Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/29/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich bitte Sie, sich zu erheben. ({0}) Am Sonnabend, dem 17. April 2004, verstarb unsere Kollegin Anke Hartnagel im Alter von 62 Jahren. Geboren während des Zweiten Weltkrieges in Berlin, wuchs sie in Hamburg auf und machte dort ihre Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau, sammelte erste Berufserfahrung und absolvierte die Fortbildung zur Sparkassenbetriebswirtin. Als sie vor mehr als 30 Jahren Leiterin einer Sparkassenfiliale in Hamburg wurde, war sie die zweite Frau, die das in Hamburg „geschafft“ hatte. Wo immer sie lebte, hatte sie ein Auge für die Bedürfnisse der Menschen, die Unterstützung brauchten. Als sie nach zehn Jahren an der Elfenbeinküste und in Südamerika nach Deutschland zurückkehrte, engagierte sie sich sofort wieder an ihrem Wohnort Hamburg-Fuhlsbüttel, zunächst als Mitglied der Hamburger Bürgerschaft und ab 1998 als Mitglied des Deutschen Bundestages. Ihrem Engagement für die Menschen in den unterentwickelten Teilen der Welt ist Anke Hartnagel auch während ihrer Zeit als Mitglied des Deutschen Bundestages treu geblieben. Als Mitglied des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und zugleich des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat sie immer wieder die politischen Diskussionen durch ihren Erfahrungsschatz bereichert. Sie machte deutlich, dass menschliches Interesse und Mitgefühl die Antriebsfeder für jedes politische Engagement sind. Aufgrund ihres hohen Pflichtgefühls hat sie ihre Arbeit im Bundestag selbst dann noch fortgeführt, als die schwere Krankheit begann, ihre Kräfte aufzuzehren. Dass sie ihre Krankheit offen ansprach, sich nicht damit versteckte, sondern immer beanspruchte, tätig zu sein, hat Menschen Mut gemacht. Ihrem Mann und ihrer Familie drücken wir unser tiefes Mitgefühl aus. Wir werden Anke Hartnagel in ehrender Erinnerung behalten. - Ich danke Ihnen. Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Dr. Hermann Scheer zu seinem heutigen 60. Geburtstag sehr herzlich. Ich möchte aber auch einer Kollegin und mehreren Kollegen, die in den zurückliegenden Wochen ebenfalls ihren 60. Geburtstag begingen, gratulieren. Es sind dies: Christine Lucyga, Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie die Kollegen Ernst Küchler, Ludwig Stiegler und Walter Kolbow. Ihnen allen nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses! ({1}) Sodann teile ich mit, dass nach einer interfraktionellen Vereinbarung die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden soll: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT: zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen in Drucksache 15/2965 ({2}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis, Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Irmingard ScheweGerigk, Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Joachim Günther ({6}), Horst Friedrich ({7}), Eberhard Otto ({8}), Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Planung und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschallund Weidendammer Brücke vorlegen - Drucksache 15/2981 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter Redetext Präsident Wolfgang Thierse und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({10}), Rainder Steenblock, Volker Beck ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Chancen und Potenziale des Deutschlandtourismus in der erweiterten Europäischen Union konsequent nutzen - Drucksache 15/2980 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({12}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2003 - Einzelplan 20 - Drucksache 15/2885 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Äußerungen aus der CSU zur Finanzierungslücke von rund 100 Milliarden Euro in den Konzepten der CDU zur Reform der Sozialund Steuersysteme ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Chancen der Grünen Gentechnik nutzen - Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren - Drucksache 15/2979 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags - Regionale und interregionale Zusammenarbeit - Schaffung von Eurodistrikten - Drucksache 15/1111 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur allgemeinen Wehrpflicht und zu Plänen für ein soziales Pflichtjahr Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Abgesetzt werden sollen die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b - Energieforschungsprogramm -, 12 - Demokratisierung in Moldau -, 13 - Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See - sowie die zweite und dritte Beratung des in Tagesordnungspunkt 25 b aufgeführten Entwurfs eines Register-Führungsgesetzes. Da die Bundesregierung eine Erklärung des Herrn Bundeskanzlers zur Erweiterung der Europäischen Union angekündigt hat, an die sich eine Aussprache anschließt, ist die vorgesehene vereinbarte Debatte obsolet geworden. Ferner soll die Beratung des FDP-Antrags „Sperrzeiten für Außengastronomie“ bereits nach Tagesordnungspunkt 9 stattfinden und die Änderung des Tierseuchengesetzes, Tagesordnungspunkt 16, ohne Debatte erfolgen. Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Hans Büttner ({15}), Reinhold Hemker, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Volker Beck ({16}), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sportförderung in den auswärtigen Kulturbeziehungen ausbauen - Drucksache 15/1879 überwiesen: Sportausschuss ({17}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen ({18}) - Drucksache 15/2150 ({19}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen ({20}) - Drucksachen 15/2563, 15/2592 ({21}) Präsident Wolfgang Thierse a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22}) - Drucksachen 15/2986, 15/3004 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Kerstin Andreae b) Bericht des Haushaltsausschusses ({23}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/2987 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Walter Schöler Dr. Günter Rexrodt Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU sowie der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Hans Eichel das Wort.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit sind die zentralen Leitbilder, an denen sich eine zukunftsorientierte Politik messen lassen muss. Denn fast alle politischen Entscheidungen betreffen nicht nur die heutige Generation, sondern haben auch Auswirkungen auf kommende Generationen. ({0}) Vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden demographischen Wandels bedeutet die Orientierung an diesen Leitbildern mehr denn je: Keine Generation darf auf Kosten der nachrückenden Generation leben; andernfalls ist die langfristige Stabilität unserer Gesellschaft gefährdet. ({1}) - Wissen Sie, zu Ihrem Zwischenruf „Genau wie die Schulden!“ muss ich Ihnen sagen: Sie haben ja Recht. Nur, es ist noch gar nicht so lange her, dass ich den größten Schuldenberg der Geschichte von Ihnen übernehmen musste. Auch das ist die Wahrheit. ({2}) Die Herausforderungen des demographischen Wandels betreffen insbesondere auch die Altersvorsorge. Die Probleme Altersvorsorge und demographischer Wandel hängen unmittelbar zusammen. Mit der Einführung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, der so genannten Riester-Rente, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode einen wichtigen Schritt zu einer nachhaltigen Alterssicherung vollzogen. Jetzt geht es darum, eine zukunftsfähige und transparente Lösung für die Besteuerung von Alterseinkünften zu finden. Dazu gehört neben der eigentlichen Besteuerung der Einkünfte im Alter eine auf diese Besteuerung abgestimmte, einheitliche steuerliche Regelung zur Behandlung der Altersvorsorgebeiträge. Hierzu dient der vorliegende Entwurf eines Alterseinkünftegesetzes. Die Altersvorsorge wird künftig in zunehmendem Maße steuerfrei gestellt, sodass die Steuerlast für die erwerbstätige Generation sinkt. Im Gegenzug wird sehr langfristig auf eine volle Besteuerung der Renten umgestellt. Durch die sehr weichen Übergangsregelungen wird die Masse der Sozialversicherungsrenten auch weiterhin steuerlich unbelastet bleiben. Mit der Vorlage des Entwurfs eines Alterseinkünftegesetzes wird der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zur gleichmäßigen Besteuerung von Sozialversicherungsrenten, Beamtenpensionen und Erwerbseinkommen umgesetzt. Wir haben gehandelt - diesen Vorwurf kann ich Ihnen nach Ihren Zwischenrufen nicht ersparen -, nachdem es der Regierung Kohl in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit nicht gelungen ist, eine gerechte und verfassungsfeste Neuregelung auf den Weg zu bringen. ({3}) Auch das ist ein Beispiel für den eklatanten Reformstau, den Sie hinterlassen haben. ({4}) Schwerpunkt des Gesetzentwurfes ist, wie schon erwähnt, der schrittweise Übergang zur nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften - unter weit reichender Schonung der bestehenden Renten und der rentennahen Jahrgänge. ({5}) - Wissen Sie, mit Petersberg können Sie langsam nun wirklich nicht mehr kommen. ({6}) Wenn Sie einmal nachlesen, was Herr Koch in seinem Buch geschrieben hat, werden Sie feststellen, dass es genau das Richtige war, nämlich dass Sie nicht den Mut hatten, dieses Thema am Beginn der Wahlperiode einzubringen. ({7}) Sie wissen, dass das zur Folge hatte - so original Herr Koch -, ({8}) dass der Finanzminister damals eigentlich hätte gehen müssen. Machen Sie das in Ihren eigenen Reihen aus, aber nicht mit uns! Des Weiteren enthält der Gesetzentwurf Regelungen zur Besteuerung von Beamten- und Werkspensionen, Regelungen, durch die im Bereich der kapitalgedeckten betrieblichen Altersvorsorge ebenfalls zur nachgelagerten Besteuerung übergegangen wird, und Regelungen, die das Verfahren bei der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge, der Riester-Rente, vereinfachen und den Verbraucherschutz verbessern. Auf der Basis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 2002 hatte die Bundesregierung eine Sachverständigenkommission eingesetzt, deren Vorschläge in den vorliegenden Entwurf eines Alterseinkünftegesetzes eingegangen sind. Im Ergebnis haben wir eine systematisch schlüssige und folgerichtige Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen erreicht. Die vorgelegte Neuregelung ist zudem gesamtwirtschaftlich vorteilhaft und sozial tragfähig. Unser Vorschlag trägt außerdem dazu bei, das Besteuerungssystem transparenter und einfacher zu machen. Kernelement beim schrittweisen Übergang zur nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften ist die Freistellung der Altersvorsorgebeiträge der Erwerbstätigen. Bereits im ersten Jahr werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um knapp 2 Milliarden Euro entlastet; in jedem Folgejahr steigt die Entlastung um eine weitere Milliarde Euro an. Nach 20 Jahren ist die volle Entlastung der Erwerbstätigen mit jährlich 20 Milliarden Euro erreicht. Die schrittweise ansteigende steuerliche Berücksichtigung von Altersvorsorgeaufwendungen erhöht das Nettoeinkommen und erweitert so den Spielraum für die eigene Zukunftsvorsorge. Das war mit der Riester-Rente vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung ausdrücklich gewollt und notwendig. Da während der erwerbsmäßig aktiven Lebensphase wegen der Höhe der dann erzielten Einkommen typischerweise höhere Steuersätze greifen als im Alter, führt der Übergang auf die nachgelagerte Besteuerung der Renten auch unter Berücksichtigung der späteren Steuerlast auf die Rente unter dem Strich zu einer Entlastung der Steuerzahler. Auch bei gesamtwirtschaftlicher Betrachtung ist die nachgelagerte Besteuerung de facto ein Steuersenkungsprogramm, denn die eben genannten Entlastungen werden durch die erhöhte Besteuerung der Altersbezüge nur teilweise kompensiert. Dass mir das als Finanzminister nicht ganz leicht gefallen ist; das muss ich an dieser Stelle, glaube ich, nicht ausdrücklich betonen. Beide Übergangsphasen - die zur Vollbesteuerung der Renten und die zur vollen Abziehbarkeit der Altersvorsorgebeiträge - sind dabei so aufeinander abgestimmt, dass eine Zweifachbesteuerung vermieden wird. Sollte es in einigen wenigen Spezialfällen - das war ja auch ein wichtiger Gegenstand der Debatte - die in den Medien gerne zu einem Massenphänomen aufgebauscht wurden, doch zu einer Doppelbesteuerung kommen, kann der Betroffene durch einen entsprechenden Nachweis gegenüber dem Finanzamt bewirken, dass auch hier eine Zweifachbesteuerung verhindert wird; das ist nur recht und billig. Aber auch für die Rentner besteht kein Grund zu Befürchtungen: Die große Mehrheit der Rentner muss auch in Zukunft keine Steuern auf ihre Renten zahlen. Für drei von vier steuerpflichtigen Rentenbeziehern wird das neue Recht ohne steuerliche Auswirkung sein. Lediglich diejenigen steuerpflichtigen Rentenempfänger, die über erhebliche Nebeneinkünfte verfügen, werden nach dem neuen Recht steuerbelastet. Schon nach dem geltenden Recht müssen im Jahr 2005 2 Millionen Rentner Einkommensteuer zahlen, weil bei ihnen zu ihrer Rente noch andere Einkommen hinzukommen. Nach dem Gesetzentwurf sind bei allein stehenden so genannten Bestandsrentnern und bei den Neufällen des Jahres 2005 Rentenbezüge bis zu einer Höhe von 18 900 Euro im Jahr oder 1 575 Euro im Monat steuerunbelastet. Ich wiederhole: 18 900 Euro im Jahr oder 1 575 Euro im Monat sind steuerunbelastet, wenn neben der Rente keine anderen Einkünfte vorliegen. Auch künftig bleiben Durchschnittsrenten also steuerunbelastet. Das gilt auch dann, wenn eine normale Betriebsrente hinzukommt. Zum Vergleich: Bei allein stehenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, also bei denjenigen, die sich noch in der aktiven Phase des Berufslebens befinden, setzt die Besteuerung bereits bei einem Einkommen von knapp 10 800 Euro ein. Das hängt natürlich - das ist klar - mit der Besteuerung hinsichtlich der Vorsorgebeiträge zusammen. Sonst könnte das bei den Renten so nicht funktionieren. Eine steuerliche Mehrbelastung wird überwiegend nur dann entstehen, wenn zu der Rente noch andere Einkünfte aus Werkspensionen, Vermietung und Verpachtung oder von noch erwerbstätigen Ehepartnern hinzukommen. In diesen Fällen ist die Rente übrigens häufig nur das Nebeneinkommen. Das trägt auch dazu bei, dass der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wieder mehr Gewicht bekommt. Durch den vorgelegten Gesetzentwurf sind die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten der Rentenempfänger aus verfassungsrechtlicher Sicht weitestgehend ausgeschöpft. Eine noch weiter gehende oder noch länger fortgesetzte Privilegierung der Rentenempfänger gegenüber den aktiv Erwerbstätigen wäre verfassungsrechtlich kaum noch vertretbar. Meine Damen und Herren, der demographische Wandel erfordert eine Politik, die bereits heute die sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten abzeichnenden Veränderungen der Bevölkerungsstruktur mit berücksichtigt. Was wir brauchen, sind tragfähige und verlässliche Rahmenbedingungen für Jung und Alt. Das gilt insbesondere für die Altersvorsorge. Wir brauchen ein Miteinander und ein Füreinander der Generationen. Wir brauchen Solidarität zwischen Jung und Alt. Diese Solidarität ist keine Einbahnstraße, sie gilt wechselseitig. Mit dem Entwurf des Alterseinkünftegesetzes legt die Bundesregierung einen Vorschlag vor, der diese Anforderungen an eine zukunftsgerichtete Politik ebenso erfüllt wie die Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an eine Neuregelung geknüpft hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ich appelliere an Sie - das sage ich vor allem vor dem Hintergrund der Vordiskussionen -: Lassen Sie das Gesetz nicht einfach nur passieren, sondern stimmen Sie ihm zu! ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute das Alterseinkünftegesetz. Die Bundesregierung und die Fraktionen von Rot-Grün haben hier jeweils einen gleichlautenden Gesetzentwurf vorgelegt, der die Neuordnung insbesondere der steuerlichen Seite der gesetzlichen Rentenversicherung sowie der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge vorsieht. Dieser Gesetzentwurf ist jedoch in keiner Weise der große Wurf, als der er hier verkauft wird. Er wird nicht nur von der Opposition wenig Zustimmung bekommen, sondern er wird auch bei der Bevölkerung wenig Zustimmung finden, weil er in wesentlichen Punkten an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten vorbeigeht. ({0}) Das Bundesverfassungsgericht hat 2002 und nicht 1998, also nach vier Jahren Regierungszeit von RotGrün, festgestellt, dass die jetzige Regelung verfassungswidrig ist, weil der Gleichheitsgrundsatz verletzt ist. Wir haben zurzeit folgende Situation: Pensionen werden zu 100 Prozent besteuert, Renten dagegen nicht. Ein 65-jähriger Rentner zum Beispiel muss nur 27 Prozent seiner Rente versteuern, 73 Prozent sind von der Besteuerung freigestellt. Die Folge ist, dass es bis zum 1. Januar 2005 zu einer Neuregelung kommen muss; denn ansonsten können die Pensionen ab Januar des nächsten Jahres nicht mehr besteuert werden. Deshalb muss auch der Bundesrat zustimmen. Die Länder haben ein großes Interesse daran, dass hier eine Regelung gefunden wird. - Das ist die Ausgangslage. Bei der Erarbeitung dieser wichtigen Neuordnung des gesamten Systems und der Abstimmung mit Experten muss natürlich größte Sorgfalt geübt werden, damit das Vertrauen der jetzigen Rentner und die Zustimmung der nächsten Generation erlangt werden. Wir alle haben aber die Anhörung erlebt und inzwischen stapelweise Gutachten und Stellungnahmen vorliegen. Die gesamte Fachbranche sagt, dass dies bis jetzt durch und durch ungereimt ist und in keiner Weise von einer Vereinfachung des Steuerrechts geredet werden kann. ({1}) Das Bundesfinanzministerium hat vorgerechnet, dass in Zukunft 2 Millionen Rentner mehr Steuern zahlen müssen und dass 1,3 Millionen Rentner erstmals zur Steuerzahlung herangezogen werden. Herr Minister, Sie haben gesagt, dass 18 900 Euro steuerfrei bleiben. Das ist richtig. Sehr viele prüfen derzeit aber, ob diese Besteuerung überhaupt gerechtfertigt ist; denn das Bundesverfassungsgericht hat in einem zweiten Urteil festgelegt, es dürfe nicht zu einer Zweifachbesteuerung kommen. Wenn die Rente später besteuert wird, dann müssen die Beiträge für diese Rente selbstverständlich steuerfrei gestellt werden. Mit Ihrem ersten Entwurf haben Sie diese Forderung überhaupt nicht erfüllt. Das haben das Gutachten und auch die Stellungnahmen in der Anhörung ergeben. Es wurde insbesondere bemängelt, dass Sie den Grundfreibetrag im Alter als steuerfreien Vorteil darstellen. Wir wissen: Wenn die Doppelbesteuerung nicht vermieden wird, dann besteht die Gefahr eines neuen Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Wir von der Union sind froh, dass wir uns in der Diskussion durchsetzen konnten und Sie einer Öffnungsklausel und einer eventuellen Einzelfallprüfung zugestimmt haben. Wir haben uns in dieser Frage geeinigt. Dies haben wir auch bezogen auf die Billigkeitsprüfung für Hochbetagte getan: Der Rentner darf bei einem einfachen Fehler nicht gleich als Steuerhinterzieher belangt werden können. Schließlich haben wir uns auch auf ein mögliches Quellenabzugsverfahren ab dem Jahre 2007 geeinigt. Das sind leider auch schon alle unsere Gemeinsamkeiten. Herr Eichel, nach Ihrer Rede müssen wir irgendwann einmal konkret werden. Sie haben allgemeine Ausführungen über die Notwendigkeit einer Vorsorge gemacht. Der Entwurf, den Sie am 12. Dezember 2003 hier vorgelegt haben, entspricht einer Kampfansage an die private und die betriebliche Vorsorge. ({2}) Wir alle wissen: Sie haben es trotz Ihres Nachhaltigkeitsgesetzes in wenigen Jahren geschafft, das Vertrauen in die gesetzliche Rente nachhaltig zu zerstören. Jeder weiß heute, Vorsorge ist nötig. Sie wissen aber auch, dass die Riester-Rente überhaupt nicht funktioniert. ({3}) Nur jeder Siebte der Anspruchsberechtigten hat die Riester-Rente bisher abgeschlossen, weil sie zu kompliziert ist und kein Mensch sie versteht. ({4}) Sie haben jetzt einen weiteren Vorstoß gewagt, gemäß dem Frauen und Männer in Zukunft gleiche Beiträge für die Riester-Rente zahlen müssen. Die gesamte Branche ist der Meinung, dass dies der endgültige Todesstoß für die Riester-Rente ist. ({5}) - Herr Poß, für ein Gesetz, durch das Sie die Menschen durch und durch bevormunden, können Sie natürlich keine Zustimmung von uns verlangen. ({6}) Sie haben eine Vorlage vorgelegt, nach der in Zukunft nur noch die Beiträge als Vorsorgeaufwendungen abzugsfähig sind, die nicht beleihbar und nicht kapitalisierbar sind. Sie wollen den Menschen vor allen Dingen vorschreiben, dass sie ihre persönlich angesparten Beiträge nicht vererben können. Dafür werden Sie keinerlei Zustimmung in der Bevölkerung erhalten. Sie werden auch keine Zustimmung für Ihre Regelung erhalten, nach der bei der abzugsfähigen privaten Altersvorsorge kein Kapitalbetrag ausgezahlt werden kann. Viele Rentner haben mit 60 oder 65 Jahren das Bedürfnis, einen Teil des Kapitals zu erhalten, um beispielsweise ihre Hypotheken abzulösen. ({7}) Zudem haben Sie die Vorsorge auf eine Leibrente begrenzt, wenn Sie das Wort „Versicherungsunternehmen“ aus dem Gesetzestext auch herausgenommen haben. Sie wollen den Menschen letztendlich vorschreiben, dass sie ausschließlich eine Vorsorge wie bei der gesetzlichen Rentenversicherung treffen können. Sie sollten stattdessen in dieser Phase die Möglichkeit nutzen, den gesamten Finanzmarkt mit neuen Möglichkeiten der Altersversorgung auszustatten. Bei jeder Gelegenheit klagen Sie über fehlendes Wachstum, aber Sie verzichten darauf, Wettbewerb im Finanzmarkt stattfinden zu lassen. Wir wollen den Wettbewerb der Banken, der Investmentgesellschaften und der Versicherungen. Sie wollen lenken und den Menschen vorschreiben, wie sie zu leben oder ihre Altersversorgung zu gestalten haben. Das wollen wir nicht. ({8}) Wenn Vorsorgeprodukte nicht attraktiv sind, bleibt das Problem, dass junge Menschen in eine Armutsfalle geraten; denn sie müssen für sich selbst sorgen und natürlich auch für die jetzigen Rentner zahlen. Deshalb ist die Attraktivität der Altersvorsorge so wichtig. In Ihrem ersten Entwurf wollten Sie beispielsweise die Steuerfreiheit von Lebensversicherungen völlig beseitigen und die volle Steuerpflicht auf alle Lebensversicherungserträge ausdehnen. ({9}) - Herr Poß, rufen Sie nicht dazwischen! Sie können nachher zu diesem Punkt reden. ({10}) - Die unflätigen Bemerkungen von Herrn Poß, der bei keiner Sitzung des Finanzausschusses dabei gewesen ist, sind unverschämt. Sie sollten sich zurückhalten. ({11}) Wir haben Ihnen ein Kompromissangebot gemacht, um die Lebensversicherungen wettbewerbsfähig zu halten. Die Lebensversicherung ist so beliebt, weil sie einfach ist. Was aber machen Sie jetzt? - Sie schlagen eine Fünftelungsmethode gemäß § 34 EStG vor. Das heißt, jede Auszahlung muss in Zukunft nach einer besonderen Abfindungsmethode berechnet werden. Das versteht kein Mensch. Das ist außerdem für die Bürger die teuerste und steuerlich unattraktivste Methode. ({12}) Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Sie das den Menschen antun wollen. Ihr Gesetzentwurf umfasst 100 Seiten Gesetzestext und Begründung. Die Kompliziertheit dieses Gesetzes ist einer der traurigen Höhepunkte und ein Musterbeispiel dafür, dass unser Einkommensteuergesetz nicht mehr reparabel ist. Folgen Sie endlich den Vorschlägen der Union zur Vereinfachung des Steuerrechts! ({13}) Der Minister erklärt: Das von uns geschaffene Gesetz ist transparent und einfach. - Darüber können wir in der Tat nur lachen. Den Menschen bleibt nur noch die Hoffnung auf eine betriebliche Altersversorgung. Sie von den Regierungsfraktionen sollten im Grunde stolz darauf sein, dass seit dem Jahre 2001 das Ausmaß der betrieblichen Altersversorgung hinsichtlich Pensionskassen und Direktversicherungen deutlich gestiegen ist, weil die Entgeltumwandlung für jeden einzelnen Arbeitnehmer möglich ist. Jetzt aber schlagen Sie vor, die bisherige Form der Direktversicherung durch Aufhebung der Pauschalbesteuerung wegfallen zu lassen. Ihr erster Gesetzentwurf enthielt eine ausschließliche Begrenzung der betrieblichen Altersversorgung auf 4 Prozent des Bruttolohnes, obwohl wir heute wesentlich mehr Möglichkeiten haben; denn nicht nur 4 Prozent des Bruttogehalts des Arbeitnehmers, sondern - das ist unsere Forderung - auch 4 Prozent vom Arbeitgeber sollen zur Finanzierung der Vorsorge möglich sein. Viele Arbeitnehmer hätten ihre Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung durch den Arbeitgeber verloren, wenn Ihr Gesetz beschlossen worden wäre. Nun haben Sie Gott sei Dank einen zusätzlichen Steuerfreibetrag von 1 800 Euro angeboten. Wir fordern nach wie vor 4 Prozent für die vom Arbeitgeber finanzierte Vorsorge, weil hier eine Anpassung an die Bemessungsgrundlage erfolgen muss. Es muss ein dynamischer Prozess entstehen; denn die Menschen müssen gemäß der Bemessungsgrundlage auch dynamisch höhere Beiträge einzahlen. Natürlich müssen Sie ebenso die Inflation betrachten. ({14}) Herr Schild, jetzt bieten Sie zusätzlich 1 800 Euro als vom Arbeitgeber finanzierte Altersversorgung. Gleichzeitig fordern Sie, dass diese Summe mit Sozialversicherungsbeiträgen belegt wird, obwohl das heute im Wesentlichen nicht der Fall ist. ({15}) Im Alter müssen die Rentner dafür noch einmal Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Worin soll die Attraktivität einer betrieblichen Altersversorgung liegen, wenn der Unterschied zu einer privaten Kapitalanlage nicht mehr sichtbar ist? ({16}) Sie setzen deutlich falsche Schwerpunkte. Diese Unsystematik schmerzt und hat die Suche nach Kompromissen erschwert. Aber dass Sie es zulassen, dass vorzeitig Pensionierte, die das Unternehmen frühzeitig verlassen haben, eine höhere Rente als Betriebstreue oder Erwerbsunfähige bei ihrem Ausscheiden bekommen, weil Sie ein Fehlurteil des Bundesarbeitsgerichts nicht korrigieren wollen, ist für uns überhaupt nicht nachvollziehbar. Die gesamte Finanzbranche, die mit betrieblicher Altersvorsorge zu tun hat, ist schockiert darüber, dass Sie dies nicht korrigieren wollen. Fachleute rechnen damit, dass jährlich 30 bis 40 Millionen Euro auf den Pensions-Sicherungs-Verein zukommen werden, der diese Pensionen sichern soll, weil Sie nicht korrigierend eingreifen wollen. Nach neuen Hiobsbotschaften für die Rentner für das nächste Jahr - auch dann ist wieder mit einer Nullrunde zu rechnen - werden auch die im Berufsleben Stehenden, die Aktiven hinsichtlich ihrer Vorsorgemöglichkeiten zutiefst verunsichert. Nach Aussagen von Experten wollen die Bürger Wohnungseigentum, eine sichere Rente und ein Stück finanzielle Freiheit. Sie wollen keine Bevormundung. Es besteht die große Gefahr bei diesem Gesetz, dass die Rentner belastet werden, aber die Jungen nicht für ihr Alter vorsorgen, weil die Vorsorgeprodukte so unattraktiv sind, dass sie hierfür keine Entscheidung treffen werden. Wir brauchen aber in diesem Lande einfache, nachvollziehbare und klare gesetzliche Regelungen, die von den Bürgern verstanden und akzeptiert werden. Dieses Gesetz ist eine laufende Produktion von Verunsicherungen. Wir haben unsere Bedenken von Anfang an geäußert und unsere Meinung in der gesamten Phase im Gegensatz zu Ihnen nicht wegen besserer Erkenntnisse ändern müssen. Unterstützen Sie deshalb unseren Entschließungsantrag und lehnen Sie die Vorlage von Rot-Grün ab! Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Poß, wir sollten auch während leidenschaftlicher Debatten nicht Verdächtigungen aussprechen. Unter Parlamentariern ist das nicht üblich. ({0}) Ich erteile nun Kollegin Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Zeitungslandschaft in den letzten Tagen zu diesem Thema anschaut und heute den Leitartikel in der „Süddeutschen Zeitung“ liest, dann kommt man zu der Überzeugung, dass all diejenigen, die zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Union versucht, Volksverdummung zu betreiben, völlig Recht haben. ({0}) Sie suchen krampfhaft Gründe, warum Sie dieses Gesetz hier ablehnen können, um ihm dann im Bundesrat aus angeblich staatspolitischer Verantwortung zuzustimmen. ({1}) Das ist scheinheilig, das täuscht die Öffentlichkeit und das hat mit Seriosität und Glaubwürdigkeit, meine Damen und Herren von der Union, nichts mehr zu tun. ({2}) Wir haben uns gemeinsam in den vergangenen Wochen auf der Fachebene sehr viel Zeit genommen - ich lobe an dieser Stelle bewusst auch die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker der CDU/CSU und der FDP - und sehr gute Debatten geführt. Wir haben uns mit den Vorschlägen, die Sie eingebracht haben, auseinander gesetzt und die Vorschläge der Union weitestgehend aufgenommen. Zu den FDP-Vorschlägen komme ich noch. RotGrün hat in großen Teilen Unterstützung gegeben. Was aber nicht geht, ist, dass Vorschläge, vor allen Dingen diejenigen der FDP-Fraktion, aufgenommen werden, die zusätzliche Milliardenlöcher in die Haushalte schlagen würden. Das können wir auch aus staatspolitischer Verantwortung nicht machen. (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig ({3}) Deswegen haben wir ein Gesetz vorgelegt, das inhaltlich sehr gut ist, das staatspolitisch verantwortlich ist und auch gegenüber den Ländern, den Kommunen und dem Bund unserer Aussage gerecht wird, dass wir keine weitere Neuverschuldung wollen. Herr Minister Eichel hat mit einem weinenden Auge auf eine Tatsache hingewiesen. Wir reden hier über Rentenbesteuerung, dürfen aber nicht vergessen, dass dieses Gesetz dazu führt, dass diejenigen, die im Erwerbsleben stehen, bis zum Jahre 2010 um 5 Milliarden Euro entlastet werden. Diese Entlastung ist in der Debatte bislang völlig untergegangen. Wenn man sich auf der fachlichen Ebene so weit annähert, dann verstehe ich nicht, dass Herr Kauder, der immer wieder gerne von dem Chaos spricht, das hier produziert wird, ({4}) am Wochenende selbst Chaos erzeugt hat. ({5}) Am Montag hat Herr Kauder noch eine Totalblockade im Bundestag wie auch im Bundesrat verkündet. Daraufhin hat Frau Merkel, die schließlich weiß, dass die Zustimmung des Bundesrates notwendig ist, festgestellt, dass das Gesetz vielleicht doch eine Mehrheit im Bundesrat erzielen könnte. Dann wiederum hat Herr Kauder am Dienstag angekündigt, dass im Bundesrat unter minimaler Beteiligung der unionsregierten Länder - in diesem Zusammenhang wurden Thüringen, das Saarland und Sachsen genannt - eine Zustimmung erfolgt. ({6}) Interessanterweise hat aber der Ministerpräsident von Thüringen, Dieter Althaus, davon offenbar nichts gewusst. Er hält das Gesetz gegenwärtig nicht für zustimmungsfähig. Ich weiß allerdings nicht, warum. ({7}) Sie wiederum verkünden, dass Thüringen zustimmen wird. Daran wird deutlich, welches Schmierentheater die Union zu diesem Thema aufführt. ({8}) Ich hoffe sehr, dass dieses parteitaktische Verwirrspiel der Union bald ein Ende hat. Denn ein so langfristiges Projekt wie die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte ist dafür denkbar ungeeignet. ({9}) Wir alle müssen dafür sorgen, dass die Bevölkerung die notwendigen Informationen bekommt. Es geht nicht an, Informationen zu verbreiten, die auf alten Vorlagen beruhen und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nichts mehr zu tun haben, um die Menschen zu verwirren. Auch das ist unverantwortlich. ({10}) Wir setzen mit dem Gesetzentwurf den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um, Renten und Pensionen steuerlich gleich zu behandeln. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass wir diesem Auftrag nicht irgendwann nachkommen können, sondern dass wir verpflichtet sind, ihn bis spätestens 2005 zu erfüllen. Ich gehe zwar davon aus, dass der Bundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen wird, aber angenommen, die Ankündigungen von Herrn Kauder würden realisiert und der Bundesrat würde den Gesetzentwurf ablehnen, dann wäre die jetzige Besteuerung von Pensionen, die seit vielen Jahren Bestand hat, verfassungswidrig. Es würde zu jährlichen Steuerausfällen in Höhe von 10 Milliarden Euro und zu einer Flut von Klagen kommen. Dieses Chaos würden Sie anrichten, wenn der Bundesrat dem Gesetzentwurf nicht zustimmt. ({11}) Die nachgelagerte Besteuerung ist der richtige Weg zur Reform der Rentenbesteuerung. Darin sind sich alle einig. Politiker auf Bundes- und Landesebene, Wissenschaftler und Verbände haben in den vergangenen Jahren darauf hingewiesen, dass die nachgelagerte Besteuerung der richtige Weg ist. Auch die Union hat sich in jedem Wahlkampf in verschiedenen Hochglanzbroschüren immer wieder für die nachgelagerte Besteuerung ausgesprochen. Umso verwunderlicher ist es, dass Sie ein solch großes Reformwerk infrage stellen, das viele Generationen betrifft. Für die derzeit Beschäftigten, Selbstständige wie abhängig Beschäftigte, junge und ältere Menschen wird in den nächsten Jahrzehnten in einem gleitenden Übergang die nachgelagerte Besteuerung eingeführt. Dieses Reformwerk so umzusetzen, dass es sozial ausgewogen ist und zu Entlastungen durch die steuerliche Freistellung der Rentenversicherungsbeiträge führt, die gleichermaßen für einen stärkeren Einsatz zugunsten der privaten Altersvorsorge wie auch der betrieblichen Vorsorge genutzt werden können, ist ein Kraftakt. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen haben seit vielen Jahren einen solchen Systemwechsel eingefordert; denn damit erreichen wir, dass der Einzelne konsequent nach seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit besteuert wird und dass hinsichtlich der Pflichtbeiträge zu den Sozialversicherungen, die für die Steuerpflichtigen nicht verfügbar sind und bislang zu einem großen Teil besteuert waren - dass diese Regelung ungerecht ist, wissen wir alle -, ein Kurswechsel erfolgt. Das ist der richtige Weg, den auch Sie immer wieder beschrieben haben. Daraus ergibt sich auch an dieser Stelle die große Verwunderung über Ihr Verhalten. Die Altersvorsorgebeiträge werden bis 2025, und zwar beginnend mit 60 Prozent vom nächsten Jahr an, von der Steuer freigestellt. Erst die entsprechenden Altersbezüge werden besteuert, und zwar allmählich steigend - beginnend mit 50 Prozent vom nächsten Jahr an bis 2040. Dann werden alle Alterseinkünfte steuerlich genauso behandelt wie Erwerbseinkünfte. Die Gleichbehandlung von Erwerbs- und Alterseinkünften ist völlig konsistent, wenn die Altersvorsorgebeiträge steuerfrei sind. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, dass die Steuern dann anfallen, wenn die Versicherungsleistungen dem Steuerpflichtigen tatsächlich zukommen. Es gibt einen sehr langen Übergangszeitraum. Ich sage Ihnen ganz offen, dass es auch mir gefallen hätte, wenn es gelungen wäre, den Übergangszeitraum zu verkürzen. Das hätte nämlich eine einfache Umsetzung und Anwendung des Gesetzes bedeutet. Man muss aber auf der einen Seite sehen, dass der Übergangszeitraum deswegen länger ist, weil die heutigen Rentnerinnen und Rentner nicht über Gebühr besteuert werden dürfen. Die Umstellung muss also langsam erfolgen. Auf der anderen Seite hätten wir die steuerliche Freistellung der Vorsorgeleistungen von heute auf morgen nicht finanzieren können; denn das hätte eine Belastung für die Haushalte des Bundes, der Länder und der Kommunen in Höhe von 20 Milliarden Euro bedeutet. Weil dies nicht zu verantworten gewesen wäre und weil wir weitestgehend sicherstellen wollen, dass es zu keiner Zweifachbesteuerung kommt, haben wir für einen langen Übergangszeitraum gesorgt. Wir haben auf der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses die Entscheidung getroffen, und zwar im Prinzip gemeinsam, dass der so genannte Sonderausgabenabzug für alle unverändert bis 2010 fortbesteht - auch das ist übrigens eine Forderung der Union - und dass er danach bis 2019 sozialverträglich abgeschmolzen wird. Davon profitieren vor allem Bezieher von kleinen Einkommen. In den Genuss dieses Vorteils kommen aber nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern auch Selbstständige; das ist auch richtig so. Wir waren uns ja in der gestrigen Beratung einig, dass es besser ist, dies auf alle zu übertragen, weil dies die Handhabung vereinfacht und weil es gerechter zu sein scheint, wenn dies für alle und nicht nur für einen Teil der Bevölkerung gilt. Deshalb haben wir für eine entsprechende Änderung gesorgt. Ein weiterer Punkt ist - das ist kein Geheimnis -, dass die private und die betriebliche Altersvorsorge neben der gesetzlichen Altersvorsorge immer mehr an Bedeutung für die Sicherung des Lebensstandards im Alter gewinnt. Es geht um bessere Chancen für die jungen Generationen, die sich eine eigene Altersvorsorge nach ihren Vorstellungen aufbauen wollen. Deshalb bieten wir entsprechende Möglichkeiten an. Ich finde es gut, dass die Junge Union kein Blatt vor den Mund nimmt und die Blockadehaltung ihrer Parteispitze kritisiert; das ist mutig. Sie hat auch Recht. Im Interesse der jungen Generation können wir der Jungen Union nur beipflichten. Wir sehen das genauso. ({12}) Wir haben unter Verbraucherschutzgesichtspunkten Berichtspflichten verbessert und Unisextarife eingeführt. Männer und Frauen werden in Zukunft - verfassungsgemäß - gleich behandelt. Wir haben auch Änderungen bei den Lebensversicherungen vorgenommen. Herr Flosbach, da Sie die Lebensversicherungen angesprochen haben, möchte ich nur noch einmal daran erinnern, dass die Union in ihren Vorschlägen zu den Petersberger Beschlüssen, auf die Sie immer so gerne verweisen, eine Änderung der Besteuerung der Lebensversicherungen vorsieht, und zwar auch für die bestehenden Verträge. Genau das wollten wir nicht. Es wird Vertrauensschutz für die bestehenden Verträge geben. Wir werden dafür sorgen, dass vom Jahr 2005 an Steuerprivilegien zugunsten der Lebensversicherung abgebaut werden. Letzte Bemerkung: Ich wünsche mir, dass die Union den Eiertanz, den sie zum Schaden der Bürger und Bürgerinnen aufführt, beendet, dass sich die Union ihrem Verfassungsauftrag im Bundesrat nicht entzieht und dass alle politisch Verantwortlichen in diesem Land ihrer Verantwortung nachkommen und den Weg für die nachgelagerte Besteuerung freimachen. Hören Sie mit Ihrem Theater auf! Seien Sie endlich ehrlich! Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zu! Sie werden das im Bundesrat sowieso tun. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Kauder das Wort. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin Scheel, Sie haben mich völlig falsch zitiert. Ich wurde am Wochenende in einem Gespräch mit einer Zeitung gefragt: Wird der Vermittlungsausschuss vom Bundesrat angerufen, wenn Sie dieses Gesetz im Deutschen Bundestag ablehnen? Daraufhin habe ich erklärt, dass wir ein Vermittlungsverfahren zurzeit nicht anstreben. Das war meine Formulierung. Sie von der Koalition reagieren aber reflexartig mit den Worten „Blockade, Blockade“. Sie sollten sich mehr darauf konzentrieren, gute Gesetze zu machen, als gleich „Blockade“ zu schreien. ({0}) Dass wir zunächst einmal erklärt haben, ein Vermittlungsverfahren nicht anzustreben, heißt noch lange nicht, dass wir blockieren wollen. Es gibt noch andere Möglichkeiten, die Sie offenbar überhaupt nicht einkalkulieren. Sie hätten also viel ruhiger und gelassener sein sollen. Ich komme zum Schluss. Sie haben hier, im Deutschen Bundestag, mehrere Rentengesetze eingebracht. Ich sage klar: Wenn Sie das gemacht hätten, was das Bundesverfassungsgericht verlangt, nämlich die nachgelagerte Besteuerung in einem Gesetz zu regeln, und dies nicht noch mit allerlei Unsinnigkeiten verbunden hätten, dann wäre die Debatte viel einfacher gewesen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Scheel, Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schauerte, ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen, dass ich mich ins Unglück stürze. Das werde ich nicht tun. Herr Kauder, ich habe nur an Sie appelliert. Wenn Sie signalisieren, dass der Bundesrat zustimmt - das haben Sie am Dienstag gesagt -, dann wäre es doch nur ehrlich, wenn die Union diesem Gesetz auch hier zustimmte. Sie wissen ganz genau, dass dieses Gesetz, das heute mit der Mehrheit von Rot-Grün und, wie ich immer noch hoffe - ab und zu bin ich optimistisch -, auch mit Ihren Stimmen verabschiedet wird, unverändert in den Bundesrat geht. Sie haben gesagt, man werde den Vermittlungsausschuss nicht anrufen, was ich sehr begrüße. ({0}) Das bedeutet, dass dieses Gesetz vom Bundesrat verabschiedet wird und unverändert bleibt. Genau das macht die Scheinheiligkeit aus, die ich angesprochen habe. Man muss sich entscheiden: Entweder lehnt man ab oder man stimmt zu. Aber man kann dieses Gesetz hier nicht mit Getöse ablehnen und an anderer Stelle zustimmen, weil man weiß, dass es eigentlich gut ist. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nunmehr dem Kollegen Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion, das Wort.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst für meine Fraktion den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen für die sehr sachliche Beratung, die wir zu dem vorliegenden Gesetzentwurf im Ausschuss durchführen konnten, danken. Ich bedanke mich ebenfalls bei den Fachbeamten des Bundesfinanzministeriums dafür, dass sie unsere Beratungen sehr nachdrücklich unterstützt haben. Ich halte es für wichtig, das den weiteren Ausführungen voranzustellen, weil ich diesen Gesetzentwurf für sehr bedeutend erachte. Er betrifft Millionen von Bürgerinnen und Bürgern im Lande. Es geht um die Gestaltung der Zukunft in unserem Land. Deswegen ist es wichtig, dass diese Beratungen sehr sachlich, sehr konstruktiv geführt werden. Wir haben uns daran beteiligt. Wir wären sehr gern mit Ihnen gemeinsam zu einer vertretbaren Lösung gekommen. Dass das nicht gelungen ist, bedauern wir. Wir sind der Auffassung, dass man nicht beliebig darüber hinweggehen kann, dass man über bestimmte Punkte inhaltlich keine Einigung hat erzielen können, obwohl das notwendig gewesen wäre. Vielmehr muss man dann zu seinen Positionen stehen. Auch das möchte ich hier zum Ausdruck bringen. ({0}) Was ist der Hintergrund? Es klang bereits an: Dieser Gesetzentwurf ist durch das Verfassungsgerichtsurteil notwendig geworden. Es ist aber auch aus einem anderen Grund notwendig - auch das haben wir hier erörtert -, zu einer nachgelagerten Besteuerung zu kommen, und zwar wegen der Steuersystematik. Dem wird in unserem Gesetzentwurf zu einer grundlegenden Steuerreform, über den wir später noch beraten werden, Rechnung getragen. ({1}) Aber wir können das nicht losgelöst von den Problemen diskutieren, die wir mit Blick auf die Altersvorsorge in unserem Land haben. Als Sie seinerzeit die Riester-Rente, die auch Gegenstand des Gesetzentwurfs ist, eingeführt haben, sind Sie noch davon ausgegangen, dass das Rentenniveau von 67 Prozent auf 63 Prozent gesenkt wird. Heute wissen wir, dass wir im Jahr 2030 nur noch ein Rentenniveau von 43 Prozent erwarten dürfen. Das zeigt, wie notwendig es ist, in diesem Land über private Altersvorsorge viel konsequenter nachzudenken, als es bei dieser Vorlage geschehen ist. ({2}) Wir müssen bei dieser Beratung an die denken, die in den nächsten Jahren in Rente gehen werden, aber wir müssen genauso an die Bürgerinnen und Bürger denken, die in den nächsten Jahrzehnten über ihre private Vorsorge noch einen Beitrag dazu leisten müssen, dass sie eine faire Altersvorsorge erwarten können. Vor diesem Hintergrund möchte ich jetzt einige grundlegende Bemerkungen machen. Uns hat nämlich Grundlegendes getrennt und nicht irgendwelche Detailpunkte. Das Erste, was ich hier feststellen möchte, ist Folgendes: Bei dem Übergang zur nachgelagerten Besteuerung müssen wir uns vor Augen führen, wie die unterschiedlichen Gruppen - in dem Fall die Selbstständigen und die nicht selbstständig Tätigen - bezogen auf ihre Altersvorsorgeaufwendungen in der Vergangenheit besteuert worden sind. ({3}) Da müssen wir feststellen: Bei Arbeitnehmern liegt der Sachverhalt so, dass der Arbeitgeberbeitrag stets steuerfrei blieb, wohingegen die Selbstständigen in diesem Land in der Vergangenheit keinen steuerfreien Arbeitgeberbeitrag bekommen haben und ihre Altersvorsorge auch nicht in einem entsprechend hohen Umfang durch Sonderausgabenabzüge steuerfrei hätten bilden können. Das heißt, diese beiden Gruppen sind in der Vergangenheit ganz offensichtlich ungleich besteuert worden. ({4}) Jetzt gehen Sie hin und wollen etwas, das in der Vergangenheit ungleich besteuert worden ist, mit dem neuen Regime Ihres Gesetzentwurfs gleich behandeln. Aber wer versucht, Gleiches ungleich zu behandeln, handelt in gleicher Weise ungerecht wie jener, der meint, Ungleiches gleich behandeln zu müssen. Das ist die Fundamentalkritik an dieser Stelle. ({5}) Frau Scheel, Sie haben da so eine kleine Formulierung eingefügt, die den Eindruck erweckt, als würden Sie es mit Ihrem fließenden Übergang für die zukünftigen Rentnergenerationen einfacher gestalten und die Belastung geringer halten. Dazu muss ich Ihnen sagen: Im Vergleich zu dem, was wir Ihnen vorgeschlagen haben, führt Ihr Lösungsansatz zu einer stärkeren Belastung, nicht nur bei den Selbstständigen - das habe ich herausgearbeitet -, sondern auch bei den Arbeitnehmern. Das will ich Ihnen einmal an einem ganz einfachen Beispiel darstellen. Ich gehe von dem Fall aus, dass eine Person nach 45 Versicherungsjahren zum 1. Januar 2005 in Rente geht und 1 000 Euro Monatsrente - das unterstellen wir einfach einmal, damit es sich hier auch darstellen lässt erhält. Nach Ihrem Entwurf erhöhen dann 50 Prozent dieser 1 000 Euro das zu versteuernde Einkommen. Das sind 500 Euro. Diese 500 Euro legen Sie 2005 fest. Sie werden als Nominalbetrag festgelegt. ({6}) - Frau Scheel, hören Sie doch erst einmal zu! - Die gleiche Person wird im Jahr 2015 nach der bisherigen Rentenentwicklung, unter Berücksichtigung der allgemeinen Preissteigerungsrate, also dann, wenn die Rente nur in Höhe der Preissteigerungsrate angehoben werden sollte, eine Rente in Höhe von 1 200 Euro beziehen. Sie wird nach Ihrem Modell nicht mehr 500 Euro, sondern 700 Euro monatlich zu versteuern haben. Nach unserer Vorlage ist bei dieser 50-prozentigen Einbeziehung der Alterseinkünfte in das neue Steuerregime eine Dynamisierung sichergestellt. So wie wir das in unserer einfachen Regelung vorschlagen, wird die Person 2015 ebenfalls nur 50 Prozent ihrer monatlichen Altersrente, sprich: 600 Euro, und nicht 700 Euro zu versteuern haben. Nun mögen Sie sagen, das sei eine Bagatelle. Wir meinen, dass - bei einem durchschnittlichen Steuersatz von 25 Prozent - 25 Euro pro Monat für diesen Rentner ein gravierender Betrag sind. Das zeigt, wie unsystematisch Ihre Konstruktion dieses über 35 Jahre angelegten Übergangsprozesses ist. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Pinkwart, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Scheel?

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gern.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Pinkwart, steuersystematisch sind die Ausführungen, die Sie gerade gemacht haben, richtig, aber Ihre Aussagen rufen doch andere Wirkungen hervor. Ich möchte Sie von daher fragen, ob Sie das nicht klarstellen wollen. Sie haben gesagt, dass bei einer monatlichen Rente von 1 000 Euro 500 Euro steuerpflichtig sein werden. Ich möchte Sie hier bitten, klar zu sagen, dass ein Alleinstehender oder eine Alleinstehende bis zu 19 000 Euro Renteneinnahmen im Jahr völlig steuerfrei beziehen darf. Bei Verheirateten würde natürlich der doppelte Betrag gelten. ({0}) - Wenn keine anderen Einkünfte da sind, selbstverständlich. Aber wir reden ja hier nach dem, was Herr Pinkwart gesagt hat, über die Besteuerung der Rente. Meine Sorge ist, Herr Professor Pinkwart, dass jetzt in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass jeder, der Renteneinkünfte in Höhe von 1 000 Euro hat, plötzlich 500 Euro Steuern bezahlen muss. Das ist definitiv falsch. Ich bitte Sie, das richtig zu stellen. ({1})

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Scheel, zunächst einmal danke ich Ihnen, dass Sie mir in Bezug auf meine Darstellung grundsätzlich Recht gegeben haben. Das ist sehr zu begrüßen und auch sehr fair. Ich bitte Sie, mir die gleiche Fairness bezogen auf meine konkreten Ausführungen entgegenzubringen. Ich habe nämlich nicht gesagt, dass eine Steuerlast in dieser Höhe anfiele, sondern ich habe deutlich gemacht, dass das zu versteuernde Einkommen pro Monat um 500 Euro erhöht wird. Das heißt, diese 500 Euro erweitern die Bemessungsgrundlage. Nichts anderes habe ich hier dargestellt. ({0}) Es ist auch klar, dass der Bereich des steuerfreien Existenzminimums, der nicht der Besteuerung unterliegt, in Ihrem Regime genauso behandelt wird wie in unserem. Insofern ist meine Sachdarstellung in jeder Hinsicht völlig korrekt. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Pinkwart, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Hendricks?

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Pinkwart, sind Sie zunächst bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ihr Rechenbeispiel nicht zutrifft, weil in dem langen Zeitraum zwischen 2005 und 2015 die Grundfreibeträge gemäß der Maßgabe, die das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, erhöht werden und infolgedessen Rentner, wenn ihre Einkünfte steigen, genauso wie Arbeitnehmer von der Erhöhung der Grundfreibeträge profitieren? Von daher kann Ihr Rechenbeispiel schon nicht zutreffend sein. Sind Sie mit mir im Übrigen der Auffassung, dass das von Ihnen vorgeschlagene einfache Modell den Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes nicht entspricht, weil wir damit zwar im Jahre 2005 die Schere zwischen der Besteuerung von Beamtenpensionen und der von Renteneinkünften etwas schließen würden, sie sich danach aber wieder sukzessiv weiter öffnen würde? Infolgedessen würden wir den Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes nicht entsprechen, wenn wir außer dem Grundfreibetrag, der sich auf alle Einkunftsarten auswirkt, einen steigenden Freibetrag für Rentner vorsehen würden, während wir ihn für Arbeitnehmer und Pensionäre nicht vorsehen.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Hendricks, zunächst einmal ist hier festzustellen, dass Ihr erster Einwand dem entspricht, der auch von Frau Scheel vorgetragen worden ist. Die Dynamisierung des Grundfreibetrages ist in unserem Konzept ebenso vorgesehen. Das heißt, meine Argumentation wird dadurch in keiner Weise entkräftet. Das weitere Problemfeld, auf das Sie hingewiesen haben, ergibt sich aus der Konstruktion, die Sie vorgelegt haben. Dieses Argument wäre kein Argument gegen unseren Vorschlag, weil wir diesen Punkt natürlich berücksichtigen würden. Gerade Sie, Frau Hendricks, müssen sich, da Sie ja auch das Finanzministerium vertreten, hier der berechtigten Kritik an dem Vorschlag, den Sie vorgelegt haben, stellen. Wir haben einen Gegenentwurf vorgelegt und Sie wiederholt darum gebeten, ihn durchzurechnen. Frau Scheel hat eben diesbezügliche Zahlen genannt, aber uns liegt bis heute dazu keine Antwort vor. Sie hätten sich ja ruhig substanziiert mit unserem Vorschlag auseinander setzen und in den Beratungen Ihre Einwände vortragen können. Das haben Sie versäumt. Wir bringen unsere Kritik dort, wo sachlich diskutiert wird, und hier in gleicher Weise an. ({0}) - Wenn Sie sich mit einer Frage beteiligen wollen, können wir die Reihe der Zwischenfragen fortsetzen. Aber mit Blick auf meine Redezeit würde ich gerne fortfahren und noch einen oder zwei weitere inhaltliche Punkte ansprechen. Ein weiteres Problem, das wir haben - das klang auch in der Rede von Herrn Flosbach an -, ist die grundsätzliche Haltung der Regierungskoalition zum Eigentum, zu der Frage: Wie gestalten wir private, kapitalgedeckte Altersvorsorge? Bei dieser Frage waren wir in den Sachgesprächen teilweise schon viel weiter. In den Gesprächen gab es von Ihnen, jedenfalls gelegentlich, Hinweise, man könne über Teilkapitalisierbarkeit, über Vererbbarkeit nachdenken, wenn jemand zusätzlich privat vorsorgt. In den Endberatungen haben Sie diese Möglichkeiten der Flexibilisierung und der Steigerung der Attraktivität der privaten Altersvorsorge wieder zurückgenommen bzw. keine Bereitschaft gezeigt, sich darauf einzulassen. Sie wollen, wenn Sie ehrlich sind, die beiden Säulen der in Deutschland akzeptierten privaten Altersvorsorge, nämlich die Wohneigentumsbildung und die Kapitallebensversicherung, durch vielfältige Maßnahmen, die Sie hier im Hause vorlegen, im Kern erschüttern. Das ist doch Ihr Ansatz: Sie wollen die Eigenheimzulage abschaffen und gleichzeitig steuerliche Begünstigungen von Wohneigentum zur Altersvorsorge ausschließen. Sie wollen der Kapitallebensversicherung, die in Deutschland über 80 Millionen Mal vorhanden ist, die ein eingeführter Artikel der privaten Altersvorsorge ist, nicht nur die Privilegien entziehen - da würden wir mitgehen; das ist nicht der Punkt -, sondern sie ausweislich der Berechnungen des Finanzministeriums doppelt so hoch wie einfache Sparpläne und um ein Vielfaches höher als Aktienfonds besteuern. Das ist eine systematische Verweigerung gegenüber der in Deutschland praktizierten Form der privaten Altersvorsorge. Dagegen wehren wir uns massiv. ({1}) Ich möchte zum Abschluss etwas zu dem Vorgehen bei den weiteren Beratungen sagen. Von den fundamentalen Kritikpunkten hat Herr Flosbach viele angeführt, die CDU/CSU hat sie in ihrem Entschließungsantrag zum Ausdruck gebracht. Die FDP-Fraktion geht darüber noch hinaus, aber teilt diese berechtigten Bedenken. In Anbetracht der grundlegenden Probleme dieses Gesetzentwurfes müssen wir ihn hier ablehnen. Wenn wir es in Bezug auf diese Fragen ernst meinen, muss das Gesetz auch im Bundesrat angehalten werden. Wir erwarten von der Union das gleiche Verhalten im Deutschen Bundestag und im Bundesrat. Wir erwarten, dass im Vermittlungsausschuss in den zentralen Punkten dieses Gesetzentwurfes eine Nachbesserung erreicht wird. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Horst Schild, SPDFraktion.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Verabschiedung des Alterseinkünftegesetzes setzen wir einen Meilenstein in der Besteuerung der Alterseinkünfte. Das lassen wir uns auch nicht kleinreden. ({0}) Wir beenden damit eine seit Jahrzehnten bestehende Unsicherheit in der Frage, wie Einkünfte im Alter zu besteuern sind. Allen, die dieses Thema in der Vergangenheit verfolgt haben, ist spätestens seit dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1980 klar geworden, dass wir politisch handeln müssen. Ich wiederhole hier ganz deutlich, was der Bundesfinanzminister gesagt hat: Die Union hat - dafür kann man Verständnis haben - in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit nie die politische Kraft gehabt, dieses Problem zu lösen. ({1}) Es ist völlig klar, dass der Einwurf „Petersberg“ kommen wird. Ich will gar nicht darauf zu sprechen kommen - das hat der Minister vorhin angesprochen -, zu welchem Zeitpunkt Sie das Thema aufgegriffen haben. Es war zum Ende Ihrer Regierungszeit; ein bisschen länger waren Sie ja dabei. ({2}) Aber all die Probleme, die insbesondere aus Ihren Reihen heute als Beleg dafür angeführt werden, dass Sie nicht zustimmen können, hätten wir - das sage ich in aller Deutlichkeit - auch bei 50 Prozent Ertragsanteil gehabt; das war ja Ihre Maßgabe. Keines der Probleme, die vor allen Dingen die Sozialpolitiker in Ihren Reihen heute benennen, wäre dadurch gelöst worden. ({3}) Ich gebe gern zu, dass das Alterseinkünftegesetz eine schwierige Materie darstellt. Es enthält auch unpopuläre Maßnahmen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns einen Termin gesetzt und wir müssen jetzt handeln. Die Bereitschaft auf der Seite der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen, einen Konsens mit der Opposition herbeizuführen, war groß. Ich sage ganz freimütig: Mein Eindruck war, dass die Finanzpolitiker der Union und der FDP ernsthaft zu einer Zusammenarbeit bereit waren. ({4}) Herr Flosbach hat uns in der ersten Lesung im Dezember letzten Jahres eine konstruktive Zusammenarbeit angeboten, „damit über dieses Thema im Bundestag entschieden wird und wir uns damit nicht erneut lange im Vermittlungsausschuss beschäftigen müssen“. Wir haben zahlreiche Gespräche geführt - ich erinnere daran, dass es mindestens vier oder fünf Gespräche auf Arbeitsebene gegeben hat -, um zu einem Konsens zu kommen. Wir haben mit Rücksicht auf die Opposition sogar den Zeitpunkt der Verabschiedung dieses Gesetzes deutlich nach hinten verschoben. Dann wurde von der Parteiführung der CDU/CSU die Strategie festgelegt. Sie lautet, keine politische Mitverantwortung zu übernehmen - selbst an den Stellen, an denen wir kurz vor einer Einigung standen. ({5}) Sie wollen nämlich mit dem Thema Rentensteuer bei den kommenden Wahlen auf Stimmenfang gehen. ({6}) Es gibt keine sachlichen Gründe für Ihr Verhalten. Es ist zwar Ihr gutes Recht als Opposition, die Sache hintanzustellen. Aber eines muss man im Deutschen Bundestag dann deutlich sagen: Es sind nicht sachliche, sondern parteitaktische Gründe, die Ihr Verhalten bestimmen. ({7}) Sie wollen Rentner verunsichern und unberechtigte Ängste schüren. ({8}) Das macht auch Ihr Entschließungsantrag deutlich. ({9}) Herr Kollege Flosbach, wir werden Ihrem Dokument des politischen Eiertanzes zur Befriedigung der unterschiedlichen Interessen in Ihren Reihen natürlich nicht zustimmen. Ich will in diesem Zusammenhang auf einige Ihrer Kritikpunkte eingehen. Sie sagen, das Alterseinkünftegesetz sei nicht eingebettet in ein schlüssiges Gesamtkonzept der Alterssicherung und Altersvorsorge. ({10}) Der Bundesfinanzminister hat vorhin ganz deutlich gesagt: Unser Prinzip ist Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. ({11}) - Sie müssen das auch nicht, Herr Michelbach. Wir werden den Wählern deutlich machen, dass wir ein schlüssiges Gesamtkonzept haben. Ich will nicht weiter auf Ihr Konzept eingehen. Auch mir ist nicht ganz klar, was Sie wollen. Im Vergleich zu dem Gesetz, das der Deutsche Bundestag heute beschließen soll, wird ganz deutlich, dass Ihrem Konzept jede Logik, jede Stimmigkeit und jede politische Redlichkeit fehlt. Sie beklagen die Kompliziertheit dieses Gesetzentwurfes. Trotzdem haben Sie im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens mindestens fünf bis zehn Punkte eingebracht, die zur weiteren Verkomplizierung des Gesetzes geführt hätten. ({12}) Ich will gar nicht über das reden, was die FDP eingebracht hat. Ich will ein einfaches Beispiel für die Unstimmigkeit Ihrer Vorschläge anführen. Sie beklagen, dass wir den Bestandsschutz bei den Lebensversicherungen nicht in aller Konsequenz sicherstellen. Wir wollen, dass Lebensversicherungen, die bis zum 31. Dezember 2004 abgeschlossen werden, unter den Bestandsschutz fallen. Aber der Sonderausgabenabzug, der im Jahre 2014 ausläuft, kann nicht bestehen bleiben. Man könnte sich nun darüber unterhalten, was das für Konsequenzen hat; ich will in diesem Zusammenhang jetzt nicht über die finanziellen Probleme reden. Wer im Jahre 2004 eine Lebensversicherung abschließt, der wird diese Versicherung noch 20, 30 oder 60 Jahre haben. Wir müssten also für diesen langen Zeitraum im Einkommensteuergesetz ein eigenständiges Sonderausgabenabzugsrecht für diesen immer kleiner werdenden Personenkreis schaffen. Das soll ein Beitrag zur Steuervereinfachung sein? Das kann man zwar wollen. Aber dann darf man uns nicht vorwerfen, wir wollten eine komplizierte Regelung, wohingegen Sie eine einfache Regelung wollen. ({13}) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Ihre politische Zielsetzung ist weiterhin - Kollege Meister hat das noch gestern im Finanzausschuss gesagt - die Öffnung der Produkte im Rahmen von § 10 Einkommensteuergesetz. Sie wollen mehr als die kapitalgedeckte Leibrente vorsehen. Aber Sie haben dazu im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages keinen Antrag gestellt. Ich bitte darum, hier einmal zu erläutern, weshalb Sie dazu keinen Antrag stellen. ({14}) - Sie haben keinen Antrag gestellt. Die Formulierungshilfe, die Sie erbeten haben, zeigt, weshalb nicht. Es wird nämlich deutlich, dass dies auf Dauer zusätzliche Steuerausfälle in Milliardenhöhe zur Folge hat. Auch Ihre Sozialpolitiker müssten zur Kenntnis nehmen: Je attraktiver in der ersten Säule die kapitalgedeckte Leibrente gestaltet wird, desto mehr Menschen ziehen sich aus dem Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung zurück. Das führt auch für dieses System zu Folgewirkungen. Ich vermute einmal: Auch das ist wieder ein Beleg dafür, dass Sie in Ihren Reihen keine Klarheit darüber haben, was Sie wollen. ({15}) Dann werden weitere Popanze aufgebaut. Sie wollen beispielsweise das Wohneigentum in das vorliegende Gesetz integrieren. ({16}) In keinem der Gespräche, die wir auf der Arbeitsebene geführt haben, und in keiner der Beratungen des Finanzausschusses ist vonseiten der FDP oder der Union der Antrag gestellt worden, ({17}) im Hinblick auf das Wohneigentum über das, was wir im Einkommensteuergesetz mit dem modifizierten Entnahmemodell festgelegt haben, hinauszugehen. Hier im Deutschen Bundestag sagen Sie aber: Die Nichtberücksichtigung des Wohneigentums ist einer der Punkte, weshalb die Union nicht zustimmen kann. - Das ist doch unredlich; das ist doch scheinheilig. ({18}) Sie suchen krampfhaft nach Möglichkeiten, um sich zu verstecken und sich hier im Deutschen Bundestag der Zustimmung zu diesem Gesetz, das notwendig ist und im Hinblick auf die Besteuerung der Alterseinkünfte und die Generationsgerechtigkeit ein Meilenstein ist, zu entziehen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Vorsitzenden der Jungen Union verweisen - auch wir haben junge Leute in unserer Partei, ({19}) die bisweilen etwas sagen, was uns nicht gefällt -, der offensichtlich im Gegensatz zu vielen Mitgliedern der Bundestagsfraktion das Problem erkannt hat, als er gesagt hat, die Union müsse endlich auch dieses Thema angehen. Der junge Mann hat wenigstens verstanden, um was es dabei geht, nämlich um Generationengerechtigkeit. ({20}) Man könnte noch lange über Ihren Entschließungsantrag sprechen. Aber eines will ich ganz deutlich machen: An einer Stelle wird kritisiert, dass mit diesem Gesetzentwurf hohe Steuerausfälle verbunden sind. Das ist richtig. Das geht auch nicht anders, wenn wir die zukünftigen Generationen Schritt für Schritt von den Aufwendungen für die gesetzliche, die betriebliche und die private Altersvorsorge entlasten wollen. Aber auf diesem Wege, mit dem, was wir der jungen Generation steuerlich bieten, schaffen wir Spielraum - wenn auch nicht im Jahre 2005, aber in den nächsten Jahren -, eine zusätzliche betriebliche und private Altersvorsorge zu betreiben. Meine Damen und Herren von der Union, der parteipolitische Formelkompromiss, der in Ihrem Entschließungsantrag zutage tritt, soll doch nur die unvereinbaren Positionen innerhalb der Fraktion, zwischen CDU und CSU und vielleicht auch zwischen Finanz- und Sozialpolitikern verdecken. Dies ist doch auch in der Vergangenheit deutlich geworden. Ich weiß nicht, ob das, was in der Presse steht, immer auf authentischen Aussagen beruht. Aber wir alle haben doch zur Kenntnis nehmen müssen, dass es offensichtlich zwischen dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union, der für Finanzen und Haushalt zuständig ist, und dem, der für die Sozialpolitik zuständig ist, unterschiedliche Auffassungen gegeben hat. ({21}) Ich habe gelesen - wenn es denn wirklich so gesagt worden ist -, dass der eine Kollege über den anderen meint, dieser habe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht recht verstanden. Wenn es so gesagt worden sein sollte, dann habe ich dafür große Sympathien; er hat in der Tat Recht. Es gelingt der Union einfach nicht, in der Sozial- und Finanzpolitik zu fundierten einheitlichen Positionen zu kommen. Deshalb ersetzen Sie die Sachpolitik durch parteitaktische Spielereien. Das müssen wir heute zur Kenntnis nehmen. Das ist die Ursache, warum sich die Union trotz weitgehender Fortschritte, die wir in den Gesprächen erzielt haben, nicht durchringen konnte, im Deutschen Bundestag Farbe zu bekennen. Es ist natürlich das Recht der Opposition, nicht Farbe zu bekennen, aber darauf muss man hier in diesem Hause auch ganz deutlich hinweisen dürfen. ({22}) Ich möchte jetzt ein paar Sätze zur Sache sagen ({23}) und deutlich machen, was wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht haben. ({24}) - Ihr Problem ist doch, dass Sie keine Entscheidungen treffen, weil Sie in Ihren Reihen zu keiner einheitlichen Lösung kommen. Deswegen muss man hier auch dazu etwas sagen. Denn die Bürger verstehen nicht mehr, was bei Ihnen abläuft. ({25}) Aus den Zeitungskommentaren zu den parteitaktischen Spielchen, die hier betrieben werden, wird deutlich, dass die Bürger Ihre Spielchen nicht verstehen. Deswegen wollte ich darauf deutlich hinweisen. Wir sind uns darüber einig, dass der Systemwechsel hin zur nachgelagerten Besteuerung bei den Alterseinkünften - in den Petersberger Beschlüssen war er nicht enthalten - notwendig ist. Dieser Systemwechsel ist die angemessene Antwort auf unsere Probleme und er schafft den zukünftigen Generationen den Spielraum zur Vorsorge. Im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge sind wir entgegen dem, was die Kollegen Flosbach und Pinkwart gesagt haben, einen deutlichen Schritt vorangekommen. Bisher konnten wir uns nur im Rahmen des § 3 Nr. 63 Einkommensteuergesetz bewegen. Nur für den kleinen Personenkreis, der eine Direktversicherung abschloss, gab es die Möglichkeit der Pauschalbesteuerung auf der Grundlage des § 40 b Einkommensteuergesetz. Jetzt haben wir für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer ein Volumen von über 4 000 Euro erreicht, das ist ein Fortschritt. Diejenigen, die fordern, diese müssten unbelastet bleiben, müssen sich angesichts der Lage der Sozialversicherungssysteme rechtfertigen; denn diese können keine zusätzlichen Ausfälle verkraften. ({26}) Lassen Sie mich ein paar Worte zur Kapitallebensversicherung sagen. Es ist zumindest zwischen Koalition und der Union unstrittig gewesen, dass es das bisherige Steuerprivileg zukünftig nicht mehr geben soll. Strittig war die Frage, welches Instrument man anwenden soll. Sie haben dazu einen Antrag gestellt, wir haben eine andere Position vertreten. Da hier so getan wird, als sei das der Tod der Lebensversicherung, möchte ich Folgendes sagen: Der Präsident der deutschen Aktuarsvereinigung, Herr Kurt Wolfsdorf - er ist vielen bekannt, er war Vorstandsmitglied eines großen Versicherungsunternehmens -, sagte gestern in der „FAZ“: Die Kapitallebensversicherung ist auch ohne Förderung attraktiv. Sie wird es auch weiterhin sein und wir werden den Lebensversicherungen, die die Voraussetzung der Altersvorsorge erfüllen, eine Progressionsmilderung bieten. Unser Gesetzentwurf führt zu einer verfassungskonformen Neuregelung. Wir haben damit den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts - bedauerlicherweise ohne die Mithilfe der Opposition - erfüllt. Wir tragen die Verantwortung, wir nehmen sie wahr. Insbesondere die Verbesserungen im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge wurden - wie auch schon beim Altersvermögensgesetz ohne Zutun der Union beschlossen. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat die Union leider nichts Neues zu bieten. Ich danke Ihnen. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Schild, Lautstärke ersetzt Argumente nicht. ({0}) Mir scheint, Sie haben versucht, mit Lautstärke die Tatsache zu überspielen, dass wir in der Zeit zwischen Dezember letzten Jahres - Vorlage des Entwurfs durch das Bundesfinanzministerium - und Anfang März, der Woche vor Ostern, von Ihrer Seite nichts, aber auch gar nichts an Änderungsvorschlägen auf den Tisch bekommen haben. ({1}) - Lieber Herr Schild, Sie haben dreieinhalb Monate lang erklärt: Dieses Gesetz in der Fassung vom Dezember 2003 ist das beste, das es gibt, und es besteht kein Änderungsbedarf. ({2}) Gestern aber haben wir 50 Umdrucke durchgearbeitet und dieses Gesetz in wesentlichen Punkten verändert. Das muss hier einmal gesagt werden. ({3}) Dreieinhalb Monate lang gab es keine Möglichkeit, mit den Bundestagsfraktionen von Rot und Grün und Vertretern des Bundesfinanzministeriums über die Sache zu reden. Das Höchste war, dass wir am Anfang der Berichterstattergespräche auf Ihren Wunsch hin die Vertreter des Bundesfinanzministeriums haben vor der Tür stehen lassen, damit wir uns in der Sache überhaupt bewegen konnten. ({4}) Der Grund für dieses Verfahren liegt darin, dass sich Ihr Finanzminister überhoben hat. Er hat nicht nur versucht, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, sondern er hat auch die deutsche Politik damit beglückt, sich mit der betrieblichen Altersvorsorge und einer Bastelstunde an der Riester-Reform zu beschäftigen. Das ist der zentrale Punkt von Eichel, einem Minister auf Abruf. Das Arbeitsmotto bezüglich dieses Gesetzes war wohl, alles irgendwann einmal anzusprechen, aber nichts wirklich zu Ende zu denken. Der Entwurf war unübersichtlich, kompliziert und hätte nicht zu einer Vereinfachung des Einkommensteuerrechts geführt. Wenn wir uns nicht in die Diskussion eingebracht hätten, wenn wir nicht wesentliche, fundierte Änderungsvorschläge entwickelt hätten, hätten wir heute überhaupt kein Problem, darzustellen, dass dieses Gesetz Unsinn und damit abzulehnen ist. Jetzt haben wir uns darauf eingelassen und - zugegeben - von unseren über ein Dutzend Änderungsvorschlägen haben Sie große Teile übernommen. ({5}) Sie stellen sich jetzt vor uns hin und sagen: Jetzt haben wir so viel von euch übernommen, jetzt müsst ihr zustimmen. Meine Damen und Herren, wir sind hier nicht auf dem Marktplatz. Wir haben abzuwägen und müssen feststellen, dass das Gesetz immer noch wesentliche Webfehler enthält. Deshalb werden wir als Teil des Bundestages dieses Gesetz heute ablehnen. ({6}) Ich will Ihnen gerne zumindest drei der zentralen Webfehler darstellen. Ein zentraler Webfehler dieses Gesetzes ist beispielsweise die Behandlung der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Der Gesetzentwurf verkompliziert die kapitalgedeckte Altersvorsorge und macht sie insgesamt für den Bürger unattraktiver. ({7}) Nach geltendem Recht können Beiträge zur Kapitallebensversicherung im Rahmen der Vorsorgehöchstbeträge zu 88 Prozent steuermindernd berücksichtigt werden und die Auszahlung der während der Laufzeit angesammelten Erträge sowie der Schlussüberschussbeteiligung erfolgt für Verträge mit einer Mindestlaufzeit von zwölf Jahren steuerfrei. Dieses so genannte zweifache Steuerprivileg soll nach Ihrem Willen abgeschafft werden. Sie wollen auch die Begünstigung der Beitragszahlung für bestehende Verträge auslaufen lassen. Diese Änderungen führen zu einer Benachteiligung der Lebensversicherung gegenüber jeder anderen Art von Kapitalanlage. ({8}) Träte das Gesetz in Kraft, würde das faktisch das Aus für die Kapitallebensversicherung bedeuten. Die Lebensversicherungen wären in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig. ({9}) Sie müssen sich schon mit den Fakten konfrontieren lassen: Noch im Jahre 2003 haben 8,6 Millionen Deutsche Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt es in Deutschland 91,5 Millionen Lebensversicherungsverträge. Sie sagen, die Lebensversicherung sei überaltert, und bieten Ihr Riester-Alternativmodell an. Vergleichen wir doch einmal den Bestand von etwa 91 Millionen Lebensversicherungsverträgen mit den kümmerlichen 3 Millionen Menschen, die sich auf Ihr Riester-Konzept eingelassen haben. Stellt sich da wirklich noch die Frage, welches das bessere, wettbewerbsfähigere und zukunftsfähigere Modell ist? Die Antwort liegt auf der Hand: über 90 Millionen Lebensversicherungsverträge gegenüber kümmerlichen 3 Millionen Riester-Verträgen, wobei zehnmal so viele berechtigt wären. ({10}) - Doch, das muss man so darstellen. ({11}) Sie müssen doch einfach feststellen, dass die Menschen zwischen dem Altersvorsorgeprodukt Lebensversicherung und dem Altersvorsorgeprodukt Riester-Rente wählen, dass sie sich von der Riester-Rente abwenden und Ja zur Lebensversicherung sagen. Deshalb ist es an dieser Stelle ein zentraler Webfehler, dass Sie das Produkt Lebensversicherung kaputtmachen. ({12}) Der zweite große Webfehler liegt tatsächlich in der Riester-Rente. Sie sind mit dem Anspruch angetreten, mit diesem Gesetz den Riester-Flop zu beheben; denn mit dieser ersten Jahrhundertreform, die Rot-Grün eingeleitet hat, sind Sie zu kurz gesprungen. Deshalb wollten Sie dieses Gesetz verbessern. Aber, meine Damen und Herren, was haben Sie getan? Erstens haben Sie einer alten Forderung der Union nachgegeben und endlich die Möglichkeit eines Dauerzulagenantrags zugelassen. ({13}) Zweitens haben Sie versucht, die Regelungen der Riester-Rente zu vereinfachen. Zugegebenermaßen reduzieren Sie zwar die Anzahl der Kriterien von elf auf fünf. Aber gleichzeitig zur Reduktion der Kriterien führen Sie eine Berichtspflicht allgemeiner Art ein, die zur Folge haben wird, dass nicht nur die alten, bereits bestehenden Riester-Zertifikate neu angemeldet werden müssen - das ist, nebenbei gesagt, eine klassische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Behörden, die die RiesterVerträge zu zertifizieren haben -, sondern dass zusätzlich auch ethische, soziale und ökologische Belange ausgewiesen werden müssen. Unter der Überschrift „Vereinfachung der Riester-Rente“ solche Berichtspflichten einzuführen, das ist ein Treppenwitz. ({14}) Damit wir uns nicht falsch verstehen, will ich Ihnen sagen: Wir können Ihre Initiative, was die Berichtspflicht hinsichtlich ethischer, sozialer und ökologischer Gesichtspunkte angeht, nachvollziehen. Wir sind auch nicht dagegen, dass die Anbieter diese Berichte formulieren. Aber das im Gesetz festzuschreiben ist der falsche Weg. ({15}) Darüber hinaus stellt sich angesichts der aktuellen Lage in Deutschland die Frage, warum wir uns, wenn wir uns über ethische, soziale und ökologische Gesichtspunkte berichten lassen, nicht auch über die wirtschaftlichen Impulse einer solchen Anlage berichten lassen. ({16}) Wir müssten uns doch auch über die neuen Arbeitsplätze, die die Anlage geschaffen hat, berichten lassen. ({17}) Wollen Sie sich wirklich nur über ethische, soziale und ökologische Aspekte berichten lassen? Wollen Sie nicht auch über neu geschaffene Arbeitsplätze informiert werden? ({18}) Wenn wir also über Berichtspflichten reden, dann müssen wir uns auch über einen ordentlich abgestimmten Kanon unterhalten. ({19}) Über die Einführung so genannter Unisextarife möchte ich hier gar nicht lange sprechen. ({20}) - Denn, lieber Herr Schild, alle Beteiligten wissen, dass Sie dem Produkt Riester-Rente mit dieser Entscheidung erheblichen Schaden zufügen. Statt einen Neustart zu unternehmen - wie das von Ihnen geplant ist -, tragen Sie dazu bei, dass die Riester-Rente endgültig zum Rohrkrepierer wird. ({21}) - Doch, lieber Herr Schild. ({22}) Der wesentliche Grund dafür ist, dass Sie daran gescheitert sind, die Riester-Rente zu öffnen. Denn wenn Sie die Riester-Rente für Selbstständige geöffnet hätten, denen Sie nach wie vor den Zugang zu Riester-Produkten verwehren, hätte man noch über eine Regelung sprechen können. Aber Sie tun Folgendes: Sie verschlechtern für die Selbstständigen in Deutschland die Möglichkeit, für ihre Altersvorsorge Lebensversicherungen zu nutzen und sperren Sie aus der Nutzung des Riester-Konzepts aus. ({23}) Damit benachteiligen Sie die Selbstständigen in Deutschland. Meine Damen und Herren, Respekt und herzlichen Glückwunsch zu diesem grundsätzlichen Ansatz! Schlussendlich lassen Sie durch Ihren Entwurf die zentrale Chance in dieser Legislaturperiode für den Finanzplatz Deutschland verstreichen. Der Begriff „Leibrente“ als einzige staatlich bzw. steuerlich begünstigte Altersvorsorge ist viel zu eng gefasst. ({24}) Angesichts des Effektes des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung werden in Zukunft alle Vorsorgeprodukte, die vererblich, übertragbar, beleihbar, veräußerbar und kapitalisierbar sind, benachteiligt. ({25}) Das schädigt den Finanzplatz Deutschland, weil Sie den Wettbewerb, statt ihn auch bei der Altersvorsorge zuzulassen, aussperren. Sie haben sich dagegen entschieden, eine Vielzahl von Anlageprodukten zuzulassen und den damit einhergehenden Wettbewerb auch in Deutschland zuzulassen. Auch hier haben die Selbstständigen das Nachsehen: Sie haben keinen Zugang zur Riester-Rente und der enge Begriff der Leibrente führt zu einer Diskriminierung der Vermögensbildung. Das sind drei zentrale Webfehler, die uns dazu führen, dass wir sagen müssen: Dieses Gesetz ist Ausschussware mit groben Webfehlern und wir werden dem nicht zustimmen. ({26}) Alterssicherung ist Vertrauenssache. Deshalb muss die rentenpolitische Flickschusterei, die die Bundesregierung seit mittlerweile fünf Jahren betreibt, endlich beendet werden. Die Menschen wissen doch heute nicht mehr, wie viel Geld ihnen im Alter zur Verfügung stehen wird. Sie warten darauf, dass endlich ein Konzept vorgelegt wird, das deutlich macht, welchen Produkten sie vertrauen können und wie sie die zu erwartenden Ausfälle durch den Zusammenbruch des gesetzlichen Rentenversicherungssystems kompensieren können. Das Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen wird diesem Anspruch in keiner Weise gerecht; es ist letztendlich nur ein weiterer Beitrag zur Komplizierung unseres Steuerrechts. Herzlichen Dank. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Christel Humme, SPDFraktion.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wenn man die Debatte so verfolgt, muss man feststellen, dass eine Tatsache völlig unterzugehen scheint: Heute ist ein guter Tag, denn wir machen die Riester-Rente attraktiver. ({0}) Wir verankern in der Riester-Rente endlich gleiche Tarife für Männer und Frauen. Das heißt, um 15 Prozent höhere Beiträge für Frauen bei gleicher Leistung wird es zukünftig in der Riester-Rente nicht mehr geben. ({1}) Das ist gut so, schließlich wird diese Säule der privaten Altersvorsorge durch öffentliche Mittel, durch Steuergelder, gefördert. Gleiche Tarife für Männer und Frauen gebieten uns der Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes und unser Wissen, dass ausnahmslos alle für ihr Alter zusätzlich zur gesetzlichen Rente vorsorgen müssen. Diese wichtigen Gründe waren ausschlaggebend für unsere Entscheidung, diese Gründe führten aber auch dazu, dass es im Bundestag dafür eine breite Mehrheit - die heute leider gar nicht zum Ausdruck kommt - gegeben hat. Nicht nur Männer und Frauen von Rot-Grün haben dafür gestritten, nein, ich weiß genau: Für gleiche Tarife für Männer und Frauen in der Riester-Rente haben sich auch Männer und Frauen der Union und Männer und Frauen der FDP eingesetzt. Damit haben wir gemeinsam ein gutes Stück Geschlechtergerechtigkeit erreicht. ({2}) Ich hätte mir gewünscht, dass auch diese Stimmen von Ihrer Seite heute hier zu Wort gekommen wären; ({3}) denn diesen Männern und Frauen, die mitgestritten haben, danke ich an dieser Stelle recht herzlich. ({4}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in der Tat machen wir die Riester-Rente mit den so genannten Unisextarifen attraktiver. Frauen sind hierbei die Gewinnerinnen; das haben wir politisch so gewollt. ({5}) Unser Ziel war und ist weiterhin die eigenständige Alterssicherung für Frauen. Die Rentenreform 2001 war dafür ein entscheidender Schritt. Die Unisextarife sind der konsequente zweite Schritt auf dem Weg zur eigenständigen Alterssicherung für Frauen. ({6}) Gerade Frauen können sich nicht mehr auf die gesetzliche Rentenversicherung allein verlassen. Sie brauchen mehr noch als Männer ein zweites Rentenstandbein; denn aufgrund von Kindererziehung, Pflege und unterdurchschnittlichem Einkommen sind ihre gesetzlichen Rentenansprüche in der Regel geringer. Weniger Einkommen aber und noch dazu höhere Beiträge - mit dieser doppelten Benachteiligung von Frauen machen wir endlich Schluss. ({7}) Unsere Entscheidung für Unisextarife - das haben wir auch heute Morgen gesehen - hat für viel Aufregung gesorgt, was mich schon ein bisschen verwundert. Vom Schlag gegen die Riester-Rente, vom Sargnagel für das Riester-Geschäft, gar vom Todesstoß für die RiesterRente, Herr Flosbach, war hier die Rede. Vertreter der konservativen Medien und der Versicherungswirtschaft lieferten sich regelrecht einen Wettstreit um den dramatischsten Kommentar - und das, obwohl 12,7 Millionen potenzielle Kundinnen geworben werden könnten, wenn man nur wollte. Herr Fahrenschon, Unisextarife bedeuten nicht den Tod der Riester-Rente, sondern das Gegenteil. ({8}) „Frauen leben länger und müssen deshalb höhere Beiträge zahlen“, mit dieser Logik macht es sich die Versicherungswirtschaft viel zu einfach. Die Lebenserwartung hängt nicht alleine vom Geschlecht ab, sondern von einem Bündel von Einflussfaktoren. Deshalb haben die USA unterschiedliche Tarife für Männer und Frauen schon längst abgeschafft, und zwar für alle privaten Versicherungsverträge. ({9}) Vom Todesstoß für die Riester-Rente zu sprechen, wenn Frauen die berechtigte Forderung nach gleichen Lebenschancen erheben, offenbart ein Rollenverständnis, das es zwar immer noch gibt, das aber schon längst überholt ist. Bei diesem Rollenverständnis wird davon ausgegangen, dass es einer Frau dann am besten geht, wenn ihr Mann gut versorgt ist. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wen kümmert das Anrecht von Frauen auf eigene Rentenansprüche? Wen kümmern die vielen allein stehenden Frauen, die, selbst wenn sie es wollten, nicht durch einen Mann versorgt werden? Ich sage Ihnen: Uns kümmert das. Auch deshalb haben wir für gleiche Tarife für Männer und Frauen in der Riester-Rente gesorgt. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Andreas Storm, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In welchem rentenpolitischen Umfeld findet die heutige Debatte eigentlich statt? - Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurde innerhalb von so kurzer Zeit eine solche Vielzahl von Belastungen für Rentnerinnen und Rentner beschlossen. ({0}) Von Rot-Grün kommt alle drei Monate eine neue Hiobsbotschaft. 1. Januar 2004: Verdoppelung der Krankenkassenbeiträge bei Betriebs- und Versorgungsrenten. 1. April 2004 - das ist erst drei Wochen her -: Verdoppelung des Pflegebeitrags für Rentnerinnen und Rentner, was im Klartext eine Kürzung der Renten um 0,85 Prozent bedeutet. 1. Juli 2004: Die jährliche Rentenanpassung fällt in diesem Jahr aus. Das, was Sie Nullrunde nennen, ist vor dem Hintergrund der Rentenkürzung durch die Erhöhung des Pflegebeitrags vor drei Wochen in Wirklichkeit ein klare Minusrunde. Damit ist das Ende der Fahnenstange aber noch lange nicht erreicht. Vor sieben Wochen hat Rot-Grün hier im Deutschen Bundestag eine neue Rentenformel beschlossen, welche die Rentenentwicklung bis zum Jahr 2010 weit von der Lohnentwicklung der Beitragszahler abkoppelt. Legt man die Wachstumsprognose zugrunde, die die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute vorgestern vorgelegt haben, bedeutet das im Klartext, dass sich die Rentnerinnen und Rentner im kommenden Jahr auf eine weitere Nullrunde einstellen müssen. ({1}) Da helfen auch alle wachsweichen Dementis des Sozialministeriums nicht weiter, Frau Schmidt: Dadurch, dass Sie den Nachhaltigkeitsfaktor auf den Riester-Faktor draufschlagen, bleibt für eine Rentenerhöhung so gut wie kein Spielraum. Eine solche Kumulation von Belastungen innerhalb von wenigen Monaten ist in der deutschen Sozialgeschichte beispiellos. ({2}) Das ist das Umfeld, in dem wir heute über das Alterseinkünftegesetz zu entscheiden haben. Worum geht es bei diesem Alterseinkünftegesetz? Natürlich liegt der Schwerpunkt des Gesetzes auf der Neuregelung der Rentenbesteuerung. Hinsichtlich des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung herrscht in der Tat über die Fraktionsgrenzen hinweg eine grundsätzliche Übereinstimmung; es war schließlich eine langjährige Forderung von uns. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille betrifft die dringend erforderliche Ausweitung der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge neben der gesetzlichen Rentenversicherung. ({3}) An dieser Stelle wäre dringend Klarheit und Verlässlichkeit geboten gewesen. ({4}) Nach Ihrem Notsparpaket vom vergangenen November und dem so genannten RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom März 2004 beraten wir heute mit dem Alterseinkünftegesetz bereits das dritte Teilstück Ihrer Rentenreform. Eine Gesamtkonzeption ist in diesem Dreiklang allerdings nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Kein Element passt zum anderen. Sie haben die einmalige Chance vertan, eine umfassende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge sowie eine Neuregelung der steuerlichen Behandlung der Alterseinkünfte aus einem Guss vorzulegen. Gefordert wäre eine Reform, bei der die Statik des Gesamtgebäudes der reformierten Alterssicherung trägt. Stattdessen haben Sie bei der gesetzlichen Rentenversicherung mit der Abrissbirne begonnen, bevor überhaupt genügend Bautrupps für den Aufbau der ergänzenden Vorsorge bereit standen. Dieser Dilettantismus betrifft alle Bewohner des Gebäudes, sowohl die Rentnerinnen und Rentner als auch die junge Generation, die Beitragszahler. Mit der im vergangenen Monat beschlossenen Rentenreform und der Neuregelung der Rentenbesteuerung, die heute beschlossen wird, sinkt das Nettorentenniveau für die jüngere Generation von heute etwa zwei Drittel auf nur noch die Hälfte ab. Das ist ein rentenpolitischer Paradigmenwechsel. ({5}) Damit nehmen Sie endgültig Abschied vom Ziel einer Lebensstandard sichernden Rente. Die Wahrheit ist: Die gesetzliche Rente hat für die jüngere Generation nur noch den Charakter einer beitragsfinanzierten Basissicherung. ({6}) Angesichts dieses Paradigmenwechsels bezüglich des Sicherungsziels muss den Jüngeren unmissverständlich und klar gesagt werden, dass sie ergänzend vorsorgen müssen. Deswegen müssen gleichzeitig die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit eine flächendeckende ergänzende Altersvorsorge rasch aufgebaut werden kann. Wenn dies nicht gelingt, dann werden bereits heute die Ursachen für die Altersarmut von morgen gelegt. ({7}) Um diese Wahrheit haben Sie sich vor sieben Wochen mit Ihrem bizarren Streit um die Höhe von Rentenniveau und Beitragssatz herumgedrückt. Mit den unhaltbaren Versprechungen zum Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente wiegen Sie die Menschen einmal mehr in einer falschen Sicherheit. Man braucht sich auch nicht über die mangelnde Akzeptanz der ergänzenden Vorsorge in der Bevölkerung zu wundern; denn - das hat heute Morgen schon mehrfach eine Rolle gespielt - die bisherige Bilanz der Riester-Rente ist mehr als enttäuschend. Sie ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Abschlusszahlen verharren bei 4 Millionen. Gleichzeitig wissen wir, dass bisher nur etwa 1,5 Millionen Berechtigte ihren Zulagenantrag auf Förderung gestellt haben. Daran wird deutlich: Dieses Verfahren wird von den Menschen im Moment nicht angenommen. Mit der Einführung des Dauerzulagenantrags haben Sie einen Webfehler korrigiert. Das halten wir für richtig, das war eine richtige Entscheidung. Sie glauben aber doch wohl nicht ernsthaft, dass die Riester-Rente allein durch diese Maßnahme und wenige andere Korrekturen zu einem Renner wird. Lassen Sie die Zahlen aus der Versicherungswirtschaft einmal ganz nüchtern auf sich wirken: Im Jahre 2003 wurden nur noch 500 000 Riester-Verträge abgeschlossen. In diesem Jahr wird es eine weitere Abwärtsbewegung geben. ({8}) - Herr Kollege Schmidt, das bedeutet im Klartext: Wenn es so weitergeht, dann werden Sie es nicht annähernd schaffen, dass nach diesem Jahrzehnt möglichst jeder über eine ergänzende Altersvorsorge verfügt. ({9}) Wenn das nicht gelingt, dann ist das nicht nur ein Problem für Rot-Grün. Es ist eine zentrale sozialpolitische Herausforderung für uns alle; ({10}) denn die Antwort auf die Frage, ob die Jüngeren im Jahre 2030 oder 2040 eine ausreichende Alterssicherung haben, hängt davon ab, ob wir in diesen Monaten die richtigen Weichenstellungen treffen. Davon sind wir meilenweit entfernt. ({11}) Man muss sich doch einmal überlegen, warum die Menschen das Angebot der Riester-Rente aus Ihrer Rentenreform im Jahre 2001 bisher nicht annehmen. Das liegt daran, dass Ihre Konzeption an den Bedürfnissen vieler Menschen vorbeigeht. Die Frage, was Altersvorsorge ist, deckt sich nicht unbedingt mit dem, was in einigen Lehrbüchern einiger Ihrer Berater steht. Warum überlassen Sie es den Menschen nicht selbst, wie sie für das Alter vorsorgen wollen? Ein entscheidender Punkt ist, dass die Menschen mehr Freiräume haben wollen. Nur dann werden sie ermutigt, für ihre eigene Vorsorge mehr zu tun. Zu diesen Freiräumen gehört beispielsweise die Möglichkeit für ein so genanntes Teilkapitalwahlrecht. Wenn sie für das Alter Geld ansparen, ist es für viele Bürger wichtig, dass sie am Beginn des Ruhestandes selbst entscheiden können, ob ein Teil des angesparten Kapitals zur freien Verfügung steht. Klar ist, dass natürlich der größere Teil in monatlichen Rentenzahlungen ausgezahlt werden muss. Aber eine gewisse Entscheidungsfreiheit über das selbst angesparte Kapital ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen diese Altersvorsorgeprodukte annehmen. ({12}) Das gilt auch für einen weiteren Punkt. Viele Menschen wollen, wenn ihnen etwas passiert, mehr Sicherheit für ihre Angehörigen. Dazu gehört neben mehr Flexibilität bei der Altersvorsorge auch die Möglichkeit der Vererbbarkeit des angesparten Altersvermögens. Ihr Alterseinkünftegesetz lässt als steuerlich begünstigte Altersvorsorgeprodukte aber nur eng definierte Versicherungsprodukte zu. Wenn dann auch noch mit der Abschaffung des Steuerprivilegs für die Kapitallebensversicherung weit über das Ziel hinausgegangen wird, dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn wir als Ergebnis dieser Gesetzgebung in zwei oder drei Jahren wahrscheinlich feststellen müssen: Am Ende steht nicht mehr, sondern möglicherweise sogar weniger an privater Vorsorge als jetzt. Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Frage: Wie schaffen wir es, dass wieder mehr betriebliche Altersvorsorge aufgebaut wird? Die Rahmenbedingungen für die betriebliche Altersvorsorge werden von Ihnen nicht nur nicht verbessert, sondern sogar noch verschlechtert. Die attraktive Pauschalbesteuerung soll abgeschafft werden. An ihre Stelle rückt zwar ein Freibetrag von 1 800 Euro. Aber warum waren Sie eigentlich nicht bereit, unseren Vorschlag aufzugreifen, neben dem Steuerfreibetrag von 4 Prozent für vom Arbeitnehmer finanAndreas Storm zierte Beiträge weitere 4 Prozent aufzunehmen, die es dem Arbeitgeber ermöglichen, sich an der Altersvorsorge weiter zu beteiligen? Dies wäre ein klares Signal: Wir brauchen mehr betriebliche Altersvorsorge. ({13}) Eine entscheidende Frage ist offen geblieben: Wie schaffen wir es, dass nach Möglichkeit jeder Arbeitnehmer bis zum Jahr 2010 ergänzend vorsorgt? Es gibt innovative Vorschläge, zum Beispiel den der BertelsmannStiftung, nach dem beim Abschluss eines Arbeitsverhältnisses regelmäßig eine Entgeltumwandlung vorgenommen werden soll. Es soll aber auch die Möglichkeit geben, dass der Arbeitnehmer sich dafür entscheiden kann, davon keinen Gebrauch zu machen und den Lohn vollständig ausgezahlt zu bekommen. Mit einem solchen Modell würde die Entgeltumwandlung zum Regelfall. Wir würden so erreichen, dass die betriebliche Altersvorsorge innerhalb von ganz kurzer Zeit eine sehr viel breitere Grundlage als heute bekommt. Das wäre ein innovativer Ansatz, der die Sache rund machte. Aber davon ist in Ihrem Gesetzentwurf weit und breit nichts zu finden. ({14}) Sie werden sich nach dieser Debatte wahrscheinlich zurücklehnen, weil Sie meinen, Sie hätten Ihre Hausaufgaben bei der Rente gemacht. Weit gefehlt! In Wahrheit brauchen wir eine grundlegende Neukonzeption der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge. Die kapitalgedeckte Altersvorsorge muss zu einer echten Förderrente für die gesamte Bevölkerung werden. Die Frage muss beantwortet werden, was Altersvorsorge in Zukunft leisten soll und welche Anforderungen an Altersvorsorgeprodukte zu stellen sind. Dazu fehlen Ihnen offenbar die Kraft und die Einsicht. Es ist klar: Dieses Gesetz ist wie seine beiden Vorgänger keine Blaupause für eine nachhaltige Reform der Alterssicherung in Deutschland. Die Halbwertszeit der Reformen von Rot-Grün nimmt von Reform zu Reform weiter ab. Wir befinden uns nicht am Ende der Debatte über die Neuordnung der Alterssicherung. Im Gegenteil: Mit diesem Gesetz wird die Debatte neu eröffnet. Sie haben eine riesige Chance vertan. Keine der grundlegenden Fragen ist ausreichend beantwortet. ({15}) Deshalb wird es spätestens nach der Bundestagswahl 2006 einen neuen Anlauf für eine grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und der ergänzenden privaten und betrieblichen Vorsorge geben müssen. ({16}) Wir sind dazu bereit. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. Mit dem vorliegenden Gesetz will die Regierungskoalition ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Die CDU verbiegt sich seit Tagen, weil sie nicht den Mut hat, den Menschen zu sagen, was sie ihnen zumuten will. Deshalb will die CDU - das ist schon von den Kollegen der FDP angesprochen worden - das Gesetz hier im Bundestag ablehnen und im Bundesrat passieren lassen. Es ist schon auffällig, dass sich die CDU ständig hinter der Regierung versteckt ({0}) und glaubt, mit Tricks eine saubere Weste behalten zu können. Warum haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, nicht den Mut, den Menschen zu sagen, dass Sie in vielen Fragen Teil einer großen Koalition mit SPD und Grünen sind? ({1}) Was mich aber viel mehr bewegt und was alle Abgeordneten viel mehr bewegen sollte, ist die Frage, auf welcher Zahlengrundlage wir entscheiden. Stimmen eigentlich die Zahlen, die uns die Regierung vorlegt? Ich will Ihnen an einem Beispiel erläutern, warum man sehr misstrauisch sein sollte. Die Bundesregierung schaltete am 9. März 2004 für knapp 1 Million Euro Anzeigen in den großen Tageszeitungen mit der Überschrift: „Heute verlässlich für morgen. Die Rente.“ Nun kann man erst einmal kommentieren: Die Rente ist genauso wenig verlässlich wie die Zahlen, die Sie verwenden. In der Anzeige gab die Regierung nämlich vor, in einer Grafik das Verhältnis der Anzahl der Beitragszahler zu den Rentnern darstellen zu wollen. Das mutete sehr dramatisch an. Während im Jahr 2000 noch 4,13 Beitragszahler einen Rentner finanzieren, wären es im Jahr 2020 nur noch 2,9. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ schrieb dazu - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -: „Das ist ganz schön erschreckend und erschreckend falsch.“ Frau Ministerin Schmidt hat nämlich nicht die Beitragszahler, sondern die 15- bis 65-Jährigen zur Grundlage ihrer Berechnungen genommen und dadurch den Quotienten völlig zerzerrt. Ich wollte mit einer Anfrage ein mögliches Missverständnis aufklären, doch es stellte sich heraus, dass die Ministerin bewusst falsche Zahlen verwandte. Hätte die Regierung nämlich die verfügbaren Zahlen vom Verband der Rentenversicherungsträger genommen, dann wäre die schön-schaurige Prognose nicht möglich gewesen. Jeder kann einmal eine Zahl verwechseln. Das ist nicht so schlimm. Aber schlimm ist es schon, wenn man falsche Zahlen verwendet, um ein bestimmtes politisches Ziel zu verfolgen. In diesem Fall war das politische Ziel, die Rentenkürzung mit falschen Zahlen zu begründen und den Menschen Angst zu machen. Besonders kritikwürdig finde ich es, wenn man beim Verwenden falscher Zahlen ertappt wird und dann nicht einmal den Mut hat, die Bürgerinnen und Bürger über diese Falschinformation zu informieren und sie richtig zu stellen. Ich bin als Einzelabgeordnete nicht in der Lage, jede Zahl, die die Bundesregierung präsentiert, auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. ({2}) Dazu müssten einzelne Abgeordnete mit mehr Kontrollrechten ausgestattet sein, was die Mehrheit in diesem Hause verhindert. Mit diesem Gesetz soll eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden. Wir werden erleben, dass es den Bundesrat passiert. Ich möchte allerdings daran erinnern, dass wir grundlegende Veränderungen im Rentensystem brauchen. Die PDS hat ein Konzept für ein gerechtes Rentensystem vorgelegt, das eine Rente von allen für alle ermöglichen würde. Das ist die Kernforderung. Wir müssen dafür sorgen, dass wieder mehr Menschen in die Rentensysteme einzahlen können. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen vernünftige Arbeitsverhältnisse haben und dass sie nicht in Minijobs und Ich-AGs gedrängt werden. Dann wird es auch möglich sein, eine Rente von allen für alle auskömmlich zu finanzieren. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Storm, es ist zwar das gute Recht der Opposition, Kritik zu üben, aber dass Sie sich jetzt einen schlanken Fuß machen wollen und beklagen, dass Rentner und Rentnerinnen, die Betriebsrenten beziehen, mit der Pflegeversicherung belastet werden, obwohl das entsprechende Gesetz von uns seinerzeit gemeinsam im Konsens erarbeitet worden ist, erachte ich als bodenlos. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae ({0}) Wir stimmen schließlich auch nicht der Einführung einer Praxisgebühr zu, um hinterher zu erklären, das sei die Praxisgebühr der CDU/CSU. Es ist schlimm, was Sie sich hier geleistet haben und dass Sie jetzt versuchen, sich einen schlanken Fuß zu machen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Storm?

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, der Kollege ist mir zu unsachlich. ({0}) Ich habe Herrn Storm schon heute Morgen um sechs Uhr im Rundfunk gehört. Da gingen seine Äußerungen in eine ähnliche Richtung. Wir beraten heute den Entwurf des Alterseinkünftegesetzes. Mit diesem Gesetzentwurf setzen wir das Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2002 um. Das ist übrigens nicht die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die Alterseinkünfte betrifft. Wir müssten uns heute nicht damit beschäftigen, wenn die Opposition in der Vergangenheit in ihrer Regierungsverantwortung die Hausaufgaben gemacht hätte. ({1}) Wir alle sind uns darin einig, dass die derzeitige Rentenversicherung nicht mehr den Lebensstandard sichert und dass zusätzlich eine betriebliche und private Altersvorsorge notwendig ist. Finanzminister Eichel hat heute schon über die staatlich geförderte Riester-Rente gesprochen, die von Rot-Grün eingeführt worden ist. Wir helfen damit den Arbeitnehmern, eine private Altersversorgung aufzubauen. Das haben Sie aufseiten der Opposition seinerzeit versäumt. Allen Unkenrufen zum Trotz bestätigen uns die Zahlen, dass dieses Angebot angenommen wird. Während im April 2001 erst 29 Prozent der Beschäftigten Verträge über eine zusätzliche Altersvorsorge abgeschlossen hatten, verfügten im März 2003 - nur knapp zwei Jahre später - bereits 57 Prozent aller versicherungspflichtigen Beschäftigten über eine entsprechende zusätzliche Absicherung. In diesem Zusammenhang sollten die circa 4 Millionen im Rahmen der Riester-Rente abgeschlossenen Verträge nicht verschwiegen werden. Damit haben inzwischen fast 20 Millionen Beschäftigte Anspruch auf eine zusätzliche Altersversorgung. Das ist aus meiner Sicht durchaus ein Erfolg. ({2}) Im Übrigen hat es auch bei der Einführung der vermögenswirksamen Leistungen eine Zeitlang gedauert, bis die Menschen dieses Angebot in Anspruch genommen haben. Ich erinnere des Weiteren daran, dass Herr Laumann im Wahlkampf 2002 durch die Lande gezogen ist, um die Menschen davon abzuhalten, Verträge zur RiesterRente abzuschließen, mit der Begründung, dass sich bei einem Regierungswechsel wieder alles ändern würde. ({3}) Das ist eine Erfolgsgeschichte, die man nicht kleinreden sollte. ({4}) Indem man sie kleinredet, trägt man nicht dazu bei, dass die Menschen Verträge zur Altersvorsorge abschließen. Ich möchte noch eine weitere Maßnahme herausstellen. Von den Beschäftigten wird heutzutage eine immer größere Flexibilität verlangt. Ein Jobwechsel ist mittlerweile fast eine notwendige Alltäglichkeit geworden. Aber was wird bei einem Jobwechsel aus der angesparten betrieblichen Altersvorsorge? In den allermeisten Fällen konnten die Anwartschaften nicht zum neuen Arbeitgeber mitgenommen werden. Die Folge war eine unübersichtliche Aufsplitterung des Betriebsrentenanspruchs in viele Kleinstansprüche. Dies hat die Wechselbereitschaft der Arbeitnehmer nicht gerade erhöht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erleichtern wir es, bei einem Betriebswechsel die Betriebsrentenanwartschaften zum neuen Arbeitgeber mitzunehmen, wenn darüber Einvernehmen erzielt wird. Die Union hat in der Vergangenheit - das zog sich auch heute durch die Debatte - die Vereinfachung der Riester-Rente gefordert. Herr Flosbach hat die Kompliziertheit der Regelungen beklagt. Dem ist entgegenzuhalten, dass wir die Regelungen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vereinfachen. ({5}) Die Zahl der Zertifizierungskriterien wird von elf auf fünf verringert und - auch das wird von Ihnen begrüßt ein Dauerzulagenantrag wird eingeführt. ({6}) Die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen wird die beitragspflichtigen Einnahmen prüfen; dies muss dann nicht mehr im Antrag ausgefüllt werden. Ein einheitlicher Sockelbetrag wird zu mehr Transparenz und Sicherheit führen. Das alles sind Neuerungen. Die Anbieter müssen nun bei Vertragsabschluss die effektive Gesamtrendite des Produkts nennen. Damit wird für direkte Vergleichbarkeit der Riester-Angebote gesorgt. Das ist im Interesse derjenigen Arbeitnehmer, die Altervorsorgeverträge abschließen wollen. Deren Interessen haben wir im Auge. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Ihrer lang erhobenen Forderung nach Vereinfachung der Riester-Rente sind wir also nachgekommen. Deshalb können Sie heute auch zustimmen. ({8}) Wenn Sie das aber nicht tun, dann muss ich feststellen, dass Sie nicht wissen, was Sie wollen, und dass Sie offensichtlich auch nicht wissen, was Sie tun. Sie machen ziemliche Klimmzüge und bemühen sich verzweifelt, zu begründen, warum Sie nicht zustimmen können. Ich meine, dass das, was wir auf den Weg bringen, eine gute Regelung ist. Wir kommen damit dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach. Ich appelliere noch einmal an Sie: Tun Sie den Rentnerinnen und Rentnern einen Gefallen! Verunsichern Sie sie nicht und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu! ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Alterseinkünftegesetzes. Ich weise darauf hin, dass zu der Beschlussfassung des Finanzausschusses, die Gegenstand der nun folgenden Abstimmung sein wird, inzwischen der Bericht des Ausschusses auf Drucksache 15/3004 vorliegt. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2986, die genannten Entwürfe eines Alterseinkünftegesetzes in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden. ({0}) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2992? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsan- trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ab- gelehnt worden. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 15/2988? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung von CDU/CSU abge- lehnt worden. Zu TOP 3 gibt es eine persönliche Erklärung der Ab- geordneten Ina Lenke nach § 31 der Geschäftsord- nung, die wir hiermit zu Protokoll nehmen.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Merz, Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ein modernes Steuerrecht für Deutschland Konzept 21 - Drucksache 15/2745 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster der Abgeordnete Friedrich Merz. ({2})

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir legen Ihnen heute zunächst in Form eines Antrags Vorschläge zu einer ganz grundlegenden Modernisierung und Vereinfachung des deutschen Einkommensteuerrechtes vor. Wie kompliziert das deutsche Steuersystem mittlerweile geworden ist, konnten die Zuhörerinnen und Zuhörer der Debatte über den ersten Tagesordnungspunkt des heutigen Tages nachvollziehen: Das deutsche Einkommensteuerrecht ist nicht mehr aus sich selbst heraus verständlich. Es erschließt sich dem steuerpflichtigen Bürger nicht mehr. Es ist in den letzten Jahren leider nicht besser, sondern noch viel schlechter geworden. Neben dem Verlust der sprachlichen Verständlichkeit leidet das deutsche Einkommensteuerrecht unter einer nicht mehr überschaubaren und systemwidrigen Fülle und Komplexität an Einzelvorschriften und Ausführungsbestimmungen. Ich will Ihnen dazu nur einige wenige Daten nennen. Wir haben in Deutschland mittlerweile rund 100 so genannte Steuerstammgesetze. Die Zahl der Gesetze, in denen auch steuerliche Regelungen enthalten sind, also Gesetze, die ganz andere Regelungssachverhalte betreffen, die aber auch steuerliche Regelungen enthalten, ist nicht feststellbar. Ich wiederhole: Im Bestand des deutschen Rechts ist die Zahl der Gesetze, die auch steuerliche Bestimmungen enthalten, nicht feststellbar. Zu den bestehenden Steuergesetzen gibt es mittlerweile rund 5 000 Interpretationsschreiben des Bundesministers der Finanzen. Insgesamt existieren zusätzlich etwa 96 000 Verwaltungsvorschriften. In der letzten Wahlperiode des Deutschen Bundestages, in der Wahlperiode zwischen 1998 und 2002, sind allein bei den Ertragsteuern, also bei Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, 60 Gesetzesänderungen vollzogen worden. Hinzu kamen fast 250 Interpretationsschreiben des Bundesministers der Finanzen. Im Rahmen der Änderungen der letzten Wahlperiode sind ungefähr 100 Vorschriften des deutschen Einkommensteuergesetzes gleich mehrfach geändert worden. Zum Teil sind sie geändert worden, bevor die vorangehende Änderung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden ist. ({0}) Es ist kein Wunder und es darf niemanden überraschen, dass wir es mit einer zunehmenden Steuerverweigerung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu tun haben. Sie verstehen dieses Gesetz nicht mehr und sie wollen es auch nicht mehr verstehen. ({1}) Wir müssen deshalb zu einer ganz grundlegenden Vereinfachung unseres Einkommensteuerrechtes zurückkehren. Das Wichtigste jenseits aller Details - ich werde auf einige zu sprechen kommen - ist, dass sich diejenigen, die die Steuergesetze anwenden müssen, auf die Beständigkeit der bestehenden Regelungen wieder für einen längeren Zeitraum verlassen können und dass Ruhe und Beständigkeit in die Gesetzgebung insbesondere beim Steuerrecht zurückkehren. Die Planbarkeit und die Verlässlichkeit des deutschen Steuerrechts jenseits aller Inhalte und jenseits aller Details sind ganz wesentliche Voraussetzungen für die Rückkehr zu Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Niemand aus dem Inland und niemand aus dem Ausland wird in Deutschland investieren, wenn er sich nicht wenigstens für einen überschaubaren Zeitraum auf Beständigkeit und Planbarkeit der steuerlichen Rahmengesetzgebung verlassen kann. ({2}) Zu den grundsätzlichen inhaltlichen Fragen will ich Folgendes sagen: In einer komplexen Welt ist auch das Steuerrecht an verschiedenen Stellen naturgemäß komplex. Es kann nicht überall nur einfache Antworten geben; einfache Antworten können auch falsche Antworten sein. Deswegen kommt es darauf an, dass wir uns wieder an Grundsätzen und an steuerlichen Fundamentalprinzipien orientieren. Dazu zählen aus meiner Sicht: Erstens: die Erkennbarkeit des Besteuerungsgegenstandes. Diejenigen, die das Steuerrecht anwenden, müssen wissen, was besteuert werden soll. Zweitens. Die Besteuerung selbst muss nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit erfolgen. Drittens. Bei der Besteuerungshöhe muss eine angemessene Berücksichtigung des europäischen und des globalen Umfeldes stattfinden. Lassen Sie mich zu diesen drei Grundsätzen im Einzelnen Folgendes ausführen: Hinsichtlich der Erkennbarkeit des Besteuerungsgegenstandes im Einkommensteuerrecht, im gesamten Ertragsteuerrecht kommt es darauf an, dass wir eine klare Abgrenzung zwischen dem vornehmen, was besteuert wird, und dem, was auch in Zukunft steuerfrei bleiben muss. Auch in Anlehnung an die wissenschaftliche Diskussion, die es dazu gibt, schlagen wir vor, dass ganz grundsätzlich das Markteinkommen besteuert wird, dass also das Markteinkommen der Besteuerungsgegenstand für Einkommensteuer und Körperschaftsteuer ist. Damit erübrigt sich eine komplizierte Abgrenzung, so wie wir sie heute in § 3 des Einkommensteuergesetzes haben, etwa zu den sozialen Transferleistungen. Soziale Transferleistungen, zum Beispiel Krankenversicherungsleistungen, zum Beispiel Leistungen der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe, sind grundsätzlich nicht Markteinkommen. Wenn sich der Einkommensteuergesetzgeber auf die Besteuerung des Markteinkommens konzentriert, erübrigen sich alle heute noch notwendigen extrem komplizierten Abgrenzungen. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang auch eine Bemerkung zu den übrigen Ertragsteuern, die wir heute in Deutschland zusätzlich zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer haben. In einem solchen System der Besteuerung des Markteinkommens hat eine Vermögensteuer als Substanzsteuer keinen Platz mehr. ({3}) Wir sollten deswegen, schon aus Gründen der Rechtshygiene, in Deutschland endlich das Vermögensteuergesetz auch förmlich aufheben und es durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur außer Vollzug gesetzt sehen. ({4}) In diesem System hat die Erbschaftsteuer anders als die Vermögensteuer sehr wohl ihren Platz. Die Erbschaftsteuer ist keine Substanzsteuer, sondern sie ist im steuerlichen System der Bundesrepublik Deutschland eine einkommensteuerähnliche Einmalbelastung der Erben. Insofern hat die Erbschaftsteuer anders als die Vermögensteuer durchaus auch in Zukunft ihre Existenzberechtigung. Ich will allerdings hinzufügen: Wir müssen darauf achten, auch bei einer möglichen Neuordnung des Erbschaftsteuerrechts, dass der Übergang gerade mittelständischer Betriebe, die durch die Eigentümer geführt werden - börsennotierte Aktiengesellschaften werden nicht vererbt -, von der Erbschaftsteuer so weit wie möglich entlastet wird, ({5}) damit die Fortführung ermöglicht und durch die Erbschaftsteuerlast nicht unmöglich gemacht wird. ({6}) Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch einen Hinweis - ich kann damit auch gleich einen Zwischenruf aus den Reihen der SPDFraktion aufnehmen -: Natürlich hat in einem solchen Konzept einer neuen Einkommen- und Körperschaftsteuer die Gewerbesteuer in Deutschland, die ohnehin - auch im europäischen Vergleich - ein Fremdkörper im Einkommensteuersystem ist, keinen Platz mehr, ({7}) insbesondere deshalb, weil die Gewerbesteuer nach wie vor eine ganze Reihe von ertragsunabhängigen Bestandteilen enthält. Wäre es nach Ihrem Willen gegangen, wären die ertragsunabhängigen Teile der Gewerbesteuer zum Jahreswechsel sogar massiv ausgedehnt worden. Die Gewerbesteuer ist und bleibt ein Fremdkörper im System. ({8}) Sie hat auch im europäischen Wettbewerb keinen Platz mehr. Sie muss abgeschafft und durch eine Beteiligung der Städte und Gemeinden in Deutschland an der Einkommensteuer - und Körperschaftsteuer ersetzt werden. ({9}) Ich habe bereits gesagt, dass einer der wesentlichen Besteuerungsgrundsätze die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sein soll. Das heißt, dass grundsätzlich jedes Einkommen, unabhängig von seiner Entstehung, unabhängig von seiner Verwendung, auch unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens, in dem es gegebenenfalls entsteht, einmal - aber auch nur einmal - besteuert werden muss. Daraus ergibt sich eine ganze Reihe von Konsequenzen bis hin in den Unternehmensteuerbereich. Erlauben Sie mir, zwei Aspekte herauszugreifen, die einen größeren Teil der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auch im Zusammenhang mit der Diskussion über unser Einkommensteuersystem immer wieder beschäftigen. Das Erste sind die so genannten steuerfreien Sonntags-, Nacht- und Feiertagszuschläge. Um es von unserer Seite noch einmal klarzustellen: Selbstverständlich tragen alle diejenigen, die an Sonntagen, in Schichtarbeit, an Feiertagen tätig sind, die regelmäßig Nachtarbeit leisten müssen, eine besondere Last. Selbstverständlich muss diese besondere Last angemessen vergütet werden. Aber es kann nicht Aufgabe der allgemeinen Steuerzahler sein, diese besondere Last durch besondere Steuerbefreiungen abzugelten. Es muss Aufgabe der Arbeitgeber sein und bleiben, diese besondere Last zu vergüten. Für den Steuergesetzgeber ist und bleibt jedes Einkommen, unabhängig von Entstehung und Verwendung, gleich. Diesen Gleichheitsgrundsatz gilt es insbesondere bei den so genannten Sonntags-, Nacht- und Feiertagszuschlägen anzuwenden, die heute noch eine besondere Privilegierung erfahren. Wir schlagen langfristige Übergangsregelungen vor, sodass sich die Tarifvertragsparteien in Deutschland auf eine Veränderung einstellen können. Am Ende dieses Übergangszeitraums darf es aber auch an dieser Stelle keine Ausnahmen mehr geben. Wer Ausnahmen für wenige fordert, muss wissen, dass er im Ergebnis höhere Steuersätze für alle fordert. ({10}) Zweitens. Meine Damen und Herren, das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit muss eine besondere Ausprägung bei der Berücksichtigung der Familien, insbesondere bei der Berücksichtigung der Familien mit Kindern, erhalten. Ich will auch an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen: Ich halte es für unverzichtbar, dass auch in Zukunft als Ausfluss aus Art. 6 des Grundgesetzes, der bekanntlich Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, das Ehegattensplitting aufrechterhalten wird, also die Erwerbsgemeinschaft von Mann und Frau auch im Steuerrecht uneingeschränkt und grundlegend verankert bleibt. ({11}) Wichtiger ist aus meiner Sicht aber die angemessene, das heißt stärkere Berücksichtigung der Kinder in Ehen und eheähnlichen Lebensgemeinschaften. ({12}) Meine Damen und Herren, unser Vorschlag, den Kinderfreibetrag auf die Höhe des Erwachsenenfreibetrages deutlich anzuheben, entlastet überproportional Familien mit Kindern. Damit würde es erstmalig in diesem System möglich sein, auf Transferleistungen in Form von Kindergeld an solche Eltern zu verzichten, die über ein ausreichend hohes Einkommen verfügen und die Finanzierung ihrer Kinder aus eigener Kraft leisten können. Ich will es noch einmal sehr deutlich sagen: Kindergeld hat ohne Wenn und Aber auch in Zukunft seine Berechtigung, aber Transferleistungen an Eltern können und dürfen nach unserer Überzeugung erst dann geleistet werden, wenn die eigene Leistungsfähigkeit nicht mehr ausreicht. Wenn sie ausreicht, dann muss die Berücksichtigung von Kindern abschließend durch eine Freibetragsregelung zum Ausdruck kommen. Höher und gut verdienende Familien brauchen dann keinen Transfer, keine Kindergeldleistungen mehr aus öffentlichen Kassen. ({13}) Dies setzt allerdings systembedingt voraus, dass der Kinderfreibetrag angemessen und damit deutlich höher festgesetzt wird, als es gegenwärtig der Fall ist. ({14}) Ich habe zu Beginn bereits auf das internationale Umfeld hingewiesen, in dem wir uns mit unserem Steuersystem bewegen. Erlauben Sie mir, dass ich eine sehr aktuelle Debatte aufgreife, die in den letzten Tagen auch im Hinblick auf die Osterweiterung der Europäischen Union geführt wird. ({15}) Nun ist es ja interessant zu beobachten, dass der Bundeskanzler, dem noch vor Jahr und Tag die Steuern in Deutschland zu hoch waren - wir teilen ausdrücklich diese Einschätzung -, plötzlich entdeckt, dass sie anderswo zu niedrig sind. Die meisten Länder von denen, die jetzt neu in die Europäische Union eintreten, haben jedoch ihre Steuersysteme auf ihre Mitgliedschaft in der EU vorbereitet. Zum Teil haben sie Maßnahmen ergriffen, die wir in Deutschland längst hätten ergreifen sollen, nämlich eine deutliche Absenkung der Ertragsteuersätze ({16}) und eine Verschiebung der Steuerbelastung von den direkten zu den indirekten Steuern. Ich werde darauf zum Schluss noch einmal zu sprechen kommen. Diesen Ländern Steuerdumping vorzuwerfen geht an der Sache vorbei. ({17}) Von Steuerdumping, meine Damen und Herren, lässt sich nur dann sprechen, wenn etwa wie früher in Holland oder in den irischen Docklands ausländischen Investoren andere, in der Regel niedrigere Steuersätze und andere steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden als inländischen Investoren. Es hat aber bisher niemand behauptet, dass dies auf die neuen EU-Länder zutreffe. Dies kann auch niemand behaupten, weil die osteuropäischen Länder, die in wenigen Stunden in die Europäische Union eintreten, dieses nicht machen. Sie bieten inländischen wie ausländischen Investoren gleiche und zum Teil hoch attraktive steuerliche Rahmenbedingungen an. Das Problem ist nicht Osteuropa, das Problem ist Deutschland. ({18}) Wir haben in Deutschland unverändert viel zu hohe Steuersätze. Trotz der anerkennenswerten Bemühungen der rot-grünen Bundesregierung in den letzten Jahren, die Steuerbelastung zu senken, ({19}) ist Deutschland noch immer ein Hochsteuerland. Wir haben nach wie vor mit die höchsten Unternehmensteuern. Außerdem haben die Unternehmen in Deutschland, die hier investieren - auch dies gehört der Vollständigkeit halber dazu, wenn wir zu Recht über die Wachstumsund Beschäftigungskrise klagen -, eine zu geringe Kapitalrendite. Die Kapitalrendite ist in allen anderen europäischen Ländern höher als in Deutschland. In Deutschland sind die Steuersätze mitverantwortlich für die geringe Kapitalrendite. Das muss in diesem Gesamtzusammenhang erwähnt werden. Deswegen müssen die Steuersätze in Deutschland herunter. Ich zitiere einen früheren, auch von Ihnen hoch geachteten - wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sogar in der SPD als Mitglied geführten - Sachverständigen und langjährigen Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Hans-Karl Schneider, der einmal gesagt hat: Wer mehr als die Hälfte seines Einkommens an das Finanzamt abführen muss, ist mehr darauf bedacht, Steuern zu sparen, als darauf, Geld zu verdienen. - Das gilt unverändert auch heute. In Deutschland wird viel zu viel über Steuervermeidungsstrategien und viel zu wenig über Investitions- und Beschäftigungsstrategien nachgedacht. ({20}) Deshalb müssen die Steuersätze herunter und muss die Bemessungsgrundlage verbreitert werden. Ich räume ein: Auch mit der Umsetzung unseres Vorschlages, die Grenzbelastung bei der Einkommenund Körperschaftsteuer auf einheitliche 36 Prozent zurückzuführen, lägen wir im internationalen Vergleich noch immer bei einer relativ hohen Steuerlast. Ich verstehe deshalb gut, dass an anderer Stelle, etwa im Sachverständigenrat, über Möglichkeiten nachgedacht wird, diese zu hohe Grenzbelastung für die Unternehmen in Deutschland, unabhängig von ihrer Rechtsform, in einem solchen System weiter abzusenken. Ich habe Vorbehalte gegen eine solche Steuerspreizung. Wie wollen wir den Arbeitnehmern in Deutschland, die nicht nur unter hohen Steuern, sondern noch mehr unter hohen Sozialversicherungsbeiträgen leiden, vermitteln, dass etwa Unternehmensgewinne deutlich niedriger besteuert werden als Arbeitnehmereinkünfte? Gleichwohl wird der Druck auf die Ertragsteuern in den nächsten Jahren stärker werden. Auch in diesem Zusammenhang wird die Osterweiterung der Europäischen Union eine erhebliche Auswirkung auf die steuerpolitische Debatte in Deutschland haben. Deswegen müssen wir nach Wegen suchen, schnell zu Ergebnissen zu kommen. Wir können nicht mehr bis zum nächsten Regierungswechsel warten. Deutschland hat nicht die Zeit, eine weitere halbe Legislaturperiode des Deutschen Bundestages lethargisch dazusitzen und darauf zu warten, dass der Aufschwung möglicherweise durch die Weltkonjunktur herbeigeführt wird. ({21}) Wenn Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, in diesem Zusammenhang nach der Bezahlbarkeit einer solchen Reform - wir werden uns heute Nachmittag mit weiteren Themen dieser Art beschäftigen - fragen, dann will ich Ihnen eine Antwort geben in Bezug auf die Berechnungen der Haushaltsabteilungsleiter der Finanzministerien ({22}) - der Steuer- und Haushaltsabteilungsleiter -, ({23}) die ich schätze und achte und die ihren Auftrag zu erfüllen haben, deren Arbeit ich in vollem Umfang respektiere: Diese Arbeit bezieht sich auf ein statisches Regelwerk. Sie gehen vom gegenwärtigen Status quo der Arbeitsmarktverfassung, von den gegenwärtigen Sozialversicherungssystemen, von den gegenwärtigen sozialen Sicherungssystemen, von den gegenwärtigen sozialen Transfersystemen und vom gegenwärtigen Steuersystem aus. Das, was wir Ihnen heute hier vorschlagen, ist isoliert betrachtet in der Tat heute nicht bezahlbar. ({24}) Aber - bevor Sie klatschen - all das, was wir Ihnen vorschlagen, steht im Kontext einer größeren Reformagenda in Deutschland, einer grundlegenden Korrektur der Arbeitsmarktverfassung und der Lohnfindungssysteme, der Reformen der sozialen Transfersysteme, die endlich von Ihren beschäftigungsfeindlichen Anreizwirkungen befreit werden müssen, und umfassender Reformen der sozialen Sicherungssysteme bis hin zur Abkopplung eines Teiles der sozialen Sicherungssysteme vom Beschäftigungsverhältnis. In diesem Zusammenhang sind die Spielräume für eine grundlegende Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer in Deutschland viel, viel größer, als mancher Skeptiker, auch hier im Hause, in den letzten Wochen und Monaten vorgetragen hat. ({25}) Wenn wir in Deutschland den Mut hätten, im Rahmen einer solchen umfassenden Reformagenda widerspruchsfrei das eine mit dem anderen zu verbinden, dann kämen wir viel schneller aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise heraus, ({26}) dann könnten wir viel schneller die viel zu hohe Staatsquote senken und die Steuerlast der Bürgerinnen und Bürger wie der Unternehmen in Deutschland senken. Dass es geht, haben andere Länder in Europa und außerhalb Europas längst vorgemacht. Dass es nicht geht, hat auch mit der Regierungspolitik der letzten fünfeinhalb Jahre zu tun. Herzlichen Dank. ({27})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Poß.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Merz, wir sollten den heutigen Morgen nutzen, um einige Fragen ganz grundsätzlich zu klären. Zum Beispiel sollten wir darüber reden, wie wir uns auf den Beitritt der neuen Länder zum 1. Mai einstellen. Dieser Beitritt hat die öffentliche Diskussion in den letzten Tagen stark bestimmt. Ich erkläre für die SPD hier ganz eindeutig: Wir können uns nicht vorstellen, mit den baltischen Staaten oder anderen Staaten hinsichtlich niedriger Steuersätze konkurrieren zu können. Das ist der Weg in die falsche Richtung. ({0}) Wir müssen unsere Stärken ausbauen. Unsere Position ist, dass wir dafür neben privatem auch öffentliches Geld brauchen. Herr Merz, Ihr Weg ist - Sie haben es eben angedeutet -, dass Deutschland über Steuersenkungen konkurrenzfähig wird. Über diese Alternativen können die Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl abstimmen. Im Übrigen teile ich in dieser Frage ausdrücklich das, was Herr Stoiber heute im „General-Anzeiger“ gesagt hat. Herr Faltlhauser, Sie können nachher die Haltung der CSU näher erläutern. Wir werden dann sehen, wie einig CDU und CSU sind und wie geschlossen die Opposition ist. Herr Stoiber sagt auf die Frage mit Blick auf die Beitrittsländer, ob er einen fairen Steuerwettbewerb gewährleistet sehe: Es besteht die Gefahr, dass EU-Hilfen von einzelnen Ländern zum Steuer-Dumping gegenüber anderen Ländern missbraucht werden. Einzelne Länder halten ihr Steuereinkommen gering, weil sie auf einen Ausgleich durch EU-Höchstfördersätze rechnen können. Ich glaube, Herr Stoiber hat insoweit Recht. ({1}) Er plädiert in diesem Zusammenhang auch nicht ausdrücklich, wie Sie es tun, für einen Wettbewerb. Ich finde es gut, wenn die Bürgerinnen und Bürger die verschiedenen Alternativen der konkurrierenden Parteien klar erkennen können. Es wird manchmal der Vorwurf erhoben - gelegentlich auch aus der Anhängerschaft der SPD -, Unterschiede seien nicht mehr erkennbar. ({2}) - Auch ich denke das. Ein zweiter Punkt. Sie haben etwas zu den Finanzen der Kommunen gesagt. Wir wissen, dass sich viele Kommunen in einer schwierigen Finanzsituation befinden. Herr Merz, Sie haben gesagt, die Gewerbesteuer werde ersatzlos abgeschafft ({3}) und werde durch eine Beteiligung an der Einkommenund Körperschaftsteuer ersetzt. In Ihrem Antrag steht wörtlich - ich hoffe, dass Sie ihn gelesen haben -: Deshalb soll die Gewerbesteuer in enger Abstimmung mit den Kommunen durch eine wirtschaftskraftbezogene Gemeindesteuer ersetzt werden... ({4}) Sie haben eben davon gesprochen, dass sozusagen eine Beteiligung an der Einkommen- und Körperschaftsteuer erfolgt. In Ihrem Antrag sprechen Sie aber von einer „wirtschaftskraftbezogenen Gemeindesteuer“. Sie müssen den Bürgerinnen und Bürgern, die in den Städten auf Lebensqualität Wert legen, schon klar sagen, was Sie wollen. ({5}) Wenn man sich jenseits des Wortnebels einmal mit den Fakten beschäftigt, dann erkennt man, dass Sie auch hier in Wahrheit keine Antwort haben. ({6}) - Ich habe wörtlich aus Ihrem Antrag zitiert. Vielleicht haben Sie ihn nicht gelesen. ({7}) Der dritte Punkt. Sie haben vollkommen zu Recht den Stellenwert der Familie beschrieben. Wir haben im Gegensatz zu Ihnen in den letzten Jahren die Familienleistungen von 40 Milliarden Euro auf insgesamt über 60 Milliarden Euro erhöht. Sie sprechen von der Förderung der Familie, wir handeln. Auch das müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen. ({8}) Wenn Sie im Rahmen Ihres Konzeptes den Freibetrag erhöhen und das Kindergeld für die Bezieher geringer Einkommen so belassen wollen, dann müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen - um sich über die politische Alternative klar zu werden -, was das bedeutet. Das bedeutet nämlich, Herr Merz, dass der Freibetrag so erhöht wird, wie es erforderlich ist, um Spitzenverdiener weiter zu entlasten. Das ist die Wahrheit, die hinter dieser Bemerkung steht. Auch hierbei besteht zwischen den Parteien im Deutschen Bundestag eine Alternative. ({9}) Schließlich sagen Sie, Deutschland sei ein Hochsteuerland. Das gibt die Analyse, gemessen an der volkswirtschaftlichen Steuerquote, natürlich nicht her. Wir hatten in der Europäischen Union im Jahre 2002 die niedrigste volkswirtschaftliche Steuerquote mit 21,7 Prozent. Wir haben sie im Jahre 2003 weiter auf unter 21 Prozent gesenkt. Auch das sollten die Menschen wissen: Wir brauchen eine auskömmliche Steuerquote, wenn wir Bildung, Forschung und Chancengerechtigkeit finanzieren wollen. ({10}) Wir können den Menschen keine Steuersenkungen in Aussicht stellen, die, so wie Sie dies vorsehen, offenkundig sozial ungerecht und nicht finanzierbar sind. Auch hier bietet sich für die Bürgerinnen und Bürger eine Alternative. ({11}) Wir haben mit all den Maßnahmen, die wir seit 1998 beschlossen haben, Steuerentlastungen von knapp 60 Milliarden Euro durchgesetzt. Dabei gab es teilweise Kompromisse im Vermittlungsausschuss, weil man sich dort angesichts der Mehrheitsverhältnisse einigen muss. Bei uns lohnt sich Leistung wieder. ({12}) - Natürlich. - Der steuerliche Grundfreibetrag wurde von 6 200 auf 7 664 Euro angehoben. Auf den ersten verdienten Euro zahlen die Menschen in diesem Jahr eine Steuer von 16 Prozent. Bei Ihnen betrug der Steuersatz 26 Prozent. Hier ergeben sich konkrete Alternativen, von denen die Menschen profitieren. ({13}) Davon war bei Ihnen nichts zu hören. Wenn die Union meint, ein modernes Steuerrecht sei das Nonplusultra für die volkswirtschaftliche Genesung, dann gaukelt sie den Menschen etwas vor. Durch Sie und durch andere wird durch das Versprechen unfinanzierbarer Steuersenkungen und durch eine unsoziale steuerliche Umverteilung ein ganz bestimmter wirtschaftspolitischer Zeitgeist beschworen. Manche nennen solche parteipolitischen Vorstellungen sogar „modern“. Die SPD-Bundestagsfraktion hält daran fest, dass in der Steuerpolitik zwei bewährte Grundsätze zu beachten sind: soziale Gerechtigkeit und seriöse Finanzierung. Das sind unsere Leitmotive. Von diesen lassen wir uns durch keinen Zeitgeist dieser Welt abbringen. Auch darüber können die Menschen Gott sei Dank in Wahlen entscheiden. ({14}) Wir reichen einer ungerechten und unseriösen Steuerpolitik nicht die Hand. Hier geht es um eine grundlegende politische Richtungsentscheidung. Von welchem Geist Herr Merz beseelt ist, hat er in wünschenswerter Klarheit am letzten Sonntag in der „Welt am Sonntag“ in einem Interview zum Ausdruck gebracht. Er hat dort wörtlich gesagt: Bei uns bekommt derjenige am meisten Zustimmung, der am lautstärksten nach Umverteilung ruft und Faulheit belohnen will. Ich kenne in der Öffentlichkeit niemanden, der klatscht, wenn Faulheit belohnt werden soll. ({15}) Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Weiter sagen Sie, Herr Merz: Umverteilung ist doch nichts anderes als der Versuch, Leistung ohne Gegenleistung zu bekommen. Das hat mit der Lebenswirklichkeit ebenfalls nichts zu tun. In diesen beiden Sätzen steckt eine Weltanschauung, die den Sozialstaat offenbar als lästig empfindet. ({16}) Hier wird eine Verachtung für sozial Benachteiligte offensichtlich. ({17}) Dies ist eine politische Einstellung, die sich am Rande unserer Verfassung bewegt. Das ist der Kern Ihres Interviews. ({18}) Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 20 des Grundgesetzes ein „sozialer Bundesstaat“. Kennzeichen und Aufgabe eines Sozialstaates ist es, dort umzuverteilen, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. In der wortreichen und blumigen Prosa des steuerpolitischen Programms der Union heißt es zwar auch, dass der Staat helfen muss, wenn die Menschen ihren gegenwärtigen und die Sicherung ihres zukünftigen Bedarfs nicht selbst finanzieren können. Aber angesichts Ihrer Zitate, Herr Merz, können die Menschen in Deutschland solche nach Sozialstaat klingenden Ankündigungen offensichtlich nicht ernst nehmen. Zumindest Teile der Union - gemeint sind Sie, Herr Merz, und nicht Herr Seehofer - stehen für eine andere Republik, eine Republik nach dem Motto: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Dieser Teil der Union wird immer stärker. Deswegen sage ich: Die Union verabschiedet sich von einem langjährigen Konsens, von einem Konsens, der bisher von den Volksparteien getragen wurde. ({19}) Dazu gehörte auch die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, dass die seit langem bewährte soziale Marktwirtschaft, der Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit weiterhin prägende Kennzeichen der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland sein werden. Auch darüber können die Menschen abstimmen. Das sind klare Alternativen. Aber auch in der Union gibt es Politiker, die nicht mehr verstehen, warum sich die CDU und Frau Merkel vom Sozialstaat verabschieden wollen. Horst Seehofer, Norbert Blüm, Heiner Geißler und andere haben in den vergangenen Wochen die gesamte Politik der Union, nicht nur die Steuerpolitik, scharf kritisiert. Herr Seehofer hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es nicht ausreicht, neu zu denken. Darüber hinaus muss man auch prüfen, ob das Neue finanzierbar ist. Horst Seehofer hat der CDU genau vorgerechnet, dass ihre Reformvorschläge zur Steuer-, Gesundheits- und Rentenpolitik über 100 Milliarden Euro kosten würden und sie für diese Ausgaben keine Deckungsvorschläge gemacht hat. Sie, Herr Merz, haben versucht, das mit der Dynamik, die Sie erzeugen wollen, zu erklären. Diese gibt aber nach allen seriösen wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen nicht genügend Finanzierungsspielraum. ({20}) Das heißt, Sie stehen für finanzpolitische Abenteuer. Sie lassen sich für einfache Steuerkonzepte und für Steuererklärungen auf Bierdeckeln feiern und sind im Grunde genommen ein finanzpolitischer Abenteurer. Das muss man klar und deutlich aussprechen. ({21}) - Nein. Horst Seehofer hat Recht. Wenn Sie sagen, wir müssen den sozialen Ausgleich - beispielsweise bei der so genannten Kopfpauschale - über die Steuern herstellen, dann müssen Sie den Menschen auch sagen, dass das mit den Steuersätzen, die in Ihren Konzepten stehen, nicht möglich ist, weil diese zur Finanzierung nicht ausreichen. Die ungedeckten Vorschläge in Milliardenhöhe kommen von denselben Leuten - Herr Merz, auch Sie haben solche von diesem Pult aus schon gemacht -, die sonst bei jeder Gelegenheit darauf hinweisen, dass die Bundesregierung die Maastricht-Kriterien nicht einhalten kann. Eine solche Politik ist weder seriös noch glaubwürdig. Wer würde nicht gern die Steuern senken? ({22}) Aber was nützen diese Ankündigungen, wenn weder Kommunen noch Länder - das haben die Finanzminister festgestellt - Steuersenkungen finanzieren können? Die Finanzminister aller Länder - Herr Faltlhauser wird hier noch reden -, nicht irgendwelche Abteilungsleiter, haben ebenso wie zwei wirtschaftswissenschaftliche Institute festgestellt, was von diesen Einfachsteuerkonzepten zu halten ist. Ihre klare Botschaft lautet: Die Konzepte sind nicht finanzierbar, sie haben ungerechte Verteilungswirkung und nur geringe ökonomische Effekte. Auch diese wurden untersucht. Herr Merz, da das Urteil so ausfällt, sage ich Ihnen: Lassen Sie das mit dem Bierdeckel! Lassen Sie den Populismus! Überlegen Sie, ob Sie mit anderen zusammen den Sozialstaat mit der Abrissbirne wirklich einreißen wollen. Sie werden auf unseren Widerstand treffen. ({23}) Ich bin trotz aller Umfragen ganz gewiss, dass die SPD in den nächsten Wochen und Monaten so stark werden wird, um Ihnen bei diesen abenteuerlichen Plänen in den Arm zu fallen. Sie kommen damit nicht durch, wenn den Menschen klar wird, was hinter Ihren Plänen wirklich steckt. Vielen Dank. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Poß, ich möchte drei kurze Anmerkungen zu Ihrer Rede machen. Ich glaube erstens, es war nicht sachgerecht, bei einem solch wichtigen Thema als Erstes Klassenkampfparolen auszugeben; ({0}) denn die Bürger in unserem Lande - das sage ich ganz deutlich - wollen Veränderungen, vor allem eine Veränderung: Sie wollen weniger Rot-Grün in unserem Land. Das ist die Situation. ({1}) Zweitens. Auf die gemachten Reformüberlegungen haben Sie nur abwehrend reagiert. Damit bestätigen Sie, dass aus sozialdemokratischer Sicht das Recht so bleiben soll, wie es ist. Eines kann ich Ihnen versichern: So wie es ist, kann und darf es nicht bleiben, es muss verändert werden. Dass Sozialdemokraten an der Spitze strukturkonservativer Kräfte unseres Landes stehen, ist mir unbegreiflich. ({2}) Drittens. Sie haben erklärt, wie die Bürger in unserem Lande entlastet werden. Seit 1998 hat es aber durchaus auch Belastungen durch Rot-Grün gegeben. Es gibt Berechnungen, die besagen, dass der Saldo der Entlastungen und Belastungen eine Mehrbelastung der Bürger von 8 Milliarden Euro ausmacht. Das muss man den Menschen sagen; denn das spüren sie. Deutschland befindet sich in einer schweren strukturellen Krise. Nur mit dem Tunnelblick von Rot-Grün kann man den Eindruck gewinnen, dass es in unserem Land keine Probleme gibt. Deutschland braucht wirksame und durchgreifende Reformen, besonders im Steuerrecht, und zwar nicht erst nach der nächsten Bundestagswahl im Jahre 2006 oder 2007, sondern schon heute. Noch besser wäre es, entsprechende Vorschläge wären schon längst beschlossen worden. Wir begrüßen es, dass nach der FDP auch die Union erkennt, dass im Steuerrecht Reformen erforderlich sind. Aber nach unserer Auffassung - nehmen Sie mir das nicht übel; auch der Kollege Merz nicht - befinden Sie sich immer noch im „Vormärz“. ({3}) Trotzdem begrüße ich es ausdrücklich, dass dem Parlament ein Konzept der Union in Form eines Antrages vorliegt. Aber - das ist Teil des Antrages - anstatt dafür zu plädieren, das Steuerrecht sofort einfacher, verständlicher und die Steuersätze niedriger zu gestalten, soll das Steuerkonzept der Union in mehreren Schritten verwirklicht werden. Es heißt in dem Antrag, die schnell realisierbaren Teile seien im Rahmen eines steuerpolitischen Sofortprogramms vorwegzunehmen. Wir haben nichts dagegen, aber wir brauchen eine Gesamtreform, und zwar nicht übermorgen, sondern morgen oder am besten noch heute! ({4}) Wer in der heutigen Zeit fordert, dass eine Steuerreform über Jahre hinaus in mehreren Stufen umzusetzen ist, verkennt, dass wir jetzt klare Signale für Wachstum in unserem Land brauchen, und zwar für Selbstständige und für Handwerksbetriebe, von denen besonders die an der Grenze zu den östlichen Nachbarn in der neuen Europäischen Union unter einen enormen Wettbewerbsdruck geraten werden. Es reicht nicht, zu sagen, es müsse irgendwann eine Steuerreform kommen, sondern wir brauchen sie jetzt und so schnell wie möglich. Wir brauchen eine unverzügliche Vereinfachung unseres kompletten Steuerrechtes, mit der die Steuersätze auf Dauer gesenkt werden. ({5}) Manchmal habe ich den Eindruck, wir in Deutschland verschlafen unsere Zukunft. In zwei Tagen, am 1. Mai, treten zehn neue Länder der Europäischen Union bei. Im Vorgriff darauf hat Österreich schon ein deutliche Reduzierung seiner Steuersätze vorgenommen. Ab 2005 wird die Körperschaftsteuer auf 25 Prozent gesenkt und nach Aussage des österreichischen Finanzministers entspricht das einer effektiven Steuerlast von 21 Prozent. Damit ist Österreich zum Beispiel gegenüber Slowenien oder Polen absolut wettbewerbsfähig. ({6}) In Deutschland werden Körperschaften mit der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer belastet. Diese liegen bei insgesamt 39 Prozent. Das ist die Wirklichkeit in unserem Land. Es ist erstaunlich, dass einigen Politikern in Deutschland erst vor wenigen Wochen klar geworden zu sein scheint, dass die Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai erfolgt und wir uns ab diesem Zeitpunkt in Europa im direkten Wettbewerb mit Ländern befinden, die Steuersätze um und unter 20 Prozent haben. Dass es Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Stoiber erst jetzt auffällt, dass Deutschland in diesem schärferen Wettbewerb eine schlechte Ausgangsposition hat, erstaunt tatsächlich. Die Erkenntnis ist schon viel älter, aber gehandelt wird leider nicht. Die Bundesregierung hat es an dieser Stelle verschlafen, in unserem Land die Notwendigkeit zusätzlicher Steuerreformen klar zu machen. Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung und ist kurzfristig nicht zu beseitigen. Hier müssen wir als Parlament treiben. Hier werden wir als FDP treiben, damit endlich Reformen durchgeführt werden, mit denen wir für die Zukunft unseres Landes besser aufgestellt sein werden. ({7}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Die Aufgabe, Deutschland zu reformieren, darf nicht nur darin bestehen, Leistungen für Bürger einzuschränken. Wir müssen Anreize setzen, damit in unserem Land wieder mehr investiert wird, damit mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, damit das Wirtschaftswachstum in Gang kommt und wir die Entwicklung Europas nicht bremsen, sondern wir wieder zur Lokomotive Europas hinsichtlich des Wachstums in der Europäischen Union werden. Den besten Weg hierfür zeigt das Steuerkonzept der FDP auf. Der Gesetzentwurf liegt ausformuliert vor, und es wäre schön, wenn er nicht erst nach der nächsten Bundestagswahl im Jahre 2007 oder 2008 in Kraft treten könnte, sondern sofort. Deshalb appelliere ich hier an Rot-Grün, aber auch an die Union: Nehmen Sie schnellstmöglich den Gesetzentwurf der FDP als Grundlage für ein modernes Steuerrecht. Warten Sie nicht mit den Veränderungen, handeln Sie jetzt! ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen vor allem von der Union! Sie müssen mich heute noch einmal ertragen; denn wir haben noch eine Aktuelle Stunde vor uns. ({0}) Zu den Ausführungen von Herrn Thiele möchte ich nur drei Worte sagen: Polemik, Polemik, Polemik. ({1}) Herr Merz, Sie haben auf Ihren Antrag „Ein modernes Steuerrecht für Deutschland - Konzept 21“ Bezug genommen. Ich gebe Ihnen Recht, dass wir beim Steuerrecht zu Vereinfachungen kommen müssen ({2}) und dass es für viele Menschen unerträglich ist, festzustellen, dass unser Steuerrecht aufgrund von Einzelfallentscheidungen in den letzten Jahrzehnten insgesamt immer komplizierter, damit aber auch immer ungerechter geworden ist. ({3}) Ich gebe Ihnen auch Recht, dass wir mehr Berechenbarkeit, Planungssicherheit und Kalkulierbarkeit brauchen, weil das für die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland Voraussetzungen sind, die sie für ihre wirtschaftliche Entwicklung brauchen. Der Standort Deutschland bleibt, was die Standortentscheidungen der Unternehmen angeht, attraktiv, wenn solche voraussehbaren Entscheidungen und die Veränderungen, die in gewissen Bereichen bestimmt notwendig sind - darauf komme ich noch zu sprechen -, auch in den Unternehmen und in den Köpfen ihrer Mitarbeiter klar sind, damit sie wissen, was auf sie zukommt. Wir wissen auch, dass wir es im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung - aber nicht erst dadurch; das war schon vorher der Fall - mit Ländern zu tun haben, in denen, gerade im Bereich der Unternehmensbesteuerung, Steuersätze gelten, die weit unter unseren liegen. Den Rednern der FDP, die darauf hinweisen, dass der Körperschaftsteuersatz in Österreich von 35 bzw. 40 Prozent auf 25 Prozent gesenkt wurde, kann ich in diesem Zusammenhang nur „Guten Morgen!“ sagen; denn in der Bundesrepublik Deutschland beträgt der Körperschaftsteuersatz bereits 25 Prozent. ({4}) - Herr Dr. Solms, es ist richtig, dass die Gewerbesteuer noch hinzukommt. ({5}) - Ja, aber auch in Österreich gibt es Zuschlagsteuern; das wissen Sie. ({6}) Wenn man ehrlich ist, muss man alle Steuerarten, die, was die Leistungsfähigkeit betrifft, eine Rolle spielen, berücksichtigen. Man kann nicht immer nur einzelne Steuerarten, deren Satz niedrig ist, herausgreifen und sagen: Das ist aber Klasse; da müssen auch wir hinkommen. Man muss auch berücksichtigen, welche Konsequenzen das in fiskalpolitischen Zusammenhängen insgesamt hat. ({7}) Ich sage Ihnen auch, dass zum Beispiel in der Slowakei Steuersätze von drei mal 19 Prozent gelten: bei der Einkommen- bzw. Lohnsteuer, bei der Körperschaftsteuer und bei der Mehrwertsteuer. Diese Entscheidung ist dort getroffen worden. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Entscheidung bezüglich dieser Steuersätze, was die Belastung der Bevölkerung insgesamt anbelangt, dort in den nächsten Jahren aufrechterhalten wird. Denn man muss einen Einkommensteuersatz in Höhe von 19 Prozent für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen auch im Verhältnis zu unseren Vorschlägen sehen. Im Gesetzblatt steht für das nächste Jahr ein Eingangssteuersatz von 15 Prozent. ({8}) Das gilt auch für den Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent; denn bei uns beträgt der Mehrwertsteuersatz 16 Prozent. Hinzu kommt noch etwas anderes, was man nicht vergessen darf: ({9}) Bei uns ist der gesamte Bedarf an Lebensmitteln und an dem, was die Menschen zum Leben brauchen - Kulturgüter, Zeitungen und vieles mehr -, mit 7 Prozent Mehrwertsteuer belegt. ({10}) In der Slowakei zahlen normale Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerinnen 19 Prozent Einkommensteuer. Die Mehrwertsteuerbelastung für die Artikel, die ich gerade genannt habe, und auch für Lebensmittel beträgt dort aber 19 Prozent. Wenn man sich also die Einkommenssituationen hier und dort anschaut und sie in Verhältnis zueinander setzt, stellt man fest, dass die Belastung der Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen zum Beispiel in der Slowakei wesentlich höher ist, als das bei uns der Fall ist. ({11}) - Ich kritisiere, dass pauschal immer so getan wird, als ob niedrige Steuersätze auch niedrige Belastung bedeuten. Wer das Zusammenwirken der verschiedenen Steuerarten betrachtet, weiß, dass das nicht richtig ist. ({12}) Ich bitte Sie, dass wir mit Blick auf die EU-Osterweiterung mit großer Ernsthaftigkeit überlegen, was man tun kann, damit die Attraktivität des Standortes Deutschland gewährleistet bleibt und sich punktuell auch verbessert. Wir wissen, wir haben wirtschaftliche Schwächen, wir haben nicht das Wachstum, das wir brauchen; das ist völlig klar. Was aber nicht geht, ist, dass wir uns bei den Steuersätzen für Körperschaften daran orientieren, dass sie in anderen Ländern teilweise unter 15 oder sogar unter 10 Prozent liegen. Das wäre unfair gegenüber 80 Prozent aller Unternehmen, kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die keine Körperschaftsteuer zahlen, sondern Einkommensteuer, weil sie Personenunternehmen sind. Denen kann man keinen Steuersatz von nur 10 oder 15 Prozent anbieten, weil wir dann Schwierigkeiten hätten - das hat auch Herr Poß ausgeführt -, die notwendigen Finanzierungen für unsere Infrastruktur und für die Zukunftsaufgaben in diesem Land, Bildung und Forschung, zu leisten. Das wissen Sie. Deswegen muss man hier sehr vorsichtig sein. Ich persönlich sage: Wir müssen das alles noch in den verschiedensten Zusammenhängen diskutieren. Ich halte es für richtig, dass der Bundeskanzler sagt: Man muss sich über bestimmte Grundlagen verständigen, die für alle Länder gelten sollen. Ich halte es für richtig, dass gesagt wird: Wir müssen bei den Unternehmensteuern dafür sorgen, dass die Bemessungsgrundlage in allen Mitgliedstaaten die gleiche ist. Auch ich persönlich halte es für richtig - das hat nicht der Kanzler gesagt, das sage ich jetzt -, dass man darüber nachdenkt, Mindeststeuersätze einzuführen, genauso wie wir es bei der Mehrwertsteuer oder bei der Umsatzsteuer kennen, dass wir einen bestimmten Korridor vorgeben. Das werden wir für die Zukunft in den europäischen Gremien zu diskutieren haben; denn es kann nicht angehen, dass Wettbewerb immer nur zu Dumping, zu einer Bewegung nach unten führt. Wir brauchen die Finanzierbarkeit unserer Systeme; das gilt für alle anderen Länder auch. Viele haben im Wettbewerb aufzuholen - das ist richtig -, sie brauchen in dieser Zeit Vorteile - auch das ist richtig -, aber die Sätze müssen sich mit der Zeit angleichen, und das kann nicht auf dem niedrigsten Level geschehen, wenn wir das finanzieren können wollen, was notwendig ist. Deswegen bitte ich in diesem Zusammenhang auch um mehr Redlichkeit: Wenn man Dinge vergleicht, soll man Äpfel mit Äpfeln vergleichen und nicht Birnen mit Äpfeln, wie Sie das immer tun. Danke schön. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Professor Kurt Faltlhauser, Staatsminister der Finanzen des Freistaats Bayern. ({0}) Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister ({1}): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Poß hat gerade den Versuch gemacht, die Geschlossenheit der Union in der Steuerpolitik infrage zu stellen, indem er darauf hingewiesen hat, dass es einen Bericht mit Berechnungen über die Kosten der verschiedenen Konzepte gibt, die auf dem Markt sind, und wie sie zu beurteilen sind. Dieser Bericht war die Auftragsarbeit der Verwaltung; der Auftrag ist von den Ministerpräsidenten vergeben worden. Wertungen durch die Minister sind an keiner Stelle bestätigt worden. ({2}) Ich erkläre als Finanzminister des Freistaates Bayern ({3}) ausdrücklich, dass das, was hier heute als Gegenstand der Debatte vorliegt, das Ergebnis langer Arbeit und intensiver Debatte zwischen CDU und CSU, zwischen Herrn Merz und mir, ({4}) zwischen den Fachleuten ist. Die Union hat mit diesem Papier ein intensiv diskutiertes Konzept auf dem Tisch; wir haben ein Konzept. Diese Bundesregierung steht dagegen mit leeren Händen da; das ist der eigentliche Punkt. ({5}) Sie hätten auch Ihre Kreativität bemühen können, Herr Poß, um ein entsprechendes Konzept nach Ihrem Gusto vorzulegen. ({6}) Der Kollege aus Schleswig-Holstein hat sich jetzt alleine bemühen müssen und hat ein Konzept auf den Tisch gelegt. In der wichtigen Frage der grundsätzlichen Reform der Steuerpolitik hat die Opposition, sowohl die FDP - ich will es inhaltlich nicht beurteilen - als auch die Union, ein Konzept auf dem Tisch. Wir stehen vor den Bürgern und sagen zu ihnen: Das ist unser Angebot. Zugegeben, entscheidend in diesem Zusammenhang ist zunächst die Frage der Finanzierbarkeit. Angesichts dessen, dass die Bundesregierung die Nettoneuverschuldung in diesem Jahr voraussichtlich auf etwa 45 Milliarden Euro erhöhen wird - zu den 29,3 Milliarden Euro, mit denen man gerechnet hat, werden bis zu 15,8 Milliarden Euro hinzukommen -, angesichts dessen, dass die Nettoneuverschuldung in Nordrhein-Westfalen im letzten Jahr 6,5 Milliarden Euro betragen hat - eine solche Neuverschuldung in einem einzigen Jahr in einem einzigen Land, das müssen Sie sich vorstellen -, muss man die Frage stellen, ob die Luft für eine entsprechende Entlastung vorhanden ist. Herr Merz hat hier schon eine sehr präzise Antwort auf diese Frage gegeben. Ich will nun drei für mich bedeutsame Gründe anführen, warum ich meine, dass wir jetzt mit einem derart umfassenden Konzept auf den Markt müssen. Erstens. Wir sprechen in allen Debatten - das war auch in der Debatte heute früh der Fall - von der dringenden Notwendigkeit verstärkter Eigenvorsorge in den Sozialsystemen, also bei der Gesundheits- und der Altersvorsorge, durch den Bürger. Wenn wir das Thema Eigenvorsorge zur Diskussion stellen und die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür schaffen, müssen wir den Bürgern auch den Spielraum geben, diese Eigenvorsorge finanzieren zu können. ({7}) Wir müssen zeitgleich also auch die entsprechenden Entlastungen auf den Weg bringen, damit die Bürger die Chance haben, finanziell Eigenvorsorge zu leisten. Wir brauchen ein Gesamtkonzept; ({8}) denn wir können nicht etwas fordern, ohne die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Der zweite Grund betrifft den Steuerwettbewerb. Unsere Steuerquote liegt gegenwärtig knapp unter 22 Prozent; das ist richtig. Damit haben wir den Steuerwettbewerb aber nicht gewonnen. Irland ist mit Steuersätzen von 12,5 Prozent vorgeprescht und hat diesen Körperschaftsteuersatz, der früher auf den Docks von Dublin üblich war, für das ganze Land festgelegt. Litauen, Zypern und Lettland gehen ab dem 1. Mai mit einem Körperschaftsteuersatz von 15 Prozent in den europäischen Wettbewerb. Herr Kollege Merz, Sie sagen, hier werde Dumping betrieben. Ich glaube nicht, dass das das Problem ist. Wir sind ausdrücklich für Wettbewerb innerhalb eines föderalen Systems und damit ausdrücklich für Wettbewerb auf europäischer Ebene. Selbstverständlich gehört zu einem solchen Wettbewerb auch das Instrument der Steuern. Das kann man doch nicht ausschließen. Ein Problem entsteht erst dann, wenn gleichzeitig uno actu demjenigen, gegen den der Wettbewerb betrieben wird, in erheblichem Maße Transferleistungen gewährt werden. Hier kommen wir in Konflikte, die unter beihilferechtlichen Gesichtspunkten zu überprüfen sind. Dieser Umstand, dass wir auf der einen Seite durch deutlich niedrigere Steuersätze herausgefordert werden, auf der anderen Seite aber deutliche Transferleistungen gewähren, erstaunt auch die Bürger. Das müssen wir vertieft erörtern. Ich gehe davon aus, dass morgen in der Aussprache zur EU-Erweiterung entsprechende weitere inhaltliche Vorklärungen - von Klärungen kann man nicht sprechen - getroffen werden. Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({9}) Ich persönlich glaube, Frau Scheel, dass man gegenwärtig keine Mindeststeuern einführen kann. ({10}) Dagegen spricht das Einstimmigkeitsprinzip. Das können und wollen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Sicherheit nicht aufheben. Inzwischen zweifle ich an meiner alten Auffassung, dass wir die direkten Steuern nicht harmonisieren dürfen und können. ({11}) Ich glaube vielmehr, der Binnenmarkt insgesamt erfordert zunehmend, dass man auch die Harmonisierung der direkten Steuern betrachtet. Wir haben es uns zu leicht gemacht, indem wir nur die indirekten Steuern harmonisiert haben. Die Harmonisierung ist eine mittel- und langfristige Aufgabe. Gegenwärtig kann das angesichts der niedrigen Steuersätze einiger Länder im Osten nicht Thema sein. Der dritte und, wie ich meine, entscheidende Grund, warum wir jetzt entsprechend initiativ werden müssen, ist die Verkomplizierung; Kollege Merz ist darauf schon eingegangen. Es wurden Zahlen genannt, wie viele Gesetze und Verordnungen wir haben. Beispielsweise gibt es 182 Paragraphen im Einkommensteuerrecht. Ich habe mich gestern auf der traditionellen Finanzamtsvorstehertagung mit den Leitern der Finanzämter getroffen. Diese haben mir vorgehalten und detailliert erläutert, dass sie in vielerlei Hinsicht nicht mehr in der Lage sind, das Steuerrecht, das wir haben, mit ihren Fachleuten zu vollziehen. Denn nicht nur die Gegebenheiten des Steuerrechtes sind kompliziert und durch diese Bundesregierung immer komplizierter geworden, sondern auch die Geschwindigkeit der Änderungen hat sich erhöht und die Qualität des Steuerrechtes - dabei schaue ich Sie von Rot-Grün an - ist in den letzten Jahren miserabel geworden ist. ({12}) Wir muten unseren Beamten eine ungeheure Arbeit zu. Man hört immer wieder, dass es bei den Beamten viel Frustration gibt. Dies liegt vor allem an der Aufgabenstellung und an der Geschwindigkeit, mit der die Arbeitsgrundlagen geändert werden. ({13}) Herr Eichel sagt, auch er sei für eine drastische Vereinfachung, man könne ihn sofort dabei haben. Gleichzeitig sagt er aber, wir könnten uns gegenwärtig keine Nettoentlastung im Steuerrecht leisten. Dies ist ein dramatischer Widerspruch in sich. Frau Hendricks, wenn man vereinfachen will, dann muss man natürlich auch eine Vielzahl von Sonderregelungen - zum Beispiel die Steuerbefreiungen gemäß § 3 Einkommensteuergesetz, Werbungskosten oder Sonderausgaben - beseitigen. Dies ist im Ergebnis eine Belastung für weite Teile der Bevölkerung. Wenn man das alleine so stehen lässt, dann ist das ein Programm zur Steuererhöhung. ({14}) Also müssen Sie die Steuersätze uno actu und gleichzeitig senken. Ansonsten haben Sie kein Konzept. ({15}) Wir haben ein solches. Es enthält Vereinfachungen und Senkungen. Frau Hendricks, Sie und der Finanzminister können Ihre Reden von Vereinfachung wirklich vergessen, wenn Sie nicht gleichzeitig auch bereit sind, Steuersenkungen durchzuführen. Wir haben ein Konzept vorgelegt, das Ihnen in der Drucksache 15/2745 vorliegt. Danach wollen wir pragmatisch in zwei Stufen vorgehen. Zunächst soll durch die Steuersätze in Höhe von 12 bis 36 Prozent eine Nettoentlastung von rund 10 Milliarden Euro erreicht werden. Diese Steuersätze sind später auch für eine Stufenlösung vorgesehen, und zwar nicht weil hier grundsätzliche Divergenzen bestünden, sondern weil ein linearer Tarif einfach preiswerter ist. Stufen kosten Geld; das kann jeder nachrechnen. Es gibt hier aber eine Differenz zu dem, was der immer wieder zitierte Professor Kirchhof vorgelegt hat. Dieser hat eine Flat Tax von 25 Prozent vorgeschlagen. Ich erkläre für mich ausdrücklich, dass ich in der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland eine Flat Tax für nicht vertretbar halte. ({16}) Für mich ist die Progression der Einkommensteuer ein Kernpunkt unseres Sozialstaatsprinzips. Andere in Europa können kampfbereit ruhig eine Flat Tax einführen. Ich bin nicht dafür. Welche Art des Anstiegs man einführt - einen Stufentarif, Herr Solms, oder eine Progression -, ist, wenn man von der finanziellen Wirkung absieht, eher eine Geschmackssache. Insofern haben wir uns auf einen guten Kompromiss geeinigt. Gemäß dem Vorschlag von Friedrich Merz soll in der zweiten Stufe dann ein Stufentarif vereinbart werden. Bei der Erbschaftsteuer wollen wir die Betriebsübernehmer entlasten. Deshalb haben wir, solange das Unternehmen fortgeführt wird, eine Reduzierung der Steuerbelastung um jährlich 10 Prozent in das Sofortprogramm eingebaut. Dies ist sofort umzusetzen. Ich glaube, wir haben hier ein überzeugendes Konzept vorgelegt. Herr Kollege Runde und Herr Poß, ich höre aus Ihren Reihen, dass das positiv beurteilt wird. Auch von den Finanzministern der A-Länder höre ich sehr positive Reaktionen. Ja, dann machen wir es doch endlich! Draußen gehen jährlich Arbeitsplätze verloren, weil es diese zusätzliche Steuerbelastung aufgrund der Regelungen zur Erbschaftsteuer gibt. Die Unternehmen geben deshalb auf, wodurch wir Arbeitsplätze verlieren. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Machen Sie mit! ({17}) Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser ({18}) Voraussetzung dafür ist aber, dass Sie diese Gelegenheit nicht nutzen, um aus ideologischen Gründen bei der Erbschaftsteuer insgesamt wieder draufzupacken. Frau Hendricks, wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, wenn beim Gang über die Brücke in die Steuerehrlichkeit Zögerlichkeiten festzustellen sind. Auch ich würde nicht zurückkommen, wenn es ständig Drohungen gäbe, dass die Erbschaftsteuer doch noch erhöht wird. ({19}) Sie haben hier eine Chance. Ergreifen Sie sie bitte! Wir machen dann mit. Bei Erstellung dieses Gesamtkonzepts sind wir jede einzelne Position - auch des § 3 Einkommensteuergesetz - durchgegangen. Das war kein einfacher Job. Das heißt, die Union, CDU und CSU, hat zu einer sehr tief greifenden Übereinstimmung bei vielen Details gefunden. Auf diese Weise sind wir in der Lage, schnell gesetzgeberisch tätig zu werden. Wir haben uns dabei drei Aufgaben gestellt: Erstens. Wir wollen ein einheitliches, zusammenhängendes und systematisches Einkommensteuerrecht vorlegen. Es gibt zwar bereits eine Vorlage auf der Basis des Kölner Konzeptes, aber auch die dortigen Experten meinen, dass es noch weiterentwickelt und vertieft werden muss. In zwei Jahren wird mit Sicherheit ein Gesamtkonzept auf dem Tisch liegen, Herr Kollege Merz, das dann schnell umgesetzt werden kann. Zweitens. Wir müssen die Unternehmensbesteuerung angehen. Dabei wollen wir am Dualismus von progressiver Einkommensteuer und proportionaler Körperschaftsteuer festhalten. Ziel muss sein, die Besteuerungsrechtsform und Finanzierungsneutralität unter Berücksichtigung der europäischen und internationalen Entwicklungen sicherzustellen. Dabei sind eine Reihe von Vorgaben zu berücksichtigen. Ich nenne hier nur das Wahlrecht zwischen Einnahmeüberschussrechnung und Steuerbilanzierung. Das Steuerbilanzrecht muss unter Lösung von handelsrechtlichen Maßgeblichkeiten verselbstständigt und neu gefasst werden. Eine steuerliche Gewinnermittlung auf der Grundlage von IAS oder IFRS halten wir - das wurde vorgeschlagen - für nicht vertretbar. Das würde dieses Land und die hiesigen Betriebe mit Sicherheit überfordern. Diese Aufgabenstellung hat in diesem Land weder diese Bundesregierung noch ein Verband - auch wir noch nicht - in der grenzüberschreitenden Komplexität abschließend gelöst. Herr Merz, wir haben uns zwei Jahre Zeit dafür gegeben, um diese Probleme mithilfe der entsprechenden Experten zu lösen, damit wir auch in diesem Bereich ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht für die Unternehmen schaffen können. Drittens. Die letzte Hausaufgabe ist die Gemeindefinanzreform. Dazu gehört auch die Reform der Gewerbesteuer, die man nur noch als Fossil bezeichnen kann. Man kann die Finanzierungsprobleme der Kommunen, die wir sehen und anerkennen, nicht dadurch lösen, dass man sich bei der Substanzbesteuerung der Unternehmen schadlos hält. Das ist zu einfach. Das haben wir verhindert. Wir haben durch das Sofortprogramm und die Absenkung der Gewerbesteuerumlage zumindest einen ersten Schritt getan. Wir wollen die Einnahmen der Kommunen verlässlicher machen und gleichzeitig die Substanzbesteuerung der Unternehmen beseitigen. Das wollen wir gemeinsam mit den Kommunen machen. Ich kann nur an die Gemeinden appellieren, dass sie - lassen Sie es mich so ausdrücken - ihre Konsumentenhaltung überdenken. Sie dürfen nicht nur warten, welches Konzept kommt, und nachrechnen, was es für sie für Konsequenzen hat, um dann erst zu handeln. Auch von dieser Seite muss mehr politische Kreativität kommen. ({20}) Uns bleiben noch zwei Jahre, um unsere Hausaufgaben zu erledigen. Dann wird ein über den heutigen Antrag hinausgehendes Gesamtkonvolut an steuerlicher Konzeption vorliegen, wie es in der Nachkriegsgeschichte dieses Landes noch nie der Fall war. Die Umsetzung wird zügig erfolgen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass uns der Wähler dafür den Auftrag gibt. Dieses Land wird dann beim Steuerrecht wieder wettbewerbsfähig werden. Dies wird den Anstoß für einen Ruck in diesem Land geben, damit es zu einem vernünftigen Wachstum kommt und wir wieder Politik machen können. Ich bedanke mich. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Faltlhauser, ich stimme Ihnen in Ihrer Bewertung des europäischen Steuersystems zu. Ich stimme in Ihrer Aussage zur Flat Tax zu. Ich widerspreche Ihrer Aussage, dass aufgrund der Erbschaftsteuer täglich Arbeitsplätze verloren gehen. Ich will damit nicht die Reformbedürftigkeit der Erbschaftsteuer in Abrede stellen. Aber es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keinen einzigen Nachweis dafür, dass aufgrund der Erbschaftsteuer ein Unternehmen in Konkurs gegangen ist. Darum widerspreche ich dieser Aussage sehr deutlich. Das darf so nicht stehen bleiben. ({0}) Ich habe in vielen Debatten darum gebeten, mir ein Beispiel dafür vorzulegen, aber es hat mir noch keiner ein Beispiel nennen können. Wir haben auch entsprechende Umfragen bei den Landesfinanzverwaltungen gemacht. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen: Es gibt kein Beispiel. ({1}) Das heißt nicht, dass man sich dieses Themas nicht annehmen sollte; das will ich gar nicht bestreiten. Aber für Ihre Behauptung gibt es keinen Beleg.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ja, bitte.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass beim Generationenübergang die Investitionskraft insbesondere der besser situierten Unternehmen am stärksten geschwächt wird und damit tagtäglich die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert bzw. der Verlust von Arbeitsplätzen eingeleitet wird?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege, ich will gar nicht bestreiten, dass die Belastung mit der Erbschaftsteuer die Investitionskraft im fortgeführten Unternehmen schmälert. Das ist doch keine Frage. Ich habe auch nicht in Abrede gestellt, dass wir diesbezüglich Überlegungen anstellen sollten. Ich bin wirklich dafür, sich das gründlich anzusehen. Ich habe die Reformnotwendigkeit nicht in Abrede gestellt. Ich habe nur der Behauptung widersprochen, dass täglich Arbeitsplätze wegen der Erbschaftsteuer verloren gehen, weil das nicht stimmt. Es gibt eine zehnjährige Stundung. Selbstverständlich werden Stundungen von der Finanzverwaltung verlängert, wenn es sonst zur Insolvenz des Unternehmens käme. ({0}) Es ist doch alles Unsinn, was Sie hier behaupten. Man muss wirklich keinen Unsinn behaupten, um möglicherweise eine gemeinschaftliche Initiative zur Erbschaftsteuer befördern zu wollen. ({1}) Ich bin gerne dazu bereit, aber man sollte keine überzogenen Äußerungen machen, die nicht stimmen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ja.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch ich möchte Ihnen zum Geburtstag gratulieren. Sie haben erklärt, dass es keinen Fall gäbe, in dem der Zusammenhang mit der Erbschaftsteuer nachgewiesen werden könne. Sie können sich vorstellen, dass die meisten Unternehmen im Plenum nicht öffentlich genannt werden wollen. Das ist berechtigt, denn man möchte sich nicht öffentlich vorführen lassen. Einen Fall kennen wir alle: Müller-Milch. Herr Müller hat sein Verhalten ausdrücklich mit der Erbschaftsteuer begründet, egal ob wir das für richtig oder falsch halten. Aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen, in dem wir beide zu Hause sind, könnte ich Ihnen ohne jedes Problem an die 20 große Familiengesellschaften und Unternehmen nennen, die alle genau aus diesem Grunde Vorkehrungen getroffen haben und mittlerweile Firmensitze und Holdingsitze etc. ins benachbarte Ausland, nach Belgien, in die Schweiz oder nach Österreich, verlegt haben. Erwecken Sie doch nicht den Eindruck, als gäbe es diese Absetzbewegung wegen unserer Erbschaftsteuer nicht! Sie müssen es besser wissen.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege Schauerte, ich widerspreche nicht Ihrem Eindruck, dass sehr viele Unternehmen alle möglichen Anstrengungen unternehmen, um keine Erbschaftsteuer zahlen zu müssen. Es gibt aber viele Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, die sagen, das sei auch ohne Sitzverlegung legal möglich; man müsse in Deutschland nicht zwingend Erbschaftsteuer zahlen. Ich widerspreche auch nicht der Aussage von Herrn Müller, dem Inhaber des Familienunternehmens MüllerMilch, dass er nicht bereit sei, seine neun Kinder 200 Millionen Euro Erbschaftsteuer zahlen zu lassen. Das bedeutet aber nicht, dass das Unternehmen MüllerMilch in Gefahr geraten wäre, ({0}) wenn seine neun Kinder die insgesamt 200 Millionen Euro Erbschaftsteuer mit den entsprechenden Freibeträgen und über zehn Jahre verteilt hätten entrichten müssen. Zum Vergleich: Das Unternehmen Müller-Milch ist in der Lage, jedes Jahr für Öffentlichkeitskampagnen 100 Millionen Euro auszugeben. ({1}) Sind dann 200 Millionen Euro, verteilt auf neun Kinder und über zehn Jahre, vielleicht nicht doch zu erwirtschaften? ({2}) Wäre das Unternehmen deswegen in seiner Existenz bedroht, ja oder nein? Diese Frage stellt sich doch. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Offensichtlich reizen Sie die Kollegen zu vielen Zwischenfragen. Mehr als drei werde ich in einer kurzen Rede nicht zulassen. Wenn Sie das aber möchten, bitte. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich verstehe nicht, warum Sie sich an Ihrem Geburtstag so echauffieren. ({0}) Können Sie nachvollziehen, dass es einem Unternehmer wie Herrn Müller sehr schwer gefallen ist, so in die öffentliche Diskussion zu kommen? Herr Müller konnte nachweisen, dass er im Wettbewerb mit den Großkonzernen, die keine Erbschaftsteuer zahlen müssen, die notwendige Expansion am Markt nicht leisten konnte ({1}) und durch die Investitionen, die er in den neuen Bundesländern getätigt hat, in Verbindung mit dem Kapitalabfluss durch eine Erbschaftsteuerzahlung in große finanzielle Schwierigkeiten gekommen wäre. Das hat er nachgewiesen. Ich bitte Sie deshalb, Herrn Müller zu verstehen, ({2}) dass er dieses Anliegen

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, was ist Ihre Frage?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- im Gegensatz zu vielen anderen mittelständischen Unternehmern öffentlich vorgebracht hat.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege Michelbach, meine Beurteilung des Vorgangs habe ich gerade dargelegt. Ich kann nicht nachvollziehen, dass es Herrn Müller schwer gefallen ist, sein Anliegen in der Öffentlichkeit darzulegen; denn er ist selber mit einem Interview an die Öffentlichkeit getreten. ({0}) Kritik am Steuersystem ist immer wohlfeil. Die Opposition kann zwar immer wieder versuchen, den Bürgerinnen und Bürgern einzureden, das Steuersystem sei unverständlich oder ungerecht. Aber dabei darf natürlich nicht die wichtige Tatsache außer Acht gelassen werden, dass bei den einfachen Lebenssachverhalten - das betrifft die Masse aller Steuerpflichtigen und Steuererklärungen - das geltende Recht sehr leicht zu erklären und auch zu vollziehen ist. ({1}) Erfreulicherweise werden in Nordrhein-Westfalen schon Modellversuche durchgeführt. In der steuerpolitischen Reformdebatte wäre demnach schon viel gewonnen, wenn die Opposition den Bürgerinnen und Bürgern zwei Sachverhalte ehrlich nennen würde. Erstens. Das Steuerrecht ist im Wesentlichen deshalb komplex, weil teilweise vielschichtige Lebenssachverhalte zu berücksichtigen sind. Das macht Vereinfachungen schwierig. Ich nenne nur als Beispiel, dass Sie in einem der letzten Steuergesetzgebungsverfahren um einbringungsgeborene Anteile für Personengesellschaften im Einkommensteuerrecht gekämpft haben. Wahrscheinlich können die wenigsten von Ihnen erklären, worum es sich dabei handelt. Aber es haben auch nur die wenigsten mit einbringungsgeborenen Anteilen im Einkommensteuerrecht zu tun, auch wenn es sich dabei um eine wichtige, komplizierte Materie handelt. Eine Reform des Steuerrechts darf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Vereinfachung durchgeführt werden. Denn eine Vereinfachung bedeutet noch lange nicht, dass die Reform auch gerecht oder gesellschaftlich wünschenswert ist. Deswegen haben sich die Finanzminister den Vorschlag ihrer Steuerabteilungsleiter zu Eigen gemacht, Herr Kollege Faltlhauser, und sind bei ihrer gründlichen Bewertung zu dem Ergebnis gekommen, dass es kein Patentrezept für eine grundsätzliche Vereinfachung des Steuerrechts gibt. Keines der derzeit diskutierten Modelle erfüllt die an eine echte Steuerreform anzulegenden Kriterien. Das ist nicht zuletzt auf die teilweise enormen Mindereinnahmen zurückzuführen, die trotz der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage unterm Strich verbleiben würden. Das gilt insbesondere für das Konzept der Opposition. Mit den von der CDU/CSU selbst errechneten Steuermindereinnahmen in Höhe von 10,7 Milliarden Euro bei voller Jahreswirkung wird die unabdingbare Aufkommensneutralität, auf die alle öffentlichen Haushalte zumindest gegenwärtig achten müssen - das muss nicht unbedingt für alle Zeiten gelten -, verfehlt. Die kurzfristige Kassenwirkung würde sogar noch zu weitaus höheren Steuerausfällen in einer Größenordnung von 16 Milliarden Euro in den Jahren 2005 und 2006 führen. Es liegt auf der Hand, dass das nicht hinnehmbar ist. Das von der Union vorgelegte Konzept hätte zudem - das gilt auch für die anderen so genannten radikalen Konzepte beispielsweise von Herrn Kirchhof und Herrn Solms - hochgradig problematische Verteilungswirkungen zur Folge. Von den Entlastungen würden Spitzenverdiener weit überproportional profitieren; die Finanzierung hingegen bliebe zum guten Teil den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit niedrigerem oder mittlerem Einkommen überlassen. Wenn es nach der CDU/CSU geht, dann zahlen also die kleinen Leute die Zeche, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens profitieren sie nicht von der massiven Senkung der Spitzensteuersätze. Zweitens sollen sie auf steuerliche Vergünstigungen verzichten. Drittens sollen sie sich an den Lasten einer höheren Verschuldung beteiligen. Für so eine Art Reform stehen wir nicht zur Verfügung. ({2}) Ich stelle demgegenüber fest: Die Bundesregierung tritt natürlich für Steuervereinfachung und mehr Transparenz im Steuerrecht ein. Hierbei sind aber klare Vorgaben zu beachten. Erstens. Eine Steuerreform muss für den Staat finanzierbar sein. Zweitens. Sie muss sozial gerecht sein. Drittens muss sie die Europatauglichkeit des Steuersystems verbessern und zu einer besseren Position im internationalen Steuerwettbewerb führen. Aus guten Gründen hat daher kürzlich die Ministerpräsidentenkonferenz den Finanzministern den Auftrag erteilt, die Konsenspunkte der unterschiedlichen Reformkonzepte herauszufiltern. Sollten sich auf diesem Weg Reformperspektiven eröffnen, bei denen alle drei Vorgaben, die ich eben nannte, erfüllt sind und bei denen auch die Aussicht auf politische Durchsetzbarkeit besteht, werden wir uns dem sicherlich nicht verschließen. Die von einem langen propagandistischen Vorlauf begleiteten Steuerpläne von CDU und CSU sind daneben ein vergeblicher Versuch, davon abzulenken, dass sich seit 1999 in der Steuerpolitik sehr viel zum Positiven entwickelt hat. ({3}) Die Bundesregierung hat mit ihrer Steuerreform 2000 das größte Steuersenkungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik umgesetzt. 2005 wird der Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer, der im Jahre 1998 noch bei 25,9 Prozent lag - das fiel in Ihre Regierungsverantwortung -, auf 15 Prozent gesunken sein. Das ist ein historischer Tiefstand. Von 2005 an wird der Spitzensteuersatz 42 Prozent betragen. 1998, also vor knapp sechs Jahren, als Sie in der Regierungsverantwortung waren, lag er noch bei 53 Prozent. Insgesamt sorgt die Steuerreform 2000 für Entlastungen in Höhe von rund 32 Milliarden Euro bis 2005, und zwar nicht einmalig, sondern Jahr für Jahr. ({4}) Wir haben damit nicht nur im historischen, sondern auch im internationalen Vergleich sehr niedrige Steuersätze. Um das an zwei ganz konkreten Beispielen deutlich zu machen: Ein Lediger mit einem Einkommen von 25 000 Euro zahlte 1998 noch 4 700 Euro Steuern. 2005 wird er nur noch 3 600 Euro zahlen. Er hat also 1 100 Euro mehr in der Tasche. Eine Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern und einem Einkommen von 37 500 Euro wurde 1998 unter Einbeziehung des Kindergeldes noch mit 3 000 Euro belastet. 2004 zahlt sie unter Einbeziehung des Kindergeldes nur noch knapp 60 Euro. Von 2005 an bekommt sie unter dem Strich sogar 12 Euro heraus. Ein Plus von 12 Euro im Jahr 2005 statt eines Minus von 3 000 Euro im Jahr 1998 für eine Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern! Das soll uns erst einmal jemand nachmachen. ({5}) Im Unternehmensteuerbereich hat sich ebenfalls Entscheidendes getan. Seit 2001 haben wir ein europataugliches, deutlich vereinfachtes und international wettbewerbsfähiges Unternehmenssteuerrecht. Die Körperschaftsteuer haben wir auf 25 Prozent für thesaurierte und ausgeschüttete Gewinne reduziert. Zur Erinnerung: In der Zeit, als Sie die Regierungsverantwortung hatten, lagen die Steuersätze bei 45 und 30 Prozent. Mit dem neuen Halbeinkünfteverfahren haben wir auch in Europa Maßstäbe gesetzt. Italien hat das System bereits übernommen. Frankreich wird dem Beispiel wohl folgen. In Zukunft werden wir weiter daran arbeiten, das deutsche Steuerrecht internationalen Gegebenheiten und Standards anzupassen. Unter anderem wird das Außensteuerrecht entsprechend zu reformieren sein. Außerdem wollen wir das EG-Recht künftig aktiver - so weit das in unseren Möglichkeiten liegt; wir sind hier ja schon immer aktiv gewesen - in die Richtung beeinflussen, wie sie vorhin von Herrn Faltlhauser angesprochen worden ist, nämlich eine Verknüpfung mit den Infrastrukturfördermitteln herzustellen, die nicht nur die neuen EU-Länder, sondern auch die bisherigen Mitglieder der EU erhalten. Die Bundesregierung hat im Übrigen auf dem Feld der Subventionen, das sie alleine beeinflussen kann und auf dem sie nicht durch Ihre Mehrheit im Bundesrat behindert werden kann, Wesentliches geleistet. Von 1998 bis 2004 werden die Finanzhilfen von 11,4 Milliarden Euro auf knapp unter 7 Milliarden Euro, also um rund 4,4 Milliarden Euro bzw. knapp 40 Prozent gesenkt. 40 Prozent weniger Subventionen als bei der Regierungsübernahme! Im Finanzplan bis 2007 ist ein weiterer Abbau auf weniger als die Hälfte vorgesehen. Das, was die Opposition auf diesem Gebiet zu bieten hat, gleicht eher einem Trauerspiel. Von der im ursprünglichen Konzept vom Kollegen Merz noch vorgesehenen „radikalen Streichung steuerlicher Vergünstigungen“ ist kaum mehr etwas übrig geblieben. Selbst die wohnungsbaupolitisch verfehlte und ökologisch fragwürdige Eigenheimzulage soll unangetastet bleiben. ({6}) - Daran können Sie sehen, wie mutig Sie sind und wie modern Ihr Steuerrecht in einer Zeit ist, in der es Leerstände nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern sogar auch in ländlichen und städtischen Räumen im Westen unserer Republik gibt. CDU und CSU können mit dem heute vorgelegten Antrag kaum überdecken, dass sie eigentlich keine gemeinsame finanzpolitische Position haben. Sonntags trafen sich die Präsidien der beiden Parteien. Der Berg kreißte und gebar eine Maus, die er „Konzept 21“ nannte. Bekanntlich haben Mäuse kein sehr langes Leben. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Hendricks, Sie sind mittlerweile schon mehrfach mit Glückwünschen bedacht worden. Nun möchte auch ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren. Das hätte ich gerne vorher gemacht; leider wusste ich es aber nicht. Umso herzlicher ist mein Glückwunsch. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Otto Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeden Monat, beinahe jede Woche müssen wir diese Debatte führen. Die gesamte Fachwelt in Deutschland, alle steuerpflichtigen Bürger in Deutschland, die Steuerverwaltung - alle wissen, dass es mit diesem chaotischen Steuerrecht so nicht weitergehen kann. ({0}) Das Steuerrecht ist zu kompliziert, die Steuerbelastung ist zu hoch, die Steuergerechtigkeit ist grundsätzlich verletzt. Nur die Bundesregierung hat das noch nicht verstanden und deswegen kommen wir nicht voran. Das ist ganz einfach. ({1}) Frau Kollegin Hendricks, Sie wissen so gut wie ich: Wenn damals, nach den Petersberger Beschlüssen, ({2}) die vom Bundestag beschlossene Reform vom Bundesrat, dem der damalige hessische Ministerpräsident, Ihr heutiger Finanzminister, angehörte, nicht blockiert worden wäre, dann hätten wir seit dem 1. Januar 1998 einen Spitzensteuersatz von 39 Prozent. ({3}) Also: Rühmen Sie sich der 42 Prozent, die im nächsten Jahr gelten sollen, nicht! Ihre Politik hat uns viele Jahre Geld gekostet. Alle Bürger müssen das bezahlen und dafür tragen Sie die Verantwortung. ({4}) Ich möchte auf die Notwendigkeiten zurückkommen. Wir haben hier am 12. Februar ein ausformuliertes, neues Einkommensteuergesetz eingebracht. Es hat in der Fachwelt hohe Anerkennung gefunden. Wir haben in einem Wettbewerb sogar einen Preis von 40 000 Euro gewonnen. Ich glaube, das ist in der Geschichte der Bundesrepublik noch keiner Partei gelungen. Diese Einbringung war eine Aufforderung an alle Fraktionen dieses Hauses, sich dieser elementar notwendigen Aufgabe zu stellen. Das war keine Aktion der Opposition, um sich zu profilieren. Das geschah vielmehr in der Hoffnung, dass wir noch in dieser Legislaturperiode Steuersenkungen, Steuergerechtigkeit und Einfachheit durchsetzen können, wenn alle Fraktionen mitarbeiten. Vonseiten der Regierungskoalition höre ich immer wieder, dass sie nicht bereit ist, diesen Weg zu gehen. Unser Angebot bleibt bestehen. Ich freue mich, dass die CDU/CSU als gemeinsame Fraktion jetzt, nach sicherlich schwierigen Diskussionen zwischen den beiden Parteien, hier Thesen vorlegt, die in dieselbe Richtung gehen wie unsere Vorstellungen. Auf dieser Basis lässt sich ein gemeinsames Reformkonzept durchsetzen. ({5}) Herr Kollege Faltlhauser, ich bedanke mich auch bei Ihnen, dass Sie daran mitgewirkt haben. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einige Probleme im Zeitablauf hinweisen. Es ist so, dass wir keine Zeit mehr verlieren dürfen. Wenn es in dieser Legislaturperiode wegen der Haltung der Koalitionsfraktionen, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, zu einer gemeinsamen Reform also nicht mehr kommt - nach dem, was Frau Kollegin Hendricks gesagt hat, müssen wir davon ausgehen -, ({6}) dann müssen wir sofort nach der gewonnenen Bundestagswahl handlungsfähig sein. Diese Wahl findet Ende 2006 statt. ({7}) Eine solche Reform kann also frühestens zum 1. Januar 2008 in Kraft treten. Das wird aber nur gelingen, wenn wir konzeptionell so weit vorbereitet sind, dass die Gesetzgebungsarbeit bis Mitte 2007 erledigt ist. Deswegen müssen die Vorbereitungen jetzt getroffen werden, und zwar mit konkreten Ergebnissen; sonst schaffen wir das nicht. ({8}) Herr Kollege Faltlhauser, ich habe, was den Zeitplan und die Prioritäten anbetrifft, ein Problem. Ich glaube, dass die Gemeindefinanzreform als Erstes auf den Weg gebracht werden muss; denn die Abschaffung oder die Ersetzung der Gewerbesteuer ist der Schlüssel zur Steuervereinfachung. Die Gewerbesteuer ist ein Fremdkörper in unserem Steuerrecht und passt auch in das europäische Steuerrecht überhaupt nicht hinein. Wir brauchen also eine gemeindefreundliche Ersatzfinanzierung. Die können wir nur gemeinsam finden. Das wird nicht nur über einen Zuschlag zur Einkommenund Körperschaftsteuer möglich sein; vielmehr brauchen wir eine deutliche Erhöhung des Anteils der Gemeinden an der Umsatzsteuer, ({9}) damit die Gemeinden eine gleichmäßig fließende verlässliche Steuerquelle erhalten. Der Verteilungsschlüssel kann wirtschaftsbezogen und damit wirtschaftsfreundlich ausgestaltet werden. Darüber müssten wir uns am schnellsten einigen. Das ist aber - das weiß ich genau; wir haben uns mit dieser Frage intensiv beschäftigt - das Schwierigste von allem. ({10}) Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam ein Konzept dazu vorzulegen, damit wir dann ohne Gewerbesteuer ein wirklich einfaches Steuerrecht realisieren können. Die Gemeinden sind für unsere wirtschaftliche Entwicklung von fundamentaler Bedeutung. ({11}) Die Gemeinden haben heute kein Geld. Da herrscht die blanke Not. Dringend erforderliche Reparaturarbeiten an Schulen, Kindergärten, Sportstätten, Krankenhäusern und Straßen werden mangels ausreichender Finanzausstattung nicht vorgenommen. Gelder für Jugendarbeit werden gestrichen. Büchereien, Sportstätten, Museen und Theater werden geschlossen. Eintrittsgelder für verbleibende kommunale Einrichtungen werden - bei verkürzten Öffnungszeiten - erhöht. Die Gemeinden haben mit ihrem Auftragsverhalten für das örtliche Gewerbe eine fundamentale Bedeutung. Wenn wir sie nicht in die Lage versetzen, wieder vernünftige Haushalte zu gestalten und Ausgaben zu tätigen, werden wir auch die regionale Wirtschaftskraft nicht stärken. Dieser Zusammenhang ist zu sehen. Wenn das nicht gelingt, dann bricht uns die Basis, der kleine Mittelstand und das Gewerbe, weg. Auf diesem Weg befinden wir uns gerade. Wenn Sie das nicht erkennen und nicht bereit sind, zu Lösungen zu kommen, dann sehe ich für die weitere wirtschaftliche Entwicklung schwarz. ({12}) Da nützt es auch nichts, wenn Sie uns neue Zahlen nennen, was die Exporterfolge anbetrifft; denn die Exportstatistik sagt überhaupt nichts darüber aus, wo die Wertschöpfung stattgefunden hat. Die Wertschöpfung findet in immer größerem Maße in ganz anderen Ländern und nicht in der Bundesrepublik Deutschland statt. Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas sagen, weil ich eine bestimmte Diskussion leid bin. Sie halten uns immer vor, wir hätten in Deutschland die niedrigste Steuerquote. Entscheidend ist die Belastung des Gewerbes, der Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes. Dazu hat uns interessanterweise der Bundesfinanzminister Eichel am 24. März dieses Jahres in einem Brief an die Fraktionsvorsitzenden in diesem Haus im Zusammenhang mit der Frage der Abgeltungsteuer mitgeteilt, dass eine Abgeltungsteuer nicht möglich sei, weil sie zu einer Besserbehandlung der Kapitaleinkünfte gegenüber dem investierten Kapital führen würde. Er hat geschrieben: Erträge aus Fremdkapital, also Zinsen, wären nur mit der niedrigeren Abgeltungsteuer belastet, zum Beispiel 30 Prozent, während Erträge aus Eigenkapital - jetzt kommt es - selbst nach In-Kraft-Treten der letzten Stufe der Steuerreform 2000 ab dem Jahr 2005 mit bis zu 52,24 Prozent belastet blieben. ({13}) - Das hat uns der Bundesfinanzminister vorgerechnet. Ich habe es nachgerechnet. Es stimmt. Darin ist die Kirchensteuer noch nicht einmal enthalten. Wenn Sie hören, welche Steuersätze in Estland oder in der Slowakei - 19 Prozent - oder jetzt in Österreich - etwas über 20 Prozent - vorgeschlagen werden, erkennen Sie, wo wir im Steuerwettbewerb liegen. Wettbewerb ist im Gegensatz zu der Auffassung der verehrten Kollegin Frau Scheel kein Dumping, sondern Wettbewerb ist das Bemühen um die besten Bedingungen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir müssen uns diesem Wettbewerb stellen, sonst werden wir keinen Erfolg haben. Dazu haben wir unsere Vorschläge gemacht. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Andreae.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Solms, ich gebe Ihnen darin Recht, dass die Finanzausstattung der Gemeinden der entscheidende Punkt ist, an dem wir beginnen sollten. Dabei will ich darauf hinweisen, dass wir im letzten Herbst in Zusammenarbeit mit den Kommunen ein Modell vorgestellt haben, das gewährleisten soll, dass die Finanzstruktur der Kommunen verbessert wird. Wenn ich lese, dass die CDU/CSU in ihrem „Konzept 21“ diese Gemeindefinanzreform in enger Abstimmung mit den Kommunen vornehmen will, dann ergibt sich für mich daraus schon die Frage, wo Sie von der CDU/CSU im letzten Herbst waren, als auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Ihrer Parteien diese Gemeindefinanzreform einschließlich der Modernisierung der Gewerbesteuer forderten. Wo waren Sie da? Sie haben sie im Regen stehen lassen. Auch das ist ein Grund, warum die Finanzlage der Gemeinden noch immer so desaströs ist. ({0}) Sie plädieren jetzt für eine wirtschaftskraftbezogene Gemeindesteuer. Es bleibt völlig im Leeren, was Sie eigentlich wollen. Das ist insgesamt das Problem dieses Konzeptes 21. Es bewegt sich in einem Bereich von medientauglichen Halbwahrheiten. Es ist halbkonkret. An vielen Stellen bleibt offen, was genau Sie wollen und wie Sie es machen wollen. ({1}) Die Frage, die das Konzept wirklich verschleiert, ist die Art und Weise der Gegenfinanzierung. Am Schluss dieses Konzeptes findet sich ja ein Finanztableau, allerdings nur für das Sofortprogramm. Da kommen Sie auf die besagten 10 Milliarden. Das DIW hat Ihr Konzept durchgerechnet und sagt, es kostet 13 Milliarden. Das Finanzministerium spricht von 16 Milliarden. Wir werden nachher - es ist ja interessant, dass auch Herr Merz gesagt hat, dass man das im Gesamtkontext sehen müsse ({2}) eine Debatte über den Gesamtkontext Ihrer Reformen führen. Herr Seehofer spricht davon, dass im Gesamtkontext Kosten in Höhe von 100 Milliarden Euro entstehen. Dass Sie ein Konzept haben, wie Sie das gegenfinanzieren wollen, können Sie mir nicht im Ernst sagen. ({3}) Auch ich finde, dass Sie Recht damit haben, dass Vereinfachung Not tut. ({4}) Auch ich gebe zu: Ein einfacheres Steuersystem ist ein gerechteres Steuersystem, weil dann die Leute verstehen, wo ihre Steuern bleiben und wie sich die Einnahmen strukturieren. Nur, das Junktim, dass Vereinfachung nur mit Tarifentlastung gehe, sehen wir so nicht. Wir haben eine Einkommensteuerreform auf den Weg gebracht, die im Jahre 2005 zu einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 42 Prozent führt. Bei den Eckwerten macht das insgesamt 11 Prozentpunkte weniger aus als 1998. Da ist unsere Tarifentlastung. Das ist gut so. Aus unserer Sicht ist aber kein weiteres Entlastungsvolumen möglich. Ich sehe allerdings, dass wir im Bereich der Unternehmensbesteuerung etwas tun müssen. Wir stehen hier vor wirklich großen Herausforderungen. Ich warne aber davor, einfache Zusammenhänge herzustellen. Ich halte es wirklich für billig, zu behaupten, dass es im Zuge der EU-Osterweiterung zu Ungerechtigkeiten komme, weil die neuen Länder zum einen niedrige Steuersätze hätten und zum anderen hohe Subventionen empfangen würden. Ich glaube, man muss viel genauer hinschauen, wie sich die Subventionen und die Steuersätze entwickelt haben, wo es Mitnahmeeffekte gibt und von welchen Erwartungen dies geprägt war. Mir ist es zu billig, wenn gesagt wird, die Subventionen seien zu hoch, dadurch würden nur niedrige Steuersätze finanziert. ({5}) Nichtsdestotrotz müssen wir uns die Frage stellen, wie wir uns angesichts der neuen Wettbewerber aufstellen wollen. Wir müssen dabei aber seriös vorgehen. Ich kann in den Vorschlägen des „Konzepts 21“ zur Unternehmensteuerreform keine Antwort auf diese Frage finden. ({6}) Sie halten es sich offen, Sie werden nicht konkret. Es hört sich zwar schön an, wenn Sie sagen, Sie wollten alles einfacher machen und die Tarife senken. Aber wenn es darauf ankommt, bleibt es unklar. ({7}) Ein weiterer Punkt noch, der mir besonders wichtig ist: die Familienpolitik. Sie sprechen davon, dass die Kinderfreibeträge und das Kindergeld erhöht werden sollen. Seit 2001 haben wir in Deutschland 180 Milliarden Euro für familienpolitische Leistungen und Maßnahmen ausgegeben. Trotzdem haben wir ein Demographieproblem. Ich behaupte, dass das Demographieproblem, also die mangelnde Bereitschaft, heute Kinder zu bekommen, eng mit der ungelösten Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zusammenhängt. Deswegen will ich nicht, dass die Transferleistungen erhöht werden, sondern ich will, dass wir Geld für die Verbesserung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten in die Hand nehmen. Qualifizierte und flexible Maßnahmen für Kinder unter drei Jahren und mehr Ganztagsschulen eröffnen die Chance, dass sich wieder mehr junge Menschen für Kinder entscheiden. Ich bezweifle, dass Sie mit Ihrem Ansatz in der Familienpolitik, nämlich eine weitere Erhöhung der Transferleistungen vorzusehen, wirklich der Lebenswirklichkeit junger Menschen nahe kommen. ({8}) Noch einmal: Eine Einkommensteuerreform ist erfolgt. Wir haben die Eckwerte der Steuertarife gesenkt. Jetzt einen Unterbietungswettbewerb zu starten halten wir für unseriös. Entlastungsvolumina im Einkommensteuerbereich sehen wir nicht. Sie treiben uns immer wieder bei der Frage des Stabilitätspaktes. Das ist angesichts der gemeinsamen Verantwortung aller politischen Ebenen bezüglich des Schuldenstandes und der Einhaltung der Maastricht-Kriterien auch richtig. Aber Ihre Vorstellungen und Vorschläge hinsichtlich der Finanzierung zeigen nichts von dieser gemeinsamen Verantwortung. Meine Damen und Herren von der Union, Sie versprechen aus unserer Sicht Manna vom Himmel. Mehr Ehrlichkeit stünde Ihnen gut zu Gesicht. Aus Ihrem Bierdeckel ist eine Tischdecke mit vielen einzelnen Bereichen, kleinen Regelungen und Änderungen geworden. Von einem Gesamtkonzept kann man hier leider nicht mehr sprechen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr von Stetten. ({0})

Christian Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003639, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Monaten diskutieren wir über die Notwendigkeit einer umfassenden Reform des deutschen Steuerrechts. Aber heute, vor allem nach dem Redebeitrag von Herrn Poß, ist klar geworden: Die Regierung und auch die Fraktionen von Rot-Grün wollen überhaupt keine Steuerreform mit den Merkmalen einfacher, niedriger und gerechter. Sie verweigern sich einem modernen Steuerrecht, das unser Land so dringend braucht. Aber es ist ja nicht die erste Initiative, die Sie mit Ihrer Abgeordnetenmehrheit hier im Deutschen Bundestag verhindern und blockieren. ({0}) - Natürlich blockieren Sie! Sie blockieren dieses wichtige Gesetz. Herr Dr. Solms hat für die FDP deren Steuervorschläge auf den Tisch gelegt und auch wir bringen unsere Steuervorschläge heute ein. Nur die Regierung, von der man das, Frau Staatssekretärin, eigentlich am ehesten hätte erwarten können, ist trotz Tausenden von Mitarbeitern nicht in der Lage, uns Parlamentariern ihr Programm vorzulegen und deutlich zu machen, wie Sie sich die Zukunft vorstellen. Die Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung ist der eigentliche Skandal am heutigen Vormittag. ({1}) Stattdessen kommt Minister Eichel wieder mit der Abschaffung der Eigenheimzulage. Frau Staatssekretärin, Sie haben es angesprochen: Bei unserem Konzept bleibt die Eigenheimzulage erhalten, weil sie - trotz vieler Falschmeldungen - mit der Reform der Einkommensteuer überhaupt nichts zu tun hat. Sie haben, keine drei Monate nachdem wir uns im Vermittlungsausschuss auf eine gemeinsame Position geeinigt haben, diese Position wieder aufgekündigt und die betroffenen Bürger erneut tief verunsichert. Die Betroffenen rufen bei uns an und fragen, welche Versprechen dieser Regierung eigentlich noch gelten. Bei uns rufen die Betroffenen noch an; ich weiß, dass bei Ihnen schon lange niemand mehr anruft. Sie sind in den Wahlkreisen - wir merken das jede Woche - auf Tauchstation gegangen. Sie sind überhaupt nicht mehr ansprechbar, weil Sie das, was von der Bundesregierung wöchentlich neu in die Welt gesetzt wird, nicht mehr vertreten wollen. ({2}) Wir haben es heute gehört: Steuerpflichtige Bürger und deutsche Unternehmen verlassen in Scharen unser Land und gehen dorthin, wo es nicht nur niedrigere Steuern, sondern vor allem auch nachvollziehbare Gesetze gibt. Transparenz ist eines der Hauptziele unseres heutigen Antrages. Übrigens war das auch einmal eines Ihrer Ziele. Noch im Jahr 2000 hat die Bundesregierung die Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch ein gerechtes Steuer- und Abgabensystem angekündigt, doch das Gegenteil - auch das haben wir heute mehrfach gehört - war der Fall. Der Rat der Wirtschaftsweisen hat in seinem Jahresgutachten 2003/04 eindeutig festgestellt, dass das Steuersystem des Jahres 2003 weit entfernt von den Zielen der Bundesregierung aus dem Jahr 2000 ist. Mit Erlaubnis der Präsidentin darf ich die von der Bundesregierung selbst vorgeschlagenen Gutachter mit drei Sätzen zitieren. ({3}) Die Gutachter schreiben: Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig erhebliche Defizite. Das deutsche Steuerrecht wird zunehmend als chaotisch wahrgenommen. … Der deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leitbild, an dem sich die Haushalte und Investoren … ausrichten könnten. Die Gutachter fordern daher einen grundlegenden Umbau der Einkommensteuer und der Unternehmensbesteuerung. Zusätzlich soll die Gewerbesteuer ersetzt werden. Sie schlagen Einkommensteuersätze vor, die bei etwa 15 Prozent beginnen und bei etwa 35 Prozent enden sollen. Bei diesen Gutachtern handelt es sich um hochqualifizierte Persönlichkeiten. Einen dieser Gutachter, Herrn Professor Weber, hat der Bundeskanzler vor kurzem unter Beifall aller Fraktionen und aller gesellschaftlichen Gruppen als neuen Präsidenten der Bundesbank vorgeschlagen. Ich stelle also fest: Ihre eigenen Gutachter schlagen Ihnen genau das vor, was Friedrich Merz und der bayerische Finanzminister vor wenigen Minuten ausführlich erläutert und vorgestellt haben. ({4}) Herr Poß, Hauptleidtragender Ihrer Verweigerungspolitik ist wieder einmal der Mittelstand. ({5}) Sie brauchen gar nicht abzuwinken. Allein im Jahr 2003 gab es 40 000 Unternehmenspleiten. Frau Hendricks, das bedeutet, alle zwölf Minuten gibt es einen mittelständischen Betrieb weniger. Auch wenn Sie heute Geburtstag haben, können wir Ihnen diese Feststellung nicht ersparen: Dabei handelt es sich nicht um Unternehmen, die irgendwann einmal zu Beginn des Internetzeitalters von Glücksrittern gegründet wurden. Die sind alle schon in den letzten Jahren verschwunden. Es handelt sich vielmehr um mittelständische Betriebe, die schon seit Jahren am Markt existieren und sich jetzt einfach nicht mehr halten können, weil sie von der Bürokratie erdrückt werden oder aus dem Steuerchaos nicht mehr herausfinden. Sie haben mit Ihren Fehlentscheidungen diese Betriebe mit auf dem Gewissen. ({6}) Eine letzte Bemerkung. ({7}) Ich darf Sie bitten: Handeln Sie jetzt! Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! ({8}) Geben Sie Deutschland ein einfaches und gerechtes Steuersystem! Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen: Wir können nicht bis 2006, also bis zur nächsten Bundestagswahl, warten. Das würde viele weitere Arbeitsplätze kosten. Wir brauchen jetzt ein neues Steuersystem. Deswegen darf ich Sie bitten, dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller. ({0})

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Staat verlangt von seinen Bürgern Steuerehrlichkeit. Dem steht aber zu Recht der Anspruch der Bürger entgegen, dass in der Steuerpolitik nicht geflunkert und nicht vernebelt wird. ({0}) Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist leider ein Musterbeispiel für Flunkern und bewusstes Im-Unklaren-Lassen. Seit dem Herbst vorigen Jahres kündigen CDU und CSU an, es werde einen Entwurf einer großen Steuerreform geben. Doch über Eckpunkte ist die Union noch immer nicht hinausgekommen. Manches in Ihrem Antrag liest sich sogar ganz hübsch. Das ist auch kein Wunder; denn Sie beschränken sich weitestgehend auf das Schöne und Gute. Klartext ist das nicht. Warum legen Sie eigentlich keinen Gesetzentwurf vor? ({1}) - Herr Kollege Seiffert, schauen Sie doch einmal in das Grundgesetz! Eine Oppositionsfraktion hat das Recht, einen Gesetzentwurf einzubringen. ({2}) Wenn Sie meinen, das sei für Sie als Oppositionsfraktion etwas zu mühsam, dann muss ich Ihnen sagen: Sie haben doch Zugriff auf das Fachwissen von wirklich guten und tüchtigen Beamten in den Ministerien der Länder. ({3}) Beispielsweise hat das bayerische Finanzministerium einen guten Ruf. Bedienen Sie sich doch einfach der Unterstützung beispielsweise des Kollegen Professor Faltlhauser, der leider etwas früher gehen musste. In einem Gesetzentwurf - das ist vielleicht der Nachteil, den Sie sehen, Herr Seiffert - muss man ganz konkret werden. Man kann sich darin nämlich nicht auf das beschränken, was die Menschen gerne präsentiert bekommen wollen. Hätten Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt, hätten Sie auch nicht so ohne weiteres mit einfachen Floskeln die Unterschiede, die es im Steuerbereich zwischen den Vorstellungen der CDU und denen der CSU gibt, übertünchen können. Ich werfe Ihnen gar nicht vor, dass es in Ihren Vorstellungen Unterschiede gibt. Aber das müsste man ehrlicherweise auch den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes sagen. Ich nenne ein Beispiel: den Stufentarif; Herr Merz hat ihn seit etlichen Wochen herausgekehrt. Herr Merz spricht voller Begeisterung vom Stufentarif, der angeblich alles einfacher mache; da könne man dann auf dem Bierdeckel ausrechnen, wie hoch die eigene Steuerpflicht sei. ({4}) Vorweg noch der Hinweis: Die Autoren Ihres Antrages sagen, nicht sie selbst würden einen Entwurf vorlegen, der ihren Grundsätzen folge. Sie fordern vielmehr: Wir haben ein paar Grundsätze und die Bundesregierung möge bitte schön einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Herr Meister hat in diesem Antrag zwei Teile meisterlich formuliert. ({5}) Teil A beinhaltet das steuerpolitische Grundkonzept der Zukunft. Für die fernere Zukunft ist ein so genannter Zieltarif mit bestimmten Stufen vorgesehen. Dann gibt es einen konkreten Teil - er kommt überwiegend aus München -, ein Sofortprogramm. ({6}) - Der ist sogar viel besser, ({7}) weil er zum Teil richtig konkret ist. Da wird einfach gesagt: Es ist ein linear-progressiver Tarif vorgesehen, weil er sich bewährt hat. Ich bestätige ja Herrn Faltlhauser und auch der CSU insgesamt gerne, dass sich ihre Darlegungen zur Steuerpolitik von dem, was Herr Merz der deutschen Öffentlichkeit verkündet, wohltuend unterscheiden. Da herrschen eine relative Nüchternheit, Konkretheit und sogar Wirklichkeitsnähe. Auf die legt Herr Merz nicht so furchtbar viel Wert; ({8}) aber man kann vielleicht nicht alles haben. Ich will nur einmal in Erinnerung rufen, was Herr Professor Faltlhauser schon vor ein paar Jahren zum Stufentarif geschrieben hat, damals nicht mit Blick auf Herrn Merz - dieser hatte sich diese Meinung damals noch nicht zu Eigen gemacht -, sondern mit Blick auf Herrn Uldall; das war aber dieselbe Soße. Unter der Überschrift „Die Lösung kann nur sein: Weg mit dem Stufengag“ wurde 2001 im „Handelsblatt“ ein schönes Interview mit Herrn Faltlhauser veröffentlicht. Hieraus ein Zitat: Es wird immer wieder behauptet, ein Stufentarif sei dem linear-progressiven Formeltarif überlegen, weil er gerechter und einfacher sei. Dies ist schlicht falsch: Der Stufentarif vereinfacht nichts, er ist gleichzeitig weniger leistungsgerecht. Einige meinen nun, jeder Steuerpflichtige könne im Stufenmodell seine Steuerbelastung ohne Schwierigkeiten selbst berechnen. Das ist reine Illusion. ({9}) Komplex, verwaltungsaufwändig und streitanfällig ist allein die Ermittlung der Bemessungsgrundlage, die Anwendung des Tarifs ist dagegen ein Rechenvorgang und mit Tabellen und Computerprogrammen leicht zu vollziehen. Recht hat Herr Professor Faltlhauser! ({10}) Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie in den eigenen Reihen noch Erklärungsbedarf haben; das ist ja in Ordnung. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie in den Darstellungen nach außen so tun, als wüssten Sie schon, was Sie wollen. ({11}) Was ich Ihnen noch viel mehr vorwerfe - ich glaube, ein großer Teil der Öffentlichkeit tut dies auch -, ist, dass zwischen dem, was Sie an programmatischen Zielvorstellungen verkünden, und dem, was Sie tatsächlich tun, eine sehr große Lücke klafft, ein großer Gegensatz besteht. Seit Jahren bekennen Sie sich - solange er abstrakt ist - zu dem Grundsatz, Sonderregelungen und Vergünstigungen im Steuerrecht und natürlich auch Subventionen müssten abgebaut werden, damit man Spielraum zur Senkung des Tarifes bekomme. Dem kann man nur beipflichten. ({12}) Dass wir die Tarife seit 1998 kräftig gesenkt haben, darauf hat Frau Hendricks schon hingewiesen; das brauche ich nicht zu wiederholen. Bloß, bei dem Abbau von Steuervergünstigungen und der damit einhergehenden Senkung von Tarifen ({13}) sind wir fast immer auf den erbitterten Widerstand der Unionsfraktion gestoßen. Denn Sie haben immer mit einem rein opportunistischen Verhalten nach interessierten Gruppen geschielt, weil Sie glaubten, das brächte Ihnen irgendetwas ein. Da die Zeit nicht ausreicht, Ihr gesamtes Sündenregister hier auszubreiten, nenne ich nur wenige Beispiele. ({14}) Wenn man Ihren Antrag liest und sich dann daran erinnert, wie Sie sich vorher verhalten haben, reibt man sich die Augen. Der Antrag liest sich geradezu wie eine Beichte. Ich erinnere einmal an die heftigen Debatten, die Sie geführt haben, als vor ein paar Jahren die so genannten AfA-Tabellen aktualisiert wurden, als man näher an die tatsächliche Nutzungsdauer von Investitionsgütern heranging und die Abschreibung in einigen Bereichen über einen längeren Zeitraum erstreckt werden musste. Damals haben Sie massiv dagegen polemisiert. Was liest man heute in Ihrem Antrag? Abschreibungen können künftig nur noch in Höhe eines aus Vereinfachungsgründen typisierten Werteverzehrs, der sich an der tatsächlichen Nutzungsdauer eines Wirtschaftsgutes bemisst, steuerlich berücksichtigt werden. ({15}) Das wollten wir schon damals. Dagegen sind Sie Sturm gelaufen. ({16}) Noch schöner: Heute Vormittag hat der Kollege Flosbach zum Alterseinkünftegesetz und zur nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften gesprochen. ({17}) Er hat ein richtig engagiertes Plädoyer dafür gehalten, eine breite Palette von Möglichkeiten zu eröffnen. Es ist sicherlich erfreulich, wenn man Vermögen bilden kann, das man zur Alterssicherung heranziehen kann. Sie haben sich dafür ausgesprochen, es möglichst frei verwenden zu können. Was steht in Ihrem Antrag? Dort heißt es zu den Vorsorgeanforderungen: Die Abzugsfähigkeit wird beschränkt auf solche Vorsorgesysteme, die ausschließlich der Alterssicherung dienen. ({18}) Reue, die aus dem Herzen kommt, klingt anders. ({19}) Das ist noch nicht einmal ein Lippenbekenntnis zu Ihren eigenen Sünden. Sie anonymisieren die Sünden, es handelt sich um irgendwelche Sünden, die man keiner EinJörg-Otto Spiller zelperson zuordnen kann. Gehen Sie in sich! Die Einsicht und die Einkehr folgen dann sicher. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. Wir reden heute nicht über das Urheberrecht, aber wir müssen einfach festhalten, dass alle Parteien außer der PDS das Programm der FDP gnadenlos geplündert haben. Aus einer Steuersenkungspartei sind nun vier Steuersenkungsparteien geworden, die um die Wette die Steuern senken wollen und den Staat ruinieren. Die FDP steht nun ziemlich nackt da und kann nur noch mit dubiosen Schwarzgeldkonten in den Medien glänzen. Ich will mich aber auf die CDU konzentrieren. Das Steuerkonzept der CDU ist ein Konzept für Besserverdienende. Die CDU will die FDP-Wähler gewinnen und hofft, dass die Arbeiter und Angestellten, die immer noch CDU wählen, den dramatischen Kurswechsel nicht bemerken. Die ehemalige Volkspartei CDU ist programmatisch auf dem Weg hin zu einer neoliberalen Partei, die nur noch die Vermögenden dieser Gesellschaft im Auge hat und dabei ist, die Wortverbindung „soziale Marktwirtschaft“ aufzulösen. ({0}) Etliche Vorredner sind bereits auf das Gutachten der Länderfinanzminister eingegangen. In diesem Gutachten der Finanzminister der Länder ist deutlich gemacht worden, wohin der Trend der Steuermodelle von CDU, CSU und FDP geht. Gewinner wären Steuerpflichtige in derzeit hoher Progressionsstufe mit wenig Abzügen, also Menschen, die sehr gut verdienen. Verlierer wären dagegen Steuerpflichtige mit geringen Einkommen und hohen Abzügen oder hohen steuerfreien Einkünften. So soll der Bezieher eines zu versteuernden Einkommens in Höhe von 15 000 Euro von der CSU - die genauen Unterschiede werden nachher in der Aktuellen Stunde besprochen werden - um 286 Euro, von der FDP um 507 Euro und von Herrn Merz bzw. der CDU sogar um 787 Euro entlastet werden. Das hört sich zunächst einmal sehr gut an. Wenn man das aber mit den Entlastungen, die für Bezieher hoher Einkommen vorgesehen sind, vergleicht, ist das nur ein Trinkgeld. Topverdiener mit einem Jahreseinkommen in Höhe von einer halben Million Euro sollen von der CSU um etwa 15 700 Euro im Jahr entlastet werden. Herr Merz will sie um fast 32 000 Euro entlasten und die FDP sogar um fast 36 000 Euro. Schauen wir uns doch einmal an, wie das Geld in Deutschland verteilt ist. Schon im Jahre 2002 besaßen in Deutschland 33 Milliardäre zusammen ein Nettogeldvermögen von 106 Milliarden Euro. Das ist eine Zahl, die sich die meisten gar nicht vorstellen können. Auf die reichsten 10 Prozent der Haushalte entfielen 50 Prozent aller Geldvermögenswerte. Die Umverteilung von unten nach oben ist bereits seit vielen Jahren in vollem Gange. Leider hat trotz gegenteiliger Versprechen auch die rot-grüne Regierung daran nichts geändert. Allein die Aussetzung der Vermögensteuer von 1997 bis 2003 führte zu einem Steuerausfall von rund 50 Milliarden Euro. Das ist mehr als das Doppelte zum Beispiel des Haushaltes des Landes Berlin. SPD und Grüne hatten den Bürgern vor der Wahl die Wiedereinführung der Vermögensteuer versprochen; doch sie haben ihr Versprechen bis heute nicht eingelöst. Wir sind sehr gespannt, wann sie das endlich tun werden. ({1}) Die Konzepte von CDU, CSU und FDP sind auch aus einem anderen Grund asozial zu nennen. ({2}) Sie entziehen dem Staat Geld, das er für die Erhaltung von Städten und Gemeinden, zur Finanzierung von Bildung und Wissenschaft und zur Finanzierung von Ordnung und Sicherheit dringend braucht. ({3}) Eines haben Sie vergessen zu erklären: Würde das CDU-Modell umgesetzt, müsste der Staat im ersten Jahr einen Ausfall von 32 Milliarden Euro und mittelfristig von 25 Milliarden Euro im Jahr verkraften. Leider haben Sie uns hier nicht erklärt, welche Aufgaben der Staat dann nicht mehr erfüllen soll, welche Aufgaben Sie streichen wollen. ({4}) Wir als PDS sind gegen diese dauernde Umverteilung von unten nach oben. Wir fordern unter anderem die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Wir erinnern die SPD gerne an ihr Versprechen, das sie gegeben und auf mehreren Parteitagen bekräftigt hat, und wir fordern eine Erhöhung der Erbschaftsteuer auf Großvermögen. Wir können nur hoffen, dass das Konzept von Herrn Merz immer nur auf dem Bierdeckel stehen und nie umgesetzt werden wird; denn das wäre verheerend für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ortwin Runde, SPD-Fraktion.

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die spannende Frage, die sich anlässlich der heutigen Debatte stellte, war die, wie die Diskussion in der CDU/ CSU weitergeht. Es war hochinteressant, dass mit Herrn Merz und Herrn Faltlhauser hier zwei Protagonisten des Streites anwesend waren. In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass der Kompromiss in der CDU zur Steuerpolitik richtig wacklig ist. ({0}) Hier ist schon daran erinnert worden, dass es bereits Schlagzeilen des Inhalts gab, dieser Stufentarif sei eher ein Gag. Ich fand es ganz elegant, wie Herr Faltlhauser dieses Problem heute gelöst hat, indem er zu dem Stufentarif sagte: Über meine Aussagen von damals will ich nicht mehr reden, aber bezogen auf Kirchhof gilt: Dessen Tarif, diese Flat Tax, die eine ähnliche Qualität wie der Stufentarif hat, ist wirklich absurd. - So kann man Kollegen aufs Allerschönste abohrfeigen. Das war in der Tat interessant. ({1}) Die gesamte Öffentlichkeit hat ja sehr gespannt auf den 6. März gewartet, ({2}) den Tag, an dem sich CDU und CSU auf ein gemeinsames Steuerkonzept einigen wollten. Das, was dabei herausgekommen ist, liegt uns nun vor. ({3}) Es ist interessant, wie man diese Ergebnisse charakterisieren kann. Dazu hat Herr Solms zu Recht gesagt, dass sie kein konkretes Sofortprogramm darstellen, sondern dass sie eher Thesencharakter haben. Das müsste bei Ihnen von der CDU/CSU ja eigentlich auf heftigen Widerstand stoßen. Aber in der Einleitung Ihres Antrags gibt es bestimmte Hinweise. Da steht: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf: ... Ein steuerpolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln und sich dabei von folgenden Gedanken leiten zu lassen. Dieses Sofortprogramm, das von Herrn Faltlhauser als sehr konkret beschrieben worden ist, besteht also nur aus Gedanken. ({4}) Wie konkret das Ganze ist, wird deutlich, wenn man sich Ihre Aussagen zur Gewerbesteuer ansieht; denn daran merkt man auch, wie klar Ihre Konzeption ist. Da heißt es: Die Kommunen könnten neben der heute bereits bestehenden Beteiligung an der Einkommensteuer auch an der Körperschaftsteuer beteiligt werden. In einem solchen Beteiligungsmodell müssten ... Weiter heißt es, es könnten Hebesätze angelegt werden. ({5}) Über die Zerlegungsmaßstäbe könnte ein gerechter interkommunaler Ausgleich geschaffen werden. Ich muss Ihnen sagen: Das sind, wenn man an die Not der Betroffenen in den Kommunen denkt, wirklich Luftnummern, für die diese wenig dankbar sind. ({6}) Hieran wird sehr deutlich, dass nichts geklärt ist. Lieber Herr von Stetten, wie sollen wir ein solches Sofortprogramm umsetzen? Was sollen wir davon umsetzen? Wie kann man so etwas umsetzen? Das geht doch gar nicht. Das ist kein Programm oder Konzept, sondern das Gegenteil davon. ({7}) Ganz gespannt bin ich darauf, wie sich Ihr Dissens in der Europadebatte auflösen wird. Man muss ja sagen, dass der Steuerstreit in der CDU/CSU immer unterschiedliche Protagonisten hat. Erst waren es Faltlhauser und Merz. Hier kam es zu all den qualifizierten Aussagen von Faltlhauser zu diesem Konzept. Dann hat Seehofer Faltlhauser zu dessen Entlastung abgelöst. Daraufhin kam es zur Auseinandersetzung zwischen Stoiber und Merkel, was den Steuerwettbewerb und das Steuerdumping in Europa angeht. Man ist ja richtig gespannt darauf, wie sich diese Situation auflösen wird. In dieser Europadiskussion fand ich den Ansatz ganz interessant, nicht nur bei der Mehrwertsteuer, sondern auch bei den direkten Steuern eine Harmonisierung herbeizuführen. Dazu wird man sicherlich in einem ersten Schritt die Bemessungsgrundlagen der Unternehmensteuern festlegen müssen. Dann kann man darüber nachdenken, ob man Korridore für Mindest- und Höchstsätze braucht, um auch hier zu einer gewissen Harmonisierung zu kommen. Zum Steuerwettbewerb sage ich also Ja. Es darf aber nicht passieren - hier stimme ich sowohl Stoiber als auch Bundeskanzler Schröder zu -, dass andere Länder ihre Infrastrukturinvestitionen nicht über Steuereinnahmen finanzieren können und darauf hoffen, dass das Dritte tun. Das geht nicht. Das muss man ganz deutlich sagen. ({8}) Ich schätze aber, dass diese Länder, was ihre Ausgabenotwendigkeiten angeht, nach und nach unter Druck geraten werden und dann dankbar wären, wenn der fürchterliche und vernichtende Wettbewerb zwischen den kleinen der neu beitretenden Mitgliedstaaten etwas geregelt würde. Das ist meines Erachtens ein wichtiger Ansatz. Ich glaube, es wäre gut, die Harmonisierung des europäischen Steuerrechts so anzugehen. Ich habe heute von Herrn Merz erwartet, dass er in seiner Rede das kleine Problem des Konfliktes mit Herrn Seehofer auflöst. Wie will er den Steuerzahlern 10 bis 16 Milliarden Euro zurückgeben und gleichzeitig insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme fast 100 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen? Er hatte zu der Verschiebung der Steuerbelastung von direkten zu indirekten Steuern gesagt: Ich werde darauf zum Schluss noch einmal zu sprechen kommen. Ich hätte erwartet, dass er dieses Rätsel noch in dieser Sitzung und noch in der gleichen Rede auflöst. Da kam aber nichts. ({9}) Man hätte sich auch unter Fachleuten darüber unterhalten müssen, was 100 Milliarden Euro an Mehrwertsteuerprozentpunkten ausmachen. Wenn man 8 Milliarden Euro für einen Prozentpunkt ansetzt, wären wir plötzlich bei einer Mehrwertsteuer von 28 Prozent. Das ist schon richtig verwegen! Herr Solms, ich habe mit Freude und einem gewissen Behagen gesehen, wie die CDU-Kollegen bei Ihrer Rede immer kräftig mit dem Kopf nickten, als Sie sagten, bei dem Gewerbesteuerersatz, den Sie andenken, solle man auch an höhere Umsatzsteueranteile denken. Da stellt man dann fest: Gut, wenn diese Umsatzsteuer schon einmal verteilt wird - zwischen Herrn Merz und Ihnen -, kann man das ja richtig großzügig, in luftigen Dimensionen machen. ({10}) Dabei muss man eines feststellen: Was nicht geht - da komme ich auf das zurück, was Herr Poß gesagt hat -, ist, den Bürgern bei der Einkommensteuer Erleichterungen zu versprechen, später aber zu sagen: Ich ersetze die Gewerbesteuer, die die Unternehmen heute bezahlen, durch Einkommensteueranteile. ({11}) Sie kommen dann auch noch mit dem Umsatzsteueranteil. Welche Verteilungswirkung das hat, das ist ja sehr deutlich. Man merkt, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, dass das Ganze eine sehr einseitige Lastenverteilung mit sich bringt. Wenn man die nicht geschulterten Probleme der Ablösung der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme von der Erwerbstätigkeit mitbetrachtet, dann, stellt man fest, ist die Gefahr des Sozialstaatsabbaus bei solchen Konzepten allemal und immer gegeben. Man kann also insgesamt zu dem Ergebnis kommen: ({12}) Der Berg hat gekreißt, es ist ’ne Maus draus geworden ({13}) und diese Maus schlägt Rad, macht Luftnummern. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2745 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c und Tagesordnungspunkt 16 auf: 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung - Drucksachen 15/2887, 15/2945 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung - Drucksache 15/2948 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen - Drucksache 15/2946 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 27. März 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu- blik Tadschikistan zur Vermeidung der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steu- ern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 15/2925 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. September 2002 über die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Strafgerichtshofs - Drucksache 15/2723 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Rechtsfragen hinsichtlich der Rechtsstellung von Angehörigen der Bundeswehr bei Kooperationen zwischen der Bundeswehr und Wirtschaftsunternehmen sowie zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/2944 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Entsorgung von Gewerbeabfall unbürokratisch und einfach gestalten - Drucksache 15/2010 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({6}), Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bürgernähe durch mehr Wettbewerb bei der Fahrzeugüberwachung - Drucksache 15/2751 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis, Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fischer ({9}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU, der Abgeordneten Franziska EichstädtBohlig, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Joachim Günther ({11}), Horst Friedrich ({12}), Eberhard Otto ({13}), Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP Planung und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschall- und Weidendammer Brücke vorlegen - Drucksache 15/2981 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({15}), Rainder Steenblock, Volker Beck ({16}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Chancen und Potenziale des Deutschlandtourismus in der erweiterten Europäischen Union konsequent nutzen - Drucksache 15/2980 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({17}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2003 - Einzelplan 20 - Drucksache 15/2885 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss 16 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Tierseuchengesetzes - Drucksache 15/2943 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({18}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Tagesordnungspunkt 25 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. März 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Türkei über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung, insbesondere des Terrorismus und der organisierten Kriminalität - Drucksache 15/2724 ({19}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({20}) - Drucksache 15/2994 Berichterstattung: Abgeordnete Tobias Marhold Norbert Geis Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2994, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 b: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Gebühren in Handels-, Partnerschafts- und Genossenschaftsregistersachen ({21}) - Drucksache 15/2251 ({22}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23}) - Drucksache 15/2993 Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier Andrea Astrid Voßhoff Jerzy Montag Rainer Funke Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2993, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({24}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimitteln - Drucksachen 15/1568, 15/2604 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Wolfgang Wodarg Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1568 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Äußerungen aus der CSU zur Finanzierungslücke von rund 100 Milliarden Euro in den Konzepten der CDU zur Reform der Sozialund Steuersysteme Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Waltraud Lehn, SPD-Fraktion.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es reiche nicht aus, neu zu denken, sondern man müsse auch sehen, ob das Neue finanzierbar sei. - Mit dieser Feststellung hat Horst Seehofer die abenteuerlichen Reformpläne der CDU kommentiert. ({0}) - Das ist eine gute Frage. ({1}) Die CDU sieht im Einzelnen Folgendes vor: 40 Milliarden Euro für die Kopfpauschale im Gesundheitswesen, 22 Milliarden Euro für veränderte Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung, 10 Milliarden Euro bei der Steuerreform, 12 Milliarden Euro für eine geplante Mindestrente, 18,6 Milliarden Euro für eine Erhöhung des Kindergeldes. Das ergibt zusammen den stolzen Betrag von 102,6 Milliarden Euro. Nach der wohlwollenden Rechnung von Herrn Seehofer sind es 100 Milliarden Euro - diese Zahl hat er selber ins Gespräch gebracht -, die Sie für Ihr wohlklingendes und mit großem Getöse verkündetes Reformpaket benötigen. Finanziert werden soll das Ganze durch Steuermittel. Woher das Geld dafür kommen soll - im Klartext: wem man es wegnimmt -, das bleibt Ihr Geheimnis. ({2}) Ich behaupte nicht, dass Sie es nicht wissen; ich werfe Ihnen nur vor, dass Sie es uns nicht sagen, jedenfalls weder Herr Merz noch Frau Merkel. Was auf den ersten Blick wie ein Sozialprogramm aussieht, ist in Wahrheit eines der schlimmsten und rigidesten Umverteilungsprogramme, das man in diesem Hause je gesehen hat, ({3}) jedenfalls wenn es so kommen sollte. Das wäre allerdings verheerend. Bestensfalls könnte man Ihre Überlegungen als Lug und Trug einstufen. Aber das sehen Sie natürlich anders. Auf den ersten Blick verteilt die CDU großzügigst Geld, das sie aber nicht hat und das es nicht gibt. Sie müssten es sich irgendwoher holen. Aber wie und von wem? Sie müssten die Mehrwertsteuer in Deutschland um 13 Prozentpunkte erhöhen. ({4}) Der Mehrwertsteuersatz in Deutschland würde auf 29 Prozent steigen. Das wäre ein absoluter Spitzenwert in Europa. ({5}) - Ich habe großes Verständnis dafür, dass Sie das aufregt. - Entscheidend ist: Diese angeblich sozialen Geschenke begünstigen zu über 80 Prozent die Hoch- und Besserverdienenden in unserer Gesellschaft. ({6}) Das Geld für diese Merkel-Gunst würde nämlich bei allen eingesammelt werden. ({7}) Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen und komme zunächst einmal zur Gesundheitspolitik. Die CDU - wohlgemerkt: nicht die CSU - will hier einen Systemwechsel. Die gesetzliche Krankenversicherung soll nicht länger über einkommensabhängige Beiträge, sondern über so genannte Kopfpauschalen finanziert werden, ({8}) die für alle Versicherten - unabhängig davon, wie viel sie verdienen - gleich hoch sind. Im Klartext heißt das: Herr Schrempp zahlt genauso viel wie seine Sekretärin. ({9}) Diese Kopfpauschale wurde mit 264 Euro beziffert. ({10}) Dass Sie das der Bevölkerung nicht sagen können, ist doch völlig klar. ({11}) Um das soziale Ungleichgewicht, das durch dieses Konzept entstehen würde, wenigstens etwas wieder auszugleichen, will die CDU Einkommensschwachen Zuschüsse aus Steuermitteln zahlen. ({12}) Was kostet das denn? Das würde 40 Milliarden Euro kosten. Woher nehmen Sie das Geld? ({13}) Sie greifen den Leuten in die Tasche, indem Sie beispielsweise - etwas anderes bleibt Ihnen kaum übrig die Mehrwertsteuer erhöhen. ({14}) Sie nehmen und verteilen es also so, dass derjenige mit hohem Einkommen viel weniger bezahlt, als er bezahlen könnte. Den Ausgleich schaffen Sie dadurch - Sie wollen den ganz Armen ja etwas geben -, dass Sie es bei allen wieder einkassieren. Ich will ein zweites Beispiel nennen, und zwar aus der Rentenpolitik.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen sich mit Ihrem Beispiel bitte sehr kurz fassen, da Sie Ihre Redezeit bereits überzogen haben.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich lasse das Beispiel weg, ({0}) da die nachfolgenden Redner dazu durchaus ebenfalls Stellung nehmen können. ({1}) Alles in allem: Sie sind sich in der Sache nicht einig. Sie verschweigen, wie Sie das Ganze finanzieren wollen. Der einzige, der bei Ihnen den Mut hat, dies zu thematisieren, ist Herr Seehofer. ({2}) Ich sage Ihnen: Das Bild, das Sie der Öffentlichkeit vermitteln, ist von Streitereien und Uneinheitlichkeit geprägt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie versuchen, Ihre innere Zerrissenheit zu verschweigen, zu kaschieren und der Öffentlichkeit Handlungsfähigkeit vorzutäuschen. Das hat dieses Land nicht verdient. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Es wirft wirklich ein bezeichnendes Licht auf diese Regierungskoalition, dass ihr offenbar nichts Besseres für eine Aktuelle Stunde einfällt, als die Unterschiede in der Sozialpolitik von CDU und CSU zu thematisieren. ({0}) Es wäre übrigens ganz nett gewesen, wenn aus Ihren Reihen einige Leute mehr zu der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde gekommen wären. Ich finde es fast erbärmlich, wie schlecht Sie hier - auch quantitativ - vertreten sind. ({1}) Statt die Probleme dieses Landes zu lösen, was eine Regierung zumindest einmal versuchen sollte, beschimpft die Koalition die Opposition dafür, dass CDU und CDU um die richtigen Konzepte dafür ringen, wie man den Menschen bei Krankheit, Gebrechlichkeit und Alter dauerhaft und verlässlich wieder Sicherheit geben kann. ({2}) Die linke Seite dieses Hauses sucht offenbar deshalb ihr Heil in der Diffamierung der Union, weil sie selbst das Vertrauen in ihre eigene Problemlösungskompetenz schon längst verloren hat. ({3}) Wer wie Sie in der Regierung sitzt und keine eigenen Lösungen anzubieten hat, wie er dieses Land aus der schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krise seit der Nachkriegszeit herausführen kann, der kann seine Zuflucht nur noch in Beschimpfungen der Opposition suchen. ({4}) Nehmen Sie nur für einen Augenblick die volkswirtschaftlichen Rahmendaten zur Kenntnis, vor deren Hintergrund die Finanzierungsprobleme der Sozialsysteme in der Tat gelöst werden müssen. Die amtierende Bundesregierung, die heute bei dieser wichtigen Frage ebenfalls nicht sehr stark vertreten ist, hat es zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union geschafft, dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen jedes Menschen in unserem Lande im unteren Drittel der europäischen Tabelle angelangt ist. Während die CDU/CSU jahrzehntelang am Bau des europäischen Hauses mitgearbeitet hat, ({5}) sind wir durch die Leistungen der Damen und Herren auf der linken Seite dieses Hauses in eine Kellerwohnung eingezogen. ({6}) Die Menschen trauen es einer Regierung, die schon damit überfordert ist, die Rücknahme von Bierdosen zu organisieren oder LKWs auf Autobahnen zu zählen, ({7}) einfach nicht mehr zu, dass sie uns aus diesem Keller herausführt. Wenn es Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren auf der linken Seite dieses Hohen Hauses, wirklich darum gehen würde, den ramponierten Sozialstaat wieder auf ein festes Fundament zu stellen und das Vertrauen in den Sozialstaat und seine sozialen Systeme wiederzugewinnen, dann hätten Sie sich bei Ihrem Antrag nicht hinter Äußerungen des Kollegen Seehofer in einem Interview vor zweieinhalb Wochen verstecken müssen. Sie hätten dann nämlich in jeder Sitzungswoche einen Anlass gefunden, diese aktuellen Probleme auf das Tableau dieses Hauses zu bringen. ({8}) In jeder Parlamentswoche bietet die demographische Entwicklung in Deutschland hinreichend Anlass dazu. An jedem x-beliebigen Tag eines jeden Jahres werden in Deutschland über 1 000 Kinder zu wenig geboren, um unseren Bevölkerungsaufbau auch nur halbwegs in der Balance zu halten. Jeder, der auch nur die vier Grundrechenarten beherrscht, weiß, dass bei einer solchen demographischen Entwicklung die jetzigen umlagefinanzierten Sozialsysteme einfach nicht mehr zu finanzieren sind und nicht mehr funktionsfähig sind. ({9}) Das ist eine simple mathematische Erkenntnis. Man kann sie entweder - das haben wir gemacht - zum Ausgangspunkt von Reformmodellen machen oder man kann sie einfach nach dem Motto ignorieren: Wir rasen mit unserem Wagen auf den Abgrund zu und machen erst einmal die Augen zu oder beschweren uns über die Länge des Bremsweges. - Das ist keine Lösung. ({10}) Natürlich ist der Umbau unseres Sozialsystems, eines Transfersystems, in dem jährlich Hunderte von Milliarden hin und her bewegt werden, nicht einfach. Er birgt Risiken und kostet auch etwas. Es ist vollkommen richtig, wenn auf die Finanzierungsschwierigkeiten seriös hingewiesen wird. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist allerdings: Wir benennen diese Probleme, um dafür nach Lösungen zu suchen und um Lösungen zu ringen. ({11}) Sie benennen die Probleme, um Ihre Untätigkeit in dieser Frage zu rechtfertigen. ({12}) Die jüngere Generation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Lande hat genug davon, dass die Schröders und Münteferings in der Politik sie immer wieder dazu zwingen, jahrzehntelang in Umlagesysteme einzuzahlen, von denen sie genau wissen, dass sie sich im Alter darauf nicht verlassen können. Sie geben uns für das Alter keine Sicherheit mehr. ({13}) - Jetzt gibt es sogar Zwischenrufe von der Regierungsbank. Es ist eigentlich die Aufgabe der Koalitionsabgeordneten, gute Zwischenrufe zu machen. Die jungen Menschen in unserem Lande wissen: Wer Monat für Monat umgelegt wird, der hat keine Mittel mehr, um am Ende des Monats etwas für seine private Vorsorge zurückzulegen. ({14}) Wir als junge Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion haben im letzten Jahr gemeinsam unsere Positionen zur Generationengerechtigkeit vorgelegt. Wir haben in Eckpunkten dargelegt, wie wir den Ausstieg aus der Umlagefalle schaffen können. ({15}) Wir brauchen weniger Vollkaskodenken, mehr Wahlfreiheit, mehr Eigenverantwortung und sozial ausbalancierte Prämienmodelle in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung. Wir Jüngeren wollen die größeren Lasten einer immer älter werdenden Bevölkerung gerne mittragen. Wir müssen diese Lasten aber so organisieren und verteilen können, dass die jüngere Generation unter dieser Last nicht zusammenbricht. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, bitte schauen Sie auf die Uhr.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde nur noch meinen Schlusssatz sprechen, Frau Präsidentin: Wenn SPD und Grüne nicht willens oder in der Lage sind, diese Probleme einer Lösung zuzuführen, dann sollten sie diese Regierungsbank schnellstens frei machen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Krings, ich möchte gerne auf Ihre Ausführungen eingehen, denn so einfach können Sie es sich nicht machen. ({0}) Die gesamte Union, sowohl die CDU/CSU-Führung als auch diejenigen, die in den jeweiligen Fachbereichen arbeiten, weiß genau, dass bei allen zentralen Projekten, über die wir in dieser Republik diskutieren, in ihren eigenen Reihen ein ganz großer Dissens besteht. Das betrifft die Rentenreform - die haben wir heute Morgen behandelt; Sie haben sie abgelehnt, obwohl in all Ihren Parteiprogrammen steht, dass die nachgelagerte Besteuerung kommen muss -, ({1}) die Gesundheitsreform, die Pflegeversicherung und die Steuerpolitik. ({2}) Es ist kein Wunder, dass Herr Seehofer der CDU die so genannte 100-Milliarden-Frage gestellt hat. ({3}) Schauen wir uns die einzelnen Punkte an, die Sie vorgeschlagen haben. Wir haben heute Vormittag unter anderem den Vorschlag zur Steuerpolitik beraten. In diesem Vorschlag tauchen 10 Milliarden Euro auf, die das Ganze kostet. Das betrifft aber nur einen ganz kleinen Teil. Das, was Herr Merz vorgeschlagen hat, kostet, wie wir alle wissen, 37 Milliarden Euro. Wenn man ehrlich ist, dann muss man das sagen. Das tun Sie aber nie. Alle wissen, dass die Union Forderungen zum Kindergeld erhoben hat, die zwar gut klingen, aber mit über 18 Milliarden Euro nicht finanzierbar sind. Sie wissen auch, dass die Gesundheitsprämie nach Aussagen mancher 40 Milliarden Euro kostet; Herr Kauder hat aber von „nur“ 27 Milliarden Euro gesprochen. Sie haben Vorschläge zur Mindestrente mit einem Volumen von rund 12 Milliarden Euro gemacht. Weiterhin haben Sie Anrechnungszeiten für die Kindererziehung vorgeschlagen, die rund 22 Milliarden Euro kosten. Wir erleben bei jeder Haushaltsberatung in diesem Haus, dass die Union mit Vorschlägen glänzt, wofür man noch mehr Geld ausgeben kann. Summa summarum sind es nicht 100 Milliarden Euro; es ist weitaus mehr, womit die Vorschläge der Union die öffentlichen Haushalte belastet würden. Sie haben auch inhaltliche Differenzen; Herr Merz hat darauf hingewiesen. Es ist nicht so, dass die rot-grüne Regierungskoalition erfunden hätte, dass es Schwierigkeiten in Ihren Reihen gibt. ({4}) Sie sagen selbst, dass Sie Riesenschwierigkeiten haben. Herr Merz sagt wörtlich: Was mir bei der CSU und bei Stoiber auffällt, ist, dass sie in Bayern den Prozess der Reformen unglaublich beschleunigen und in der Bundespolitik eher auf der Bremse stehen. ({5}) Ich verstehe die CSU in diesem Punkt nicht. Vielleicht hat man das Gefühl, man müsse in der Opposition ein bisschen gefälliger sein. Diese Zeiten sind aber vorbei. ({6}) Da kann ich ihm nur beipflichten. Denn das, was Sie machen, ist eine Täuschung der Öffentlichkeit. ({7}) Jeder, der sich die Mühe macht, nicht nur die Überschriften der Zeitungen zu lesen, sondern auch das Kleingedruckte zu verfolgen, stellt doch fest, dass die Union bei keinem einzigen Projekt, das die Zukunft dieses Landes prägen soll, eine einheitliche Auffassung hat, und dass die Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, was auf sie zukommt. Das ist doch der Punkt. ({8}) Es ist schon überraschend, wenn Herr Merz sagt, dass die CDU ihre Parteitagsbeschlüsse habe und diese der Maßstab seien. Er rät ganz dringend, keinen Millimeter hinter diese Beschlüsse zurückzuweichen. Er gibt an, dass er immer gesagt habe: Wenn man meint, dass man am Ende eines solchen Reformprozesses, wie auch immer er ausschaut - das wissen wir noch nicht -, Geld braucht, dann muss man über die indirekten Steuern reden, zu denen auch die Mehrwertsteuer gehört - er spricht auch von Mehrwertsteuer und nicht von Umsatzsteuer, verehrte Herren; Sie haben das vorhin bei der Kollegin der SPD moniert -, auch wenn sich einige Leute darüber aufregen. Wenn Herr Merz und andere Vertreter der Union der Auffassung sind, dass die CDU und die CSU ein echtes Strukturproblem haben - besonders hinsichtlich der ungelösten Machtfrage an der Spitze -, dann kann ich ihnen nur empfehlen, den Mut aufzubringen, mit ihren Konzepten in Bayern anzutreten. Das aber tun Sie nicht. ({9}) Ich wünsche mir etwas mehr Ehrlichkeit in der Debatte, statt so zu tun, als kosteten Ihre Vorschläge kein Geld. Tatsächlich bedeuten sie eine enorme Belastung der Bürger und Bürgerinnen. Letztendlich haben Sie den Weg zu einer wesentlich höheren Mehrwertsteuer eingeschlagen. Die Lösung kann aber nicht darin bestehen, Reformkonzepte vorzulegen, die mit Steuererhöhungen finanziert werden sollen. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDPFraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorbereitung auf diese Debatte sind mir spontan einige Gedanken in den Sinn gekommen. Wenn man das Thema einer Aktuellen Stunde erfährt, dann fragt man sich zunächst, ob sie sachlich begründet ist oder ob sie einen politisch-taktischen Hintergrund hat. ({0}) Was die heutige Aktuelle Stunde angeht, erscheint mir Ihre Absicht ziemlich durchsichtig. Ich glaube, Sie verfolgen damit vor allem den Zweck, die von der FDP beantragte Stunde zur Haltung der Bundesregierung zur allgemeinen Wehrpflicht und zu Plänen für ein soziales Pflichtjahr auf morgen Nachmittag an den Rand der Tagesordnung zu verdrängen. ({1}) Dafür gibt es gute Gründe. Die Grünen, die nicht müde werden, öffentlich die Abschaffung der Wehrpflicht zu fordern, müssen eingestehen, dass sie in dieser Frage zahnlose Tiger sind. Bei der SPD würden die offenen Konfliktlinien hinsichtlich des sozialen Pflichtjahres deutlich, die zwischen Struck, Schily und Zypries auf der einen Seite und Renate Schmidt und Teilen der Fraktion auf der anderen Seite bestehen. Sie haben insofern eine berechtigte Scheu davor, dass die Aktuelle Stunde zu diesem Thema an prominenter Stelle auf der Tagesordnung erscheint. Deswegen glaube ich, dass die heutige Aktuelle Stunde vor allen Dingen taktisch begründet ist. ({2}) Aber auch wenn man Ihr Motiv kennt, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, so staunt man und fragt sich, ob Ihnen nichts Besseres eingefallen ist als dieses mühsam konstruierte Thema. Gibt es keine anderen aktuellen Probleme, über die wir gemeinsam diskutieren müssten? ({3}) Ich schlage Ihnen einige Themen für eine Aktuelle Stunde vor: Was macht die Koalition falsch, dass sich die rot-grünen Wachstumsprognosen nie erfüllen? Das ist ein interessantes Thema. ({4}) Was macht sie falsch, dass im vierten Jahr in Folge die Maastricht-Kriterien verfehlt werden? ({5}) Diese interessanten Themen wollen Sie nicht erörtern. ({6}) - Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist Ihnen leider nicht gegeben, Frau Kollegin Lehn. - Stattdessen soll über die Reformen und die damit verbundenen Kosten diskutiert werden. Bevor wir über die möglichen Kosten reden, die mit der Durchführung von Reformvorschlägen der Opposition verbunden wären, ist zu diskutieren, welche Kosten sich bereits daraus ergeben haben bzw. noch ergeben werden, dass die Reformen durch die rot-grüne Koalition nicht oder nur halbherzig durchgeführt werden. ({7}) Lassen Sie uns die Wachstumsraten in den Jahren 2001 bis 2003 betrachten. Sie hatten ein Wachstum von 2,75 Prozent in 2001, von 2,25 Prozent in 2002 und 2 Prozent in 2003 prognostiziert. ({8}) Das tatsächliche Wachstum betrug 0,6 Prozent, 0,2 Prozent und minus 0,1 Prozent. Da ein Wachstum von 1 Prozent ein Mehr von rund 5 Milliarden Euro an Steuereinnahmen und 1,5 Milliarden Euro an Sozialabgaben bedeutet, läuft dies auf ein Minus von 31,5 Milliarden Euro in den Steuer- und Sozialkassen innerhalb von nur drei Jahren hinaus. Dass diese Rechnung stimmt, wird auch an dem Rekorddefizit von fast 40 Milliarden Euro deutlich, das Sie dieses Jahr im Haushalt erzielen werden, obwohl Sie doch mittlerweile längst den Weg zur Haushaltskonsolidierung bzw. zu einem ausgeglichenen Haushalt einschlagen wollten. ({9}) Das sind die Istkosten Ihrer Politik, in denen Ihr tatsächliches Versagen zum Ausdruck kommt. Das müssen Sie sich vorhalten lassen. ({10}) Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich die Situation in 2004 leider nicht verbessern wird. ({11}) Nun zu Herrn Seehofer: Er beziffert die Kosten auf 100 Milliarden Euro. Ich unterstelle einmal, dass dieser Angabe eine richtige Schätzung der Zahlen zugrunde liegt. Es sind in jedem Fall Bruttozahlen, denen Eigenfinanzierungseffekte aus induziertem Wachstum gegenüberstehen könnten. ({12}) - Ihre Skepsis ist durchaus berechtigt. Es kommt allerdings sehr darauf an, wie man dabei vorgeht. Es steht leider zu befürchten, dass die von der CDU vorgeschlagene halbherzige Steuerreform mit einer Nettoentlastung von 10 Milliarden Euro ähnlich verpuffen wird wie die Stufen der rot-grünen Steuerreform. Wir meinen dagegen, dass eine umfassende Steuerreform, die durch einen konsequenten Abbau von Subventionen gegenfinanziert wird, echte Wachstumseffekte zeitigen wird. Die FDP hat als einzige Fraktion einen Vorschlag für eine solche Steuerreform in den Deutschen Bundestag eingebracht. Noch ein paar Anmerkungen zum Thema Gesundheitssystem - das ist mit 45 Milliarden Euro der größte Brocken -: Ich glaube, jedem ist mittlerweile klar, dass ein Kurieren an den Symptomen nicht mehr ausreicht. Im Zusammenhang mit dem GMG ist das ganz offensichtlich geworden. Ich bin überzeugt, dass das Unionskonzept einer Kopfprämie ebenso in die Irre führt wie der rot-grüne Vorschlag einer Bürgerversicherung. Eine Bürgerversicherung ist eine „Zwangs-AOK“, die frisches Geld in ein marodes System bringen soll. Bei der Kopfprämie ({13}) handelt es sich immerhin um einen Ansatz, der geeignet ist, die fatale Wirkung der Lohnkostenbindung bei der Finanzierung der sozialen Sicherung aufzuheben, allerDr. Heinrich L. Kolb dings um den Preis einer Einheitsversorgung mit hohem Transferbedarf für den sozialen Ausgleich. Auch die Demographiefestigkeit ist hier nur unzureichend gegeben. Zudem werden der Wettbewerb und die Wahlmöglichkeiten eingeschränkt. Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten sind aber zentrale Gestaltungselemente eines zukunftsfähigen Gesundheitswesens. Deswegen schlagen wir, die FDP, für das Gesundheitswesen eine Pflicht zur Versicherung der Basisversorgung mit der Möglichkeit vor, den darüber hinausgehenden Versicherungsschutz frei nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten. Der Versicherte soll seinen Versicherer, den Umfang des Versicherungsschutzes und die Leistungserbringer frei wählen können. Das führt zu mehr Wettbewerb auf allen Ebenen und zu einer Verbesserung der Effizienz, steigert die Versorgungsqualität und reduziert den Zuschussbedarf deutlich. ({14}) Ich bin leider am Ende meiner Redezeit. Nur noch so viel: Die Kollegin Lehn hat gesagt, es reiche nicht aus, neu zu denken. Noch weniger reicht allerdings aus, nicht neu zu denken. Das ist das, was wir Ihnen vorwerfen müssen. ({15}) Ich fordere Sie auf: Treten wir in einen Wettbewerb der Konzepte ein! Die FDP hat zu allen Zweigen der sozialen Sicherung gute Vorschläge gemacht, über die es sich nachzudenken lohnt. Vielen Dank. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Klaus Kirschner, SPDFraktion.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuerst ist dem Kollegen Horst Seehofer zu danken, dass er den - hoffentlich von Erfolg gekrönten - Versuch unternimmt, seinen Fraktionskolleginnen und -kollegen der CDU das Einmaleins der Grundrechenarten - ein mal eins ist eins und nicht zwei - beizubringen. Lieber Herr Kollege Kolb, Luftbuchungen sind nun einmal nicht unwichtig, wie Sie glauben. Das, was der Kollege Seehofer zu Recht angeprangert hat, sind nämlich Luftbuchungen. Herr Seehofer kommt zu dem Ergebnis, dass sich aus den CDU-Vorschlägen für einen Kopfprämienausgleich im Gesundheitswesen - darauf ist schon hingewiesen worden -, eine Verbesserung der Kindererziehungszeiten und der Mindestrente, eine Kindergelderhöhung sowie eine Steuerreform ein nicht gedeckter Scheck in Höhe von mehr als 102 Milliarden Euro pro Jahr ergibt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Sie versprechen den Bürgerinnen und Bürgern das Blaue vom Himmel, als ob von dort die Milliarden nur so herunterregneten. Dass so viele Nullen auf keinen Bierdeckel passen, erschwert offensichtlich der CDU und insbesondere dem Kollegen Merz die Berechnung und den Durchblick. Besonders augenfällig werden Ihre Luftbuchungen bei der vom CDU-Parteitag in Leipzig beschlossenen Kopfpauschale für die gesetzlich Krankenversicherten. Unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Einzelnen - an diesem Beispiel wird das deutlich - sollen alle gesetzlich Krankenversicherten gleich hohe Kopfprämien zahlen. Nach Ihrer Ideologie wollen Sie, dass die Putzfrau im Krankenhaus genauso viel wie der Chefarzt an Kopfprämie zahlt. ({0}) - Sie haben vielleicht insoweit Recht, dass der Chefarzt gar kein Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Dann hat er sich natürlich außerhalb des gesetzlichen Krankenversicherungssystems gestellt. Im Prinzip bedeutet das, was Sie wollen, dass Geringverdienende und Familien mit Kindern stärker belastet und dass Besserverdienende entlastet werden. Dies ist Umverteilung von unten nach oben, nichts anderes. Das wird auch dadurch nicht besser, dass der Erfinder dieser Ideologie, der ehemalige Bundespräsident und frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Herzog, der im Übrigen vermutlich als Beihilfeberechtigter und Privatversicherter ein besonders schillerndes Beispiel dafür ist ({1}) - das muss auch einmal gesagt werden -, dass diejenigen, die anderen ständig Wasser predigen, selbst Wein trinken, ({2}) für den Ausgleich 41 Milliarden Euro aus Steuermitteln mobilisieren will. Gleichzeitig versprechen Sie den Bürgerinnen und Bürgern Steuersenkungen. Sie werden schon dadurch wortbrüchig, dass Sie den bisherigen Arbeitgeberbeitrag dem Lohn zuschlagen und damit die Steuer erhöhen. Über den weiteren Steuerbedarf, den Sie zur Finanzierung Ihrer unsozialen Umverteilung benötigen, schweigen Sie sich geflissentlich aus. Ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes die Finanzierung des Gesundheitswesens in die jährlichen Auseinandersetzungen um die Verteilung des Bundeshaushalts hineinziehen? Das Gesundheitswesen steht dann in Haushaltskonkurrenz beispielsweise zu Bildung, Forschung, Straßenbau oder Bundeswehr. Man braucht keine prophetische Gabe, um vorauszusagen, dass die Finanzierung der notwendigen Gesundheitsausgaben von Jahr zu Jahr unsicherer werden wird. Auch deshalb ist Horst Seehofer voll zuzustimmen, der in einem Beitrag für die Zeitschrift „die Ersatzkasse“ - sie alle können das nachlesen - das Kopfprämienmodell als gesundheitspolitischen Irrweg bezeichnet hat. Er kommt dort zu dem Fazit: Es ist absurd, die Probleme des demographischen Wandels dadurch lösen zu wollen, dass gerade die Familien durch die Umstellung des Finanzierungsmodells der GKV besonders belastet werden. Dieser falsche Ansatz stünde einer adäquaten Lösung diametral entgegen. ({3}) - Lieber Herr Kollege, das sagt der Kollege Seehofer. Wo er Recht hat, hat er Recht. Sie haben eben Unrecht, weil Sie von den Dingen keine Ahnung haben. ({4}) Man muss bedenken, dass insbesondere Familien und Geringverdienende durch den Steuerausgleich zu Bittstellern staatlicher Almosen werden, deren Höhe von der jeweiligen Haushaltslage abhängig ist. Sie halten es offenbar für eine moderne Gesundheitspolitik, dass ein Drittel der Menschen zu Bittstellern des Staates wird. Das ist Ihre Art der Modernisierung. ({5}) Im Übrigen sollten Sie sich an der Schweiz ein Beispiel nehmen. Da können Sie sich einmal anschauen, wie modern eine Gesundheitspolitik ist, die ein Drittel der Bevölkerung zu Bittstellern des Staates macht! Die Lösung komplexer Probleme passt nun einmal nicht auf einen Bierdeckel. Alle Vorschläge Ihrerseits zeigen eines: Sie haben von der alten Machterhaltungspartei kohlscher Prägung hin zu einer an Problemlösungen orientierten Inhaltspartei noch einen weiten Weg zurückzulegen. ({6}) Ich rate Ihnen eines - das gilt auch für Sie, Herr Kauder -: Hören Sie auf den Kollegen Horst Seehofer! ({7}) Stampfen Sie Ihr Kopfprämienmodell ein, auch wenn es durch das dann wirksam werdende EU-Wettbewerbsrecht einen einzigen interessanten Aspekt besitzt, nämlich die Abschaffung der Monopole und Anbieterkartelle Kassenärztlicher bzw. Kassenzahnärztlicher Vereinigungen und der bisherigen Krankenhausbedarfsplanung! Trotzdem: Die Kopfprämie ist - um es mit Horst Seehofers Worten zu sagen - ein gesundheitspolitischer Irrweg, da sie das Solidarprinzip umkehrt. Sie können aber an diesem Modell festhalten und damit unsere Wahlchancen weiter erhöhen. ({8}) - Ja, sicher. - Ich rate Ihnen eines: Sie sollten einmal auf Ihren früheren Generalsekretär Heiner Geißler hören. Er sagte zu Ihrem Kopfprämienmodell Folgendes, und zwar an Sie selbst gerichtet: „Wer so stiehlt, den wählt man nicht.“ ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie weit muss man eigentlich auf den Hund gekommen sein, dass man sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als eine Aktuelle Stunde so zu verdrehen? Ihnen geht es nicht um die Themen, die diesem Land wirklich am Herzen liegen. Herr Kollege Kolb hat bereits auf die Winkelzüge der Geschäftsordnung hingewiesen. Allein das lässt tief blicken. ({0}) Liebe Frau Kollegin Scheel, es ist schon ein besonderes Beispiel von Chuzpe oder Scheinheiligkeit, dass Sie hier „So eine Gemeinheit; wir müssen uns dringend über die CDU/CSU unterhalten“ gesagt haben, während gleichzeitig in großen Lettern „Meuterei gegen Ausbildungsabgabe“ zu lesen ist. In dem entsprechenden Artikel ist davon die Rede, dass Rot-Grün tief zerstritten ist und dass bis zu 20 Abgeordnete der Grünen die SPD-Pläne ablehnen. Erklären Sie uns doch einmal hier, im Parlament, was bei Ihnen los ist! ({1}) Eine große westdeutsche Tageszeitung hat es auf den Punkt gebracht: Dem Bundesfinanzminister fliegt wieder einmal der Haushalt um die Ohren. Der Aufschwung findet zwar statt, leider aber anderswo. Deutschland verliert immer mehr Arbeitsplätze und die Stimmung im Volk ist mies wie nie. Der „Spiegel“ spricht vom „Alles-paletti-Kanzler“ und andere Zeitungen bezeichnen den Bundeskanzler Schröder mittlerweile als „Schönwetteronkel“. Vom großen Reformator ist nichts mehr übrig geblieben und seine Mehrheit, die Koalitionsfraktionen, setzt hier eine Aktuelle Stunde an, um sich über die Probleme und die inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen CDU und CSU zu unterhalten. ({2}) Mitleiderregend ist das Bild, das Sie abgeben! ({3}) Ich habe noch ein anderes Beispiel. Es gibt das schöne Bild: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst. - Das sollten Sie nicht vergessen. Das ist genau Ihr Problem. ({4}) Ich kann Ihnen auch sagen, warum wir uns über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme unterhalten: weil es natürlich eine der spannendsten Angelegenheiten des Standorts Deutschlands ist, sich einmal mit dem Paradoxon, mit dem Dilemma des deutschen Gesundheitssystems auseinander zu setzen. Eigentlich würde die demographische Entwicklung zu einer steigenden Nachfrage nach Gesundheitsgütern führen. Es handelt sich dabei eigentlich um einen Wachstumssektor in Deutschland. Wir waren einmal die Apotheke der Welt. Wir haben einmal Industrieunternehmen gehabt, die medizinischen Fortschritt entwickelt und geprägt haben. Unter Ihrer Regierung sind wir dazu gekommen, dass wir nur noch kopieren. ({5}) Wir haben keine Möglichkeiten mehr. Ihr einziges Problem ist, dass Sie mit den aktuellen Mitteln der Gesundheitspolitik nur noch Kostendämpfung betreiben. Sie machen genau das Gegenteil von Wachstumsanschub. ({6}) Sie versuchen alles, um die Kostensteigerungen irgendwie aufzuhalten bzw. die Kosten zu senken. Dann kommen Sie auch noch mit einem Ladenhüter. Der Begriff der Kopfpauschale kommt doch nicht von der CDU oder der CSU. Es ist Ihr Berater, der Regierungsberater Rürup, der in Ihrem Auftrag diese Dinge entwickelt. ({7}) Im Gegensatz dazu sagen Sie dann: Die Bürgerversicherung löst das Problem. - Sie haben bis heute nicht verstanden, dass durch neue Beitragszahler, die Sie durch die Bürgerversicherung bekommen würden, sofort entsprechende Ansprüche induziert würden. Wenn wir uns die Krankenkassen anschauen, dann stellen wir fest: Es gibt Schwierigkeiten; es müssen Verwaltungsreformen durchgeführt werden. - Sie haben bis heute niemandem erklären können, wieso Ihr Konzept dagegen lautet: Wir machen eine Einheitskasse. ({8}) Sie haben bis heute noch nicht eingestanden, dass mit der Bürgerversicherung die Schwankungen, die wir momentan im System der gesetzlichen Krankenversicherung haben und mit denen wir uns herumschlagen müssen, letztlich institutionalisiert würden. Ich sage klipp und klar: Der Weg, den Sie gehen wollen, führt zwar zu mehr Mitteln - das ist unbestritten -, aber die wesentlichen Strukturprobleme, die wir im Bereich des Gesundheitswesens haben, werden nicht gelöst. ({9}) Da vergeben Sie sich eine Chance für die Zukunft. ({10}) Im Gegensatz zu Rot-Grün sind wir von der CDU/ CSU uns sehr wohl darüber im Klaren, welche Probleme es im Lande gibt. Sie waren im Übrigen noch nie so groß wie nach fünf Jahren schröderscher Willkürpolitik. ({11}) Weil wir wissen, dass die Probleme nur in verantwortlicher Teamarbeit gelöst werden können, werden wir das genauso machen. Wir vergeuden unsere Zeit auch nicht mit überflüssigen Debatten zu den innerparteilichen Diskussionen der anderen Seite. Wir werden uns allein schon deshalb einigen und ein konkretes Konzept vorlegen, weil uns eines klar ist: Ihre Zeit ist abgelaufen zum Glück für Deutschland. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/ Die Grünen.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe gar nicht, warum Sie am Thema der Aktuellen Stunde herumkritteln. Es ist gut gewählt oder mindestens wichtig. ({0}) Es geht in der Demokratie doch darum, die alternativen Konzepte öffentlich zu vertreten. Wenn wir jetzt einmal Ihre Konzepte unter die Lupe nehmen, dann ist das, wie ich finde, kein Grund zu sagen: Fällt Ihnen nichts Besseres ein? - Wir sollten über die Alternativen reden. ({1}) Das machen wir heute zum Teil. Da braucht sich niemand aufzuregen. Das gehört dazu. Das ist gegenüber der Öffentlichkeit nur richtig. Lassen Sie uns also einmal über einige Sachen reden, auch wenn das in der Aktuellen Stunde nur begrenzt möglich ist. - Die Frage aufzuwerfen, wie finanzierbar die Reformkonzepte sind, ist notwendig. Sie, Herr Dr. Kolb, haben auf Maastricht hingewiesen. Da muss man doch auch schauen, ob Reformkonzepte Finanzlücken reißen oder inwieweit sie eine Dynamik entfachen, die dafür sorgt, dass sie sich selbst finanzieren. Auch darüber können wir streiten. Es ist aber schon interessant, zu sehen, dass das Steuerreformkonzept der Union in einem ersten Schritt eine Nettoentlastung von 10 Milliarden und dann bis zu 30 bis 40 Milliarden verspricht und parallel dazu in einem Vorschlag zur Gesundheitsreform der soziale Ausgleich durch Steuern finanziert werden soll. Sie müssen doch verstehen, dass sich die Leute Sorgen machen. Wenn Sie nämlich auf der Steuerseite ein solches Loch reißen, kann ja für den sozialen Ausgleich nicht mehr viel übrig bleiben. Das hat Herr Seehofer angesprochen. Danach hat er gefragt. Sie haben aber keine Antwort darauf geliefert. Das ist ein Problem. ({2}) Sie sollten nicht so polemisch darüber hinweggehen, sondern sich bewusst machen, dass es sich hierbei um eine wahlentscheidende Auseinandersetzung handelt. ({3}) Sie müssen nämlich sagen, ob Sie einen sozialen Ausgleich auch finanzieren können. Sie können ja nicht auf der einen Seite etwas abstrakt durch Steuern finanzieren wollen, auf der anderen Seite aber über steuerliche Nettoentlastungen in einem hohen zweistelligen Bereich reden. Ich fordere Sie auf, erst einmal ehrlich und handlungsleitend über eine Vereinfachung des Steuersystems und mehr Transparenz zu reden. Das werden wir jedenfalls tun. Wenn wir uns in diesen Punkten einig sind, können wir darüber sprechen, ob es überhaupt Raum für Nettoentlastungen gibt. Wir müssen zunächst beim Subventionsabbau vorankommen. Wir sind da bescheidener und versprechen nicht so viel Nettoentlastung. Ich finde, dass Ihre Aussagen insbesondere mit Blick auf Ihre Gesundheitsreform sehr widersprüchlich sind. Lassen Sie uns des Weiteren noch einen Punkt in Ihrem Konzept zur Gesundheitsreform näher betrachten. Es ist hier gerade zu Recht gesagt worden, dass das System der pauschalen Kopfprämien keine Erfindung der Herzog-Kommission ist, sondern - das ist richtig - von Herrn Rürup als Alternative zum Lauterbach-Modell vorgeschlagen worden ist. Der Hauptkritikpunkt, der mich umtreibt, ist die Absicherung und die Art und Weise des sozialen Ausgleichs; ich hatte ja eben schon auf die Finanzierungslücke hingewiesen. Darüber hinaus stellt ein weiterer Punkt erst recht eine Schwäche in Ihrem Konzept dar. Hier ist gerade von Herrn Fahrenschon die Mär erzählt worden, Rot-Grün strebe eine Einheitskasse an. Das ist kompletter Unsinn. ({4}) Wir wollen definieren, was gesetzlich krankenzuversichern ist. Darum geht es uns. Wir wollen aber dann einen Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten Krankenkassen. Sie dagegen beziehen 10 Prozent der Bevölkerung nicht in die Solidargemeinschaft ein, indem Sie sie im privaten System belassen und lassen die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung den Solidarausgleich bezahlen. Die Überwindung dieser ungerechten Trennung von privat und gesetzlich versichert haben Sie in Ihrem Herzog-Reformmodell noch nicht vollzogen. Auch in dieser Frage wird es zu einer wahlentscheidenden Auseinandersetzung zwischen uns kommen. Sie verhalten sich an dieser Stelle wettbewerbsfeindlich, indem Sie eine ganz bestimmte Klientel schonen. ({5}) Zum Abschluss möchte ich Folgendes sagen: Der Kollege Krings hat hier ja sehr vollmundig davon gesprochen - ich habe dabei alle Diskussionen des heutigen Tages im Auge -, was alles nötig ist, um die Zukunft unseres Landes zu meistern. Stichworte waren: Generationengerechtigkeit, Vermeidung von Vollkaskomentalität. Der Kollege Merz ruft hier - das ist wohl nicht zu kritisieren - dazu auf, mehr Mut zu haben und der Bevölkerung auch ehrlich zu sagen, was die Reformen kosten und welche Zumutungen mit ihnen verbunden sind. In Bezug auf diesen Punkt haben Sie - das muss ich einmal ganz deutlich sagen - heute Morgen bei den Diskussionen in diesem Hause komplett versagt. ({6}) Der Herr Storm, der wirklich ein guter Rentenexperte ist, hat nämlich als Begründung der ablehnenden Haltung gegenüber unserem Konzept in seinem Redebeitrag geschimpft, dass wir die Rentner belasten. Ja, wie verhält es sich denn jetzt mit dem Mut zur Offenheit? Wie wollen Sie denn die nachgelagerte Besteuerung als faires und generationengerechtes Projekt, bei dem die heute Aktiven entlastet werden sollen, damit sie Vorsorge betreiben können, seriös darstellen? Sie schlagen sich jetzt schon in die Büsche, um 2005, wenn die Steuerbescheide kommen, dann wohl sagen zu können, Sie hätten nichts damit zu tun, dass jetzt die Rentner - im Übrigen die, denen es besser geht - auch steuerlich ihren Beitrag leisten müssen. Sie haben offensichtlich nicht den Mut, der Bevölkerung zu sagen, dass sie an gewissen Stellen auch belastet wird. Da haben Sie heute Morgen komplett versagt. Lieber Herr Krings, kämpfen Sie einmal in Ihren eigenen Reihen für diesen Mut. Dann können Sie sich wieder hier vorne hinstellen; sonst lassen Sie das bitte bleiben. Danke. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans-Ulrich Krüger, SPDFraktion.

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach Art. 20 unseres Grundgesetzes ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Ungeachtet aller parteipolitischen Unterschiede haben viele maßgebliche Kräfte aus diesem Hause hieraus das Gebot einer sozialen Politik abgeleitet und den modernen Sozialstaat überhaupt erst ermöglicht. Von diesem Gebot des Grundgesetzes haben sich offenbar Teile der CDU in verantwortungsloser ({0}) und gleichzeitig uns alle beschämender Art und Weise verabschiedet. ({1}) Laut Friedrich Merz - immerhin dem Finanzexperten der Bundestagsfraktion der CDU/CSU - ist nämlich Umverteilung nichts anderes als der Versuch, Leistung ohne Gegenleistung zu bekommen, und bekommt derjenige am meisten Zustimmung, der am lautstärksten nach Umverteilung ruft und Faulheit belohnen will. Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der CDU, wie Sie mit dieser Arroganz, mit dieser Verachtung für sozial benachteiligte Menschen fertig werden können. Sind Sie etwa alle so abgehoben, dass Sie nicht mehr wissen, wie sich eine Sozialrentnerin fühlt, die Wohngeld beantragen muss, um ihre Miete bezahlen zu können, wie sich die allein erziehende Mutter fühlt, wenn eines ihrer Kinder auf Klassenfahrt gehen will und dafür das Geld nicht reicht? Die Aussagen des Herrn Merz beschimpfen Menschen, die zum größten Teil unschuldig in soziale Not geraten sind und die eben nicht die Chance gehabt haben, am Wohlstand zu partizipieren. ({2}) Diesen Menschen zu helfen ist für uns Sozialdemokraten Ausdruck unseres Sozialstaatsverständnisses und keine Belohnung von Faulheit. ({3}) Wenn Sie dies nicht so sehen, wenn Sie diese Grundfesten des Sozialstaates infrage stellen wollen, dann sagen Sie es, aber bitte nicht nur uns, sondern auch den Menschen draußen im Lande. Unser Steuersystem ist nach dem Motto „Starke Schultern tragen mehr als schwache“ aufgebaut. Das ist auch gut und richtig so. Es ist Ausdruck sozialer Gerechtigkeit. ({4}) Wenn daher ein progressiver Einkommensteuertarif dafür sorgt, dass der Stärkere deutlich mehr zahlt als der Schwache, und zwar über 36 Prozent hinaus, so ist das gerecht, sowohl bei der Steuer als auch beim Krankenversicherungsbeitrag gemäß Einkommen und nicht etwa gemäß einer Kopfpauschale, bei der Geringverdiener und gut Verdienende gleich viel zu zahlen haben. Wenn es eine Ungerechtigkeit in diesem Zusammenhang überhaupt gab, dann die, dass Einkommensmillionäre ihre Steuerschuld in der Vergangenheit in unverantwortlicher Art und Weise auf null reduzieren konnten. ({5}) Dies haben wir abgestellt. Gerechtigkeit bedeutet aber auch, den Menschen kein X für ein U vorzumachen und sie ehrlich darüber aufzuklären, was man will. Um es mit den Worten des schon mehrfach erwähnten Horst Seehofer zu sagen: Es reicht nicht aus, neu zu denken, man muss auch sagen, ob das Neue finanzierbar ist. Man muss daher auch darstellen: Woher kommen die 40 Milliarden Euro für die Kopfpauschale im Gesundheitswesen? Woher kommen die 22 Milliarden Euro für die veränderten Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung? Woher kommen die heute schon mehrfach angesprochenen 10 Milliarden Euro für die Steuerreform? Woher kommen die 12 Milliarden Euro für die geplante Mindestrente? Woher kommen die 18,6 Milliarden Euro für die Kindergelderhöhung? Wer hier derart leichtfertig mit mehr als 100 Milliarden Euro umgeht und gleichzeitig sagt - wie von der FDP soeben ausgeführt -, die Debatte betreffe Peanuts, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt; er handelt zynisch und kaltschnäuzig. ({6}) Wir jedenfalls, die SPD, und offenbar auch die CSU haben bislang noch nicht gehört, woher die CDU diese mehr als 100 Milliarden Euro konkret nehmen will. Daher nennen wir das, was hier veranstaltet wird, unseriös und unsozial. Hören Sie bitte durchaus auf Ihren Kollegen Seehofer, der dies bemerkt und angeprangert hat. Mit sozialer Gerechtigkeit hat es nämlich überhaupt nichts zu tun, wenn steuerpolitische Wolkenkuckucksheime, wie wir das heute Morgen gehört haben, in die Welt gesetzt werden, ohne dass man sagen kann, welcher Bürger, welche Bürgerin die Zeche hierfür bezahlen muss. Wer den Menschen weismachen will, ein einfaches Steuerrecht sei gleichzeitig ein gerechtes, der muss sich auch über die Konsequenzen im Klaren sein, nämlich darüber, dass die Abschaffung steuerpolitischer Notwendigkeiten der vergangenen Jahre nur dazu führen würde, dass der Starke entlastet und der Schwache belastet wird. Mit der SPD wird es daher keine Diskussion über eine weitere Absenkung des Spitzensteuersatzes und keine Diskussion über eine Schwächung des Staates geben. Wer glaubt, hier noch Spielraum zu haben, der irrt und der muss klar und deutlich sagen, dass er einen schwachen Staat haben will, bei dem sich nur Reiche, privat Versicherte und Vermögende die notwendigen Leistungen bei Krankheit oder im Alter einkaufen können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Einerseits unfinanzierbare Vorschläge zu unterbreiten und andererseits von einer Neiddebatte zu reden, das passt nicht nur nicht zusammen, das ist auch zynisch und hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Kehren Sie, meine Damen und Herren von der CDU, daher zurück zu der Erkenntnis, dass es das Gebot sozialer Gerechtigkeit ist, das diese Republik zusammenhält. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht, SPDFraktion.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Kolb, Sie haben vorhin gesagt, Sie erwarten von uns, dass wir nachdenken. Es stimmt: Wir werden für das Nachdenken und nicht bloß für die Anwesenheit bezahlt. Ich hoffe daher, dass sich alle - sowohl auf der Koalitionsseite als auch auf der Oppositionsseite - Gedanken machen. Es ist eine grundsätzliche Aufgabe der Politik - also auch der Opposition -, Konzepte für die Gestaltung dieses Landes zu entwickeln. ({0}) Es ist völlig legitim, dass man bei der Entwicklung von Konzepten seiner Fantasie freien Lauf lässt und sich nicht von vornherein nur auf das Machbare beschränkt. Man kann sich völlig neue Welten denken. Auch das ist legitim. Aber man muss in der Politik unterscheiden zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was in die Realität umgesetzt werden kann. Ich wünsche mir manchmal auch das Traumhaus am Meer und gleichzeitig im Gebirge, ein Haus mit Autobahnanschluss, aber doch völlig ruhig gelegen. Diese Fantasien hat jeder. Aber er behält sie für sich und äußert sie nicht. Sie müssten uns eigentlich dankbar sein, dass wir Ihnen heute eine solche Steilvorlage geben, Ihre Konzepte darzustellen. Das ist doch nichts Negatives. Wenn Sie von Ihrer Konzeption überzeugt sind, dann müssten Sie es doch eigentlich begrüßen, dass Ihnen die Regierungskoalition die Möglichkeit gibt, Ihre Konzepte darzustellen. ({1}) Da Ihre Fantasien nichts mit der Realität zu tun haben, betreiben Sie eine schlechte Politik. Sie widersprechen sich gegenseitig. Sie sagen an einem Tag A und am anderen Tag B. Sie haben keine Konzeption für die Familienpolitik und auch keine Konzeption für die Sozialund Gesellschaftspolitik. Als Familienpolitikerin muss ich Ihnen sagen, dass Sie noch dem 19. Jahrhundert verhaftet sind, obwohl wir bereits im 21. Jahrhundert angekommen sind. Sie sollten die Lebenswirklichkeit von Familien nicht ignorieren. Es gibt unterschiedliche Lebensformen. Wenn ich mir Ihre Konzeption anschaue, dann muss ich feststellen, dass bei Ihnen nur ein Familienmodell im Mittelpunkt steht. Alle anderen Formen des Zusammenlebens sind für Sie nicht existent. Sie vertreten ein rückwärts gewandtes Familienbild. ({2}) - Vielleicht sollten Sie sich Ihre Beschlüsse, die Sie verabschiedet haben, einmal genau anschauen. Dann können wir miteinander darüber reden. ({3}) Ihr Familienbild ist geprägt von einem erwerbstätigen Vater und einer nicht berufstätigen Mutter - sie übt höchstens einen Minijob aus -, die Kinder betreut. Ich schätze diese Form des Familienlebens und jedem muss es freistehen, so zu leben. Aber das ist nur eine Form des Zusammenlebens. Man kann ein Lebensmodell nicht zum Maßstab für alle Menschen machen. Jeder von Ihnen müsste sich einmal fragen, ob die Menschen tatsächlich so leben, wie Sie es sich vorstellen. Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt, die Familie in das Zentrum Ihrer Politik zu stellen und zu fördern. Sie hätten eine Chance gehabt; stattdessen haben Sie Luftbuchungen gemacht. Wir haben, nachdem wir 1998 die Regierung übernommen haben, die Familie als Aufgabe der Politik begriffen und gesagt: Familien müssen finanziell entlastet werden. Damit stand in der ersten Periode unserer Regierungszeit die finanzielle Entlastung der Familie im Mittelpunkt. Ich nenne nur am Rande die Erhöhung des Kindergeldes, das BAföG usw. Seit 2002 sind wir dabei, strukturelle Verbesserungen für Familien zu schaffen. Wir sind mit 4 Milliarden Euro in die Ganztagsbetreuung von Schulkindern eingestiegen. Sie haben Jahrzehnte gewartet und nichts gemacht. Marlene Rupprecht ({4}) Wir werden weiter die Betreuung der unter Dreijährigen fördern, damit Kinder unter drei Jahren Chancen bekommen, mit anderen Kindern zusammen zu sein und sich zu entwickeln. Das heißt, in den Bereichen Erziehung, Bildung und Betreuung haben wir ein Zukunftsprogramm auf den Weg gebracht. Man sollte sich einmal anschauen, was Sie dort tun, wo Sie es könnten. Ich komme aus Bayern. Welchen Kahlschlag gab es dort seit der Landtagswahl! ({5}) Dazu muss ich Ihnen sagen: Die Schulpolitik wurde ohne Konzeption heruntergefahren. In der Jugendpolitik hat man die Förderung der Jugendverbände so reduziert, dass das nur noch ein Sterbegeld für ein langsames Sterben ist, aber nicht zum Überleben reicht. Wenn ich die Konzeptionen für Veränderungen in der Bürokratie anschaue, ({6}) dann kann ich dazu nur sagen: gnadenloses Vorgehen; unsozial bis zum Gehtnichtmehr. Es ist wie ein Feigenblatt, wenn gesagt wird: Wir sind mit den Reformen, die die CDU will, nicht einverstanden; wir sind sozial. - Ich sage immer: Schaut auf das, was die sagen, und schaut auf das, was die tun! ({7}) In Bayern wird zwar anders geredet, aber nach der Linie der CDU gehandelt: Es wird in diesem Land ein sozialer Kahlschlag durchgeführt. Sie hätten heute eine Chance gehabt; die haben Sie nicht genutzt. Sie haben nicht dargestellt, was Sie wollen und wie Sie dies finanzieren wollen. ({8}) Oben auf der Tribüne sitzen Bürgerinnen und Bürger. Die wollen wissen, woher Sie die für die Umsetzung Ihrer Vorschläge nötigen 102 Milliarden Euro nehmen und wem Sie sie aus der Tasche holen, um tatsächlich umzuverteilen. ({9}) Stehen Sie doch zu dem, was Sie produziert haben! Ich sehe Feigheit und Sprachlosigkeit auf Ihrer Seite.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin!

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielleicht schaffen Sie es woanders. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Peter Dreßen, SPD-Fraktion. ({0})

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Morgen haben wir im Plenum eine Darbietung der besonderen Art erleben dürfen. Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: Liebhabern politischer Schmierenstücke muss man am heutigen Donnerstag die Bühne Bundestag empfehlen. Dort steht der erste Akt eines Werkes mit dem Titel Versuchte Volksverdummung an, inszeniert und aufgeführt … von der Merkel-StoiberTruppe. ({0}) Diese Ankündigung, welche die Darbietung der Union im Plenum trefflich beschreibt, konnten die Bürgerinnen und Bürger heute Morgen der „Süddeutschen Zeitung“ entnehmen. „Die schwarzen Gaukler“, wie es im Leitartikel von Susanne Höll weiter heißt, haben heute im Bundestag gegen das Alterseinkünftegesetz gestimmt und gegen den Entwurf von Rot-Grün gewettert. Auf der nächsten Sitzung des Bundesrates wird die Union dann aber brav die Hand heben. Schließlich handelt es sich bei dem Alterseinkünftegesetz nicht nur um die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr setzen wir auch um, was die Union einst vehement gefordert hat. ({1}) Sie denken, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Taktiererei hinters Licht führen können. Das funktioniert aber nicht, weder beim Alterseinkünftegesetz noch bei all den anderen populistischen Vorschlägen, mit denen Sie in regelmäßigen Abständen an die Öffentlichkeit treten. Denn ebenso regelmäßig bleiben Sie die Antwort auf die Frage schuldig, wie Sie Ihre generösen Versprechungen eigentlich finanzieren wollen. Mit dieser Aktuellen Stunde wollten wir Ihnen heute die Chance geben, den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, wie Sie die Quadratur des Kreises hinbekommen wollen. ({2}) Herr Krings, es ging nicht um Beschimpfung, sondern um Aufklärung. Das haben Sie schlichtweg missverstanden. ({3}) Sie hätten hier aufklären können, woher Sie die 100 Milliarden Euro, die Sie für die Umsetzung Ihrer Vorschläge benötigen, nehmen und wen Sie damit belasten. All diese Chancen hatten Sie heute, leider haben Sie sie nicht genutzt. Herr Seehofer sagte: „Es reicht nicht, wenn man neu denkt, sondern man muss auch sagen, ob das Neue finanzierbar ist.“ - Sie haben mit Ihren Vorschlägen nichts Neues gedacht. Sozialabbau und Besserstellung der eigenen Klientel überzeugen nicht als innovative Ideen. Sie wollen die sozial ungerechte Kopfpauschale einführen. Die Förderung einer sozialen Schieflage ist Ihnen 40 Milliarden Euro wert. Durch die finanzielle Förderung der Erziehungsleistung in der Rente und durch mehr Kindergeld zementieren Sie ein antiquiertes Frauenbild. Wichtiger als die materielle Förderung sind für die jungen Menschen, insbesondere für die jungen Frauen, Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Dafür hat die Bundesregierung die richtigen Weichen gestellt. Mit unserem 4-Milliarden-Programm sind wir auf dem richtigen Weg. Wir wollen, dass Familie und Arbeit miteinander vereinbar sind. ({4}) Sie wollen das Geld an den Bedürfnissen junger Menschen vorbei ausgeben, und das in einer Höhe von fast 21 Milliarden Euro. Mit den Ausgaben für Mindestrente und Steuerreform kommen wir, summa summarum, auf einen Betrag von 102 Milliarden Euro. In dieser Summe fehlen noch die täglichen Schnellschüsse. Frau Kollegin Scheel ist auf die Haushaltsberatungen bereits eingegangen. Wenn wir all das verwirklichen wollten, was Sie uns in den Haushaltsberatungen vorschlagen - Ausbau sechsspuriger Autobahnen und vieles andere -, bräuchten wir immense Summen. Die Mittel für Vorschläge wie flächendeckende Lohnkostenzuschüsse sind in dem Betrag von 102 Milliarden Euro ebenso wenig enthalten. Sie richteten mit fadenscheinigen Argumenten einen Lügenausschuss ein, in dem Sie uns Wahlbetrug unterstellten. ({5}) Da Sie 2006 keine Regierungsverantwortung übernehmen werden, werden Sie auch nicht in die Verlegenheit kommen, sich wegen nicht eingehaltener Versprechen erklären zu müssen. Das hätten Sie aber heute hier tun können. Schon als Kind hatte ich Zweifel, wie sich Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus der Grube ziehen konnte. Diese Zweifel reichen bei weitem nicht an meine Bedenken heute heran, wenn Sie mir erklären, wie Sie Ihre Vorschläge finanzieren wollen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ({0}) - Drucksache 15/2816 ({1}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2}) - Drucksache 15/2997 - Berichterstattung: Abgeordneter Karl-Josef Laumann bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/3003 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Otto Fricke Volker Kröning b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({4}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verabschiedung eines Optionsgesetzes - Drucksachen 15/2817, 15/2997 Berichterstattung: Abgeordnete Karl-Josef Laumann Zu dem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement.

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005291

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über den Arbeitsmarkt. Dabei ist es besonders wichtig, dass wir diejenigen in ihre Schranken weisen, die für Pessimismus in Deutschland sorgen: die Schlechtredner, die Miesmacher, die Reformverhinderer und die Chaosbeschwörer. ({0}) Das sind diejenigen, die Wachstum und Fortschritt verhindern wollen. Sie dürfen und werden unsere Reformen nicht aufhalten. ({1}) Klar gesagt: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe - um sie geht es beim Optionsgesetz - ist längst überfällig. Wir haben über Jahrzehnte hinweg den Fehler gemacht, zwei Fürsorgesysteme, ein staatliches und ein kommunales, nebeneinander, teilweise sogar gegeneinander - jedenfalls waren sie nicht aufeinander abgestimmt - erhalten zu haben … Damit muss Schluss sein, Arbeitslosen- und Sozialhilfe müssen zusammengelegt werden. Die Menschen müssen endlich aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit vermittelt werden. Wir dürfen uns nicht darauf konzentrieren, Arbeitslosigkeit zu finanzieren. So haben es über Jahrzehnte hinweg alle gefordert, aber leider sind keine ausreichenden Fortschritte erzielt worden. ({2}) Wir müssen das Prinzip des Förderns und des Forderns anwenden. All dies geschieht mit dem, was wir gesetzgeberisch auf den Weg gebracht haben. Wir beraten jetzt über das Kommunale Optionsgesetz. Das gehört natürlich in den Gesamtzusammenhang des Themas, über das ich gerade gesprochen habe. Ich will aber ebenso klar sagen: Das Kommunale Optionsgesetz hängt nicht untrennbar an dem, was wir kurz und bündig als Hartz IV bezeichnen. Das Schicksal des Kommunalen Optionsgesetzes ändert nichts an unserem Fahrplan für die Zusammenlegung der beiden Fürsorgeleistungen Arbeitslosen- und Sozialhilfe. ({3}) Ich sage das so klar und deutlich, weil ich feststelle, dass die Opposition das anscheinend nicht auseinander halten kann oder vielleicht auch nicht will. ({4}) Manche jedenfalls versuchen, die Diskussion über die konkrete technische und organisatorische Ausgestaltung des Systemwechsels zum 1. Januar 2005 zu missbrauchen. Sie missbrauchen sie dazu, die Lösung einer zwischen Bundesagentur und Kommunen geteilten Trägerschaft infrage zu stellen, die wir im Vermittlungsausschuss vereinbart haben. Diese Regelung der geteilten Trägerschaft steht seit Anfang dieses Jahres im Gesetz. Daran haben sich alle zu halten, ob ihnen das nun passt oder nicht. Am liebsten wäre mir, es passte allen. Alle sollten spätestens jetzt damit aufhören, den Städten und Gemeinden sowie den Landkreisen in unserem Land vorzugaukeln, es werde sich an der gemeinsamen Trägerschaft noch etwas ändern. Diese Debatte führt allenfalls zu einer Verunsicherung der Beteiligten, insbesondere auf kommunaler Ebene. ({5}) Eigentlich sollte daran niemand ein Interesse haben. ({6}) Wir machen niemandem etwas vor. Vor uns liegt eine gewaltige Kraftanstrengung. Der Umbau der Bundesagentur für Arbeit und die Einführung der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende sind zwei Herkulesaufgaben, die wir der Bundesagentur anvertraut haben. Wir - der Vorstand der Bundesagentur genauso wie ich, das Ministerium und alle Fachleute, mit denen wir zusammenarbeiten - sind überzeugt, dass beide Aufgaben erfüllt werden können. Deshalb werden wir die Erfüllung der Aufgaben mit aller Entschlossenheit weiter verfolgen. Dabei wird es Prioritäten geben. Priorität hat zweifelsfrei die Einführung der neuen Leistung pünktlich zum 1. respektive 2. Januar 2005. Jedem Bezieher und jeder Bezieherin der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende muss Anfang des kommenden Jahres die neue Leistung zur Verfügung stehen. Wir sind auf diesem Weg. Trotz aller Schwierigkeiten, die das macht, sind wir auf einem guten Weg. Wir werden das auch hinbekommen. Voraussetzung ist natürlich, dass all diejenigen, die ein Interesse an Lösungen haben, an einem Strang ziehen. Dabei ist die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften ein ganz wichtiger Punkt. Nach dem Gesetz werden wir Arbeitsgemeinschaften schaffen zwischen den örtlichen, kommunalen Repräsentanten auf der einen Seite, die in diesem Sektor arbeiten und sich insbesondere um die Sozialhilfeempfänger, in diesem Fall die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger, kümmern, und den örtlichen Agenturen für Arbeit auf der anderen Seite. Im SGB II ist vorgesehen, dass die kommunalen Träger und die Agenturen für Arbeit vor Ort kooperieren und diese Arbeitsgemeinschaften bilden. Darin liegt also die entscheidende Aufgabe. Was dort entsteht, ist auch alles andere als irgendein zentrales Monstrum. Vielmehr entstehen Arbeitsgemeinschaften auf kommunaler Ebene. Wir werden alles tun - die Bundesagentur tut das auch -, um die Bildung dieser Arbeitsgemeinschaften zu unterstützen. Um das noch etwas konkreter zu beschreiben: Zurzeit findet in meinem Ministerium eine erste Besprechung mit Vertretern von 20 kreisfreien Städten und Landkreisen sowie der entsprechenden Agenturen für Arbeit statt. Zwischen diesen Trägern werden jetzt Pilotarbeitsgemeinschaften vereinbart. Unser Ziel ist es, möglichst schnell ein möglichst umfassendes Netz solcher Pilotarbeitsgemeinschaften zu schaffen. Das wird - so hoffe und erwarte ich - eine entsprechende Ausstrahlung haben und die Bereitschaft insgesamt erhöhen, ans Werk zu gehen, statt sich in organisatorischen Diskussionen und Auseinandersetzungen zu erschöpfen. ({7}) Die Situation am Arbeitsmarkt ist viel zu ernst, als dass wir uns wieder der deutschen Leidenschaft hingeben könnten, sich in organisatorischen Diskussionen zu verkrallen, statt sich ganz auf das zu konzentrieren, worum es geht, nämlich so viele Menschen so rasch wie möglich aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen bzw. ihnen auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu helfen. ({8}) Deshalb appelliere ich an alle - wir brauchen die Mitwirkung von allen, von möglichst vielen -: Wenn Sie wollen und mögen, machen Sie in Ihren Wahlkreisen möglichst Werbung für die Arbeitsgemeinschaften. Die Bundesagentur braucht dringend Klarheit darüber, welche Kommunen sich an der Bildung von Arbeitsgemeinschaften beteiligen. Daran werden sich übrigens auch Landkreise beteiligen. Vor Ort sieht die Welt ja ohnedies anders aus, als sie in manchen politischen Auseinandersetzungen dargestellt wird. Die Städte und Gemeinden, vor allen Dingen die großen Städte, werden mitmachen. Die Landkreise werden sich nach und nach anschließen. Die Spitzenorganisationen der Städte, die Städtetage und der Städte- und Gemeindebund, stehen ohnehin voll und ganz dahinter. Langsam, aber sicher wird man auch die Auseinandersetzungen bzw. Diskussionen mit dem Landkreistag leid, der sich in bürokratisch-juristischen Auseinandersetzungen erschöpft, statt sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Wir haben hier kein Kompetenzgerangel und keine Kompetenzhuberei, sondern vernünftige Arbeit für die Arbeitslosen abzuliefern. ({9}) Jetzt steht das Kommunale Optionsgesetz auf unserer Tagesordnung. Hier geht es darum, insbesondere in den Finanzfragen Klarheit zu schaffen. Sie wissen, dass sich mein Ministerium seit einiger Zeit bemüht, mit der Bundesagentur und vor allen Dingen mit den Ländern und der kommunalen Ebene zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. ({10}) - Herr Kollege, Sie sind ja sehr auf die Finanzen fixiert. Das ist auch richtig; denn das ist das Wichtigste. ({11}) Deswegen haben wir uns im Vermittlungsverfahren auf den Umfang der finanziellen Ausstattung aller Beteiligten verständigt. ({12}) Zu diesem Zweck führt man ja Vermittlungsverfahren durch. Die Kommunen sind aber der Meinung, dass diese Finanzmittel nicht ausreichen. Hierzu führen wir, ohne dabei Vorwürfe zu erheben, sehr ernsthafte Gespräche. ({13}) Nutzen Sie diese Situation nicht, um abzulenken und Unsicherheit zu stiften. Ich bin überzeugt, dass wir, wenn alle guten Willens sind, zu einer Lösung kommen können. Wir wollen möglichst eine Einigung hinsichtlich der Berechnungsmethodik erzielen. ({14}) Vor allen Dingen müssen wir uns über das verständigen, was man zur Stunde nur schätzen bzw. prognostizieren kann: Welche Entwicklungen wird es beispielsweise bei der Sozialhilfe geben? Wie wird sich die Zahl der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger entwickeln? Was passiert mit den Unterkunftskosten? Wir müssen uns also über die Berechnungsmethoden verständigen und wir brauchen Lösungen für Entwicklungen, die man heute nur prognostizieren, aber erst im Nachhinein feststellen kann. Deshalb glaube ich, es ist das Wichtigste, dass wir uns auf eine Revisionsklausel verständigen und mit ihrer Hilfe eine Spitzabrechnung vornehmen, die den Kommunen absolute Sicherheit gibt. Daran sind wir interessiert. ({15}) Das wollen wir. Hier wird niemand über den Tisch gezogen. Ich wiederhole unsere Zusage, dass den Kommunen, nachdem wir uns über die Berechnungsmethoden dieses Finanzmodells verständigt haben, aus der Gesamtoperation unter dem Strich ein Gewinn in Höhe von 2,5 Milliarden Euro bleibt. Diese Zusicherung gilt. Sie schließt allerdings ein, dass die Länder, die durch diese Operation in der Größenordnung von etwa 2,5 Milliarden Euro begünstigt werden, bereit sein müssen, diesen Betrag an die Kommunen weiterzugeben. ({16}) Natürlich brauchen die Kommunen auch Klarheit über die Ausgestaltung des Optionsrechts. Diese Klarheit wird geschaffen, wenn Sie den heute vorliegenden Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden und ihm auch der Bundesrat zustimmt. ({17}) Hierzu hat sich die Opposition in den bisherigen Beratungen ablehnend geäußert. Sie werden verstehen, dass uns das überhaupt nicht beeindruckt, ({18}) sondern dass wir unverändert an Sie appellieren, sich nicht auch auf diesem Feld in einer Organisationsdebatte zu verlieren. Das sagen Ihnen alle Experten. Lesen Sie das im Sachverständigengutachten nach! Darin wird Ihnen bescheinigt, dass das Mehr an Bürokratie, das durch ein Gesetz, wie Sie es sich vorstellen, geschaffen würde - Sie wollen ja auch noch eine Verfassungsänderung -, den Reformprozess aufhalten und insgesamt zu UnsiBundesminister Wolfgang Clement cherheit führen, aber nicht zu Lösungen beitragen würde. ({19}) Deshalb lautet meine Bitte: Gehen Sie den Weg mit, den wir Ihnen mit dem vorliegenden Entwurf eines Optionsgesetzes vorgeschlagen haben. Dieser Weg ist der beste, der ohne Verfassungsänderung möglich ist. Er wird meiner Überzeugung nach auch dem Grundgedanken der Vereinbarung, die wir im Vermittlungsausschuss getroffen haben, gerecht. Meine Damen und Herren, es wird viel über Mitwirkung der Kommunen gesprochen; vor allen Dingen von Ihnen, der CDU/CSU, die Sie die Kommunen ja neu entdeckt haben. ({20}) Finanziell haben Sie für die Kommunen bisher in den Ländern, in denen Sie die Verantwortung tragen, relativ wenig getan, sowohl gegenwärtig als auch in der Vergangenheit. Ich sage Ihnen: Helfen Sie lieber mit, dass jetzt auf der kommunalen Ebene geschieht, was geschehen muss. Bei der Bundesagentur für Arbeit verfügen wir über ausreichend Mittel, um noch Zehntausenden von Jugendlichen durch das JUMP-plus-Programm zu einer Ausbildung, Umschulung oder Vorqualifizierung zu verhelfen. Da liegt noch Geld für Arbeitsplätze für Zehntausende junge Arbeitslose. ({21}) Dort liegt übrigens auch noch Geld für Zehntausende von Arbeitsplätzen für Langzeitarbeitslose. Statt wie Sie eine, wie ich finde, überzogene Organisationsdiskussion zu führen, sollten wir allesamt in unseren Kommunen dazu beitragen - das ist mir wichtig -, dass etwas in Bewegung kommt, was die Leute von der Straße bringt, was gerade junge Leute in Ausbildung und Arbeit, in Ausbildungsplätze und Umqualifizierung bringt. ({22}) Dabei können Sie helfen. Das wäre mehr wert als das, was Sie versuchen, nämlich Verunsicherung unter die Menschen zu bringen. Sie werden es nicht schaffen, Sie werden uns dabei nicht aufhalten - gewöhnen Sie sich an den Gedanken! ({23}) Wir alle - Sie und wir - haben am Arbeitsmarkt genug Zeit verloren. Wir werden nicht noch mehr Zeit verlieren wollen, sondern alles tun, um unseren Fahrplan einzuhalten. Dass etwas geschieht, sehen Sie, wenn Sie einen Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit werfen: Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter 20 Jahren liegt jetzt gottlob unterhalb von 4 Prozent, bei den Jugendlichen unter 25 Jahren unterhalb von 8 Prozent. ({24}) - Das ist immer noch zu viel. Es ist immer noch schlecht, auch wenn es im europäischen Maßstab übrigens nicht ganz so schlecht ist. Wir werden uns auf unsere Aufgaben konzentrieren und diesen Prozess vorantreiben. Ich bin überzeugt, dass wir erfolgreich sein werden. Wichtig ist, dass die Kommunen zur Zusammenarbeit bereit sind. Ich bin überzeugt, sie sind es. Wir haben die Pflicht, die finanziellen Grundlagen zu klären - das tun wir mit Hochdruck -, und Sie haben aus meiner Sicht die Pflicht, konstruktiv mitzuwirken. Das tun Sie am besten, wenn Sie mitgehen auf dem Weg, den wir mit dem Optionsgesetz vorgezeichnet haben. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit. ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/ CSU-Fraktion.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Meine Damen und Herren! Das Problem bei dieser Debatte heute ist, dass wir ein Gesetz beraten, bei dem schon die Überschrift nicht stimmt. ({0}) Dort heißt es „optionale Trägerschaft“, in Wahrheit ist in dem Gesetz von Trägerschaft aber gar nicht die Rede. Hier wird von Ihnen ein Organleihemodell vorgeschlagen. Ich glaube, dass es gar keinen Streit darüber geben muss: „Option“ hätte bedeutet, dass die Aufgabe in diesem Fall zur Kommune kommt und sie diese in Eigenverantwortung wahrnimmt. ({1}) Die Wahrheit ist auch - um dabei ganz ruhig zu bleiben -: „Organleihe“ bedeutet, dass das Organ, in diesem Fall die Kommune, zur Aufgabe wandert, diese Aufgabe aber in den Entscheidungssträngen der Bundesagentur für Arbeit verbleibt. ({2}) Das ist der Streit um den Unterschied, den wir haben: Wollen wir einem Landkreis, einer kreisfreien Stadt die Möglichkeit geben, in Eigenverantwortung zu handeln, oder wollen wir nur die Möglichkeit einräumen, in den Entscheidungsstrukturen der Bundesagentur für Arbeit mitarbeiten zu können? Ich finde, es ist auch in Ordnung, dass wir darüber streiten. Hier geht es ganz einfach darum, ob der Wettbewerb der Ideen vieler kommunaler Träger und Beschäftigungsorganisationen in der schwierigen Frage, wie man trotz der schwierigen Arbeitsmarktlage Langzeitarbeitslose integrieren kann, in diesem Land noch stattfindet oder ob er nicht mehr stattfindet. Dieses Gesetz bedeutet - das wissen auch Sie -, dass mit dem 1. Januar 2005 ein Ende der kommunal verantworteten Beschäftigungspolitik bevorsteht. Dies bedeutet nicht notwendigerweise das Ende der gemeinsamen Beschäftigungsbemühungen von Kommune und Arbeitsamt, aber das Ende einer kommunal verantworteten Beschäftigungspolitik. Das wird die Beschäftigungspolitik in unserem Land ärmer machen; davon bin ich überzeugt. ({3}) Es sollte Sie sehr nachdenklich machen, dass der Deutsche Landkreistag, der immerhin 323 von 439 kommunalen Körperschaften vertritt, die überhaupt optieren können, sagt: Unter den Bedingungen dieses Gesetzes können wir uns das überhaupt nicht vorstellen. ({4}) Ein weiterer Punkt: Jeder von uns, der sich mit kommunaler, mit regionaler Arbeitsmarktpolitik beschäftigt hat, weiß doch - den Eindruck habe ich seit Jahren -, dass die besten Ergebnisse dort zustande kommen, wo die kommunalen Gebietskörperschaften vernünftig mit dem Arbeitsamt zusammenarbeiten und umgekehrt. Das ist die Wahrheit und das kann niemand bestreiten. Aber es ist eben ein ganz großer Unterschied, ob dies in einem Jobcenter stattfindet, in dem die Entscheidungsstrukturen der Bundesagentur gelten, oder ob es in einem Jobcenter stattfindet, wo regional denkende und handelnde Kommunalpolitik den Ton angibt. ({5}) Diesen Unterschied müssen wir in diesem Gesetz herausarbeiten. Das Gesetz, das Sie vorgelegt haben, hat mit Subsidiarität nichts zu tun; es ist ein Gesetz, das die Zentralität verstärkt. Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich nun aus dem Protokoll der Anhörung vom vergangenen Montag zitieren. In dieser Anhörung hat Professor Dr. Wieland von der Goethe-Universität Frankfurt auf eine Frage unseres verehrten und sachkundigen Kollegen Wolfgang Meckelburg ({6}) geantwortet: Wenn Sie dieses Optionsmodell mit der Organleihe verwirklichen, bedeutet das letztlich, Sie geben eigentlich den Vorteil der kommunalen Selbstverwaltung auf. Kommunale Selbstverwaltung lebt ja von der demokratischen Legitimation von unten nach oben. Die kommunalen Stellen sind aus der örtlichen Gemeinschaft heraus legitimiert und handeln daraus. Wenn Sie hier optieren, wenn Sie von der Möglichkeit Gebrauch machen, die im Gesetzentwurf vorgesehen ist, begeben Sie sich gewissermaßen unter die Weisungshoheit der Bundesagentur für Arbeit, die zugleich die Verantwortung dafür übernehmen muss. Durch diese Aussage wird ganz deutlich, was passiert, wenn dieses Gesetz verabschiedet wird. Herr Clement, ich sage Ihnen ganz offen: Das, was Sie vorgelegt haben, entspricht nicht dem Sinn und Geist unserer gemeinsamen Entschließung vom 18. Dezember des letzten Jahres, ({7}) die die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe mit einer Option auf eine kommunale Trägerschaft zum Inhalt hatte. Das wissen Sie. Darüber bin ich persönlich sehr enttäuscht. Das wird auch Auswirkungen darauf haben, wie wir in Zukunft miteinander umgehen. In einem Punkt Ihrer Rede, die Sie gerade gehalten haben, gebe ich Ihnen Recht: Ihr Vorschlag ist die einzige Möglichkeit, die es gibt, um dieses Problem unterhalb des Ranges einer Verfassungsänderung zu lösen. Darin gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht. Ich muss mich aber fragen, warum wir die Verfassung nicht ändern können, wenn wir der Meinung sind, dass die Kommunen einen erheblichen Beitrag in Eigenverantwortung erbringen können. Wenn wir in Deutschland die Verfassung für den Tierschutz ändern können, dann werden wir doch wohl auch in der Lage sein, sie für die Schwächsten am Arbeitsmarkt zu ändern, damit der Arbeitsmarkt in Strukturen kommt, die wir uns doch eigentlich alle gewünscht haben. ({8}) - In diesem Punkt hätten wir die Verfassung ändern können. Das ist gar kein Problem. ({9}) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der uns auch nachdenklich stimmen soll. Ich habe am Montag in der Anhörung einen Vertreter der Bundesagentur für Arbeit gefragt, wie man dieses Problem seiner Meinung nach verwaltungstechnisch in den Griff bekommen könne. Er hat gesagt - das können Sie im Protokoll der Anhörung nachlesen -, dass man dafür etwa 40 950 Stellen brauche. Heute gebe es etwa 14 000 Mitarbeiter bei der BA, die sich um die Arbeitslosenhilfe kümmern. Man wird also weitere rund 26 000 Menschen irgendwie zur Bundesagentur bringen müssen, eventuell über Gestellungsverträge aus den Kommunen oder über die Beauftragung Dritter. Die Bundesagentur hat schon heute 91 000 Mitarbeiter. Sie wollen nun die Zahl der Stellen bei einer derart großen Behörde um 26 000 erweitern. Diese werden zwar nicht alle in einem Arbeitsverhältnis mit ihr stehen, aber auf deren Payroll. Denn auch die von den Kommunen Gestellten werden auf der Lohnliste der Bundesagentur für Arbeit stehen und in deren Entscheidungsstrukturen eingebunden sein. Wenn Sie so weitermachen, dann ist die Arbeitsverwaltung bald größer als die Bundeswehr. Das kann nicht gut gehen. ({10}) Zum Schluss bitte ich Sie, dass Sie Folgendes überdenken: Die Holländer - Herr Clement kommt wie ich aus einer Ecke, wo die Niederlande nicht ganz fern sind können auf dem Arbeitsmarkt Erfolge verzeichnen, seit sie ihn regionalisiert haben. Wenn ein Land mit 16,2 Millionen Einwohnern Erfolge verzeichnen kann, wenn es regionalisiert, dann glaube ich, dass in einem Land mit 82 Millionen Einwohnern - das ist die Größe unseres wiedervereinigten Vaterlandes - eine Regionalisierung erst recht anschlägt. Umkehren wollen Sie ja nicht mehr. Sie haben deutlich genug gesagt, dass Sie mit dem Kopf durch die Wand gehen werden. Sie müssen aber davon ausgehen, dass wir die Hand dazu nicht reichen. Ich stelle fest, dass dieses Gesetz nicht dem Sinn und dem Geist der Entschließung vom 18. Dezember 2003 entspricht. ({11}) Ich sage noch einmal: Wenn wir gewusst hätten, dass so etwas dabei herumkommt, dann hätte es die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe nicht gegeben, weil wir nicht mitgemacht hätten. Es ist nicht zu verantworten, dass sie in dieser Form zusammengeführt werden. Den Menschen, die Arbeitslosenhilfe erhalten, wird dadurch nämlich sehr viel Geld weggenommen, obwohl sie nicht zu viel haben. Gleichzeitig werden ihnen keine effizienteren Betreuungsstrukturen angeboten. Das ist unverantwortlich. Es gibt noch einen weiteren Punkt, der gelöst werden muss. Dabei geht es um die Mieten, also um die Unterkunftskosten, und darum, wie stark die Kommunen hier belastet werden. Das muss gelöst werden. In NordrheinWestfalen wird sich keine einzige Kommune mehr außerhalb des Ausgleichsstocks befinden, wenn das, was jetzt im Gesetz steht, Realität wird. Ich kann Ihnen nur raten: Ändern Sie den Weg! Ansonsten wird bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen am 26. September 2004 deutlich werden, wer für diese Finanzsituation verantwortlich ist. Schönen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Laumann, wir sind heute hier zusammengekommen, weil weder Sie noch wir am 18. September 2003 eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung im Vermittlungsausschuss gefunden haben. Die Verfassungsänderung wurde im Vermittlungsausschuss weder vorgeschlagen noch durchgesetzt. ({0}) Deswegen reden wir heute darüber, wie die Option für die Kommunen aussehen kann. Ich finde es interessant, dass Sie in diesem Zusammenhang hier gesagt haben, dass das, was wir vorschlagen, unterhalb der Verfassungsänderung ein guter und gangbarer Weg sei. ({1}) Herr Laumann, nehmen Sie Ihre eigenen Wort ernst und machen Sie mit! Eines ist doch klar und darin sind wir alle uns auch vollkommen einig: Wir brauchen die Kommunen bei der Umsetzung der anstehenden Arbeitsmarktreformen. ({2}) Wir brauchen die Kommunen. Sie müssen sich um die Langzeitarbeitslosen kümmern und sie müssen auf der sozialen Ebene, beispielsweise bei der Drogenberatung, gute Angebote machen. Aber sie müssen eben auch - dafür brauchen wir die Bundesagentur für Arbeit - bei der Vermittlung tätig werden. Wir brauchen beide und wir brauchen die Kooperation der Kommunen mit der Bundesagentur für Arbeit, weil jeweils eine Seite etwas besser kann als die andere. Diese Kooperation müssen wir vorbereiten. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt aufgreifen, den der Minister vorhin angesprochen hat: Wir brauchen die Kommunen. Deshalb ist es auch völlig klar, dass wir das Ziel, das wir durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erreichen wollten, nämlich zu einer Entlastung der Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zu kommen, auch weiterhin verfolgen werden. Das ist unser politischer Wille. Die Daten, die heute vorliegen, wurden im Vermittlungsausschuss übrigens gemeinsam mit der Opposition zugrunde gelegt. Sie waren also die Grundlage für die gemeinsame Entscheidung. ({3}) Diese Daten entsprechen heute nicht mehr der Realität, da die Entlastung offenbar nicht vollständig so erfolgt, wie wir das gehofft haben. Deswegen wird hierüber auch weiterhin geredet werden. Die Wahrheit wird wahrscheinlich in der Mitte liegen: Herauskommen werden sicherlich nicht die 5 Milliarden Euro, die jetzt von der kommunalen Seite eingeklagt werden. Aber offenbar ist die Realität am Arbeitsmarkt auch nicht so, dass tatsächlich 2,5 Milliarden Euro erbracht werden. Es ist wichtig, das eindeutig festzustellen. Ich möchte für meine Fraktion noch einmal sagen, dass wir den Vorschlag, eine Revisionsklausel einzuführen, in diesem Zusammenhang als sehr vernünftig und produktiv ansehen. Wir halten es für notwendig, dass die finanzpolitischen Spielräume der Kommunen auch und gerade durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erweitert werden, damit auch die Betreuungsmöglichkeiten von Kindern unter drei Jahren weiter verbessert werden. Das ist nämlich auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen erforderlich. ({4}) Die Opposition schlägt jetzt die Verschiebung der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vor; Herr Koch will gar - ich komme darauf noch zu sprechen - einen Boykott. Das würde den Kommunen zusätzlich schaden. Eine Verschiebung der Maßnahmen würde nämlich gerade nicht zu einer Entlastung der Kommunen führen. Wir brauchen die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aber auch aus einem ganz anderen Grund. Seit Jahren wäre sie notwendig gewesen; sie ist längst überfällig. ({5}) Wir hätten dies bereits in den 90er-Jahren tun müssen. Sie haben das in den 90er-Jahren verschlafen. ({6}) - Diese absurden Doppelstrukturen gibt es nur in Deutschland: Steuerfinanzierte Systeme - Arbeitslosenund Sozialhilfe - existieren nebeneinander her; die Langzeitarbeitslosen werden in zwei Schubladen einsortiert, die Sozialhilfeempfänger teilweise zu Bittstellern diskreditiert, weil die Leistungen nicht pauschaliert sind. ({7}) Das alles ist von Ihnen über Jahre hinweg gepflegt worden, übrigens immer verbunden mit dem Ziel, die Sozialhilfe abzusenken. Wir wollen, dass die Sozialhilfeempfänger Zugang zur aktiven Arbeitsmarktpolitik haben und nach der Reform vernünftig und zügig betreut werden. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Herr Kollege Niebel. Bitte sehr.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Dückert. - Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass es sinnvoll ist, die beiden steuerfinanzierten Leistungen zusammenzulegen, stelle Ihnen aber die Frage, weshalb Sie vor knapp drei Jahren unseren Antrag, genau das zu tun, hier in diesem Hause abgelehnt haben. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Niebel, Ihre Arbeitsmarktpolitik hatte schon immer - das ist in den letzten Monaten wieder ganz deutlich zutage getreten - die Absenkung der Sozialhilfe zum Ziel. Das war immer ein Element und Baustein Ihrer Strategie. Heute wollen Sie ({0}) angesichts unserer fortgesetzten Reformen - ich wiederhole: Sie hätten sie in Ihren über 20 Jahren Regierungsbeteiligung einleiten können - die Bundesagentur für Arbeit sogar zerschlagen. ({1}) Die unsoziale Strategie Ihrer Arbeitsmarktpolitik und die kontraproduktiven Elemente beim Umgang mit der Bundesagentur für Arbeit haben sich auch in Ihren damaligen Anträgen widergespiegelt. ({2}) Deswegen konnten wir sie beim besten Willen nicht unterstützen, Herr Niebel. Lassen Sie mich zurückkommen: Es ist überfällig, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum 1. Januar 2005 zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende zusammenzulegen und die Kommunen als Partner auf gleicher Augenhöhe in diese Aufgabe einzubinden. In dieser Situation - das ist ein riesiges Projekt, das viele Veränderungen mit sich bringt und viele Schwierigkeiten birgt stellt sich Herr Koch von der CDU quer ({3}) und ruft die Kommunen zum Boykott in der Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit und den Arbeitsämtern auf, weil ihm das Modell, das für die Trägerschaft des Arbeitslosengeldes II vorgeschlagen wird, nicht passt. Ich halte das für einen unglaublichen Vorgang. Dieser Boykottaufruf von Herrn Koch ist nichts anderes als ein Zeichen dafür, dass die Opposition mittlerweile hemmungslos im Umgang mit Langzeitarbeitslosen geworden ist und sie in Geiselhaft ihrer Politik nehmen will. ({4}) Blockade und Angstmacherei - das war stets eine Strategie Ihrer Arbeitsmarktpolitik. Angesichts dessen tue ich mich schon schwer mit dem von Ihnen, Herr Laumann, immer so freundlich vorgetragenen Angebot, ernsthaft in der Sache zu streiten. Denn um die Sache geht es Ihnen offensichtlich überhaupt nicht. ({5}) Es geht Ihnen um Diskreditierung und Zerschlagung einer Arbeitsmarktreform, die absolut notwendig ist. ({6}) Das Optionsgesetz, das wir heute diskutieren, ist ein Stück weit ein Aufhänger für diese Debatte, weil das, was wir bereits verabschiedet haben und was Gesetz ist, die Umsetzung der Reform notwendig und möglich macht. ({7}) Die Arbeitsgemeinschaften sind inzwischen Gesetz. Zum 1. Januar 2005 kann die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kommen. ({8}) - Genau das blockieren Sie, Herr Niebel. Ihr Kollege Laumann schlägt die ganze Zeit vor, die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe um ein Jahr zu verschieben. Herr Koch ruft sogar die Kommunen zum Boykott auf, um die angeschobenen Arbeitsmarktreformen aufzuhalten. ({9}) Was Sie wollen, ist fahrlässig. ({10}) Wir wollen den Kommunen eine Optionsmöglichkeit einräumen. Die Organleihe, die wir vorschlagen, ist ein faires Angebot. Die Kommunen bekommen in einem sehr überschaubaren Rahmen eine Handlungsfreiheit. Sie haben einen finanzpolitischen Spielraum in Form von Budgets, über die sie frei verfügen können, und sie erhalten einen Spielraum in Form von Zielvereinbarungen. Nur dann, wenn sie die politischen Zielvereinbarungen, die sie selber abschließen, verletzen, greift die Aufsichtspflicht. Das ist in diesem Gesetz festgelegt. Das ist exakt die Vereinbarung, die wir im Vermittlungsausschuss getroffen haben. Darüber reden Sie nämlich nicht mehr: Wir haben in einem Entschließungsantrag festgelegt, dass die Einbindung der Kommunen durch Zielvereinbarungen erfolgt. Genau das wird hiermit eingelöst. Der Handlungsspielraum der Kommunen wurde so groß wie möglich konzipiert, ohne die Verfassung ändern zu müssen. Das geben sie selber zu. Deswegen sage ich noch einmal: Machen Sie bei den Veränderungen mit! ({11}) Ich möchte zum Schluss noch eines ansprechen. Die Reform, die auf die Menschen zukommt, ist ein riesiges Projekt. Viele Arbeitslose, viele Kommunen, viele Träger und viele Angebote am Arbeitsmarkt sind davon betroffen. Es gibt in der Tat große Probleme in dem Bereich. Die Lösung kann aber nicht darin bestehen, nur die Probleme zu nennen, sondern wir müssen Strategien zur Lösung der Probleme erarbeiten. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Nun heißt es überall, es sei schwierig, zum 1. Januar 2005 die Auszahlung zu organisieren. Es besteht - so wurde in der Anhörung gesagt - eine 20-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die Software nicht gut funktioniert. Ich erwarte von den Kommunen und von der Bundesagentur für Arbeit,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende kommen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- dass sie neben den Vorschlägen zur Software einen Plan B entwickeln, um die Probleme zu lösen, ({0}) anstatt die Reform zu verschieben. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDPFraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit hat zu Recht gesagt: Wir brauchen die Kommunen. Seine grüne Kollegin hat zu Recht gesagt: Wir brauchen die Kommunen. - Sie legen hier ein Organleihegesetz vor, das mit Option nichts am Hut hat und das dazu führen wird, dass die Kommunen das nicht machen werden. Sie spielen Mikado mit den Lebenschancen von Millionen von Menschen - weil wir die Kommunen brauchen! ({0}) Wir haben am 18. Dezember des letzten Jahres nach einem relativ langen Vermittlungsverfahren einen gemeinsamen Entschließungsantrag von Bundestag und Bundesrat hier in diesem Haus beschlossen, mit dem eine eigenständige Trägerschaft für Kommunen, die optieren wollen, gewährleistet werden sollte. Das Organleihegesetz, das Sie vorlegen, hat mit diesem Beschluss überhaupt nichts zu tun. ({1}) - Frau Barnett, wir wissen schon aus der Medizin, dass Organleihe nicht funktionieren kann. ({2}) Wir brauchen Kommunen, die sich mit einer fairen, berechenbaren Chance um die Integration auf dem Arbeitsmarkt kümmern können. Aus diesem Grunde haben wir gemeinsam mit der Union einen Entschließungsantrag eingebracht, der eine transparente Regelung mit grundgesetzlicher Absicherung der Option einfordert, damit diese Aufgabe übernommen werden kann. Wir haben in dem Vermittlungsverfahren eine Reform beschlossen. Das ist - da haben Sie völlig Recht - schon Gesetz. Insofern können wir gar nichts blockieren. Wir wollen nur Fairness, wir wollen, dass Sie uns nicht bei dem Beschluss betrügen, den wir gemeinsam getroffen haben. ({3}) Wir haben dreierlei beschlossen: erstens - das wollten Sie - die grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesagentur, zweitens die Möglichkeit, Arbeitsgemeinschaften zu bilden - Sie können die Kommunen dazu aufgrund des grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstbestimmungsrechts nicht verpflichten -, und drittens die Option. Wenn Sie ein Gesetz vorlegen, mit dem sich die Kommunen faktisch in die Abhängigkeit der Bundesagentur für Arbeit begeben, um dann als Organ der Bundesagentur mit deren Dienstvorschriften arbeiten zu müssen - das wird kein verantwortlich denkender Kommunalpolitiker machen -, werden Sie keine Kommunen finden, die optieren werden. Insofern bleiben nur die ersten beiden Alternativen, die grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesagentur und die Möglichkeit, Arbeitsgemeinschaften zu bilden. ({4}) Wir haben in der Anhörung gehört - lesen Sie das bitte im Protokoll nach, Herr Clement! -, dass sich die Kommunen angesichts ihrer Haushaltssituation mittelfristig sehr genau überlegen werden, ob sie Angebote und Dienstleistungen für Aufgaben zur Verfügung stellen, für die sie nicht mehr zuständig sind. Die Zuständigkeit erfolgt grundsätzlich durch die Bundesagentur. Wir laufen Gefahr, dass mittelfristig Strukturen wegbrechen, die den Menschen vor Ort die letzte Chance zur Integration geboten haben. Sie selbst haben festgestellt, Herr Clement, dass die Kommunen aufgefordert werden müssten, sich bei JUMP plus und Ähnlichem zu beteiligen, weil ihre Mitwirkung notwendig ist. Das hätten Sie sicherlich nicht gemacht, wenn sie es nicht besser machen würden als die Bundesagentur. ({5}) Sie haben noch nicht angesprochen, was am 1. Januar kommenden Jahres geschehen wird, wenn sich eine Vielzahl der Kommunen nicht einer Arbeitsgemeinschaft anschließen wird. In dem Fall haben die Mitarbeiter der Bundesagentur Aufgaben zu erfüllen, für die sie keine Kompetenzen haben. Denn für den Personenkreis, um den es dabei geht - langfristig arbeitslose Menschen -, ist der Verlust des Arbeitsplatzes meistens nur eines von sehr vielen Problemen. ({6}) - Ich mache mir keine Hoffnungen. Ich habe vielmehr bittere Angst, dass es Anfang nächsten Jahres zu einem sozialen Chaos kommt, weil Sie sich nicht an die Vereinbarungen gehalten haben. ({7}) Außerdem sind Ihnen von der Regierungsbank keine Zwischenrufe erlaubt. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Minister, ich habe Verständnis für Ihre Erregung, aber Sie dürfen von der Regierungsbank aus keine Zwischenrufe machen.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich habe kein Verständnis für die Erregung des Herrn Minister. Der Herr Minister hat sich schlichtweg nicht an eine im Vermittlungsausschuss getroffene Vereinbarung gehalten und jetzt versucht er, durch die Hintertür zu fliehen. ({0}) Die die Regierung tragenden Fraktionen und er werden dafür verantwortlich sein, wenn Anfang nächsten Jahres die Existenz von Millionen Menschen gefährdet wird. Sie tragen die politische Verantwortung dafür. ({1}) Wir hören immer wieder, dass angesichts der Vielzahl von Datensätzen, die zu übertragen sind, und der Problematik mit den Schnittstellen - es gibt 440 unterschiedliche Träger der Sozialhilfe, 180 Agenturen für Arbeit, die unterschiedlichsten EDV-Programme und unterschiedlich erfasste Daten - erhebliche Schwierigkeiten auf uns zukommen. Hinzu kommt, dass unseres Wissens die EDV zumindest zurzeit nicht funktioniert, nicht einmal insofern, als ein belastbarer Test durchgeführt werden könnte. Einen solchen Test haben Sie am 19. Mai geplant. Als Konsequenz daraus werden die Datensätze von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hand eingegeben werden müssen. Außerdem werden aus der Portokasse oder aus welcher Kasse auch immer Abschlagszahlungen gewährt werden müssen. ({2}) Die Betroffenen werden leider nicht vor Ihrem Ministerium, sondern vor den Agenturen für Arbeit stehen und diejenigen belasten, die sich darum bemühen, diese Menschen wieder in Arbeit zu vermitteln. Was Sie machen, ist unverantwortlich, Herr Clement! ({3}) Mir graut davor, dass nach dem Dosenpfand, dem virtuellen Arbeitsmarkt und der LKW-Maut das nächste große Desaster dieser Regierung kommt. Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Clement: Geben Sie den Kommunen, so wie wir es vereinbart haben, die gerechte Möglichkeit, die Aufgaben zu übernehmen, wenn sie dies wollen. Die Kommunen, die das nicht wollen, werden sich dann sicherlich den Arbeitsgemeinschaften anschließen. Das ist dann vermutlich auch das Beste, weil die Selbstbestimmung der Kommunen das entscheidende Kriterium dafür ist, ob sie den Wettbewerb um die besten Ideen gewinnen können. Nur dann können die Menschen, um die es hierbei geht, eine Chance zur Integration und zur Teilhabe am gesellschaftliche Leben bekommen. Wir werden jedenfalls in weiteren Vermittlungsverfahren nicht mehr so blauäugig sein, Herr Clement, uns auf Entschließungen oder Protokollnotizen zu verlassen. Die Zusammenarbeit mit Ihnen wird schwieriger, weil wir Ihnen nicht trauen können. ({4}) Wir werden in weiteren Vermittlungsverfahren Punkt für Punkt, Komma für Komma und Buchstabe für Buchstabe beschließen müssen, weil Sie nicht ehrlich und redlich sind und weil Sie belogen und betrogen haben. ({5}) Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Optionsgesetzes vollziehen wir heute den letzten Schritt der Reformen am Arbeitsmarkt. ({0}) Wir legen damit pünktlich ein faires Angebot vor, das die Möglichkeiten des Grundgesetzes voll ausschöpft. Denn wir alle wissen, dass eine Grundgesetzänderung im Bundesrat nicht mehrheitsfähig gewesen wäre. Die Vorwürfe, die gerade mein aufgeregter Vorredner in einer aus meiner Sicht unflätigen Weise erhoben hat - er hat unter anderem von Lügen gesprochen -, muss ich an dieser Stelle für meine Fraktion ganz deutlich zurückweisen. ({1}) Lieber Herr Niebel, als ich Ihre Rede verfolgt habe, habe ich gedacht: Wer so schreit, der muss sich auch nach seiner Kinderstube fragen lassen. Ich habe jedenfalls gelernt: Wer schreit, hat Unrecht. Sie haben Unrecht in dieser Angelegenheit. ({2}) In der Sache selbst müssen wir jetzt, unabhängig von persönlichen Sichtweisen, die Debatten schnell beenden und zu einer zügigen Umsetzung kommen. Roland Koch hat gestern die Kommunen zur Blockade aufgerufen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich finde, es ist ein Skandal, dass Sie damit zum Gesetzesboykott aufgerufen haben. Viel schlimmer ist aber, dass Sie Ihre politischen Interessen auf dem Rücken der Arbeitslosen, den Schwächsten der Gesellschaft, durchzusetzen versuchen. Das diskreditiert Sie. ({3}) Sie behaupten, die Kommunen würden nicht mitmachen. Tatsächlich gibt es aber zahlreiche kommunale Initiativen. Bremsen Sie diese nicht ab! Behindern Sie die Zusammenarbeit nicht! Die Menschen in diesem Land sehnen sich nach Überwindung der sozialen Unsicherheit sowie nach Zusammenarbeit und praktikablen Lösungen. Solche haben wir auch vorgeschlagen. ({4}) Wir haben gehört, dass es schon viele gute Beispiele gibt. Im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit ist eine Gruppe gebildet worden, die Musterarbeitsgemeinschaften voranbringen soll. Diese sollten wir unterstützen; denn jetzt sind Taten und nicht große Reden gefragt. Jetzt ist die Stunde der Praxis. Es gibt keine Ausflüchte mehr, man müsse erst noch auf die eine oder andere gesetzliche Regelung warten. Alle arbeitsmarktpolitischen Akteure sollten zügig an die Arbeit gehen. Den Zeitplan - darauf haben Vorrednerinnen und Vorredner schon hingewiesen - gilt es einzuhalten. Es hilft auch nichts, wenn wir diese notwendige und sinnvolle Reform hinausschieben. Einige behaupten, ein solches Mammutprojekt brauche mehr Zeit. Ich sage dazu: Erstens haben wir noch acht Monate Zeit. Zweitens haben wir schon viel zu viel Zeit bis zur Umsetzung dieses wichtigen Vorhabens verstreichen lassen. ({5}) Jeder weiß: Nur wenn man mutig ist, die notwendigen Reformen anzupacken, kann man wieder Zuversicht und Vertrauen in der Gesellschaft gewinnen und dafür sorgen, dass die Beschäftigung in diesem Land zunimmt. Wir brauchen Menschen, die zupacken, und keine Menschen, die alles mies machen. ({6}) Die Arbeitsagenturen und die Kommunen müssen die Bildung von Arbeitsgemeinschaften jetzt zügig angehen. Dafür haben wir den notwendigen Spielraum geschaffen. Das Optionsgesetz stellt klar, dass Gemeinden, die es sich zutrauen, die Aufgabe allein übernehmen können. Diese Gemeinden erhalten dann die gleichen Pauschalen für Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten, wie sie auch den Arbeitsagenturen bzw. den Arbeitsgemeinschaften zustehen. Das Optionsgesetz ändert im Übrigen nichts an der Finanzverteilung. Das haben viele in der Vergangenheit verwechselt. Bund und Länder haben im Übrigen gemeinsam gerechnet. Möglicherweise haben sie die Fallzahlen unterschätzt. Das betrifft dann aber alle: Sie als Opposition genauso wie uns, den Bund genauso wie die Länder. Tun Sie nun also nicht so, als ob der Bund Ihnen etwas Falsches vorgelegt und sich, wie Herr Koch jetzt behauptet, einen großen Teil vom Kuchen gegriffen hätte! Das ist schlicht gelogen. Mit dieser Verdrehung der Tatsachen und dieser Unsachlichkeit kommen wir keinen Millimeter weiter. ({7}) Die Länder müssen im Übrigen auch die Ehrlichkeit besitzen, die Einsparungen an die Kommunen weiterzugeben. Hier liegt unter anderem der Hase im Pfeffer. Darauf sollten wir in diesem Haus gemeinsam achten. Wir stehen jedenfalls zu unserer Verantwortung und werden auf eine seriöse Nachberechnung rasch reagieren. Der Minister hat gerade noch einmal deutlich zugesichert - er hat kein Glaubensbekenntnis abgelegt, sondern ein Versprechen gegeben -, dass die Bundesregierung sowie die Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen dafür stehen, dass die Kommunen tatsächlich um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Eine solche Zusicherung sollte endlich Mut machen, die Arbeit zur Bildung von Arbeitsgemeinschaften aufzunehmen. Wir wissen, dass sich die Opposition in diesem Zusammenhang rein destruktiv verhält. Sie haben die Bundesagentur für Arbeit oft genug schlechtgeredet. Die FDP will sie sogar zerschlagen. ({8}) - Das ist fein formuliert, bedeutet aber im Ergebnis nichts anderes. - Die CDU/CSU behauptet landauf, landab, dass die Arbeitsagenturen es nicht könnten und dass man diesen keine Arbeit mehr geben dürfe. Das läuft letztendlich auf das Gleiche hinaus. Insofern müssen wir deutlich sagen: Wir stehen zu dieser Reform und wir sind davon überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit eine Chance verdient haben. Sie können zusammen mit den in den Kommunen Beschäftigten dazu beitragen und dafür sorgen, dass Sozialhilfeempfänger stärker als in der Vergangenheit in Arbeitsverhältnisse integriert werden. Es geht darum, praktische Beispiele wie das aus Essen bekannter zu machen. Ihr ewiges Schlechtreden, das Sie in der Vergangenheit und auch heute praktiziert haben, muss aufhören. Wir haben in Essen gemeinsam erlebt - wir kennen das auch aus Heilbronn und aus anderen Orten -, dass es klappen kann. Wer die positiven Beispiele nicht lobt, sondern nur auf negative Beispiele verweist, der baut in diesem Land nichts auf, sondern der baut ab. Wir wollen aufbauen und nicht abbauen. ({9}) Jetzt geht es darum, mit den neuen Strukturen in Arbeitsgemeinschaften offensiv umzugehen. Die Fortführung der kommunalen Beschäftigungsgesellschaften ist - danach wird oft genug gefragt - gesichert. Gerade bei der Beschäftigungsförderung brauchen wir die ausdrückliche Zusage, dass sich diese Beschäftigungsgesellschaften keine Sorgen machen müssen. Wir befinden uns im Verfahren, das im SGB II geregelt ist. In den Arbeitsgemeinschaften kann die Aufgabe vergeben werden. Die Maßnahmen können, wie es bis jetzt nach dem Bundessozialhilfegesetz geschieht, voll und ganz beibehalten werden. Deshalb muss mit der Verunsicherung Schluss sein. Sie ist verantwortungslos; schließlich brauchen wir genau diese Trägerstrukturen für eine aktive Arbeitsvermittlung. Außerdem gibt es die Möglichkeit der Übergangsregelung. Darauf kann man zurückgreifen, im Übrigen auch dann, wenn der Leistungsbezug nicht gleich funktioniert. Ich bin aber davon überzeugt: Er wird funktionieren. In Jobcentern kann man auch ganz pragmatisch Vereinbarungen treffen, die vorsehen, dass an mehreren Stellen Leistungen erbracht und Auszahlungen getätigt werden. Die Beschäftigungsgesellschaften können - das ist wegen unserer gesetzlichen Grundlage etwas Neues - sogar Bestandteil der Arbeitsgemeinschaften werden. Das heißt: Sie wären nicht nur Beauftragte, sondern ein Teil der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Insofern finde ich es wichtig, dass das Bild der Arbeitsgemeinschaften schlüssig und logisch ist. Mit den Verschiebebahnhöfen muss endlich Schluss sein. Leistungen kommen aus einer Hand. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Auch bei den Ausschreibungsverfahren haben wir dafür gesorgt, dass auf die regionalen Belange in Zukunft wesentlich mehr Rücksicht genommen wird.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das geschieht durch kleinere Lose und durch das Achten auf Qualität. Dadurch, dass den Qualitätskriterien mehr Gewicht beigemessen wird, sorgen wir dafür, dass die kleinen leistungsfähigen Strukturen in der Fläche erhalten bleiben. Das wird ein aktiver Beitrag zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit vor Ort sein. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeswirtschaftsminister, die Bundesregierung steuert bei der Einführung des Arbeitslosengeldes II auf die größte Bruchlandung der letzten Jahrzehnte zu. Ein bizarres Bild zeichnet sich ab: Der Chefpilot des Jumbos Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise, funkt SOS, die EDV-Programme für den Weiterflug fehlen, das Höhenruder klemmt, ({0}) der Finanzsprit für die Kommunen und die Landkreise reicht nicht und die Pilotenmannschaft bittet um die Erlaubnis zur Notlandung. Was macht der Cheffluglotse im sicheren Berlin, Herr Clement? - Er befiehlt: Augen zu, Blindflug bis zur Bruchlandung. ({1}) Die Leidtragenden einer solchen Gesetzeskatastrophe - 3,5 Millionen Menschen, über 2 Millionen Langzeitarbeitslose, hinzu kommen die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger - haben schon jetzt große Sorge. Ich sage an dieser Stelle ohne Häme: Wir hätten uns gewünscht, dass das Projekt der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gelingt und zu einem Erfolg für Deutschland wird. Deshalb haben wir im Vermittlungsausschuss alle Kräfte mobilisiert und unseren Beitrag geleistet. ({2}) Die zentralen Absprachen im Vermittlungsausschuss wurden aber - das wissen Sie genau - nicht eingehalten. Deshalb sage ich an dieser Stelle klar und deutlich: Wir lehnen jede Verantwortung für die sich anbahnende Gesetzeskatastrophe ab. Wir distanzieren uns von diesem Gesetzesmurks. ({3}) Die Bereitschaft zur Mitwirkung der Gemeinden, der Städte und der Landkreise wird Tag für Tag mehr verspielt. Für die meisten Städte stellt sich im Hinblick auf die Lösung der Arbeitsgemeinschaft natürlich die Frage: Wie schauen die Finanzen aus? Das ist auch für diese Alternative die entscheidende Frage. Nachdem Sie eine echte Option abgelehnt haben, wird die Bereitschaft, in eine Arbeitsgemeinschaft einzusteigen, nicht wachsen, wenn Sie die grundlegende Frage, wie es mit den Finanzen der Kommunen weitergeht, nicht klären. Wieder einmal fehlen nach den Berechnungen der Kommunen Milliarden, in diesem Falle 5 Milliarden Euro. Sie sagen: Es sind weniger. Das Problem wird sich schon noch lösen. - Wenn Sie uns nicht glauben, auch den Kommunen und den Kreisen nicht vertrauen, dann vertrauen Sie doch zumindest der rot-grünen Regierung der Landeshauptstadt München; denn das sind Ihre politischen Freunde! ({4}) Dort hat man ausgerechnet, dass bei dem Verfahren, das Sie jetzt einführen wollen, allein die Landeshauptstadt München mit 92 Millionen Euro zusätzlich belastet würde. Deshalb ist die Bereitschaft bei den Kommunen gering. Deshalb werden Sie auch keine neuen Kommunen dafür gewinnen. Was ist die Folge? - Die Folge ist, dass die Bundesagentur die in der Tat gewaltige Aufgabe der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe allein schultern muss. 40 000 Mitarbeiter - darüber haben wir schon gesprochen - werden zusätzlich benötigt. ({5}) Ich möchte an das Beispiel von Karl-Josef Laumann anknüpfen. Die Bundeswehr schrumpfen und die Bundesagentur aufblähen, das ist der rote Faden in der Politik dieser Bundesregierung und das zeigt, wohin der Weg geht. Statt Verschlankung und Beschränkung auf das Kerngeschäft der Arbeitsvermittlung, die nach allgemeiner Ansicht notwendig sind, franst die Bundesagentur zu einer allgemeinen Sozialagentur aus. Sie wird zukünftig eine Bundessozialagentur und weniger eine Bundesvermittlungsagentur sein. Bei der Vorbereitung der Umsetzung dieses gewaltigen Vorhabens wurde - das lässt sich schon jetzt sagen - fehlerhaft kalkuliert und mit dem Beharren auf ihrer Fortsetzung tragen Sie die Verantwortung. Wenn am 2. Januar kommenden Jahres, also 2005, mindestens 3,5 Millionen Menschen die neuen Leistungen erhalten sollen, um buchstäblich ihr Auskommen zu haben, um finanziell überleben zu können, dann, so sagt die Bundesagentur, müssen wir am 1. Oktober dieses Jahres beginnen, arbeitstäglich mehrere Zehntausend dieser Anträge zu bescheiden. Ab dem 1. August müssen die Daten gesammelt werden. Das ist nicht einfach. Es müssen Anträge versandt werden, die Anträge müssen ausgefüllt werden, sie müssen zurückkommen, sie müssen ausgewertet werden. Das muss EDV-tauglich gestaltet werden. Dies geht nur, wenn ein funktionsfähiges EDV-System vorhanden ist. Deshalb ist das so wichtig. Deshalb kommen wir in dieser Debatte auch immer wieder auf das EDV-Programm zurück. Erst am 19. Mai, in wenigen Wochen, soll eine Risikostudie der Bundesagentur vorliegen, die klärt, ob die Technik überhaupt funktioniert und eingesetzt werden kann. Wenn es bei diesem komplizierten Vorhaben zu Fehlern kommt, dann gilt - so sagt die Bundesagentur; das ist ihr eigenes Eingeständnis -: Es ist kein zeitlicher Puffer mehr vorhanden. Sie befinden sich auf ganz dünnem Eis. Ein Fehler - und Sie brechen ein. Ich wünsche es nicht. ({6}) Ich wünsche es auch den Arbeitslosen nicht. Ich sage Ihnen: Es ist durchaus vorstellbar, dass am 2. Januar kommenden Jahres die Menschen an den Türen der Arbeitsagenturen rütteln, weil sie ihr Geld noch nicht erhalten haben. ({7}) - Sie brauchen nicht so dazwischenzuschreien! - Ich sage Ihnen eines: In den 50 Jahren der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind wir von Volksaufständen Gott sei Dank verschont geblieben. ({8}) Aber wenn Sie so weitermachen, gibt es für die Zukunft keine Garantie. Jetzt komme ich zu einem weiteren ernsthaften Problem: Weil jetzt alle Kraft der Mitarbeiter der Bundesagentur - ich weise an dieser Stelle die Unterstellungen, die Sie ständig aussprechen, nämlich dass wir ihre Leistung nicht würdigen oder ihnen nichts zutrauen würden, zurück - auf dieses Projekt, das erkennbar mit schweren Mängel behaftet ist, konzentriert werden muss, werden die anderen Vorhaben der Hartz-Reformen, die auch Sie so dringend einfordern, insbesondere die Umsetzung der so genannten Hartz-III-Reform, also eine bessere Organisation der Arbeitsämter, nur noch in einer Leichtbzw. Softfassung verwirklicht werden. ({9}) - Logisch, Sie müssen ja alle Kräfte auf Hartz IV konzentrieren. Zum Schluss richte ich deshalb meinen dringenden Appell an Sie und den Cheffluglotsen Wolfgang Clement, der die Verantwortung trägt: Stoppen Sie den Blindflug! Verhindern Sie die Bruchlandung! ({10}) Und tun Sie alles, dass aus Hartz IV nicht eine Maut II wird! ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des Arbeitsmarktes stagniere, ist zu hören. Die Einführung des so genannten Arbeitslosengeldes II zum 1. Januar 2005 sei gefährdet. Noch immer sei unklar, ob und wie die Kommunen und die Bundesagentur für Arbeit zusammenwirken sollen. Obendrein gebe es auch noch Softwareprobleme. - Das sind - wie ich finde: zu Unrecht - die Schlagzeilen der letzten Tage. Wir haben nämlich kein Softwareproblem, sondern wir reden über ein Hardcoreprogramm, ({0}) das Millionen Arbeitslose, potenzielle Arbeitslose und deren Angehörige in die Armut treiben wird. Das ist das eigentliche Thema, und nicht, wer dann das Ganze mit welcher Software durchführt. ({1}) Sie wissen, dass die PDS gegen diese so genannte Arbeitsmarktreform ist. Sie firmiert unter dem Namen Hartz und ist Teil der Agenda 2010. Erst vor wenigen Wochen haben eine halbe Million Menschen bundesweit dagegen demonstriert; wie ich finde, zu Recht. Nun staune ich allerdings, dass sich, wie man lesen kann, Kronzeugen zu Wort melden, von denen ich das gar nicht erwartet hätte, nämlich die viel zitierten Wirtschaftsweisen. Sie haben gestern ihren Jahresbericht vorgelegt. Eine Aussage in diesem Bericht lautet: Die Agenda 2010 hat keine Besserung gebracht; sie schuf massenhafte Verunsicherung; sie belastet den Binnenmarkt; sie bremst das Wachstum und schafft keine Arbeitsplätze. Das sind starke Worte, allemal dann, wenn man sie an den großspurigen Versprechungen im Zusammenhang mit Hartz misst. Da war nämlich noch von einer drastischen Senkung der Arbeitslosigkeit die Rede. ({2}) Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Sie sprechen nicht für Rot-Grün - im Gegenteil. ({3}) Nun wollen Sie trotz alledem das Arbeitslosengeld II einführen. Auch wenn wir gemeinsam die einschlägigen Tabellen rauf- und runterrechneten, kämen wir für Familien mit Kindern, für Alleinstehende, für Ältere im Westen oder Jüngere im Osten immer wieder zu demselben Ergebnis: Sie greifen Bedürftigen in die Tasche. Sie gehen sogar ans Ersparte. Sie zwingen Arbeitslose in unterbezahlte Jobs und drohen ihnen obendrein mit Strafen. Doch damit nicht genug: Sie drehen generell an der Lohnspirale. Betroffen sind also nicht nur die Arbeitslosen, sondern alle, die jetzt noch Arbeit haben. Oder mit den Worten des DGB-Chefs Sommer, der dieses in dieser Woche auf den Punkt brachte: Sie benehmen sich so, als sei Arbeit Dreck. Ein Wort noch an den Kollegen Singhammer. Sie haben sich ja eben zum Anwalt der Langzeitarbeitslosen aufgeschwungen. ({4}) Sie haben nur vergessen, dass Sie sich freudig an diesem Klau von Sozialleistungen beteiligt haben, indem Sie am 19. Dezember der Einführung des Arbeitslosengeldes II für Menschen an der Armutsschwelle zugestimmt haben. ({5}) Kurzum: Es spricht sehr viel dafür, die Tätigkeit der Bundesagentur für Arbeit den neuen Bedingungen anzupassen. Aber die Vorhaben, die genau dieses Ziel verfolgen, etwa entsprechend ausgestattete moderne Jobcenter, schieben Sie auf die lange Bank. Die Repressionen gegenüber Arbeitslosen wollen Sie zugleich aber forcieren. Sie meinen noch, das sei ein ehrgeiziges Ziel. Ich finde, das ist nicht ehrgeizig, sondern eher ehrabschneidend. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Doris Barnett, SPDFraktion.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind die Guten, wir haben es angepackt: Doppelstrukturen weg! Denn die Experten der Hartz-Kommission empfahlen vor knapp zwei Jahren die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Damals, im August 2002, waren wir uns einig, dass das der richtige Ansatz ist. Der Rahmen für die Reformen ist also schon lange klar, und zwar allen Beteiligten: Bund, Ländern und Kommunen. Der Vorschlag hatte damals mit Option nichts am Hut, wie Sie eigentlich wissen müssten, sondern es wurde klar und eindeutig von der Hartz-Kommission formuliert, dass die BA ({0}) die Zuständigkeit haben und die Betreuung im Jobcenter erfolgen sollte. Ziel unseres Gesetzentwurfes ist und bleibt, dass wir die Kenntnisse und Erfahrungen der Akteure am Arbeitsmarkt nutzen, um eine Absenkung der Arbeitslosigkeit zu erreichen und aus Leistungsbeziehern Erwerbstätige zu machen, die möglichst keinerlei Unterstützung mehr bedürfen. Aber nach fast zwei Jahren sollen wir noch immer nicht dürfen können, weil Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, die Augenhöhe nicht passt. Sie verbelzebuben die Arbeitsgemeinschaften zwischen Kommunen, deren Beschäftigungsgesellschaften und den Arbeitsämtern, obwohl diese schon lange, zum Teil seit Jahren, sehr gut funktionieren. Fragen Sie doch einmal in Köln nach, ob sie sich als Büttel der BA fühlen! Außerdem erinnere ich an die Ausführungen des Vertreters des Deutschen Städtetages in der Anhörung, der darauf hingewiesen hat, dass bei der Zusammenlegung der Aufgaben der Sozial- und Arbeitslosenhilfe Kooperation Grundbedingung ist, weil es keiner Seite allein möglich ist, diese Herkulesaufgabe zu schultern. Aber auch wenn eine Kommune optiert - das soll sie ja, wenn sie es will -, würde sie für viele Aufgabenstellungen des SGB III im Unterverhältnis die Agentur für Arbeit beauftragen müssen. Oder glauben Sie allen Ernstes, die Sozialämter vermitteln die Arbeitssuchenden dann bundesweit? Denn darauf haben die Empfänger des Arbeitslosengeldes II Anspruch. Also läuft das echte Leben auch unter dieser Annahme wieder auf eine Arbeitsgemeinschaft hinaus. Ich will damit aufzeigen, dass wir uns der Optionsmöglichkeit der Kommunen nicht verschließen, dass aber die Lebenswirklichkeit nicht immer so ist, wie es sich manche vorstellen, dass es nämlich möglich sei, die Option in Reinform zu praktizieren. Denken Sie doch nur daran, dass es neben den Arbeitslosenhilfeempfängern auch noch Arbeitslosengeldempfänger gibt. Diese bleiben auf jeden Fall im Zuständigkeitsbereich der Arbeitsagentur. Aber auch in diesem Fall müsste eine vernünftige Kommune, selbst wenn sie optiert, ein Interesse daran haben, diese schnellstmöglich zu vermitteln, damit sie nicht erst zu ihren Arbeitslosengeld-II-Kunden werden. Auch deshalb würde hier eine Schnittmenge entstehen, die deutlich für eine Arbeitsgemeinschaft spricht. Weil die Eventualitäten des Lebens vielfältiger sind, als man es vernünftigerweise in ein Gesetz schreiben sollte, kann ich trotz Ihrer ablehnenden Haltung nur dafür werben, mit uns das jetzt vorliegende Optionsgesetz zu beschließen und die Akteure endlich an die Arbeit zu lassen. ({1}) Weil wir einer flexiblen Handhabung den Vorzug vor schematischer Gleichmacherei geben, werden wir jede vernünftige Lösung fördern. Die guten Beispiele, die es bereits gibt - zum Beispiel in Köln und Düsseldorf -, können Pate stehen und helfen, viele Detailfragen zu klären. Dann kommen wir auch mit unserem eigentlichen Ziel, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, schneller vorwärts. Bei den Debatten in den letzten Tagen hatte ich allerdings eher den Eindruck, wir streiten über bürokratische Details und Vorurteile gegenüber den jeweiligen Fähigkeiten der Verwaltungen - natürlich ist die eigene immer die bessere -, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass man auf Kompetenzzuwachs hofft. Aber eigentlich muss es uns doch darum gehen, dem arbeitslosen Menschen zu helfen. Da nützt es nichts, durch Verschiebung des Gesetzes so zu tun, als könne man durch Zuwarten möglicherweise noch bessere Lösungen finden - in zwei, drei oder fünf Jahren, wann auch immer, wahrscheinlich nach der Bundestagswahl. Wir brauchen die Instrumente wie Jobcenter jetzt. Die Menschen wollen jetzt vermittelt werden, sie wollen jetzt in Arbeit oder Fortbildung und dabei interessiert es sie herzlich wenig, ob ihr Gegenüber von der Agentur für Arbeit, von der Stadtverwaltung oder von der Kreisverwaltung kommt. Aber so soll es ja nicht sein. Zuerst will die Opposition geklärt haben, wie das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu interpretieren ist, nämlich so, wie die CDU/CSU es in ihrem Gesetzentwurf vom September 2003 geschrieben hat: „Zuweisung aller Vermittlungs-, Beratungs- und Leistungsaufgaben an die kreisfreien Städte und Landkreise“. So steht es in Ihrem Gesetzentwurf. Dieser sah damals eine Grundgesetzänderung vor. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was in dem Hartz-Papier steht. Aber in der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses - vielleicht lesen Sie die einmal, Herr Niebel - wird bezüglich der Option der kommunalen Träger bestimmt, dass das Nähere ein „Bundesgesetz“ regelt - so, wie die Hartz-Kommission es vorgeschlagen hat. Im fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag zum Ergebnis des Vermittlungsausschusses vom 18. Dezember 2003 fordern Sie mit uns erneut, dass die Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfs zu erfolgen habe. Von einer Grundgesetzänderung war wieder weit und breit nichts zu lesen. Wenn Sie hier jetzt mit Entrüstung behaupten, wir hielten uns nicht an Absprachen, dann ist das schon verwunderlich. Denn Sie tun so, als hätten wir tatsächlich über eine Grundgesetzänderung gesprochen. Es waren aber die B-Länder, die Ihre Forderungen letztendlich ablehnten. Es trifft nicht zu, dass die Kommunen zu Bittstellern der Bundesagentur werden. Auch hier hilft ein Blick in das von uns gemeinsam verabschiedete Papier vom 18. Dezember. Dort wird eindeutig über Zielvereinbarungen mit den Kommunen gesprochen. Genau das, was Sie im Dezember letzten Jahres mit uns beschlossen haben, stellen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, jetzt mit Ihrem Entschließungsantrag infrage. Ihr Ziel ist und bleibt ganz offensichtlich, auf Biegen und Brechen zu verhindern, dass wir Erfolg damit haben, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Darum geht es Ihnen in Wirklichkeit. Mit dem von uns vorgelegten Gesetz, das Sie im Bundesrat verhindern wollen, haben wir den Kommunen die Möglichkeit an die Hand gegeben, im Rahmen einer Zielvereinbarung arbeitslose Menschen in Beschäftigung zu bringen. Jeder, der etwas von Politik und Taktik versteht, begreift, um was es Ihnen geht. Ihnen geht es nicht um die Optionsmöglichkeit, die Herr Koch für ganz Hessen und nicht nur für den Main-Kinzig-Kreis hätte haben können. Er hat sie nicht gewollt und hat bis heute nicht gesagt, warum. ({2}) Sie wollen blockieren, weil Sie Angst haben, dass wir Erfolg haben könnten. Deswegen sage ich Ihnen: Tun Sie sich selbst einen Gefallen und stimmen Sie zu! Dann können Sie den Erfolg mit uns teilen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Wolfgang Meckelburg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich laufe jetzt Gefahr, ähnlich schnell zu reden wie Frau Barnett, weil ich ebenfalls einige Zettel mehr habe, als ich für meine Rede brauchen werde. ({0}) Ich will als letzter Redner unserer Fraktion und auch als letzter Redner in dieser Debatte den Versuch unternehmen, die Argumente zu bündeln, die gegen das sprechen, was heute verabschiedet werden soll. Ich habe aus der „WAZ“, einer großen Zeitung im Ruhrgebiet, einen Artikel von vorgestern mitgebracht. ({1}) - Man müsste einmal nachschauen, wem sie gehört. Darin steht, dass in den Städten schon das Wort von der Maut II kursiert. ({2}) Genau diese Diskussion läuft zurzeit in den Kommunen und Städten. Wenn Sie mit Sozialhilfeträgern reden, dann können Sie die Einschätzung hören, dass die Gefahr besteht, dass die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe am 1. Januar 2005 ähnlich schlimm ausgeht wie die Einführung der Maut. Wir haben jetzt aber noch etwas Zeit, darüber zu reden, ob wir wirklich die Vernunft ausschalten und uns sehenden Auges in diese Gefahr begeben wollen. Die beste Lösung wäre, wenn Sie heute sozusagen kurz vor dem Zieleinlauf den Gesetzentwurf zurückziehen würden, weil er in dieser Form nicht tauglich ist. ({3}) Ich konnte eben fast den Eindruck gewinnen, dass Rot und Grün die Urheber des Themas Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind. Es hat lange gedauert, bis Sie sich zu einer Zusammenlegung entschlossen haben. Sie haben in der letzten Legislaturperiode mehrere entsprechende Anträge von uns abgelehnt. Seit Hartz ist diese Politik aber hoffähig geworden. Das ist auch gut so. Es besteht jetzt breite Übereinstimmung darin, dass dieses Vorgehen sinnvoll ist. Dennoch sind wir in vielen Fragen nicht einer Meinung. Ich will in diesem Zusammenhang drei Punkte ganz deutlich ansprechen. Erster Punkt. Uns war schon während der Beratung in der letzten Legislaturperiode klar, dass wir nur dann zu einer Lösung kommen werden, wenn Sie die Kommunen im Boot haben und wenn Sie den Kommunen nicht das Gefühl geben, dass ihnen eine Aufgabe zugeschustert wird, die sie selbst zu finanzieren haben. Genau diese Diskussion findet zurzeit statt. Es geht also um die Frage, ob - wie versprochen - die Kommunen um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden oder ob sie - damit rechnen sie - mit 5 Milliarden Euro belastet werden. Das ist ein Unterschied von 7,5 Milliarden Euro. Es wäre gut gewesen, wenn wir heute darüber Klarheit geschaffen hätten. Das gilt nicht nur für das Optionsmodell, sondern auch für das andere diskutierte Modell. Herr Minister, man kann Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie in einem Interview gesagt haben, dass wir zu den finanziellen Auswirkungen eine Verständigung im Vermittlungsverfahren erreicht hätten. Dies sei im Nachhinein von den Kommunen angesichts der finanziellen Dimensionen infrage gestellt worden. Sie haben ferner die Ansicht geäußert, dass die Kommunen 5 Milliarden Euro mehr vom Bund haben wollten, als es im Vermittlungsverfahren vereinbart worden sei. Das ist schlicht und einfach falsch. Es ist eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro vereinbart worden. Dabei geht es nicht um Nachforderungen, sondern um eine richtige Berechnung. Es wäre schön gewesen, wenn wir heute das Signal ins Land hätten senden können, dass das Geld vorhanden ist. ({4}) Ein weiterer Punkt betrifft die Organleihe. Der geschätzte Kollege Laumann hat eben aus der Anhörung zitiert. Sie können das nennen, wie Sie wollen. Eine kommunale Trägerschaft mit einem eigenen Handlungsspielraum, wie es im Vermittlungsausschuss vereinbart wurde, ist das, was heute verabschiedet wird, nicht. Sie machen die kommunalen Träger in Ihrem Entwurf zu kommunalen Stellen, die zu Organen der Bundesagentur werden. Dies ist letztlich eine Auftragsverwaltung. Wenn Sie einmal in Ihren Antrag hineinschauen, dann finden Sie auf Seite 2 die sehr überzeugende Formulierung von den „zugelassenen kommunalen Stellen“. Das zeigt, wer an wessen Tropf hängt. So stellen wir uns eine kommunale Trägerschaft nicht vor. Den Kommunen bleibt nach diesem Gesetz kaum Spielraum für eine eigenständige regionale Beschäftigungspolitik. Das ist für uns ein wichtiger Grund, Nein zu sagen. Es geht hier nicht um eine Strukturdiskussion, Herr Minister Clement, sondern um die Frage: Wer kann es besser? Ich glaube, wir können den Kommunen mehr zutrauen, als Sie es in Ihrem Gesetz vorsehen. ({5}) Ich frage mich wirklich: Warum versucht Rot-Grün mit aller Macht, eine zentralstaatliche Lösung durchzusetzen? Wir haben doch gute Erfahrungen; die Kommunen leisten doch Gutes. ({6}) Woher nehmen Sie von Rot-Grün eigentlich die Zuversicht, dass die Bundesagentur für Arbeit das alles besser kann? Sie war schon früher für 2 Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger und für die Langzeitarbeitslosen zuständig. Die Zahlen sind doch nicht zurückgegangen; sie sind angestiegen. ({7}) Jetzt kommen noch mindestens 1,2 Millionen erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger hinzu. Warum soll das über die Bundesagentur für Arbeit besser gehen? Frau Barnett, warum lernen wir nicht - wir haben das auch an anderen Stellen versucht - von den Niederlanden ({8}) - nein, wir tun es gerade nicht -, die als ein kleineres Land mit 14 Millionen Einwohnern den Kommunen die Trägerschaft überlassen, und zwar mit der Begründung, dass ein Land mit 14 Millionen Einwohnern für eine zentrale Stelle zu groß sei. Wir erlauben uns mit 82 Millionen Einwohnern genau das Gegenteil; wir machen daraus eine Mammutveranstaltung. Dies ist falsch und bedeutet über 40 000 Mitarbeiter mehr. Wir sind nicht im Zeitplan. ({9}) - Nicht abwarten. - Damit es klar ist: Wir haben am 18. Dezember 2003 als Ergebnis eines Vermittlungsverfahrens gemeinsam beschlossen, dass Sie bis Ende Februar 2004 einen Gesetzentwurf vorlegen. Ich stelle fest: Der erste Punkt, der Termin, wurde nicht eingehalten. Dann steht dort unter Punkt 1: Falls das Bundesgesetz nicht bis Ende April in Kraft getreten ist - es wird heute verabschiedet; aber es tritt nicht in Kraft; das heißt, man hat keine genaue Gewissheit, was möglich ist -, sind die Fristen entsprechend anzupassen. Es ist der 31. August 2004 genannt worden, bis zu dem sich die Kommunen entscheiden sollen. ({10}) Was passiert hier eigentlich? Die Frist vorne wird immer länger und die Frist hinten immer kürzer. Welche Kommunen sollen sich angesichts eines so kurzen Zeitfensters denn wirklich für ein solches Modell entscheiden? Wir haben in diesem Zeitraum acht Kommunalwahlen. Zusätzlich wird am 26. September in Nordrhein-Westfalen gewählt. In Phasen, in denen Wahlen anstehen, können Sie den Räten solche grundlegenden Entscheidungen nicht zumuten. Deswegen ist die Frage, wann was in Kraft tritt, eine Frage, die uns sehr bewegt. ({11}) - Lassen Sie die Verdrehung meines Namens! Das kenne ich schon aus dem Rat der Stadt Gelsenkirchen. Das war vor 20 Jahren. Das brauchen Sie nicht zu wiederholen; das ist nicht neu. ({12}) Meine Damen und Herren, es wäre schön gewesen, heute zur Verabschiedung des Gesetzes hier im Bundestag einmal wirklich alle Fragen geklärt zu haben: die Finanzierung, die Frage der eigenständigen kommunalen Trägerschaft, die Zeitschiene. Können Sie sich, meine Damen und Herren von Rot-Grün, überhaupt noch vorstellen, welches Signal es für Deutschland wäre, wenn Sie endlich einmal ein bis zu Ende gedachtes und in sich stimmiges Konzept mit einem Schlag durchbrächten, ({13}) wenn Sie heute bei der Verabschiedung Sicherheit für die Kommunen und hinsichtlich der Finanzen schaffen würden? Sie bekommen das nicht hin. Dies alles bleibt Stückwerk. Es entsteht Verunsicherung nach dem heutigen Beschluss. Deswegen haben wir als Fraktion der CDU/CSU einen Entschließungsantrag eingebracht ({14}) - genau, zusammen mit der FDP -, in dem wir die Bundesregierung in vier Punkten auffordern, das Kommunale Optionsgesetz so umzugestalten, dass erstens die optierenden Kreise und kreisfreien Städte tatsächliche Träger werden - das sind sie nämlich jetzt nicht - und in Eigenverantwortung die Aufgaben erfüllen können, die in diesem Gesetz vorgesehen sind, dass Sie zweitens eine verfassungskonforme Regelung vorlegen, wodurch den Kommunen entsprechend dem Entschließungsantrag direkt vom Bund Geldmittel an die Hand gegeben werden, dass drittens bei den Mitteln für Verwaltungs- und Eingliederungspauschalen auskömmliche Summen, das heißt höhere als bisher, ausgewiesen werden und dass Sie viertens durch gegebenenfalls notwendige Gesetzesänderungen sicherstellen, dass den Kommunen tatsächlich die zugesagten Einsparungen von jährlich 2,5 Milliarden Euro verbleiben. ({15}) Wenn Sie das alles heute schon geschafft hätten, wären wir einen wichtigen Schritt weiter. Das wäre ein Signal: Jetzt geht es richtig los. Wir wären dabei. Aber Sie haben es wieder nicht geschafft. ({16}) Deswegen wird die Sache den Weg gehen, den sie gehen muss. Jedenfalls werden Sie das heute alleine verabschieden müssen. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Nun geht es wirklich los. Denn wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch auf Drucksache 15/2816. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 15/2997, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/3005. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Tagesordnungspunkt 5 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/2997 zum Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Verabschiedung eines Optionsgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, diesen Antrag auf Drucksache 15/2817 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Schmidt ({0}), Ulrich Adam, ErnstReinhard Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr - Drucksache 15/2824 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich dem ersten Redner das Wort erteile, wäre ich dankbar, wenn wir den üblichen Wechsel in der Besetzung der beteiligten Kolleginnen und Kollegen erstens möglichst zügig und zweitens möglichst geräuschlos vornehmen könnten. Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bei dem vorliegenden Antrag „Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr“ handelt es sich nicht um ein dahingeschriebenes Blatt Papier, sondern um eine zentrale Problematik, die sich in diesem Jahr mehr und mehr zeigt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen wieder einmal auseinander. ({0}) Wie wird die Zielsetzung, die letztes Jahr verkündet wurde, in diesem Jahr umgesetzt? Da sind große Fragezeichen zu setzen. Gründe dafür sind die pure Finanznot und vielleicht auch ein Schuss Ideologie: Die Frage der Landesverteidigung soll ad acta gelegt werden. Christian Schmidt ({1}) Ich erlaube mir, Ihnen nach dem Prinzip „Schlag nach bei Struck“ vorzulesen und in Erinnerung zu rufen, was der Verteidigungsminister, dem wir, Herr Staatssekretär, von hier aus alles Gute und gute Besserung wünschen ({2}) - schon wieder im Einsatz -, in den Verteidigungspolitischen Richtlinien geschrieben hat, die ich mit Interesse gelesen habe - ich zitiere -: Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption. Nationale Sicherheitskonzeption heißt nicht Ressortkonzeption, sondern dass sich alle zusammensetzen und überlegen, was sie tun müssen, können und sollen, damit unser Land sicher bleibt und unsere Bürgerinnen und Bürger vor den drohenden Gefahren zum Teil völlig neuer Art, die wir noch vor zehn oder 15 Jahren für völlig unmöglich gehalten haben, geschützt werden. Das heißt auch, dass man von dem, was bis vor 15 Jahren war, Abschied nehmen muss. Natürlich geht es dabei nicht um das, was früher Territorialverteidigung hieß, also so zu tun, als ob es darauf ankäme, anstürmende fremde Heere zu bekämpfen und zu domestizieren. Es geht vielmehr um die Frage - dies erfordert schon ein Stück Mitdenk- und Handlungsbereitschaft und -fähigkeit -, wie ich mit dem Potenzial, das ich aus diesen Zeiten habe, umgehe, ob ich im Sinne einer destruktiven Zerstörung sage: Ich verscherbel das alles, tue es weg und dann fangen wir neu an. - Das ist vergleichbar mit dem, was

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Wir kassieren die Rentenreform von CDU/CSU und FDP erst einmal und dann bekommen alle wieder Geld. Es hat bis zum Februar des nächsten Jahres - 1999 - gedauert, als er zugeben musste, dass er kein Geld für eine Rentenerhöhung in der Kasse hatte. - Genau diese Gefahr scheint bei der Bundeswehrreform auch zu bestehen. Das ist angesichts der jetzigen Situation problematisch, da am 11. März dieses Jahres eine Illusion ausgeräumt worden ist, die Illusion nämlich, Europa könnte von den neuen Gefahren, insbesondere des Terrorismus, verschont bleiben. Unser Land ist auch vorher nicht davon verschont geblieben und deswegen müssen wir in eine internationale Koalition gegen den Terror eintreten. Wir müssen unseren Beitrag leisten. Das tun wir: in Afghanistan und auch woanders. Hierfür gilt immer wieder unser Dank den Soldaten, die einen Anspruch darauf haben, dass sie eine entsprechende Ausstattung bekommen und behalten. Die andere Frage ist aber: Wie gehen wir mit den Risiken um, die unser eigenes Land betreffen? Müssen wir uns darauf vorbereiten? Diese Fragen sind eigentlich durch die Verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministers beantwortet worden. Seine Antwort lautet: nationale Sicherheitskonzeption. Ich sage: Ja, er hat Recht. Wir nennen das Gesamtverteidigungskonzept. Das ist das, was wir wollen. Aber worin besteht denn dieses Konzept? Bislang hat sich lediglich der Bundesinnenminister dahingehend geäußert, dass man eine gemeinsame Übung mit THW, BGS und Bundeswehr machen könnte, um zu klären, wie die so genannte zivil-militärische Zusammenarbeit funktioniert. Was muss man denn da üben? Ist die Bundeswehr überhaupt notwendig? Dazu möchte ich wieder zitieren - es geht um die Frage der Landesverteidigung und bedrohliche Entwicklungen in unserem eigenen Lande -: Sie kann den Einsatz deutlich umfangreicherer eigener Streitkräfte erfordern. Angesichts der sicherheitspolitischen und strategischen Lage können die hierfür erforderlichen zusätzlichen Kräfte zeitgerecht wieder aufgestellt werden. Es ist interessant, das zu hören. Ich bekomme allerdings einen anderen Eindruck von den Strukturen, die wir bisher als Territorialverteidigung kennen. Aus heutiger Sicht kann man übrigens über die Frage nachdenken, ob es damals richtig war, die Verteidigungskreiskommandos abzuschaffen. ({0}) Sie haben die Zusammenarbeit zwischen den zivilen Stellen und den Katastrophenschutzorganen der Bundeswehr in hervorragender Weise sichergestellt. Wenn ich das, was der Generalinspekteur vor kurzem hierzu gesagt hat, richtig verstanden habe, sollen in diesem Bereich im Sinne einer Föderalisierung Änderungen vorgenommen werden. ({1}) Ich habe schon gedacht, mit dem Begriff „Föderalisierung“ werde versucht, vor allem die Bayern zu ködern; denn Föderalismus wird hier als etwas Positives betrachtet. Das wird selbstverständlich auch in anderen Bundesländern so gesehen. Aber was steckt hinter „Föderalisierung“? Dahinter steckt die Absicht, die flächendeckende Struktur, die notwendig ist, um zivil-militärische Zusammenarbeit überhaupt zu organisieren, durch einen Verbindungsoffizier bei den jeweiligen Landesregierungen zu ersetzen, der dann, mit einem PC ausgestattet, eine Art virtuelle Sicherheit organisieren kann. Mehr kann er aber nicht tun. Das ist das Problem, das uns unruhig schlafen lässt. ({2}) Es geht auch um ein anderes Problem, das man an einigen Stellen nachlesen kann: Ich meine die Umsetzung von Erfahrungen in die VPR: Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder. Christian Schmidt ({3}) Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung habe ich aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesministers der Verteidigung zitiert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, darf ich Sie zwischendurch darauf hinweisen, dass nach den überarbeiteten Richtlinien unserer Geschäftsordnung für Zitate keine Genehmigung mehr erforderlich ist? ({0}) Es wäre allerdings schön, wenn sie authentisch wären. ({1})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, da es mir nicht zusteht, die Sitzungsleitung in irgendeiner Weise zu kommentieren, möchte ich das so aufgefasst wissen, dass ich als jemand, der im besten Sinne konservativ ist, Traditionen, die sich gut entwickelt haben und nicht verzichtbar sein sollten, fortführen will. Das möchte ich nicht nur auf die Verteidigungskreiskommandos übertragen. - Ich habe Ihren Hinweis zur Kenntnis genommen. Zurück zum Thema. Ich meine, das darf aber nicht heißen, dass die Reservelazarettstrukturen nicht angepasst, sondern schlichtweg aufgelöst werden und dass die Aufwuchsfähigkeit bzw. die Rekonstitutionsfähigkeit, die mehrfach zitiert wurde, eigentlich nirgendwo widergespiegelt wird. Wie sieht eigentlich das Reservistenkonzept aus? Welche Rolle sollen Reservisten in Zukunft spielen? Welche Vorbereitungen wurden für die Risiken getroffen, die uns drohen? Über diese Fragen muss diskutiert werden. Ich hoffe, dass in der Konzeption der Bundeswehr, die wir in den nächsten Wochen erwarten, auf diese Fragen - da habe ich allerdings große Zweifel - vernünftige Antworten gegeben werden. Ich hoffe, dass das getan wird und dass die Verantwortlichen im Verteidigungsministerium wissen, wovon sie reden. Sie sind nicht unter der Knute des Finanzministers und anderer und können nicht daran gehindert werden, das aufzuschreiben, von dem sie wissen, dass sie es eigentlich aufschreiben und umsetzen müssten. ({0}) Deswegen hoffe ich, dass wir jetzt nicht den zweiten Schritt vor dem ersten oder sogar einen falschen Schritt tun. Das heißt, wir müssen die notwendigen Debatten führen und uns im Dialog darüber einig werden, wie unser Land zu sichern ist und wie wir uns zukünftig im Zusammenspiel aller Kräfte gegen neue Gefahren wappnen können. Es ist nicht zulässig und nicht sinnvoll, Strukturen aufzugeben, die in ihrer jetzigen Form nie mehr wiederherzustellen sind. Diese Strukturen zu erhalten ist das Hauptanliegen unseres Antrags. Ich bitte Sie alle, diesem Antrag zuzustimmen. Er beschreibt die Notwendigkeit seriöser Politik, die die Grundlage dafür schafft, das, was Transformation der Bundeswehr genannt wird, in Zukunft in einer vernünftigeren Art und Weise zu organisieren. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow das Wort.

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der CDU/CSU und auch die zum Teil bedeutungsschwangere Rede des Kollegen Schmidt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir das, was Sie wollen, insbesondere nach dem 11. September 2001, schon längst verfolgen: Wir gewährleisten umfassende Sicherheit nach innen und nach außen. Wir werden dabei aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der antragstellenden Fraktion, keinesfalls dem von Ihnen verfolgten Ansatz folgen, die bewährte, grundgesetzlich gewollte, klare Trennung zwischen Strukturen und Zuständigkeiten der inneren und der äußeren Sicherheit aufzuweichen. ({0}) Wir machen keineswegs bei der Absicht der CDU/CSU mit, die Bundeswehr zum Lückenfüller für Aufgaben zu machen, die in erster Linie andere Institutionen, wie zum Beispiel die Polizeien der Länder, wahrzunehmen haben. ({1}) Die Bundesregierung begegnet den absehbaren inneren und äußeren Herausforderungen und Risiken mit einer vorbeugend angelegten, ressortübergreifenden Politik. Diese beinhaltet auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte sowie Stabilität und Sicherheit notfalls mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Für die Bundeswehr bleibt die Verteidigung Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung der zentrale und eigentliche verfassungsrechtliche und politische Auftrag. Verteidigung beschränkt sich im Sinne des Grundgesetzes jedoch nicht nur auf die Verteidigung an den Landesgrenzen, sondern fängt dort an, wo Risiken und Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten entstehen. Um diese Fähigkeiten zu erreichen und weiter auszubauen, wurde die Bundeswehrreform des Jahres 2001 auf den Weg gebracht, die wir jetzt mit dem von Verteidigungsminister Dr. Struck eingeleiteten Transformationsprozess fortsetzen. Hierzu richten wir die Bundeswehr klar auf die Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus aus. Nun im Einzelnen zu den von Ihnen aufgeworfenen Problempunkten. Ich gehe zunächst auf die Aspekte des Heimatschutzes ein. Die Behauptung, wir würden diese Aspekte unberücksichtigt lassen, geht ins Leere. Vielmehr hat der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger eine neue, umfassende Bedeutung gewonnen. Diese Kernaufgabe umfasst neben der derzeit eher unwahrscheinlichen Aufgabe der Landesverteidigung im herkömmlichen Sinn auch den Schutz der Bevölkerung und von lebenswichtiger Infrastruktur vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen. Dies gehört im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben zum subsidiären Aufgabenspektrum der Bundeswehr, hierzu stehen im Bedarfsfall entsprechende Kapazitäten zur Verfügung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es steht doch außer Frage, dass die Bundeswehr im Rahmen des geltenden Rechts wie bisher auch künftig immer dann zur Verfügung stehen wird, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt oder der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie wichtiger Infrastruktur allein durch die Bundeswehr geleistet werden kann. ({2}) Die Bundeswehr ist wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft in der Lage, subsidiär die für diese Aufgaben zuständigen Innenbehörden von Bund und Ländern zu unterstützen. Auch in den neuen, im weiteren Transformationsprozess einzunehmenden Strukturen der territorialen Kommandobehörden wird die Bundeswehr die Zusammenarbeit mit den Bundesländern, den Regierungsbezirken, den kreisfreien Städten und den Landkreisen sicherstellen. Mehr noch, Herr Kollege Schmidt: Die Unterstützung des Krisenmanagements auf Regional- und Kommunalebene wird durch optimierte Fähigkeiten der Bundeswehr zur zivil-militärischen Zusammenarbeit künftig verbessert werden. Deswegen geht Ihr Hinweis auf lediglich virtuelle Sicherheit bei der praktischen Gestaltung der Umsetzung ins Leere. ({3}) Der verehrte Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr sitzt in der ersten Reihe und schaut mich freundlich an; er wird nachher auch reden. Lieber verehrter Herr Kollege Beck, Reservistinnen und Reservisten werden auch künftig einen hohen Stellenwert einnehmen; wir sind uns darüber einig. Wir wollen dieses qualifizierte und motivierte Personal, das ein wichtiges Potenzial darstellt, sowohl bei Einsätzen im Inland als auch bei Auslandseinsätzen noch besser nutzen. Mit der neuen Konzeption betreffend die Reservistinnen und Reservisten wird auch deren kurzfristige Einberufung zur Hilfeleistung bei Katastrophen und schweren Unglücksfällen im Inland möglich. Zur Reservelazarettorganisation. Hier möchte ich mit einer Mär aufräumen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir die Anteile der Reservelazarette, die dem Schutz der Bevölkerung im Falle von Katastrophen oder Anschlägen dienen, auch weiterhin erhalten. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß - ich gehe davon aus, dass die sehr geschätzte Frau Kollegin Lietz in dieser Debatte noch das Wort dazu ergreifen wird -, dass diese fachärztlichen Komponenten, die das zivile Gesundheitswesen im Bedarfsfall in dem entsprechenden Brennpunkt verstärken können, auch weiterhin zur Verfügung stehen werden. Die Reservistinnen und Reservisten des Sanitätsdienstes werden auch künftig eine wichtige Rolle spielen. Durch eine engere Anbindung an aktive Einheiten und Verbände, die sie bei ihren gesamten Aufgaben im In- und Ausland unterstützen sollen, wird ihr Potenzial noch wirksamer ausgeschöpft werden können. Ein Wort zum Thema Bundeswehrkrankenhäuser. Sie sind auf dieses Thema zwar nicht eingegangen, aber ich möchte dazu etwas sagen, weil man ständig in den Zeitungen darüber liest. Da der Umfang der Bundeswehr sinkt, muss man natürlich auch die Bettenzahl anpassen und entsprechend reduzieren. Der Bedarf an ärztlichem und nicht ärztlichem Klinikpersonal leitet sich aus der nationalen Zielvorgabe für die Einsätze der Bundeswehr ab. Die fachgerechte Ausbildung des Klinikpersonals und dessen Übung ist bei strukturbedingt rückläufigen Fallzahlen nur mit einer ausreichenden Anzahl ziviler Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Deswegen werden wir Bundeswehrkrankenhäuser in ausreichender Größe im geeigneten regionalen Umfeld realisieren. Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Auch auf dieses Thema sind Sie, Herr Kollege Schmidt, nicht eingegangen. Es ist wichtig, dass Ihr Antrag umfassend betrachtet wird und dass auch dessen Schwächen deutlich herausgearbeitet werden. Es ist künftig nicht mehr erforderlich, dass eine solch große Anzahl nicht aktiver Truppenteile besteht wie bisher. Diese große Anzahl hat sich nämlich aus der früheren Aufgabe der Landesverteidigung aufgrund der groß angelegten Aggression aus dem Osten hergeleitet, die heute aber nicht mehr gegeben ist. Diese Überkapazitäten werden unter den heutigen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen eindeutig nicht mehr benötigt. Künftig werden die freiwillig beorderten Reservistinnen und Reservisten sehr zielgenau und damit wesentlich effizienter als bisher besonders im Hinblick auf ihre zivilberuflichen Qualifikationen und Spezialkenntnisse zur Ergänzung der Fähigkeiten der aktiven Truppe genutzt werden. Mit dem derzeit laufenden Transformationsprozess wird die Bundeswehr auf einen Kurs gebracht, der unserer Meinung nach operationell geboten, betriebswirtschaftlich vertretbar, haushalterisch zu beherrschen, rüstungswirtschaftlich sinnvoll und insgesamt zukunftsfähig ist. Die Bundeswehr wird zielgerichtet auf die künftig wahrscheinlichen Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus ausgerichtet. Die künftig bereitgehaltenen Kapazitäten der Bundeswehr werden für ihre jeweiligen Einsätze richtig ausgebildet und ausgerüstet und im Rahmen des geltenden Rechts auch zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur in Deutschland geeignet sein. Die neu gestaltete Bundeswehr wird damit den Herausforderungen der Zukunft gerecht und wird durch unsere Politik auch künftig in der Lage sein - das ist das Entscheidende -, den Schutz der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Ich danke Ihnen. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema Struktur der Bundeswehr. Morgen werden wir uns an diesem Ort in einer von der FDP beantragten Aktuellen Stunde mit der Frage der Wehrpflicht beschäftigen. Ich will Ihnen aber schon heute sagen: Wir werden das Thema Aussetzung der Wehrpflicht so lange auf die Tagesordnung setzen, bis die Wehrpflicht auch endlich ausgesetzt wird. ({0}) Dann werden wir eine zukunftsfähige und den Anforderungen gerechte Struktur für die Bundeswehr haben. Meine Damen und Herren, wenn wir uns das einmal genau anschauen, dann sehen wir, dass der Verteidigungsminister das Ende der Wehrpflicht bereits im Visier hat. Es werden jetzt lediglich noch die Rahmenbedingungen für die Entscheidung hergestellt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Gesichtswahrung ist hier offensichtlich angesagt. Politisch kann ich das ja verstehen. Das geht aber zulasten der Angehörigen der Bundeswehr, weshalb das nicht zu tolerieren ist. Dem Generalinspekteur und seinen Planern im BMVg wird ein weiteres Jahr für die Planung entzogen. Das ist aus unserer Sicht unverantwortlich. Die Angehörigen der Bundeswehr haben es verdient, hier endlich Planungsvertrauen und Planungssicherheit zu erhalten. ({2}) Das Thema Wehrpflicht hätte schon längst abgeschlossen sein können. Die Bundesregierung bzw. der damalige Verteidigungsminister Scharping hätte im Jahr 2000 nur die guten Vorschläge der WeizsäckerKommission aufgreifen müssen, die sich weitgehend mit dem bereits 1999 von der FDP-Fraktion vorgelegten Bundeswehrkonzept deckten, und Sie hätten die Aussetzung der Wehrpflicht beschließen müssen. ({3}) Die Anschläge vom 11. September 2001 und vom 11. März 2004 waren grausam und haben uns gelehrt, dass sich die tödliche Gefahr des Extremismus und des Terrorismus regional nicht einschränken lässt. Daher sind die Strukturen der Sicherheitsinstitutionen, wo immer es möglich und sinnvoll ist, auch auf diese Bedrohungen einzustellen. Das soll und kann aber nicht heißen, dass die Bundeswehr auch die Erfüllung von Polizeiaufgaben übernehmen soll. ({4}) Offensichtlich sucht die Union krampfhaft nach einer Legitimation für die Wehrpflicht. ({5}) Die Bundeswehr hat sich mit ihrem Potenzial, zum Schutz und zur Abschreckung gegen eine äußere Bedrohung beizutragen, bewährt. Dabei waren die Polizeien des Bundes und der Länder immer für die innere Sicherheit zuständig. Das muss auch in Zukunft so bleiben. Die Ministerpräsidenten und die Innenminister der Länder, die massiv Stellen bei der Polizei abgebaut haben, sind jetzt gefordert. Herr Kollege Schmidt, gerade Bayern und Nordrhein-Westfalen führen diese Negativliste an. Auch dort sollten Sie ansetzen. ({6}) Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist im Grundgesetz geregelt und hat sich bewährt. Im Rahmen der Amtshilfe - aber auch nur dann - darf die Bundeswehr eingesetzt werden. Auch darauf werden wir in Zukunft achten. ({7}) Die Bürgerinnen und Bürger würden einen Einsatz ihrer wehrpflichtigen Söhne niemals befürworten, wenn diese Selbstmordattentätern oder professionellen Terroristen gegenübergestellt würden. Ich frage Sie: Wollen Sie wirklich den Einsatz junger Wehrpflichtiger zur Terrorismusbekämpfung? ({8}) Wollen Sie die jungen Wehrpflichtigen wirklich nur als billige Wachleute einsetzen? Wir werden dort nicht mitmachen und unterstützen dies nicht. ({9}) Die FDP-Bundestagsfraktion will, dass jede Institution auf ihrem Platz ihren Auftrag erfüllt. Dafür sind die notwendigen Rahmenbedingungen vom Parlament vorzugeben. Wir haben hierzu ein Konzept vorgelegt. Wir brauchen dringend eine große Reform für die Bundeswehr, die diesen Namen auch verdient. Die Bundeswehr muss entschlackt und von so unsinnigen Aufgaben wie zum Beispiel der Fähigkeit zum personellen Aufwuchs auf 500 000 Soldaten befreit werden. Ungeheure Kapazitäten werden vergeudet, um eine Leistung aufrechtzuerhalten, die während des Kalten Krieges zwar von vitaler Bedeutung war, heute jedoch völlig überflüssig ist. Die Struktur, die von Ihnen gefordert wird, bindet Personal und kostet sehr viel Geld. Es geht hierbei um die Beschaffung, Lagerung und Bewachung der Ausrüstung und Bewaffnung für 200 000 zusätzliche Soldaten. Eine Sicherheitsvorsorge dieser Art ist im gegenwärtigen sicherheitspolitischen Umfeld nicht mehr angemessen. Das dafür benötigte Geld sollte sinnvoller zur Nachwuchswerbung, zur besseren Besoldung der Soldatinnen und Soldaten und zur Beschaffung modernster Ausrüstung eingesetzt werden. ({10}) Meine Damen und Herren, die FDP will eine Trennung der zukünftig hochgradig professionellen Einsatzarmee und der Einheiten und Verbände, in denen Reservisten Dienst leisten können. In allen Bundesländern sollten Truppenteile einer so genannten Nationalgarde oder einer Territorialarmee aufgestellt werden, die 60 000 Soldaten umfassen sollte: 5 000 Aktive und 55 000 Reservisten. Diese muss den Status als Teilstreitkraft erhalten, vom BMVg geführt und mit den Bundesländern partnerschaftlich verbunden werden. Sie sollte vorrangig im Bereich der humanitären und Katastrophenhilfe sowie des militärisch relevanten Objektschutzes eingesetzt werden. Die Übernahme polizeilicher Aufgaben soll jedoch nach unserer Meinung nicht Auftrag sein. Diese Territorialarmee müsste auch in der Lage sein, im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt zu werden. Ich denke, die Vorstellungen der FDP sind praktikabel. Sie versprechen, dass die Bundeswehr mit einer endlich soliden finanziellen Ausstattung den Aufträgen gerecht wird und gewappnet ist. ({11}) Ich komme zum Schluss. Herr Kollege Schmidt, es reicht nicht aus, wenn Sie als Opposition an die Bundesregierung nur Forderungen stellen. Die FDP als Oppositionsfraktion hat ein eigenes Konzept aufgestellt. ({12}) Auch Sie als Opposition sind gefragt, hier eigene Konzepte vorzustellen und nicht nur Forderungen an die Bundesregierung zu richten. Ich habe nicht mehr Zeit, um unser eigenes Konzept weiter zu erläutern.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das ist zutreffend, Herr Kollege.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich empfehle Ihnen, unter www.guenthernolting.de nachzusehen. ({0}) Dort können Sie das gesamte Konzept abrufen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der letzte Vorschlag, Herr Kollege Nolting, war sicher gut gemeint, könnte aber die fatale Wirkung haben, dass demnächst mit der Frage zu rechnen ist, ob auf diesem Weg Debatten nicht überhaupt eingespart werden könnten. ({0}) Bis zum Vollzug einer solchen Anregung fahren wir in der Rednerliste fort. Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fürchterlichen Anschläge von Madrid haben besonders deutlich gezeigt, dass auch die europäischen Länder im Visier des internationalen Terrorismus stehen. Man konnte das schon vorher an verhinderten Anschlägen und an einigen aufgedeckten Planungen erkennen. Es wäre eine Illusion, zu meinen, dass Länder, bei denen nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Regierungen gegen den Irakkrieg waren, von Anschlägen ausgenommen wären. Schließlich müssen wir feststellen, dass inzwischen der fortdauernde Irakkrieg regelrecht als Brandbeschleuniger bei dem Entfachen des Feuers des internationalen Terrorismus wirkt. Selbstverständlich ist es die erste Pflicht des Staates, für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der offenen Gesellschaft zu sorgen. Daran kann es keinen Zweifel geben. Hierfür müssen direkte Gefahrenabwehr, Strafverfolgung, Bekämpfung von Unterstützern des Terrorismus und von Nährböden des Terrorismus Hand in Hand gehen. Dazu gehört auch die Vorbereitung auf den nicht auszuschließenden schlimmsten Fall. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministers vom letzten Jahr wird festgestellt, dass auf absehbare Zeit mit einem konventionellen Angriff nicht zu rechnen ist und deshalb die herkömmliche Landesverteidigung nicht mehr akut ist. Aus diesem Grunde könne - so die richtige Schlussfolgerung - auf Strukturen und Fähigkeiten der Bundeswehr verzichtet werden, die ausschließlich für die Landesverteidigung vorgesehen gewesen seien. Selbstverständlich - das ist in den Verteidigungspolitischen Richtlinien deutlich zum Ausdruck gekommen bleibt es Aufgabe der Bundeswehr, zum Schutz des Landes und seiner Bürger beizutragen: erstens im Ausland durch Teilnahme an internationaler Krisenbewältigung, die Auswirkungen auf die Sicherheit Deutschlands hat, zweitens durch Rettungseinsätze und drittens - das ist durch Vorredner schon angesprochen worden - durch Amtshilfe im Innern im Rahmen der bestehenden verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grundlagen, angefangen bei der Katastrophenhilfe bis hin zu Einsätzen zur Luftsicherheit. Vor diesem Hintergrund hat das Verteidigungsministerium die Auflösung der Reservelazarettorganisation als Struktur nur für die Landesverteidigung beschlossen. Die Union behauptet nun, die Reduzierung dieses Teils der Verteidigungsinfrastruktur sei vor allem finanzpolitisch motiviert und beeinträchtige den Schutz der Bevölkerung. Das ist nicht nur falsch, das ist lächerlich. Die Reservelazarettgruppen - zurzeit noch 56 an der Zahl waren immer für die Landesverteidigung gedacht. Sie waren nie für den Katastrophenschutz eingeplant. ({0}) Ihre Mobilisierung würde mindestens drei bis fünf Tage dauern. Um aber Großschadensfällen begegnen zu können - von einem Terroranschlag ganz zu schweigen müssen Stunden genügen. Das muss an einem Tag laufen. Also geht das Angebot dieser Reservelazarette voll an den Anforderungen einer solchen Krisensituation vorbei. Circa 100 Ärzte pro Lazarettgruppe müssten dann aus zivilen Krankenhäusern abgezogen werden. Das heißt, die zivile Krankenversorgung würde dadurch geschwächt. Schließlich wurde das Material dieser Reservelazarettgruppen zuletzt Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre erneuert. Das ganze System verfügt über keine eigenen Fahrzeuge usw. Insofern entspricht dieses System nicht mehr dem Bedarf. Staatssekretär Kolbow hat sehr deutlich darauf hingewiesen, dass die Elemente, die für den Schutz der Bevölkerung weiterhin notwendig und nützlich sind, selbstverständlich übernommen werden. Was das Personelle angeht, ist ein viel schnelleres Alarmierungssystem für Reservisten, Ärzte usw. von entscheidender Bedeutung. Zur Erinnerung an die Union: Unter Ihrer Regierungsverantwortung wurde das System der Zivilverteidigung und der Gesamtverteidigung sehr weit reduziert. Wie sehen Sie das eigentlich heute? War das ein Fehler oder war das zu Ihrer Regierungszeit nur finanzpolitisch motiviert? Wie erklären Sie sich das? ({1}) Ich komme nun zur zweiten Forderung der Union, dem Gesamtverteidigungskonzept. ({2}) Wer wollte bestreiten, dass auf dem Feld der inneren und äußeren Sicherheit und des Katastrophenschutzes eine eingespielte und flexible Kooperation elementar ist und Gesamtkonzepte notwendig sind? Aber dabei sollten Sie doch nicht den völlig falschen Eindruck erwecken, als wären wir bei null. Es gibt ein weit reichendes Gesamtkonzept. Das kann man sehr wohl sagen. Was die gesamte Sicherheitspolitik angeht, so wird das Weißbuch Aufschluss darüber geben, was zurzeit in Arbeit ist. ({3}) Schließlich ist die Forderung nach einem sicherheitspolitischen Gesamtkonzept, auch bezogen auf terroristische Bedrohungen, gerade aus dem Mund der Union reichlich unglaubwürdig. In diesem einen Fall setzen Sie sich massiv für einen angeblich verbesserten Bevölkerungsschutz durch das Aufrechterhalten traditioneller Elemente ein. Auf der anderen Seite - das gehört auch zu einem weitsichtigen Bevölkerungsschutz - hat zumindest Ihre Führung in der Vergangenheit eine Politik mitgetragen und tut dies bis zum jetzigen Zeitpunkt, die mit dem Irakkrieg dem weltweiten internationalen Terrorismus enormen Auftrieb gegeben hat. Überwinden Sie also bitte erst einmal Ihre Grundwidersprüche, bevor Sie vollmundig von der Bundesregierung Gesamtkonzepte verlangen. ({4}) Ihr Antrag ist beispielhaft für das krampfhafte Bemühen der Union, die traditionelle Art der Landesverteidigung irgendwie am Leben zu erhalten und darüber eine Restlegitimation für die Wehrpflicht zu behalten. ({5}) Im notwendigen Bemühen um einen möglichst wirksamen Bevölkerungsschutz, um nüchterne Risikoabschätzung und -vorsorge leistet die Union den Aufgaben mit diesem Antrag - Kollege Schmidt, Sie sind nur zum Teil auf diesen Antrag eingegangen - einen Bärendienst. Angesichts der realen Herausforderungen ist dieser Antrag schlichtweg peinlich. Danke. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst-Reinhard Beck, CDU/CSU-Fraktion.

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Nachtwei, die Einführung des Irakkriegs als Wahlkampfthema war meines Erachtens unangemessen. Ich weise das namens meiner Kollegen zurück. ({0}) Die Unkalkulierbarkeit ist zur Realität in den Streitkräften geworden, Planungssicherheit wird es auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Diese Aussage von Generalinspekteur Schneiderhan auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik am 22. April dieses Jahres gibt ziemlich genau die derzeitige Umbruchsituation in der Bundeswehr - und nicht nur dort - wieder. Die Soldaten und ihre Familien wünschen sich Verlässlichkeit von Staat und Gesellschaft und ein höchstmögliches Maß an Sicherheit und Schutz angesichts neuer Formen der Bedrohung. Ernst-Reinhard Beck ({1}) Veränderungsprozesse in der Politik bewegen sich immer zwischen den beiden Extremen Bewahren oder Verändern. Verfechter der Variante Streichen, Kürzen, Auflösen fordern, sich möglichst schnell von bisherigen Strukturen zu verabschieden und an Stelle des überholten Alten zukunftsträchtiges Neues zu setzen. Allzu viel Neues habe ich aber von Ihnen nicht gehört, lieber Kollege Kolbow. Der konservative Ansatz möchte möglichst vieles an Bewährtem bewahren und nur das unbedingt Notwendige verändern. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Auflösung des Bundesamtes für Zivilschutz im Jahr 1999. Damals hielt man den Zivilschutz für überflüssig und zu teuer. Heute wissen wir, dass zumindest das Erste ein Irrtum war. Seit diesem Jahr gibt es wieder ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Wir stehen mit der jetzt eingeleiteten Bundeswehrreform wieder an einem ähnlichen Punkt, an dem wir uns entscheiden müssen, von welcher Philosophie der Umbau geleitet werden soll. Wenn ich es richtig sehe, hat sich die Bundeswehr bereits seit den 90er-Jahren bei den für die Auslandseinsätze notwendigen Umstrukturierungen für einen eher behutsamen evolutionären Weg, bei der Landesverteidigung und beim Heimatschutz jedoch für die Methode Tabula rasa entschieden. Dies geschieht gegenwärtig durch die Auflösung der Reservelazarettorganisation und nicht aktiver Truppenteile sowie durch die nahezu völlige Demontage der territorialen Verteidigungsorganisation. Wenn man die schrecklichen Bilder nach den Terroranschlägen in Madrid vor Augen hat, dann löst die geplante Auflösung der Reservelazarettorganisation in der Tat Verwunderung aus. Könnte es irgendjemand verstehen, wenn im Falle einer so schweren Katastrophe die Bundeswehr um medizinische Hilfe gebeten würde und nicht in der Lage wäre, diese zu leisten? Sicher ist es richtig, dass die 56 Reservelazarettgruppen mit ihren 68 000 Reservisten und 7 000 bis 8 000 Ärzten für einen verlustreichen Krieg gegen die konventionellen Armeen des Warschauer Paktes geplant wurden. Es ist auch richtig, dass sie eine lange Mobilmachungszeit benötigen. Es mag zutreffen, dass eine so große Zahl von Reservelazarettgruppen nicht mehr benötigt wird, dass die Strukturen schwerfällig und die Ausrüstung zum Teil veraltet ist. Aber rechtfertigt dies bereits den völligen Verzicht auf die bisher vorgehaltenen Fähigkeiten und Strukturen, die vor allem in der Kompetenz des dort eingesetzten Personals liegen? Angesichts der bereits jetzt bestehenden Fähigkeitslücken im Zivilschutz sollte der qualitative wie auch der quantitative Umfang der Reduzierung gründlich bedacht werden. Terroranschläge, Naturkatastrophen oder große Unfälle sind in Zeitpunkt und Intensität selten vorhersehbar. Darin sind wir uns sicherlich einig. Notwendig und erforderlich sind eine sofortige Reaktion und die umgehende Versorgung von Verletzten. Schon aus Zeitgründen verbieten sich aufwuchsabhängige Organisationsformen. Darin stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Nachtwei. Aber warum sollte es nicht möglich sein, eine rasche Mobilmachung des Sanitätspersonals anzustreben? Wieso kann eine angepasste Reservelazarettstruktur nicht in den nationalen Katastrophenschutz eingeplant werden? ({2}) Meines Erachtens sollte der Vorschlag, eine Taskforce aus Ärzten und qualifiziertem, schnell verfügbarem Sanitätspersonal zu bilden, die binnen weniger Stunden die Arbeit aufnehmen kann, geprüft werden. Im Falle einer so genannten Großschadenslage könnten dann weitere Reservekräfte innerhalb von Tagen mobilisiert werden. ({3}) Wenn dies nur durch eine stärkere Einbindung der Reservisten in aktive Verbände möglich ist, dann sollte auch dieser Weg beschritten werden. Dies wäre nicht nur ein wichtiger Schritt zu einem verbesserten Katastrophenschutz. Vielmehr blieben gleichzeitig viele freiwillige Fachärzte und Spezialisten des Sanitätsdienstes im Reservistenstatus eingebunden. Besser eingebunden als ausgemustert! ({4}) Die Bundesregierung plant ferner, alle nicht aktiven Truppenteile aufzulösen. Ich kann davor nur warnen. Unterschätzen Sie nicht die psychologische Wirkung, die von einer Entpflichtung von circa 250 000 Soldaten der Reserve ausgeht! Motivationsfördernd ist dies nicht. Einmal aufgelöst, werden wir auf diese Strukturen nie mehr zurückgreifen können. Ich plädiere nicht für die völlige Erhaltung, sondern dafür, dass Anzahl, Ausrüstung und Binnenstruktur der nicht aktiven und der teilaktiven Verbände an die neuen Aufgaben der Bundeswehr angepasst werden. Angesichts der geplanten Generalausmusterung sicherheitsrelevanter Strukturen aus der Bundeswehr frage ich mich, ob die Bundesregierung wirklich gut beraten ist, aus Kostengründen lediglich auf die Methode „streichen, kürzen und auflösen“ zu setzen. Die Bundesregierung hat erklärt, dass der Schutz Deutschlands und seiner Bürger nach wie vor Kernaufgabe der Bundeswehr ist. Der Staatssekretär hat dies wiederholt. Aber gleichzeitig demontiert die Bundesregierung weitgehend die bereits dünne territoriale Verteidigungsorganisation. Botschaft und Realität klaffen hier weit auseinander. Es soll nur noch vier Wehrbereichskommandos und zwölf Landeskommandos geben. Unterhalb dieser Ebene sind keine aktiven Kräfte mehr vorgesehen. Dies ist das Aus für die zivil-militärische Zusammenarbeit auf der Ebene der Landkreise und der kreisfreien Städte. ({5}) Nun höre ich, dass diese Aufgabe von Reserveoffizieren wahrgenommen werden soll. Dies ist zwar ehrenvoll. Man muss sich jedoch fragen, ob dieses Notkorsett den Anforderungen wirklich gerecht wird. Können die gerade in Katastrophenfällen notwendigen Koordinierungsaufgaben im Nebenamt geleistet werden? Wie wird die Bundeswehr in den Verwaltungen wahrgenommen? Wird sie überhaupt noch wahrgenommen? In einem Ernst-Reinhard Beck ({6}) großen Flächenland wie Baden-Württemberg wären mindestens 42 Beauftragte zu installieren und auch zu führen. Ist dies das sichere Netz, auf das wir uns im Katastrophenfall und im Heimatschutz abstützen können? Das ist eine wirklich ernste Frage. All diese Punkte bestärken mich in der Befürchtung, dass der geplante Abbau sicherheitsrelevanter Strukturen endgültige Tatsachen schafft, die nur sehr schwer und unter großem Aufwand revidiert werden könnten. Reservelazarettorganisation, Beorderung von Reservisten und Auflösung von nicht aktiven Verbänden - darin sind wir uns sicherlich einig - sind lediglich Detailfragen. Sie können nur sinnvoll im Rahmen eines Gesamtverteidigungskonzepts beantwortet werden. Solange dieses nicht vorliegt, verbieten sich grundlegende Strukturveränderungen. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer, SPDFraktion.

Rolf Kramer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der CDU/CSU-Antrag trägt den schönen Titel „Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundeswehr“. Dies ist geradezu eine harmlose Bezeichnung. Das Papier ist kurz und es ist schnell zu lesen. Man möchte eigentlich hinzufügen: Entsprechend ist der Inhalt. Dahinter steckt nichts anderes als ein Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik. Wollten wir dem folgen, würden die vergangenen mehr als 50 Jahre erfolgreicher deutscher Sicherheitspolitik negiert und auf den Kopf gestellt werden. Grundlage des Antrags ist offensichtlich das Papier mit dem Titel „Landesverteidigung und Heimatschutz als Teil des Gesamtkonzepts Sicherheit“, ein ebenfalls harmloser Name. Denn wer kann schon etwas gegen Heimatschutz und Landesverteidigung haben? In dem Papier wird auf Seite 5 ausgeführt - ich zitiere -: In den zurückliegenden Jahren wurden die Strukturen, die einen Heimatschutz in Deutschland tragen könnten, in ihrer Wirksamkeit stark reduziert. Diesem Entschluss lag die - aus heutiger Sicht - irrige Annahme zugrunde, dass sich die Bedrohungslage für unser Land verringert habe … So weit, so gut und auch fast vollständig. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie hätten ruhig deutlich sagen können: Die CDU/CSU-geführte Regierung unter Helmut Kohl hat nach 1990 den Zivilschutz in seiner Substanz geschwächt. ({0}) Gleichzeitig behaupten Sie, dass der Verteidigungsminister in den Verteidigungspolitischen Richtlinien den Aspekt des Heimatschutzes vernachlässigt habe. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, entweder haben Sie die Verteidigungspolitischen Richtlinien nicht gelesen oder Sie haben sie nicht verstanden. ({1}) Allein zwölf Passagen in diesen Richtlinien beschäftigen sich mit dem Aspekt der inneren Sicherheit. ({2}) Die Verteidigungspolitischen Richtlinien bilden die Grundlage des von Ihnen geforderten umfassenden Gesamtverteidigungskonzeptes. Sie entsprechen in ausgewogener Art und Weise den neuen Herausforderungen im Inneren wie im Äußeren. Doch was wollen Sie eigentlich? ({3}) Sie wollen Art. 35 und Art. 87 a des Grundgesetzes dahin gehend ändern, dass „… die Bundeswehr auch bei der Verhinderung einer unmittelbar drohenden Katastrophe oder eines unmittelbar drohenden schweren Unglücksfalles sowie bei der Bewältigung ihrer Folgen eingesetzt werden kann“. ({4}) Soweit Ihr Papier. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Schon bei einer drohenden Katastrophe oder einem drohenden Unglücksfall soll die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden können. Da stellen sich diverse Fragen: Wer definiert das? Ein Unglücksfall oder eine Katastrophe kann immer drohen. Wer kann das vorhersagen? Es kann doch nicht einmal Ihre Absicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Sicherheitskräfte und damit unser Land sozusagen im dauernden Notstand leben zu lassen. ({5}) Diese Vorstellungen der Union hätten einen für uns nicht hinnehmbaren Interpretationsspielraum hinsichtlich der Befugnisse von Kräften der inneren und äußeren Sicherheit zur Folge. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern würde sozusagen in das Benehmen der Innenminister der Länder gestellt werden. ({6}) Wir haben in Deutschland bisher aus sehr wohl erwogenen Gründen einen Konsens. Die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit ist politisch und gesellschaftlich gewollt. Es ist ein großer Vorteil seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, dass innere und äußere Gewalt im Prinzip strikt getrennt sind. Eine Bundeswehr, die de facto ein Instrument zur Anwendung des inneren Gewaltmonopols werden würde, lehnen wir ab. ({7}) Wir halten daran fest: Nur in vom Grundgesetz genau festgelegten Situationen wird die Bundeswehr im Innern eingesetzt, und das mit großem Erfolg, wie die HilfeleisRolf Kramer tungen der Bundeswehr bei den diversen Einsätzen gezeigt haben. Dafür sei den Soldatinnen und Soldaten von dieser Stelle aus noch einmal gedankt. ({8}) In einem Punkt sind wir ganz sicherlich einer Meinung: Der 11. September 2001 hat die Welt sicherheitspolitisch verändert. Die Terroranschläge vom 11. März dieses Jahres in Madrid haben deutlich gemacht, dass Europa und damit natürlich auch Deutschland im Fokus der Bedrohung stehen. Eine Grundgesetzänderung, um den generellen Einsatz der Bundeswehr zu ermöglichen, würde den Bevölkerungsschutz nicht verbessern, aber die bewusst gewählte Sicherheitsarchitektur unseres Grundgesetzes fundamental verschieben. Es würde eine Sicherheit suggeriert werden, die so nicht erreicht werden kann. Es ist doch einsichtig, dass - um nur ein Beispiel zu nennen - die Debatte über die Sicherung der Bahnhöfe durch Soldaten an der Realität vorbeigeht. ({9}) Ganz abgesehen davon, dass Soldaten für den zivilen Bereich nicht ausgebildet sind, lassen sich 7 500 Bahnhöfe bundesweit, 38 000 Kilometer Schiene, 30 000 Züge pro Tag mit etwa 4 Millionen Reisenden nicht effektiv schützen, indem man die Bundeswehr aufmarschieren lässt. ({10}) Dieses Beispiel gilt nur für einen Bereich des öffentlichen Lebens. Die Sicherheit wäre nur vorgetäuscht, eine reine Placebomaßnahme. Dafür sollte uns allen die Sicherheit unserer Bevölkerung zu wertvoll sein. In diesem Zusammenhang ist aber bedenklich, dass die Länder in den vergangenen Jahren 12 000 Polizeistellen abgebaut haben. ({11}) Das dadurch entstandene Vakuum durch Militär ersetzen zu wollen wäre eine in mehrfacher Hinsicht zu billige Lösung. Man muss es auch einmal deutlich sagen: Ein hundertprozentiger Schutz gegen alle Terrorszenarien wird nicht möglich sein, nicht einmal dann, wenn wir tragende Grundsätze unserer freiheitlichen Verfassung opferten. Wir Sozialdemokraten wissen, was wir an unserer Verfassung haben. Sie gilt es zu bewahren! ({12}) Aber wir können uns auf die Gefahren vorbereiten, indem das Zusammenwirken der Kräfte für den Notfall und den Katastrophenschutz weiter verbessert wird auch gegen Anschläge, die bisher außerhalb unserer Vorstellungskraft lagen. Natürlich ist hier auch die Bundeswehr gefordert. Ein entsprechender Vorschlag für gemeinsame Übungen im zivil-militärischen Bereich liegt bereits vor. Die Bundeswehr kann schon heute in besonderen Ausnahmesituationen und zur nationalen Gefahrenabwehr und zu Hilfeleistungen herangezogen werden. Dies gilt auch für die Abwehr von terroristischen Angriffen. Was im Grundgesetz allerdings nicht explizit erwähnt wird, ist die Abwehr von Gefahren aus der Luft und von der See. In diesem Zusammenhang ist evident, dass nur die Bundeswehr die Mittel und Methoden hat, um in solchen Fällen einzugreifen und für Abhilfe zu sorgen. Hier besteht ein gesetzlicher Handlungsbedarf. Die Koalitionsfraktionen haben deshalb den Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes in die parlamentarische Beratung eingebracht. Ob in diesen speziellen Fällen eine Klarstellung im Grundgesetz notwendig ist, bedarf noch der Klärung durch die Verfassungsjuristen. Es geht dabei nicht um das Einräumen zusätzlicher Befugnisse, sondern um die Verdeutlichung von schon bestehendem Recht und das Schaffen von Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Lassen Sie uns mit Augenmaß sowie mit Achtung vor den Menschen und der Verfassung an diese Aufgabe herangehen! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Lietz, CDU/ CSU-Fraktion.

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es bereits gehört: Die Bundeswehr steht vor einem fundamentalen Umbruch. Laut den Verteidigungspolitischen Richtlinien werden wir bis zum Jahr 2010 35 000 Soldaten haben, die in der Lage sein sollen, als schnelle Eingreiftruppe zu fungieren und überall in der Welt zur Verfügung zu stehen. Zusätzlich sollen 70 000 Soldatinnen und Soldaten zur Friedenserhaltung eingesetzt werden können, und zwar an maximal fünf verschiedenen Einsatzorten weltweit mit bis zu 14 000 Soldaten pro Einsatz. Zusammen mit den 145 000, die für Nachschub, Organisation und Versorgung sorgen sollen, macht das einen Gesamtbestand von 250 000 Soldaten in der Bundeswehr aus. Wenn man die Anzahl der Soldaten verringert, muss man nicht automatisch die Sicherheit, die Anforderungen und die Finanzen verringern. Das passt nicht zusammen. Man muss nämlich die Fähigkeiten des einzelnen Soldaten erhöhen. ({0}) Das Verteidigungsministerium schlägt aber vor, bis zum Jahr 2010, also innerhalb von sechs Jahren, im Rahmen der Verteidigungspolitischen Richtlinien insgesamt 26 Milliarden Euro zu sparen. Das sind immerhin 2 Milliarden Euro mehr, als wir im Moment pro Jahr zur Verfügung haben. Wer glaubt, dass wegen der Reduzierung der Gesamttruppenstärke auf 250 000 der Sicherheitsbedarf und die Finanzen ebenfalls reduziert werden können - Herr Kollege Arnold, Sie haben in der Presse sogar verlauten lassen, dass die Sanitätsstärke entsprechend der Anzahl der Soldaten verringert werden kann -, der hat die Einsatzszenarien nicht realisiert. Das Verteidigungsministerium hat formuliert, dass wir im schlimmsten Fall - ich hoffe und weiß, dass der nicht immer eintritt - 105 000 Soldatinnen und Soldaten in Einsatzgebieten rund um die Welt, nicht nur am Hindukusch, haben sollten. Wenn Sie diesen schlimmsten Fall so programmieren, dann müssen Sie auch den Sicherheitsbedarf, der damit verbunden ist, entsprechend anpassen. Das tun Sie allerdings nicht. ({1}) Der Verteidigungsminister und der Generalinspekteur haben in ihren Ankündigungen offen gelassen, wie sie den Szenarien begegnen wollen, die sie quasi auf dem Reißbrett geplant haben. Das Sanitätswesen der Bundeswehr muss in der Zukunft sehr viel höheren Anforderungen gerecht werden, als das zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Fall ist. Knapp 8 000 Soldatinnen und Soldaten sind im Moment im Einsatz. Sie alle wissen, wie die Einsatzzeiten des Sanitätspersonals aussehen. Kaum dass die Ärzte zu Hause sind, fahren sie schon wieder an neue Einsatzorte. Darunter leiden die Familien. Die Bundeswehrkrankenhäuser haben zum Teil reduzierte Operationskapazitäten, weil die Anästhesisten und die Chirurgen an bestimmten Einsatzorten sind. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass Facharztausbildungen wegen Fehlzeiten verlängert werden müssen, damit sie überhaupt zustande kommen, dann erkennen Sie, in welcher Situation das Sanitätswesen zum jetzigen Zeitpunkt ist. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, eine nachvollziehbare Bedarfs- und Vorsorgeplanung für die Bundeswehrkrankenhäuser und das Sanitätswesen vorzulegen. Gerade was die Bundeswehrkrankenhäuser anbetrifft, bekommt man völlig unterschiedliche Antworten, wenn man im Verteidigungsministerium nachfragt. Ich appelliere schon deswegen an die Verantwortung des Verteidigungsministeriums, weil gerade das zivile Personal in den Krankenhäusern einen Anspruch darauf hat, informiert zu werden: Sagen Sie der Öffentlichkeit endlich klipp und klar, welche Bundeswehrkrankenhäuser bestehen bleiben sollen. Lassen Sie die Menschen in den Krankenhäusern nicht im Ungewissen. Es ist nämlich klar, dass von den acht Krankenhäusern, die wir jetzt haben, lediglich drei als vollwertige Krankenhäuser erhalten bleiben werden, nicht mehr. Der Rest wird geschlossen, dient der tropenmedizinischen Versorgung, als Polikliniken oder zu was auch immer. Wir werden aber nur noch genau drei vollwertige Krankenhäuser haben. In diesen drei verbleibenden Krankenhäusern müssen wir dann unser gesamtes Sanitätspersonal ausbilden. Das heißt, wir müssen in den verbleibenden Krankenhäusern zusätzliche Ausbildungskapazitäten und zusätzliche Versorgungsmöglichkeiten für Soldaten schaffen. Schließlich brauchen wir diese Krankenhäuser für die Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Einsatzmedizin. Das kann kein ziviles Krankenhaus in der Bundesrepublik Deutschland leisten. Zusätzlich brauchen wir eine höhere Zahl von zivilen Patienten, denn etliche Krankheiten, die Bestandteil der Facharztausbildung sind, gibt es bei jungen Soldaten nicht. Deshalb ist es sehr wichtig, dass endlich die zivilen Bettenkontingente dieser Krankenhäuser in die Bestimmungen des SGB V einbezogen werden. Wir beantragen schon seit mehreren Jahren, entsprechende Schritte zu unternehmen. Dafür haben wir bis jetzt leider keine Mehrheiten gefunden. ({2}) - Dann sollte jeder mit Verantwortlichen in den Ländern sprechen, zu denen er gute Beziehungen hat, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr hat bisher gute Arbeit geleistet. Es handelt sich um gut ausgebildete Leute, die in bis jetzt hoch leistungsfähigen Funktionseinheiten wirken. Der vorgegebene Standard allerdings, der ausdrücklich fordert, dass die medizinische Versorgung in Einsatzgebieten der Qualität der Versorgung in der Heimat entspricht, ist in Gefahr. Dieser Anspruch steht auf dem Spiel. Ich möchte Sie sehr herzlich bitten, dazu beizutragen, dass militärische Fähigkeiten, die wir bis jetzt noch auf diesem Gebiet haben, nicht auch noch verloren gehen und dass die medizinische Versorgung der Soldaten im Einsatz weiterhin gewährleistet ist. Ich habe große Sorgen, dass das in Zukunft nicht mehr der Fall sein wird. Eine verantwortungsvolle medizinische Versorgung von bis zu 105 000 Soldaten im Einsatz - ich muss das noch einmal sagen - verlangt einfach mehr und besser ausgebildetes Sanitätspersonal. ({3}) Wir können uns da nicht auf andere europäische NATOMitglieder verlassen, weil ihre Standards geringer sind als unsere und ihre Fähigkeiten hinter unseren zurückfallen. Lediglich die Vereinigten Staaten von Amerika haben noch hoch qualifiziertes Personal und technisch hervorragend ausgestattete Armeekrankenhäuser. In dieser Diskussion sollten wir nicht zuletzt deswegen auch einmal ernsthaft darüber nachdenken, auf welche Weise wir Nachwuchsgewinnung betreiben, also geeignete Personen rekrutieren. Die Unsicherheit, die unter den Bundeswehrangehörigen selbst, aber auch in der Öffentlichkeit bezüglich des Arbeitgebers Bundeswehr herrscht, ist ausgesprochen groß. Wenn wir qualifizierten Nachwuchs haben wollen, müssen wir ihm etwas bieten, insbesondere auch im Sanitätswesen der Bundeswehr. Ich habe mich sehr gefreut, dass der Verteidigungsminister angekündigt hat, dass die Einsatzzeiten demnächst vier Monate betragen werden. Wir haben lange dafür gekämpft. Auf meine Frage allerdings, zu welchem Zeitpunkt dieser Beschluss umgesetzt würde, ist mir gesagt worden, dieses finde im Rahmen der Durchsetzung der Verteidigungspolitischen Richtlinien statt. Meine Damen und Herren, zum Schluss noch ein Satz: Es macht mich traurig, dass viele verantwortungsbewusste Offiziere in diesen Tagen über Maulkorberlasse Sprechverbote bekommen und ihnen sogar die Entfernung von ihren Aufgabengebieten angedroht wurde, wenn sie ihre Sorgen über die jetzt anstehende Reform und deren Schwächen zum Ausdruck bringen. Eine Regierung bzw. ein Minister, der von seinem Plan überzeugt ist und zu ihm steht, sollte sich auch der Diskussion in den eigenen Reihen stellen. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erhält die Kollegin Karin Evers-Meyer, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr hat letzte Woche eine aktuelle Bevölkerungsbefragung zum sicherheitspolitischen Meinungsbild veröffentlicht. Diese Studie belegt, dass das Gefühl von Sicherheit abnimmt. Niemand wird von der Hand weisen können, dass es nicht nur so ein Gefühl ist, das da abnimmt, sondern dass sich die Bedrohungslage tatsächlich verschärft hat. In einer solchen Situation sollten wir die Menschen in unserem Land nicht mit falschen Heilsversprechungen aufs Glatteis führen, sondern für Aufklärung sorgen. ({0}) Die CDU/CSU-Opposition tut dies leider nicht, weder mit ihrem vorliegenden Antrag noch mit ihren wiederholten populistischen Forderungen nach einem Einsatz der Bundeswehr im Innern. Sie schüren damit die Ängste in der Bevölkerung und suggerieren, es werde nicht genügend zu deren Schutz getan. ({1}) Natürlich stellen sich die Bürgerinnen und Bürger die Frage: Warum darf die Bundeswehr Deutschland am Hindukusch verteidigen, nicht aber am Hamburger Hauptbahnhof? Darauf gibt es drei ganz klare Antworten: Erstens. Die Bundeswehr ist dafür weder ausgebildet noch ausgerüstet. Sie steht im Moment vor ganz anderen, neuen Herausforderungen. Wir können unsere Soldatinnen und Soldaten jetzt nicht auch noch zu Hilfssheriffs machen. Zweitens. Die Polizeien der Länder und des Bundes sowie der Bundesgrenzschutz sind für die innere Sicherheit zuständig. Sie sind die Spezialisten, sie sind dafür ausgebildet. Insbesondere unser Bundesgrenzschutz ist dank unseres Ministers Otto Schily heute dafür besser ausgerüstet denn je. ({2}) So brauchen wir auch den Vergleich mit den in Sachen Sicherheit gerne als Vorbild zitierten USA überhaupt nicht zu scheuen. Ein Vergleich von Zuständigkeiten und Umfang staatlicher Sicherheitsleistungen in Deutschland mit dem Department of Homeland Security zeigt, dass die deutsche Organisation der amerikanischen Organisation in Bezug auf Kompetenzbreite und potenzielle Durchgriffsmöglichkeiten in nichts nachsteht. Auch der Anteil finanzieller Aufwendungen ist im Verhältnis zum jeweiligen Gesamthaushalt mit rund 1,6 bis 1,7 Prozent nahezu identisch. Ich weiß also die innere Sicherheit beim Bundesinnenminister in guten Händen. Drittens. Es gibt ohne Zweifel besondere Spannungslagen und Katastrophenfälle, in denen wir die Bundeswehr mit ihren spezifischen Fähigkeiten brauchen. In diesen Fällen kann sie aber - das ist hier bereits gesagt worden - schon heute eingesetzt werden. Mit dem Luftverkehrssicherheitsgesetz wurden in diesem Bereich bestehende Lücken geschlossen. Wo noch Lücken bestehen, werden wir auch diese schließen und die Einsatzfähigkeit weiter optimieren. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU will uns mit ihrem Antrag weismachen, dass wir den Heimatschutz vernachlässigen, weil wir die Bundeswehr zu einer effizienten, gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten international einsatzfähigen Truppe machen. Zwar erkennen auch Sie die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Bundeswehr an; auch Sie wollen diese international einsatzfähige Armee, die mit unseren Partnern in Europa und der NATO mithalten kann. Gleichzeitig wollen Sie aber eine Bundeswehr, bei der nicht nur alles so bleibt, wie es ist, sondern die mit alten Strukturen weitere Aufgaben übernimmt. Unsere Bundeswehr ist jedoch keine Eier legende Wollmilchsau. Die CDU/CSU setzt mit ihren Forderungen ihre konfuse Politik der Widersprüche auch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik fort: ({3}) Sie fordern Steuersenkungen und wollen mehr Geld ausgeben, Sie wollen Bürokratieabbau und halten Ihre schützende Hand über jeden, der auch nur im Verdacht steht, Ihrer Wählerklientel anzugehören. Ich bitte Sie, die Bundeswehr dabei aus dem Spiel zu lassen. Die Bundeswehr steht vor neuen, großen Herausforderungen. Wir sind auf einem guten Weg, diese Herausforderungen zu meistern. Diesen Weg wollen wir konsequent weitergehen und die Reform der Bundeswehr nicht aus parteitaktischem Kalkül überfrachten und damit letztlich zum Scheitern verurteilen. ({4}) Ich möchte noch einige Dinge zur geplanten Auflösung der Reservelazarette sagen. Der Verteidigungsminister hat in seinen von allen gelobten Verteidigungspolitischen Richtlinien den Verzicht auf allein für den Verteidigungsfall bereitgehaltene Strukturen angewiesen. Gleichzeitig hat er aber auch den Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger als Auftrag der Bundeswehr festgeschrieben. Diesen Vorgaben folgend wird die Reservelazarettorganisation als Struktur der Landesverteidigung aufgelöst. Diese Auflösung wird jedoch keineswegs negative Auswirkungen auf den Katastrophenschutz haben. Reservelazarette waren bisher als zusätzliche Militärkrankenhäuser für den Verteidigungsfall vorgesehen. Die heutigen 56 Lazarettgruppen wären erst nach einer sehr zeitintensiven und von der Feststellung des Verteidigungsfalls abhängigen allgemeinen Mobilmachung einsatzbereit. Für die Aufgaben im Katastrophenschutz waren und sind sie wirklich nicht optimal vorbereitet. Das wollen wir ändern. Wesentliche Kernelemente der Lazarettorganisation bleiben auch nach der Entscheidung über deren Auflösung erhalten. Dazu gehören insbesondere fachärztliche Komponenten, die auch für die Katastrophenhilfe genutzt werden können und mit denen man in der Lage ist, das zivile Gesundheitswesen bei einem Massenanfall von Verletzten gezielt zu verstärken. Auch die Reservisten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr werden weiterhin eine sehr wichtige Rolle spielen, Herr Beck. Sie werden jetzt verstärkt mit der aktiven Truppe zum Einsatz kommen, ({5}) diese unterstützen und so die Reaktionsfähigkeit des Sanitätsdienstes in Katastrophen- und besonders schweren Unglücksfällen verbessern. ({6}) Hierzu werden Verfahrensweisen erarbeitet, die eine schnellere Unterstützung im Katastrophenfall ermöglichen. Die bisherige Alarmierungs- und Einberufungspraxis bedarf, wie schon gesagt, eines zeitlichen Vorlaufs, der den raschen Anforderungen eines plötzlichen Katastrophenfalls nicht gerecht wird. Die Bundeswehr gibt damit keine für den Katastrophenschutz relevanten wesentlichen Fähigkeiten auf. Im Gegenteil: Sie wird ihre Reservistenorganisation so optimieren, dass diese - gemeinsam mit der aktiven Truppe den Katastrophenschutzorganisationen und dem zivilen Gesundheitswesen im Bedarfsfall die bestmögliche Unterstützung leisten kann. ({7}) Die Fähigkeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu einer bedarfsgerechten, reaktionsschnellen Unterstützung ziviler Kräfte im Katastrophenfall wird damit nicht nur erhalten bleiben, sondern noch optimiert. Gleiches gilt im Übrigen auch für die neue Reservistenkonzeption der Bundeswehr, die in enger Kooperation mit dem Reservistenverband und mit anderen Verbänden erarbeitet wurde. Die Reserve wird auf die wahrscheinlicheren Aufgaben der Bundeswehr und auf ein ausgewogenes Verhältnis von Auftrag, Fähigkeiten und Mitteln auch für die Reserve ausgerichtet. Mobilmachungsstrukturen alter Art für die herkömmliche Verteidigung an Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angreifer werden nicht mehr benötigt und daher abgeschafft, ohne dass aber die Kompetenzen zerstört würden. Reservisten und Reservistinnen werden weiterhin im gesamten Aufgabenspektrum ihren Beitrag leisten. Die zivil-militärische Zusammenarbeit wird durch gemeinsame Übungen mit den zuständigen zivilen Stellen weiter intensiviert. Zur Steigerung von Professionalität und Einsetzbarkeit der Reserve wird eine erhöhte Übungsfrequenz der freiwillig beorderten Reservisten und Reservistinnen angestrebt. Die Gestaltung von Wehrübungen und Übungen wird klar auf die neuen Aufträge im Rahmen der Aufgaben der Bundeswehr auszurichten sein. Meine Damen und Herren, es bleibt daher festzuhalten: Alle in Deutschland maßgeblichen Stellen arbeiten mit Nachdruck an der Neuausrichtung der Sicherheitsbehörden auf die neue Bedrohungslage. Die Bundeswehr wird da, wo es notwendig und sinnvoll ist, ihren Beitrag auch für die Sicherheit im Innern leisten. Die Transformation der Bundeswehr zu einer international einsetzbaren Eingreiftruppe steht diesem Ziel gewiss nicht entgegen. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2824 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen ({0}) - Drucksache 15/1662 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen ({2}) - Drucksache 15/2468 ({3}) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) - Drucksache 15/3002 Berichterstattung: Abgeordnete Ilse Aigner Ernst Bahr ({5}) Jürgen Koppelin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann ist es so beschlossen. Dann bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht mehr teilnehmen können oder wollen, den Saal möglichst geräuschlos zu verlassen, damit diejenigen Platz nehmen können, die an dieser Debatte dringend teilnehmen wollen oder müssen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerald Thalheim. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist für mich in meiner Abgeordnetenlaufbahn, wenn man das so bezeichnen will, ein besonderer Tag. Am 21. Dezember 1990 habe ich als neu gewählter Abgeordneter hier im Reichstagsgebäude einen Antrag zu einem Altschuldenmoratorium für die ostdeutsche Landwirtschaft unterschrieben. Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, 14 Jahre später bei der endgültigen Regelung des Gesetzes hier im Bundestag für die Bundesregierung zu sprechen. Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass es so lange dauern und so schwierig werden würde, eine Regelung herbeizuführen, und dass das ungelöste Altschuldenproblem nicht nur in der Landwirtschaft eine so schwierige Hypothek darstellen würde. Wir haben in den letzten Wochen kontrovers über die Situation in Ostdeutschland diskutiert. Entindustrialisierung und viele andere Worte sind gefallen. Einer der Gründe für diese Situation liegt in den Folgen der fehlerhaften Währungsunion und ganz besonders darin, wie die Altschulden behandelt wurden. Nach der Währungsunion waren die Betriebe einfach nicht in der Lage, die damals in Mark der DDR aufgenommenen Kredite in D-Mark zurückzuzahlen. Das galt nicht nur für die LPGs, das galt genauso für die Industrieunternehmen, die aus den volkseigenen Betrieben hervorgegangen waren, und für die Wohnungsgesellschaften. Deshalb musste der Bund im Falle der Industrie und der Wohnungsunternehmen weitgehend auf die Rückzahlung verzichten. Angesichts der heutigen Debatte, in der wechselseitig viele Vorwürfe gemacht wurden, wer für was verantwortlich ist, muss man sagen: Dieser Forderungsverzicht, der in Milliarden zu Buche geschlagen ist, ist eine der Ursachen für die Probleme, die wir heute in Deutschland haben. Für die Nachfolgebetriebe der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurde mit der so genannten Rangrücktrittsvereinbarung eine bilanzielle Entlastung vereinbart. Damit konnten zwar kurzfristig Insolvenzen vermieden werden. Aber das Problem wurde nicht wirklich gelöst. Im Gegenteil: Die Altschuldenbelastung der LPG-Nachfolgebetriebe ist von 1,6 Milliarden Euro 1991 auf heute 2,5 Milliarden Euro angewachsen. Das hat folgende Ursachen: Zum Ersten waren die Betriebe nach der Wiedervereinigung einfach nicht in der Lage, Gewinne zu erwirtschaften. Aus diesen Gewinnen hätte eine Rückzahlung erfolgen müssen. Einer der Gründe für diese Situation war die Tatsache, dass die Kredite, die für Investitionen aufgenommen worden sind, einfach nicht mehr werthaltig waren. Zum Zweiten setzten die Rangrücktrittsvereinbarungen nur wenige Anreize, die Altschulden zügig zurückzuzahlen. Zum Dritten gab es für hoch verschuldete Unternehmen überhaupt keine realistische Chance, die Altschulden zurückzuzahlen. Gerade für diese Betriebe fehlte angesichts dessen, dass man, bildlich gesprochen, vor einer Wand stand, von der jeder wusste, dass sie nicht zu überspringen ist, jede Motivation, sich anzustrengen. Das alles ist längst bekannt. Aber CDU/CSU und FDP, damals in der Regierungsverantwortung, haben nichts unternommen, um dieses Problem zu lösen. Erst nach dem Regierungswechsel 1998 wurde eine Lösung des Problems ernsthaft in Angriff genommen. ({6}) - Lieber Peter Jahr, wenn man hier neu dabei ist, soll man nicht dazwischenrufen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Verehrter Herr Staatssekretär, die Geschäftsordnung sieht keine Staffelung der Zulässigkeit von Zwischenrufen nach der Zugehörigkeit zum Bundestag vor. ({0}) Darauf muss ich Sie schon aufmerksam machen. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: 1996 gab es einen leisen Versuch, der dann aber ganz schnell wieder beiseite gelegt wurde. Wie gesagt: Nach dem Regierungswechsel wurde das Problem ernsthaft in Angriff genommen. Grundlage für das heute zu beschließende Gesetz sind das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die in der Folge in Auftrag gegebene wissenschaftliche Überprüfung. Auch wenn nicht alle Altschuldenbetriebe mit dem Ergebnis einverstanden sind, werden mit dem Landwirtschafts-Altschuldengesetz die Fehler der Rangrücktrittsvereinbarungen korrigert. Die Anreize zu einer zügigen Bedienung der Altschulden werden erhöht. Es ist Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim durchaus zulässig, hier von zusätzlichem Druck, von Verschärfungen zu reden. Legale Steuervermeidungsmöglichkeiten werden eingeschränkt. Der Abführungsprozentsatz, bezogen auf die Gewinne, wird erhöht. Außerdem können die Betriebe auf der Basis der prognostizierten Gewinnentwicklung ihre Verpflichtungen mit einer Einmalzahlung abgelten. Diese Einmalzahlung ergibt sich aus dem so genannten Barwert der künftigen Zahlungen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen wird damit angemessen berücksichtigt. Das Vorgehen ist das Ergebnis umfangreicher Prüfungen und zahlloser Diskussionen. Lieber Kollege Goldmann, auch der Vorschlag, den jetzt die FDP vorlegt, nämlich einen Pauschalsatz von 33 Prozent zu verwenden, ist geprüft worden. Das wäre sicherlich eine Vereinfachung hinsichtlich der Bürokratie. Aber für die einen wären 33 Prozent noch eine nicht zu überspringende Hürde, für die anderen, die leistungsfähiger sind, ein zusätzliches Geschenk. Insofern kam diese Lösung nicht infrage. Bei der Erarbeitung des Gesetzes musste eine schwierige Abwägung der Interessen des Bundes als des letztendlichen Gläubigers der Altschulden und der Nachfolgebetriebe der LPGs, die mit Altschulden belastet sind, herbeigeführt werden. Nach der ersten Lesung ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung äußerst intensiv mit den Betroffenen diskutiert worden. Zum einen gab es eine grundsätzliche Zustimmung zu der Herangehensweise, was uns sehr wichtig war; zum anderen gab es aber noch Änderungswünsche. Als Agrarpolitiker bin ich sehr zufrieden, dass diese im parlamentarischen Verfahren aufgenommen wurden. Das gilt für die Reduzierung des Abführungsprozentsatzes auf 55 Prozent und für die Wahl des mehrjährigen Durchschnitts bei der Ermittlung des Diskontierungszinssatzes. Außerdem wurde ein Mindestabführungsbetrag vereinbart; das entspricht den Finanzinteressen des Bundes. Durch diese Regelung wird es zu einer schnelleren Rückzahlung kommen. Insofern sind in dem Gesetz, das wir heute beschließen werden, sowohl agrarpolitische Aspekte als auch die Finanzinteressen des Bundes berücksichtigt. Ich habe eingangs genannt, auf welche Höhe sich mittlerweile die Altschulden summieren. Ich will diese Gelegenheit nutzen, an die betroffenen Betriebe zu appellieren, die Möglichkeiten, die dieses Gesetz vorsieht, zu nutzen und sich insbesondere durch die Nutzung der Ablöseregelung ein für alle Mal von den Altschulden zu verabschieden. Herr Präsident, in den 14 Jahren, von denen ich eingangs sprach, bin ich nie wegen Überziehung der Redezeit auffällig geworden. Insofern gestatten Sie mir bitte, noch eine Bemerkung hinzuzufügen. ({1}) Das Fazit dieser Regelung lautet: Was lange währt, wird endlich gut. Ich kann nur an die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen appellieren, dem Gesetz zuzustimmen. Ich hatte kürzlich eine Diskussion mit einem renommierten CDU-Agrarpolitiker, der den anwesenden Vertretern von Landwirtschaftsbetrieben sagte: „Stimmt dieser Regelung zu oder kritisiert sie nicht! Wir hätten das nicht hinbekommen.“ Herr Kollege Goldmann, auch an Sie will ich mich wenden. Die 33-Prozent-Regelung wäre im Jahre 1991 oder 1992 sicherlich vernünftig gewesen, ist es aber eben nicht mehr im Jahre 2004. Insofern appelliere ich an Sie alle, diesem ausgesprochen guten Gesetz im Interesse der ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe zuzustimmen. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Thalheim, den Dank für die regelmäßige Einhaltung der Redezeit, die eigentlich unter den Bedingungen unserer Geschäftsordnung eine schiere Selbstverständlichkeit sein sollte, verbinde ich mit der ausdrücklichen Hoffnung, dass Ihre heutige Überschreitung derselben in Zukunft wieder die seltene Ausnahme bleibt. Nun erhält der Kollege Dr. Peter Jahr für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Peter Jahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003560, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Schlussdebatte über die Altschuldenregelung in landwirtschaftlichen Unternehmen betreiben wir in diesem Hohen Hause ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Mit der Behandlung der Altschuldenproblematik, die aus DDR-Zeiten stammt, weht ein klein wenig der Hauch der Wendezeit durch den Plenarsaal. ({0}) Immerhin: Zum Zeitpunkt der D-Mark-Eröffnungsbilanz hatten die landwirtschaftlichen Unternehmen Kreditverbindlichkeiten in Höhe von umgerechnet 3,9 Milliarden Euro. Schon bei oberflächlicher Analyse war festzustellen, dass bei normaler Umrechnung der Altschulden die überwiegende Mehrzahl der betroffenen Betriebe in die Gesamtvollstreckung getrieben worden wäre. Gerade weil damals nicht genügend regionale Neugründer vorhanden waren, wären nicht nur Zigtausende von Arbeitsplätzen gefährdet gewesen, sondern im östlichen Teil unseres Vaterlandes hätte sich nie eine flächendeckende, wettbewerbsfähige Landwirtschaft etablieren können. ({1}) Das Hauptproblem der so genannten Altschulden war die extrem unterschiedliche Werthaltigkeit dieser Kredite. Es gab zum Beispiel die Kredite für Neuinvestitionen in einen nach DDR-Maßstäben hoch modernen Milchkuhstall, dessen Ausrüstung und Technologie nach der Wende völlig veraltet waren. Daneben gab es den Kredit, der auf einem Beschluss der SED-Kreisleitung beruhte. Damit wurde der Betrieb verpflichtet, kommunale Straßen, Kindergärten oder Kinderferienlager zu bauen und zu bezahlen. Bezahlt wurden diese Dinge durch die LPGs, finanziert durch Kreditierung seitens der Genossenschaftsbank der ehemaligen DDR. Selbstverständlich hätte man 1990 theoretisch auch die Möglichkeit gehabt, die Werthaltigkeit der Kredite durch eine Einzelfallbewertung konkret zu prüfen und zu korrigieren. Aber seien wir zumindest heute ehrlich: Diese Einzelfallbewertung wäre schon allein aufgrund des Datenumfangs zum Scheitern verurteilt gewesen. Zusätzlich erhob sich auch die Frage: Wer hätte diese Wertfeststellung eigentlich treffen können? Welcher Sachverständige konnte 1990 nachvollziehbar feststellen, welchen Wert eigentlich eine Milchviehanlage mit 2 000 Tieren auf fremden Grund und Boden ohne Erbbaurechtsvertrag hatte? Was war eine Anlage mit 1 200 Säuen wert, die nicht nur auf fremdem Grund und Boden stand, sondern dessen Bodeneigentümer in den alten Bundesländern wohnte und im Rahmen eines so genannten Kreispachtvertrages enteignet wurde? ({2}) Aus diesen Gründen war es richtig, dass 1990 die damalige CDU/CSU/FDP-geführte Bundesregierung sanierungsfähige Unternehmen mit Altschulden durch zwei Maßnahmen unterstützte: Zum einen wurden Altschulden in Höhe von circa 0,7 Milliarden Euro von der Treuhand übernommen. Zum anderen wurden damals Schulden in Höhe von rund 2 Milliarden Euro durch zwischen den Unternehmen und den altkreditführenden Banken abgeschlossene zivilrechtliche Rangrücktrittsvereinbarungen beglichen und somit die landwirtschaftlichen Unternehmen entlastet. ({3}) Durch diese Rangrücktrittsvereinbarungen traten folgende günstige Wirkungen ein: Kredite, die durch Altschulden begründet waren, wurden nachrangig eingestellt und durften in der Bilanz als Eigenkapital ausgewiesen werden. Die Unternehmen wurden damit bilanziell de facto schuldenfrei gestellt, hatten Eigenkapital und konnten neue Kredite aufnehmen. Die Altschulden mussten nur im Falle einer Gewinnerwirtschaftung zurückgezahlt werden. Lediglich 20 Prozent des handelsrechtlichen Überschusses mussten abgeführt werden, das heißt, 80 Prozent konnten die Unternehmen behalten. Zinsen fielen dabei nur in Höhe des so genannten Euribor-Zinssatzes an. Zinseszinsen wurden nicht erhoben. Die Rangrücktrittsvereinbarung war übrigens auch für die altschuldenführenden Banken ein gutes Geschäft. Die Banken waren im Endeffekt so gestellt, als hätten die LPG-Nachfolgeunternehmen die im Rahmen der Rangrücktrittsvereinbarung gezeichneten Altschulden bereits zurückgezahlt. Im Endeffekt führte das allerdings dazu, dass viele Unternehmen lediglich die jährlichen Verwaltungsgebühren entrichten mussten, sich aber andererseits wirtschaftlich stabilisierten. Zugegebenermaßen war die damalige Altschuldenregelung sehr großzügig. Ich weiß auch, dass viele landwirtschaftliche Unternehmen bei neuen Krediten auch heute noch eine solche Rangrücktrittsvereinbarung unterzeichnen würden. Aber das kann man auch anders formulieren: Diese Regelung wurde von Union und FDP in Kraft gesetzt, als die Politik des Aufbaus Ost noch Fantasie hatte. Diese Regelung wurde in Kraft gesetzt, als die Landwirtschaft noch als Wirtschaftszweig betrachtet wurde. ({4}) Im April 1997 erging das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, in dem einerseits die Verfassungsmäßigkeit der getroffenen Altschuldenregelung bestätigt und andererseits der Gesetzgeber verpflichtet wurde, die Zielerreichung der bilanziellen Belastungen zu überprüfen. Das Bundesverfassungsgericht ordnete de facto eine Mid-Term-Review an, der die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung auch nachkam. Aus diesem Grund wurde 1998 von der Bundesregierung eine entsprechende wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben. Man muss sagen, dass ihr Ergebnis nur für Laien eine Überraschung war: Mit der bis heute gültigen bilanziellen Entlastung würden bis 2010 lediglich 5 Prozent der Unternehmen ihre Altschulden vollständig zurückzahlen. Insgesamt würde die Summe des Altschuldenbestands der Unternehmen bis 2010 durch aufgelaufene Zinsen sogar wieder ansteigen. Aus Sicht der Bundesregierung war es somit erforderlich, die Altschuldenregelung anzupassen. Weil man auch einmal überparteiliche Gemeinsamkeiten festhalten sollte, stelle ich für meine Fraktion fest: Dieser Anpassungsbedarf ist unstreitig. ({5}) - Ich dachte, auch auf der linken Seite des Hauses würde jetzt geklatscht. Aber Sie haben gleich noch eine Chance zu klatschen. Allerdings war meine Fraktion über den Realisierungszeitraum ein wenig erstaunt. Man könnte auch so formulieren: Sie brauchten nach Vorlage des Gutachtens ganze fünf Jahre, um einen beratungsreifen Gesetzestext vorzulegen, ({6}) und das, obwohl Sie schon vor der Bundestagswahl 1998 eine schnelle Lösung der Altschuldenfrage versprochen hatten. Sie erweckten bereits im Wahlkampf 1998 den Eindruck, den entsprechenden Gesetzestext in der Schublade zu haben. ({7}) Nach dem Regierungswechsel 1998 habe ich den Fortgang der Dinge aus sächsischer Perspektive mit großem Interesse verfolgt. Denn seinerzeit sind wir im sächsischen Landtag - man kann fast sagen: monatlich - von den Sozialdemokraten gedrängt worden, endlich einen entsprechenden Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag auf den Weg zu bringen. Meine Damen und Herren insbesondere von der SPD, offenbar haben Sie beim Wechsel von der Oppositionsbank auf die Regierungsbank vergessen, Ihre Schubladen mitzunehmen. ({8}) Entweder war Ihr Entwurf nicht mehr da oder er war, wie die Juristen zu sagen pflegen, unauffindbar verräumt. ({9}) Die Suche war zugegebenermaßen nicht ganz einfach. Denn immer, wenn Sie gerade in Ihr verstaubtes Archiv hinabsteigen wollten, kam etwas dazwischen. Da war die BSE-Geschichte - hier könnte man fragen, was Rinderwahn mit Altschulden zu tun hat -, dann wurde die Ministerin ausgewechselt. Aus heutiger Sicht muss man sagen: Glücklicherweise hat sich Frau Künast nicht in den Altschuldenprozess eingeschaltet; denn sonst wären wir noch nicht so weit. ({10}) Dann kam auch noch eine Bundestagswahl dazwischen. Aber im Jahre 2002 war alles ganz einfach: Man musste nur noch auf eine Gute-Laune-Phase des Finanzministers warten und blitzschnell zuschlagen. ({11}) Unter Berücksichtigung dieser Umstände war das ein regelrechtes Schnellverfahren. Das sage ich nur deshalb, weil Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, manchmal auch anders können. Ich erinnere bloß an das Thema Ausbildungsplatzabgabe, bei dem ich mir ein ähnlich langes Nachdenken wünschen würde. ({12}) Der vorliegende Gesetzentwurf zerfällt im Wesentlichen in zwei Teile: Erstens wird die bestehende Rangrücktrittsvereinbarung massiv verschärft. Zweitens können sich die Unternehmen von dieser verschärften Verpflichtung freikaufen, indem sie einen einmaligen Ablösebetrag bezahlen. Obwohl ich selbst am Anfang der Diskussion - damit meine ich 1998 - lieber die bestehenden Altkredite auf ihre Werthaltigkeit überprüft gesehen hätte, um daraus den Ablösebetrag zu ermitteln, bin auch ich mittlerweile - nach Abwägung aller Umstände - der Auffassung, dass der Grundansatz dieses Gesetzes richtig ist. ({13}) Frau Wolff, wenn Sie mitschreiben wollen: Das wäre dann die zweite Gemeinsamkeit. ({14}) Allerdings wird die Decke der Gemeinsamkeiten jetzt immer dünner. Bei der gedruckten Fassung des Gesetzentwurfs sieht meine Fraktion noch erheblichen Nachbesserungsbedarf. Wir sind nach wie vor der Auffassung, dass die verschärfte Rangrücktrittsvereinbarung hart an der Kante der Verfassungskonformität entlang schlittert. Dabei geht es mir weniger um den abzuführenden Prozentsatz, den Sie ja von 65 auf 55 Prozent senken wollen, es geht vielmehr um die veränderte Bemessungsgrundlage für den Gewinn. Selbst ein Abführungssatz von 55 Prozent führt in der Praxis häufig dazu, dass der gesamte handelsrechtliche Überschuss abgeführt werden muss. Zweiter Kritikpunkt: Die Ablöseregelung allein an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens zu orientieren ist nicht richtig. Selbstverständlich ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen sehr unterschiedlich, aber seien wir ehrlich: Es gibt da auch subjektive Faktoren. Es gibt nun einmal gute und weniger gute Geschäftsführer, es gibt nun einmal erfolgreiche und weniger erfolgreiche Unternehmen. Meine Fraktion ist deshalb der Auffassung, dass es nicht Aufgabe des vorliegenden Gesetzentwurfs sein kann, gutes Management zu bestrafen und schlechtes Management zu belohnen. ({15}) Ihr Gesetzentwurf folgt an dieser Stelle - ich gebe zu, das ist fast unzulässigerweise verkürzt dargestellt - zu stark dem Sozialhilfeprinzip. Die Betriebe würden sich darauf einstellen: Sie würden praktisch all ihre Fantasie einsetzen, um sich möglichst arm darzustellen. Dagegen würden Sie sich wundern, wie dasselbe Unternehmen gegenüber seiner Hausbank plötzlich einen Verlust in einen konzeptionellen Gewinn umwandelt bzw. umwandeln muss, denn neue Kredite bekommt man natürlich nur, wenn man konzeptionellen Gewinn ausweist - getreu dem Motto „Wenn du zur Altschuldenstelle fährst, dann nimm das Fahrrad, brauchst du einen Kredit von der Hausbank, dann fahre mit dem Mercedes vor“. Ich weiß auch nicht, wie die zuständige Behörde objektiv einschätzen soll, ob der seitens des Betriebes vorgeschlagene Ablösebetrag angemessen ist. Deshalb schlägt meine Fraktion zur Ermittlung der Gewinnerwartung von Unternehmen ein standardisiertes, betriebsgruppenindividuelles mathematisches Verfahren vor, welches die Verzinsung von Produktionsfaktoren angemessen berücksichtigt. Diese de facto kalkulatorische Gewinnermittlung und der daraus ermittelte Ablösebetrag könnten den Verwaltungsaufwand erheblich senken und überhaupt erst eine Entscheidungsgrundlage für die Ablösevereinbarung bilden. Leider haben Sie unseren Antrag im Ausschuss abgelehnt, sodass wir den vorliegenden Gesetzentwurf leider ebenfalls ablehnen müssen. Nun noch ein paar Worte zum Gesetzentwurf der Liberalen. Die FDP will den großen Schnitt dadurch machen, dass sie ganz einfach festlegt: Jeder soll ein Drittel seiner Altschulden begleichen und basta. Die Vorteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand: Es handelt sich um ein extrem einfaches Verwaltungsverfahren. Ein mit der Prozentrechnung halbwegs vertrauter Bearbeiter könnte die Bescheide erstellen. Der Finanzminister bekommt sogar mehr Geld als im Regierungsentwurf eingeplant; dafür gibt es einen Pluspunkt - so sind wir zu den Liberalen. Andererseits liegt in der extremen Pauschalität gerade das Problem: Kleine Schuldner würden unter- und große Schuldner würden überfordert. Das Problem, was wir mit denjenigen Unternehmen machen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit diesen Ablösesatz objektiv nicht aufbringen können, bleibt ungelöst: Keine Bank der Welt würde diesen Unternehmen den Ablösebetrag finanzieren. Das heißt, in der Einfachheit Ihres Gesetzes liegt zugleich die große Gefahr; das wäre ein Minuspunkt. Ich mache es einfach jetzt: Pluspunkt und Minuspunkt ergeben null, deshalb wird sich meine Fraktion bezüglich des Gesetzentwurfs der FDP der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, trotzdem ist es noch nicht ganz zu spät, die guten Anregungen von CDU und FDP in die für das Gesetz maßgeblichen Verwaltungsvorschriften zu etablieren: Erstens. Bestimmen Sie die Gewinnerwartung des Unternehmens nicht durch Befragung, sondern mathematisch, also in einem standardisierten Verfahren. Zweitens. Entbinden Sie das Unternehmen bei einer bestimmten Angebotshöhe von aufwendigen Kontrollverfahren, getreu dem Motto: Je niedriger das Angebot, desto höher die Kontrolldichte. Weil ich davon ausgehen muss, dass sich meine Fraktion heute bei der Schlussabstimmung völlig unverdientermaßen nicht durchsetzen kann, erlaube ich mir noch einen Appell an die Damen und Herren von Rot-Grün: Erstens. Überlassen Sie die Ausformulierung der entsprechenden Verwaltungsvorschriften nicht allein der Bundesregierung und der Verwaltung! Zweitens. Sorgen Sie bei der praktischen Umsetzung des Gesetzes für ein nachvollziehbares, faires Verfahren, welches auch die Verhältnismäßigkeit gegenüber denjenigen Unternehmen wahrt, die ihre Altschulden vollständig zurückgezahlt haben bzw. als Neu- und Wiedereinrichter mit immensen Neukrediten belastet sind! Drittens. Sorgen Sie dafür, dass gutes Management nicht bestraft und Missmanagement nicht belohnt wird! Viertens. Beugen Sie Missbrauch vor! Auch in der Landwirtschaft sollte nämlich gelten: Leistung muss sich wieder lohnen. Danke schön. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Behm vom Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wir gemerkt haben, verführt dieses Thema dazu, zurückzublicken. Ich bitte Sie, dass Sie auch mir einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit erlauben. Bevor am 9. November 1989 die Mauer fiel, hat es 40 Jahre lang zwei deutsche Staaten gegeben. In diesen 40 Jahren hat sich bedingt durch die Zuordnung zu unterschiedlichen politischen Systemen eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung vollzogen. Auf beiden Seiten der Mauer lebten Deutsche: im Wesen gleich, mit einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, mit familiären und freundschaftlichen Kontakten untereinander - die hat es damals Gott sei Dank gegeben -, mit den gleichen Empfindungen, wenn es um Liebe und Schmerz, um Gerechtigkeit und um die Sehnsucht nach einer friedlicheren Welt ging. Deswegen hatte ich schon, als es die DDR noch gab, einen Hang zu den Grünen. ({0}) Ich gehe davon aus, dass Sie alle hier mit mir froh sind, dass Deutschland wiedervereint ist. Die Vereinigung war tatsächlich eine große Leistung. Der Vereinigungsvertrag und einige daraus abgeleitete Gesetze dagegen verdienen weniger Beifall. Auf die Lasten der deutschen Teilung häuften sich Vereinigungslasten. Diese Lasten tragen alle Deutschen, aber nicht alle gleichermaßen: Es gibt besonders betroffene Gruppen. Als Beispiele möchte ich nur die Kapitel „Rückgabe vor Entschädigung“, „Bodenreform“ und „Altschulden“ nennen. Die Betroffenen leben zum größten Teil im Osten Deutschlands. Der 9. November 1989 liegt fast 15 Jahre zurück und die deutsche Einheit besteht seit fast 14 Jahren. Insofern ist es aus meiner Sicht dringend geboten, mit den Vereinigungsfolgen endlich aufzuräumen. Aus diesem Grund habe ich es begrüßt, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Regelung der Altschulden in der Landwirtschaft vorgelegt hat. Dieser Entwurf ist so umstritten wie selten ein Gesetzgebungsvorhaben: Landwirtschaftsbetriebe mit Altschulden - LPG-Nachfolgebetriebe - bewerten die neuen Regelungen zur Rückzahlung der Altschulden in der Regel sehr kritisch: Sie befürchten aufgrund der erhöhten Gewinnabführung eine massive Gefährdung ihrer Solvenz. Betriebe ohne Altschulden - Wieder- und Neueinrichter - halten dagegen die neuen Regelungen für zu lax: Sie machen den Vorwurf, dass die LPG-Nachfolger weiterhin subventioniert werden und dass damit der Staat die von ihnen seit langem kritisierte Wettbewerbsverzerrung fortsetze. Beide Seiten sind sich jedoch darüber einig - Herr Jahr hat das vorhin gesagt -, dass Regelungsbedarf besteht. Prinzipiell wird auch die entscheidende Neuerung des Gesetzentwurfs anerkannt, dass nämlich die Altschulden durch einen betriebsindividuell festzusetzenden, einmalig zu zahlenden Ablösebetrag endgültig getilgt werden können. Insbesondere zum Vollzug des Gesetzes gab es aber erheblichen Gesprächsbedarf. In einer Vielzahl von Gesprächen mit betroffenen Landwirten und Verbänden haben wir Parlamentarier die Gelegenheit gehabt, Kritik und Anregungen aufzunehmen. Im Ergebnis haben die Koalitionsfraktionen den Regierungsentwurf an einigen Punkten geändert. Diese Änderungen sollen bewirken, dass möglichst viele Betriebe die einmalige Chance ergreifen, ihre Altschulden abzulösen: Erstens haben wir den Abführungssatz von 65 Prozent auf 55 Prozent vermindert. Zweitens haben wir den Abdiskontierungszinssatz zur Ermittlung des Ablösebetrages auf der Basis eines mehrjährigen Mittelwertes festgelegt. Dies wirkt sich mindernd auf den Ablösebetrag aus. Drittens haben wir einen Mindestablösebetrag in Höhe der eingesparten Bank- und Wirtschaftsprüfungskosten eingeführt. Mit diesen Änderungen sind die Rückzahlungsbedingungen so gestaltet, dass sie angemessen und für die Betriebe zu schultern sind. Im Übrigen werden auch zukünftig nur die Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften, zur Bedienung der Altschulden herangezogen. Herr Jahr, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe wird also ausdrücklich berücksichtigt. Aus diesem Grund ist auch an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht zu zweifeln. Den Kritikern, die das Gesetz als Subvention für rote Barone brandmarken, sei gesagt: Aufgrund der von CDU und FDP geschaffenen Rechtslage ist seit Jahren klar, dass die LPG-Rechtsnachfolger ihre Altschulden nie komplett zurückzahlen werden. Es ist Rot-Grün nicht möglich, das Rad zurückzudrehen. Die Rückzahlungsbedingungen lassen sich heute nicht beliebig, sondern nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit verschärfen. Durch unseren Gesetzentwurf schaffen wir keine zusätzliche Subventionswirkung. Im Gegenteil: Er führt zu zusätzlichen Einnahmen für den Erblastentilgungsfonds in dreistelliger Millionenhöhe. CDU und FDP haben die Rückzahlung der DDR-Kredite mit ihrer damaligen Regelung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Ohne das aktuelle Landwirtschafts-Altschuldengesetz würde es weiterhin den Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung zulasten von Neuund Wiedereinrichtern geben. Der rot-grüne Gesetzentwurf führt dazu, dass LPG-Nachfolgebetriebe und neu gegründete Betreibe nunmehr zumindest bezüglich der Schulden gleichgestellt sind. Damit kann ein Kapitel leidvoller Vereinigungsgeschichte endlich geschlossen werden. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, das Klima der Gesprächsführung - es ist ja keine Auseinandersetzung - macht deutlich, dass wir alle froh sind, dass wir hier zu einer Lösung kommen werden, die der besonderen Situation des ländlichen Raums und der Landwirtschaft im Osten Rechnung trägt. Als ich 1998 in den Bundestag kam, war mir - das muss ich zu meiner Schande gestehen - die Altschuldenproblematik nicht sehr bekannt. Bei Besuchen vor Ort, bei Gesprächen mit vielen Betroffenen und bei einer fraktionsinternen Anhörung haben wir uns sehr intensiv um die Materie bemüht. Ich sage es ganz einfach: Ich bin sehr stolz darauf, dass meine kleine Fraktion an dieser Stelle einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat. ({0}) Lieber Peter Jahr, ich bin ein bisschen enttäuscht von euch. Du hast hier vorhin 18 Minuten lang geredet. Ich denke, wenn ihr vorher schon ähnlich viel Kraft aufgewendet hättet, dann hättet auch ihr einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen können. ({1}) In diesem Gesetzentwurf hätten dann möglicherweise die Dinge gestanden, die ihr wollt und die wir dann nicht über den Verordnungsweg hätten regeln müssen. Es lohnt sich nicht, über diese Sache zu streiten. Alle, die die Materie nicht kennen, werden sie auch am Ende der Debatte nicht verstanden haben. All diejenigen, die sich mit dem Thema auskennen, merken sowieso, ob wir uns damit wirklich ernsthaft auseinander setzen oder ob wir uns nur herumstreiten. Das will ich nicht tun. Ich habe mit tief betroffenen Wiedereinrichtern gesprochen, die mir schwerste Vorwürfe gemacht haben, wie mit diesem Problem umgegangen wurde. Ich habe in Gaststätten gesessen, die den LPG-Nachfolgern gehörten. Ich bin auf Straßen gefahren und war in Kindergärten zu Besuch, die noch einen Teil der Altschulden ausmachten und die Bedrängnis verstärkten. Es geht darum, in diesem speziellen Fall ein vernünftiges Maß an Zukunftschancen und Gerechtigkeit herzustellen. Lieber Herr Thalheim, ich glaube, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der von Rot-Grün getragen wird, den Anforderungen, die wir an ihn stellen, nicht gerecht wird. Ich meine, er ist steuersystematisch äußerst fragwürdig. Ich bin der Meinung, dass Sie das selbst erkannt haben, weil Sie das zunächst anvisierte Einnahmeziel von 600 Millionen Euro auf 370 Millionen Euro reduziert haben. Sie werden mit dem individuellen Prüfverfahren, das Sie durchführen lassen wollen, einen bürokratischen Moloch aufbauen, der ebenfalls dazu beitragen wird, dass dieser Betrag nicht erzielt wird. Die individuelle Prüfung erscheint zunächst sehr vernünftig. Es leuchtet allerdings bei genauerer Betrachtung nicht ein, dass jemand, der in den letzten Jahren gut gewirtschaftet hat, heute dafür bestraft werden soll, und derjenige, der sich sehr wenig Mühe gegeben hat, dafür honoriert wird. Das ist doch wirklich nicht logisch. Lassen Sie uns auch - Herr Dr. Jahr hat es schon angesprochen - über Möglichkeiten reden, den Zahlungsverpflichtungen zu entgehen. Untergesellschaften sind nun einmal ein sehr geeignetes Mittel, um Zahlungsverpflichtungen auszuweichen. Der Nachweis eines Gutachtens - das ist zwar ein bisschen umstritten, aber die Subventionswirkungen sind erheblich - wird im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht aufgegriffen. Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden, den ich in drei Punkten kurz skizzieren will und den ich für den besseren halte. Das Problem in unserem Gesetzentwurf - das ist völlig richtig - ist die Festlegung der Ablösung der Altschulden auf 33 Prozent. Aber schauen wir uns die Forderungen der anderen an: Die Wiedereinrichter verlangen einen Ablösebetrag von mindestens 50 Prozent und die LPG-Nachfolgebetriebe meinen, 15 Prozent seien die oberste Grenze. Die Mitte dieser beiden Zahlen liegt bei etwa 33. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich wäre sogar bereit gewesen, über 25 Prozent nachzudenken. Unser System hat einen Riesenvorteil. Es sichert innerhalb von 15 Jahren die Einnahmen. Das muss man besonders in einer Zeit berücksichtigen, in der wir den Menschen in den neuen Ländern verstärkt helfen wollen. Unser Vorschlag sichert dem Bund die Einnahmen und beendet im Grunde genommen die Auseinandersetzung über diese Problematik. Wer nicht in der Lage ist, den von uns vorgeschlagenen Ablösebetrag - von mir aus können es auch 25 Prozent sein - aufzubringen, der wird sich allerdings auf dem zukünftigen Agrarmarkt nicht behaupten können. Insofern ist der pauschalisierte Satz eine sehr unbürokratische Maßnahme, die meiner Meinung nach ein hohes Maß an Gerechtigkeit beinhaltet. Sie würde auch dazu beitragen, insgesamt zu einer Befriedung zu kommen, die diesem Problem gerecht wird. Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, der von Rot-Grün getragen wird, nicht zustimmen. Wir sind aber hoffentlich alle froh darüber, dass wir dieses Thema befriedigend abgearbeitet haben. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Bahr von der SPD-Fraktion.

Ernst Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002620, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Jahr, Sie haben Ihre Rede gut angefangen, indem Sie wie Herr Thalheim, Frau Behm und auch Herr Goldmann zunächst sachlich dargestellt haben, worum es geht. Das ist erfreulich. Aber die Art und Weise, wie Sie dann versucht haben, zu begründen, dass unser Gesetzentwurf an der Sache vorbeigeht oder zumindest nichts taugt, hat wenigstens mir persönlich den Eindruck vermittelt, dass wir mit dem, was wir hier vorlegen, sehr gut liegen. Deswegen werden wir es so beschließen. ({0}) Das Landwirtschafts-Altschuldengesetz, Herr Jahr, zeigt, dass man schon 1990 mit Fantasie so manche Probleme in vielen Wirtschaftsbereichen wie der Industrie, des Handwerks und des Mittelstandes erfolgreich hätte lösen können. Wir legen auch dank der Mitarbeit des damaligen Mitgliedes des Bundestages, Dr. Thalheim, eine Lösung vor, die sich noch heute sehen lassen kann und zum Erfolg führt. In den übrigen Wirtschaftsbereichen hätte man sicher mit Fantasie auch einiges machen können, anstatt alles platt zu machen, was wir heute bedauern. Das Landwirtschafts-Altschuldengesetz wurde nach der Wiedervereinigung verabschiedet und die Umstrukturierung der Landwirtschaftsbetriebe ist mehr oder weniger gelungen. Die Betriebe haben sich stabilisiert. Durch diese Maßnahmen wurde vermieden, dass sanierungsfähige Unternehmen in Konkurs gehen. Insofern ist die Situation deutlich besser als vor zwölf oder 14 Jahren. Jedoch wird das politische Ziel, dass bis 2010 alle betroffenen Landwirtschaftsbetriebe ihre Altschulden zurückzahlen, auf der Basis der gegenwärtigen Rangrücktrittsvereinbarungen nicht erreicht. Sie bieten den Betrieben wenig Anreize, Schulden zu bedienen. Eine Änderung des geltenden Landwirtschafts-Altschuldengesetzes ist aus haushaltspolitischer Sicht unumgänglich; denn aufgrund der aufgelaufenen und der weiter auflaufenden Zinsen steigen die Forderungen an. Letztlich ist der Bund über den Erblastentilgungsfonds der Gläubiger der Altschulden. In ihm werden die wesentlichen Elemente der finanziellen Erblasten der ehemaligen DDR zusammengefasst, verzinst und auch getilgt. Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist die beschleunigte Ablösung der Altschulden durch die Betriebe entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Deshalb wird die Bemessungsgrundlage verbreitert und der Abführungssatz erhöht. Zugleich wird den landwirtschaftlichen Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, ihre Altschulden freiwillig in einem einheitlichen Ablöseverfahren gegen Zahlung eines unternehmensindividuell bestimmten Ablösebetrages vorzeitig zurückzuzahlen. Für Unternehmen, die auf absehbare Zeit keine oder nur sehr geringe Gewinne erwirtschaften, wird ein Mindestablösebetrag eingeführt. Dieser entspricht dem Barwert der aufgrund der Auflösung der Rangrücktrittsvereinbarung ersparten Aufwendungen an Bankgebühren und an Wirtschaftsprüferkosten. Unternehmen, die die Altschulden nicht ablösen, werden auch künftig nur im Falle der Gewinnerzielung die Zahlung leisten müssen, dann allerdings erhöhte Zahlungen. ({1}) Altschuldenbedingte Insolvenzen wird es also in diesem Zusammenhang auch in Zukunft nicht geben. Der derzeit aufgelaufene Gesamtschuldenbetrag liegt bei 2,5 Milliarden Euro. Mit der alten Regelung hätten wir einen Barwert von 320 Millionen Euro zu erwarten. Mit der neuen Regelung, die wir jetzt vorlegen, werden es 560 Millionen Euro sein. Abschließend bleibt festzuhalten, dass der FDP-Entwurf eine relativ ungerechte Lösung darstellen würde, wenn er auch unbürokratischer ist, was ich sehr wohl in Rechnung stellen will. Er würde aber einige Unternehmen bevorteilen. Wir wollen aber Subventionen abbauen und nicht neue schaffen. Andere Betriebe würden vielleicht unter dieser Last zusammenbrechen. Deswegen halten wir es für sinnvoll, diese Regelung abzulehnen. Eine sinngemäße Anpassung des Rangrücktritts wäre im Ernst Bahr ({2}) Übrigen auch juristisch problematisch. Insofern ist Ihr Antrag auch aus dieser Sicht nicht sehr gut geeignet. In Anbetracht der allgemeinen haushaltspolitischen Lage wäre es außerdem unverantwortlich, auf die Rückzahlungen staatlich gewährter Kredite durch leistungsfähige Unternehmen zu verzichten. Das ist einfach nicht machbar. ({3}) - Nein. Wir sprechen über fiktive Zahlen; das wissen wir auch. Es ist gelungen, eine Lösung der Altenschuldenproblematik aufzuzeigen, bei der jeder Betrieb eine Chance erhält, seine Altschulden entsprechend den ökonomischen Möglichkeiten zu bedienen. ({4}) - Herr Goldmann, ich sage noch einmal: Wir sind von fiktiven Zahlen ausgegangen. Wir haben versucht, das so seriös wie möglich zu berechnen. Das ist eine solide Grundlage für das, was wir geschaffen haben. Wir gehen davon aus, dass derjenige, der Gewinne macht, auch Schulden bedienen muss. Das ist ein ganz realer Grundsatz. Es wird niemand überfordert. In dem Sinne ist das, was wir hier machen, eine zumutbare Lösung. Mit der Lösung des Altschuldenproblems wird auch der Konflikt zwischen den Agrargenossenschaften und den Wieder- und Neueinrichtern ein für alle Mal beendet. Insofern ist das eine gute Lösung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An 18 Minuten Redezeit der CDU/CSU-Fraktion kann ich nicht vorbei. Herr Jahr, Sie haben den Geist der Wendezeit beschworen. Das hat fast an Nostalgie gegrenzt. Das hätten Sie als Vertreter Ihrer Fraktion gerade nicht sagen dürfen. Denn Sie sind daran schuld, dass die Schulden so immens angewachsen sind. Sie sind daran schuld, dass es bis 1998 keine vernünftige Regelung im Sinne des Bundes und der Betriebe gegeben hat. ({0}) 14 Jahre nach der Wiedervereinigung muss ich konstatieren, dass es der damaligen CDU/CSU-Regierung nicht gelang oder auch nicht gelingen wollte, dieses Problem vom Tisch zu bekommen. Sie haben in Ihrer Rede gesagt, Herr Jahr, dass die alte Regelung großzügig gewesen sei. Sie war so großzügig, dass sie die Betriebe in die Schuldenfalle geführt hat und ihnen keine Luft mehr zum Atmen ließ. ({1}) Der Druck wurde von Jahr zu Jahr größer. Wie hoch die Verschuldung angestiegen ist, wurde bereits anhand von Zahlen dargelegt. Letztlich ist keine akzeptable Lösung für den Bund und die betroffenen Betriebe in Aussicht gestellt worden. Wir alle wissen, dass die alte Regelung nicht unbedingt dazu motivierte, die Schuldenlast zu tilgen. Bisher müssen 20 Prozent der Gewinne zur Schuldentilgung eingesetzt werden. Dabei gibt es einige Gestaltungsmöglichkeiten und keine zeitliche Begrenzung. Wir wissen aber auch, dass die Verbindlichkeiten zu einem nicht unerheblichen Teil aus Investitionen entstanden sind, die bereits im Rahmen der Treuhandentschuldung 1991 zu 100 Prozent als entschuldungsfähig anerkannt wurden. Aufgrund der damaligen Finanzsituation wurden aber nur 78 Prozent entschuldet. Die restlichen Schulden sind an den heute zur Debatte stehenden Betrieben hängengeblieben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eröffnen wir endlich die Möglichkeit, durch die freiwillige Zahlung ({2}) eines einmaligen Ablösebetrages die Vergangenheit abzuschließen und Planungssicherheit für zukünftige Investitionen zu bekommen. Ich kann und will nicht verhehlen, dass der ursprünglich vorgelegte Gesetzentwurf aus meiner praxisnahen und ostdeutschen Sicht förmlich nach Änderung verlangte. Warum? - Erstens gab für mich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1996 die Richtung vor. Danach sollte die Ablösung der Altschulden bei ordnungsgemäßer Wirtschaftsführung möglich sein, ohne, um es salopp auszudrücken, in den Ruin zu führen. Hierbei geht es auch um Arbeitsplatzsicherung. Zweitens. Die Absenkung des Abführungsprozentsatzes von ursprünglich 65 Prozent auf 55 Prozent bietet wesentlich mehr Betrieben die Chance zur Ablösung. Unser Ziel ist es, den größten Teil der Betriebe zu motivieren, unser Angebot anzunehmen. Aus diesem Grund wird drittens bei der Barwertberechnung nicht, wie vorgesehen, der Referenzzinssatz zum Ende der Antragsfrist angesetzt, sondern der Durchschnitt seit Bestehen dieses Zinssatzes, also seit 1997. Auf diese Weise entstehen reelle Berechnungsgrundlagen. Viertens. Wir haben eine Mindestablöseregelung eingefügt. Auch und gerade Betriebe mit geringen Ertragsaussichten sollen die Chance der Entschuldung bekommen. Sie können damit Bankgebühren und andere Aufwendungen sparen und den Gegenwert als Mindestablöse abführen. Dem, der von der Ablöseregelung keinen Gebrauch machen will, bleibt die Variante der jährlichen Bedienung der Schulden aus dem Gewinn. Waltraud Wolff ({3}) Heute wird auch über unseren Entschließungsantrag abgestimmt, der den Auftrag zur Umsetzung unterstützt. An dieser Stelle möchte ich mich beim BMF und beim BMVEL für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. ({4}) Aber wir haben noch einiges vor uns. Deshalb bringe ich an dieser Stelle meinen Wunsch zum Ausdruck, dass die Durchführungsverordnung sehr zügig kommt, um für die Betriebe Sicherheit zu schaffen. Wie bei allen Themen rund um die deutsche Wiedervereinigung wird auch die Diskussion um die landwirtschaftlichen Altschulden sehr kontrovers und emotional geführt. Ich habe den Wunsch, dass wir künftig sachlich bleiben, dass die verschiedenen Interessengruppen auf eine erneute Emotionalisierung verzichten und dass wir alle gemeinsam einen Schlussstrich unter die Altschulden ziehen. Schwarz-Gelb hatte lange genug Zeit, ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Sie bringen jetzt Ihre Vorschläge vor, Herr Jahr. Sie hätten sie jedoch schon vor 1998 einbringen sollen. Aber wie bei der EU-Agrarreform oder bei der Organisationsreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist die CDU/CSU nicht in der Lage, sich zugunsten der richtigen Sache zu entscheiden, wenn es dabei zu Missstimmungen in der eigenen Wählerklientel kommen könnte. Es ist aber noch nicht zu spät. Setzen Sie doch hier und heute ein Zeichen. Sie selbst haben schließlich gesagt, unser Gesetzentwurf sei im Grundsatz gut und richtig. Lassen Sie uns dieses Kapitel gemeinsam zu Ende schreiben und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede der Kollegin Petra Pau nehmen wir mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen, Drucksache 15/1662. Der Haushaltsausschuss empfiehlt unter I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3002 ({0}), den Gesetz- entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- men der Opposition angenommen. 1) Anlage 3 Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Unter II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3002 ({1}) empfiehlt der Haushaltsausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen. Unter III seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3002 ({2}) empfiehlt der Haushaltsausschuss, den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der FDP zur endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftli- cher Unternehmen auf Drucksache 15/2468 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der FDP zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- gegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Die weitere Beratung entfällt damit. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie Zusatzpunkt 4 auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Heiderich, Gerda Hasselfeldt, Peter H. Carstensen ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU Grüne Gentechnik in Deutschland nutzen Verlässliche Rahmenbedingungen für einen verantwortungsvollen Einsatz in der Landwirtschaft schaffen - Drucksache 15/2822 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) Rechtsauschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit des Saatgutes sicherstellen - Drucksache 15/2972 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({5}) Rechtsauschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeodneter und der Fraktion der FDP Chancen der Grünen Gentechnik nutzen Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren - Drucksache 15/2979 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({6}) Rechtsauschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin von der SPD-Fraktion.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute diskutieren wir erneut über die Frage, wie wir mit der Grünen Gentechnik umgehen sollen. Darüber haben wir schon mehrfach geredet. Wir werden in den kommenden Wochen im Zusammenhang mit der Debatte über den Gesetzentwurf der Bundesregierung alle grundsätzlichen Fragen besprechen. Wir wissen, dass die Positionen durchaus kontrovers sind. Das zeigt sich auch an den uns heute vorliegenden Anträgen. Jeweils einen haben die CDU/CSU - Drucksache 15/2822 -, SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie die FDP vorgelegt. Die Opposition betont sehr gerne die Möglichkeiten, die sich mit dieser innovativen Technik verbinden. Auch wir tun dies, verweisen aber gleichzeitig darauf, dass der Nachweis der Schadensfreiheit und des positiven Nutzens für die Menschen sowie für die Natur und insbesondere für die Artenvielfalt in vielen Punkten noch aussteht. Wir sind der Meinung, dass man darauf gerade bei Lebensmitteln, die tagtäglich von einer großen Zahl von Menschen verzehrt werden, in keiner Weise verzichten darf, und zwar auch deshalb nicht, weil sonst das Vertrauen der Verbraucher, die die Lebensmittel kaufen sollen, in die Produkte unserer Landwirtschaft nicht gesichert werden kann. ({0}) Wenn ich mir die beiden Anträge der Oppositionsfraktionen anschaue, dann stelle ich fest, dass der Antrag der Union relativ allgemein gehalten ist. Das Gesetz, über das wir in den kommenden Wochen beraten, wird sehr viel konkreter sein. Es heißt im Antrag der Union - auch wir und die Europäische Union vertreten diese Auffassung -, dass die Koexistenz mehrerer Anbauformen - es geht dabei um den Anbau mit und ohne Gentechnik - ein tragender Grundsatz ist. Außerdem ist die Rede davon, dass es sowohl für die Landwirte als auch für die Verbraucher eine echte Wahlfreiheit geben muss. Für die Landwirte besteht diese Freiheit darin, frei zu entscheiden, wie sie anbauen; für die Verbraucher besteht sie darin, frei zu entscheiden, was sie kaufen wollen. Wer das berücksichtigt, der kann sich auch in dieser Diskussionsrunde nicht mehr davor drücken, eine klare Position zu beziehen, aus der hervorgeht, ob man der Auffassung ist, dass es zum Beispiel Pflanzen gibt, die in unseren Breiten einfach nicht koexistenzfähig sind, und wie man es mit dem Raps hält. Wir wissen ganz genau, dass die Auskreuzung unter Umständen weite Flächen und große Distanzen betreffen kann, je nachdem, wie stark der Wind ist. Einer der Punkte, über die wir uns unterhalten müssen, wird die Frage sein, ob man noch mit Zwischenflächen arbeiten kann. Außerdem muss man ganz klar sagen, was man unter Wahlfreiheit versteht. Wahlfreiheit beginnt mit einer ehrlichen, richtigen und stimmigen Kennzeichnung. Eine solche Kennzeichnung beginnt beim Saatgut, und zwar deswegen, weil es „ein bisschen genverändert“ eben nicht gibt. Entweder etwas ist - technisch nachweisbar - genverändert oder nicht. Man kann hier nicht „rummuscheln“, sondern muss sich klar äußern. Schließlich wissen wir ganz genau, dass Saatgut als Grundlage für Lebensmittelpflanzen und auch für Futtermittelpflanzen die Möglichkeit einer Genveränderung vielfach verstärken kann, wenn man nicht sehr präzise ist. All das wissen wir heute. Deswegen hatte ich eigentlich erwartet, dass im Antrag der Union, den wir heute beraten, genau wie in unserem Antrag festgestellt wird: Jawohl, gerade beim Saatgut - diese Frage muss jetzt entschieden werden - muss die Kennzeichnung so sein, dass das, was im Saatgut technisch nachweisbar ist, auch nachgewiesen wird. Leider finde ich in Ihrem Antrag dazu nichts. Dass Sie nicht deutlich werden, dass Sie sich wieder verweigern, finde ich sehr bedauerlich. Mit Ihrem Antrag hätten Sie eine Gelegenheit gehabt, sich sehr klar zu äußern. ({1}) Wir tun das. Ich will Sie zum Abschluss einfach auffordern, sich zur Grenze des technischen Nachweises der Reinheit des Saatgutes ganz konkret - ich benutze jetzt einen Ihrer Ausdrücke - zu bekennen. Ich glaube, das wäre ein guter Beitrag, auf der einen Seite Vorurteile abzubauen und auf der anderen Seite zu helfen, Konflikte zu lösen. Vielleicht ändern Sie Ihre Einstellung. Wenn ja, dann stimmen Sie unserem Antrag zu! Ich würde mich darüber freuen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserer heutigen Initiative wollen wir Sicherheit bei der Nutzung der Gentechnik in Deutschland schaffen: Sicherheit für die Bürger, Sicherheit für die Landwirte, Sicherheit für die Forschung und Sicherheit für die Unternehmen der Pflanzenzucht. Dieses Bemühen unsererseits, verehrte Frau Vorrednerin, ist nicht neu. Bereits 2001 haben wir in diesem Haus eine Kennzeichnung von genetisch veränderten Bestandteilen in Lebensmitteln gefordert. Wir haben dabei einen Grenzwert von 1 Prozent vorgeschlagen. Das heutige Ergebnis von 0,9 Prozent ist von unserem damaligen Vorschlag nicht sehr weit entfernt. Dass wir, die CDU/CSU, als Erste für diese Transparenz und für die Wahlfreiheit des Verbrauchers eingetreten sind, und zwar hier, in diesem Hause, wird in den Diskussionen über dieses Thema immer wieder gern verschwiegen. Ich möchte Sie bitten, das in Zukunft endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen und auch öffentlich zu erklären. ({0}) Ebenso wird gern verschwiegen, dass es bei der Kennzeichnung um eine Zusatzinformation für den Verbraucher und nicht um einen Warnhinweis zu einem neuen Produkt oder Ähnliches geht. Genlebensmittel sind nicht gefährlich. Ich zitiere den EU-Kommissar Byrne, der vorgestern dem „Tagesspiegel“ gesagt hat: Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind genauso sicher wie herkömmlich produzierte. Es besteht keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Es wäre gut, wenn das auch von Ihrer Seite einmal öffentlich vertreten würde und nicht immer das Gegenteil behauptet würde. ({1}) Kennzeichnung - ich sage das noch einmal deutlich heißt also Sicherheit und nicht Risiko. Sicherheit für die Landwirte schaffen wir durch mehrstufige umfassende wissenschaftliche Prüfung der gezüchteten Pflanzen. Wissenschaftliche und praktische Erfahrungen sind die Grundlage für die Wahlfreiheit jedes Landwirts. Deshalb muss die Diskriminierung derjenigen Landwirte aufhören, die sich freiwillig für die Möglichkeiten der Biotechnik entscheiden oder entscheiden werden. ({2}) Es ist doch gerade Rot-Grün, Frau Dr. DäublerGmelin, das mit aller Macht einen großflächigen Erprobungsanbau in Deutschland verhindert und damit die Möglichkeit ausschließt, die notwendigen eigenen Erkenntnisse für die Sicherheit der Landwirte in unserem Land zu gewinnen. ({3}) - Herr Tauss, man muss Lautstärke und Inhalt ein bisschen auseinander halten. - Wie viele Diskussionen über Verhältnisse in England oder in Kanada oder wo auch immer könnten wir uns ersparen, auch in diesem Hause, wenn wir uns endlich auf öffentlich gewonnene und durch wissenschaftliche Begleituntersuchungen abgesicherte Fakten aus dem eigenen Land beziehen könnten! Da sind Sie in der Pflicht! ({4}) Es ist wirklich bezeichnend für Ihre Politik, dass sich jetzt die Bundesländer von sich aus dieser Aufgabe annehmen und dabei auch noch von Ihnen beschimpft werden. Frau Höfken hat das kürzlich einen Anschlag auf die Verbraucher genannt. Die Bundesländer erfüllen die Pflicht, die Sie fahrlässig versäumen, und gehen jetzt nach vorn, um den großflächigen Erprobungsanbau in Deutschland möglich zu machen. Erst daraus können wir die praktischen Erkenntnisse gewinnen, die eben schon gefordert worden sind. Pflanzenspezifische Abstandsregeln wie in anderen EU-Ländern auch werden meines Erachtens im Ergebnis dazu führen, dass alle Landwirte - ich sage ausdrücklich: alle Landwirte, auch die Ökolandwirte - sicher unter der Grenze von 0,9 Prozent bleiben können. Ich bitte Sie, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine politische europäische Entscheidung ist, die besagt: Bei einem Anteil von unter 0,9 Prozent ist das gentechnikfrei. Das ist die entscheidende Grenze. Sie ist politisch so gesetzt worden. Die müssen wir in unserem Land auch anerkennen. ({5}) - Ich rede nicht von Saatgut. Beim Saatgut - das wissen Sie - haben wir eine andere Gefechtslage. Da gibt es einen anderen Vorschlag. Die EU-Kommission wird demnächst eine entsprechende Wertung auf den Tisch legen. Auch die Behauptung, die jetzt immer wieder verbreitet wird, nämlich Gentechnik sei nicht wieder rückholbar, wenn man einmal damit begonnen habe, ist - das will ich noch einmal sagen - in keiner Weise wissenschaftlich begründet. Es gibt eine aktuelle Studie der Universität Bern vom 13. April - sie ist also zwei Wochen alt - mit einem Umfang von etwa 200 Seiten, die wiederum zeigt, dass die Merkmale transgener Pflanzen nach einigen Jahren aus der Population verschwinden, wenn die entsprechenden Pflanzen nicht mehr angebaut werden, weil sie gegenüber den bisherigen Pflanzen nicht superior sind, das heißt, ihnen mit der Zeit unterliegen. Gentechnik ist also nicht eine Büchse der Pandora, wie immer wieder öffentlich gesagt wird; sie ist vielmehr eine sichere und beherrschbare Technologie. Die Anwendung im eigenen Land brauchen wir - das wird auch immer übersehen - für die Zukunftssicherung unserer Forschung. Bisher waren wir in Deutschland weltweit mit an der Spitze. Doch während in anderen Ländern massiv in die Forschung investiert wird, insbesondere in China - Frau Däubler-Gmelin führt gerade ein Gespräch mit einer Abordnung -, werden im eigenen Land die Chancen der Forschung ständig verschlechtert. ({6}) Damit verlieren auch unsere Pflanzenzüchter im weltweiten Wettbewerb an Boden. Wer wie diese Regierung den eigenen Unternehmen das Leben schwer macht, arbeitet den internationalen Multis, wie Sie sie immer so schön bezeichnen, direkt in die Hände. Sie bieten ihnen den Markt geradezu auf dem Silbertablett an, wenn Sie die eigenen Pflanzenzüchter benachteiligen und ihnen die Chance nehmen, sich am internationalen Wettbewerb zu beteiligen. Dazu passt, dass Sie vor drei Tagen, also am Montag dieser Woche, in Brüssel der Importgenehmigung für Bt-Mais-Produkte aus Übersee nicht widersprochen haben. Gleichzeitig verhindern Sie aber im eigenen Land, dass ein Erprobungsanbau mit diesen Produkten stattfindet. In diesem Punkt ist Ihre Argumentation doppelzüngig. So etwas machen wir nicht mit. ({7}) Letzter Satz: Wir stehen für Wettbewerbsfähigkeit und sichere, praktikable Rahmenbedingungen; Rot-Grün steht für Verunsicherung der Bevölkerung und für Vernachlässigung des Standortes Deutschland. Schönen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Schön wäre es, wenn das wahr wäre, was der Kollege Heiderich da eben gesagt hat. Den Verbraucherschutz ernst nehmen heißt auch, die Bedenken unabhängiger Organisationen ernst nehmen. Es geht dann nicht an, sie in Stammtischmanier als irre zu beschimpfen und uns Grüne der Straftaten zu bezichtigen, die wir mitnichten begangen haben, so wie das der Kollege Merz gemacht hat. Das ist meiner Meinung nach nicht dadurch zu entschuldigen, dass man ihn selbst in den Kreisen der CDU/CSU als Quartalsirren bezeichnet. Hier ist schon eine richtige Entschuldigung fällig. ({0}) Wahl- und Entscheidungsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie setzt echte Wahlfreiheit und ein hohes Schutzniveau für Mensch und Umwelt, wie es die CDU/CSU in ihrem Antrag schreibt, voraus. Angesichts dessen, was weiterhin im CDU/CSU-Antrag steht, kann man diese Aussage nur als irreführend bezeichnen. Die CDU/CSU fordert hier nämlich wie auch im Bundesrat die Aufgabe der guten fachlichen Praxis und des Schutzes ökologischer Gebiete. Sie will die Haftungsregelungen aufweichen, ({1}) ein untransparentes Standortregister schaffen, das den Namen dann nicht mehr verdient, und kurze Anzeigefristen für den Anbau gentechnisch veränderter Organismen, sodass sich der Nachbar nicht mehr darauf einstellen kann. Das markiert, wie Sie sehr wohl wissen, einen Dammbruch und den Beginn unkontrollierter Auskreuzungen. Das provoziert eben genau die Konfrontation, die Sie angeblich nicht wollen. Solch ein Vorgehen bezeichne ich tatsächlich als fahrlässig. Da werden die Leute sauer. Wir als Grüne unterstützen eine gesellschaftliche demokratische Diskussion, die mit legalen Mitteln geführt wird. So verhalten wir uns auch als Partei im Hinblick auf unsere Wähler. Diese sollen sich nämlich frei und jeder für sich entscheiden können, ob sie genfoodfrei leben wollen. Dazu gehört aber auch, dass wir uns mit Pioneer in Iowa unterhalten und deren Argumente wahrnehmen. Pioneer hat zum Beispiel gesagt: Wenn der Markt es verlangt, dann wird auch von uns gentechnikfreies Saatgut angeboten. Das ist eine bemerkenswerte Aussage, wie ich finde. ({2}) Wir wissen natürlich, dass es dazu nötig ist, dass sich Pioneer darum bemüht, dass auch die Gesetze in den USA geändert werden. Uns beunruhigt jedenfalls, dass sich die unionsregierten Länder von den Lobbyisten der Gentechnikindustrie instrumentalisieren lassen. Die FDP geht im Übrigen mit den Forderungen in ihrem Antrag noch über die im CDU/CSU-Antrag hinaus. ({3}) Sie fordert nämlich, dass ein freiwilliges Kataster eingeführt wird. Bezüglich dieses Punktes dürfen wir Sie auf die Rechtslage hinweisen; denn die Freisetzungsrichtlinie steht dem eindeutig entgegen. Das Gentechnikgesetz ist die wesentliche Grundlage für Wahlfreiheit. Deswegen werden wir dafür kämpfen. Die zweite wichtige Grundlage ist der Schutz der Wahlfreiheit in Bezug auf die gentechnikfreie Produktion, das heißt beim Saatgut. Ich unterstütze ausdrücklich das, was meine Kollegin Däubler-Gmelin eben gesagt hat: Wir setzen uns massiv dafür ein - und hoffen auch auf Ihre Unterstützung -, dass sich die Nachweisgrenze auf den Schwellenwert bezieht, damit die Wahlfreiheit nicht Makulatur wird. ({4}) Wir können hier natürlich - das sage ich gerade vor dem Hintergrund des letzten Satzes des Kollegen Heiderich - auf die Analysen von US-Wissenschaftlern verweisen, die festgestellt haben, dass konventionelles Saatgut nach rund acht Jahren großflächigem Anbau - das heißt nach kurzer Zeit - in hohem Maße gentechnisch verunreinigt ist; bei Mais und Soja sind es über 50 Prozent, bei Raps sogar 80 Prozent. Das möchten wir nicht haben und ich hoffe, auch Sie nicht. ({5}) Aber ich will auch kurz etwas zu den Umwelt- und Gesundheitsrisiken sagen, die auf unserer USA-Reise ein großes Thema waren. ({6}) Nicht bekannt bedeutet auf keinen Fall nicht gefährlich, dann schon eher: nicht untersucht. Es gibt weltweit nur zehn wissenschaftlich anerkannte Studien. Kollege Heiderich, wir sind übrigens für wissenschaftliche Forschung. ({7}) Aber ich darf auch darauf hinweisen, dass von diesen zehn Untersuchungen fünf - nämlich die von unabhängigen Instituten - nachteilige Effekte und die anderen fünf - die von der Industrie - keine nachteiligen Effekte festgestellt haben. Das dürfte doch Anlass geben, das Vorsorgeprinzip hochzuhalten. ({8}) Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die gesundheitlichen Effekte. Sie wissen, dass die französische Kommission für biomolekulare Forschung, CBG, soeben im Rahmen des Zulassungsverfahrens der EU-Kommission für einen Bt-Mais gesundheitliche Schäden bei Ratten festgestellt hat. ({9}) Auch das ist ernst zu nehmen. Es gibt eine Reihe von weiteren Untersuchungen, die umstrittener sind. Ich erinnere nur an den Fall Pusztai. Wenn noch keiner tot umgefallen ist, dann liegt das daran, dass man noch keine ausreichenden Erkenntnisse hat. Ich fordere Sie auf und bitte Sie, sich mit uns für den Schutz der gentechnikfreien Produktion einzusetzen durch ein Gentechnikgesetz, das die Forderungen der Wahlfreiheit und der Freiheit des Saatgutes von Gentechnikkontamination erfüllt. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Höfken, Freiheit ist ein Menschenrecht; darauf möchte ich hinweisen. Beim Saatgut sollten wir uns an das Sortenrecht halten und sollten diese Begriffe hier nicht durcheinander werfen. ({0}) Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Ministerin Künast mir gestern zu der Bewertung der Rattenversuche gesagt hat, sie sei der Meinung, daran könne schon etwas sein, aber es gebe Minister in der Bundesregierung, die anderer Meinung seien, weswegen sich die Bundesregierung enthalten habe. Nach fünf Jahren Moratorium hat sie noch immer keine einheitliche Meinung. Das finde ich ein Armutszeugnis. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen: Gegner Grüner Gentechnik sind in aller Regel satte Menschen. Wer sich um seine Zukunft und die seiner Kinder sorgt, ({2}) wer Angst um den eigenen Arbeitsplatz und seine Altersversorgung hat, der kümmert sich um vieles, aber nicht darum, ob eine der Zutaten im Müsliriegel von gentechnisch veränderten Organismen stammt oder nicht. Er ist nämlich froh, wenn er sich die Müsliriegel für seine Kinder überhaupt leisten kann. Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen und einem äußerst geringen Wirtschaftswachstum interessiert die Menschen die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes und nicht, ob die Margarine Bestandteile von gentechnisch veränderten Organismen enthält. Die Grünen haben uns hier eine Luxusdiskussion aufgezwungen, die den Menschen im Lande nicht hilft. ({3}) Ministerin Künast hat erst gestern im Ausschuss wiederholt, dass der Verzehr von Produkten von gentechnisch veränderten Organismen keine Gefährdung der Gesundheit erwarten lässt. Die FDP stimmt ihr zu. ({4}) Die Gesundheit der Menschen ist ein sehr hohes Gut. Der Verbraucherschutz dient der Gesundheit der Menschen. Wenn eine Züchtungsmethode hilft, Kulturpflanzen zu züchten, die der Gesundheit der Menschen nützen, dann ist dies ein guter Grund, die Anwendung dieser Züchtungsmethode zu unterstützen. Grüne Gentechnik kann der Gesundheit der Menschen nützen. Nehmen wir das Beispiel Weizen. Weizen, der nicht mit Pilzgiften belastet ist, bietet Vorteile für seine Verwendung als Nahrungs- oder Futtermittel. Das ist unmittelbar einleuchtend. Dennoch ist ein Freisetzungsversuch in Sachsen-Anhalt, der der Erprobung von pilzresistentem Weizen dienen sollte, gerade von Greenpeace massiv behindert worden. Die Organisation nennt sich „Grüner Frieden“ und handelt gänzlich unfriedlich, wenn sie fremde Felder entgegen den Interessen der Eigentümer bestellt. ({5}) Daher ist es gut, dass die Gemeinnützigkeit dieses unfriedlich handelnden Konzerns überprüft wird. Die FDP setzt sich in ihrem Antrag dafür ein, dass die Chancen der Grünen Gentechnik in Deutschland genutzt werden. Dafür brauchen wir Regeln für die Koexistenz. Sie müssen sich an der Verbreitungsbiologie der Pflanzen orientieren. Ich darf noch hinzufügen: Im Wesentlichen sind die Kenntnisse vorhanden. Wo Wissenslücken bestehen, ist es Aufgabe der Institute der Ressortforschung, diese Lücken zu schließen. Derzeit behindert Ministerin Künast die BBA dabei, ihre Forschungsaufgaben zu erfüllen. Es ist schon einmalig, dass eine Ministerin mehr Kenntnisse einfordert und gleichzeitig verhindert, dass die Institutionen in ihrem Verantwortungsbereich entsprechende Forschungen durchführen. Die im Regierungsentwurf enthaltene gesamtschuldnerische Haftung lehnt die FDP ebenfalls ab. Schäden müssen ausgeglichen werden und gleichzeitig muss gelten: Wer sich korrekt verhalten hat, kann nicht zur Haftung herangezogen werden. Da von den zugelassenen Sorten gesundheitliche Schäden und eine Beeinträchtigung von Natur und Umwelt nicht zu befürchten sind, ist nach Auffassung der FDP sehr viel mehr Gelassenheit angebracht. Deswegen lehnen wir die Forderung der Koalition ab, beim Saatgut Schwellenwerte festzulegen, die sich an den Nachweisgrenzen orientieren. Das ist weder erforderlich noch praktikabel. Die polarisierte Diskussion hat die Risikowahrnehmung der Menschen in Deutschland verzerrt und die Menschen verunsichert, obwohl keine Gefahren bestehen. Die Grüne Gentechnik wird in fünf Jahren bei uns eine Selbstverständlichkeit sein. ({6}) Ihre Startschwierigkeiten sind durch schlechte Kommunikation zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft verursacht worden. In Deutschland wurde aus dem Desaster um die Genehmigung der ersten Insulinproduktionsanlage in Hessen offensichtlich nichts gelernt. Ich bedauere dies ausdrücklich. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege René Röspel von der SPD-Fraktion.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Happach-Kasan, ich gebe zu, dass ich mich bei Ihrer Rede aufgeregt habe. Trotzdem will ich mich nicht allzu ausführlich dazu äußern. Ich habe vor einigen Wochen in Gesprächen mit Reisbauern aus Thailand und auch mit Vertretern von Misereor und „Brot für die Welt“ - es handelt sich um Organisationen, die sicherlich nicht verdächtig sind, ideologisch zu sein; sie machen aber vor Ort in den Entwicklungsländern Politik - über die Problematik der Bekämpfung des Welthungers durch Gentechnik diskutiert. Meine Gesprächspartner sehen diese Problematik in einem ganz anderen Licht, als Sie es dargestellt haben. Das muss ich deutlich sagen. ({0}) Ich will mich aber mit diesem Punkt nicht weiter befassen, weil wir dieses Thema jedes Mal behandeln.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Röspel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Röspel, ich gehe davon aus, dass Sie wie auch wir Gespräche mit dem Entwicklungsdienst der evangelischen Kirche geführt haben. Sie haben sich sicherlich auch intensiv mit diesem Problem befasst. Ist Ihnen dabei nicht aufgefallen, dass die zahlreichen Probleme, die in den Entwicklungsländern existieren und die uns die Vertreter und Vertreterinnen dieser Länder vorgestellt haben, nichts mit der Anwendung einer bestimmten Züchtungsmethode zu tun haben? Diese Probleme haben vielmehr damit zu tun, dass in diesen Ländern Regierungen an der Macht sind, die die Interessen der Menschen nicht gut vertreten, und dass es dort Konzerne gibt, die die Schwächen dieser Regierungen ausnutzen. Die Züchtungsmethode ist aber letztlich völlig unmaßgeblich für die Not, die in diesen Ländern herrscht.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin Happach-Kasan, auch ich habe Gespräche geführt. Ich weiß nicht, über welches Thema Sie diskutiert haben. In meinen Gesprächen ging es ausdrücklich um den Einsatz gentechnisch veränderten Saatgutes und gentechnisch veränderter Pflanzen. Es handelt sich beispielsweise um Bt-Baumwolle in Indien, wo die Einbrüche bei den Ernten dramatisch sind. Wir als satte Westeuropäer können uns diese Einbrüche durchaus erlauben. Für einen indischen Bauern ist es eine Katastrophe, wenn ein neues, gentechnisch verändertes Produkt schlechter ist. Genau über diese Probleme haben wir gesprochen. Sie haben möglicherweise nicht über die Probleme diskutiert, die mit der Gentechnik zu tun haben, sonst hätten Sie hoffentlich ein anderes Bild. ({0}) Wir wollen heute über drei Anträge, die sich mit dem Einsatz der Grünen Gentechnologie beschäftigen, diskuRené Röspel tieren. Der Antrag der SPD und der Grünen ist überschrieben mit: „Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit des Saatgutes sicherstellen“. Die CDU/CSU hat ihrem Antrag den Titel gegeben: „Grüne Gentechnik in Deutschland nutzen - Verlässliche Rahmenbedingungen für einen verantwortungsvollen Einsatz in der Landwirtschaft schaffen“. Die FDP überschreibt ihren Antrag mit: „Chancen der Grünen Gentechnik nutzen - Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren“. Allein die Überschriften machen den Unterschied in der Intention der Anträge deutlich, was nicht sehr häufig der Fall ist. Die rot-grüne Koalition will die Interessen von Landwirten und Verbrauchern wahren und schützen; das steht auch in der Überschrift unseres Antrages. Die Opposition stellt die Einführung der Grünen Gentechnik in den Vordergrund; das hat Herr Heiderich vorhin betont. ({1}) Wie aber ist die Situation in Deutschland und in Europa? In Deutschland gibt es bisher wie in den meisten EU-Ländern keinen Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zu kommerziellen Zwecken. Seit 1998 - das wissen die meisten von Ihnen - gibt es - auch wegen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Einschätzung eines solchen Anbaus - ein EU-Moratorium, solche Pflanzen nicht anzubauen. Dies wird sich verändern. Auf EUEbene ist die Freisetzungsrichtlinie verabschiedet worden. Wir haben sie umzusetzen. Die EU-Kommission wird die ersten gentechnisch veränderten Pflanzen für den Anbau zulassen. Es werden mehr werden. Um es klarzustellen: Ich persönlich halte das In-Verkehr-Bringen gentechnisch veränderter Pflanzen nach wie vor für falsch. ({2}) Die FDP schreibt in ihrem Antrag - ich darf zitieren -: Die Potenziale der Grünen Gentechnik sind vielfältig und sie werden weltweit seit zehn Jahren auf inzwischen mehr als 60 Mio. Hektar - das ist das Mehrfache der Fläche der Bundesrepublik genutzt. Das ist richtig. Aber ist das auch wirklich ein Argument? Man muss nämlich, wenn man ehrlich ist, ergänzen: Die Begleitforschung, die die Auswirkungen eines solches Anbaus betrachtet, ({3}) findet weltweit auf weniger als 1 Prozent der Fläche statt; in Europa übrigens auf 15 Prozent der Fläche, weil wir genauer hinschauen. ({4}) Die Begleitforschung findet erst seit fünf oder sechs Jahren statt - und meist sogar in einem Umfang, der die besonderen Charakteristika gentechnisch veränderter Pflanzen nicht berücksichtigt. ({5}) Alles in allem: Die Erfahrungen im Umgang mit gentechnisch veränderten Pflanzen sind noch sehr gering. Deswegen finde ich es eher problematisch, dass die Anbaufläche zunimmt. ({6}) - Sie können gerne eine intelligente Zwischenfrage stellen. Aber das Herumplärren nutzt mir nun wirklich nichts. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tauschen ja regelmäßig wissenschaftliche Untersuchungen im Ausschuss aus. Die einen benennen die Probleme; die anderen verneinen sie. Die von Ihnen genannte Studie, Herr Heiderich, ist übrigens nur über einen sehr kurzen Zeitraum durchgeführt worden. ({7}) Den Glauben, innerhalb von fünf Jahren die Auswirkungen von Veränderungen nachvollziehen zu können, die in der Evolution mehrere Jahrhunderte bis Jahrtausende gebraucht haben, halte ich für irreal. Ich könnte Ihnen die Studie der Universität Kiel entgegenhalten, in der klar dargelegt wird, dass es, baut man zunächst gentechnisch veränderten Raps und danach bei normaler Fruchtfolge nicht gentechnisch veränderten Raps an, acht Jahre lang eine gentechnische Verunreinigung zur Folge hat, die höher als 0,9 Prozent ist. Mich stimmen diese Untersuchungen nachdenklich. Meine Zweifel sind nicht ausgeräumt. Ich würde meine Arbeit als Abgeordneter schlecht machen, wenn ich nicht darüber nachdenken würde, welche Auswirkungen damit für die Zukunft dieser Gesellschaft und der Umwelt wirklich einhergehen. Ich bin immer sehr erstaunt darüber, wie eindeutig Sie von der CDU/CSU und der FDP davon ausgehen, dass es überhaupt keine Probleme bei einer Freisetzung geben wird. ({8}) Ich würde das nie sagen. Ich glaube, dass die Rückholbarkeit, anders als Sie es gesagt haben, in der Tat ein Problem ist. Aber, wie eingangs gesagt, die Grundentscheidung ist gefallen. Wir haben keine andere Wahl; wir werden auf EU-Ebene und damit auch in Deutschland die Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen bekommen. Die rotgrüne Koalition wird deshalb das Gentechnikrecht novellieren. Unser Ziel ist dabei: Landwirte und Verbraucher sollen sich entscheiden können, ob sie gentechnisch veränderte Lebensmittel herstellen oder kaufen. Wir wollen sicherstellen, dass ein Nebeneinander, eine so genannte Koexistenz, zwischen denen, die die Gentechik einsetzen wollen, und denen, die darauf verzichten wollen, möglich ist. Darüber werden wir in der nächsten Woche reden. Der heutige Antrag setzt an einem zentralen Punkt an: an der Reinheit des Saatgutes. Wenn sich ein Landwirt entscheidet, weiterhin konventionell oder biologisch, also gentechnikfrei, zu produzieren, steht für ihn eines im Vordergrund: Seine Produkte, sein Mais, sein Weizen, dürfen nicht mehr als 0,9 Prozent gentechnisch erzeugter Bestandteile enthalten. Wenn seine Produkte diesen Wert überschreiten, muss er sie als gentechnisch verändert kennzeichnen. Dann ist es natürlich nur einleuchtend und sinnvoll, bereits beim Saatgut dafür zu sorgen, dass die Verunreinigungen so niedrig wie möglich sind. ({9}) Das ist doch einigermaßen logisch. Die EU-Kommission wollte unterschiedliche Schwellenwerte beim Saatgut einführen. Bei Soja sollte das Saatgut zum Beispiel zu 0,7 Prozent verunreinigt sein dürfen ({10}) bzw. 0,7 Prozent gentechnisch verändertes Saatgut enthalten dürfen. Von 0,7 Prozent im Saatgut ist es nicht weit bis zu 0,9 Prozent im Endprodukt. Für denjenigen, der gentechnikfrei anbauen will, ist es eine Katastrophe, wenn er wegen solcher Verunreinigungen sein Produkt als gentechnisch verändert bezeichnen muss. Wir wissen, dass ein niedriger Schwellenwert mehr Aufwand bedeutet. Das aber ist uns der Verbraucherschutz wert. Unser Ziel bleibt, dass diejenigen, die gentechnikfrei produzieren wollen, das weiterhin tun können. ({11}) Wir wollen echte Wahlfreiheit für Landwirte und Verbraucher. Ich schließe mit meinem Appell an die Opposition: Helfen Sie dabei mit, Landwirte und Verbraucher zu schützen! Unterstützen Sie unseren Antrag! Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie jüngste Meinungsumfragen belegen, gibt es in der deutschen Bevölkerung starke Vorbehalte, ja sogar diffuse Ängste vor Grüner Gentechnik. Das Ganze führt zu absurden Vorstellungen. So äußern in Umfragen 50 Prozent der Befragten, dass sie keine Tomaten mit Genen essen würden. Der liebe Gott oder die Natur haben es aber nun einmal so eingerichtet, dass alles, was lebt, notwendigerweise Gene hat. Dazu gehören auch Salat, Obst, Gemüse und Fleisch. ({0}) Meine Damen und Herren, ganz anders ist es bei Roter Gentechnik. Sie findet demgegenüber nämlich breite Akzeptanz. Zur Anwendung des humanen Insulins bei Tausenden von Diabetikern jeden Tag gibt es aufgrund der hervorragenden Verträglichkeit und Wirksamkeit überhaupt keine Alternative. Keiner käme auf die Idee, stattdessen wieder, wie früher, natürlich gewonnenes Insulin aus Schweinebauchspeicheldrüsen zu verwenden. Das würde nämlich zu schweren Nebenwirkungen führen. ({1}) Es ist vor diesem Hintergrund wichtig und richtig, die Ängste und Befürchtungen der Menschen ernst zu nehmen und zum Beispiel im Rahmen der neuen Kennzeichnungsverordnung die Wahlfreiheit insbesondere in Bezug auf Lebensmittel zu ermöglichen. Es ist aber auch wichtig, die Menschen objektiv über die Chancen zu informieren, besonders vor dem Hintergrund des vom Bundeskanzler mit großer Medienwirksamkeit ausgerufenen Jahres der Innovationen und Technologie, das auch dem daniederliegenden Forschungsund Wirtschaftsstandort Deutschland neue Impulse geben sollte. Dabei ist es auch wichtig, darüber zu informieren, dass bereits heute gentechnisch veränderte Pflanzen einer strengen, mehrjährigen Sicherheitsüberprüfung unter Beteiligung mehrerer deutscher und europäischer Behörden und Institute und Einbeziehung sowohl wissenschaftlichen als auch politischen Sachverstands unterliegen, bevor sie im Freien angebaut, geschweige denn zur Produktion von Lebensmitteln eingesetzt werden dürfen. ({2}) Die bereits genannte Kennzeichnungspflicht sichert darüber hinaus die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers. Meine Damen und Herren, weltweit wird die Gentechnik bereits seit Jahren erfolgreich genutzt, ohne dass es gravierende negative Auswirkungen auf Verbraucher oder Umwelt gäbe. Im Jahre 2003 wurden auf 68 Millionen Hektar weltweit gentechnisch veränderte Organismen angebaut. ({3}) Zum Vergleich: Die Gesamtanbaufläche in Deutschland beträgt 12 Millionen Hektar. Auch in Deutschland sind mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel bereits heute sehr weit verbreitet. Lebensmittel wie Käse und Wein werden mit Enzymen und Hefen hergestellt, die ihren Ursprung in gentechnisch veränderten Organismen haben. Tierfutter enthält große Anteile an Gensoja. 80 Prozent des Sojas, das in der Tierernährung eingesetzt wird, wird in Ländern produziert, die gentechnisch veränderte Organismen anbauen. Warum aber wollen wir nun Grüne Gentechnik? Warum wollen wir dort auf Chancen hinweisen? Die Grüne Gentechnik hat zum Beispiel im Bereich der Umwelt - aus dem ich komme - Vorteile: Ein geringerer Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ist möglich; das ist ein starkes Argument zum Beispiel für den kleinbäuerlich strukturierten Anbau von Baumwolle in China. Ein Anbau an ungünstigen Standorten ist besser möglich. Ferner kann weniger Dünger eingesetzt werden. Mit Grüner Gentechnik kann man Energie sparen. Ich verweise zum Beispiel auf Amylopektinkartoffeln, die als Stärkelieferant in der Papierproduktion angewandt werden. Dort werden deutlich weniger energieintensive Verarbeitungen nötig. In Zukunft ist der Einsatz biogener Pflanzen denkbar. Meine Damen und Herren, dennoch ist ein umfangreicher Erprobungsanbau erforderlich, um Regeln für gute landwirtschaftliche Praxis zu erarbeiten und die Koexistenz zwischen Landwirten, die sich für GVOs entscheiden, und denen, die dagegen sind, zu ermöglichen. Dafür brauchen wir ein Gentechnikrecht, das den Anbau ermöglicht und für einen gerechten Interessenausgleich sorgt. Die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches bieten dafür eine gute Grundlage. Die Regeln jedoch, die Sie in Ihrem Entwurf des Gentechnikgesetzes vorsehen, weichen ausdrücklich davon ab. Unser Antrag weist dagegen in die richtige Richtung. Auch die im Gentechnikgesetzentwurf vorgesehenen Beweiserleichterungen verstoßen gegen die bisherige deutsche Rechtsauffassung. Die Bundesregierung sieht vor, dass dann, wenn der direkte Verursacher eines Schadens nicht ermittelt werden kann, jeder Nachbar, der kreuzungsfähige GVOs anbaut, für den Ausgleichsanspruch haftet. Er soll auch dann haften, wenn alle Regeln der guten landwirtschaftlichen Praxis eingehalten wurden. Das ist so, als ob dann, wenn ein Unfallverursacher im Verkehr nicht zu ermitteln ist, derjenige haften würde, der am nächsten an der Unfallstelle vorbeigefahren ist. Das kann es nicht sein. ({4}) Deshalb weist ein Vorschlag des Bundesrates, in dem über die Einrichtung eines Haftungsfonds vergleichbar mit dem bewährten Klärschlammfonds nachgedacht wird, in die richtige Richtung. ({5}) Wenn es dem Bundeskanzler und den Regierungsfraktionen mit dem Jahr der Innovationen und Technologie tatsächlich ernst ist, dann sollten Sie den Gesetzentwurf dringend überarbeiten und das, was die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihrer Stellungnahme zu Ihrem Gesetzentwurf zu bedenken gibt, wirklich ernst nehmen: Statt Risiken und Chancen der Gentechnik abzuwägen, enthalte der Entwurf nahezu ausschließlich Vorschriften im Interesse der Gefahrenabwehr, ohne deren Notwendigkeit zu belegen. Durch unverhältnismäßig hohe Auflagen werde die Nutzung der Grünen Gentechnik in Landwirtschaft und Forschung nahezu ausgeschlossen. Ich denke, das spricht für sich. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2822, 15/2972 und 15/2979 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Manzewski, Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Siegfried Kauder ({0}), Dr. Norbert Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({1}), Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - § 201 a StGB ({2}) - Drucksache 15/2466 ({3}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Siegfried Kauder ({4}), Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Privatsphäre - Drucksache 15/533 ({5}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Otto Fricke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre - Drucksache 15/361 ({6}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Schutz der Intimsphäre - Drucksache 15/1891 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8}) - Drucksache 15/2995 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Siegfried Kauder ({9}) Jörg van Essen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen jetzt zu einem etwas erfreulicheren Thema. Am heutigen Tag debattieren wir nämlich abschließend über den interfraktionellen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der Intimsphäre. Damit beenden wir ein längeres und interessantes Gesetzgebungsverfahren. Über die hierin angesprochene Problematik wird schon seit längerem diskutiert. Während die Vertraulichkeit des nicht öffentlich gesprochenen Wortes einen umfassenden strafrechtlichen Schutz genießt, hat es bislang für die viel stärker in das Persönlichkeitsrecht eingreifenden Bildaufnahmen nichts Vergleichbares gegeben. Lediglich deren Verbreitung und öffentliche Schaustellung ohne Einwilligung der Abgebildeten war im Einzelfall bislang rechtlich geschützt. Nicht zuletzt der Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten hat jedoch deutlich gemacht, dass dieser Zustand nicht länger hingenommen werden kann. Beschäftigt man sich intensiver mit der Thematik, stellt man erschreckt fest, dass sich unser Land offenbar immer mehr zu einem Volk von Voyeuren entwickelt. ({0}) Offensichtlich ist es für viele Menschen interessant, immer stärker in den höchstpersönlichen Lebensbereich von anderen einzudringen. Tabuzonen spielen dabei leider eine immer geringere Rolle. Die Technik - liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen das - hat ihren Teil dazu beigetragen. Dazu zählen insbesondere versteckt installierte Minikameras, mit denen heimlich in Dusch- und Umkleidekabinen oder in Solarien Bilder gefertigt werden, oder neuerdings auch moderne Handys mit integrierter Kamera. Diese werden blitzschnell in die Umkleidekabine gehalten und so werden im wahrsten Sinne des Wortes scharfe Bilder gemacht. Via Internet sind diese Fotos dann zum Leidwesen der Betroffenen auch noch häufig binnen kürzester Zeit über ein weltweites Netz zu verbreiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischen unseren Fraktionen bestand deshalb frühzeitig Einigkeit darüber, dass wir zu handeln haben. Nur über das Wie gab es anfangs noch unterschiedliche Auffassungen. Unproblematisch waren dabei sicherlich die spektakulären Fälle zu behandeln, die wir alle am Anfang der Gesetzgebungsinitiative im Auge hatten. Je intensiver wir uns jedoch mit dieser Thematik beschäftigten, desto deutlicher wurden auch die hiermit verbundenen Schwierigkeiten. Dabei ging es insbesondere um die Frage, wann in diesem Zusammenhang strafwürdiges Verhalten beginnen soll und ob bzw. wie die Praxis mit diesem neu geschaffenen Instrument umgehen kann. Zu denken war auch daran, Pressefreiheit und Strafverfolgung durch das neue Gesetz nicht unangemessen zu beeinträchtigen. Ich denke, all das ist uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sehr gut gelungen. Geschützt werden soll deshalb nur der letzte Rückzugsbereich von Menschen, also die Wohnung, die nicht zwangsläufig die eigene zu sein braucht, oder ein gegen Einblicke besonders geschützter Raum. Allgemein zugängliche Orte sind damit bereits aus dem räumlichen Schutzbereich der Strafbarkeit ausgeklammert. Der Grund hierfür ist relativ klar: Mit Bildaufnahmen, die in der Öffentlichkeit hergestellt werden, würde ein zu breites Spektrum an Alltagshandlungen unter Strafe gestellt werden. Damit strafwürdiges Verhalten vorliegt, müssen jedoch noch weitere Kriterien erfüllt sein, nämlich dass durch diese unbefugt gefertigten Bildaufnahmen der höchstpersönliche Lebensbereich des Abgebildeten betroffen ist. Hierüber haben wir lange Zeit debattiert, uns letztendlich aber auf diese Regelung geeinigt. Dieser Begriff lehnt sich an den bereits im Strafrecht verwendeten Begriff des persönlichen Lebensbereichs an. Er ist einerseits etwas einengender als dieser, da nicht alles, was der Privatsphäre unterliegt, aber ein neutrales Verhalten darstellt, eines strafrechtlichen Schutzes bedarf. Andererseits reduziert er sich aber auch nicht auf die Intimsphäre allein, das heißt auf Sexualität, Tod und Krankheit. Das bedeutet nicht, dass damit alle ansonsten gemachten Bildaufnahmen keinem strafrechtlichen Schutz mehr unterliegen. Insbesondere hinsichtlich der Verbreitung von Bildaufnahmen bleibt es bei dem nunmehr zusätzlichen Schutz des § 33 des Kunsturhebergesetzes. Ich gehe davon aus, dass wir der Rechtsprechung damit ein gutes Instrument an die Hand geben und dass sie keine großen Probleme mit diesem neuen Gesetz haben wird. Ich glaube, je weiter wir den Tatbestand gefasst hätten, desto größer wären die Probleme gewesen. Je mehr man nämlich mit konstruierten Beispielsfällen konfrontiert wird, desto deutlicher wird neben dem dringenden Bedarf für dieses Gesetz der Umstand, dass wir tatsächlich all diejenigen Handlungen, die wir unter Strafe stellen wollten, auch unter Strafe gestellt haben, und dass diejenigen Fälle, die wir nicht unter Strafe stellen wollten, nach diesem Gesetzentwurf auch weiterhin straflos bleiben. Es gab ein großes Problem, das noch nicht ganz ausgeräumt ist; denn Medienvertreter reagierten zeitweise sehr zurückhaltend auf diesen Gesetzentwurf. ({1}) Sie befürchteten, hierdurch - ähnlich wie Voyeure - erhebliche Probleme bei ihrer Arbeit zu bekommen. Dies vermag ich jedoch allenfalls in Einzelfällen im Bereich der so genannten Yellow Press zu erkennen. Das möchte ich gerne anhand eines Beispiels verdeutlichen. In einer gemeinsamen Stellungnahme der Medienverbände und -institutionen, die uns allen zugegangen ist, wird ein hypothetischer Fall gebildet, der - so die Kritik - die journalistische Tätigkeit unangemessen beeinträchtigen würde. Da geht es um einen hochrangigen Politiker - um wen auch sonst -, der von einem Fotografen dabei erwischt wird, wie er mit einer Frau, die nicht die seine ist, in einem Wohnwagen verschwindet. - Toll! ({2}) Um es deutlich zu machen: Hierüber darf natürlich nach wie vor berichtet werden. Auch gegen die Aufnahme vor dem Wohnwagen dürfte noch nichts einzuwenden sein. In und an dem Wohnwagen hat eine Kamera in einer besonderen Situation aber nichts zu suchen. ({3}) Hier gilt für Politiker ebenso wie für die Menschen, die uns heute zuhören, und auch für Journalisten: Was dort geschieht, geht niemanden etwas an. Das kann man auch nicht mit dem Hinweis auf ein etwaiges öffentliches Interesse rechtfertigen. Im Übrigen vermag ich hier schon kein öffentliches Interesse zu erkennen. Neben der Pressefreiheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir auch an das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen zu denken. Dies ist nicht zuletzt durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum so genannten Lauschangriff sogar gestärkt worden. Was den Strafverfolgungsbehörden verwehrt bleibt, kann der Presse schlechterdings nicht erlaubt sein. ({4}) Lassen Sie mich abschließend den Kollegen Kauder, van Essen, Ströbele und Montag, die sehr engagiert mit mir an diesem Gesetzentwurf gearbeitet haben, danken. Ich fand es sehr interessant, ich fand es spannend und ich muss sagen: Es hat Spaß gemacht mit Ihnen. Relativ schnell - das ist ja nicht so häufig - wichen auf Berichterstatterseite Emotionen einer sachlichen und fachlichen Diskussion. Ich glaube, es war richtig, dass wir uns für den Gesetzentwurf Zeit genommen haben und dass wir auch noch die „Praxisanhörung“ aus Bayern abgewartet und den hiernach entsprechend modifizierten Gesetzentwurf des Bundesrates zum Gegenstand unserer gemeinsamen Anhörung gemacht haben. Die Anhörung, die meiner Auffassung nach eine ausgesprochen gute war, hat nämlich die Schwächen der bis dahin vorliegenden Gesetzentwürfe aufgezeigt und uns letztendlich den Weg gewiesen, der zu dem gemeinsamen Entwurf der Bundestagsfraktionen führte und der - das möchte ich betonen, liebe Kolleginnen und Kollegen unser gemeinsames, eigenständiges Werk geworden ist. Dafür vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freiheit der Presse ist nicht grenzenlos. Das ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes. Die Pressefreiheit ist zu Recht grundrechtlich geschützt und sie ist ein hohes Gut. Aber auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein hohes Gut und grundgesetzlich geschützt. Dieses Recht ist ebenfalls nicht grenzenlos. Der Auftrag des Bundesdatenschutzbeauftragten war klar: Im Bereich der Privatsphäre gibt es eine Lücke. Das nicht öffentlich gesprochene Wort ist besser geschützt als Einblicke in die bzw. Abbildungen aus der Privatsphäre. Der Gesetzgeber hatte den Auftrag umzusetzen. Die Diskussion war - da schließe ich mich dem Kollegen Manzewski an - sehr sachlich, fundiert und schwieriger, als wir alle anfangs dachten. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion waren der Meinung, dass die Privatsphäre nicht an der Wohnungstür endet, sondern dass es auch intime Situationen im öffentlichen Leben gibt, beispielsweise dann, wenn ein Mensch nach einem Verkehrsunfall oder nach einem Attentat mit dem Tod oder um das Leben ringt. Es war schwierig, diese Sachverhalte in einen Gesetzestatbestand zu fassen, deswegen wurde der Anwendungsbereich im Laufe der Diskussion immer enger. Letztlich ist die Wohnung und ein „gegen Einblick besonders geschützter Raum“ übrig geblieben. Wir haben uns mit Rechtsbegriffen schwer getan, wie Sie schon an der Formulierung hören. Der Raum ist im allgemeinen Sprachgebrauch dreidimensional zu verstehen. In diesem Gesetzentwurf ist er zweidimensional ausgefallen; das, was das Gesetz üblicherweise das „umfriedete Besitztum“ benennt, fällt auch darunter. Die Presse ist, als die Diskussion über den Schutz der Privatsphäre anlief, Sturm gelaufen: Man sah die Pressefreiheit über Gebühr strapaziert und war der Meinung, Siegfried Kauder ({0}) man müsse eine so genannte Rechtswidrigkeitsklausel in den Straftatbestand einführen. Wir von der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion hätten damit keine allzu großen Probleme gehabt, aber es gehört nun einmal zu einer Diskussion und zu einem Konsens unter den Fraktionen, dass das eine oder andere auf der Strecke bleibt. Man muss den Pressevertretern aber auch klar sagen, dass sich das Eis für sie in einem Bereich dünner gestaltet als bisher: Bisher war es nicht strafbar, in die Privatsphäre hineinzuspähen. Das Hineinspähen, das Herstellen von privaten Fotos durch die Presse war nicht strafbewehrt, sondern nur das Verbreiten und öffentlich Zurschaustellen. Das Horten von Fotos, die aus der Intim- und Privatsphäre und aus einer Wohnung stammen, ist nach dem Gesetzentwurf nicht mehr erlaubt. Es bleiben die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, die aber den bisherigen Bereich nur unzulänglich abdecken. Deswegen hätte ich es durchaus als vertretbar angesehen, wenn wir wie in unserem Entwurf § 193 StGB, der für Beleidigungsdelikte gilt, auch für den Bereich des Schutzes der Privatsphäre übernommen hätten. Es ist uns nicht gelungen, aber ich glaube, die Presse kann mit diesem Ergebnis durchaus leben. Für uns war auch ein anderer Bereich wichtig; denn Stoßrichtung dieses Gesetzes ist nicht die Pressefreiheit. Stoßrichtung ist vielmehr der Schutz der Privatsphäre vor Ausspähen und Hineinfotografieren. In der praktischen Anwendung gibt es immer wieder Fälle, in denen Beziehungen auseinander gehen und auf der einen oder anderen Seite oder auf beiden Seiten intime Fotos zurückbleiben, die dann - unverändert oder am Computer bearbeitet - an Stammtischen kursieren. Das wollen wir nicht. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben uns auch in diesem Zusammenhang einen weiteren Schutzbereich gewünscht. Er wurde in der interfraktionellen Diskussion immer mehr eingeschränkt. Jetzt liegt eine Gesetzeskonstruktion vor, die in der Rechtsprechung - ich stimme hierbei nicht ganz mit dem Kollegen Manzewski überein - ganz erhebliche Probleme aufwerfen wird. Das in der Beziehung mit Genehmigung gefertigte Foto darf nicht wissentlich unbefugt gebraucht werden. Nun wissen wir Juristen, dass das Element der Wissentlichkeit ein Vorsatzelement und die Befugnis ein Rechtfertigungselement ist. Würde in der Rechtsprechung vorgegangen, wie der Kollege Ströbele es meint - die Wissentlichkeit macht nach seiner Meinung das Rechtfertigungselement zum Tatbestandselement -, könnte sich mancher Straftäter auf dem Irrtumsweg aus der Verantwortung herausschleichen. Auch das gibt Anlass zu Überlegungen: Der Straftäter, der Fotos aus einer intimen Beziehung publiziert, ist gegenüber dem Pressevertreter privilegiert. Wir nehmen das zur Kenntnis. Es handelt sich um einen gemeinsamen Entwurf, den wir mittragen. Trotzdem muss man sagen, dass es Punkte gibt, die in der Öffentlichkeit auf Unverständnis stoßen werden und die in der Justizpraxis zu Anwendungsproblemen führen werden. Man muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise das Schweizer Recht viel weiter geht als das deutsche Recht; trotzdem ist das dort geltende Recht praktikabel. Wir haben uns in der Diskussion aus gutem Grund darauf verständigt, auf die Versuchsstrafbarkeit zu verzichten, weil wir der Meinung waren, dass die Vorbereitung für das Anfertigen von Fotos im Vorfeld nicht in den Straftatbestand aufgenommen werden soll. Auch mit diesem Punkt ist man der Presse durchaus entgegengekommen. Sie sehen also: Einen Auftrag von einem Bundesdatenschutzbeauftragten zu bekommen, ist die eine Seite; ihn in Recht umzuformen, ist eine andere, außerordentlich schwierige Angelegenheit. Die Lösung ist - ich glaube, das kann ich für alle sagen - nicht allzu elegant geworden; sie ist aber praktikabel. Die Rechtsanwendung wird zeigen, ob noch Nachbesserungsbedarf besteht oder nicht. Ich bin mir sicher, dass die Presseöffentlichkeit diesen Straftatbestand sehr wohl im Auge behalten wird. Man wird aber auch immer wieder daran erinnern müssen, dass der wesentliche Bereich der Medienberichterstattung durch § 33 Kunsturheberrechtsgesetz ohnehin schon abgedeckt war, sodass nur noch eine geringe Strafbarkeitslücke zu schließen war. Ich sage abschließend: Es gibt nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines jeden Bürgers. Dazu gehört nun einmal auch die Privatsphäre, die es zu schützen gilt. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich am Anfang meiner Rede sagen, dass es gar keinen Grund gibt, sich heute hier im Bundestag zu streiten, weil wir alle diesem Gesetz zustimmen wollen. ({0}) Nun hat der Kollege Kauder aber doch einen Punkt genannt, den ich klarstellen will: Wir unterscheiden in diesem Gesetz nicht zwischen Pressevertretern und sonstigen Menschen, sondern alle werden gleich behandelt. ({1}) Das Gesetz gilt also in allen seinen Absätzen für alle, also in gleichem Maße für Pressevertreter und für alle anderen Menschen. Das heißt, Journalisten und Privatpersonen, die Aufnahmen von anderen Personen machen, sind gleichgestellt. Weil wir uns hier im Bundestag eigentlich nicht mehr untereinander streiten müssen - wir haben diskutiert und sind zu diesem Ergebnis gekommen, das nun von allen getragen wird -, will ich nur einige Bemerkungen für die Öffentlichkeit machen. Es ist nämlich in der Tat so, dass dieses Gesetz - so, wie es jetzt vorgelegt wird - noch bis heute in den Medien, von Medienvertretern, von der dpa und von anderen, kritisiert wird. Man könnte manchmal, wenn man die Stellungnahmen liest, den Eindruck haben, dass wir hier einen konzentrierten Angriff auf die Pressefreiheit machen, möglicherweise sogar, um die Politiker, die Abgeordneten, den Bundeskanzler zu schützen. Dem ist nicht so. In diesem Gesetz wird die Veröffentlichung, also das, was die Journalisten von den Privatleuten, die Fotos machen, eigentlich unterscheidet, überhaupt nicht erwähnt. Es geht in diesem Gesetz nicht um die Veröffentlichung; das bleibt wie bisher auch im Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Fotografie geregelt. Hier geht es lediglich um eine Lücke in dem Bereich, in dem der Privatmann, die Privatfrau und natürlich auch die Journalisten gerne Aufnahmen machen und - das ist ja kein theoretischer Fall - in der Vergangenheit auch immer wieder gemacht haben. Wir haben all diese Fälle aus der Praxis diskutiert. Mit der heutigen Kameratechnik - kleine Fotoapparate an einem Stock, in einer Streichholzschachtel oder ähnlich verborgen - werden Fotoaufnahmen von ganz intimen Situationen gemacht, die vielleicht zunächst einmal nur zu Hause aufbewahrt werden. Es besteht dann aber immer die Möglichkeit, dass Einzelne diese gebrauchen und weitergeben, ohne dass sie unbedingt veröffentlicht werden. Wir haben festgestellt - auch der Datenschutzbeauftragte hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass das gesprochene Wort mehr geschützt ist als das Bild des Menschen oder auch mehrerer Menschen zusammen. Das heißt: Wenn ich heute durch den Tiergarten gehe und jemand neben mir nimmt mein Gespräch mit einer anderen Person mittels einer technischen Einrichtung auf, dann macht er sich selbst dann strafbar, wenn es sich um ein ganz banales Gespräch handelt, bei dem nichts Intimes oder Geheimnisvolles besprochen wird. Allein das kann schon strafbar sein, wenn ich einen Strafantrag stellen würde. Eine Aufnahme aus dem intimsten Bereich wenn sich Menschen also ganz intim nahe kommen, sei es im Tiergarten, ({2}) zu Hause oder auch, wie Sie das geschildert haben, in einem Bauwagen wird bisher in keiner Weise strafrechtlich sanktioniert. Dieses Ungleichgewicht kann schon aufgrund des Grundsatzes der Gleichbehandlung nicht bestehen bleiben. Deshalb haben wir nun diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir sagen allen Journalisten, die Sorge um ihre Arbeit haben: Ihr dürft auch weiterhin Abgeordnete, Bundeskanzler, Talkmaster und Tennisstars fotografieren, sogar in ganz persönlichen Zusammenhängen. Wenn es sich um eine Person der Zeitgeschichte oder das eigenartige Institut einer relativen Person der Zeitgeschichte handelt, dürft ihr diese Fotografien auch veröffentlichen. Im Gesetz wird nun aber eine Grenze festgelegt: Ihr dürft keine Fotografien aus dem höchst persönlichen bzw. intimen Bereich der Menschen herstellen. Diese bergen ja immer die Gefahr in sich, dass man mit ihnen etwas macht. Ich kann mir eigentlich keinen Journalisten vorstellen, der sich rechtfertigt und sagt, dass Fotos von Menschen, die in einem geschützten Bereich - zum Beispiel in einer Wohnung oder in einem Garten - ganz persönlichen Bedürfnissen nachgehen und sich entsprechend verhalten, rechtmäßig sind und es ihm deshalb erlaubt sein muss, entsprechende Fotos herzustellen. Dieser Raum muss für alle Menschen geschützt bleiben. ({3}) Ich halte es mit dem Bundesverfassungsgericht, das das in der schon angesprochenen Entscheidung zum großen Lauschangriff ganz banal formuliert hat: Es muss einen Raum für jeden Menschen - für jeden Mann und für jede Frau - geben, in dem er in Ruhe gelassen wird und in dem er sich so verhalten kann, wie es seiner Persönlichkeit entspricht, soweit er nicht gegen Strafgesetze verstößt. Dort hat auch die Presse nichts zu suchen. Diesen Raum wollen wir für alle Menschen - auch für die Personen der Zeitgeschichte und auch für die Politiker schließen. Ich glaube, das ist eine Errungenschaft, weil das Persönlichkeitsrecht gemäß dem Grundgesetz für alle Menschen gilt. Jeder sollte in gleichem Maße geschützt sein und geschützt bleiben. Deshalb verabschieden wir dieses Gesetz heute gemeinsam. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe für meine Fraktion schon in der 14. Legislaturperiode, vor etwa drei Jahren, erstmals einen Gesetzentwurf zum besseren Schutz der Intimsphäre eingebracht. Anlass für diese Aktivität war für mich nicht nur die Mahnung des Datenschutzbeauftragten - das ist hier schon angesprochen worden -, sondern die sich damals häufenden Berichte darüber, dass kleine Kameras in Solarien und Umkleideräumen von Betrieben angebracht worden waren und die jeweiligen Arbeitgeber und Betreiber die sich umziehenden Frauen fotografiert oder gefilmt haben. Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, schützt besonders die Frauen, die häufig Opfer solcher Aktivitäten sind, und zwar nicht nur der beschriebenen Aktivitäten, sondern auch Opfer der Tätigkeit von Paparazzi, die sich nicht scheuen, auf Bäume zu klettern, um in den intimsten Bereich von insbesondere bekannten Frauen einzudringen, Fotos zu machen und diese zu verkaufen, schwerpunktmäßig natürlich an Boulevardblätter, die dafür entsprechend viel Geld zahlen. Es ist schon mehrfach angesprochen worden, dass wir bisher nur das vertraulich gesprochene Wort schützen, aber der Schutz vor heimlich gemachten Fotos noch fehlte. Dass dieser Schutz noch dringender geworden ist, haben die bisherigen Beiträge gezeigt. Dadurch, dass Fotohandys immer mehr Verbreitung finden, besteht natürlich noch mehr die Möglichkeit, solche Fotos anzufertigen. Es wird überdies zunehmend leichter, sie dann elektronisch zu verarbeiten. Deshalb ist es ganz dringend, dass wir in diesem Zusammenhang strafrechtliche Grenzen aufzeigen. ({0}) Ich bin wie meine Vorredner der Auffassung, dass wir nicht in die Pressefreiheit eingreifen. Ich bin sehr überrascht, dass selbst heute noch entsprechende Vorwürfe publiziert worden sind. Wir haben den hohen Wert der Pressefreiheit in unseren Diskussionen immer berücksichtigt. Wir haben ausgelotet, ob das Nebeneinander des Schutzes des Persönlichkeitsrechtes des Einzelnen vor ungewollten Aufnahmen auf der einen Seite und des hohen Gutes der Pressefreiheit auf der anderen Seite richtig miteinander abgewogen ist. Uns hat insbesondere - auch das haben die Vorredner schon angesprochen - die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes sehr geholfen. Das Bundesverfassungsgericht - das findet unsere volle Unterstützung hat deutlich gemacht, dass es einen Kernbereich gibt, in dem niemand etwas unbefugt zu suchen hat. Das gilt auch für die Presse. Deshalb will ich kritisch sagen - das sehe ich wie der Kollege Manzewski -, dass die Beispielsfälle, die uns von den entsprechenden Organisationen der Presse vorgelegt worden sind, nicht überzeugen können. Daran konnten wir sehen, dass es keinen einzigen wirklichen Fall gegeben hat, bei dem nicht auch in Zukunft die berechtigten Interessen der Presse gewahrt bleiben. Daran wird das Gesetz nichts ändern. Von daher findet der Gesetzentwurf die Zustimmung der FDP-Bundestagsfraktion. Der Kollege Manzewski hat angesprochen, dass wir von sehr verschiedenen Positionen ausgegangen sind. Wir als FDP konnten uns einen weiter gehenden Schutz vorstellen. Deshalb sieht unser Gesetzentwurf einen sehr viel größeren Schutzbereich vor, als er in dem gemeinsamen Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Mich hat damals das Argument des Kollegen Montag überzeugt - ich danke ihm nachdrücklich für seine Beiträge -, der betont hat, dass dies ein sehr sensibler Bereich ist: Wenn wir den ersten Schritt in diese Richtung machen, dann sollten wir uns auf den Kernbereich des zu Schützenden beschränken. Wir schauen uns an, ob die Regelungen wirken und das erreicht wird, was wir wollen. Beim Strafrecht muss man vorsichtig sein. Erst wenn sich zeigt, dass danach noch Schutzlücken bestehen, können wir über eine Erweiterung nachdenken. Aber zunächst einmal fangen wir mit dem Kernbereich an. ({1}) Das macht deutlich, dass wir in der Diskussion sehr sorgfältig vorgegangen sind. Ich habe mit dem Kollegen Montag schon einen der Mitdiskutanten angesprochen, dem zu danken ist. Der Kollege Manzewski hat das Verfahren ganz hervorragend moderiert und damit zu dem guten Ergebnis beigetragen. ({2}) Auch der Kollege Kauder hat ganz hervorragende Beiträge geleistet. Der Gesetzentwurf ist im Parlament über die Fraktionsgrenzen hinweg erarbeitet worden. Das haben wir nicht häufig. Deshalb ist es umso erfreulicher, dass wir zu einem gemeinsamen Ergebnis und, wie ich finde, guten Ergebnis kommen. Ob es elegant ist, Herr Kollege Kauder, weiß ich nicht, aber es ist gut. Das ist das Wichtigste. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Hilbrecht von der SPD-Fraktion.

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich nun die Schließung der Strafbarkeitslücke bei unbefugten Bildaufnahmen aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Die hier notwendige Abwägung zwischen Persönlichkeitsinteresse und öffentlichem Interesse betrifft, wie meine Vorredner gesagt haben, auch den gesamten Medienbereich. Darüber hinaus ist die politische und gesellschaftliche Verständigung über eine solche Balance ein wichtiger Beitrag für unsere Grundwertekultur. Genau aus diesem Grund haben wir in den Beratungen im Ausschuss für Kultur und Medien diesem Thema ganz breiten Raum gegeben. Im Bereich der Medien zielt dieser Gesetzentwurf auch darauf, den bisweilen - das haben meine Vorredner auch gesagt, aber ich werde es wiederholen - unerträglichen Paparazzijournalismus zu verhindern. Auch das hat etwas mit Kultur oder auch mit Unkultur unserer Gesellschaft zu tun. Hierin sind wir uns einig. ({0}) Es kann nur im Interesse aller verantwortungsvollen Medienberichterstatter sein, dass wir etwas dagegen unternehmen. Wir alle wissen, wovon wir sprechen, und wir alle kennen die Bilder, wie in schamloser Weise in den privaten Lebensbereich eingedrungen wird, um Bildaufnahmen zu machen. Ich danke Ihnen, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass es besonders die Frauen sind, die darunter zu leiden haben. Adressat dieses Gesetzes ist also nicht die gesamte Medienbranche, sondern sind die schwarzen Schafe der Medienzunft. Wir wissen, dass die Journalisten in der Regel die erforderliche Gratwanderung zwischen Schutz- und Freiheitsrechten mit großer Verantwortung wahrnehmen. Das möchte ich hier betonen. Aber überall haben die Menschen auch ein Interesse an Boulevard- und Sensationsjournalismus. Trotzdem stellen die meisten in der Bevölkerung bei schockierenden Bildern, die oft genug veröffentlicht werden, immer wieder die Fragen: Ist das eigentlich erlaubt? Könnt ihr nicht etwas dagegen tun? Es ist gut und richtig, dass wir jetzt ein Gesetz auf den Weg bringen, das sich gegen das Spannerunwesen - ich möchte das beim Namen nennen - und gegen diese verantwortungs- und geschmacklose Berichterstattung wendet. Der Presserat, die Journalistenverbände, öffentlichrechtliche und private Sendeanstalten und weitere Medienverbände haben sich bei uns zu Wort gemeldet. Sie sehen sich mit der Schaffung des neuen Straftatbestandes in ihrer verfassungsrechtlich geschützten Berufsausübung behindert und sagen, er hindere sie bei der Aufdeckung von Missständen. Sie sagen weiter, ihre Arbeit liege im öffentlichen Interesse und deshalb sei in diesem Fall das Eindringen in den höchstpersönlichen Lebensbereich von Strafe freizustellen. Die Medienvertreter - meine Vorredner haben auch darauf hingewiesen - fordern die Aufnahme einer Rechtfertigungsklausel ins Gesetz. Danach sollen Bildaufnahmen im höchstpersönlichen Lebensbereich weiterhin straffrei bleiben, wenn sie der Wahrnehmung berechtigter öffentlicher Interessen dienen. So war die Formulierung. Wir haben auch das im Ausschuss genau unter die Lupe genommen. Wir haben in einem eigens angesetzten Expertengespräch Medienvertreter angehört. Die Medienvertreter haben dort ihre Interessen verteidigt und wir haben viele Rücksprachen gehalten. Trotz alledem haben wir uns dazu entschieden, diese Rechtfertigungsklausel nicht in das Gesetz aufzunehmen. Ich möchte anmerken, dass ich als Abgeordnete aus einem der neuen Länder eine besondere Sensibilität mitbringe, wenn es um Persönlichkeitsrechte wie auch um Meinungs- und Pressefreiheit geht. Wir wissen, wie es in der DDR darum bestellt war. Wir sind unter anderem für die Pressefreiheit, die ein wichtiger Eckpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft ist, auf die Straße gegangen. Trotz dieses Hintergrunds bin ich nach langem Abwägen zu dem Ergebnis gekommen, dass die von den Medien vorgeschlagene Klausel nicht in das Gesetz gehört. Die Kollegen von der Union und der FDP im Kulturausschuss haben es anders gesehen. Trotzdem haben wir - darüber freue ich mich - dem Gesetzentwurf im Ausschuss gemeinsam zugestimmt. Ich denke, mit dem Rechtfertigungsgrund „zur Wahrnehmung berechtigter öffentlicher Interessen“ würde der neu geschaffene Straftatbestand so stark eingeschränkt, dass er sozusagen nach Belieben wieder ausgehebelt werden könnte. Wir hätten dann doch wieder einen Gummiparagraphen. Die Formulierung „berechtigte öffentliche Interessen“ lässt, wie wir alle wissen, sehr viel Raum für Interpretationen. Nach der geltenden Rechtslage ist aus unserer Sicht kein besonderer Rechtfertigungsgrund notwendig; meine Kollegen haben im Vorfeld darauf hingewiesen. Ich freue mich, dass diese Einschätzung auch von den Rechtsexperten der Union und der FDP geteilt wird. Ich denke, wir können heute mit dem Gesetz eine Strafbarkeitslücke schließen und zugleich einen sehr wichtigen Beitrag für die Kultur unseres Zusammenlebens leisten, für die Ausbalancierung zwischen individueller Freiheit jedes Einzelnen - also auch der Presse und dem berechtigten öffentlichen Interesse. Wir werden dabei selbstverständlich auch die Einwände der Medienvertreter im Blick behalten und wir werden, wie bei allen Gesetzen, die Auswirkungen sehr aufmerksam beobachten. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab von der CDU/CSU-Fraktion.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der umfassende Schutz der Intimsphäre jedes Einzelnen lag und liegt uns allen sehr am Herzen und ich bin froh, dass wir doch in den meisten Punkten übereinstimmen und eine gemeinsame Formulierung gefunden haben. Das liegt hauptsächlich daran, dass der Schutz der Privatsphäre unbestreitbar ein Thema ist, bei dem man eigentlich nur einer Meinung sein kann. Nach durchaus nicht immer einfachen und auch nicht immer kurzen Verhandlungen mit Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, haben Sie eingelenkt und uns - das hat uns sehr gefreut - auch ein bisschen beigegeben; wie Sie sich vorstellen können, würden wir uns das öfter wünschen. In unserer hoch technisierten und immer globaler werdenden Medienwelt gewinnen Bildaufnahmen immer mehr an Bedeutung. Durch Bildaufnahmen kann informiert, aber auch manipuliert werden. Die Vertraulichkeit des Wortes in jeglicher Form ist ausreichend geschützt. Was den Schutz des heute schon oft erwähnten so genannten höchstpersönlichen Lebensbereiches gegen unbefugte Bildaufnahmen angeht, gab es jedoch nach wie vor Lücken. Diese Lücken werden nun behoben. Das war dringend notwendig. Wir alle wissen es nur zu gut: Digitalkameras und Fotohandys sind an der Tagesordnung. Wie schnell werden damit Aufnahmen gemacht, die oft auf unwürdigste Art und Weise in die Privatsphäre der betroffenen Person eingreifen! Das ist besonders dann der Fall, wenn diese Aufnahmen in Situationen gemacht werden, in denen wir uns eigentlich unbeobachtet fühlen dürfen. Allein die Herstellung derartiger Fotos greift tief in die Würde des Betroffenen ein. Diese Aufnahmen dann auch noch weiterzugeben - egal in welcher Form - ist ungleich verletzender. ({0}) Deshalb waren wir uns auch einig: Nach dem nun eingefügten § 201 a StGB ist es strafbar, eine Person abzulichten, die sich in ihrem ganz privaten Rückzugsbereich, also dem so genannten höchst persönlichen Lebensbereich, aufhält. Dazu zählen klassischerweise - auch das ist erwähnt worden - die Wohnung, das Hotelzimmer und grundsätzlich alle Räumlichkeiten, die vor unbefugtem Einblick schützen sollen. Hinzu kommt, dass dies ohne die Zustimmung der Person geschieht und die Bilder an Dritte - zur Veröffentlichung oder Ähnliches - weitergegeben werden. Die Aufnahme des Begriffes des „höchst persönlichen Lebensbereichs“ sorgt aber auch dafür - auch das ist schon gesagt worden -, den Straftatbestand nicht unangemessen weit auszudehnen. Auch das war uns allen wichtig. Zum Thema Pressefreiheit ist von meiner Vorrednerin schon sehr viel gesagt worden. Ich sehe es durchaus ähnlich. Es gibt keine Existenzgefährdung für Blätter wie „Gala“, „Bunte“ und „die aktuelle“, um nur einige Zeitschriften zu nennen. ({1}) - Richtig. - Es trifft hauptsächlich den Paparazzo, der aus zwei Kilometern Entfernung mit Superzoom aus der Hecke ins Wohnzimmer fotografiert, oder den Spanner von nebenan, der sich einfach an Badezimmerfotos der Nachbarin ergötzen möchte. Denken Sie aber auch an das ganz aktuelle Beispiel der Fotos von der verstorbenen Prinzessin Diana, die jetzt wohl im Umlauf sind und die eine sterbende Prinzessin zeigen sollen, und daran, für welchen Aufruhr das in der Öffentlichkeit gesorgt hat! Das sollte uns zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich möchte auch noch ein konkretes Beispiel aus dem täglichen Leben nennen. Man stelle sich die Konstellation vor, dass eine Beziehung zu Ende geht. In glücklichen Zeiten sind Bildaufnahmen entstanden, die sich eindeutig auf die Intimsphäre des Beteiligten bzw. der Beteiligten beziehen. Dabei muss es nicht immer um Sexualität oder Nacktheit gehen. Es kann auch Krankheit und Tod oder der ganz normale Alltag, zum Beispiel im Schlafanzug morgens vor dem Spiegel, sein. Nach einer Trennung sieht sich nun der Expartner veranlasst, diese aus Rache - wem auch immer - zur Verwendung zu geben oder in das Internet zu stellen und auch noch seine Exfreundin darauf hinzuweisen. Das, was früher noch ein schlechter Spaß war, ist nun strafbar. So soll es auch sein. Auch hierüber sind wir uns einig. ({2}) An dem Gesetzentwurf ist eine kleine Sache noch zu bemängeln. Herr Ströbele, Sie wissen, dass ich Ihnen äußerst ungerne widerspreche. Sehen Sie es mir nach! ({3}) Ich sehe wie der Kollege Kauder im Zusammenhang mit dem neuen § 201 a Abs. 3 StGB ein Beweisproblem in der Praxis, das der Richter lösen muss. Wir begeben uns hier schon in die Irrtumslehre. Herr Ströbele, hier sind wir juristisch einfach anderer Meinung. Ich glaube aber, dass wir das so stehen lassen können. Uns ist der Gesetzentwurf jedenfalls so wichtig, dass wir die Bedenken, die wir in diesem Bereich haben, hintangestellt haben. Dazu stehen wir nach wie vor. Erlauben Sie mir - meine Redezeit gibt das gerade noch her - eine ganz kurze persönliche Anmerkung zum Thema Graffiti. Auch hier wünsche ich mir eine solch pragmatische und zielgerichtete Lösung. In diesem Sinne: vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaela Noll.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich begrüße wie alle meine Vorredner den gefundenen Kompromiss. Der Schutz des Einzelnen vor unbefugten Bildaufnahmen wird verbessert; denn wenn schon Kindern vor Gericht Schmerzensgeld wegen veröffentlichter Paparazzifotos zugesprochen wird, dann ist die unbefugte Bildaufnahme eben kein Kavaliersdelikt mehr. Die verschiedenen Gerichtsurteile haben dies bestätigt. Wir alle sind uns einig, dass hier eine strafrechtliche Verfolgung notwendig ist. Das ist Aufgabe des Staates. Aber es geht nicht nur um die besonders medienwirksamen Fälle prominenter Opfer. Ich denke, wir sollten hier auch für diejenigen Opfer Partei ergreifen, die nicht im Rampenlicht stehen bzw. nicht stehen wollen. wie - ein kleiner Scherz am Rande - beim Abitur. ({0}) Das war für uns alle nicht länger hinnehmbar. Es war also allerhöchste Zeit, zu handeln. Die Bürger wollen zeitnahe Problemlösungen. In diesem Zusammenhang muss ich doch noch Kritik anbringen. Es macht keinen Sinn, dass Gesetzentwürfe erst einmal drei Jahre in der Versenkung verschwinden, um dann wieder auf die Agenda gesetzt zu werden. Nur zur Erinnerung, falls Sie es vergessen haben: Diese Strafbarkeitslücke wollte die Bundesregierung schon in der letzten Legislaturperiode schließen; das haben Sie, Herr Kollege van Essen eben bereits angesprochen. Wir hätten sie bereits schließen können, wenn Sie von der Regierungskoalition vor drei Jahren mitgemacht hätten. Ich möchte meine Kritik nicht fortsetzen; denn ich bin froh, dass wir es geschafft haben. Es ist uns gemeinsam gelungen, einen Konsens zu finden. Dafür möchte ich mich auch bei meinen Kollegen von den Koalitionsfraktionen bedanken; denn den kriminalpolitischen Handlungsbedarf, den Sie heute bejahen, haben Sie noch im Februar 2003 ganz anders bewertet. Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben damals gesagt, es gebe bereits ausreichende rechtliche Möglichkeiten, und haben dann auf die Unterlassungsklage, und Schadenersatzansprüche sowie das Kunsturhebergesetz verwiesen. Ein Jahr später - das bewerte ich sehr positiv - haben wir es trotzdem noch geschafft, eine Einigung zu erzielen. ({1}) In unserer Zeit stehen Daten und Fotos speziell durch Internet und Fotohandys innerhalb von Sekunden weltweit zur Verfügung. Viele von Ihnen kennen die Geräte, mit denen man solche Bilder machen kann. Sie sind zum Teil so groß wie eine Scheckkarte. Was heißt das Ganze für den Bürger? Es bleibt oft im Verborgenen, wer wann wo welche Aufnahmen von Personen gemacht hat. Diese Gefahren hat 1999 auch der Datenschutzbeauftragte gesehen. Ich glaube, dass einige der Gäste auf der Besuchertribüne bereits am Brandenburger Tor waren und dort unter Umständen schon Fotos geschossen haben. Vielleicht finden sich auf diesen Bildern andere Touristen wieder. Aber damit müssen Touristen rechnen; schließlich haben sie sich auf einen öffentlichen Platz begeben. Etwas anderes muss allerdings gelten, wenn Bildaufnahmen im höchstpersönlichen Lebensbereich gemacht werden, Stichwort Hotelzimmer, Stichwort Damentoilette. Ich denke an Aufnahmen, von denen Sie nichts wissen und von deren Veröffentlichung, womöglich im Internet, Sie keine Kenntnis haben. Es ist für Sie alle wichtig, davor ausreichend geschützt zu werden. ({2}) Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht. Der Fokus liegt jetzt nicht mehr auf dem, was hinterher, wenn es schon zu spät ist, passiert; vielmehr geht es darum, die Hemmschwelle im Vorfeld zu erhöhen, damit solche Bilder gar nicht mehr hergestellt werden. Wir wollen erreichen, dass diese Fotos einfach vom Markt verschwinden. Eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren ist eine deutliche Warnung. Sehr geehrter Kollege Manzewski, jetzt will ich Sie kurz mit ins Boot holen. Sie haben in der letzten Debatte zu diesem Thema im Jahre 2003 gesagt, es gehe darum, erhebliche Probleme in der Praxis zu vermeiden. „Wir sind aufgefordert, nur Gesetze zu schaffen, die der Justiz helfen und die Justiz nicht belasten.“ Vielleicht hätten Sie Ihren Kollegen Ströbele einmal zur Seite nehmen müssen, dass das Wörtchen „wissentlich“ nicht in den Gesetzestext kommt; denn in der Rechtsanwendung wird das bestimmt Probleme schaffen. Aber auch die werden wir lösen. Ich möchte noch kurz ein Wort zur Pressefreiheit sagen. Die Pressefreiheit wurde mit diesem Gesetzentwurf nicht infrage gestellt. In diesem Punkt kann ich ausnahmsweise dem Kollegen Ströbele zustimmen. Die Feststellung, dass die Pressefreiheit ein hohes Gut ist und dass der Staat verpflichtet ist, die Pressefreiheit zu schützen, wo immer er kann, ist zweifellos richtig; denn ohne Pressefreiheit kann eine lebendige Demokratie nicht existieren. Das ist unbestritten. Sie wird durch diesen Gesetzentwurf gewahrt, auch wenn die Presse das zum Teil anders sieht. Wir haben die Strafbarkeitslücke geschlossen. Alle, die jetzt Fotos aus dem höchst persönlichen Lebensbereich illegal herstellen, benutzen oder vertreiben, sind ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes, § 201 a StGB. Der Rechts- ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/2995, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Beratung einstimmig angenom- men worden. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/2995 zu dem von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zum verbesserten Schutz der Privatsphäre. Der Rechtsaus- schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- fehlung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/533 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen wor- den. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Rechtsausschuss, den Gesetzentwurf der Frak- tion der FDP auf Drucksache 15/361 zum verbesserten Schutz der Intimsphäre ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. 1) Der Redebeitrag der Abgeordneten Petra Pau ({0}) wird zu Protokoll genommen. ({1}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Schließlich empfiehlt der Rechtsausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung, den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Schutz der Intimsphäre - ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung zweier Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu Anträgen auf Genehmigung zur Durchführung der Strafverfolgung zu erweitern und jetzt sofort als Zusatzpunkte 7 und 8 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Somit rufe ich die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung der Strafverfolgung - Drucksache 15/3007 Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3}) Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchführung der Strafverfolgung - Drucksache 15/3008 Berichterstattung: Abgeordneter Eckart von Klaeden Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3007, die Genehmigung zur Durchführung der Strafverfolgung zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. In seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3008 empfiehlt der Ausschuss ebenfalls, die Genehmigung zur Durchführung der Strafverfolgung zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sperrzeiten für Außengastronomie verbraucherfreundlicher gestalten - Drucksachen 15/674, 15/1287 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brähmig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich hoffe, dass wir an den vorigen Debattenpunkt anknüpfen können und diese Problematik hier einmal genauso sachlich und in Ruhe miteinander diskutieren können. Was ist der derzeitige Rechtsstand? Es gibt eine Technische Anleitung Lärm. Sie setzt Lärmgrenzwerte fest und sie setzt auch fest, wann die Nachtzeit beginnt. Von dieser Technischen Anleitung Lärm ist die Außengastronomie ausdrücklich ausgenommen. Die Rechtspraxis ist allerdings eine ganz andere. In der Rechtspraxis berufen sich Gerichte und auch Gemeinden auf diese Technische Anleitung Lärm. Das hat zur Folge, dass in weiten Teilen der Republik Außengastronomie - Biergärten, Straßencafés, Weinterrassen - um 22 Uhr schließen müssen. Das ist der Ausgangspunkt. Da wir das ändern wollen, fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag auf, in zwei Punkten tätig zu werden. Wir wollen erstens, dass während der Sommerzeit der Beginn der Nachtzeit in diesem immissionsschutzrechtlichen Sinne auf 23 Uhr oder 24 Uhr - wir wären mit einer Festlegung auf 23 Uhr schon zufrieden festgelegt wird. Wir wollen zweitens, dass für menschlichen Lärm andere Grenzwerte festgesetzt werden als etwa für Maschinenlärm, dass also das Lachen, Reden, Singen anders behandelt wird als Maschinenlärm, das Hämmern, Bohren oder Sägen. ({0}) Wir wollen ausdrücklich nicht, dass der Bund etwas regelt. Natürlich wollen wir nicht, dass in Berlin entschieden wird, wann in Düsseldorf die Altstadtkneipe oder das Weinrestaurant am Rhein oder was auch immer für den Außenbetrieb schließen muss, sondern wir wollen vom Bund aus den Spielraum erweitern, damit Länder, Städte und Gemeinden das so festlegen können, wie sie es für richtig halten. Das verstehen wir unter bürgernaher Politik. ({1}) Es gibt einige Gründe dafür. So ist ein völlig verändertes Konsumentenverhalten zu verzeichnen. Auch die Deutschen gehen später aus und bleiben länger sitzen. Wir haben das Ziel, ein florierendes Stadtwesen zu schaffen. Dazu gehört gerade die Außengastronomie. Sobald man außen zumacht, sind die Innenstädte tot. Wir haben in Deutschland eine florierende Biergartenkultur. Der Tourismus in Deutschland lebt förmlich von dieser Kultur. Sie wollen wir fördern und damit insbesondere auch den Tourismusstandort Deutschland. ({2}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir wollen, dass mehr Menschen aus anderen Ländern - Franzosen, Italiener, Engländer - zu uns kommen, müssen wir etwas verändern. Wenn sie schön gemütlich im Biergarten sitzen, können sie es nämlich nicht verstehen, dass um 22 Uhr alles hochgeklappt wird und sie gehen müssen. Ein weiteres wirtschaftliches Argument - ich bitte Sie, das nicht zu unterschätzen -: Im letzten Sommer, diesem Jahrhundertsommer, gab es das große Problem, dass die Leute, als die vollen Biergärten um 22 Uhr schließen mussten, nicht in die Innenräume, sondern nach Hause gegangen sind. Unterm Strich waren das Umsatzausfälle. Vor diesem Argument sollte man die Augen nicht verschließen, sondern es zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln. ({3}) Nun möchte ich gerne auf ein paar Gegenargumente eingehen. Mir bleibt leider nur wenig Zeit, da ich lediglich fünf Minuten Redezeit habe. Ich weiß ja, welche Gegenargumente kommen, da Sie, liebe Kollegin Irber, nach mir reden werden. Somit will ich nur auf zwei eingehen: Erstens. Es ist totaler Unsinn, wenn davon geredet wird, durch die von uns vorgeschlagene Regelung würde mehr Bürokratie aufgebaut. ({4}) Wir wollen keine weiteren Lärmschutzvorschriften erlassen, sondern wir wollen die bisherigen Lärmschutzwerte verändern. Das hat überhaupt nichts mit zusätzlicher Bürokratie zu tun. Im Gegenteil: Dadurch, dass wir den vom Bund vorgegebenen Rahmen ausweiten, verringern wir die Bürokratie, weil jetzt die Länder und Gemeinden so handeln können, wie sie es gerne wollen. Unser Vorschlag führt also zu Bürokratieabbau und nicht zu mehr Bürokratie. ({5}) Zweitens. Sie werfen uns immer vor, wir wollten alles von Berlin aus regulieren. Auch das ist völliger Unsinn. ({6}) Wir wollen den Rahmen ausweiten, schreiben aber niemandem etwas vor; im Gegenteil. Wenn Sie doch nur einmal in der Lage wären, unseren Antrag überhaupt zu lesen, dann könnten wir miteinander diskutieren. ({7}) Wir wollen nur den Rahmen setzen. Entscheiden sollen die Städte und die Gemeinden vor Ort. Wir in Berlin mischen uns in diese Entscheidungen damit überhaupt nicht ein. Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Sie haben jetzt die Einführung einer Ausbildungsabgabe in die Diskussion gebracht. Sie treffen damit die Branche ganz erheblich. Mit der Annahme unseres Vorschlages könnten Sie etwas beschließen, was keinen Cent kostet, was aber der Branche und den Menschen in Deutschland hilft. ({8}) Deshalb bitte ich Sie: Springen Sie endlich über Ihren ideologischen Schatten und stimmen Sie dem Antrag heute zu. Danke schön. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brunhilde Irber.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP besitzt ein gutes Timing: Das Frühlingswetter, gerade dieser Tage hier in Berlin, animiert zum Besuch von Biergärten und Straßencafés. In den vor uns liegenden Monaten mit lauen Frühlings- und Sommerabenden wird es wieder viele Menschen in die Biergärten und Straßencafés ziehen. Damit ergibt sich eine Einnahmequelle für die Gastronomie. Das begrüßen wir ausdrücklich. ({0}) Ich will auch gar nicht verhehlen, dass wir, wie schon in den vorhergehenden Beratungen ausführlich dargestellt, um jedes Bundesland und um jede Kommune froh sind, die die vorhandenen Möglichkeiten zur Verkürzung der Sperrzeiten in der Außengastronomie nutzen. Bis hierher sind wir uns einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Mit dem Thema Sperrzeiten in der Außengastronomie beschäftigen wir uns ja beinahe jedes Jahr wieder zu Beginn der sommerlichen Zeit. Die Kollegen haben heute schon gesagt, dass auch ihnen bewusst ist, dass alle Jahre wieder der Antrag der FDP zu diesem Thema kommt. ({1}) Ich hätte es mir heute einfach machen und meine Reden vom 29. Juni 2001 oder vom 8. Mai 2003 erneut vortragen können, denn neue Argumente habe ich in Ihrem Antrag nicht gefunden. Auch in den Ausschussberatungen gab es keine neuen Argumente. Deswegen glaube ich, dass es eigentlich überflüssig ist, diesen Antrag zu beraten. Aber wir müssen es tun, weil er gestellt worden ist. Sie fordern die Bundesregierung jetzt nicht mehr zur Änderung des § 18 des Gaststättengesetzes auf. Denn die meisten Bundesländer haben mittlerweile nur noch die Besenstunde zwischen 5 und 6 Uhr. Sogar Bayern hat sich jetzt dazu entschlossen. Das begrüße ich ausdrücklich. Mit diesem Antrag zielen Sie ausschließlich auf die Definition der Nachtzeit im immissionsschutzrechtlichen Sinne ab. Die Nachtzeit soll gemäß Ihrem Antrag in den Sommermonaten erst um 23 Uhr oder idealerweise gar erst um 24 Uhr beginnen. Ich stimme Ihnen wie vor einem und auch vor drei Jahren zu: Insbesondere bei jüngeren Leuten haben sich das Ausgehverhalten und die Lebensgewohnheiten geändert. ({2}) Viele werden gerade in der Sommerzeit zu regelrechten Nachteulen. Auch ich gehöre im Übrigen dazu. Aber des einen Freud ist des anderen Leid. Sie dürfen die Nachbarschaft und die Anwohner nicht vergessen. Das ist das, was uns bewegt. Die Anwohner haben ein Recht auf eine ungestörte Nachtruhe. Wir alle setzen uns dafür ein, mögliche nächtliche Ruhestörungen zu minimieren. Damit beugen wir auch gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Man darf nicht nur die Einkünfte der Gastronomie sehen, sondern muss auch das berechtigte Interesse der Anwohner auf ungestörte Nachtruhe ins Auge fassen. ({3}) - Das geht eben nicht, Herr Burgbacher; ich komme noch darauf. Ihre Forderung nach einer Technischen Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“ missachtet dieses Recht auf Nachtruhe. Sie würden damit einen bürokratischen Wust aufbauen. ({4}) - Natürlich! ({5}) Wenn wir diesen Antrag heute hier beschließen, würde es eine Technische Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“ geben. Dann müssten Grenzwerte festgesetzt werden, die eingehalten werden müssten. Der Staat und seine Verwaltungsorgane hätten dann die Pflichten der Exekutive. Die Einhaltung müsste bei Beschwerden überprüft werden. Nehmen wir einmal den folgenden Fall an: Anwohner X fühlt sich in seiner nächtlichen Ruhe gestört. Er ruft die Polizei. Die Polizei muss anrücken und den Lärmpegel messen. Daran würde sich ein Verfahren wegen Störung der Nachtruhe anschließen. Ich weiß nicht, wie der Vollzug genau aussehen müsste; aber es würde ein riesiger bürokratischer Aufwand entstehen. ({6}) Ich glaube, das wäre ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Lärmmessungsingenieure und würde eine Mehrarbeit für die Polizeien der Länder bedeuten. Ich glaube nicht, dass wir einem solchen Gesetzentwurf zustimmen sollten. Einen verbraucherfreundlichen Ansatz kann ich dabei überhaupt nicht entdecken. Sie fordern in Ihrer Kleinen Anfrage vom 19. März dieses Jahres den Abbau von Bürokratie in der Tourismusbranche. In dem heute debattierten Antrag fordern Sie, „einen unbürokratischen, verbraucherfreundlichen und praxistauglichen Vorschlag zur Änderung des Bundesimmissionsschutzrechts“ für die Sommerzeit vorzulegen. Jetzt frage ich mich: Was ist an Ihrem Antrag unbürokratisch, praxistauglich oder verbraucherfreundlich? ({7}) Verbraucher sind nicht nur diejenigen, die im Straßencafé sitzen, sondern auch diejenigen, die am Morgen um 5 oder 6 Uhr aufstehen müssen, um zur Arbeit zu gehen, und nicht schlafen können, weil sie durch den Lärm in den Cafés gestört werden. Sie sehen lediglich die Umsatzzahlen in der Gastronomie und meinen, allen Städten müsste am besten eine Verschiebung des Sperrzeitbeginns bis 24 Uhr genehmigt werden. Dabei missachten Sie aber die Rechte der Anwohner. Ich glaube nicht, dass das zielführend ist. Wir haben als Gesetzgeber die Rechte aller Bürger zu schützen; das ist unsere Aufgabe. Wenn Leute in fröhlicher Runde beieinander sitzen, dann können sie auch um 22 Uhr in den Innenraum gehen. Die Kommunen können die Zeiten schon heute verlängern. In der „Passauer Neuen Presse“ vom heutigen Tage stand, dass die Stadt Passau die Sperrzeiten in der Außengastronomie auf 23 Uhr festgesetzt hat. Verlängerte Öffnungszeiten sind also schon jetzt möglich. Weshalb sollen wir dann bitte schön eine Technische Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“ schaffen? Ich denke, wir werden unsere bisherige Haltung, die sich bewährt hat, nicht ändern. Es bedarf keiner bundesweit einheitlichen Regelung. Die Kompetenz lassen wir bei den Ländern. Damit behalten die Kommunen das Recht, die Sperrzeiten für ihre Außengastronomie selbst festzulegen. ({8}) Dort kennt man nämlich am besten die Interessen und die Bedürfnisse der Bevölkerung und aller Beteiligten. Man weiß auch, wo eine Gastronomie im Außenbereich störend ist und wo sie nicht störend ist. ({9}) Ich habe nichts dagegen, wenn eine abgelegene Waldwirtschaft, in deren Umgebung niemand wohnt, länger geöffnet hat. ({10}) Ich habe aber etwas dagegen, wenn diese Gastwirtschaft in einem Wohngebiet, neben einem Krankenhaus oder einem Altenheim liegt. Wir würden mit einer Technischen Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“ längeren Öffnungszeiten derart gelegener Gastwirtschaften Tür und Tor öffnen. Ich glaube daher, dass Ihr Antrag obsolet ist. Wir brauchen ihn nicht und wir werden ihn deshalb ablehnen. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig. ({0})

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wilhelm Busch hat einmal trefflich bemerkt: „Das Trinkgeschirr, sobald es leer, macht keine rechte Freude mehr.“ ({0}) Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, werden auch in diesem Sommer die Biergläser ab 22 Uhr leer bleiben. Wenn es gerade gemütlich wird, findet die Biergartenkultur in Deutschland per Anordnung ihr abruptes Ende. Nicht nur bei den wirtschaftlichen Parametern wird Deutschland unter der Regierung Gerhard Schröder vom restlichen Europa abgehängt; auch bei der abendlichen Lebensqualität ziehen unsere Nachbarn gnadenlos an uns vorbei. Die Toskana-Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und SPD weiß die Vorzüge flexibler Öffnungszeiten in der Gastronomie im südlichen Europa Jahr für Jahr zu schätzen. ({1}) Ich möchte hinzufügen: Auch ich habe dieses Flair in Ljubljana, Budapest und Prag bei Arbeitsgruppenreisen in angenehmer Erinnerung behalten. Unsere Bürger und ausländischen Gäste müssen in einem Hochsommer wie dem des letzten Jahres die Annehmlichkeiten von geschlossenen Räumen bei 30 Grad Celsius genießen. Da ist es kein Wunder, dass unsere heimische Gastronomie unter Konsumverzicht leidet. Die Wirtschaft liegt am Boden und die letzten konsumbereiten Kunden werden indirekt nach Hause geschickt. Sie kaufen sich dann das Bier in der Kaufhalle und sitzen mit Freunden im Grünen bzw. auf dem Balkon. Schon vor zwei Jahren haben wir dieses Thema im Deutschen Bundestag debattiert. Geändert hat sich in der Zwischenzeit nichts. Das ist ein großes Ärgernis für die Unternehmer und Gäste in Deutschland. Der Antrag unseres Kollegen Ernst Burgbacher zur Liberalisierung der Sperrzeiten in der Außengastronomie will dieses Ärgernis beseitigen. Freiluftgaststätten wie zum Beispiel Biergärten sollen in Zukunft bis mindestens 23 Uhr und höchstens bis 24 Uhr öffnen dürfen. Wir haben diesen Antrag vor zwei Jahren unterstützt und unsere Meinung dazu ist unverändert. Die heutige Debatte sagt viel über den aktuellen Zustand des Wirtschaftsstandortes Deutschland aus. Wieder einmal verpasst die rot-grüne Bundesregierung eine gute Möglichkeit, dem gastronomischen Mittelstand in Deutschland unter die Arme zu greifen. Ich brauche es eigentlich nicht zu erwähnen: Er hat es mehr denn je nötig. Hier und heute könnte die Regierung, ohne Kosten für den Staat zu verursachen, aktive Wirtschaftsförderung betreiben. Aber die rot-grüne Bundesregierung hat einen viel besseren Ansatz, für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu sorgen. Sie droht dem teilweise um seine Existenz kämpfenden Mittelstand mit der ideologischen Keule der Ausbildungsplatzabgabe. ({2}) Leider vergisst die Regierung dabei, dass beispielsweise das Gastgewerbe seiner gesellschaftlichen Verantwortung überdurchschnittlich gerecht wird. Mit rund 7 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschland und einer überdurchschnittlichen Ausbildungsquote bietet das Gastgewerbe weiterhin vielen jungen Menschen eine Berufs- und Lebensperspektive. Allerdings braucht das Gastgewerbe Perspektiven für eine bessere Zukunft, um den im letzten Jahr aufgestellten Ausbildungsrekord in der Hotellerie und Gastronomie auch in diesem Jahr wieder erreichen zu können. Was läge also näher als eine Zustimmung von Rot-Grün zu einem Antrag, dessen Umsetzung keine Kosten verursacht und dem Gastgewerbe zusätzliche Umsätze bescheren könnte? Leider setzt sich die irrationale Wirtschaftspolitik der Regierung Schröder auch in anderen Politikfeldern fort. Beispielsweise will sich die Bundesregierung für eine EU-Richtlinie einsetzen, die Frankreich die Einführung eines ermäßigten Steuersatzes für Restaurantdienstleistungen ermöglichen soll. Gleichzeitig will die Bundesregierung dies den deutschen Gastwirten aber weiterhin strikt verwehren. ({3}) - Ich denke schon, dass das alles zusammengehört. Kurz gesagt, Bundeskanzler Schröder setzt sich für einen preiswerten Urlaub in Frankreich ein und sorgt für einen gleich bleibend teuren Urlaub im eigenen Land. ({4}) Dabei hat ein wissenschaftliches Gutachten in Frankreich ergeben, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf Gastronomiedienstleistungen circa 40 000 neue Arbeitsplätze schaffen kann. Wir gratulieren der Regierung zu dieser wirtschaftspolitischen Meisterleistung. Wo bleibt endlich Ihr Einsatz für eine Harmonisierung der Umsatzsteuer im europäischen Gastgewerbe? Lassen Sie mich zu dem heute zu debattierenden Antrag zurückkommen. ({5}) Dessen Ablehnung begründet Rot-Grün mit dem Ruhebedürfnis der Anwohner von Außengastronomie. Lachen und Reden fallen nach Ihrer Auffassung unter den Immissionsschutz. Dies ist eine sehr seltsame Interpretation von menschlicher Kommunikation. Aber, liebe Kolleginnen der Regierungskoalition, machen Sie sich keine Sorgen um das Ruhebedürfnis der Anwohner. Angesichts Ihrer bewährten Regierungspolitik wird es auch im Hochsommer für die meisten Bürger kaum Anlass zu Jux und Dollerei geben. ({6}) Wer etwas verhindern will, sucht Gründe. Wer etwas bewegen will, sucht Wege. Was Rot-Grün heute anbietet, ist die Aneinanderreihung von Gründen. Wege in die Zukunft kann man von dieser Regierung nicht mehr erwarten. Danke. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Undine Kurth.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! Mit einigem Unwillen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die FDP alljährlich und regelmäßig den Bundestag mit ein und demselben Antrag beschäftigt. Auch wenn es sich um das sehr sympathische Thema Biergarten dreht und wir jetzt vielleicht besser in einem solchen sitzen sollten, ist das nicht besonders erfreulich. Herr Brähmig, wenn Sie den Niedergang der gesamten Wirtschaft der Bundesrepublik an den Öffnungszeiten von Biergärten festmachen wollen, ist das nicht ganz angemessen. ({0}) Das stete Wiederholen eines Themas kann natürlich sinnvoll sein, ({1}) wenn dies im Sinne von Max Weber das „Bohren dicker Bretter“ bedeuten würde, wenn man neue Argumente bringen würde, wenn Sie Argumente berücksichtigen würden, die bisher vorgetragen worden sind. Aber das ist nicht der Fall. Lieber Herr Burgbacher, ich schätze Sie wirklich sehr. Ihr Antrag entbehrt zwar nicht des Eifers, aber er entbehrt neuer Argumente. ({2}) So viel zur Einleitung meines Beitrags; denn jetzt bleibt mir nur übrig, auf die vorgetragenen Argumente unsere bereits bekannten Antworten zu geben und damit klar zu machen, warum wir nicht zustimmen können. Natürlich wissen auch wir, dass sich die Lebensgewohnheiten verändert haben. Wir finden das sehr gut; auch wir gehen gerne abends aus. Auch wir wissen, dass es für touristische Destinationen wichtig ist, dass sich die Gäste dort wohl fühlen. Auch wir wissen es zu schätzen, dass es Gastwirte gibt, die über wunderbare Biergärten verfügen, in denen sie Gäste bewirten können. Aber wir wissen auch, dass es Anwohner gibt, die abends Ruhe brauchen. Wir denken, man muss beides gegeneinander abwägen und beides in Einklang bringen; denn nicht jeder in der Bundesrepublik, der für den Wirtschaftsaufschwung sorgen möchte, geht direkt vom Büro in den Biergarten und bleibt dort die halbe Nacht. Es gibt auch Menschen, die abends einfach Ruhe brauchen. Deshalb sagen wir: Wir brauchen und wollen verbraucherfreundliche und anwohnerfreundliche Sperrzeiten. Wir wollen optimale Lösungen für alle Beteiligten. Regelungen nach dem Motto „Für die paar Tage geht das schon“ greifen zu kurz, weil diejenigen, die in der Nähe solcher Gastwirtschaften wohnen, diese Zeit als durchaus lang empfinden können. Der letzte Sommer war lang und schön, wie wir alle wissen. Deswegen setzen wir auf ein bewährtes Konfliktmanagement und sagen: Lasst es die Leute vor Ort entscheiden. Sie kennen die Situation am besten. Sie wissen am besten, wie man es machen muss. Dafür braucht man keine neuen Verordnungen. Ihr Vorschlag, Immissionsgrenzwerte für Kommunikationslärm festzusetzen, klingt zunächst charmant. Aber es hat sich nichts daran geändert, dass sie nicht so einfach zu bestimmen sind. Frau Irber hat beschrieben, auf welche Schwierigkeiten man dabei stoßen kann. Lassen Sie die Menschen also so lange trinken, wie sie mögen. Aber lassen Sie vor Ort bestimmen, ob das draußen oder drinnen geschehen kann. ({3}) Es ist unsinnig, von hier aus festzulegen, wie lange wo geöffnet werden darf. Deshalb glauben wir, dass es nicht sinnvoll ist, dem Antrag zuzustimmen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin eigentlich sehr offen für Zwischenfragen. Aber da wir das alles ausreichend oft behandelt haben, glaube ich nicht, dass wir darauf noch einmal eingehen müssen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Klimke.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen von Rot-Grün! Lassen Sie uns einmal zwei Jahre in die Zukunft blicken. Wir schreiben das Jahr 2006. Die Fußballweltmeisterschaft findet in Deutschland statt. Alle feiern dieses Ereignis. Wirklich alle? ({0}) - Haben Sie nicht vorgestern das „Wunder von Bern“ gesehen? ({1}) Da haben wir auch am Anfang 5 : 1 oder 6 : 1 verloren; hinterher sind wir Weltmeister geworden. ({2}) Feiern also alle das Ereignis? Das ist nicht möglich; denn die ehemalige rot-grüne Regierung des Gastgebers hat - wie schon in den vorigen Jahren - im Jahre 2004 wieder auf die Spaßbremse getreten. Denn feiern darf in Deutschland nach 22 Uhr nicht möglich sein. ({3}) Da werden die Bürgersteige hochgeklappt. ({4}) Die Fans müssen direkt von den Stadien in ihre Hotels oder nach Hause. - Das ist das Szenario. Schließlich sollen deutsche Städte - das ist eindeutig Ihr Ziel - nach 22 Uhr menschenleer bleiben. ({5}) Die Gastronomie darf in der Hauptsaison kein Geld verdienen. Liebe Frau Kollegin Irber, ich darf das mit einem Zitat von Ihnen ausdrücken, das die „Süddeutsche Zeitung“ vom 27. April bringt: Das alkoholisierte Gegröle von Fußballfans wollen wir nicht; darauf kann man gut verzichten. ({6}) Das Motto der WM 2006 heißt: „Die Welt zu Gast bei Freunden.“ Das bekommt dann gleich eine ganze andere Bedeutung: Was die Gäste nicht dürfen, sollen die Deutschen auch nicht. Bloß kein Lebensgefühl in Deutschland entstehen lassen! Das ist offensichtlich Ihr Ziel. Meine Damen und Herren, hier klafft wieder einmal ein Abgrund zwischen Ihrem Anspruch und der Wirklichkeit. Multikulturell darf unsere Gesellschaft schon gerne werden, aber bitte mit deutschen Ladenschlusszeiten. Spanische, französische oder gar italienische Lebensfreude darf in deutschen Landen keinen Platz finden. - Unsere südlichen Nachbarn schütteln darüber im Übrigen verständnislos den Kopf. Sie sind beim Thema Lebenskultur viel weiter. Sie denken in Sachen Sperrzeiten viel fortschrittlicher; sie haben nämlich keine Sperrzeiten. ({7}) Wenn wir - das machen wir jetzt öfter - anlässlich des 1. Mai nach Osten schauen, stellen wir fest, dass sogar die neuen EU-Mitgliedstaaten im Osten die Lebensfreude nicht wie bei uns in Deutschland reglementieren. ({8}) „Zu Gast bei Freunden“ - das sollte nicht nur das Motto der Fußballweltmeisterschaft sein, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber unseren Gästen aus der ganzen Welt. Perfekte Organisation, reibungslose Logistik und überzeugende Angebote: Diese deutschen Attribute sind dabei nur Grundvoraussetzungen. Sie reichen bei weitem nicht aus. Denn eine herzliche Gastfreundschaft muss unsere Gäste empfangen. Dazu ist es unerlässlich, dass die Politik die Rahmenbedingungen für eine solche Gastfreundschaft herstellt. Offensichtlich hat das in der Regierung bisher nur Wirtschaftsminister Clement begriffen. Die wenigen spanischen Nächte, die wir haben, sollte man die Gäste und die Gastronomen genießen lassen. ({9}) Es ist doch nicht so, dass wir die Nacht zum Tag machen wollen. Schließlich sollen brave Bürger - auch die Kollegin Irber - ihren wohlverdienten Schlaf finden. Wir wollen, dass man laue Sommernächte genießen kann und die Gastronomen die Lokale und Kassen in ihrer Hauptsaison nicht schon um 22 Uhr schließen müssen. ({10}) „Deutschland will raus!!!“ - so hat die DEHOGA das Ergebnis einer Emnid-Umfrage kommentiert, wonach 73,7 Prozent der Bundesbürger längere Öffnungszeiten von Straßencafés und Biergärten befürworten. Kollegin Irber, Ihr Kanzler hat diese Umfrage offensichtlich nicht richtig mitbekommen; denn eigentlich folgt er jedem Trend. Man muss sich folgende Situation einmal vorstellen: Gerhard Schröder sitzt um 22.30 Uhr in Hannover in einem Biergarten - natürlich gibt es ein riesiges Medienaufgebot - und fordert: „Hol mir mal ne Flasche Bier, sonst streik ich hier!“ Ich kann mir vorstellen, dass diese Performance Sie um den Schlaf gebracht hätte. Wir stellen fest, dass die rot-grüne Regierung wieder einmal eindeutig gegen den erklärten Willen der Deutschen handelt. Dabei ist es doch ganz einfach: Stimmen Sie dem Antrag zu. Stimmen Sie gegen das Ausschussvotum. Es geht nicht darum - das wurde hier vielfach behauptet -, die Angelegenheit von Berlin aus zu regeln, sondern darum, den Spielraum der Kommunen in der Gastronomie zu erweitern. Ich komme aus Hamburg. Dort wurde die Sperrzeit in diesem Frühjahr verkürzt. Draußen kann man nun bis 24 Uhr und drinnen bis 5 Uhr feiern. ({11}) Frau Irber, damit niemand um seinen Schlaf fürchten muss, wird die Regelung im Einzelfall vor Ort geprüft. ({12}) Im Norden handelt man also miteinander und nicht gegeneinander. Leider können diesen Weg nicht alle Kommunen gehen, weil die Technische Anleitung Lärm diese Möglichkeit versperrt. Allein der Begriff „Technische Anleitung Lärm“ ist spröde. ({13}) Es handelt sich um ein Konglomerat von Negativem. Ich frage mich, wie man menschliche Kommunikation, Lachen und Freude ernsthaft mit Industrielärm gleichsetzen kann. ({14}) Werden im nächsten Schritt Balkone zu spaßfreien Zonen erklärt, da niemand mehr einen Witz erzählen darf, weil das Lachen gegen die Technische Anleitung verstößt?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Witz ist schon out of time. Bitte fassen Sie sich ganz kurz. ({0})

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay. - Wir haben über den Unsinn in der Technischen Anleitung sehr oft gesprochen. Zum Abschluss kann ich nur sagen: Stimmen Sie dem Antrag Burgbacher zu. ({0}) Wie heißt es doch so schön? Wo man singt, da lass dich nieder - böse Menschen haben keine Lieder. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 15/1287 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Sperrzeiten für Außengastronomie verbraucherfreundlicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({0}), Albert Schmidt ({1}), Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Tourismus in, an und auf dem Wasser - Naturverträglichen Wassertourismus in Deutschland ausbauen und fördern - Drucksache 15/2667 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({3}) Sportausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Annette Faße.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute kann ich Ihnen einen Antrag vorstellen, der mir ganz besonders am Herzen liegt: „Tourismus in, an und auf dem Wasser - Naturverträglichen Wassertourismus in Deutschland ausbauen und fördern“. In meinem Wahlkreis Cuxhaven/Osterholz ist der Wassertourismus von zentraler Bedeutung. Daher freue ich mich, dass dieses touristische Segment hier heute Abend im Mittelpunkt steht. ({0}) Wir haben in Deutschland, im Zentrum Europas, ein bedeutendes Wassersportrevier. Wir sind uns dessen nur leider nicht genügend bewusst. Nord- und Ostsee, zahlreiche Binnenseen, Fließgewässer und nicht zuletzt die Wasserstraßen bilden in Deutschland die optimalen Voraussetzungen für Tourismus in, an und auf dem Wasser. Hier besteht großes wirtschaftliches Potenzial, das noch ausbaufähig ist. Immerhin betreiben rund 6,5 Millionen Deutsche aktiv Wassersport. Das sind rund 8 Prozent der Bevölkerung. Der direkte Gesamtumsatz in der Wassersportwirtschaft wird auf jährlich 1,7 Milliarden Euro geschätzt. Dass wir inzwischen mehr über Wassertourismus in Deutschland wissen, verdanken wir der Grundlagenuntersuchung „Wassertourismus in Deutschland“, die vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegeben wurde und seit Mai letzten Jahres vorliegt. ({1}) Ich begrüße es ausdrücklich, dass uns zu diesem Thema endlich Basisdaten zur Verfügung stehen und dass hierzu eine generelle Untersuchung durchgeführt wurde, die uns Hinweise darauf gibt, was wir wo zu ändern versuchen sollten. Lassen Sie mich zunächst zu einigen Rahmenbedingungen und Vorschriften Stellung beziehen; meine Kollegin wird dann speziell auf die Tourismusseite eingehen. Die Bundeswasserstraßen und die mit ihnen verbundenen Landesgewässer bilden ein Wasserwandernetz von etwa 10 000 Kilometern Länge. Der Bund als Eigentümer der Bundeswasserstraßen unterhält und betreibt diese Wasserwege. Darüber hinaus saniert der Bund die Nebenwasserstraßen, um diese wieder zu beleben und dem Tourismus zuzuführen. Das gilt ganz besonders für die Nebenwasserstraßen in den neuen Bundesländern. Hier haben wir, wenn ich beispielsweise an den Finowkanal denke, gemeinsam einiges erreicht. Dazu gehört aber auch die Instandsetzung von Schleusen, durch die ein durchgängiges Befahren der Wasserwege erst ermöglicht wird. Die zunehmende Nutzung der Wasserstraßen erfordert allerdings auch Regelungen. Davon gibt es eine ganze Menge. Es gilt nun, zu überprüfen, welche sinnvoll und welche nicht sinnvoll sind. Das können Bund und Länder nur gemeinsam machen, weil viele Kompetenzen bei den Ländern liegen. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel dafür darlegen, dass wir durch ein Modellprojekt, das die Charterscheinregelung betroffen hat, etwas wirklich Positives in Gang gebracht haben. In diesem Fall wurde ein auf drei Jahre befristetes Modellprojekt durchgeführt. Die Erfahrungen damit waren durchweg positiv. Auch die Touristen aus dem Ausland entdeckten, dass es in Deutschland Hausboote gibt, auf denen sich wunderbar Urlaub machen lässt. Nach Abschluss dieses Projektes haben wir es zu einer Dauerregelung werden lassen. In unserem Antrag fordern wir, zu überprüfen, ob noch weitere Wasserreviere diese Charterscheinregelung übernehmen können oder ihre Übertragung auf Landesgewässer möglich ist. Wir bewerten diese Regelung als sehr positiv. Hier haben wir eindeutig eine Lockerung erreicht, die auch dem wirtschaftlichen Bereich dienlich ist. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns auch mit den unterschiedlichen bestehenden Regelungen, die dem Wassertourismus nicht gerade dienlich sind, befassen. Es gibt zum Beispiel unterschiedliche Befahrensregelungen. Hier sind die Bundesländer massiv gefordert. So ist es kaum zu verstehen, dass, wenn man eine Landesgrenze überfährt, andere Regeln gelten sollen; denn man merkt gar nicht, dass man sich in einem anderen Bundesland befindet. Aber dann kann es natürlich schnell zu Konflikten kommen. Dies gilt auch für Boots- und Segelführerscheine. Auch hier sehen wir Handlungsbedarf. Ganz deutlichen Handlungsbedarf sehen wir auch bezüglich einer einheitlichen Ausschilderung. Es kann nicht sein, dass es die unterschiedlichsten oder gar keine Piktogramme gibt. Wir wollen es den Gästen erleichtern, zu erkennen, welche Angebote an einer Anlegestelle und im touristischen Umfeld vorhanden sind, damit sie sehen, dass es sich lohnt, auch einen Tag länger zu bleiben. Dafür brauchen wir eine einheitliche Beschilderung. Hier sind wir auf einem sehr guten Weg. Damit eine solche Regelung kompatibel ist, hat man dabei auch die europäische Ebene zu berücksichtigen. Ich gehe davon aus, dass wir hier gemeinsam mit den Ländern eine gute Lösung finden werden, die vom Bund auch finanziell unterstützt werden wird. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich möchte ich zu der Vignette für Sport- und Freizeitboote, über die gegenwärtig in der Presse heiß diskutiert wird, Stellung beziehen. Diesen Punkt haben wir in unserem Antrag als Prüfauftrag aufgegriffen und auch inhaltliche Vorgaben hierzu gemacht. Wir müssen einfach feststellen, dass der Bundesrechnungshof und der Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages von uns die Schaffung einer aktuellen, rechtlich einwandfreien Grundlage für die Erhebung der Schifffahrtsabgaben sowie die Neufestlegung der Abgaben für Sport- und Freizeitschifffahrt fordern. Bisher haben wir die Regelung, dass zwei große Verbände zusammen pauschal 51 000 Euro zahlen. Diese Summe ist über eine lange Zeit nicht angehoben worden. Da muss man sich schon fragen: Ist es gerecht, dass die Verbände zahlen? Wer kein Mitglied in einem Verein ist, ist schließlich nicht eingebunden. Ist es gerecht, dass das Schleusen an der Mosel extra bezahlt werden muss? Ich glaube, hier besteht Handlungsbedarf. Keiner will eine Regelung, die das Ehrenamt im Sportbereich negativ beeinflusst, keiner will eine Überbürokratisierung, aber ich meine schon, dass wir uns der Aufgabe stellen müssen. Die Verbände und auch die Politik müssen sich einschalten, damit die zu schaffende Regelung für den Tourismus erträglich ist. Ich lade Sie alle ein, im August nach Cuxhaven zum Tall Ships’ Race zu kommen; da kann man über Wassertourismus nicht nur reden, da kann man ihn auch erleben. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wilhelm Josef Sebastian.

Wilhelm Josef Sebastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Werte Frau Faße, Sie haben gesagt, Wassersport liege Ihnen am Herzen. Ich frage mich aber, warum Sie im Juni des vergangenen Jahres unserem Antrag nicht zugestimmt haben und auch nicht im Oktober dem der FDP. Sie hätten all das viel früher haben können. ({0}) Deshalb muss ich ein bisschen daran zweifeln, dass es Ihnen ein Herzensanliegen ist. Aber ich freue mich, dass Sie uns nach Cuxhaven eingeladen haben - das erinnert mich an meine Bundeswehrzeit: Ich war in Cuxhaven bei der Marine; das war eine schöne Zeit. Vielleicht sehen wir uns dann da wieder. Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag beschäftigt sich nun schon zum dritten Mal mit dem Thema Wassertourismus. Man kann nur hoffen, dass die Ergebnisse der Initiative auch wirklich rechtfertigen, dass man diesem Thema die entsprechende Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Ich habe es schon gesagt: Im Juni des vergangenen Jahres haben wir, die CDU/CSUBundestagsfraktion, dieses Thema eingebracht, im Oktober dann die FDP. Immer war die Stoßrichtung die gleiche. Ich kann in Ihrem neuen Antrag nichts wesentlich Besseres oder anderes sehen, aber man kann ja so schön sagen: Besser spät als nie. Deshalb sind wir eigentlich froh, dass wir heute noch einmal über das Ganze reden. ({1}) - Liebe Kollegin, ich will es noch einmal sagen: Natürlich freut es einen Oppositionspolitiker, wenn die Regierungsfraktionen Formulierungen finden, die man selbst schon gebraucht hat. Man darf Ihnen durchaus gratulieren, denn Sie haben recht ordentlich abgeschrieben - bei uns und bei der FDP. ({2}) Was an Füllmaterial noch fehlte, stammt offensichtlich aus der Grundlagenuntersuchung „Wassertourismus in Deutschland“, die seinerzeit im Mai 2003, kurz nach unserem Antrag, erschienen ist. Im Großen und Ganzen kann man vielem von dem, was Sie zu Papier gebracht haben, zustimmen. Unsere Anliegen vom Mai des vergangenen Jahres werden überwiegend aufgegriffen, ich will nur einige wichtige noch einmal nennen: Aufbau eines länderübergreifenden Koordinierungsinstrumentariums, Vereinheitlichung und Vereinfachung der Befahrensregelungen auf den Gewässern in ganz Deutschland, Verknüpfung von Wassersportangeboten mit Angeboten an Land, Förderung des Themenjahres 2004 „Faszination Wasser“, Belange der Sportverbände fördern und deren Anliegen bei Maßnahmen des Natur- und Umweltschutzes angemessen berücksichtigen. Wir möchten aber kritisch anmerken, dass wir uns mit Ihrem Vorschlag, ein Vignettensystem für den Bereich von Sport- und Freizeitbooten einzuführen, gar nicht anfreunden können. Ich habe fast das Gefühl, dass Sie im Freizeitbereich die Vignette wieder einführen wollen, die für die LKWs aus vielerlei anderen Gründen, die hier heute nicht zur Debatte stehen, nicht mehr ausgegeben wird. Ich könnte die Frage stellen: Warum nicht gleich eine Maut? Streckenbezogen, denn wer viel fährt, soll mehr zahlen, wer wenig fährt, zahlt wenig? Es kann doch wohl nicht sein, dass wir jetzt auch im Freizeitbereich ein Mautdesaster bekommen. Der behördliche Aufwand für eine solche Einführung ist derart groß, dass sich die Fragen ergeben: Wer kontrolliert es und wo ist eine Kostendeckung? Auf mich wirkt das alles etwas illusorisch. Sie sagen zwar, dass das nur ein Prüfauftrag und es noch keine Forderung ist, aber wenn so etwas geprüft wird, gibt es meist Experten, die zum Schluss immer noch etwas schönrechnen. Wir können uns des Eindruckes nicht erwehren, dass immer neue Erfindungen gemacht werden, um den Bürgern Geld aus der Tasche zu ziehen. Dann kommen bei dieser Regelung - wie heißt es so schön: keine Regel ohne Ausnahme - die Befreiung für Vereine und Rabatte - deutlich weniger Abgaben oder gar keine - hinzu. Ich halte von dieser Geschichte nichts. Wir reden in allen Bereichen von Entbürokratisierung. Dies ist für mich deutlich mehr Bürokratisierung. ({3}) In Ihrem Antrag wird angeführt, dass man sich durchaus vorstellen kann, im Bereich von Schleusen Kommunikationspunkte für die Menschen zu haben und Attraktivitäten einzurichten. Wer jemals Wassersport in Holland betrieben hat, der weiß - ich kann mich selbst daran entsinnen -, dass es immer ein Erlebnis ist, an einer Brücke vorbeizufahren: Man bekommt einen Holzschuh zugeworfen und man konnte damals 1 Gulden, heute 1 Euro, hineinstecken. Das ist etwas Unterhaltendes und keine Vignette; es ist vielmehr etwas Freiwilliges. ({4}) Ich bin für Anreize. In diesem Fall bin ich für weniger und nicht für mehr. Wir sollten überhaupt bedenken, dass Wassertourismus im Wettbewerb mit anderen Ländern steht. ({5}) Der Gast entscheidet, ob er in Holland, in Frankreich, in Belgien oder anderswo Wassersport betreibt oder ob er auf unsere Gewässer geht, auf denen er möglicherweise sehr viel mehr zahlen muss. Wettbewerb mit anderen Ländern muss dazu führen, dass wir unseren Standortvorteil - wir haben herrliche Landschaften - nutzen. Wir sollten den Bürger in diesem Zusammenhang kein Geld aus der Tasche nehmen. Es gibt ein altes Indianersprichwort: Wenn du merkst, das Pferd ist tot, steige ab. - Bei Ihnen habe ich den Eindruck: Wenn du merkst, das Pferd ist tot, gründe einen Arbeitskreis, der herausfindet, warum das Pferd gestorben ist. - Hier wird wieder etwas geprüft, von dem man eigentlich schon heute weiß, dass es nicht zum Vorteil ist. Eine abschließende Frage in diesem Zusammenhang: Wo beginnt die Gerechtigkeit, wenn Sie im Freizeitbereich Boote mit Gebühren belegen und Fahrräder bei der Nutzung von Radwegen von einer Vignette befreien? ({6}) Man könnte noch sehr viele Ideen aufgreifen, warum man zum Beispiel bei Skatern oder in anderen Bereichen demnächst Gebühren einführt. ({7}) Nicht zu Unrecht vermutet man bei Ihrem Antrag die Handschrift der grünen Kolleginnen und Kollegen, die eine für mich sehr übertriebene Betonung der Belange des Natur- und Umweltschutzes in Ihrem Antrag formulieren. Die Abwägung und der Ausgleich der Interessen fehlen. Es hört sich so an, als ob sich den aus unserer Sicht überzogenen Ansprüchen des Naturschutzes alles unterordnen muss. Es wird vergessen, dass man sehr wohl Konzeptionen finden kann, die touristischen und wirtschaftlichen Erwägungen genauso Rechnung tragen wie dem berechtigten Schutz der Natur. Wir benötigen in diesem Bereich - wie in vielen anderen in Deutschland - eine weitergehende Deregulierung der gesetzlichen Vorschriften, um die ökonomischen Potenziale auszuschöpfen. In der öffentlichen Anhörung zum Thema Wassertourismus im letzten Sommer erfuhren wir zum Beispiel, dass es in Deutschland 592 Einzelbefahrungsregeln auf deutschen Gewässern aus Naturschutzgründen gibt. Für mich ist das des Guten zu viel. Hier muss es zu Vereinfachungen und einheitlichen Regelungen kommen. ({8}) Wir sind gespannt, ob der Ansatz, den die Regierungskoalition dazu gefunden hat - in den Bundesländern anzuregen, Kriterien für übergreifende, flusseinheitliche Befahrensregelungen zu entwickeln -, den nötigen Nachdruck verleiht und den erhofften Erfolg bringt. Die Union wird in der nächsten Zeit sehr wohl beobachten, ob das hier zur Beschlussfassung anstehende Programm, Ihre Agenda Wassertourismus, erfolgreich umgesetzt wird oder ob es - wie Ihre Agenda 2010 noch vor dem Stapellauf Schiffbruch erleidet. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt wieder die Abgeordnete Undine Kurth.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von mir und von meiner Fraktion ein Plädoyer für den Wassertourismus. Die Verstädterung und die Bewegungsarmut einerseits sowie die Zunahme an Freizeit und Mobilität andererseits führen zu einer immer stärkeren Nachfrage nach Erholung und Sport in freier Natur. Der Wassersport profitiert davon in ganz herausragender Weise, da er zu den naturorientierten Sportarten zählt. Der enge Kontakt zu einer möglichst unberührten Natur besitzt gerade beim Wassersport eine ganz besondere Bedeutung. Man möchte es kaum glauben, aber es ist wahr: Deutschland ist ein Wasserland mit etwa 6,5 Millionen Menschen, die sich zumindest zeitweise am, auf dem, im oder unter Wasser aufhalten. Aufgrund dieser großen Zahl von Menschen hat sich der Wassersport längst zum Breitensport entwickelt. Mit unserem heute vorliegenden Antrag wollen wir dem Rechnung tragen sowie die bisherige Unterschätzung dieses touristischen Potenzials aufheben und ihr entgegenwirken. Mit der Grundlagenuntersuchung des Bundeswirtschaftsministeriums „Wassertourismus in Deutschland“ haben wir, wie wir bereits hörten, zudem die notwendigen empirischen Daten vorliegen, um gezielt handeln zu können und genau die Potenziale aktivieren und besser ausschöpfen zu können, die bisher nicht wirklich genutzt worden sind. Ich denke, unser Antrag enthält dazu eine Reihe wirklich guter Forderungen. Herr Sebastian, nach den Fakten, die Frau Faße bereits vorgetragen hat, möchte ich jetzt zu einem Thema kommen, das genau den Unterschied zwischen uns ausmacht und weswegen unser Antrag heute in dieser Form vorliegt und wir Ihren Anträgen nicht zustimmen konnten. Es geht um den Bereich des Naturschutzes. Die Anträge Ihrer Fraktion und der Antrag der FDP waren da wirklich sehr schlecht. ({0}) - Nein. Undine Kurth ({1}) Bei aller gewollten und notwendigen Unterstützung für den Wassertourismus - deswegen wollen wir uns ja auf diesen Antrag verständigen - hat auch der Naturschutz eine große Bedeutung. Um den Wassersport in der Natur betreiben zu können, brauchen wir nämlich intakte Naturräume, die wir auch weiterhin vor der Zerstörung bewahren müssen. Auch dafür benötigen wir Regeln und Kriterien, an denen wir uns orientieren. Wir müssen zwischen den Belangen des Naturschutzes und den Interessen der Wassertouristen abwägen. Wer glaubt, dass das automatisch immer zugunsten des Naturschutzes geschehen würde, der kennt die Realität nicht und der weiß nicht, was wir draußen täglich erleben. Auch von gut gemeinten Aktivitäten auf dem Wasser gehen nämlich Gefahren für die Pflanzen- und Tierwelt aus. Demzufolge müssen wir darauf achten. Erfreulicherweise gibt es aber hervorragende Beispiele integrierter Schutz- und Nutzungskonzepte. Eine Spitzenposition nimmt hierbei Schleswig-Holstein ein. Dort wurden beispielsweise freiwillige Vereinbarungen für die wassersportliche Nutzung von Natura-2000-Flächen getroffen. Seit Sommer 2001 bieten dort Kanusport und Kanutouristik über eine Begleitservicebörse technische und fachliche Hilfestellungen an. Gemeinsam mit den Natur- und Umweltschutzverbänden wurden verbindliche Regeln für das Befahren festgelegt, um sensible Gewässer zu schonen und zu erhalten. Genau diese Entwicklung wollen wir mit unserem Antrag fördern und stabilisieren. Deshalb wollen wir zum Beispiel Wassersportverbänden Gelder zur Verfügung stellen, mit denen die Schulungs- und Ausbildungsarbeit für naturverträglichen Wassertourismus in Gang gesetzt werden kann. ({2}) Durch das neue Bundesnaturschutzgesetz wurde die Möglichkeit freiwilliger Vereinbarungen deutlich gestärkt. Wo immer das nötig ist, sollen diese auch befördert und angewandt werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die zwischen dem WWF Deutschland und dem Landesanglerverband Mecklenburg-Vorpommern abgeschlossene Kooperationsvereinbarung zum Projekt „Naturschutz und Wassersport auf dem Greifswalder Bodden und Strelasund“. Die Einhaltung dieser Regeln wird freiwillig und ehrenamtlich durch so genannte Revierlotsen kontrolliert. Das geht, auch ohne den Tourismus zu behindern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon gesagt worden: In Deutschland sind aktuell 650 Befahrensregelungen bekannt. Das kann man nicht als übersichtlich bezeichnen. Es ist sicherlich richtig, dass sich dort etwas ändern muss. Wir regen in unserem Antrag daher an, dass die Bundesländer Kriterien für übergreifende flusseinheitliche Befahrensregelungen für den naturverträglichen Wassersport entwickeln und ein einheitliches Verfahren beschließen, wie diese regional anzuwenden sind. Hier kann man sicherlich auch auf die große Kompetenz des Bundesamtes für Naturschutz zurückgreifen. Hilfreich ist es sicherlich auch, wenn sich die Länder auf eine einheitliche wasserseitige Hinweisbeschilderung einigen könnten, die nicht nur deutlich macht, was auf dem Wasser gelten soll, sondern auch darauf hinweist, was sich im Umfeld der Region befindet, damit Touristen eine Chance haben, die Region kennen zu lernen, und die Region vom Wassertourismus profitieren kann. Zum Abschluss meines Beitrages möchte ich noch auf einen ganz besonderen Aspekt hinweisen. Im Januar haben wir uns im Bundestag auf einen Antrag zum barrierefreien Tourismus in Deutschland verständigt und für uns alle festgestellt, dass barrierefreier Tourismus ein Markenzeichen des Deutschlandtourismus werden soll. Ich möchte an alle appellieren, dass wir die guten Beispiele, die es in diesem Bereich schon gibt - „Boot ohne Handicap“ oder „Sail together“; es fing damit an, dass die Jugendgruppe einer evangelischen Kirchengemeinde einen rollstuhltauglichen Katamaran entwickelt hat, um Behinderten und Nichtbehinderten gemeinsame Ferienzeiten auf dem Wasser zu ermöglichen -, besonders im Auge behalten und unterstützen. Mit dem barrierefreien Tourismus kann dem gesamten Segment Wassertourismus ein weiterer Bereich hinzugefügt werden, von dem er ganz sicherlich profitieren und der ihn attraktiver machen kann. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Kollege Goldmann das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir eben das Thema Sperrzeiten für Außengastronomie hatten, sind wir uns sicherlich darin einig, dass wir die Regelungen ändern müssen, um unsere Chancen im Tourismus zu erhöhen. Wir sind uns bei diesem Thema im Grundsatz darin einig, dass der Wassertourismus Potenzial hat und dass man dieses Potenzial sicherlich weiterentwickeln kann. Wenn man die Länder vor seinem geistigen Auge Revue passieren lässt, dann fällt einem für Berlin ein, welch riesiges Potenzial das Wasser für diese Stadt darstellt. Gleiches gilt für Länder wie Bayern. In diesem Zusammenhang ist besonders ein Bundesland im Osten zu nennen, Mecklenburg-Vorpommern. Stellt man sich einmal Mecklenburg-Vorpommern ohne die touristischen Chancen vor, dann wäre die Situation dort noch verheerender, als sie sich schon im Moment darstellt. Bei diesem Thema gibt es also viele Gemeinsamkeiten. ({0}) Wir sollten ehrlich miteinander umgehen und genau in die Anträge hineinschauen. Frau Kurth, ich finde es sehr mutig, was Sie gesagt haben. Aber vom barrierefreien Wassertourismus steht in Ihrem Antrag nichts. ({1}) Ich finde es auch mutig, was Kollegin Faße zum Ausbau verschiedener Bereiche gesagt hat. Liebe Kollegin Faße, da wir uns auch von der Arbeit in der parlamentarischen Gruppe „Binnenschifffahrt“ kennen, kann ich mir nicht vorstellen, dass du die Aufwendungen für Baubetrieb und die Erhaltung der Wasserstraßen in Höhe von 1,4 Milliarden Euro ernstlich begrüßt. Bei jeder anderen Veranstaltung fordern wir für den Ausbau von Wasserstraßen wesentlich mehr. Allein für den Unterhalt der Wasserstraßen ist mehr Geld nötig. Da hilft auch die Einladung nach Cuxhaven nichts mehr. Man sollte schon ehrlich sagen, dass die früheren Anträge von CDU/CSU und FDP sehr viel weitgehender waren, um den Wassertourismus insgesamt zu stärken. ({2}) Ich finde die Forderung Nr. 10, die Einführung einer nutzergerechten Jahresvignette für Sport- und Freizeitboote zu prüfen und diesen Prüfauftrag gleichzeitig dadurch abzuarbeiten, bereits gestellten Forderungen nachzukommen, eigenartig. Ich meine, dass eine solche Vignette nun wirklich nicht geeignet ist, den Wassertourismus in Deutschland zu fördern.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kurth?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Goldmann, würden Sie mir zustimmen, dass sich folgender Absatz durchaus mit Barrierefreiheit befasst? In unserem Antrag heißt es wörtlich: Die Tourismuswirtschaft sollte sich bei der Erstellung wassertouristischer Angebote auf die wachsende Nachfrage nach barrierefreien Angeboten einstellen. Barrierefreiheit wird zukünftig Qualitätsmerkmal eines erfolgreichen Deutschlandtourismus sein. Bei den wassertouristischen Angeboten wie auch bei dem Ausbau der dafür nötigen Infrastruktur ist Barrierefreiheit weitgehend zu ermöglichen. Oder sehen Sie hier keinen Bezug zur Barrierefreiheit?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich; denn in dem beschreibenden Charakter haben Sie im Grunde genommen alles zusammengefasst. Entscheidend für einen Antrag ist aber, welche Forderungen erhoben werden. Dafür gibt es in Ihrem Antrag den Abschnitt III: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf“. In diesem Abschnitt fordern Sie eben nicht die Bundesregierung auf, ({0}) sondern Sie fordern etwas von der Tourismuswirtschaft, was die Tourismuswirtschaft, jeder gute Hotelier und jeder ernst zu nehmende Anbieter von Campingplätzen eigenverantwortlich erfüllt. Das ist aber nicht etwas, was in Ihrem Antrag so festgeschrieben ist, dass daraus eine parteipolitische oder eine regierungspolitische Forderung abgeleitet werden kann. Das Gleiche gilt für die Bereiche im Natur- und Umweltschutz, die Sie angesprochen haben. Ich bin dafür, dass wir den Tourismus im Einklang mit dem Naturschutz entwickeln. Wenn Sie sich vor Ort erkundigen würden, dann würden Sie wissen, was an der Küste in dieser Hinsicht schon alles passiert. Sehr interessant finde ich, dass Sie so etwas unter dem Punkt „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf“ in den Raum stellen und dort keine einzige Forderung nach Vereinbarkeit von touristischen Interessen und Naturschutzinteressen erheben. Ich bin dafür, dass wir den Tourismus weiterentwickeln und der Naturschutz dabei bewahrt bleibt. Denn ohne gesunde Natur gibt es auch keinen erholsamen Tourismus. In diesem Sinne werden wir die Arbeit in den Ausschüssen begleiten. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gabriele HillerOhm.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 12. Juni findet zum zweiten Mal in Europa der Tag des Wassersports statt. Die deutsche Wassersportbranche ist dabei. Unter dem Motto „Go Boating“ werden an vielen deutschen Seen und Flüssen und auch an den Küsten Menschen eingeladen, die unterschiedlichsten Wassersportarten kennen zu lernen und selbst auszuprobieren. Die Branche nutzt den Tag, um gemeinsam mit dem Tourismus für ihre Angebote zu werben und auf die beachtliche wirtschaftliche Bedeutung des Wassersports hinzuweisen. Der jährliche Gesamtumsatz - darauf wurde schon hingewiesen - beträgt 1,7 Milliarden Euro. Das kann sich sehen lassen. Wassersport ist also ein ganz wichtiger Bereich. Wassertourismus ist noch umfassender. Er schließt auch Übernachtungen an Land und auf dem Wasser und landseitige Angebote ein. Es ist eigentlich nicht zu fassen: Obwohl rund 17 Millionen Deutsche in ihrer Freizeit und im Urlaub aufs Wasser gehen, wurde dem Wassertourismus bisher nur relativ wenig Beachtung geschenkt. Wichtige Basisdaten und Nutzungskonzepte fehlen. Mit der Studie „Wassertourismus in Deutschland“, die von der SPD und den Grünen in Auftrag gegeben wurde - übrigens lange bevor Sie überhaupt an Wassertourismus gedacht haben - ist jetzt zum Glück eine Grundlage geschaffen. ({0}) Die Studie ist nicht ohne Echo geblieben. Kommunen und Bundesländer erkennen zunehmend die Potenziale, die der Wassertourismus besonders auch für strukturschwache Regionen bietet. ({1}) Ich nenne ein Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern kann als eines von wenigen Bundesländern umfassende Entwicklungs- und Nutzungskonzepte vorweisen, die nun umgesetzt werden müssen. ({2}) Das Klein-Klein wurde überwunden. Man denkt und plant zunehmend überregional und vernetzt systematisch wasser- und landseitige Angebote zu attraktiven touristischen Highlights. ({3}) Das schafft Arbeitsplätze und stärkt die Region. Das ist der richtige Weg. Andere Bundesländer, beispielsweise Schleswig-Holstein, woher ich komme, ziehen nach. Doch reicht das aus? Nein. Wassertourismus muss ein gesamtdeutsches Thema sein, denn das Wasser hört nicht zwangsläufig an den Landesgrenzen auf. ({4}) Alle Fraktionen im Bundestag haben sich angesprochen gefühlt und zu unterschiedlichen Zeitpunkten Anträge eingebracht. Es gibt - Herr Sebastian hat darauf hingewiesen - viele Übereinstimmungen. Die Unterschiede hat Frau Kollegin Kurth beschrieben. Im Zusammenhang mit dem Thema Vignette werden wir sicherlich noch oft Gelegenheit haben, uns auszutauschen und auch in dieser Frage einen richtigen Weg für den Wassertourismus zu finden. Ich bin alles in allem zuversichtlich, dass wir im Bundestag gemeinsam etwas für den Wassertourismus erreichen werden. Ich möchte nun auf zwei Forderungen aus unserem Antrag eingehen. Erstens. Die Potenziale des Wassertourismus sind in Deutschland trotz guter Wachstumsperspektiven noch lange nicht ausgeschöpft. Oft fehlt es an Koordination und an der Vernetzung von Angeboten und Akteuren. Wir fordern deshalb die Einrichtung einer länderübergreifenden Koordinierungsstelle, die diese Vernetzung voranbringen soll. ({5}) Zweitens. Wir wollen unsere Gewässer touristisch stärker erschließen. Wir müssen dabei sicherstellen, dass wir die Grundlagen, die wir nutzen wollen, nicht zerstören. ({6}) Durch Information und Aufklärung sowie durch eine gute Beschilderung und Besucherlenkung kann viel für den Schutz der Natur erreicht werden. Wir fordern deshalb integrierte Schutz- und Nutzungskonzepte, an deren Erstellung Wassersportler und Naturschützer gleichermaßen beteiligt werden. Davon war in Ihrem Antrag nichts zu lesen. ({7}) Wir haben gelernt, dass der Wassertourismus ein interessanter Wirtschaftsfaktor ist. Wassertourismus bietet aber noch mehr. Er hat auch eine wichtige soziale Komponente. Denn gerade die Vielfalt dieses Segments ermöglicht nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen die Teilnahme. Nicht nur sportlich aktive, sondern auch in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen, Senioren, Familien mit Kindern und Menschen mit kleinem Geldbeutel können Angebote in, an und auf dem Wasser nutzen. Ich fasse zusammen: Es gibt gute Gründe, den Wassertourismus in Deutschland mit Nachdruck zu fördern. Wir kurbeln die Wirtschaft an, schaffen Arbeitsplätze, stärken strukturschwache Regionen und schaffen attraktive Urlaubs- und Freizeitangebote für alle. Packen wir es gemeinsam an! ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2667 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Wohngeld- und Mietenbericht 2002 - Drucksache 15/2200 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei- nen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen. Die Kollegin Petra Pau hat darum gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu können1), wie sie es auch schon bei Tagesordnungspunkt 9 - verbesserter Schutz der Pri- vatsphäre - getan hat, was wir hiermit im Protokoll fest- halten2). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich jetzt die Aussprache für diejenigen, die ihre Redezeit nutzen wollen. Als erster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann das Wort. 1) Anlage 5 2) Anlage 4

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung berichtet dem Bundestag regelmäßig über die Entwicklung der Mieten und die Durchführung des Wohngeldgesetzes. Der vorliegende Wohngeld- und Mietenbericht 2002 umfasst den Zeitraum von 1999 bis 2002. Die Mitte der 90er-Jahre eingetretene Entspannung der Wohnungsmärkte hat sich auch im Berichtszeitraum in den meisten Regionen fortgesetzt. Dies zeigt sich in der moderaten Mietenentwicklung. Der Mietenindex netto kalt ist während des Berichtszeitraums mit maximalen jährlichen Steigerungsraten von 1,4 Prozent nur geringfügig gestiegen. Im Vergleich mit der Mietenentwicklung der letzten Berichtsperiode ist eine deutliche Preisberuhigung bis 2003 erkennbar. Der Neubauboom Mitte der 90er-Jahre hat nicht nur kurzfristig die damals bestehenden Versorgungsengpässe beseitigt. Die anhaltend moderate Mietenentwicklung signalisiert, dass auch bei reduzierter Neubautätigkeit die Wohnungsmärkte im Allgemeinen weiterhin entspannt sind. Die Unterschiede zwischen den einzelnen regionalen Wohnungsmärkten vertiefen sich aber zusehends. Auf der einen Seite gibt es Wachstumsregionen wie München und andere westdeutsche Ballungsräume, die infolge einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und regionaler Bevölkerungszuwächse überdurchschnittliche Mietsteigerungen aufweisen. Auf der anderen Seite signalisieren die umfangreichen Wohnungsleerstände in den neuen Bundesländern und teilweise auch in westdeutschen Städten einen dauerhaften Angebotsüberhang im Geschosswohnungsbereich mit schwerwiegenden Belastungen für Stadtentwicklung und Wohnungswirtschaft. Der Wohnungsleerstand hat sich jedoch in den neuen Bundesländern im Zeitraum von 1998 bis 2002 nur moderat um circa 140 000 auf 1,1 Millionen Wohnungen erhöht, übrigens mit deutlichen Unterschieden zwischen den einzelnen neuen Bundesländern. Im Berichtszeitraum und auch in jüngster Zeit, das heißt im Jahr 2003 und im laufenden Jahr 2004, hat sich die Leerstandszunahme aber deutlich verlangsamt. Wichtige Wohnungsversorgungsindikatoren haben sich verbessert. Die Zahl der Eigentümerhaushalte hat enorm zugenommen. Die Eigentümerquote ist bundesweit um über 8 Prozent gestiegen. In den alten Bundesländern ist sie um 7,2 Prozent auf 44,6 Prozent und in den neuen Bundesländern um 13 Prozent auf 34,2 Prozent aller Haushalte gestiegen. Bei Familien mit Kindern liegt die Eigentümerquote bei fast 48 Prozent. Hier ist ein deutlicher Zuwachs in den letzten Jahren erfolgt. Schwerpunkt des Berichts ist aber die am 1. Januar 2001 in Kraft getretene Wohngeldnovelle. Auf sie können wir wirklich stolz sein; denn hier haben wir einiges bewegt. Wohngeld ist ein unverzichtbares Element einer grundsätzlich marktwirtschaftlich ausgerichteten und sozial verantwortlichen Wohnungspolitik, das sich durch hohe soziale Treffsicherheit, ökonomische Effizienz und Verlässlichkeit für den Bürger auszeichnet. Wohngeld ist aber nur dann ein taugliches Instrument, wenn wir es von Zeit zu Zeit überprüfen und es bei steigenden Mieten entsprechend anpassen. Bis 1990 wurden Anpassungen im Abstand von jeweils drei bis vier Jahren vorgenommen. Aber in den 90er-Jahren ist von der Vorgängerregierung keine weitere Anpassung vorgenommen worden mit der Folge einer massiven Verschlechterung der Leistungsfähigkeit dieses Instrumentes. Mit der neuen Wohngeldnovelle haben wir nun - das habe ich schon erwähnt - deutliche Verbesserungen erzielen können. Ich möchte das mit einigen wenigen Zahlen unterlegen. Der durchschnittliche Wohngeldanspruch bestehender Empfängerhaushalte, das heißt der Haushalte, die bereits vor der Reform Wohngeld erhielten, erhöhte sich in den alten Bundesländern um rund 42 Euro auf 122 Euro monatlich und in den neuen Bundesländern - hier lag der Wohngeldanspruch aufgrund der vorher bestehenden Mietensituation schon höher - um rund 7 Euro auf rund 97 Euro monatlich. Bei Empfängern, die 2001 erstmals oder wieder Wohngeld erhielten, belief sich der durchschnittliche Wohngeldanspruch in den alten Bundesländern auf rund 32 Euro pro Monat und in den neuen Bundesländern auf rund 22 Euro pro Monat. Interessant ist die Zahl der Empfängerhaushalte. Dazu sagt der Bericht Folgendes aus: Bundesweit stieg die Anzahl der Haushalte, die Empfänger von allgemeinem Wohngeld sind, 2001 im Vergleich zu 1998 um rund 332 000, also um 22 Prozent auf 1,83 Millionen an. Damit erhielten rund 4,8 Prozent aller Haushalte in Deutschland ein angemessenes allgemeines Wohngeld. Im Jahr 2000, also vor der Reform, waren das noch 3,9 Prozent. Beim besonderen Mietzuschuss sank die Zahl der Empfängerhaushalte 2001 um rund 350 000 auf insgesamt etwa 992 000. Dieser Rückgang ist im Wesentlichen eine Folge der Reform, die aufgrund der notwendigen Neuberechnung des Wohngeldes bei Sozialhilfeempfängerhaushalten eine statistische Bereinigung nach sich zog. Bei dieser Gelegenheit haben wir auch sehr viele Ungereimtheiten in der Statistik beseitigen können. Der durchschnittliche Wohngeldanspruch pro Monat liegt nach der Reform beim besonderen Mietzuschuss bei 166 Euro in den alten Bundesländern und bei 136 Euro in den neuen Bundesländern. Die Überschreiterquote, das heißt die Quote derjenigen, deren Miete so hoch ist, dass sie bei der Bemessung des Wohngeldanspruchs nicht voll berücksichtigt werden kann, war beim Tabellenwohngeld auf rund 77 Prozent angewachsen. Wir haben sie durch die Reform auf rund 50 Prozent in den alten Bundesländern gesenkt. Mehr war aufgrund der Tatsache, dass man zehn Jahre lang nichts gemacht hat, einfach nicht möglich; denn das wäre nicht finanzierbar gewesen. Insgesamt kann der Bericht durchaus Erfolge verzeichnen. Auf diesen werden wir aufbauen, wenn wir das, was in Zukunft im Mieten- und Wohngeldbereich notwendig ist, anpacken werden. Zum Schluss möchte ich noch daran erinnern, dass wir im Rahmen des Hartz-IV-Gesetzes die Wohngeldregelungen umfassend reformieren. Der nächste Wohngeld- und Mietenbericht wird also sicherlich wieder interessante Details beinhalten. Das Ganze ist eine etwas trockene Materie, zumal dann, wenn man einige Zahlen referieren muss. Aber wir haben vielleicht im Ausschuss die Gelegenheit, darüber lebhafter zu diskutieren. ({0}) - Selbst der Vorsitzende des Ausschusses erteilt ein Lob. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gero Storjohann.

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über den Wohngeld- und Mietenbericht 2002. Ich möchte vorab die Gelegenheit wahrnehmen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums für die Erstellung dieses Berichts, der für uns Wohnungspolitiker wichtige Strukturdaten enthält und der auch wichtige Entwicklungen aufzeigt, herzlich zu danken. Wohnen ist ein Grundbedürfnis. ({0}) Mit den politischen Entscheidungen im Bundestag oder in der Regierung greift man in das Spiel der Kräfte auf dem Wohnungsmarkt erheblich ein. Auch deswegen ist es gut und - auch zur eigenen Kontrolle - unerlässlich, dass wir von der Regierung regelmäßig informiert werden. Der Parlamentarische Staatssekretär hat auf das Wort „regelmäßig“ natürlich Wert gelegt. Dieser Begriff ist dieses Mal etwas gedehnt worden, weil wir, die Parlamentarier, einer Verlängerung der Frist um ein halbes Jahr zugestimmt haben, da es bei der Datenermittlung erhebliche Probleme gab. Insgesamt wird in diesem Bericht festgestellt, dass sich die Wohnungsmärkte in Deutschland aus der Sicht der Nachfrager in einer sehr günstigen Verfassung präsentieren. Die überwiegende Zahl der Haushalte sei mit Wohnraum gut bis sehr gut versorgt. In den meisten Regionen sehe man sich einem umfangreichen Angebot zu erschwinglichen Mieten gegenüber. Was die Bundesregierung hier feiert, stellt jedoch in Wirklichkeit auch eine gewisse Gefahr dar. Wir Wohnungspolitiker kennen den Schweinezyklus. Unser Bestreben war es immer, dem entgegenzuwirken. Wir müssen jetzt Investoren finden, die es in dieser entspannten Marktsituation reizvoll finden, in den Bau neuer Wohnungen zu investieren. Anstatt den Status quo zu loben, muss die Bundesregierung also Signale für Investoren setzen, damit sie auch in Zukunft auf dem Mietwohnungsmarkt zuverlässig auftreten können. Aber auch bei einem anderen Punkt, nämlich bei den Wohnnebenkosten, werden keine Lösungen bestehender Probleme aufgezeigt. In den letzten zehn Jahren stieg der Anteil der Wohnnebenkosten an der Bruttomiete überproportional an. Dafür gibt es Gründe. Welche sind das? Zum Beispiel sind die Gaspreise seit 1999 um 40 Prozent gestiegen, die Preise für flüssige Brennstoffe um 37 Prozent und die Kosten von Strom und Müll um über 8 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind im Zeitraum 1999 bis 2003 um immerhin 6,4 Prozent gestiegen. Die Wohnnebenkosten sind in diesem Zeitraum hingegen um 7 Prozent angewachsen. Die Gründe für die steigende Kostenbelastung der Mieter sind von Rot-Grün politisch gewollt. Ständige Anhebungen von Standards, zum Beispiel in der Umwelttechnik, die damit einhergehende Anhebung der kommunalen Gebühren und die Einführung der Ökosteuer wirken sich auf die Kostenstruktur der Mieterhaushalte erheblich aus. ({1}) Aber nicht nur die Mieter, sondern auch die Vermieter sind an niedrigen Nebenkosten interessiert. Hohe Betriebskosten verringern die Bereitschaft zur Zahlung der Miete und führen zu verwaltungsaufwendigen Abrechnungen. Bei der Frage nach der Finanzierbarkeit angemessener Wohnungen muss natürlich auch die Wirkung des Wohngeldes einbezogen werden. Im Wohngeld- und Mietenbericht 2002 betont die Bundesregierung, dass durch die am 1. Januar 2001 in Kraft getretene Wohngeldreform der Kreis der Empfängerhaushalte erweitert wurde. 3,1 Millionen Haushalte - das macht circa 8 Prozent aller deutschen Haushalte aus - empfingen 2002 Wohngeld. Im Jahre 2002 wurden 4,5 Milliarden Euro an Wohngeld je zur Hälfte vom Bund und den Ländern gezahlt, davon 3,5 Milliarden Euro in den alten und 1 Milliarde Euro in den neuen Ländern. Die Art der Darstellung im Bericht vermittelt den Eindruck, die Bundesregierung sei auf diese Entwicklung stolz. Darin kommt jedoch zum Ausdruck, dass die rot-grüne Wirtschaftspolitik gescheitert ist. Massenarbeitslosigkeit und Nullwachstum schlagen sich unmittelbar in der Höhe des Wohngelds und in der Anzahl der Wohngeldempfänger nieder. ({2}) Die wachsende Zahl von Wohngeldempfängern ist nichts anderes als das Ergebnis einer gescheiterten Wirtschaftspolitik von Rot-Grün. Der Wohngeldbetrag in Deutschland beläuft sich im Durchschnitt auf 102 Euro. In den alten Ländern belief er sich auf 109 Euro. In den neuen Ländern blieb er mit 89 Euro weitgehend gleich. Besonders Ein- und ZweiGero Storjohann personenhaushalte sind Empfänger von Wohngeld. Immer mehr Menschen können ihre Miete nicht mehr allein aufbringen und sind daher auf Wohngeld angewiesen. In Ihrem Koalitionsprogramm haben Sie eine Verbesserung des Wohngeldes für die laufende Legislaturperiode in Aussicht gestellt. Im Dezember 2003 fühlte sich die Bundesregierung wegen des starken Anstiegs der Wohngeldausgaben von Bund und Ländern aber zu deutlichen Einsparungen angeregt. Durch den Beschluss des Vermittlungsausschusses vom 15. Dezember letzten Jahres wurde festgelegt, dass die Bundesregierung das Wohngeldrecht mit dem Ziel deutlicher Einsparungen strukturell überarbeiten wird. Dies hat sicherlich eine nachhaltige Kürzung des Wohngelds für den Zeitraum ab 2005 zur Folge. Seitdem ist allerdings unklar, was mit dem Wohngeld wirklich geschehen soll. Auf meine Anfrage antwortete die Bundesregierung am 14. April, die Prüfung, auf welche Weise die Umsetzung der auf die Haushaltsjahre ab 2005 bezogenen Protokollerklärung erfolgen könne, sei innerhalb der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen. Daraufhin mahnte der Mieterbund an, keine Kürzungen beim Wohngeld vorzunehmen. Sofort meldete sich der Herr Minister Stolpe zu Wort und erklärte, er halte Wohngeldkürzungen für nicht vertretbar. So wie wir die Standhaftigkeit unseres Ministers und seinen Umgang mit semantischen Feinheiten kennen, müssen wir davon ausgehen, dass im Ministerium bereits intensiv an einer Wohngeldkürzung gearbeitet wird. Das Parlament und die Öffentlichkeit erwarten, dass in naher Zukunft klar aufgezeigt wird, was Sie bezüglich des Wohngeldes wollen. ({3}) Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Regieren Sie, handeln Sie, schaffen Sie Klarheit beim Wohngeld! Dann ist uns allen wohler. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Storjohann, zunächst kurz der Hinweis: Sie sollten sich das Ökosteuerrecht einmal anschauen. Die Heizkosten sind von der Ökosteuer nur minimal betroffen. Beim Benzinpreis ist das etwas anderes. ({0}) Man sollte schon genauer hinschauen, wenn man über die Heizkostenentwicklung redet. ({1}) Zum Thema. Wir sollten uns darüber freuen, dass der Bericht tatsächlich hergibt, was inzwischen eigentlich jeder im Alltag spürt, nämlich dass in weiten Teilen von Deutschland die Wohnungsmärkte wirklich entspannt sind und dass es Wohnungsengpässe nur noch in den großen Wachstumszentren - in der Münchner Region, in Stuttgart, in Frankfurt/Main, in Düsseldorf und im Hamburger Raum - gibt. Ansonsten - auch das zeigt der Wohngeld- und Mietenbericht sehr deutlich - ist die Wohnsituation gut bis sehr gut. In Ostdeutschland gibt es sogar einen bedrohlichen Wohnungsüberschuss. Einerseits sollte man das positiv bewerten und nicht daran herummäkeln, aber andererseits sollte man prüfen, was daraus politisch folgt. Bevor ich dazu ein paar Sätze sage, zum Wohngeld noch einmal ganz klar Folgendes: Das Wohngeld ist gerade auch seit der Wohngeldnovelle von 2001 ein ganz zentrales Instrument für Haushalte mit niedrigem Einkommen. Von allen Seiten wird anerkannt, dass es in der Relation von Mietbelastung, Wohnungsgröße, Haushaltsgröße und Einkommen die treffsicherste Form der Subvention ist. Dabei kommt es nur zu einem Minimum an Fehlsubventionen - im Unterschied zu vielen anderen Subventionen, die bis heute noch gewährt werden. Von daher sage ich auch in Ihre Richtung ganz deutlich, dass ich die Empfehlung des Vermittlungsausschusses, das Wohngeld zu kürzen, aus sozialpolitischen Gründen nicht für verantwortbar halte. Jetzt noch ein paar Sätze zu Herrn Storjohanns Angst vor dem Schweinezyklus. Wenn Sie sich nicht nur die Wohnungsbestände, die ja überwiegend morgen nicht abgerissen und verschwunden sein werden, sondern bei Bedarf auch wirklich bewohnt werden, sondern auch die demographische Entwicklung anschauen, die uns in den nächsten zehn, zwanzig bzw. dreißig Jahren erwartet, dann dürften Sie keinen Grund mehr finden, hier Angst vor einem Schweinezyklus zu wecken. Vielmehr müssten Sie aufgrund der Aussagen dieses Wohngeld- und Mietenberichts zu dem Schluss kommen, dass die Politik die quantitative Ausweitung des Wohnungsangebotes nicht fördern darf. Demzufolge haben wir nämlich eine gute bis sehr gute Wohnversorgung, sowohl bezüglich der Quadratmeterzahl pro Einwohner als auch bezüglich der Wohnqualität aller Schichten der Bevölkerung, und das obendrein zu tragbaren Bedingungen. Beispielsweise ist allein die Belastung des Einkommens für Wohnzwecke in den alten Bundesländern von 25 Prozent im Jahre 1998 auf inzwischen 22,2 Prozent gesunken. Tatsächlich ist es so, dass der Miet- bzw. Wohnkostenanstieg geringer ausfällt als die Entwicklung der Lebenshaltungskosten. Von daher möchte ich noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass der demographische Wandel in den Blick zu nehmen ist. Da ich nach wie vor der Marktwirtschaft positiv gegenüberstehe, müssen sich meiner Meinung nach als allererstes die Eigentümer und Grundbesitzer diese Zeichen der Zeit zu Eigen machen. Das heißt, sie müssen sich in neuer Weise auf Konkurrenz einstellen und deshalb ihre Wohnungsbestände für die Zukunft fit machen. Das heißt, auf der einen Seite muss der Wohnstandard angepasst werden, indem sie modernisiert werden, damit dieses Wohnungsangebot auch nachgefragt wird. Auf der anderen Seite muss gleichzeitig die energetische Sanierung - das sage ich als Mitglied der Grünen, die sich ja für eine umfassende Förderung solcher Maßnahmen eingesetzt haben - vorangetrieben werden. Wenn die Wohnungen so auf Vordermann gebracht werden, sinken die Wohnnebenkosten so, wie Sie es sich eben gewünscht haben. Ich glaube, es gibt kein besseres Instrument als ein solches, welches gleichzeitig für eine Senkung der Heizkosten und des CO2-Ausstoßes sorgt. Das halte ich für sehr wichtig. ({2}) - Wir machen nicht das Gegenteil. Ich glaube, dass auch die Kommunen das sehr ernst nehmen sollten. Insbesondere die Städte müssen aufpassen, dass sie nicht durch Siedlungserweiterungen im Umland geschwächt werden, denn in dem Moment, da die Wohnungsmärkte ausgeglichen sind, stellt jeder weitere Neubau eine Schwächung des Siedlungsbestandes dar. Von daher fordert dieser Wohngeld- und Mietenbericht auch ein Stück weit Kommunen, Länder und Bund dazu auf, für ein Ende der Zersiedlung, die den Siedlungsbestand weiter schwächen würde, zu sorgen. Ich halte es nämlich für sehr wichtig, dass der Siedlungsbestand gestärkt wird. Ich möchte zum Schluss noch etwas zur Bauwirtschaft sagen. Natürlich spiegelt dieser Bericht auch ein Stück weit die Schwierigkeiten in der Bauwirtschaft wider. Ich halte es politisch aber nicht für verantwortlich, einzig und allein zum Nutzen der Bauwirtschaft wieder mehr Neubau zu fördern. Ich halte es aber sehr wohl für richtig - das tun wir auch -, energetische Sanierung und Stadtumbau in Richtung einer sozialen Stadt zu fördern. Das sind im Gegensatz zur Forderung nach Siedlungserweiterung richtige Instrumente zur Stärkung des Bestandes, Herr Storjohann. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eberhard Otto.

Eberhard Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003605, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann dem, was Sie, Herr Staatssekretär, gesagt haben, insgesamt nicht so folgen. ({0}) - Moment. - Ich bin Abgeordneter des Deutschen Bundestages und habe zugleich ein kleines Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern, und zwar in Mecklenburg-Vorpommern. ({1}) Ich weiß, wovon ich hier rede. Deswegen kann ich feststellen, dass es sich hierbei um ein ganz brisantes Thema handelt. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass dieses Thema nicht erst heute Abend, da wir alle schon ein wenig müde sind, hier behandelt wird, sondern schon heute Vormittag behandelt worden wäre. Insgesamt ist es nämlich ein ganz heißes Thema. Wohngeld hat ja in den neuen Bundesländern eine weitaus größere Bedeutung als in den alten Bundesländern. So beträgt der Anteil der Wohngeldempfänger in den neuen Ländern 11,6 Prozent gegenüber 6,4 Prozent in den alten Ländern. Wenn ich dann sehe, dass der Anteil gerade erst auf 11,6 Prozent gestiegen ist, weil aufgrund der miserablen Gesamtlage der Wirtschaft auch die Zahl von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gestiegen ist, muss ich diese Zahl natürlich gesondert werten. Auch bei Neuregulierungen und Veränderungen geht es um Zahlenspiele. Ich habe insbesondere in den letzten Jahren die Situation beim Wohngeld beobachten können. Ich habe heute eine Reihe von Stunden damit verbracht, viele Bürgermeister anzurufen, um sie zu fragen, wie sie die Entwicklung sehen; denn ab nächstem Jahr wird die Zahl der Wohngeldberechtigten in den neuen Bundesländern leider sehr stark zunehmen. Das hat dann auch Auswirkungen auf die Finanzen der Kommunen. Kein Bürgermeister konnte mir heute eine Antwort auf die Frage geben, wie das Problem insgesamt gelöst werden soll. ({2}) Der erhöhte Bedarf an Wohngeld stellt für die Kommunen ein Problem dar. ({3}) Das heißt, es wird eine endlose Kette ausgelöst: Der arme Mieter, der das Geld vorher nicht hatte, hat es auch jetzt nicht, bekommt aber teilweise kein Wohngeld mehr. Wo bleibt das Problem hängen? - Es bleibt beim Eigentümer der Wohnung hängen. Ich habe 1993 den Kommunen Wohnungen abgekauft, sie saniert und sie dann den Kommunen als Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt. Wenn der Mieter nun aufgrund seines geringen Einkommens die Miete nicht zahlen kann - ich habe das selber überprüft und festgestellt, dass es genau so ist: Viele Mieter haben das Geld nicht -, aber aus dem Kreis derjenigen herausfällt, die Wohngeld bekommen, entsteht ein Problem: Die Mietschulden bleiben beim Eigentümer, also bei der Kommune oder bei Privatleuten, die eine Wohnung bereitgestellt haben, hängen. Deswegen kann ich mit Blick auf die Kommunen nur fordern, die finanzielle Versorgung auf diesem Gebiet entsprechend zu regulieren. ({4}) Eberhard Otto ({5}) Wir sind als FDP für den Abbau von Subventionen; das ist insgesamt okay. Aber wir sind für einen sinnvollen Abbau. Insbesondere im Osten, beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, wäre eine weitere Reduzierung des Wohngeldes oder eine nicht genügende Absicherung tödlich. Dann gibt es eine weitere Regelung, die ebenfalls beachtet werden sollte - sie wird in Deutschland sehr unterschiedlich gehandhabt -, nämlich dass das Wohngeld direkt dem Eigentümer bzw. dem Betreiber zur Verfügung gestellt wird, um eine Zweckentfremdung zu vermeiden. Ein weiteres großes Problem ist der Leerstand.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, beachten Sie bitte, dass Ihre Redezeit weit überschritten ist.

Eberhard Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003605, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern ein wahnsinnig großes Problem durch die Abwanderung. Das hat zu sehr viel Leerstand geführt, der sich regelmäßig erhöht. Ein Satz noch zu den Mietpreisen in MecklenburgVorpommern. Die Wohnungen werden zurzeit für 3 bis 4 Euro pro Quadratmeter vermietet. Teilweise liegen die Betriebskosten - es wurde schon gesagt - höher als die Nettokaltmiete. Das kann nicht sein. Wir müssen dafür kämpfen, dass hier Veränderungen vorgenommen werden, denn Wohnen bedeutet Leben. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Spanier.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Erstes: Ich habe nicht ganz verstanden, Herr Otto, was Sie hier eigentlich kritisiert bzw. vorgeschlagen haben. Dass sich die Wohngeldsituation nach der Wohngeldnovelle 2001 auch in den neuen Bundesländern verbessert hat, dass sich in der Zwischenzeit weder an den Einkommensgrenzen noch an der Höhe etwas geändert hat, das können Sie doch nicht beklagen. ({0}) Ein Zweites: Es sind nicht die Kommunen, die zum allgemeinen Wohngeld einen Beitrag leisten müssen, sondern diese Kosten teilen sich Bund und Länder. Ich habe daher nicht so ganz verstanden, wie Sie den Eindruck gewinnen konnten, es könne nicht genügend Wohngeld gezahlt werden, weil die Kommunen dazu nicht in der Lage seien. Darüber müssen wir im Ausschuss oder an anderer Stelle vielleicht noch einmal in Ruhe reden. Der Wohngeld- und Mietenbericht ist nicht ein Bericht unter vielen, sondern er hat einen ganz besonderen Stellenwert. Immerhin sind 57 Prozent der 39 Millionen Wohnungen in Deutschland Mietwohnungen. Rund 3,2 Millionen Haushalte beziehen allgemeines bzw. besonderes Wohngeld. Es ist schon darauf hingewiesen worden - die Zahlen sind genannt worden -, dass es im Zeitraum 1999 bis 2002 einen sehr moderaten Anstieg der Mieten gegeben hat. Das ist erfreulich. Aber Herr Storjohann, eine gleiche Entwicklung ergab sich bei den Wohnnebenkosten. 1998 betrug der Anstieg immerhin noch 3,6 Prozent. Er ist aber deutlich zurückgegangen. Er lag 2002 lediglich bei 1,3 Prozent. In den 90er-Jahren gab es zwar deutliche Steigerungsraten. Aber diese haben sich glücklicherweise nach unten entwickelt. Ich glaube, dieses Ergebnis, das ebenfalls im Bericht enthalten ist, können wir durchaus mit Freude zur Kenntnis nehmen. Auf die Entspannung des Wohnungsmarktes ist schon hingewiesen worden. In der Tat haben wir eine gute Wohnraumversorgung. Dennoch möchte ich auf Folgendes hinweisen: In dem Zeitraum, der dem Bericht zugrunde liegt, ist die Bevölkerung lediglich um 0,6 Prozent gewachsen, aber die Zahl der Haushalte immerhin um 2,5 Prozent. Das heißt, 300 000 Haushalte mehr haben Wohnungen nachgefragt. Diesen Effekt müssen wir in den nächsten zehn Jahren bei unseren wohnungspolitischen Entscheidungen im Hinterkopf haben. Diese Situation auf dem Wohnungsmarkt hat natürlich dazu geführt, dass die Zahl der fertig gestellten Wohneinheiten von 473 000 im Jahre 1999 auf 290 000 im Jahre 2002 gesunken ist. Angesichts dieser guten Wohnraumversorgung kann ich überhaupt nicht verstehen, dass Sie, Herr Storjohann, anmahnen, wir sollten besondere finanzielle Anstrengungen unternehmen, um Investitionen im Mietwohnungsbau anzuregen. Wo wollen Sie diese Wohnungen bauen und an wen wollen Sie sie vermieten? In den neuen Bundesländern mit absoluter Sicherheit nicht. Wir haben in einigen kleinen Bereichen noch Bedarf an neuen Wohnungen. Aber ansonsten ist der Wohnungsmarkt flächendeckend ausgeglichen. Es ist vollkommen richtig, was Frau Eichstädt-Bohlig hier gesagt hat. Wir müssen uns von der Vorstellung der 80er- und 90er-Jahre lösen, es komme beim Wohnungsbau auf die Quantität an. Diese Zeiten sind vorbei. Wir brauchen in einigen Ballungszentren jährlich sicherlich eine gewisse Zahl an neuen Wohnungen, damit es eine Erneuerung des Wohnungsbestandes gibt. ({1}) Wenn Sie aber, Herr Friedrich, zu Ihrem Bürgermeister gehen und ihm anbieten, 10 Millionen Euro in den sozialen Wohnungsbau zu investieren, dann wird er dankend darauf verzichten, weil die Märkte nun einmal ausgeglichen sind. Es wird immer stärker darauf ankommen, dass wir die Qualität des Wohnungsbestandes verbessern. Dabei geht es nicht nur um die energetische Modernisierung. Ich möchte noch auf das Wohngeld eingehen und Herrn Großmann deutlich in seiner Auffassung unterstützen, dass das Wohngeld eine besondere Bedeutung hat. Haushalte mit weit unterdurchschnittlichem Einkommen beziehen Wohngeld. Es ist durch die Wohngeldnovelle 2001 sozial deutlich treffsicherer geworden. Auch das ist ein Ergebnis im Bericht, das wir erfreut zur Kenntnis nehmen können. ({2}) Es war damals vereinbart worden, diese Novelle zu evaluieren. Ich glaube, die Ziele, die wir damals gehabt haben - nämlich Verbesserung der Wohngeldleistung, Vereinheitlichung des Wohngeldes Ost und West sowie Rechtsvereinfachung -, haben wir in der Tat erreicht, auch was die Rechtsvereinbarung betrifft. Die Bundesländer haben sich entsprechend geäußert. Es ist richtig, wir haben einen Beschluss im Vermittlungsverfahren gefasst. Wir alle haben am 19. Dezember 2003 - da können Sie sich so wenig aus der Verantwortung ziehen wie wir - diese Protokollerklärung in namentlicher Abstimmung beschlossen. ({3}) Allerdings enthält diese Protokollerklärung keine Aussage dazu, dass das allgemeine Wohngeld gekürzt werden soll. Es heißt dort vielmehr, dass es beim Wohngeld zu strukturellen Veränderungen mit einem Einspareffekt kommen soll. Es wird aber zu einer völligen Umkrempelung des Wohngeldes kommen, weil das Wohngeld für Sozialhilfeempfänger, also der Fünfte Teil des Wohngeldgesetzes, durch Hartz IV völlig wegfällt. Ich glaube, dass schon dies eine deutliche strukturelle Veränderung ist und zu einem entsprechenden Einspareffekt führt. Wir sollten uns auf das besinnen, was wir am 19. Dezember 2003 beschlossen haben. Ich sehe keinen konkreten Auftrag und Beschluss, das Wohngeld zu kürzen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken auch Sie bitte an die Zeit!

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Dieser Bericht zieht, was die Entwicklung der Mieten und des Wohngeldes in Deutschland betrifft, eine positive Bilanz. Darüber können wir alle nur froh sein. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Spanier, wir reden vom Mietenbericht 2002 und nicht vom 19. Dezember 2003. Denn der Wohngeld- und Mietenbericht belegt doch, dass die rot-grüne Bundesregierung die Rahmenbedingungen erneut so verschlechtert hat, dass sich Kapitalanleger weiter aus dem Wohnungsbau zurückgezogen haben. Auch die Änderungen im Mietrecht fördern das Vertrauen der Investoren nicht. Investitionen in den Wohnungsbau hängen nicht nur von der staatlichen Förderpolitik, sondern im Wesentlichen auch von den rechtlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen ab. Die Bundesregierung muss ein wirtschaftliches und rechtliches Klima schaffen, in dem sich die Bürger selbst mit Wohnraum versorgen können. Der vorgelegte Wohngeld- und Mietenbericht zeigt doch: Dieses Klima hat sich auf Bundesebene seit dem Regierungswechsel 1998 kontinuierlich verschlechtert. ({0}) Die seit Jahren festzustellende Stagnation bei privaten Investitionen insbesondere in den Mietwohnungsbau ist hierfür die klare Quittung. Die Wohnraumförderung leistet insoweit einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Balance und zum Erhalt des sozialen Friedens. Sie haben früher von uns wesentlich mehr Mittel dafür verlangt. Zudem muss den so genannten Schwellenhaushalten die Bildung von Wohneigentum ermöglicht werden. Die Koalition unterschätzt den Umfang der Wohneigentumsförderung. Die Wohneigentumsförderung macht zum Beispiel in Bayern rund zwei Drittel der Wohnraumförderung aus. Sie ist für Familien und als Beitrag zur Altersversorgung von erheblicher Bedeutung. Wir messen dem selbst genutzten Wohneigentum einen hohen sozialpolitischen Rang bei. Es bietet nämlich wirtschaftliche Unabhängigkeit ({1}) und unterstützt wie kaum eine andere Geldanlage die Vermögensbildung und damit die Altersvorsorge. Die Koalition hat dies bisher leider noch nicht begriffen. Die bisherige Entwicklung der Wohngeldausgaben zeigt eindrücklich die damit verbundene Belastung des Staatshaushalts. Allein der Freistaat Bayern zahlte im Jahr 2003 357 Millionen Euro Wohngeld aus - fast doppelt so viel wie vor zehn Jahren; damals waren es nämlich noch 188 Millionen Euro -, um ein angemessenes und familiengerechtes Wohnen zu sichern. Damit ist eine neue traurige Rekordhöhe erreicht. Eine Trendwende ist nicht absehbar. Die verfehlte Steuer- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen, insbesondere Alleinerziehende, auf Wohngeld angewiesen sind. Ein Tiefpunkt rot-grüner Politik war sicherlich die Mietrechtsreform im Jahre 2001 ({2}) mit ihrer einseitigen Benachteiligung von Vermietern und damit von Investoren. Der Einwand der Regierungskoalition, mit der Reform werde immerhin einem umfassenden Mieterschutz Rechnung getragen, ist ideologisch gefärbt, aber auch kurzsichtig. Denn bleiben bei einer solchen Verschlechterung der Rahmenbedingungen die Investitionen in den Mietwohnungsbau aus, bricht damit auch der Mietermarkt zusammen. Erschwingliche Wohnungen werden dann Mangelware, was letztendlich auch auf die Mieter zurückfällt. Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, der tatsächliche Bedarf an Wohnungen kann in nächster Zeit steigen, wenn es aufgrund der EU-Osterweiterung zu einer verstärkten Zuwanderung kommt. Das Ifo-Institut schätzt, dass in den ersten 15 Jahren nach der EU-Osterweiterung rund 500 000 Personen aus den neuen EU-Staaten allein nach Bayern kommen werden. ({3}) Das Ifo-Institut erwartet, dass sich diese Zuwanderungsströme nicht gleichmäßig verteilen, sondern vor allem auf die Ballungsräume konzentrieren werden. Gerade in den Ballungsräumen besteht ohnehin der größte Neubaubedarf. ({4}) Das Etikett vom Schlusslicht in Europa haftet der Bundesrepublik durch Rot-Grün nicht nur wegen schlechter Wachstums- und Beschäftigungszahlen an. Auch bei der Wohnungsbautätigkeit ist Deutschland längst auf die letzten Ränge zurückgefallen. Im europäischen Vergleich ist Deutschland - 1996 waren wir noch Vizeeuropameister ({5}) mit 3,19 Wohnungen je 1 000 Einwohner im Jahre 2002 inzwischen weit abgeschlagen. Im Rahmen der Diskussion über den Wohngeld- und Mietenbericht möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, auch das Thema Mietnebenkosten - der Kollege Storjohann hat schon darauf hingewiesen - nicht ersparen. Fakt ist: Seit Einführung der Ökosteuer, die für den überproportionalen Anstieg der Heizöl- und Gaspreise verantwortlich ist, ist RotGrün zum Preistreiber Nummer eins bei den Wohnkosten der Mieter und der selbstnutzenden Wohneigentümer geworden. Auch die Strompreise gehören in diese Reihe. ({6}) Dazu hört man vom zuständigen Minister bzw. vom Staatssekretär allerdings nichts. Bedenklich stimmt der Blick in die Zukunft: Immer mehr Mieten werden nicht gezahlt und müssen auf dem Gerichtsweg geltend gemacht werden. Aus unserer Sicht hat Rot-Grün bis heute keine ausreichende Antwort auf die unterschiedlichen Entwicklungen und Probleme der regionalen Wohnungsmärkte in Deutschland gefunden. Der vorliegende Bericht zeigt, dass, wenn Vermieten uninteressant gemacht wird, Investitionen unterbleiben und die Mieten steigen. Wer also wirklich etwas für die Mieter tun will, muss für ausreichend guten Wohnraum sorgen. Gerade in einer Zeit schwacher Konjunktur und knapper Kassen ist es erforderlich, gemeinsam die Initiative für einen innovativen Wohnungsbau zu ergreifen. Wir brauchen eine Abstimmung zwischen Wohnungs-, Steuer- und Mietenpolitik sowie stark verbesserte Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, denken bitte auch Sie an die Zeit!

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich komme zum Schluss -, die in der rot-grünen Regierungszeit leider verloren gegangen sind, damit mehr investiert wird und gerade junge Familien und einkommensschwächere Haushalte davon profitieren können. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2200 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Maria Eichhorn, Antje Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Arbeitsplätze im Bereich privater Dienstleistungen schaffen - Rahmenbedingungen für Dienstleistungszentren und -agenturen verbessern - Drucksache 15/2825 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Die Kollegen Barnett, Pawelski, Kurth und Niebel ha- ben gebeten, ihre Reden zu diesem Punkt zu Protokoll geben zu können.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. 1) Anlage 6 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2825 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero Storjohann, Günter Nooke, Dirk Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Keine toten Winkel bei Lastkraftwagen - Drucksache 15/2823 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat wieder der Herr Kollege Gero Storjohann.

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Wochen ist es in Berlin erneut zu zwei tödlichen Verkehrsunfällen gekommen. Wieder wurden zwei Radfahrer von Lastkraftwagen, die nach rechts abbogen, erfasst. Wieder konnten die LKW-Fahrer die Radfahrer nicht sehen, da sich diese im toten Winkel ihrer Fahrzeuge befanden. ({0}) Diese beiden Unfälle zeigen nach Auffassung der Unionsfraktion ganz deutlich: Es ist endlich Zeit zum Handeln. Der tote Winkel muss schnell weg. ({1}) Deshalb hat die CDU/CSU-Fraktion mit einem Antrag die Initiative ergriffen und einen Weg aufgezeigt, wie wir dem toten Winkel schnell und umfassend zu Leibe rücken können. Wir erfahren Unterstützung vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club und auch von den Spediteuren. Es gibt eine Lösung für das Problem: den so genannten Dobli-Spiegel aus den Niederlanden. In den Niederlanden waren bereits im Jahre 2002 50 Prozent der LKWs mit über 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht mit dem Dobli-Spiegel ausgerüstet. Dieser Spiegel wird auf der Beifahrerseite des Fahrzeuges von außen angebracht. Es handelt sich um eine konvexe Linse, durch die der tote Winkel von derzeit 38 Prozent auf 4 Prozent verringert wird. Die Anzahl der schweren und tödlichen Unfälle aufgrund des toten Winkels haben sich in den Niederlanden im Jahre 2002, seit Einführung des Spiegels fast halbiert. Seit Januar 2003 sind dort sämtliche LKWs über 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgesicht mit dem so genannten Dobli-Spiegel ausgestattet. Wegen der äußerst positiven Erfahrungen in den Niederlanden fordert die Union in dem heute zu beratenden Antrag die unverzügliche Einführung dieses Spiegels in Deutschland. Das zögerliche Herangehen des Verkehrsministeriums an die mit dem toten Winkel verbundene Problematik hat uns in der CDU/CSU-Fraktion erstaunt. Offensichtlich hat man nach dem Maut-Desaster in Ihrem Hause Gefallen daran gefunden, möglichst komplizierte und langwierige Lösungen zu verfolgen. Wenn ich mir Ihre Pressemitteilungen vom 2. und 26. April ansehe, dann muss ich folgende Feststellungen treffen: Erstens. Sie wollen ebenfalls einen Weitwinkelspiegel einführen. Im Gegensatz zum von uns vorgeschlagenen Dobli-Spiegel verkleinert dieser den toten Winkel aber nur auf etwa 19 Prozent. Außerdem wollen Sie diesen Spiegel erst ab 2005, und dann auch nur bei Neufahrzeugen einführen. Ihre Argumentation, der Dobli-Spiegel würde vibrieren und die Sicht nach vorne einschränken, nehmen wir auf, gewichten die Argumente im Gesamtkontext aber anders. Zweitens. Sie wollen sich bei der Einführung neuer Spiegel ordentlich Zeit lassen. ({2}) Während wir mit unserem Antrag erreichen wollen, dass der effektive Dobli-Spiegel unverzüglich eingeführt wird, wollen Sie Ihren Weitwinkelspiegel über eine EGRichtlinie einführen. Das dauert erheblich länger. Drittens. Die von Ihnen favorisierte EG-Richtlinie sieht nur die Umrüstung der nach dem 1. Januar 2006 zugelassenen LKWs vor. Wenn Sie schon den von uns bevorzugten Weg nach niederländischem Vorbild nicht mitgehen wollen, dann frage ich Sie: Wann legt uns Ihr Haus endlich die entsprechende Verordnung zur Umrüstung der im Verkehr befindlichen LKWs vor? Bis jetzt hören wir nur Ankündigungen und Vertröstungen. Viertens. Sie wollen nur LKWs ab 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht umrüsten. Offensichtlich haben Sie überhaupt nicht vor, Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht mit einem zusätzlichen Spiegel auszustatten, wie dies in den Niederlanden der Fall ist. Warum Sie diese Unterscheidung vornehmen, ist für die Union nicht nachvollziehbar. Von den Grünen bekommen wir Unterstützung für unsere Position. Jedenfalls finden wir entsprechende Aussagen auf der Homepage von Frau Eichstädt-Bohlig. ({3}) Ich freue mich, dass wir bei dieser Problemstellung im Sinne der Sache gemeinsam etwas Druck machen. Es bleibt zu hoffen, dass wir auch den Minister und die Staatssekretärin mit unserer Argumentation überzeugen können. Wir wollen eine Lösung, die sofort und nicht erst in zehn oder 15 Jahren greift. Wir sind es unseren Familien schuldig, dass sofort etwas geschieht. So mancher Unfall hat Familien ins Unglück gestürzt. Wir Politiker sollten das Machbare auch in Taten umsetzen. ({4}) Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Er wirkt - das ist für mich in diesem Fall ganz entscheidend - sofort. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke.

Iris Gleicke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000687

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich zunächst einmal ganz ausdrücklich dafür, dass wir hier und heute über den toten Winkel sprechen. Dieses Thema treibe ich seit vielen Monaten voran. ({0}) Ich habe großes Verständnis dafür, dass die öffentliche Diskussion über den toten Winkel zum Teil sehr emotional geführt wird; denn die Unfälle, die mit rechts abbiegenden LKWs passieren, haben ganz schreckliche Folgen. Das kann niemanden kalt lassen, und, Herr Kollege Storjohann, dass lässt auch niemanden kalt. ({1}) Ich bin davon überzeugt, dass es auch deshalb künftig weniger solcher Unfälle geben wird, weil dieses wichtige Thema unterdessen ins Bewusstsein aller Beteiligten gerückt ist. Lieber Kollege Storjohann, ich unterstelle Ihnen wirklich die besten Absichten, aber Ihr Antrag enthält eine Reihe von sachlichen Fehlern. Mir fehlt leider die Zeit, all diese Fehler im Einzelnen aufzuzählen. Deshalb beschränke ich mich auf einen: die Behauptung, von der EU werde ein vierter Spiegel vorgeschrieben, der den nicht einsehbaren Bereich angeblich wesentlich weniger verringere als der Dobli-Spiegel, den Sie offensichtlich meinen. Ich muss Ihnen sagen, dass es eine solche Verordnung bzw. Vorschrift der EU überhaupt nicht gibt. ({2}) Durch die EU-Verordnung wird der tote Winkel eben nicht durch einen zusätzlichen Spiegel auf der Beifahrerseite beseitigt, sondern vor allem durch eine veränderte Spiegelkrümmung und ein dadurch verbessertes Sichtfeld der schon heute vorhandenen Weitwinkelspiegel. Hier liegt offenbar eine Verwechslung mit dem in der Tat von der EU neu vorgeschriebenen Frontspiegel vor. Er ist wichtig, um anders geartete schwere Unfälle zu vermeiden. Deshalb haben wir bei den Herstellern Druck gemacht, um auch ihn früher als in der EU-Richtlinie vorgesehen, einführen zu können. Aber mit dem toten Winkel hat dieser Frontspiegel wirklich überhaupt nichts zu tun. Ihr gesamter Antrag zielt eindeutig auf den DobliSpiegel, obwohl er nicht ein einziges Mal namentlich erwähnt wird. Dieser Zusatzspiegel ist aber eben nicht die einfache und preiswerte Patentlösung, als die er in der öffentlichen Diskussion bisweilen gepriesen wird; denn er kann nicht an allen LKWs sicher und vibrationsfrei befestigt werden. Zudem beeinträchtigt er die direkte Sicht durch die Windschutzscheibe. Dieser Spiegel ist in den Niederlanden übrigens nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern er stellt dort eines von mehreren zugelassenen Systemen zur Verbesserung der rückwärtigen Sicht dar. Sollen wir etwa Spiegel gesetzlich vorschreiben, die Nachteile für die Verkehrssicherheit haben können? Das kann aus unserer Sicht nicht der richtige Weg sein. Ich möchte aber noch einmal ganz klar und deutlich sagen, dass ich die gute Absicht Ihres Antrags würdige; denn wir sind uns darin einig, dass der tote Winkel beseitigt werden muss. Das ist gar keine Frage. ({3}) Wir wollen den toten Winkel schon seit langer Zeit beseitigen. Bereits im Jahr 2001 hat die Bundesregierung gemeinsam mit den Niederlanden die Initiative für eine EU-Richtlinie mit verschärften Anforderungen an die rückwärtige Sicht bei LKWs ergriffen. Diese Richtlinie ist im vergangenen Januar in Kraft getreten. Durch ihre Umsetzung wird der tote Winkel entgegen anders lautenden Behauptungen von verschiedenen Seiten weitestgehend ausgeschaltet. An dieser Richtlinie wird jedoch vor allen Dingen zweierlei kritisiert: Erstens ist sie erst ab Januar 2007 für neu in den Verkehr kommende LKWs obligatorisch anzuwenden. Das dauert auch mir zu lange. Zweitens ist keine Nachrüstung der Fahrzeuge vorgesehen, die schon jetzt auf unseren Straßen unterwegs sind. Auch das genügt mir nicht. ({4}) Aus genau diesem Grunde habe ich dem Deutschen Bundestag und der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr versprochen, mich dieses Problems persönlich anzunehmen. Das habe ich auch getan. Wir haben schon vor mehreren Monaten mit den Fahrzeugherstellern vereinbart, dass sie spätestens ab Anfang des kommenden Jahres alle neuen LKWs laufender Serien, soweit technisch möglich, mit verbesserten Spiegeln ausrüsten, um den Anforderungen der EU-Richtlinie zu entsprechen. Um, soweit technisch möglich, auch eine Nachrüstung auf freiwilliger Basis sicherzustellen, haben wir mit den Herstellern außerdem vereinbart, dass sie unverzüglich für den jeweiligen Fahrzeugtyp geeignete Austauschspiegelgläser mit größerem Sichtfeld zum Einbau in die vorhandenen Spiegelgehäuse auf den Markt bringen. Das ist bei allen LKWs ab dem Baujahr 2000, aber auch bei vielen älteren Modellen möglich. Wir werden selbstverständlich intensiv dafür werben, dass möglichst alle LKW-Halter von der Möglichkeit der Nachrüstung Gebrauch machen. Sowohl für die vorgezogene Serienausstattung als auch für die Möglichkeit der Nachrüstung müssen wir die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung ändern. Diese Änderung bringen wir gerade auf den Weg. Damit schreiben wir gleichzeitig die Verbesserung des für die weitestgehende Beseitigung des toten Winkels besonders wichtigen Weitwinkelspiegels auf der Beifahrerseite verbindlich vor. Das bedeutet, dass dieser verbesserte Spiegel spätestens ab Anfang des kommenden Jahres Pflicht sein wird. Wir müssen das bei der EU notifizieren, da wir die Richtlinie von uns aus verschärfen; wir wollen schließlich auch importierte Fahrzeuge erfassen. Damit muss sich auch der Bundesrat befassen; auch das wird jetzt auf den Weg gebracht. Meine Damen und Herren, das muss so schnell wie möglich passieren, je schneller, je lieber. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von der FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag befasst sich wieder einmal mit dem Thema „Verkehrssicherheit“, insbesondere mit im Straßenverkehr Getöteten, zu wirklich geeigneter Zeit. ({0}) Ich meine das ganz bewusst negativ, weil es ein Problem ist, das unserer Ansicht nach sicherlich zu lösen ist. Es wird mit dem von der Union vorgelegten Antrag aus unserer Sicht aber nicht völlig rund gelöst. Ich habe den Eindruck, es ging ein bisschen um die Schnelligkeit; das muss ich hier einmal ganz deutlich sagen. Der Antrag muss, wenn er eine gute Beratungsgrundlage sein soll, die niederländischen Erfahrungen stärker berücksichtigen und bezüglich dessen, was man in Deutschland machen kann und notwendigerweise machen muss, ausgeweitet werden. Er nimmt aus unserer Sicht nur einen Teilnehmer am Unfallgeschehen, nämlich den schweren LKW, aufs Korn und befasst sich nur mit einem Problem, dem toten Winkel/Sichtwinkel. Die Niederlande haben, bevor sie die technische Lösung entwickelt haben, eine breite Kampagne für Verkehrssicherheit gestartet, die dort im Straßenverkehr bereits seit 2000 zur Senkung der Unfallzahlen der Kombination „Zweiradfahrer/Fußgänger mit schwerem LKW“ geführt hat. Seit 2003 ist ein entsprechender Spiegel vorgeschrieben; seitdem haben sich die Unfallzahlen in den Niederlanden nicht mehr signifikant verringert. Die Zahlen sind aber nicht unbedingt statistisch belastbar, weil dieser Aspekt bei der Unfallaufnahme kein Kriterium ist. Das ist das eine Thema. Das zweite Thema: Natürlich gäbe es aus unserer Sicht auch noch andere Möglichkeiten, über eine Sicherheitskampagne hinaus. Ich denke dabei zum Beispiel an § 5 Abs. 8 der Straßenverkehrsordnung. Wir haben es ermöglicht, dass Zweiradfahrer - Mofafahrer und Fahrradfahrer - an stehenden LKWs vorsichtig rechts vorbeifahren dürfen. Damit entstehen Gefahrensituationen aber eigentlich erst: Vor der Änderung dieser Vorschrift mussten Zweiradfahrer hinter einem LKW stehen bleiben. Es wäre aus unserer Sicht zumindest überlegenswert, auch über diesen Punkt nachzudenken. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, den Aufstellraum für Zweiradfahrer so weit vorzuziehen, dass der LKW-Fahrer sie direkt sehen kann. ({1}) Das sind Lösungen, über die man, wenn man das Problem wirklich angehen will, aus unserer Sicht in aller Breite diskutieren muss. Wenn ich die Vorschrift der EU richtig in Erinnerung habe, Frau Staatssekretärin, werden dem LKWFahrer irgendwann einmal sechs Spiegel vorgeschrieben: zwei vorne und jeweils zwei an den Seiten. Man muss bei solchen Vorschriften auch darauf achten, dass derjenige, der ein Fahrzeug bewegt, noch in der Lage sein muss, sämtliche Spiegel gleichzeitig mit dem fließenden Verkehr im Auge zu behalten. Ich will gar nicht davon reden, dass man nicht ausschließen kann, dass, nachdem der Fahrer rechts in den Weitwinkelspiegel geschaut und feststellt hat, dass da kein Fahrradfahrer ist, und er sich dann mit den anderen Spiegeln befasst, ein Fahrradfahrer auf einem Mountainbike angebrettert kommt und damit eine neue Gefahrensituation eintritt. Die völlige Sicherheit vor dieser Situation wird es nicht geben. Deswegen sind wir sehr dafür - auch im Interesse der Kinder und der Kinder-Kommission, die das auch aufgegriffen hat -, dieses Problem zu lösen. Ich bin allerdings der Meinung, wir sollten das im Fachausschuss auf breiter Basis diskutieren - im Zweifel auch eine Anhörung durchführen - und hier tatsächlich Wert auf Qualität der Lösung vor Schnelligkeit der Lösung legen; dann sind wir, glaube ich, zur Zusammenarbeit im ganzen Haus bereit. Danke sehr. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann von Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beiden tödlichen Radfahrunfälle von vor ungefähr einem Monat haben in Berlin, aber auch darüber hinaus eine heftige Debatte ausgelöst. In den letzten Jahren ist es immer wieder vorgekommen, dass Radfahrer, die sich im toten Winkel befunden haben, totgefahren wurden. Das hat aufgerührt. An solchen Punkten fragen Eltern und Lehrer immer wieder: Warum bewegt sich in diesem Bereich nichts? Warum greift man dieses Problem nicht auf, obwohl es schon so alt ist, obwohl jedes Jahr vermutlich mehrere Hundert Radfahrer aus diesem Grund ums Leben kommen und es offensichtlich anderswo schon technische Lösungen gibt, dies besser in den Griff zu bekommen? Man fragt sich auch: Wie kann es eigentlich sein, dass eine Automobilindustrie, die allen möglichen elektronischen und technischen Schnickschnack in neue LKWs und auch in PKWs einbaut, im Bereich des Spiegels und der Rückblende bislang im Grunde genommen altmodische, vorgestrige Lösungen angeboten hat? Das ist wirklich ärgerlich. ({0}) Nun ist endlich Bewegung in den Vorgang gekommen. Auch das Verkehrsministerium hat zusammen mit dem niederländischen Ministerium Druck gemacht, damit auf europäischer Ebene etwas geschieht. Sicher bringt die neue europäische Richtlinie einen Fortschritt. Aber wie die Kolleginnen und Kollegen schon angesprochen haben: Das, was die EU vorgelegt hat, ist ziemlich unbefriedigend. Denn erstens gilt die Richtlinie nur für Neufahrzeuge und auch erst in Jahren und zweitens ist sie nur für große LKWs und nicht für kleine vorgesehen. Sie ist also völlig unzureichend. ({1}) Schauen wir uns die Erfahrungen in den Niederlanden an. Dazu gibt es eine interessante Geschichte. Ein niederländischer Junge ist ums Leben gekommen. Sein Vater hat keine Ruhe gefunden und hat in wenigen Wochen einen neuen Spiegel entwickelt. Dann hat er es geschafft, einen Produzenten zu finden und diesen Spiegel in Form einer Freiwilligenkampagne bekannt zu machen. Interessanterweise hat sich damals das Ministerium erst gewehrt und gesagt, dass dies nicht funktioniert. In einem beharrlichen Verfahren hat es dieser Vater zusammen mit der Initiative geschafft, zuerst eine Phase der freiwilligen Umrüstung in Holland zu beginnen und danach eine gesetzliche Umsetzung zu erreichen, was dazu geführt hat, dass seit den letzten zwei Jahren in den Niederlanden völlig neue Verhältnisse herrschen. Viele haben diesen so genannten Dobli-Spiegel und tatsächlich - das wurde schon gesagt - sind die Unfallzahlen um über 40 Prozent zurückgegangen. Ich finde, dass man von dieser Technik und Erfahrung sowie von dieser bürgerschaftlichen Initiative lernen kann. ({2}) Übrigens gibt es auch in Berlin eine solche Initiative, die meine Kollegin Eichstädt-Bohlig und ich unterstützen. Diese sammelt Geld, damit LKWs umgerüstet werden können. Das ist eine gute Sache. Aber ich sage Ihnen auch: Das allein kann nicht ausreichen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass Politik alles tut, was sie tun kann: Dort, wo sie durch Vorschriften oder gesetzliche Regelungen etwas erreichen kann, sollte sie diese verbindlich für alle einführen. Das ist unsere Position. ({3}) Sie haben es in der Öffentlichkeit und natürlich heute durch die Debatte wahrgenommen: Es gibt offensichtlich einen Dissens mit der Regierung, die den DobliSpiegel als problematisch einschätzt. Wir glauben, dass ein größerer Teil dieser Bedenken durch die Praxis und deren empirische Überprüfung widerlegt ist. ({4}) Die Erfahrung zeigt, dass man diesen Spiegel sicher anbringen kann. Das Argument, dass ein neuer Spiegel die Sicht behindere, ist ziemlich fragwürdig. Denn dann müsste man eigentlich alle Rückspiegel abschaffen, weil sie selbstverständlich auf der einen Seite ein kleines Stück ausblenden, aber auf der anderen Seite verschaffen sie eine neue große Sicht. Spiegel haben Vorteile und Nachteile. Deswegen kann ich dieses Argument nicht akzeptieren. Es ist möglich, diesen Spiegel schnell und einfach nachzurüsten. Auch das ist ein großer Vorteil. Das Verkehrsministerium sollte dies positiver prüfen und nicht so kritisch wie bisher. Ich erkenne durchaus an, dass es nicht allein mit der Zahl der Spiegel getan ist, sondern natürlich hängt es auch von der Beschaffenheit des Spiegels und vom System insgesamt ab. Aber es ist eine einfache und schnelle Lösung, die in der Nachrüstung günstig und rasch umzusetzen ist. Wir werden innerhalb der Koalition und mit der Regierung noch verhandeln müssen, wie wir weiter vorgehen. Für meine Fraktion sage ich: Wir sehen beim aktuellen Stand der Informationen gerade in diesem DobliSpiegel eine sehr gute Lösung und glauben, dass wir diesen rasch - und nicht erst in zwei Jahren - und für alle, nicht nur für Neufahrzeuge, einführen sollten. ({5}) Wir unterstützen die Bundesratsinitiative von Berlin und Brandenburg, die genau in diese Richtung vorstößt. Im Verkehrsausschuss des Bundesrates haben Sie dafür übrigens eine ganz große Mehrheit gefunden. Das wird auch den Bundestag fordern. Ich meine, das ist eine gute Vorlage des Bundesrates. Ich komme zum Schluss und möchte gerne an die Worte und Gedanken des Kollegen Friedrich anknüpfen. Eine auf Spiegel beschränkte Verkehrssicherheitspolitik wäre in der Tat sehr beschränkt. Wir brauchen eine umfassend neue Verkehrssicherheitspolitik. Diese müssen wir an dem Konzept „Vision Zero“ messen, das in Schweden und in der Schweiz seit einigen Jahren sehr ambitioniert erprobt wird. ({6}) Wir haben die sehr ambitionierte Vorstellung, dass man eine Politik betreiben muss, die das Ziel hat, dass es im Straßenverkehr möglichst überhaupt keine Verkehrstoten mehr und nur noch möglichst wenige Schwerverletzte gibt. ({7}) Es ist ungeheuer wichtig, an diesem Ziel hart zu arbeiten. Dazu müssen wir alle Bereiche konzeptionell angehen. Das gilt übrigens auch für die Verkehrserziehung und das Verhalten der Radfahrer selbst. Auch sie tragen Verantwortung und müssen schauen, durch welches Verhalten sie sich gefährden. Wir müssen versuchen, durch Regeln und Vorschriften all das zu erreichen, was möglich ist, um Verkehrssicherheit herzustellen, sodass wir zukünftig keine Radfahrer mehr aufgrund des toten Winkels als Tote im Straßenverkehr zu beklagen haben. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte mit der Bemerkung einleiten, dass die Debatte trotz des so ernsten Anlasses eigentlich sehr erfreulich ist. Ich muss mich bei meinem Kollegen Hermann bedanken, dass er unseren Antrag hier so freundlich begleitet. Frau Staatssekretärin Gleicke, ich denke, es ist wichtig, dass man nicht nur gute Absichten unterstellt, sondern nach der Debatte auch einräumt, dass der Antrag gut ist. ({0}) Ich glaube, es ist auch wichtig, zumindest anzuerkennen, dass durch diese Debatte entsprechender Druck auf die Ministerien ausgeübt wird, wodurch sie zum Handeln gebracht werden. Ich denke, es ist klar, dass wir nicht nur eine Aufklärungskampagne durchführen, sondern auch zum Handeln kommen müssen. Vielleicht sollte ich noch einmal ganz kurz sagen, worum es hier eigentlich geht. Es ist bereits kurz angesprochen worden, warum ich als Berliner Bundestagsabgeordneter hier rede. Vor einem Monat - es war am 23. März 2004 - ist nicht weit von hier ein neunjähriger Junge gestorben. Er war morgens um 8.15 Uhr mit seinem Fahrrad auf dem Weg zur Schule. An der Kreuzung Bismarckstraße/Kaiser-Friedrich-Straße hatte er grünes Ampellicht. Er wurde von einem LKW erfasst und getötet. Der LKW-Fahrer wollte rechts abbiegen und hatte den Neunjährigen auf dem Radweg nicht gesehen. Mich bewegt das sehr. Der Neunjährige wurde auf dem Schulweg sogar von seiner Mutter auf dem Rad begleitet. Sie fuhr unmittelbar vor ihm auf dem Radstreifen über die Kreuzung. Das war nicht der einzige tödliche Fahrradunfall an diesem Tag. Gleiches ereignete sich auch am Nachmittag gegen 13.30 Uhr in der Teilestraße in Tempelhof. Hierbei kam ein 59-jähriger Radfahrer ums Leben. Auch hier war die Unfallursache der so genannte tote Winkel. Ich denke, wir als Abgeordnete sind gefragt, hier zu handeln. Die bisherigen Debattenbeiträge der verschiedenen Fraktionen haben gezeigt, dass solch abwiegelnde Positionen wie die des Bundesverkehrsministeriums, die ich jetzt gar nicht allzu sehr kritisieren will, weil ich auch Ihnen gute Absichten unterstelle, auf jeden Fall nicht ausreichen. Ich glaube nämlich schon, dass es manchmal noch ein wenig schneller ginge. Es ist hier durch manche Hinweise deutlich geworden, dass es zu lange dauern würde, auf neue EU-Vorschriften zu warten. ({1}) Ich will eines deutlich machen: Ich wünsche mir, dass das Ministerium auch von den Parlamentariern der Koalitionsfraktionen gedrängt wird, schnell zu handeln. Ich denke, dass sich der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club bereits deutlich zu der Pressemitteilung zu diesem Thema und zu den Aussagen, die vonseiten des Bundesverkehrsministeriums gemacht wurden, geäußert hat. Damals hieß es, Sie seien in höchster Erklärungsnot. Ich finde, wir sind inzwischen schon einen Schritt weiter. Das gilt auch für diese Debatte und das kann ja nur gut sein. Bezüglich der Länderkammer will ich noch etwas Erfreuliches ein wenig genauer darstellen. Es ist auf einen Entschließungsantrag - gestern stand er auf der Tagesordnung der Sitzung des Verkehrsausschusses des Bundesrates - der Länder Berlin und Brandenburg zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes hingewiesen worden. Dort hieß es: Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. November 2003 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Typengenehmigungen von Einrichtungen für indirekte Sicht und von mit solchen Einrichtungen ausgestatteten Fahrzeugen sowie zur Änderung entsprechender Richtlinien soll bis spätestens Mitte 2004 in nationales Recht umgesetzt werden. - Das ist der entscheidende Satz. Es geht weiter: Für alle im Verkehr befindlichen Nutzfahrzeuge ab 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht soll eine kurzfristige Nachrüstfrist entsprechend der EG-Richtlinie 2003/97 vorgesehen werden, mindestens aber ein zusätzlicher Frontspiegel verbindlich festgeschrieben werden. - Das ist Inhalt dieser Initiative. Mindestens sieben Länder haben sich ausdrücklich positiv dazu geäußert. Weiter heißt es: Für Nutzfahrzeuge und Neufahrzeuge ab 3,5 bis 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht soll ebenfalls ein zusätzlicher Frontspiegel zur VermindeGünter Nooke rung des toten Winkels kurzfristig verbindlich vorgeschrieben werden. - Genau das haben wir gefordert. Wenn das Wort „kurzfristig“ durch „unverzüglich“ ersetzt wird, ist das im Prinzip die Fassung unseres CDU/ CSU-Antrages. Die Begründung des Antrags erinnert im Übrigen an die Aussagen, die wir schon seit längerem in der Presse lesen und die auch unseren Antrag auszeichnen. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Entschließung, die im Brandenburger Landtag dazu behandelt wurde, eine interessante Feststellung enthält: Die Gefahrendimension durch den toten Winkel wird in der schulischen Verkehrssicherheitsarbeit so verdeutlicht, dass in den Bereich des toten Winkels bei einem LKW eine komplette Schulklasse gestellt wird, die vom Fahrzeugführer durch die Rückspiegel nicht gesehen werden kann. Weiter heißt es: Nach Angaben der gesetzlichen Unfallversicherungen sterben pro Jahr etwa 140 Radfahrer sowie Fußgänger bei Unfällen mit rechtsabbiegenden LKW. All das lässt den Handlungsbedarf erkennen. Wir von der Union sind zu konstruktiver Mitarbeit, Initiativengebung und auch weiterer Unterstützung bereit. Wir haben gerade auch in Berlin und Brandenburg - es ist ja in Berlin und Brandenburg nicht so, dass die Verkehrsminister der Union angehören; jedenfalls noch nicht ein großes Interesse, mit Ihnen gemeinsam voranzukommen. Wir können sagen: Nicht nur zu später Stunde, sondern auch am helllichten Tage wollen wir ein ernstes Problem konstruktiv lösen. Da immer alle denken, wir zanken uns hier ohne Unterlass, war dies ein gutes Beispiel dafür, um zu zeigen, dass wir - vorausgesetzt auch die Kollegen von den Grünen machen mit - gemeinsam mit dem Ministerium schnell zu einer Lösung kommen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fortwährende Aufgabe, Verkehrssicherheit insbesondere für schwächere Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten und zu verbessern, führte zu dem vorliegenden Antrag. Wir alle wollen keinen toten Winkel bei Lastkraftwagen. Das eint uns: alle Politiker, alle LKW-Fahrer, alle, die diesen LKWs im Straßenverkehr begegnen, und die Fahrradfahrer, die sich gefährdet fühlen. Besorgte Bürgerinnen und Bürger, insbesondere Mütter, sind durch tragische Todesfälle bei Unfällen zwischen LKWs und Fahrradfahrern aufgeschreckt. Auch ich habe solche Zuschriften bekommen. Wir alle nehmen das sehr ernst. Dieser Wunsch, diese Unfälle zu vermeiden, eint uns alle. Die Anstrengungen zur Beseitigung von Schwachstellen der Sichtwinkel und Sichtfelder von LKW-Fahrern sind in vollem Gange, und zwar seit Monaten. Ich will hier ganz klar machen: Es genügt nicht, einfach einen weiteren Spiegel, einen vierten Spiegel oder einen Dobli-Spiegel anzubringen, und alles ist in Ordnung. Vielleicht ist dann den tagesaktuellen Forderungen in Zeitungsüberschriften oder Fernsehreportagen Genüge getan, aber das Problem ist nicht grundsätzlich und nachhaltig gelöst. Deshalb ist der Antrag der Union gut gemeint, aber unzureichend und in dieser Form überflüssig. Ein vierter Spiegel muss nicht eingeführt werden. Er ist bereits möglich, aber nicht ausreichend. ({0}) Was ist wirklich zielführend? Zielführend ist, dass nicht nur einige niederländische oder einige deutsche LKWs mit einem weiteren Spiegel ausgestattet werden, sondern dass alle europäischen LKWs verkehrssicherer mit Spiegelsystemen ausgestattet werden. ({1}) Dies ist bereits eingetütet, also beschlossen, und durch die Arbeit der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke mächtig mit Dampf versehen. So hat die Bundesregierung bereits im Jahre 2001 gemeinsam mit den Niederlanden eine Initiative bei der Europäischen Kommission gestartet; ({2}) denn auch in den Niederlanden wird die Notwendigkeit von Verbesserungen gesehen. Das Resultat ist die EURichtlinie 2003/97 - in Kraft seit Januar 2004 -, die verschärfte Anforderungen für die rückwärtige Sicht vorsieht. Ein LKW mit 7,5 Tonnen hat in Zukunft sechs Spiegel. ({3}) Auch eine Ausrüstung mit einem Kamerasystem ist möglich. ({4}) Jetzt geht es um den mühseligen Gang der vollständigen Umsetzung und um die Übergangsfristen. Das kann uns alle hier im Parlament und in der Regierung nicht befriedigen. So hat Staatssekretärin Gleicke auch da die Sache unter Dampf gesetzt. Wir werden die Übergangszeiten nicht ausschöpfen, sondern mächtig vorziehen. Es gibt drei Verbesserungen: Erstens. Eine Ausstattung mit einem modifizierten Weitwinkelspiegel auf der Beifahrerseite, der für die Verringerung des toten Winkels besonders wichtig ist, soll ab Februar 2005 für neue Fahrzeuge möglich sein. Zweitens. Darüber hinaus soll der neue Frontspiegel, wie in der Richtlinie vereinbart, durch die deutschen Fahrzeughersteller ebenfalls ein Jahr früher zur Verfügung stehen. Drittens. Wir wollen die Nachrüstung - die ist in der EU-Richtlinie leider gar nicht geregelt - regeln. Es hat eine Vereinbarung des Ministeriums mit der Fahrzeugindustrie gegeben. Für die jeweiligen Fahrzeugtypen werden geeignete Austauschspiegelgläser mit stärkerer Krümmung und größeren Sichtfeldern zum Einbau in die vorhandenen Spiegelgehäuse hergestellt. Sie sehen - das sollten wir auch den besorgten Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam deutlich machen -: Verkehrssicherheit ist ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung und die nationalen Initiativen, aber auch die europäischen Regelungen sind auf Verbesserung ausgerichtet. Ich warne vor scheinbar einfachen Lösungen und gar vor der Unterstellung, diese würden blockiert. Nachhaltige Lösungen sind meist etwas kompliziert, was uns jedoch nicht abhalten kann. Wenn einfache Teillösungen möglich sind, wie der in den Niederlanden verwendete Dobli-Spiegel, so können diese selbstverständlich genutzt werden. Keiner verbietet sie. Allerdings wird ein Dobli-Spiegel nicht in der StVZO vorgeschrieben werden. Das ist auch in den Niederlanden nicht der Fall. Zum Schluss: Ich danke ausdrücklich der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke für die intensiven Vorarbeiten mit der deutschen Fahrzeugindustrie und für das Vorziehen der EU-Richtlinie. Mit diesen Grundlagen müssen wir ganz schnell politisch dafür sorgen, dass die Veränderung der StVZO auf den Weg gebracht wird. Auch die fakultativen Möglichkeiten eines Dobli-Spiegels werden wir klären. Es liegt jedoch an den Ländern, im Bundesrat die Veränderung der StVZO zügig durchzuwinken. Das Signal der heutigen Debatte muss sein: Wir sind uns einig in dem Ziel für mehr Verkehrssicherheit. Ich bin mir sicher, dass wir uns auch ganz schnell über das Wie einig werden. Wichtig ist jedoch bei allem das öffentliche Bewusstsein; das hat der Kollege Friedrich bereits angesprochen. Die persönliche Vorsicht und Voraussicht jedes einzelnen Verkehrsteilnehmers, ob LKW- oder Fahrradfahrer, sind ebenfalls wichtig. Sie können auch durch noch so gute technische Möglichkeiten und viele Spiegel nicht ersetzt werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2823 an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags - Regionale und interregionale Zusammenarbeit - Schaffung von Eurodistrikten - Drucksache 15/1111 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Die Redebeiträge zu dieser Debatte sollen zu Protokoll genommen werden. Die Rede des Staatsministers Hans Martin Bury ist zu Protokoll gegeben worden. Von der CDU/CSU haben Dr. Andreas Schockenhoff und Gunther Krichbaum, vom Bündnis 90/Die Grünen Anna Lührmann und von der FDP Sibylle Laurischk ihre Reden zu Protokoll gegeben. Eine Aussprache findet nicht statt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1111 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. April 2004, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.