sehr gut;
auch wir gehen gerne abends aus. Auch wir wissen, dass
es für touristische Destinationen wichtig ist, dass sich
die Gäste dort wohl fühlen. Auch wir wissen es zu schätzen, dass es Gastwirte gibt, die über wunderbare Biergärten verfügen, in denen sie Gäste bewirten können.
Aber wir wissen auch, dass es Anwohner gibt, die
abends Ruhe brauchen. Wir denken, man muss beides
gegeneinander abwägen und beides in Einklang bringen;
denn nicht jeder in der Bundesrepublik, der für den Wirtschaftsaufschwung sorgen möchte, geht direkt vom Büro
in den Biergarten und bleibt dort die halbe Nacht. Es gibt
auch Menschen, die abends einfach Ruhe brauchen.
Deshalb sagen wir: Wir brauchen und wollen verbraucherfreundliche und anwohnerfreundliche Sperrzeiten.
Wir wollen optimale Lösungen für alle Beteiligten. Regelungen nach dem Motto „Für die paar Tage geht das
schon“ greifen zu kurz, weil diejenigen, die in der Nähe
solcher Gastwirtschaften wohnen, diese Zeit als durchaus lang empfinden können. Der letzte Sommer war lang
und schön, wie wir alle wissen.
Deswegen setzen wir auf ein bewährtes Konfliktmanagement und sagen: Lasst es die Leute vor Ort entscheiden. Sie kennen die Situation am besten. Sie wissen am
besten, wie man es machen muss. Dafür braucht man
keine neuen Verordnungen.
Ihr Vorschlag, Immissionsgrenzwerte für Kommunikationslärm festzusetzen, klingt zunächst charmant.
Aber es hat sich nichts daran geändert, dass sie nicht so
einfach zu bestimmen sind. Frau Irber hat beschrieben,
auf welche Schwierigkeiten man dabei stoßen kann.
Lassen Sie die Menschen also so lange trinken, wie
sie mögen. Aber lassen Sie vor Ort bestimmen, ob das
draußen oder drinnen geschehen kann.
({3})
Es ist unsinnig, von hier aus festzulegen, wie lange wo
geöffnet werden darf.
Deshalb glauben wir, dass es nicht sinnvoll ist, dem
Antrag zuzustimmen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Burgbacher?
Ich bin eigentlich sehr offen für Zwischenfragen.
Aber da wir das alles ausreichend oft behandelt haben,
glaube ich nicht, dass wir darauf noch einmal eingehen
müssen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Klimke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen von Rot-Grün! Lassen Sie uns einmal zwei
Jahre in die Zukunft blicken. Wir schreiben das Jahr
2006. Die Fußballweltmeisterschaft findet in Deutschland statt. Alle feiern dieses Ereignis. Wirklich alle?
({0})
- Haben Sie nicht vorgestern das „Wunder von Bern“
gesehen?
({1})
Da haben wir auch am Anfang 5 : 1 oder 6 : 1 verloren;
hinterher sind wir Weltmeister geworden.
({2})
Feiern also alle das Ereignis? Das ist nicht möglich;
denn die ehemalige rot-grüne Regierung des Gastgebers
hat - wie schon in den vorigen Jahren - im Jahre 2004
wieder auf die Spaßbremse getreten. Denn feiern darf in
Deutschland nach 22 Uhr nicht möglich sein.
({3})
Da werden die Bürgersteige hochgeklappt.
({4})
Die Fans müssen direkt von den Stadien in ihre Hotels
oder nach Hause. - Das ist das Szenario. Schließlich sollen deutsche Städte - das ist eindeutig Ihr Ziel - nach
22 Uhr menschenleer bleiben.
({5})
Die Gastronomie darf in der Hauptsaison kein Geld verdienen.
Liebe Frau Kollegin Irber, ich darf das mit einem Zitat von Ihnen ausdrücken, das die „Süddeutsche Zeitung“ vom 27. April bringt: Das alkoholisierte Gegröle
von Fußballfans wollen wir nicht; darauf kann man gut
verzichten.
({6})
Das Motto der WM 2006 heißt: „Die Welt zu Gast bei
Freunden.“ Das bekommt dann gleich eine ganze andere
Bedeutung: Was die Gäste nicht dürfen, sollen die Deutschen auch nicht. Bloß kein Lebensgefühl in Deutschland entstehen lassen! Das ist offensichtlich Ihr Ziel.
Meine Damen und Herren, hier klafft wieder einmal
ein Abgrund zwischen Ihrem Anspruch und der Wirklichkeit. Multikulturell darf unsere Gesellschaft schon
gerne werden, aber bitte mit deutschen Ladenschlusszeiten. Spanische, französische oder gar italienische Lebensfreude darf in deutschen Landen keinen Platz finden. - Unsere südlichen Nachbarn schütteln darüber im
Übrigen verständnislos den Kopf. Sie sind beim Thema
Lebenskultur viel weiter. Sie denken in Sachen Sperrzeiten viel fortschrittlicher; sie haben nämlich keine Sperrzeiten.
({7})
Wenn wir - das machen wir jetzt öfter - anlässlich des
1. Mai nach Osten schauen, stellen wir fest, dass sogar
die neuen EU-Mitgliedstaaten im Osten die Lebensfreude nicht wie bei uns in Deutschland reglementieren.
({8})
„Zu Gast bei Freunden“ - das sollte nicht nur das
Motto der Fußballweltmeisterschaft sein, sondern auch
eine Verpflichtung gegenüber unseren Gästen aus der
ganzen Welt. Perfekte Organisation, reibungslose Logistik und überzeugende Angebote: Diese deutschen Attribute sind dabei nur Grundvoraussetzungen. Sie reichen
bei weitem nicht aus. Denn eine herzliche Gastfreundschaft muss unsere Gäste empfangen.
Dazu ist es unerlässlich, dass die Politik die Rahmenbedingungen für eine solche Gastfreundschaft herstellt.
Offensichtlich hat das in der Regierung bisher nur Wirtschaftsminister Clement begriffen. Die wenigen spanischen Nächte, die wir haben, sollte man die Gäste und
die Gastronomen genießen lassen.
({9})
Es ist doch nicht so, dass wir die Nacht zum Tag machen wollen. Schließlich sollen brave Bürger - auch die
Kollegin Irber - ihren wohlverdienten Schlaf finden. Wir
wollen, dass man laue Sommernächte genießen kann
und die Gastronomen die Lokale und Kassen in ihrer
Hauptsaison nicht schon um 22 Uhr schließen müssen.
({10})
„Deutschland will raus!!!“ - so hat die DEHOGA das
Ergebnis einer Emnid-Umfrage kommentiert, wonach
73,7 Prozent der Bundesbürger längere Öffnungszeiten
von Straßencafés und Biergärten befürworten.
Kollegin Irber, Ihr Kanzler hat diese Umfrage offensichtlich nicht richtig mitbekommen; denn eigentlich
folgt er jedem Trend. Man muss sich folgende Situation
einmal vorstellen: Gerhard Schröder sitzt um 22.30 Uhr
in Hannover in einem Biergarten - natürlich gibt es ein
riesiges Medienaufgebot - und fordert: „Hol mir mal ne
Flasche Bier, sonst streik ich hier!“ Ich kann mir vorstellen, dass diese Performance Sie um den Schlaf gebracht
hätte.
Wir stellen fest, dass die rot-grüne Regierung wieder
einmal eindeutig gegen den erklärten Willen der Deutschen handelt. Dabei ist es doch ganz einfach: Stimmen
Sie dem Antrag zu. Stimmen Sie gegen das Ausschussvotum.
Es geht nicht darum - das wurde hier vielfach
behauptet -, die Angelegenheit von Berlin aus zu regeln,
sondern darum, den Spielraum der Kommunen in der
Gastronomie zu erweitern. Ich komme aus Hamburg.
Dort wurde die Sperrzeit in diesem Frühjahr verkürzt.
Draußen kann man nun bis 24 Uhr und drinnen bis 5 Uhr
feiern.
({11})
Frau Irber, damit niemand um seinen Schlaf fürchten
muss, wird die Regelung im Einzelfall vor Ort geprüft.
({12})
Im Norden handelt man also miteinander und nicht
gegeneinander. Leider können diesen Weg nicht alle
Kommunen gehen, weil die Technische Anleitung
Lärm diese Möglichkeit versperrt. Allein der Begriff
„Technische Anleitung Lärm“ ist spröde.
({13})
Es handelt sich um ein Konglomerat von Negativem. Ich
frage mich, wie man menschliche Kommunikation, Lachen und Freude ernsthaft mit Industrielärm gleichsetzen
kann.
({14})
Werden im nächsten Schritt Balkone zu spaßfreien Zonen erklärt, da niemand mehr einen Witz erzählen darf,
weil das Lachen gegen die Technische Anleitung verstößt?
Der Witz ist schon out of time. Bitte fassen Sie sich
ganz kurz.
({0})
Okay. - Wir haben über den Unsinn in der Technischen Anleitung sehr oft gesprochen.
Zum Abschluss kann ich nur sagen: Stimmen Sie dem
Antrag Burgbacher zu.
({0})
Wie heißt es doch so schön? Wo man singt, da lass dich
nieder - böse Menschen haben keine Lieder.
({1})
Danke schön. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf
Drucksache 15/1287 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Sperrzeiten für Außengastronomie
verbraucherfreundlicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Undine Kurth ({0}), Albert Schmidt ({1}), Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Tourismus in, an und auf dem Wasser - Naturverträglichen Wassertourismus in
Deutschland ausbauen und fördern
- Drucksache 15/2667 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({3})
Sportausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Annette Faße.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute kann ich Ihnen einen Antrag vorstellen, der mir
ganz besonders am Herzen liegt: „Tourismus in, an und
auf dem Wasser - Naturverträglichen Wassertourismus
in Deutschland ausbauen und fördern“.
In meinem Wahlkreis Cuxhaven/Osterholz ist der
Wassertourismus von zentraler Bedeutung. Daher freue
ich mich, dass dieses touristische Segment hier heute
Abend im Mittelpunkt steht.
({0})
Wir haben in Deutschland, im Zentrum Europas, ein
bedeutendes Wassersportrevier. Wir sind uns dessen
nur leider nicht genügend bewusst. Nord- und Ostsee,
zahlreiche Binnenseen, Fließgewässer und nicht zuletzt
die Wasserstraßen bilden in Deutschland die optimalen
Voraussetzungen für Tourismus in, an und auf dem Wasser.
Hier besteht großes wirtschaftliches Potenzial, das
noch ausbaufähig ist. Immerhin betreiben rund
6,5 Millionen Deutsche aktiv Wassersport. Das sind rund
8 Prozent der Bevölkerung. Der direkte Gesamtumsatz
in der Wassersportwirtschaft wird auf jährlich
1,7 Milliarden Euro geschätzt. Dass wir inzwischen
mehr über Wassertourismus in Deutschland wissen, verdanken wir der Grundlagenuntersuchung „Wassertourismus in Deutschland“, die vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegeben wurde und seit Mai letzten
Jahres vorliegt.
({1})
Ich begrüße es ausdrücklich, dass uns zu diesem Thema
endlich Basisdaten zur Verfügung stehen und dass hierzu
eine generelle Untersuchung durchgeführt wurde, die
uns Hinweise darauf gibt, was wir wo zu ändern versuchen sollten.
Lassen Sie mich zunächst zu einigen Rahmenbedingungen und Vorschriften Stellung beziehen; meine Kollegin wird dann speziell auf die Tourismusseite eingehen. Die Bundeswasserstraßen und die mit ihnen
verbundenen Landesgewässer bilden ein Wasserwandernetz von etwa 10 000 Kilometern Länge. Der Bund
als Eigentümer der Bundeswasserstraßen unterhält und
betreibt diese Wasserwege. Darüber hinaus saniert der
Bund die Nebenwasserstraßen, um diese wieder zu beleben und dem Tourismus zuzuführen. Das gilt ganz besonders für die Nebenwasserstraßen in den neuen Bundesländern. Hier haben wir, wenn ich beispielsweise an
den Finowkanal denke, gemeinsam einiges erreicht.
Dazu gehört aber auch die Instandsetzung von Schleusen, durch die ein durchgängiges Befahren der Wasserwege erst ermöglicht wird.
Die zunehmende Nutzung der Wasserstraßen erfordert allerdings auch Regelungen. Davon gibt es eine
ganze Menge. Es gilt nun, zu überprüfen, welche sinnvoll und welche nicht sinnvoll sind. Das können Bund
und Länder nur gemeinsam machen, weil viele Kompetenzen bei den Ländern liegen.
Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel dafür darlegen,
dass wir durch ein Modellprojekt, das die Charterscheinregelung betroffen hat, etwas wirklich Positives
in Gang gebracht haben. In diesem Fall wurde ein auf
drei Jahre befristetes Modellprojekt durchgeführt. Die
Erfahrungen damit waren durchweg positiv. Auch die
Touristen aus dem Ausland entdeckten, dass es in
Deutschland Hausboote gibt, auf denen sich wunderbar
Urlaub machen lässt.
Nach Abschluss dieses Projektes haben wir es zu
einer Dauerregelung werden lassen. In unserem Antrag
fordern wir, zu überprüfen, ob noch weitere Wasserreviere diese Charterscheinregelung übernehmen können
oder ihre Übertragung auf Landesgewässer möglich ist.
Wir bewerten diese Regelung als sehr positiv. Hier haben wir eindeutig eine Lockerung erreicht, die auch dem
wirtschaftlichen Bereich dienlich ist.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns
auch mit den unterschiedlichen bestehenden Regelungen, die dem Wassertourismus nicht gerade dienlich
sind, befassen. Es gibt zum Beispiel unterschiedliche
Befahrensregelungen. Hier sind die Bundesländer massiv gefordert. So ist es kaum zu verstehen, dass, wenn
man eine Landesgrenze überfährt, andere Regeln gelten
sollen; denn man merkt gar nicht, dass man sich in
einem anderen Bundesland befindet. Aber dann kann es
natürlich schnell zu Konflikten kommen.
Dies gilt auch für Boots- und Segelführerscheine.
Auch hier sehen wir Handlungsbedarf. Ganz deutlichen
Handlungsbedarf sehen wir auch bezüglich einer einheitlichen Ausschilderung. Es kann nicht sein, dass es die
unterschiedlichsten oder gar keine Piktogramme gibt.
Wir wollen es den Gästen erleichtern, zu erkennen, welche Angebote an einer Anlegestelle und im touristischen
Umfeld vorhanden sind, damit sie sehen, dass es sich
lohnt, auch einen Tag länger zu bleiben. Dafür brauchen
wir eine einheitliche Beschilderung. Hier sind wir auf
einem sehr guten Weg. Damit eine solche Regelung
kompatibel ist, hat man dabei auch die europäische
Ebene zu berücksichtigen. Ich gehe davon aus, dass wir
hier gemeinsam mit den Ländern eine gute Lösung finden werden, die vom Bund auch finanziell unterstützt
werden wird.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich möchte
ich zu der Vignette für Sport- und Freizeitboote, über
die gegenwärtig in der Presse heiß diskutiert wird, Stellung beziehen. Diesen Punkt haben wir in unserem Antrag als Prüfauftrag aufgegriffen und auch inhaltliche
Vorgaben hierzu gemacht. Wir müssen einfach feststellen, dass der Bundesrechnungshof und der Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages von uns
die Schaffung einer aktuellen, rechtlich einwandfreien
Grundlage für die Erhebung der Schifffahrtsabgaben sowie die Neufestlegung der Abgaben für Sport- und Freizeitschifffahrt fordern.
Bisher haben wir die Regelung, dass zwei große Verbände zusammen pauschal 51 000 Euro zahlen. Diese
Summe ist über eine lange Zeit nicht angehoben worden.
Da muss man sich schon fragen: Ist es gerecht, dass die
Verbände zahlen? Wer kein Mitglied in einem Verein ist,
ist schließlich nicht eingebunden. Ist es gerecht, dass das
Schleusen an der Mosel extra bezahlt werden muss? Ich
glaube, hier besteht Handlungsbedarf. Keiner will eine
Regelung, die das Ehrenamt im Sportbereich negativ beeinflusst, keiner will eine Überbürokratisierung, aber ich
meine schon, dass wir uns der Aufgabe stellen müssen.
Die Verbände und auch die Politik müssen sich einschalten, damit die zu schaffende Regelung für den Tourismus
erträglich ist.
Ich lade Sie alle ein, im August nach Cuxhaven zum
Tall Ships’ Race zu kommen; da kann man über Wassertourismus nicht nur reden, da kann man ihn auch erleben.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wilhelm Josef
Sebastian.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Werte Frau Faße, Sie haben gesagt, Wassersport liege Ihnen am Herzen. Ich frage mich aber, warum Sie im Juni
des vergangenen Jahres unserem Antrag nicht zugestimmt haben und auch nicht im Oktober dem der FDP.
Sie hätten all das viel früher haben können.
({0})
Deshalb muss ich ein bisschen daran zweifeln, dass es
Ihnen ein Herzensanliegen ist. Aber ich freue mich, dass
Sie uns nach Cuxhaven eingeladen haben - das erinnert
mich an meine Bundeswehrzeit: Ich war in Cuxhaven
bei der Marine; das war eine schöne Zeit. Vielleicht sehen wir uns dann da wieder.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag
beschäftigt sich nun schon zum dritten Mal mit dem
Thema Wassertourismus. Man kann nur hoffen, dass die
Ergebnisse der Initiative auch wirklich rechtfertigen,
dass man diesem Thema die entsprechende Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Ich habe es schon gesagt: Im
Juni des vergangenen Jahres haben wir, die CDU/CSUBundestagsfraktion, dieses Thema eingebracht, im Oktober dann die FDP. Immer war die Stoßrichtung die gleiche. Ich kann in Ihrem neuen Antrag nichts wesentlich
Besseres oder anderes sehen, aber man kann ja so schön
sagen: Besser spät als nie. Deshalb sind wir eigentlich
froh, dass wir heute noch einmal über das Ganze reden.
({1})
- Liebe Kollegin, ich will es noch einmal sagen: Natürlich freut es einen Oppositionspolitiker, wenn die Regierungsfraktionen Formulierungen finden, die man selbst
schon gebraucht hat. Man darf Ihnen durchaus gratulieren, denn Sie haben recht ordentlich abgeschrieben - bei
uns und bei der FDP.
({2})
Was an Füllmaterial noch fehlte, stammt offensichtlich
aus der Grundlagenuntersuchung „Wassertourismus in
Deutschland“, die seinerzeit im Mai 2003, kurz nach unserem Antrag, erschienen ist.
Im Großen und Ganzen kann man vielem von dem,
was Sie zu Papier gebracht haben, zustimmen. Unsere
Anliegen vom Mai des vergangenen Jahres werden überwiegend aufgegriffen, ich will nur einige wichtige noch
einmal nennen: Aufbau eines länderübergreifenden
Koordinierungsinstrumentariums, Vereinheitlichung und
Vereinfachung der Befahrensregelungen auf den Gewässern in ganz Deutschland, Verknüpfung von Wassersportangeboten mit Angeboten an Land, Förderung des
Themenjahres 2004 „Faszination Wasser“, Belange der
Sportverbände fördern und deren Anliegen bei Maßnahmen des Natur- und Umweltschutzes angemessen berücksichtigen.
Wir möchten aber kritisch anmerken, dass wir uns mit
Ihrem Vorschlag, ein Vignettensystem für den Bereich
von Sport- und Freizeitbooten einzuführen, gar nicht
anfreunden können. Ich habe fast das Gefühl, dass Sie
im Freizeitbereich die Vignette wieder einführen wollen,
die für die LKWs aus vielerlei anderen Gründen, die hier
heute nicht zur Debatte stehen, nicht mehr ausgegeben
wird. Ich könnte die Frage stellen: Warum nicht gleich
eine Maut? Streckenbezogen, denn wer viel fährt, soll
mehr zahlen, wer wenig fährt, zahlt wenig? Es kann
doch wohl nicht sein, dass wir jetzt auch im Freizeitbereich ein Mautdesaster bekommen.
Der behördliche Aufwand für eine solche Einführung
ist derart groß, dass sich die Fragen ergeben: Wer kontrolliert es und wo ist eine Kostendeckung? Auf mich
wirkt das alles etwas illusorisch. Sie sagen zwar, dass
das nur ein Prüfauftrag und es noch keine Forderung ist,
aber wenn so etwas geprüft wird, gibt es meist Experten,
die zum Schluss immer noch etwas schönrechnen. Wir
können uns des Eindruckes nicht erwehren, dass immer
neue Erfindungen gemacht werden, um den Bürgern
Geld aus der Tasche zu ziehen.
Dann kommen bei dieser Regelung - wie heißt es so
schön: keine Regel ohne Ausnahme - die Befreiung für
Vereine und Rabatte - deutlich weniger Abgaben oder
gar keine - hinzu. Ich halte von dieser Geschichte nichts.
Wir reden in allen Bereichen von Entbürokratisierung.
Dies ist für mich deutlich mehr Bürokratisierung.
({3})
In Ihrem Antrag wird angeführt, dass man sich durchaus vorstellen kann, im Bereich von Schleusen Kommunikationspunkte für die Menschen zu haben und Attraktivitäten einzurichten. Wer jemals Wassersport in
Holland betrieben hat, der weiß - ich kann mich selbst
daran entsinnen -, dass es immer ein Erlebnis ist, an
einer Brücke vorbeizufahren: Man bekommt einen Holzschuh zugeworfen und man konnte damals 1 Gulden,
heute 1 Euro, hineinstecken. Das ist etwas Unterhaltendes und keine Vignette; es ist vielmehr etwas Freiwilliges.
({4})
Ich bin für Anreize. In diesem Fall bin ich für weniger
und nicht für mehr.
Wir sollten überhaupt bedenken, dass Wassertourismus im Wettbewerb mit anderen Ländern steht.
({5})
Der Gast entscheidet, ob er in Holland, in Frankreich, in
Belgien oder anderswo Wassersport betreibt oder ob er
auf unsere Gewässer geht, auf denen er möglicherweise
sehr viel mehr zahlen muss. Wettbewerb mit anderen
Ländern muss dazu führen, dass wir unseren Standortvorteil - wir haben herrliche Landschaften - nutzen. Wir
sollten den Bürger in diesem Zusammenhang kein Geld
aus der Tasche nehmen.
Es gibt ein altes Indianersprichwort: Wenn du merkst,
das Pferd ist tot, steige ab. - Bei Ihnen habe ich den Eindruck: Wenn du merkst, das Pferd ist tot, gründe einen
Arbeitskreis, der herausfindet, warum das Pferd gestorben ist. - Hier wird wieder etwas geprüft, von dem man
eigentlich schon heute weiß, dass es nicht zum Vorteil
ist.
Eine abschließende Frage in diesem Zusammenhang:
Wo beginnt die Gerechtigkeit, wenn Sie im Freizeitbereich Boote mit Gebühren belegen und Fahrräder bei der
Nutzung von Radwegen von einer Vignette befreien?
({6})
Man könnte noch sehr viele Ideen aufgreifen, warum
man zum Beispiel bei Skatern oder in anderen Bereichen
demnächst Gebühren einführt.
({7})
Nicht zu Unrecht vermutet man bei Ihrem Antrag die
Handschrift der grünen Kolleginnen und Kollegen, die
eine für mich sehr übertriebene Betonung der Belange
des Natur- und Umweltschutzes in Ihrem Antrag formulieren. Die Abwägung und der Ausgleich der Interessen
fehlen. Es hört sich so an, als ob sich den aus unserer
Sicht überzogenen Ansprüchen des Naturschutzes alles
unterordnen muss. Es wird vergessen, dass man sehr
wohl Konzeptionen finden kann, die touristischen und
wirtschaftlichen Erwägungen genauso Rechnung tragen
wie dem berechtigten Schutz der Natur.
Wir benötigen in diesem Bereich - wie in vielen anderen in Deutschland - eine weitergehende Deregulierung der gesetzlichen Vorschriften, um die ökonomischen Potenziale auszuschöpfen. In der öffentlichen
Anhörung zum Thema Wassertourismus im letzten Sommer erfuhren wir zum Beispiel, dass es in Deutschland
592 Einzelbefahrungsregeln auf deutschen Gewässern
aus Naturschutzgründen gibt. Für mich ist das des Guten
zu viel. Hier muss es zu Vereinfachungen und einheitlichen Regelungen kommen.
({8})
Wir sind gespannt, ob der Ansatz, den die Regierungskoalition dazu gefunden hat - in den Bundesländern anzuregen, Kriterien für übergreifende, flusseinheitliche Befahrensregelungen zu entwickeln -, den
nötigen Nachdruck verleiht und den erhofften Erfolg
bringt.
Die Union wird in der nächsten Zeit sehr wohl beobachten, ob das hier zur Beschlussfassung anstehende
Programm, Ihre Agenda Wassertourismus, erfolgreich
umgesetzt wird oder ob es - wie Ihre Agenda 2010 noch vor dem Stapellauf Schiffbruch erleidet.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt wieder die Abgeordnete Undine
Kurth.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von mir und
von meiner Fraktion ein Plädoyer für den Wassertourismus.
Die Verstädterung und die Bewegungsarmut einerseits sowie die Zunahme an Freizeit und Mobilität andererseits führen zu einer immer stärkeren Nachfrage nach
Erholung und Sport in freier Natur. Der Wassersport profitiert davon in ganz herausragender Weise, da er zu den
naturorientierten Sportarten zählt. Der enge Kontakt zu
einer möglichst unberührten Natur besitzt gerade beim
Wassersport eine ganz besondere Bedeutung.
Man möchte es kaum glauben, aber es ist wahr:
Deutschland ist ein Wasserland mit etwa
6,5 Millionen Menschen, die sich zumindest zeitweise
am, auf dem, im oder unter Wasser aufhalten. Aufgrund
dieser großen Zahl von Menschen hat sich der Wassersport längst zum Breitensport entwickelt. Mit unserem
heute vorliegenden Antrag wollen wir dem Rechnung
tragen sowie die bisherige Unterschätzung dieses touristischen Potenzials aufheben und ihr entgegenwirken. Mit
der Grundlagenuntersuchung des Bundeswirtschaftsministeriums „Wassertourismus in Deutschland“ haben
wir, wie wir bereits hörten, zudem die notwendigen empirischen Daten vorliegen, um gezielt handeln zu können
und genau die Potenziale aktivieren und besser ausschöpfen zu können, die bisher nicht wirklich genutzt
worden sind. Ich denke, unser Antrag enthält dazu eine
Reihe wirklich guter Forderungen.
Herr Sebastian, nach den Fakten, die Frau Faße bereits vorgetragen hat, möchte ich jetzt zu einem Thema
kommen, das genau den Unterschied zwischen uns ausmacht und weswegen unser Antrag heute in dieser Form
vorliegt und wir Ihren Anträgen nicht zustimmen konnten. Es geht um den Bereich des Naturschutzes. Die Anträge Ihrer Fraktion und der Antrag der FDP waren da
wirklich sehr schlecht.
({0})
- Nein.
Undine Kurth ({1})
Bei aller gewollten und notwendigen Unterstützung
für den Wassertourismus - deswegen wollen wir uns ja
auf diesen Antrag verständigen - hat auch der Naturschutz eine große Bedeutung. Um den Wassersport in
der Natur betreiben zu können, brauchen wir nämlich intakte Naturräume, die wir auch weiterhin vor der Zerstörung bewahren müssen. Auch dafür benötigen wir Regeln und Kriterien, an denen wir uns orientieren. Wir
müssen zwischen den Belangen des Naturschutzes und
den Interessen der Wassertouristen abwägen. Wer glaubt,
dass das automatisch immer zugunsten des Naturschutzes geschehen würde, der kennt die Realität nicht und
der weiß nicht, was wir draußen täglich erleben. Auch
von gut gemeinten Aktivitäten auf dem Wasser gehen
nämlich Gefahren für die Pflanzen- und Tierwelt aus.
Demzufolge müssen wir darauf achten.
Erfreulicherweise gibt es aber hervorragende Beispiele integrierter Schutz- und Nutzungskonzepte. Eine
Spitzenposition nimmt hierbei Schleswig-Holstein ein.
Dort wurden beispielsweise freiwillige Vereinbarungen
für die wassersportliche Nutzung von Natura-2000-Flächen getroffen. Seit Sommer 2001 bieten dort Kanusport
und Kanutouristik über eine Begleitservicebörse technische und fachliche Hilfestellungen an. Gemeinsam mit
den Natur- und Umweltschutzverbänden wurden verbindliche Regeln für das Befahren festgelegt, um sensible Gewässer zu schonen und zu erhalten. Genau diese
Entwicklung wollen wir mit unserem Antrag fördern und
stabilisieren. Deshalb wollen wir zum Beispiel Wassersportverbänden Gelder zur Verfügung stellen, mit denen
die Schulungs- und Ausbildungsarbeit für naturverträglichen Wassertourismus in Gang gesetzt werden kann.
({2})
Durch das neue Bundesnaturschutzgesetz wurde die
Möglichkeit freiwilliger Vereinbarungen deutlich gestärkt. Wo immer das nötig ist, sollen diese auch befördert und angewandt werden. Ein gutes Beispiel hierfür
ist die zwischen dem WWF Deutschland und dem
Landesanglerverband Mecklenburg-Vorpommern abgeschlossene Kooperationsvereinbarung zum Projekt „Naturschutz und Wassersport auf dem Greifswalder Bodden und Strelasund“. Die Einhaltung dieser Regeln wird
freiwillig und ehrenamtlich durch so genannte Revierlotsen kontrolliert. Das geht, auch ohne den Tourismus zu
behindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon gesagt
worden: In Deutschland sind aktuell 650 Befahrensregelungen bekannt. Das kann man nicht als übersichtlich
bezeichnen. Es ist sicherlich richtig, dass sich dort etwas
ändern muss. Wir regen in unserem Antrag daher an,
dass die Bundesländer Kriterien für übergreifende flusseinheitliche Befahrensregelungen für den naturverträglichen Wassersport entwickeln und ein einheitliches Verfahren beschließen, wie diese regional anzuwenden sind.
Hier kann man sicherlich auch auf die große Kompetenz
des Bundesamtes für Naturschutz zurückgreifen.
Hilfreich ist es sicherlich auch, wenn sich die Länder
auf eine einheitliche wasserseitige Hinweisbeschilderung einigen könnten, die nicht nur deutlich macht, was
auf dem Wasser gelten soll, sondern auch darauf hinweist, was sich im Umfeld der Region befindet, damit
Touristen eine Chance haben, die Region kennen zu lernen, und die Region vom Wassertourismus profitieren
kann.
Zum Abschluss meines Beitrages möchte ich noch
auf einen ganz besonderen Aspekt hinweisen. Im Januar
haben wir uns im Bundestag auf einen Antrag zum barrierefreien Tourismus in Deutschland verständigt und
für uns alle festgestellt, dass barrierefreier Tourismus ein
Markenzeichen des Deutschlandtourismus werden soll.
Ich möchte an alle appellieren, dass wir die guten Beispiele, die es in diesem Bereich schon gibt - „Boot ohne
Handicap“ oder „Sail together“; es fing damit an, dass
die Jugendgruppe einer evangelischen Kirchengemeinde
einen rollstuhltauglichen Katamaran entwickelt hat, um
Behinderten und Nichtbehinderten gemeinsame Ferienzeiten auf dem Wasser zu ermöglichen -, besonders im
Auge behalten und unterstützen. Mit dem barrierefreien
Tourismus kann dem gesamten Segment Wassertourismus ein weiterer Bereich hinzugefügt werden, von dem
er ganz sicherlich profitieren und der ihn attraktiver machen kann.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt hat der Kollege Goldmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem wir eben das Thema Sperrzeiten für Außengastronomie hatten, sind wir uns sicherlich darin einig,
dass wir die Regelungen ändern müssen, um unsere
Chancen im Tourismus zu erhöhen. Wir sind uns bei diesem Thema im Grundsatz darin einig, dass der Wassertourismus Potenzial hat und dass man dieses Potenzial
sicherlich weiterentwickeln kann.
Wenn man die Länder vor seinem geistigen Auge Revue passieren lässt, dann fällt einem für Berlin ein,
welch riesiges Potenzial das Wasser für diese Stadt darstellt. Gleiches gilt für Länder wie Bayern. In diesem
Zusammenhang ist besonders ein Bundesland im Osten
zu nennen, Mecklenburg-Vorpommern. Stellt man sich
einmal Mecklenburg-Vorpommern ohne die touristischen Chancen vor, dann wäre die Situation dort noch
verheerender, als sie sich schon im Moment darstellt.
Bei diesem Thema gibt es also viele Gemeinsamkeiten.
({0})
Wir sollten ehrlich miteinander umgehen und genau
in die Anträge hineinschauen. Frau Kurth, ich finde es
sehr mutig, was Sie gesagt haben. Aber vom barrierefreien Wassertourismus steht in Ihrem Antrag nichts.
({1})
Ich finde es auch mutig, was Kollegin Faße zum Ausbau verschiedener Bereiche gesagt hat. Liebe Kollegin
Faße, da wir uns auch von der Arbeit in der parlamentarischen Gruppe „Binnenschifffahrt“ kennen, kann ich
mir nicht vorstellen, dass du die Aufwendungen für Baubetrieb und die Erhaltung der Wasserstraßen in Höhe
von 1,4 Milliarden Euro ernstlich begrüßt. Bei jeder anderen Veranstaltung fordern wir für den Ausbau von
Wasserstraßen wesentlich mehr. Allein für den Unterhalt
der Wasserstraßen ist mehr Geld nötig. Da hilft auch die
Einladung nach Cuxhaven nichts mehr. Man sollte schon
ehrlich sagen, dass die früheren Anträge von CDU/CSU
und FDP sehr viel weitgehender waren, um den Wassertourismus insgesamt zu stärken.
({2})
Ich finde die Forderung Nr. 10, die Einführung einer
nutzergerechten Jahresvignette für Sport- und Freizeitboote zu prüfen und diesen Prüfauftrag gleichzeitig
dadurch abzuarbeiten, bereits gestellten Forderungen
nachzukommen, eigenartig. Ich meine, dass eine solche
Vignette nun wirklich nicht geeignet ist, den Wassertourismus in Deutschland zu fördern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kurth?
Ja.
Herr Goldmann, würden Sie mir zustimmen, dass sich
folgender Absatz durchaus mit Barrierefreiheit befasst?
In unserem Antrag heißt es wörtlich:
Die Tourismuswirtschaft sollte sich bei der Erstellung wassertouristischer Angebote auf die wachsende Nachfrage nach barrierefreien Angeboten
einstellen. Barrierefreiheit wird zukünftig Qualitätsmerkmal eines erfolgreichen Deutschlandtourismus sein. Bei den wassertouristischen Angeboten
wie auch bei dem Ausbau der dafür nötigen Infrastruktur ist Barrierefreiheit weitgehend zu ermöglichen.
Oder sehen Sie hier keinen Bezug zur Barrierefreiheit?
Selbstverständlich; denn in dem beschreibenden Charakter haben Sie im Grunde genommen alles zusammengefasst. Entscheidend für einen Antrag ist aber, welche
Forderungen erhoben werden. Dafür gibt es in Ihrem
Antrag den Abschnitt III: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf“. In diesem Abschnitt fordern Sie eben nicht die Bundesregierung auf,
({0})
sondern Sie fordern etwas von der Tourismuswirtschaft,
was die Tourismuswirtschaft, jeder gute Hotelier und jeder ernst zu nehmende Anbieter von Campingplätzen eigenverantwortlich erfüllt. Das ist aber nicht etwas, was
in Ihrem Antrag so festgeschrieben ist, dass daraus eine
parteipolitische oder eine regierungspolitische Forderung abgeleitet werden kann.
Das Gleiche gilt für die Bereiche im Natur- und Umweltschutz, die Sie angesprochen haben. Ich bin dafür,
dass wir den Tourismus im Einklang mit dem Naturschutz entwickeln. Wenn Sie sich vor Ort erkundigen
würden, dann würden Sie wissen, was an der Küste in
dieser Hinsicht schon alles passiert. Sehr interessant
finde ich, dass Sie so etwas unter dem Punkt „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf“ in den
Raum stellen und dort keine einzige Forderung nach
Vereinbarkeit von touristischen Interessen und Naturschutzinteressen erheben.
Ich bin dafür, dass wir den Tourismus weiterentwickeln und der Naturschutz dabei bewahrt bleibt. Denn
ohne gesunde Natur gibt es auch keinen erholsamen
Tourismus. In diesem Sinne werden wir die Arbeit in
den Ausschüssen begleiten.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gabriele HillerOhm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
12. Juni findet zum zweiten Mal in Europa der Tag des
Wassersports statt. Die deutsche Wassersportbranche ist
dabei. Unter dem Motto „Go Boating“ werden an vielen
deutschen Seen und Flüssen und auch an den Küsten
Menschen eingeladen, die unterschiedlichsten Wassersportarten kennen zu lernen und selbst auszuprobieren.
Die Branche nutzt den Tag, um gemeinsam mit dem
Tourismus für ihre Angebote zu werben und auf die beachtliche wirtschaftliche Bedeutung des Wassersports
hinzuweisen. Der jährliche Gesamtumsatz - darauf
wurde schon hingewiesen - beträgt 1,7 Milliarden Euro.
Das kann sich sehen lassen.
Wassersport ist also ein ganz wichtiger Bereich. Wassertourismus ist noch umfassender. Er schließt auch
Übernachtungen an Land und auf dem Wasser und landseitige Angebote ein. Es ist eigentlich nicht zu fassen:
Obwohl rund 17 Millionen Deutsche in ihrer Freizeit
und im Urlaub aufs Wasser gehen, wurde dem Wassertourismus bisher nur relativ wenig Beachtung geschenkt.
Wichtige Basisdaten und Nutzungskonzepte fehlen. Mit
der Studie „Wassertourismus in Deutschland“, die von
der SPD und den Grünen in Auftrag gegeben wurde
- übrigens lange bevor Sie überhaupt an Wassertourismus gedacht haben - ist jetzt zum Glück eine Grundlage
geschaffen.
({0})
Die Studie ist nicht ohne Echo geblieben. Kommunen
und Bundesländer erkennen zunehmend die Potenziale,
die der Wassertourismus besonders auch für strukturschwache Regionen bietet.
({1})
Ich nenne ein Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern kann
als eines von wenigen Bundesländern umfassende Entwicklungs- und Nutzungskonzepte vorweisen, die nun
umgesetzt werden müssen.
({2})
Das Klein-Klein wurde überwunden. Man denkt und
plant zunehmend überregional und vernetzt systematisch
wasser- und landseitige Angebote zu attraktiven touristischen Highlights.
({3})
Das schafft Arbeitsplätze und stärkt die Region. Das ist
der richtige Weg. Andere Bundesländer, beispielsweise
Schleswig-Holstein, woher ich komme, ziehen nach.
Doch reicht das aus? Nein. Wassertourismus muss ein
gesamtdeutsches Thema sein, denn das Wasser hört nicht
zwangsläufig an den Landesgrenzen auf.
({4})
Alle Fraktionen im Bundestag haben sich angesprochen
gefühlt und zu unterschiedlichen Zeitpunkten Anträge
eingebracht. Es gibt - Herr Sebastian hat darauf hingewiesen - viele Übereinstimmungen. Die Unterschiede
hat Frau Kollegin Kurth beschrieben.
Im Zusammenhang mit dem Thema Vignette werden
wir sicherlich noch oft Gelegenheit haben, uns auszutauschen und auch in dieser Frage einen richtigen Weg für
den Wassertourismus zu finden. Ich bin alles in allem
zuversichtlich, dass wir im Bundestag gemeinsam etwas
für den Wassertourismus erreichen werden.
Ich möchte nun auf zwei Forderungen aus unserem
Antrag eingehen. Erstens. Die Potenziale des Wassertourismus sind in Deutschland trotz guter Wachstumsperspektiven noch lange nicht ausgeschöpft. Oft fehlt es an
Koordination und an der Vernetzung von Angeboten und
Akteuren. Wir fordern deshalb die Einrichtung einer länderübergreifenden Koordinierungsstelle, die diese
Vernetzung voranbringen soll.
({5})
Zweitens. Wir wollen unsere Gewässer touristisch
stärker erschließen. Wir müssen dabei sicherstellen, dass
wir die Grundlagen, die wir nutzen wollen, nicht zerstören.
({6})
Durch Information und Aufklärung sowie durch eine
gute Beschilderung und Besucherlenkung kann viel für
den Schutz der Natur erreicht werden. Wir fordern deshalb integrierte Schutz- und Nutzungskonzepte, an deren Erstellung Wassersportler und Naturschützer gleichermaßen beteiligt werden. Davon war in Ihrem Antrag
nichts zu lesen.
({7})
Wir haben gelernt, dass der Wassertourismus ein interessanter Wirtschaftsfaktor ist. Wassertourismus bietet
aber noch mehr. Er hat auch eine wichtige soziale Komponente. Denn gerade die Vielfalt dieses Segments ermöglicht nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen die
Teilnahme. Nicht nur sportlich aktive, sondern auch in
ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen, Senioren, Familien mit Kindern und Menschen mit kleinem Geldbeutel können Angebote in, an und auf dem Wasser nutzen.
Ich fasse zusammen: Es gibt gute Gründe, den Wassertourismus in Deutschland mit Nachdruck zu fördern.
Wir kurbeln die Wirtschaft an, schaffen Arbeitsplätze,
stärken strukturschwache Regionen und schaffen attraktive Urlaubs- und Freizeitangebote für alle. Packen wir
es gemeinsam an!
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2667 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Wohngeld- und Mietenbericht 2002
- Drucksache 15/2200 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Die Kollegin Petra Pau hat darum gebeten, ihre Rede
zu Protokoll geben zu können1), wie sie es auch schon
bei Tagesordnungspunkt 9 - verbesserter Schutz der Pri-
vatsphäre - getan hat, was wir hiermit im Protokoll fest-
halten2). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall.
Dann eröffne ich jetzt die Aussprache für diejenigen,
die ihre Redezeit nutzen wollen. Als erster Redner hat
der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann
das Wort.
1) Anlage 5
2) Anlage 4
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung berichtet dem Bundestag regelmäßig über die Entwicklung der Mieten und die
Durchführung des Wohngeldgesetzes. Der vorliegende
Wohngeld- und Mietenbericht 2002 umfasst den Zeitraum von 1999 bis 2002.
Die Mitte der 90er-Jahre eingetretene Entspannung
der Wohnungsmärkte hat sich auch im Berichtszeitraum
in den meisten Regionen fortgesetzt. Dies zeigt sich in
der moderaten Mietenentwicklung. Der Mietenindex
netto kalt ist während des Berichtszeitraums mit maximalen jährlichen Steigerungsraten von 1,4 Prozent nur
geringfügig gestiegen. Im Vergleich mit der Mietenentwicklung der letzten Berichtsperiode ist eine deutliche
Preisberuhigung bis 2003 erkennbar.
Der Neubauboom Mitte der 90er-Jahre hat nicht nur
kurzfristig die damals bestehenden Versorgungsengpässe
beseitigt. Die anhaltend moderate Mietenentwicklung signalisiert, dass auch bei reduzierter Neubautätigkeit die
Wohnungsmärkte im Allgemeinen weiterhin entspannt
sind.
Die Unterschiede zwischen den einzelnen regionalen
Wohnungsmärkten vertiefen sich aber zusehends. Auf
der einen Seite gibt es Wachstumsregionen wie München und andere westdeutsche Ballungsräume, die infolge einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und regionaler Bevölkerungszuwächse überdurchschnittliche
Mietsteigerungen aufweisen. Auf der anderen Seite signalisieren die umfangreichen Wohnungsleerstände in
den neuen Bundesländern und teilweise auch in westdeutschen Städten einen dauerhaften Angebotsüberhang
im Geschosswohnungsbereich mit schwerwiegenden
Belastungen für Stadtentwicklung und Wohnungswirtschaft. Der Wohnungsleerstand hat sich jedoch in den
neuen Bundesländern im Zeitraum von 1998 bis 2002
nur moderat um circa 140 000 auf 1,1 Millionen Wohnungen erhöht, übrigens mit deutlichen Unterschieden
zwischen den einzelnen neuen Bundesländern. Im Berichtszeitraum und auch in jüngster Zeit, das heißt im
Jahr 2003 und im laufenden Jahr 2004, hat sich die Leerstandszunahme aber deutlich verlangsamt.
Wichtige Wohnungsversorgungsindikatoren haben
sich verbessert. Die Zahl der Eigentümerhaushalte hat
enorm zugenommen. Die Eigentümerquote ist bundesweit um über 8 Prozent gestiegen. In den alten Bundesländern ist sie um 7,2 Prozent auf 44,6 Prozent und in
den neuen Bundesländern um 13 Prozent auf 34,2 Prozent aller Haushalte gestiegen. Bei Familien mit Kindern
liegt die Eigentümerquote bei fast 48 Prozent. Hier ist
ein deutlicher Zuwachs in den letzten Jahren erfolgt.
Schwerpunkt des Berichts ist aber die am 1. Januar
2001 in Kraft getretene Wohngeldnovelle. Auf sie können wir wirklich stolz sein; denn hier haben wir einiges
bewegt. Wohngeld ist ein unverzichtbares Element einer
grundsätzlich marktwirtschaftlich ausgerichteten und sozial verantwortlichen Wohnungspolitik, das sich durch
hohe soziale Treffsicherheit, ökonomische Effizienz und
Verlässlichkeit für den Bürger auszeichnet. Wohngeld ist
aber nur dann ein taugliches Instrument, wenn wir es
von Zeit zu Zeit überprüfen und es bei steigenden
Mieten entsprechend anpassen. Bis 1990 wurden Anpassungen im Abstand von jeweils drei bis vier Jahren vorgenommen. Aber in den 90er-Jahren ist von der Vorgängerregierung keine weitere Anpassung vorgenommen
worden mit der Folge einer massiven Verschlechterung
der Leistungsfähigkeit dieses Instrumentes.
Mit der neuen Wohngeldnovelle haben wir nun - das
habe ich schon erwähnt - deutliche Verbesserungen erzielen können. Ich möchte das mit einigen wenigen Zahlen unterlegen. Der durchschnittliche Wohngeldanspruch
bestehender Empfängerhaushalte, das heißt der Haushalte, die bereits vor der Reform Wohngeld erhielten, erhöhte sich in den alten Bundesländern um rund 42 Euro
auf 122 Euro monatlich und in den neuen Bundesländern
- hier lag der Wohngeldanspruch aufgrund der vorher
bestehenden Mietensituation schon höher - um rund
7 Euro auf rund 97 Euro monatlich. Bei Empfängern, die
2001 erstmals oder wieder Wohngeld erhielten, belief
sich der durchschnittliche Wohngeldanspruch in den alten Bundesländern auf rund 32 Euro pro Monat und in
den neuen Bundesländern auf rund 22 Euro pro Monat.
Interessant ist die Zahl der Empfängerhaushalte. Dazu
sagt der Bericht Folgendes aus: Bundesweit stieg die
Anzahl der Haushalte, die Empfänger von allgemeinem
Wohngeld sind, 2001 im Vergleich zu 1998 um rund
332 000, also um 22 Prozent auf 1,83 Millionen an. Damit erhielten rund 4,8 Prozent aller Haushalte in
Deutschland ein angemessenes allgemeines Wohngeld.
Im Jahr 2000, also vor der Reform, waren das noch
3,9 Prozent.
Beim besonderen Mietzuschuss sank die Zahl der
Empfängerhaushalte 2001 um rund 350 000 auf
insgesamt etwa 992 000. Dieser Rückgang ist im Wesentlichen eine Folge der Reform, die aufgrund der notwendigen Neuberechnung des Wohngeldes bei Sozialhilfeempfängerhaushalten eine statistische Bereinigung
nach sich zog. Bei dieser Gelegenheit haben wir auch
sehr viele Ungereimtheiten in der Statistik beseitigen
können. Der durchschnittliche Wohngeldanspruch pro
Monat liegt nach der Reform beim besonderen Mietzuschuss bei 166 Euro in den alten Bundesländern und bei
136 Euro in den neuen Bundesländern.
Die Überschreiterquote, das heißt die Quote derjenigen, deren Miete so hoch ist, dass sie bei der Bemessung
des Wohngeldanspruchs nicht voll berücksichtigt werden kann, war beim Tabellenwohngeld auf rund
77 Prozent angewachsen. Wir haben sie durch die Reform auf rund 50 Prozent in den alten Bundesländern gesenkt. Mehr war aufgrund der Tatsache, dass man zehn
Jahre lang nichts gemacht hat, einfach nicht möglich;
denn das wäre nicht finanzierbar gewesen.
Insgesamt kann der Bericht durchaus Erfolge verzeichnen. Auf diesen werden wir aufbauen, wenn wir
das, was in Zukunft im Mieten- und Wohngeldbereich
notwendig ist, anpacken werden.
Zum Schluss möchte ich noch daran erinnern, dass
wir im Rahmen des Hartz-IV-Gesetzes die Wohngeldregelungen umfassend reformieren. Der nächste
Wohngeld- und Mietenbericht wird also sicherlich wieder interessante Details beinhalten.
Das Ganze ist eine etwas trockene Materie, zumal
dann, wenn man einige Zahlen referieren muss. Aber wir
haben vielleicht im Ausschuss die Gelegenheit, darüber
lebhafter zu diskutieren.
({0})
- Selbst der Vorsitzende des Ausschusses erteilt ein Lob.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gero Storjohann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über den Wohngeld- und
Mietenbericht 2002. Ich möchte vorab die Gelegenheit
wahrnehmen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Ministeriums für die Erstellung dieses Berichts, der für
uns Wohnungspolitiker wichtige Strukturdaten enthält
und der auch wichtige Entwicklungen aufzeigt, herzlich
zu danken.
Wohnen ist ein Grundbedürfnis.
({0})
Mit den politischen Entscheidungen im Bundestag oder
in der Regierung greift man in das Spiel der Kräfte auf
dem Wohnungsmarkt erheblich ein. Auch deswegen ist
es gut und - auch zur eigenen Kontrolle - unerlässlich,
dass wir von der Regierung regelmäßig informiert werden. Der Parlamentarische Staatssekretär hat auf das
Wort „regelmäßig“ natürlich Wert gelegt. Dieser Begriff
ist dieses Mal etwas gedehnt worden, weil wir, die Parlamentarier, einer Verlängerung der Frist um ein halbes
Jahr zugestimmt haben, da es bei der Datenermittlung
erhebliche Probleme gab.
Insgesamt wird in diesem Bericht festgestellt, dass
sich die Wohnungsmärkte in Deutschland aus der Sicht
der Nachfrager in einer sehr günstigen Verfassung präsentieren. Die überwiegende Zahl der Haushalte sei mit
Wohnraum gut bis sehr gut versorgt. In den meisten Regionen sehe man sich einem umfangreichen Angebot zu
erschwinglichen Mieten gegenüber.
Was die Bundesregierung hier feiert, stellt jedoch in
Wirklichkeit auch eine gewisse Gefahr dar. Wir Wohnungspolitiker kennen den Schweinezyklus. Unser Bestreben war es immer, dem entgegenzuwirken. Wir müssen jetzt Investoren finden, die es in dieser entspannten
Marktsituation reizvoll finden, in den Bau neuer Wohnungen zu investieren. Anstatt den Status quo zu loben,
muss die Bundesregierung also Signale für Investoren
setzen, damit sie auch in Zukunft auf dem Mietwohnungsmarkt zuverlässig auftreten können.
Aber auch bei einem anderen Punkt, nämlich bei den
Wohnnebenkosten, werden keine Lösungen bestehender Probleme aufgezeigt. In den letzten zehn Jahren stieg
der Anteil der Wohnnebenkosten an der Bruttomiete
überproportional an. Dafür gibt es Gründe. Welche sind
das? Zum Beispiel sind die Gaspreise seit 1999 um
40 Prozent gestiegen, die Preise für flüssige Brennstoffe
um 37 Prozent und die Kosten von Strom und Müll um
über 8 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind im Zeitraum 1999 bis 2003 um immerhin 6,4 Prozent gestiegen.
Die Wohnnebenkosten sind in diesem Zeitraum hingegen um 7 Prozent angewachsen.
Die Gründe für die steigende Kostenbelastung der
Mieter sind von Rot-Grün politisch gewollt. Ständige
Anhebungen von Standards, zum Beispiel in der Umwelttechnik, die damit einhergehende Anhebung der
kommunalen Gebühren und die Einführung der Ökosteuer wirken sich auf die Kostenstruktur der Mieterhaushalte erheblich aus.
({1})
Aber nicht nur die Mieter, sondern auch die Vermieter
sind an niedrigen Nebenkosten interessiert. Hohe Betriebskosten verringern die Bereitschaft zur Zahlung der
Miete und führen zu verwaltungsaufwendigen Abrechnungen. Bei der Frage nach der Finanzierbarkeit angemessener Wohnungen muss natürlich auch die Wirkung
des Wohngeldes einbezogen werden.
Im Wohngeld- und Mietenbericht 2002 betont die
Bundesregierung, dass durch die am 1. Januar 2001 in
Kraft getretene Wohngeldreform der Kreis der Empfängerhaushalte erweitert wurde. 3,1 Millionen Haushalte
- das macht circa 8 Prozent aller deutschen Haushalte
aus - empfingen 2002 Wohngeld. Im Jahre 2002 wurden
4,5 Milliarden Euro an Wohngeld je zur Hälfte vom
Bund und den Ländern gezahlt, davon 3,5 Milliarden
Euro in den alten und 1 Milliarde Euro in den neuen
Ländern.
Die Art der Darstellung im Bericht vermittelt den
Eindruck, die Bundesregierung sei auf diese Entwicklung stolz. Darin kommt jedoch zum Ausdruck, dass die
rot-grüne Wirtschaftspolitik gescheitert ist. Massenarbeitslosigkeit und Nullwachstum schlagen sich unmittelbar in der Höhe des Wohngelds und in der Anzahl der
Wohngeldempfänger nieder.
({2})
Die wachsende Zahl von Wohngeldempfängern ist
nichts anderes als das Ergebnis einer gescheiterten Wirtschaftspolitik von Rot-Grün.
Der Wohngeldbetrag in Deutschland beläuft sich im
Durchschnitt auf 102 Euro. In den alten Ländern belief
er sich auf 109 Euro. In den neuen Ländern blieb er mit
89 Euro weitgehend gleich. Besonders Ein- und ZweiGero Storjohann
personenhaushalte sind Empfänger von Wohngeld. Immer mehr Menschen können ihre Miete nicht mehr allein
aufbringen und sind daher auf Wohngeld angewiesen.
In Ihrem Koalitionsprogramm haben Sie eine Verbesserung des Wohngeldes für die laufende Legislaturperiode
in Aussicht gestellt. Im Dezember 2003 fühlte sich die
Bundesregierung wegen des starken Anstiegs der Wohngeldausgaben von Bund und Ländern aber zu deutlichen
Einsparungen angeregt.
Durch den Beschluss des Vermittlungsausschusses
vom 15. Dezember letzten Jahres wurde festgelegt, dass
die Bundesregierung das Wohngeldrecht mit dem Ziel
deutlicher Einsparungen strukturell überarbeiten wird.
Dies hat sicherlich eine nachhaltige Kürzung des
Wohngelds für den Zeitraum ab 2005 zur Folge. Seitdem ist allerdings unklar, was mit dem Wohngeld wirklich geschehen soll.
Auf meine Anfrage antwortete die Bundesregierung
am 14. April, die Prüfung, auf welche Weise die Umsetzung der auf die Haushaltsjahre ab 2005 bezogenen Protokollerklärung erfolgen könne, sei innerhalb der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen.
Daraufhin mahnte der Mieterbund an, keine Kürzungen beim Wohngeld vorzunehmen. Sofort meldete sich
der Herr Minister Stolpe zu Wort und erklärte, er halte
Wohngeldkürzungen für nicht vertretbar. So wie wir die
Standhaftigkeit unseres Ministers und seinen Umgang
mit semantischen Feinheiten kennen, müssen wir davon
ausgehen, dass im Ministerium bereits intensiv an einer
Wohngeldkürzung gearbeitet wird.
Das Parlament und die Öffentlichkeit erwarten, dass
in naher Zukunft klar aufgezeigt wird, was Sie bezüglich
des Wohngeldes wollen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Regieren
Sie, handeln Sie, schaffen Sie Klarheit beim Wohngeld!
Dann ist uns allen wohler.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska
Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Storjohann, zunächst kurz
der Hinweis: Sie sollten sich das Ökosteuerrecht einmal
anschauen. Die Heizkosten sind von der Ökosteuer nur
minimal betroffen. Beim Benzinpreis ist das etwas anderes.
({0})
Man sollte schon genauer hinschauen, wenn man über
die Heizkostenentwicklung redet.
({1})
Zum Thema. Wir sollten uns darüber freuen, dass der
Bericht tatsächlich hergibt, was inzwischen eigentlich jeder im Alltag spürt, nämlich dass in weiten Teilen von
Deutschland die Wohnungsmärkte wirklich entspannt
sind und dass es Wohnungsengpässe nur noch in den
großen Wachstumszentren - in der Münchner Region, in
Stuttgart, in Frankfurt/Main, in Düsseldorf und im Hamburger Raum - gibt. Ansonsten - auch das zeigt der
Wohngeld- und Mietenbericht sehr deutlich - ist die
Wohnsituation gut bis sehr gut. In Ostdeutschland gibt es
sogar einen bedrohlichen Wohnungsüberschuss. Einerseits sollte man das positiv bewerten und nicht daran herummäkeln, aber andererseits sollte man prüfen, was
daraus politisch folgt.
Bevor ich dazu ein paar Sätze sage, zum Wohngeld
noch einmal ganz klar Folgendes: Das Wohngeld ist gerade auch seit der Wohngeldnovelle von 2001 ein ganz
zentrales Instrument für Haushalte mit niedrigem Einkommen. Von allen Seiten wird anerkannt, dass es in der
Relation von Mietbelastung, Wohnungsgröße, Haushaltsgröße und Einkommen die treffsicherste Form der
Subvention ist. Dabei kommt es nur zu einem Minimum
an Fehlsubventionen - im Unterschied zu vielen anderen
Subventionen, die bis heute noch gewährt werden. Von
daher sage ich auch in Ihre Richtung ganz deutlich, dass
ich die Empfehlung des Vermittlungsausschusses, das
Wohngeld zu kürzen, aus sozialpolitischen Gründen
nicht für verantwortbar halte.
Jetzt noch ein paar Sätze zu Herrn Storjohanns Angst
vor dem Schweinezyklus. Wenn Sie sich nicht nur die
Wohnungsbestände, die ja überwiegend morgen nicht
abgerissen und verschwunden sein werden, sondern bei
Bedarf auch wirklich bewohnt werden, sondern auch die
demographische Entwicklung anschauen, die uns in den
nächsten zehn, zwanzig bzw. dreißig Jahren erwartet,
dann dürften Sie keinen Grund mehr finden, hier Angst
vor einem Schweinezyklus zu wecken. Vielmehr müssten Sie aufgrund der Aussagen dieses Wohngeld- und
Mietenberichts zu dem Schluss kommen, dass die Politik
die quantitative Ausweitung des Wohnungsangebotes
nicht fördern darf. Demzufolge haben wir nämlich eine
gute bis sehr gute Wohnversorgung, sowohl bezüglich
der Quadratmeterzahl pro Einwohner als auch bezüglich
der Wohnqualität aller Schichten der Bevölkerung, und
das obendrein zu tragbaren Bedingungen. Beispielsweise ist allein die Belastung des Einkommens für
Wohnzwecke in den alten Bundesländern von 25 Prozent
im Jahre 1998 auf inzwischen 22,2 Prozent gesunken.
Tatsächlich ist es so, dass der Miet- bzw. Wohnkostenanstieg geringer ausfällt als die Entwicklung der Lebenshaltungskosten.
Von daher möchte ich noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass der demographische Wandel in den Blick
zu nehmen ist. Da ich nach wie vor der Marktwirtschaft
positiv gegenüberstehe, müssen sich meiner Meinung
nach als allererstes die Eigentümer und Grundbesitzer
diese Zeichen der Zeit zu Eigen machen. Das heißt, sie
müssen sich in neuer Weise auf Konkurrenz einstellen
und deshalb ihre Wohnungsbestände für die Zukunft fit
machen. Das heißt, auf der einen Seite muss der Wohnstandard angepasst werden, indem sie modernisiert werden, damit dieses Wohnungsangebot auch nachgefragt
wird. Auf der anderen Seite muss gleichzeitig die energetische Sanierung - das sage ich als Mitglied der Grünen, die sich ja für eine umfassende Förderung solcher
Maßnahmen eingesetzt haben - vorangetrieben werden.
Wenn die Wohnungen so auf Vordermann gebracht werden, sinken die Wohnnebenkosten so, wie Sie es sich
eben gewünscht haben. Ich glaube, es gibt kein besseres
Instrument als ein solches, welches gleichzeitig für eine
Senkung der Heizkosten und des CO2-Ausstoßes sorgt.
Das halte ich für sehr wichtig.
({2})
- Wir machen nicht das Gegenteil.
Ich glaube, dass auch die Kommunen das sehr ernst
nehmen sollten. Insbesondere die Städte müssen aufpassen, dass sie nicht durch Siedlungserweiterungen im
Umland geschwächt werden, denn in dem Moment, da
die Wohnungsmärkte ausgeglichen sind, stellt jeder weitere Neubau eine Schwächung des Siedlungsbestandes
dar. Von daher fordert dieser Wohngeld- und Mietenbericht auch ein Stück weit Kommunen, Länder und Bund
dazu auf, für ein Ende der Zersiedlung, die den Siedlungsbestand weiter schwächen würde, zu sorgen. Ich
halte es nämlich für sehr wichtig, dass der Siedlungsbestand gestärkt wird.
Ich möchte zum Schluss noch etwas zur Bauwirtschaft sagen. Natürlich spiegelt dieser Bericht auch ein
Stück weit die Schwierigkeiten in der Bauwirtschaft wider. Ich halte es politisch aber nicht für verantwortlich,
einzig und allein zum Nutzen der Bauwirtschaft wieder
mehr Neubau zu fördern. Ich halte es aber sehr wohl für
richtig - das tun wir auch -, energetische Sanierung und
Stadtumbau in Richtung einer sozialen Stadt zu fördern.
Das sind im Gegensatz zur Forderung nach Siedlungserweiterung richtige Instrumente zur Stärkung des Bestandes, Herr Storjohann.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eberhard Otto.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann
dem, was Sie, Herr Staatssekretär, gesagt haben, insgesamt nicht so folgen.
({0})
- Moment. - Ich bin Abgeordneter des Deutschen Bundestages und habe zugleich ein kleines Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern, und zwar in Mecklenburg-Vorpommern.
({1})
Ich weiß, wovon ich hier rede. Deswegen kann ich feststellen, dass es sich hierbei um ein ganz brisantes Thema
handelt. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass dieses
Thema nicht erst heute Abend, da wir alle schon ein wenig müde sind, hier behandelt wird, sondern schon heute
Vormittag behandelt worden wäre. Insgesamt ist es nämlich ein ganz heißes Thema.
Wohngeld hat ja in den neuen Bundesländern eine
weitaus größere Bedeutung als in den alten Bundesländern. So beträgt der Anteil der Wohngeldempfänger in
den neuen Ländern 11,6 Prozent gegenüber 6,4 Prozent
in den alten Ländern. Wenn ich dann sehe, dass der Anteil gerade erst auf 11,6 Prozent gestiegen ist, weil aufgrund der miserablen Gesamtlage der Wirtschaft auch
die Zahl von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern
gestiegen ist, muss ich diese Zahl natürlich gesondert
werten.
Auch bei Neuregulierungen und Veränderungen geht
es um Zahlenspiele. Ich habe insbesondere in den letzten
Jahren die Situation beim Wohngeld beobachten können.
Ich habe heute eine Reihe von Stunden damit verbracht,
viele Bürgermeister anzurufen, um sie zu fragen, wie sie
die Entwicklung sehen; denn ab nächstem Jahr wird die
Zahl der Wohngeldberechtigten in den neuen Bundesländern leider sehr stark zunehmen. Das hat dann auch Auswirkungen auf die Finanzen der Kommunen. Kein
Bürgermeister konnte mir heute eine Antwort auf die
Frage geben, wie das Problem insgesamt gelöst werden
soll.
({2})
Der erhöhte Bedarf an Wohngeld stellt für die Kommunen ein Problem dar.
({3})
Das heißt, es wird eine endlose Kette ausgelöst: Der
arme Mieter, der das Geld vorher nicht hatte, hat es auch
jetzt nicht, bekommt aber teilweise kein Wohngeld mehr.
Wo bleibt das Problem hängen? - Es bleibt beim Eigentümer der Wohnung hängen. Ich habe 1993 den Kommunen Wohnungen abgekauft, sie saniert und sie dann den
Kommunen als Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt. Wenn der Mieter nun aufgrund seines geringen
Einkommens die Miete nicht zahlen kann - ich habe das
selber überprüft und festgestellt, dass es genau so ist:
Viele Mieter haben das Geld nicht -, aber aus dem Kreis
derjenigen herausfällt, die Wohngeld bekommen, entsteht ein Problem: Die Mietschulden bleiben beim Eigentümer, also bei der Kommune oder bei Privatleuten,
die eine Wohnung bereitgestellt haben, hängen.
Deswegen kann ich mit Blick auf die Kommunen nur
fordern, die finanzielle Versorgung auf diesem Gebiet
entsprechend zu regulieren.
({4})
Eberhard Otto ({5})
Wir sind als FDP für den Abbau von Subventionen; das
ist insgesamt okay. Aber wir sind für einen sinnvollen
Abbau. Insbesondere im Osten, beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, wäre eine weitere Reduzierung
des Wohngeldes oder eine nicht genügende Absicherung
tödlich.
Dann gibt es eine weitere Regelung, die ebenfalls beachtet werden sollte - sie wird in Deutschland sehr unterschiedlich gehandhabt -, nämlich dass das Wohngeld
direkt dem Eigentümer bzw. dem Betreiber zur Verfügung gestellt wird, um eine Zweckentfremdung zu vermeiden.
Ein weiteres großes Problem ist der Leerstand.
Herr Kollege, beachten Sie bitte, dass Ihre Redezeit
weit überschritten ist.
Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern ein wahnsinnig großes Problem durch die Abwanderung. Das hat
zu sehr viel Leerstand geführt, der sich regelmäßig erhöht.
Ein Satz noch zu den Mietpreisen in MecklenburgVorpommern. Die Wohnungen werden zurzeit für 3 bis
4 Euro pro Quadratmeter vermietet. Teilweise liegen die
Betriebskosten - es wurde schon gesagt - höher als die
Nettokaltmiete. Das kann nicht sein. Wir müssen dafür
kämpfen, dass hier Veränderungen vorgenommen werden, denn Wohnen bedeutet Leben.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Spanier.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Erstes:
Ich habe nicht ganz verstanden, Herr Otto, was Sie hier
eigentlich kritisiert bzw. vorgeschlagen haben. Dass sich
die Wohngeldsituation nach der Wohngeldnovelle 2001
auch in den neuen Bundesländern verbessert hat, dass
sich in der Zwischenzeit weder an den Einkommensgrenzen noch an der Höhe etwas geändert hat, das können Sie doch nicht beklagen.
({0})
Ein Zweites: Es sind nicht die Kommunen, die zum
allgemeinen Wohngeld einen Beitrag leisten müssen,
sondern diese Kosten teilen sich Bund und Länder. Ich
habe daher nicht so ganz verstanden, wie Sie den Eindruck gewinnen konnten, es könne nicht genügend
Wohngeld gezahlt werden, weil die Kommunen dazu
nicht in der Lage seien. Darüber müssen wir im Ausschuss oder an anderer Stelle vielleicht noch einmal in
Ruhe reden.
Der Wohngeld- und Mietenbericht ist nicht ein Bericht unter vielen, sondern er hat einen ganz besonderen
Stellenwert. Immerhin sind 57 Prozent der 39 Millionen
Wohnungen in Deutschland Mietwohnungen. Rund
3,2 Millionen Haushalte beziehen allgemeines bzw. besonderes Wohngeld.
Es ist schon darauf hingewiesen worden - die Zahlen
sind genannt worden -, dass es im Zeitraum 1999 bis
2002 einen sehr moderaten Anstieg der Mieten gegeben
hat. Das ist erfreulich. Aber Herr Storjohann, eine gleiche Entwicklung ergab sich bei den Wohnnebenkosten.
1998 betrug der Anstieg immerhin noch 3,6 Prozent. Er
ist aber deutlich zurückgegangen. Er lag 2002 lediglich
bei 1,3 Prozent. In den 90er-Jahren gab es zwar deutliche Steigerungsraten. Aber diese haben sich glücklicherweise nach unten entwickelt. Ich glaube, dieses Ergebnis, das ebenfalls im Bericht enthalten ist, können wir
durchaus mit Freude zur Kenntnis nehmen.
Auf die Entspannung des Wohnungsmarktes ist schon
hingewiesen worden. In der Tat haben wir eine gute
Wohnraumversorgung. Dennoch möchte ich auf Folgendes hinweisen: In dem Zeitraum, der dem Bericht zugrunde liegt, ist die Bevölkerung lediglich um
0,6 Prozent gewachsen, aber die Zahl der Haushalte immerhin um 2,5 Prozent. Das heißt, 300 000 Haushalte
mehr haben Wohnungen nachgefragt. Diesen Effekt
müssen wir in den nächsten zehn Jahren bei unseren
wohnungspolitischen Entscheidungen im Hinterkopf haben.
Diese Situation auf dem Wohnungsmarkt hat natürlich dazu geführt, dass die Zahl der fertig gestellten
Wohneinheiten von 473 000 im Jahre 1999 auf
290 000 im Jahre 2002 gesunken ist. Angesichts dieser
guten Wohnraumversorgung kann ich überhaupt nicht
verstehen, dass Sie, Herr Storjohann, anmahnen, wir
sollten besondere finanzielle Anstrengungen unternehmen, um Investitionen im Mietwohnungsbau anzuregen. Wo wollen Sie diese Wohnungen bauen und an wen
wollen Sie sie vermieten? In den neuen Bundesländern
mit absoluter Sicherheit nicht.
Wir haben in einigen kleinen Bereichen noch Bedarf
an neuen Wohnungen. Aber ansonsten ist der Wohnungsmarkt flächendeckend ausgeglichen. Es ist vollkommen richtig, was Frau Eichstädt-Bohlig hier gesagt
hat. Wir müssen uns von der Vorstellung der 80er- und
90er-Jahre lösen, es komme beim Wohnungsbau auf die
Quantität an. Diese Zeiten sind vorbei. Wir brauchen in
einigen Ballungszentren jährlich sicherlich eine gewisse
Zahl an neuen Wohnungen, damit es eine Erneuerung
des Wohnungsbestandes gibt.
({1})
Wenn Sie aber, Herr Friedrich, zu Ihrem Bürgermeister
gehen und ihm anbieten, 10 Millionen Euro in den sozialen Wohnungsbau zu investieren, dann wird er dankend
darauf verzichten, weil die Märkte nun einmal ausgeglichen sind. Es wird immer stärker darauf ankommen,
dass wir die Qualität des Wohnungsbestandes verbessern.
Dabei geht es nicht nur um die energetische Modernisierung.
Ich möchte noch auf das Wohngeld eingehen und
Herrn Großmann deutlich in seiner Auffassung unterstützen, dass das Wohngeld eine besondere Bedeutung
hat. Haushalte mit weit unterdurchschnittlichem Einkommen beziehen Wohngeld. Es ist durch die Wohngeldnovelle 2001 sozial deutlich treffsicherer geworden.
Auch das ist ein Ergebnis im Bericht, das wir erfreut zur
Kenntnis nehmen können.
({2})
Es war damals vereinbart worden, diese Novelle zu
evaluieren. Ich glaube, die Ziele, die wir damals gehabt
haben - nämlich Verbesserung der Wohngeldleistung,
Vereinheitlichung des Wohngeldes Ost und West sowie
Rechtsvereinfachung -, haben wir in der Tat erreicht,
auch was die Rechtsvereinbarung betrifft. Die Bundesländer haben sich entsprechend geäußert.
Es ist richtig, wir haben einen Beschluss im Vermittlungsverfahren gefasst. Wir alle haben am 19. Dezember
2003 - da können Sie sich so wenig aus der Verantwortung ziehen wie wir - diese Protokollerklärung in namentlicher Abstimmung beschlossen.
({3})
Allerdings enthält diese Protokollerklärung keine Aussage dazu, dass das allgemeine Wohngeld gekürzt werden soll. Es heißt dort vielmehr, dass es beim Wohngeld
zu strukturellen Veränderungen mit einem Einspareffekt
kommen soll. Es wird aber zu einer völligen Umkrempelung des Wohngeldes kommen, weil das Wohngeld für
Sozialhilfeempfänger, also der Fünfte Teil des Wohngeldgesetzes, durch Hartz IV völlig wegfällt. Ich glaube,
dass schon dies eine deutliche strukturelle Veränderung
ist und zu einem entsprechenden Einspareffekt führt.
Wir sollten uns auf das besinnen, was wir am
19. Dezember 2003 beschlossen haben. Ich sehe keinen
konkreten Auftrag und Beschluss, das Wohngeld zu kürzen.
Herr Kollege, denken auch Sie bitte an die Zeit!
Sehr verehrte Frau Präsidentin, ich komme zum
Schluss. - Dieser Bericht zieht, was die Entwicklung der
Mieten und des Wohngeldes in Deutschland betrifft, eine
positive Bilanz. Darüber können wir alle nur froh sein.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Spanier, wir reden vom Mietenbericht 2002 und nicht
vom 19. Dezember 2003. Denn der Wohngeld- und Mietenbericht belegt doch, dass die rot-grüne Bundesregierung die Rahmenbedingungen erneut so verschlechtert
hat, dass sich Kapitalanleger weiter aus dem Wohnungsbau zurückgezogen haben. Auch die Änderungen im
Mietrecht fördern das Vertrauen der Investoren nicht.
Investitionen in den Wohnungsbau hängen nicht
nur von der staatlichen Förderpolitik, sondern im Wesentlichen auch von den rechtlichen und steuerlichen
Rahmenbedingungen ab. Die Bundesregierung muss ein
wirtschaftliches und rechtliches Klima schaffen, in dem
sich die Bürger selbst mit Wohnraum versorgen können.
Der vorgelegte Wohngeld- und Mietenbericht zeigt
doch: Dieses Klima hat sich auf Bundesebene seit dem
Regierungswechsel 1998 kontinuierlich verschlechtert.
({0})
Die seit Jahren festzustellende Stagnation bei privaten
Investitionen insbesondere in den Mietwohnungsbau ist
hierfür die klare Quittung. Die Wohnraumförderung leistet insoweit einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Balance und zum Erhalt des sozialen Friedens. Sie haben
früher von uns wesentlich mehr Mittel dafür verlangt.
Zudem muss den so genannten Schwellenhaushalten
die Bildung von Wohneigentum ermöglicht werden. Die
Koalition unterschätzt den Umfang der Wohneigentumsförderung. Die Wohneigentumsförderung macht
zum Beispiel in Bayern rund zwei Drittel der Wohnraumförderung aus. Sie ist für Familien und als Beitrag
zur Altersversorgung von erheblicher Bedeutung. Wir
messen dem selbst genutzten Wohneigentum einen hohen sozialpolitischen Rang bei. Es bietet nämlich wirtschaftliche Unabhängigkeit
({1})
und unterstützt wie kaum eine andere Geldanlage die
Vermögensbildung und damit die Altersvorsorge. Die
Koalition hat dies bisher leider noch nicht begriffen.
Die bisherige Entwicklung der Wohngeldausgaben
zeigt eindrücklich die damit verbundene Belastung des
Staatshaushalts. Allein der Freistaat Bayern zahlte im
Jahr 2003 357 Millionen Euro Wohngeld aus - fast doppelt so viel wie vor zehn Jahren; damals waren es nämlich noch 188 Millionen Euro -, um ein angemessenes
und familiengerechtes Wohnen zu sichern. Damit ist eine
neue traurige Rekordhöhe erreicht. Eine Trendwende ist
nicht absehbar. Die verfehlte Steuer- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen, insbesondere Alleinerziehende, auf
Wohngeld angewiesen sind.
Ein Tiefpunkt rot-grüner Politik war sicherlich die
Mietrechtsreform im Jahre 2001
({2})
mit ihrer einseitigen Benachteiligung von Vermietern
und damit von Investoren. Der Einwand der Regierungskoalition, mit der Reform werde immerhin einem umfassenden Mieterschutz Rechnung getragen, ist ideologisch
gefärbt, aber auch kurzsichtig. Denn bleiben bei einer
solchen Verschlechterung der Rahmenbedingungen die
Investitionen in den Mietwohnungsbau aus, bricht damit
auch der Mietermarkt zusammen. Erschwingliche Wohnungen werden dann Mangelware, was letztendlich auch
auf die Mieter zurückfällt.
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, der tatsächliche
Bedarf an Wohnungen kann in nächster Zeit steigen,
wenn es aufgrund der EU-Osterweiterung zu einer verstärkten Zuwanderung kommt. Das Ifo-Institut schätzt,
dass in den ersten 15 Jahren nach der EU-Osterweiterung rund 500 000 Personen aus den neuen EU-Staaten
allein nach Bayern kommen werden.
({3})
Das Ifo-Institut erwartet, dass sich diese Zuwanderungsströme nicht gleichmäßig verteilen, sondern vor allem
auf die Ballungsräume konzentrieren werden. Gerade in
den Ballungsräumen besteht ohnehin der größte Neubaubedarf.
({4})
Das Etikett vom Schlusslicht in Europa haftet der
Bundesrepublik durch Rot-Grün nicht nur wegen
schlechter Wachstums- und Beschäftigungszahlen an.
Auch bei der Wohnungsbautätigkeit ist Deutschland
längst auf die letzten Ränge zurückgefallen. Im europäischen Vergleich ist Deutschland - 1996 waren wir noch
Vizeeuropameister ({5})
mit 3,19 Wohnungen je 1 000 Einwohner im Jahre 2002
inzwischen weit abgeschlagen.
Im Rahmen der Diskussion über den Wohngeld- und
Mietenbericht möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, auch das Thema Mietnebenkosten - der Kollege Storjohann hat schon darauf
hingewiesen - nicht ersparen. Fakt ist: Seit Einführung
der Ökosteuer, die für den überproportionalen Anstieg
der Heizöl- und Gaspreise verantwortlich ist, ist RotGrün zum Preistreiber Nummer eins bei den Wohnkosten der Mieter und der selbstnutzenden Wohneigentümer
geworden. Auch die Strompreise gehören in diese Reihe.
({6})
Dazu hört man vom zuständigen Minister bzw. vom
Staatssekretär allerdings nichts.
Bedenklich stimmt der Blick in die Zukunft: Immer
mehr Mieten werden nicht gezahlt und müssen auf dem
Gerichtsweg geltend gemacht werden.
Aus unserer Sicht hat Rot-Grün bis heute keine ausreichende Antwort auf die unterschiedlichen Entwicklungen und Probleme der regionalen Wohnungsmärkte
in Deutschland gefunden. Der vorliegende Bericht zeigt,
dass, wenn Vermieten uninteressant gemacht wird, Investitionen unterbleiben und die Mieten steigen. Wer
also wirklich etwas für die Mieter tun will, muss für ausreichend guten Wohnraum sorgen.
Gerade in einer Zeit schwacher Konjunktur und knapper Kassen ist es erforderlich, gemeinsam die Initiative
für einen innovativen Wohnungsbau zu ergreifen. Wir
brauchen eine Abstimmung zwischen Wohnungs-,
Steuer- und Mietenpolitik sowie stark verbesserte Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau
Frau Kollegin, denken bitte auch Sie an die Zeit!
- ich komme zum Schluss -, die in der rot-grünen Regierungszeit leider verloren gegangen sind, damit mehr
investiert wird und gerade junge Familien und einkommensschwächere Haushalte davon profitieren können.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2200 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Maria Böhmer, Maria Eichhorn, Antje
Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Arbeitsplätze im Bereich privater Dienstleistungen schaffen - Rahmenbedingungen für
Dienstleistungszentren und -agenturen verbessern
- Drucksache 15/2825 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Kollegen Barnett, Pawelski, Kurth und Niebel ha-
ben gebeten, ihre Reden zu diesem Punkt zu Protokoll
geben zu können.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall.
1) Anlage 6
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2825 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Günter Nooke, Dirk Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Keine toten Winkel bei Lastkraftwagen
- Drucksache 15/2823 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat wieder der
Herr Kollege Gero Storjohann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor wenigen Wochen ist es in Berlin erneut zu
zwei tödlichen Verkehrsunfällen gekommen. Wieder
wurden zwei Radfahrer von Lastkraftwagen, die nach
rechts abbogen, erfasst. Wieder konnten die LKW-Fahrer die Radfahrer nicht sehen, da sich diese im toten
Winkel ihrer Fahrzeuge befanden.
({0})
Diese beiden Unfälle zeigen nach Auffassung der
Unionsfraktion ganz deutlich: Es ist endlich Zeit zum
Handeln. Der tote Winkel muss schnell weg.
({1})
Deshalb hat die CDU/CSU-Fraktion mit einem Antrag
die Initiative ergriffen und einen Weg aufgezeigt, wie
wir dem toten Winkel schnell und umfassend zu Leibe
rücken können. Wir erfahren Unterstützung vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club und auch von den Spediteuren. Es gibt eine Lösung für das Problem: den so
genannten Dobli-Spiegel aus den Niederlanden.
In den Niederlanden waren bereits im Jahre 2002
50 Prozent der LKWs mit über 3,5 Tonnen zulässigem
Gesamtgewicht mit dem Dobli-Spiegel ausgerüstet. Dieser Spiegel wird auf der Beifahrerseite des Fahrzeuges
von außen angebracht. Es handelt sich um eine konvexe
Linse, durch die der tote Winkel von derzeit 38 Prozent
auf 4 Prozent verringert wird. Die Anzahl der schweren
und tödlichen Unfälle aufgrund des toten Winkels haben
sich in den Niederlanden im Jahre 2002, seit Einführung
des Spiegels fast halbiert. Seit Januar 2003 sind dort
sämtliche LKWs über 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgesicht mit dem so genannten Dobli-Spiegel ausgestattet.
Wegen der äußerst positiven Erfahrungen in den Niederlanden fordert die Union in dem heute zu beratenden
Antrag die unverzügliche Einführung dieses Spiegels in
Deutschland. Das zögerliche Herangehen des Verkehrsministeriums an die mit dem toten Winkel verbundene
Problematik hat uns in der CDU/CSU-Fraktion erstaunt.
Offensichtlich hat man nach dem Maut-Desaster in Ihrem Hause Gefallen daran gefunden, möglichst komplizierte und langwierige Lösungen zu verfolgen.
Wenn ich mir Ihre Pressemitteilungen vom 2. und
26. April ansehe, dann muss ich folgende Feststellungen
treffen:
Erstens. Sie wollen ebenfalls einen Weitwinkelspiegel einführen. Im Gegensatz zum von uns vorgeschlagenen Dobli-Spiegel verkleinert dieser den toten Winkel
aber nur auf etwa 19 Prozent. Außerdem wollen Sie diesen Spiegel erst ab 2005, und dann auch nur bei
Neufahrzeugen einführen. Ihre Argumentation, der
Dobli-Spiegel würde vibrieren und die Sicht nach vorne
einschränken, nehmen wir auf, gewichten die Argumente im Gesamtkontext aber anders.
Zweitens. Sie wollen sich bei der Einführung neuer
Spiegel ordentlich Zeit lassen.
({2})
Während wir mit unserem Antrag erreichen wollen, dass
der effektive Dobli-Spiegel unverzüglich eingeführt
wird, wollen Sie Ihren Weitwinkelspiegel über eine EGRichtlinie einführen. Das dauert erheblich länger.
Drittens. Die von Ihnen favorisierte EG-Richtlinie
sieht nur die Umrüstung der nach dem 1. Januar 2006
zugelassenen LKWs vor. Wenn Sie schon den von uns
bevorzugten Weg nach niederländischem Vorbild nicht
mitgehen wollen, dann frage ich Sie: Wann legt uns Ihr
Haus endlich die entsprechende Verordnung zur Umrüstung der im Verkehr befindlichen LKWs vor? Bis jetzt
hören wir nur Ankündigungen und Vertröstungen.
Viertens. Sie wollen nur LKWs ab 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht umrüsten. Offensichtlich haben
Sie überhaupt nicht vor, Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht mit einem zusätzlichen Spiegel
auszustatten, wie dies in den Niederlanden der Fall ist.
Warum Sie diese Unterscheidung vornehmen, ist für die
Union nicht nachvollziehbar.
Von den Grünen bekommen wir Unterstützung für unsere Position. Jedenfalls finden wir entsprechende Aussagen auf der Homepage von Frau Eichstädt-Bohlig.
({3})
Ich freue mich, dass wir bei dieser Problemstellung im
Sinne der Sache gemeinsam etwas Druck machen. Es
bleibt zu hoffen, dass wir auch den Minister und die
Staatssekretärin mit unserer Argumentation überzeugen
können.
Wir wollen eine Lösung, die sofort und nicht erst in
zehn oder 15 Jahren greift. Wir sind es unseren Familien
schuldig, dass sofort etwas geschieht. So mancher Unfall
hat Familien ins Unglück gestürzt. Wir Politiker sollten
das Machbare auch in Taten umsetzen.
({4})
Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Er wirkt - das ist für mich in diesem Fall ganz
entscheidend - sofort.
({5})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bedanke mich zunächst einmal ganz ausdrücklich dafür,
dass wir hier und heute über den toten Winkel sprechen.
Dieses Thema treibe ich seit vielen Monaten voran.
({0})
Ich habe großes Verständnis dafür, dass die öffentliche Diskussion über den toten Winkel zum Teil sehr
emotional geführt wird; denn die Unfälle, die mit rechts
abbiegenden LKWs passieren, haben ganz schreckliche
Folgen. Das kann niemanden kalt lassen, und, Herr Kollege Storjohann, dass lässt auch niemanden kalt.
({1})
Ich bin davon überzeugt, dass es auch deshalb künftig
weniger solcher Unfälle geben wird, weil dieses wichtige Thema unterdessen ins Bewusstsein aller Beteiligten
gerückt ist.
Lieber Kollege Storjohann, ich unterstelle Ihnen
wirklich die besten Absichten, aber Ihr Antrag enthält
eine Reihe von sachlichen Fehlern. Mir fehlt leider die
Zeit, all diese Fehler im Einzelnen aufzuzählen. Deshalb
beschränke ich mich auf einen: die Behauptung, von der
EU werde ein vierter Spiegel vorgeschrieben, der den
nicht einsehbaren Bereich angeblich wesentlich weniger
verringere als der Dobli-Spiegel, den Sie offensichtlich
meinen. Ich muss Ihnen sagen, dass es eine solche Verordnung bzw. Vorschrift der EU überhaupt nicht gibt.
({2})
Durch die EU-Verordnung wird der tote Winkel eben
nicht durch einen zusätzlichen Spiegel auf der Beifahrerseite beseitigt, sondern vor allem durch eine veränderte
Spiegelkrümmung und ein dadurch verbessertes Sichtfeld der schon heute vorhandenen Weitwinkelspiegel.
Hier liegt offenbar eine Verwechslung mit dem in der Tat
von der EU neu vorgeschriebenen Frontspiegel vor. Er
ist wichtig, um anders geartete schwere Unfälle zu vermeiden. Deshalb haben wir bei den Herstellern Druck
gemacht, um auch ihn früher als in der EU-Richtlinie
vorgesehen, einführen zu können. Aber mit dem toten
Winkel hat dieser Frontspiegel wirklich überhaupt nichts
zu tun.
Ihr gesamter Antrag zielt eindeutig auf den DobliSpiegel, obwohl er nicht ein einziges Mal namentlich erwähnt wird. Dieser Zusatzspiegel ist aber eben nicht die
einfache und preiswerte Patentlösung, als die er in der
öffentlichen Diskussion bisweilen gepriesen wird; denn
er kann nicht an allen LKWs sicher und vibrationsfrei
befestigt werden. Zudem beeinträchtigt er die direkte
Sicht durch die Windschutzscheibe.
Dieser Spiegel ist in den Niederlanden übrigens nicht
gesetzlich vorgeschrieben, sondern er stellt dort eines
von mehreren zugelassenen Systemen zur Verbesserung
der rückwärtigen Sicht dar. Sollen wir etwa Spiegel gesetzlich vorschreiben, die Nachteile für die Verkehrssicherheit haben können? Das kann aus unserer Sicht nicht
der richtige Weg sein. Ich möchte aber noch einmal ganz
klar und deutlich sagen, dass ich die gute Absicht Ihres
Antrags würdige; denn wir sind uns darin einig, dass der
tote Winkel beseitigt werden muss. Das ist gar keine
Frage.
({3})
Wir wollen den toten Winkel schon seit langer Zeit
beseitigen. Bereits im Jahr 2001 hat die Bundesregierung gemeinsam mit den Niederlanden die Initiative für
eine EU-Richtlinie mit verschärften Anforderungen an
die rückwärtige Sicht bei LKWs ergriffen. Diese Richtlinie ist im vergangenen Januar in Kraft getreten. Durch
ihre Umsetzung wird der tote Winkel entgegen anders
lautenden Behauptungen von verschiedenen Seiten weitestgehend ausgeschaltet.
An dieser Richtlinie wird jedoch vor allen Dingen
zweierlei kritisiert: Erstens ist sie erst ab Januar 2007 für
neu in den Verkehr kommende LKWs obligatorisch anzuwenden. Das dauert auch mir zu lange. Zweitens ist
keine Nachrüstung der Fahrzeuge vorgesehen, die schon
jetzt auf unseren Straßen unterwegs sind. Auch das genügt mir nicht.
({4})
Aus genau diesem Grunde habe ich dem Deutschen
Bundestag und der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr
versprochen, mich dieses Problems persönlich anzunehmen. Das habe ich auch getan. Wir haben schon vor
mehreren Monaten mit den Fahrzeugherstellern vereinbart, dass sie spätestens ab Anfang des kommenden Jahres alle neuen LKWs laufender Serien, soweit technisch
möglich, mit verbesserten Spiegeln ausrüsten, um den
Anforderungen der EU-Richtlinie zu entsprechen.
Um, soweit technisch möglich, auch eine Nachrüstung auf freiwilliger Basis sicherzustellen, haben wir mit
den Herstellern außerdem vereinbart, dass sie unverzüglich für den jeweiligen Fahrzeugtyp geeignete Austauschspiegelgläser mit größerem Sichtfeld zum Einbau
in die vorhandenen Spiegelgehäuse auf den Markt bringen. Das ist bei allen LKWs ab dem Baujahr 2000, aber
auch bei vielen älteren Modellen möglich.
Wir werden selbstverständlich intensiv dafür werben,
dass möglichst alle LKW-Halter von der Möglichkeit der
Nachrüstung Gebrauch machen. Sowohl für die vorgezogene Serienausstattung als auch für die Möglichkeit der
Nachrüstung müssen wir die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung ändern. Diese Änderung bringen wir
gerade auf den Weg. Damit schreiben wir gleichzeitig
die Verbesserung des für die weitestgehende Beseitigung
des toten Winkels besonders wichtigen Weitwinkelspiegels auf der Beifahrerseite verbindlich vor. Das bedeutet,
dass dieser verbesserte Spiegel spätestens ab Anfang des
kommenden Jahres Pflicht sein wird. Wir müssen das bei
der EU notifizieren, da wir die Richtlinie von uns aus
verschärfen; wir wollen schließlich auch importierte
Fahrzeuge erfassen. Damit muss sich auch der Bundesrat
befassen; auch das wird jetzt auf den Weg gebracht.
Meine Damen und Herren, das muss so schnell wie möglich passieren, je schneller, je lieber.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Deutsche Bundestag befasst sich wieder einmal mit dem
Thema „Verkehrssicherheit“, insbesondere mit im Straßenverkehr Getöteten, zu wirklich geeigneter Zeit.
({0})
Ich meine das ganz bewusst negativ, weil es ein Problem
ist, das unserer Ansicht nach sicherlich zu lösen ist. Es
wird mit dem von der Union vorgelegten Antrag aus unserer Sicht aber nicht völlig rund gelöst. Ich habe den
Eindruck, es ging ein bisschen um die Schnelligkeit; das
muss ich hier einmal ganz deutlich sagen.
Der Antrag muss, wenn er eine gute Beratungsgrundlage sein soll, die niederländischen Erfahrungen stärker
berücksichtigen und bezüglich dessen, was man in
Deutschland machen kann und notwendigerweise machen muss, ausgeweitet werden. Er nimmt aus unserer
Sicht nur einen Teilnehmer am Unfallgeschehen, nämlich den schweren LKW, aufs Korn und befasst sich nur
mit einem Problem, dem toten Winkel/Sichtwinkel.
Die Niederlande haben, bevor sie die technische Lösung entwickelt haben, eine breite Kampagne für Verkehrssicherheit gestartet, die dort im Straßenverkehr
bereits seit 2000 zur Senkung der Unfallzahlen der
Kombination „Zweiradfahrer/Fußgänger mit schwerem
LKW“ geführt hat. Seit 2003 ist ein entsprechender
Spiegel vorgeschrieben; seitdem haben sich die Unfallzahlen in den Niederlanden nicht mehr signifikant verringert. Die Zahlen sind aber nicht unbedingt statistisch
belastbar, weil dieser Aspekt bei der Unfallaufnahme
kein Kriterium ist. Das ist das eine Thema.
Das zweite Thema: Natürlich gäbe es aus unserer
Sicht auch noch andere Möglichkeiten, über eine Sicherheitskampagne hinaus. Ich denke dabei zum Beispiel an
§ 5 Abs. 8 der Straßenverkehrsordnung. Wir haben es
ermöglicht, dass Zweiradfahrer - Mofafahrer und Fahrradfahrer - an stehenden LKWs vorsichtig rechts vorbeifahren dürfen. Damit entstehen Gefahrensituationen aber
eigentlich erst: Vor der Änderung dieser Vorschrift
mussten Zweiradfahrer hinter einem LKW stehen bleiben. Es wäre aus unserer Sicht zumindest überlegenswert, auch über diesen Punkt nachzudenken. Eine andere
Möglichkeit bestünde darin, den Aufstellraum für Zweiradfahrer so weit vorzuziehen, dass der LKW-Fahrer sie
direkt sehen kann.
({1})
Das sind Lösungen, über die man, wenn man das Problem wirklich angehen will, aus unserer Sicht in aller
Breite diskutieren muss.
Wenn ich die Vorschrift der EU richtig in Erinnerung habe, Frau Staatssekretärin, werden dem LKWFahrer irgendwann einmal sechs Spiegel vorgeschrieben: zwei vorne und jeweils zwei an den Seiten. Man
muss bei solchen Vorschriften auch darauf achten, dass
derjenige, der ein Fahrzeug bewegt, noch in der Lage
sein muss, sämtliche Spiegel gleichzeitig mit dem fließenden Verkehr im Auge zu behalten. Ich will gar nicht
davon reden, dass man nicht ausschließen kann, dass,
nachdem der Fahrer rechts in den Weitwinkelspiegel geschaut und feststellt hat, dass da kein Fahrradfahrer ist,
und er sich dann mit den anderen Spiegeln befasst, ein
Fahrradfahrer auf einem Mountainbike angebrettert
kommt und damit eine neue Gefahrensituation eintritt.
Die völlige Sicherheit vor dieser Situation wird es nicht
geben. Deswegen sind wir sehr dafür - auch im Interesse
der Kinder und der Kinder-Kommission, die das auch
aufgegriffen hat -, dieses Problem zu lösen. Ich bin allerdings der Meinung, wir sollten das im Fachausschuss
auf breiter Basis diskutieren - im Zweifel auch eine Anhörung durchführen - und hier tatsächlich Wert auf Qualität der Lösung vor Schnelligkeit der Lösung legen;
dann sind wir, glaube ich, zur Zusammenarbeit im ganzen Haus bereit.
Danke sehr.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die beiden tödlichen Radfahrunfälle von vor ungefähr einem Monat haben in Berlin, aber auch darüber
hinaus eine heftige Debatte ausgelöst. In den letzten Jahren ist es immer wieder vorgekommen, dass Radfahrer,
die sich im toten Winkel befunden haben, totgefahren
wurden. Das hat aufgerührt.
An solchen Punkten fragen Eltern und Lehrer immer
wieder: Warum bewegt sich in diesem Bereich nichts?
Warum greift man dieses Problem nicht auf, obwohl es
schon so alt ist, obwohl jedes Jahr vermutlich mehrere
Hundert Radfahrer aus diesem Grund ums Leben kommen und es offensichtlich anderswo schon technische
Lösungen gibt, dies besser in den Griff zu bekommen?
Man fragt sich auch: Wie kann es eigentlich sein, dass
eine Automobilindustrie, die allen möglichen elektronischen und technischen Schnickschnack in neue LKWs
und auch in PKWs einbaut, im Bereich des Spiegels und
der Rückblende bislang im Grunde genommen altmodische, vorgestrige Lösungen angeboten hat? Das ist wirklich ärgerlich.
({0})
Nun ist endlich Bewegung in den Vorgang gekommen. Auch das Verkehrsministerium hat zusammen mit
dem niederländischen Ministerium Druck gemacht, damit auf europäischer Ebene etwas geschieht. Sicher
bringt die neue europäische Richtlinie einen Fortschritt. Aber wie die Kolleginnen und Kollegen schon
angesprochen haben: Das, was die EU vorgelegt hat, ist
ziemlich unbefriedigend. Denn erstens gilt die Richtlinie
nur für Neufahrzeuge und auch erst in Jahren und zweitens ist sie nur für große LKWs und nicht für kleine vorgesehen. Sie ist also völlig unzureichend.
({1})
Schauen wir uns die Erfahrungen in den Niederlanden an. Dazu gibt es eine interessante Geschichte. Ein
niederländischer Junge ist ums Leben gekommen. Sein
Vater hat keine Ruhe gefunden und hat in wenigen Wochen einen neuen Spiegel entwickelt. Dann hat er es geschafft, einen Produzenten zu finden und diesen Spiegel
in Form einer Freiwilligenkampagne bekannt zu machen. Interessanterweise hat sich damals das Ministerium erst gewehrt und gesagt, dass dies nicht funktioniert. In einem beharrlichen Verfahren hat es dieser Vater
zusammen mit der Initiative geschafft, zuerst eine Phase
der freiwilligen Umrüstung in Holland zu beginnen und
danach eine gesetzliche Umsetzung zu erreichen, was
dazu geführt hat, dass seit den letzten zwei Jahren in den
Niederlanden völlig neue Verhältnisse herrschen. Viele
haben diesen so genannten Dobli-Spiegel und tatsächlich
- das wurde schon gesagt - sind die Unfallzahlen um
über 40 Prozent zurückgegangen. Ich finde, dass man
von dieser Technik und Erfahrung sowie von dieser bürgerschaftlichen Initiative lernen kann.
({2})
Übrigens gibt es auch in Berlin eine solche Initiative,
die meine Kollegin Eichstädt-Bohlig und ich unterstützen. Diese sammelt Geld, damit LKWs umgerüstet werden können. Das ist eine gute Sache. Aber ich sage Ihnen
auch: Das allein kann nicht ausreichen. Die Bürgerinnen
und Bürger erwarten zu Recht, dass Politik alles tut, was
sie tun kann: Dort, wo sie durch Vorschriften oder gesetzliche Regelungen etwas erreichen kann, sollte sie
diese verbindlich für alle einführen. Das ist unsere Position.
({3})
Sie haben es in der Öffentlichkeit und natürlich heute
durch die Debatte wahrgenommen: Es gibt offensichtlich einen Dissens mit der Regierung, die den DobliSpiegel als problematisch einschätzt. Wir glauben, dass
ein größerer Teil dieser Bedenken durch die Praxis und
deren empirische Überprüfung widerlegt ist.
({4})
Die Erfahrung zeigt, dass man diesen Spiegel sicher anbringen kann. Das Argument, dass ein neuer Spiegel die
Sicht behindere, ist ziemlich fragwürdig. Denn dann
müsste man eigentlich alle Rückspiegel abschaffen, weil
sie selbstverständlich auf der einen Seite ein kleines
Stück ausblenden, aber auf der anderen Seite verschaffen
sie eine neue große Sicht. Spiegel haben Vorteile und
Nachteile. Deswegen kann ich dieses Argument nicht
akzeptieren.
Es ist möglich, diesen Spiegel schnell und einfach
nachzurüsten. Auch das ist ein großer Vorteil. Das Verkehrsministerium sollte dies positiver prüfen und nicht
so kritisch wie bisher. Ich erkenne durchaus an, dass es
nicht allein mit der Zahl der Spiegel getan ist, sondern
natürlich hängt es auch von der Beschaffenheit des Spiegels und vom System insgesamt ab. Aber es ist eine einfache und schnelle Lösung, die in der Nachrüstung günstig und rasch umzusetzen ist.
Wir werden innerhalb der Koalition und mit der Regierung noch verhandeln müssen, wie wir weiter vorgehen. Für meine Fraktion sage ich: Wir sehen beim aktuellen Stand der Informationen gerade in diesem DobliSpiegel eine sehr gute Lösung und glauben, dass wir diesen rasch - und nicht erst in zwei Jahren - und für alle,
nicht nur für Neufahrzeuge, einführen sollten.
({5})
Wir unterstützen die Bundesratsinitiative von Berlin
und Brandenburg, die genau in diese Richtung vorstößt.
Im Verkehrsausschuss des Bundesrates haben Sie dafür
übrigens eine ganz große Mehrheit gefunden. Das wird
auch den Bundestag fordern. Ich meine, das ist eine gute
Vorlage des Bundesrates.
Ich komme zum Schluss und möchte gerne an die
Worte und Gedanken des Kollegen Friedrich anknüpfen.
Eine auf Spiegel beschränkte Verkehrssicherheitspolitik
wäre in der Tat sehr beschränkt. Wir brauchen eine umfassend neue Verkehrssicherheitspolitik. Diese müssen
wir an dem Konzept „Vision Zero“ messen, das in
Schweden und in der Schweiz seit einigen Jahren sehr
ambitioniert erprobt wird.
({6})
Wir haben die sehr ambitionierte Vorstellung, dass man
eine Politik betreiben muss, die das Ziel hat, dass es im
Straßenverkehr möglichst überhaupt keine Verkehrstoten
mehr und nur noch möglichst wenige Schwerverletzte
gibt.
({7})
Es ist ungeheuer wichtig, an diesem Ziel hart zu arbeiten. Dazu müssen wir alle Bereiche konzeptionell angehen.
Das gilt übrigens auch für die Verkehrserziehung und
das Verhalten der Radfahrer selbst. Auch sie tragen Verantwortung und müssen schauen, durch welches Verhalten sie sich gefährden. Wir müssen versuchen, durch Regeln und Vorschriften all das zu erreichen, was möglich
ist, um Verkehrssicherheit herzustellen, sodass wir zukünftig keine Radfahrer mehr aufgrund des toten Winkels als Tote im Straßenverkehr zu beklagen haben.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Günter Nooke von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich
möchte mit der Bemerkung einleiten, dass die Debatte
trotz des so ernsten Anlasses eigentlich sehr erfreulich
ist. Ich muss mich bei meinem Kollegen Hermann bedanken, dass er unseren Antrag hier so freundlich begleitet. Frau Staatssekretärin Gleicke, ich denke, es ist wichtig, dass man nicht nur gute Absichten unterstellt,
sondern nach der Debatte auch einräumt, dass der Antrag gut ist.
({0})
Ich glaube, es ist auch wichtig, zumindest anzuerkennen,
dass durch diese Debatte entsprechender Druck auf die
Ministerien ausgeübt wird, wodurch sie zum Handeln
gebracht werden. Ich denke, es ist klar, dass wir nicht
nur eine Aufklärungskampagne durchführen, sondern
auch zum Handeln kommen müssen.
Vielleicht sollte ich noch einmal ganz kurz sagen, worum es hier eigentlich geht. Es ist bereits kurz angesprochen worden, warum ich als Berliner Bundestagsabgeordneter hier rede. Vor einem Monat - es war am
23. März 2004 - ist nicht weit von hier ein neunjähriger
Junge gestorben. Er war morgens um 8.15 Uhr mit seinem Fahrrad auf dem Weg zur Schule. An der Kreuzung
Bismarckstraße/Kaiser-Friedrich-Straße hatte er grünes
Ampellicht. Er wurde von einem LKW erfasst und getötet. Der LKW-Fahrer wollte rechts abbiegen und hatte
den Neunjährigen auf dem Radweg nicht gesehen. Mich
bewegt das sehr. Der Neunjährige wurde auf dem Schulweg sogar von seiner Mutter auf dem Rad begleitet. Sie
fuhr unmittelbar vor ihm auf dem Radstreifen über die
Kreuzung.
Das war nicht der einzige tödliche Fahrradunfall an
diesem Tag. Gleiches ereignete sich auch am Nachmittag gegen 13.30 Uhr in der Teilestraße in Tempelhof.
Hierbei kam ein 59-jähriger Radfahrer ums Leben. Auch
hier war die Unfallursache der so genannte tote Winkel.
Ich denke, wir als Abgeordnete sind gefragt, hier zu
handeln. Die bisherigen Debattenbeiträge der verschiedenen Fraktionen haben gezeigt, dass solch abwiegelnde
Positionen wie die des Bundesverkehrsministeriums, die
ich jetzt gar nicht allzu sehr kritisieren will, weil ich
auch Ihnen gute Absichten unterstelle, auf jeden Fall
nicht ausreichen. Ich glaube nämlich schon, dass es
manchmal noch ein wenig schneller ginge. Es ist hier
durch manche Hinweise deutlich geworden, dass es zu
lange dauern würde, auf neue EU-Vorschriften zu warten.
({1})
Ich will eines deutlich machen: Ich wünsche mir, dass
das Ministerium auch von den Parlamentariern der Koalitionsfraktionen gedrängt wird, schnell zu handeln.
Ich denke, dass sich der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club bereits deutlich zu der Pressemitteilung zu diesem Thema und zu den Aussagen, die vonseiten des
Bundesverkehrsministeriums gemacht wurden, geäußert
hat. Damals hieß es, Sie seien in höchster Erklärungsnot.
Ich finde, wir sind inzwischen schon einen Schritt weiter. Das gilt auch für diese Debatte und das kann ja nur
gut sein.
Bezüglich der Länderkammer will ich noch etwas Erfreuliches ein wenig genauer darstellen. Es ist auf einen
Entschließungsantrag - gestern stand er auf der Tagesordnung der Sitzung des Verkehrsausschusses des
Bundesrates - der Länder Berlin und Brandenburg zum
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes hingewiesen worden. Dort hieß es: Die
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 10. November 2003 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Typengenehmigungen von Einrichtungen für indirekte Sicht und von
mit solchen Einrichtungen ausgestatteten Fahrzeugen sowie zur Änderung entsprechender Richtlinien soll bis
spätestens Mitte 2004 in nationales Recht umgesetzt
werden. - Das ist der entscheidende Satz.
Es geht weiter: Für alle im Verkehr befindlichen
Nutzfahrzeuge ab 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht soll eine kurzfristige Nachrüstfrist entsprechend
der EG-Richtlinie 2003/97 vorgesehen werden, mindestens aber ein zusätzlicher Frontspiegel verbindlich festgeschrieben werden. - Das ist Inhalt dieser Initiative.
Mindestens sieben Länder haben sich ausdrücklich positiv dazu geäußert.
Weiter heißt es: Für Nutzfahrzeuge und Neufahrzeuge
ab 3,5 bis 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht soll
ebenfalls ein zusätzlicher Frontspiegel zur VermindeGünter Nooke
rung des toten Winkels kurzfristig verbindlich vorgeschrieben werden. - Genau das haben wir gefordert.
Wenn das Wort „kurzfristig“ durch „unverzüglich“ ersetzt wird, ist das im Prinzip die Fassung unseres CDU/
CSU-Antrages. Die Begründung des Antrags erinnert im
Übrigen an die Aussagen, die wir schon seit längerem in
der Presse lesen und die auch unseren Antrag auszeichnen.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Entschließung, die im Brandenburger Landtag dazu behandelt wurde, eine interessante Feststellung enthält: Die
Gefahrendimension durch den toten Winkel wird in der
schulischen Verkehrssicherheitsarbeit so verdeutlicht,
dass in den Bereich des toten Winkels bei einem LKW
eine komplette Schulklasse gestellt wird, die vom Fahrzeugführer durch die Rückspiegel nicht gesehen werden
kann. Weiter heißt es: Nach Angaben der gesetzlichen
Unfallversicherungen sterben pro Jahr etwa 140 Radfahrer sowie Fußgänger bei Unfällen mit rechtsabbiegenden
LKW.
All das lässt den Handlungsbedarf erkennen. Wir
von der Union sind zu konstruktiver Mitarbeit, Initiativengebung und auch weiterer Unterstützung bereit. Wir
haben gerade auch in Berlin und Brandenburg - es ist ja
in Berlin und Brandenburg nicht so, dass die Verkehrsminister der Union angehören; jedenfalls noch nicht ein großes Interesse, mit Ihnen gemeinsam voranzukommen.
Wir können sagen: Nicht nur zu später Stunde, sondern auch am helllichten Tage wollen wir ein ernstes
Problem konstruktiv lösen. Da immer alle denken, wir
zanken uns hier ohne Unterlass, war dies ein gutes Beispiel dafür, um zu zeigen, dass wir - vorausgesetzt auch
die Kollegen von den Grünen machen mit - gemeinsam
mit dem Ministerium schnell zu einer Lösung kommen
können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
fortwährende Aufgabe, Verkehrssicherheit insbesondere
für schwächere Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten
und zu verbessern, führte zu dem vorliegenden Antrag.
Wir alle wollen keinen toten Winkel bei Lastkraftwagen.
Das eint uns: alle Politiker, alle LKW-Fahrer, alle, die
diesen LKWs im Straßenverkehr begegnen, und die
Fahrradfahrer, die sich gefährdet fühlen.
Besorgte Bürgerinnen und Bürger, insbesondere Mütter, sind durch tragische Todesfälle bei Unfällen zwischen LKWs und Fahrradfahrern aufgeschreckt. Auch
ich habe solche Zuschriften bekommen. Wir alle nehmen
das sehr ernst. Dieser Wunsch, diese Unfälle zu vermeiden, eint uns alle. Die Anstrengungen zur Beseitigung
von Schwachstellen der Sichtwinkel und Sichtfelder von
LKW-Fahrern sind in vollem Gange, und zwar seit Monaten.
Ich will hier ganz klar machen: Es genügt nicht, einfach einen weiteren Spiegel, einen vierten Spiegel oder
einen Dobli-Spiegel anzubringen, und alles ist in Ordnung. Vielleicht ist dann den tagesaktuellen Forderungen
in Zeitungsüberschriften oder Fernsehreportagen Genüge getan, aber das Problem ist nicht grundsätzlich und
nachhaltig gelöst. Deshalb ist der Antrag der Union gut
gemeint, aber unzureichend und in dieser Form überflüssig. Ein vierter Spiegel muss nicht eingeführt werden. Er
ist bereits möglich, aber nicht ausreichend.
({0})
Was ist wirklich zielführend? Zielführend ist, dass
nicht nur einige niederländische oder einige deutsche
LKWs mit einem weiteren Spiegel ausgestattet werden,
sondern dass alle europäischen LKWs verkehrssicherer
mit Spiegelsystemen ausgestattet werden.
({1})
Dies ist bereits eingetütet, also beschlossen, und durch
die Arbeit der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris
Gleicke mächtig mit Dampf versehen.
So hat die Bundesregierung bereits im Jahre 2001 gemeinsam mit den Niederlanden eine Initiative bei der
Europäischen Kommission gestartet;
({2})
denn auch in den Niederlanden wird die Notwendigkeit
von Verbesserungen gesehen. Das Resultat ist die EURichtlinie 2003/97 - in Kraft seit Januar 2004 -, die verschärfte Anforderungen für die rückwärtige Sicht vorsieht. Ein LKW mit 7,5 Tonnen hat in Zukunft sechs
Spiegel.
({3})
Auch eine Ausrüstung mit einem Kamerasystem ist
möglich.
({4})
Jetzt geht es um den mühseligen Gang der vollständigen
Umsetzung und um die Übergangsfristen. Das kann uns
alle hier im Parlament und in der Regierung nicht befriedigen. So hat Staatssekretärin Gleicke auch da die Sache
unter Dampf gesetzt. Wir werden die Übergangszeiten
nicht ausschöpfen, sondern mächtig vorziehen.
Es gibt drei Verbesserungen: Erstens. Eine Ausstattung mit einem modifizierten Weitwinkelspiegel auf
der Beifahrerseite, der für die Verringerung des toten
Winkels besonders wichtig ist, soll ab Februar 2005 für
neue Fahrzeuge möglich sein.
Zweitens. Darüber hinaus soll der neue Frontspiegel,
wie in der Richtlinie vereinbart, durch die deutschen
Fahrzeughersteller ebenfalls ein Jahr früher zur Verfügung stehen.
Drittens. Wir wollen die Nachrüstung - die ist in der
EU-Richtlinie leider gar nicht geregelt - regeln. Es hat
eine Vereinbarung des Ministeriums mit der Fahrzeugindustrie gegeben. Für die jeweiligen Fahrzeugtypen werden geeignete Austauschspiegelgläser mit stärkerer
Krümmung und größeren Sichtfeldern zum Einbau in
die vorhandenen Spiegelgehäuse hergestellt.
Sie sehen - das sollten wir auch den besorgten Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam deutlich machen -: Verkehrssicherheit ist ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung und die nationalen Initiativen, aber auch die
europäischen Regelungen sind auf Verbesserung ausgerichtet.
Ich warne vor scheinbar einfachen Lösungen und gar
vor der Unterstellung, diese würden blockiert. Nachhaltige Lösungen sind meist etwas kompliziert, was uns jedoch nicht abhalten kann. Wenn einfache Teillösungen
möglich sind, wie der in den Niederlanden verwendete
Dobli-Spiegel, so können diese selbstverständlich genutzt werden. Keiner verbietet sie. Allerdings wird ein
Dobli-Spiegel nicht in der StVZO vorgeschrieben werden. Das ist auch in den Niederlanden nicht der Fall.
Zum Schluss: Ich danke ausdrücklich der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke für die intensiven
Vorarbeiten mit der deutschen Fahrzeugindustrie und für
das Vorziehen der EU-Richtlinie. Mit diesen Grundlagen
müssen wir ganz schnell politisch dafür sorgen, dass die
Veränderung der StVZO auf den Weg gebracht wird.
Auch die fakultativen Möglichkeiten eines Dobli-Spiegels werden wir klären. Es liegt jedoch an den Ländern,
im Bundesrat die Veränderung der StVZO zügig durchzuwinken. Das Signal der heutigen Debatte muss sein:
Wir sind uns einig in dem Ziel für mehr Verkehrssicherheit. Ich bin mir sicher, dass wir uns auch ganz schnell
über das Wie einig werden.
Wichtig ist jedoch bei allem das öffentliche Bewusstsein; das hat der Kollege Friedrich bereits angesprochen.
Die persönliche Vorsicht und Voraussicht jedes einzelnen Verkehrsteilnehmers, ob LKW- oder Fahrradfahrer,
sind ebenfalls wichtig. Sie können auch durch noch so
gute technische Möglichkeiten und viele Spiegel nicht
ersetzt werden.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2823 an den Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung zum
40. Jahrestag des Élysée-Vertrags - Regionale
und interregionale Zusammenarbeit - Schaffung von Eurodistrikten
- Drucksache 15/1111 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Die Redebeiträge zu dieser Debatte sollen zu Protokoll genommen werden. Die Rede des Staatsministers
Hans Martin Bury ist zu Protokoll gegeben worden. Von
der CDU/CSU haben Dr. Andreas Schockenhoff und
Gunther Krichbaum, vom Bündnis 90/Die Grünen Anna
Lührmann und von der FDP Sibylle Laurischk ihre Reden zu Protokoll gegeben. Eine Aussprache findet nicht
statt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1111 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. April 2004, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.