Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Ergebnisse der EU-Agrarräte am 21./22. und 26./27. April 2004 zur Umsetzung
der Agrarreform und zu Tiertransporten.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast. Bitte schön,
Frau Ministerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich berichte über zwei Agrarräte, den aus der letzten und den
aus dieser Woche. Warum haben wir einen Sondertermin
vereinbart? - Das taten wir, weil es uns wichtig war, den
zweiten Schritt der Agrarreform, die im letzten Sommer
in Luxemburg begonnen wurde, vor dem 1. Mai 2004
abzuschließen. Das zweite Reformpaket umfasst die
Produkte Tabak, Hopfen, Baumwolle und Olivenöl. Weil
es gerade diese Produkte, insbesondere die Baumwolle,
beinhaltet, ist es für die laufenden Mercosur- und WTOVerhandlungen von besonderer Bedeutung.
Generell kann man sagen: Es ist uns gelungen, die
auch von Deutschland angestoßene Neuorientierung in
der Agrarpolitik fortzusetzen. Dabei sind uns drei
Punkte wichtig: Erstens. Es wird zu einer Entkoppelung
der Direktzahlungen von der Produktion kommen, was
in der Landwirtschaft zu mehr Marktorientierung führen
wird. Zweitens. Ausgaben und Direktzahlungen, die wir
am Agrarmarkt tätigen, werden wir zum Teil zugunsten
der ländlichen Entwicklung umschichten. Das heißt, es
geht nicht mehr nur um die Agrarproduktion, sondern
auch um Umweltmaßnahmen, Qualitätsmaßnahmen
oder das gemeinsame Management in einem Landkreis.
Drittens. Die Direktzahlungen in diesem Bereich werden
an die Einhaltung von Umwelt- und Qualitätsstandards
gebunden. Das ist eine Verknüpfung, die es bisher nicht
gegeben hat.
Dieser Beschluss ist ein wichtiger Schritt, um die
Glaubwürdigkeit der EU gegenüber der WTO und den
Entwicklungsländern zu sichern. Das gilt insbesondere
für den Bereich der Baumwolle, der für einige Entwicklungsländer in Westafrika eine ganz besondere Rolle
spielt. Ich glaube, durch die Reform beim Tabak konnten
wir auch den Widerspruch zu unserem gesundheitspolitischen Ziel, den Nikotinmissbrauch und seine Folgen zu
begrenzen, etwas auflösen. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass der EU-Haushalt durch dieses Reformpaket
jährlich um circa 100 Millionen Euro entlastet wird.
Nun ein paar Worte zu den einzelnen Marktordnungsund Reformbereichen. Trotz des Widerstandes einiger
Erzeugerländer ist es gelungen, beim Tabak ab dem
Jahr 2010 eine vollständige Entkoppelung der Direktzahlungen von der Produktion durchzusetzen und die direkte Förderung der Erzeuger auf 50 Prozent zu halbieren. Der restliche Teil des bisherigen Prämienvolumens
wird in einen Umstrukturierungsfonds fließen. Dies ist
auch von den Medien als ganz klarer Verhandlungserfolg
bezeichnet worden und bedeutet, dass es keinerlei Anreiz mehr geben wird, Tabak anzubauen. Das ist auf der
einen Seite ein Stück Sicherung, bietet auf der anderen
Seite aber auch die Möglichkeit, in diesen Regionen
durch die Mittel aus dem Umstrukturierungsfonds etwas
Neues aufzubauen; denn wir müssen uns auch über die
dortigen Arbeitsplätze Gedanken machen.
Ich gehe davon aus, dass es insbesondere bei kleinen
Erzeugern angesichts der enormen Arbeitsintensität des
Tabakanbaus relativ schnell zu einer Einstellung der Tabakproduktion und zu einer Neuorientierung kommen
wird. Gemeinsam mit den Bundesländern, die betroffen
sind, werden wir jetzt überlegen, wie wir unsere Spielräume bei der Umsetzung der Reform konkret nutzen
können.
Beim Hopfen ist es uns gelungen, die deutschen Anliegen vollständig durchzusetzen: 75 Prozent der Fördermittel werden von der Produktion entkoppelt. Wir haben
Redetext
darüber hinaus die Möglichkeit, 25 Prozent des Mittelvolumens direkt an die Erzeugergemeinschaften zu geben. Mit den Erzeugergemeinschaften haben sich die
Hopfenanbauer eine gemeinsame Agentur geschaffen,
die sich Gedanken macht über Qualitätssicherung, Forschung und Marktstabilisierung. Ich bin froh, dass die
Kommission das abgesichert hat und sich auch bereit gezeigt hat, gerodete Hopfenflächen einzubeziehen.
Die Baumwolle war ein Punkt, bei dem Deutschland
sehr gedrängt hat, weil wir wissen, dass die westafrikanischen Länder hierauf besonderen Wert legen. Wir haben
es geschafft, durchzusetzen, dass 65 Prozent des Fördervolumens von der Produktion entkoppelt werden. Mehr
ging nicht, weil die Kommission bzw. der Legal Service,
ihre Rechtsberatung, gesagt hat, dass die Beitrittsverträge Griechenlands und Spaniens dem entgegenstehende Regeln vorsehen. Insgesamt ist es aber so, dass
die Handelsverzerrung großteils aufgehoben worden ist.
Ich glaube, die Entwicklungsländer werden den Entkoppelungssatz von 65 Prozent als positives Signal werten,
gerade auch mit Blick auf die Auseinandersetzung mit
den USA bei der WTO.
Beim Olivenöl haben wir versucht, mehr als
60 Prozent des Fördervolumens von der Produktion zu
entkoppeln. Das ist am Widerstand der südlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gescheitert. Wir
haben aber klar gemacht, dass die Interessen zum Beispiel Spaniens, das eine Erhöhung des nationalen Mittelplafonds wollte, von uns nicht mitgetragen werden.
Ich muss noch auf einen anderen Punkt kommen, den
Schutz der Tiere beim Transport. Ich weiß, dass hier im
Bundestag, im Bundesrat, im Europäischen Parlament
und an vielen anderen Orten intensivste Debatten über
die Novelle der Tiertransportrichtlinie stattgefunden haben. Viele - auch wir - haben an dieser Stelle eine Achtstundenbegrenzung gefordert. Es ging in diesem Zusammenhang auch um viele andere Detailmaßnahmen, zum
Beispiel eine obligatorische Anwesenheit von Tierärzten
beim Beladen der Fahrzeuge. Diese sollte sicherstellen,
dass schwache und kranke Tiere gar nicht erst auf einen
mehrstündigen oder gar mehrtägigen Tiertransport geschickt werden; das schien uns die Minimalforderung zu
sein. Der Kompromissvorschlag, der hier vorgestern
Nacht zur Diskussion stand, sah folgende Regelung vor:
Es wurden Transportzyklen - fahren, Ruhezeit; fahren,
Ruhezeit - vorgesehen. Der Fortschritt lag nur in der
Einrichtung einer Ruhezeit; die Wiederholbarkeit dieser
Transportzyklen war jedoch unbegrenzt, sowohl für
Schlacht- als auch für Nutztiere.
Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben, dass es
eine absolute Begrenzung der Transportzeit für
Schlachttiere geben muss; das wurde auch von vielen anderen gefordert. Wir haben uns für eine Differenzierung
zwischen Schlacht- und Zuchttieren eingesetzt und hoffen, darüber zu einer Regelung zu kommen. Der Vorschlag, der dann gemacht wurde, sah aber nicht nur eine
unbegrenzte Wiederholbarkeit der Transportzyklen vor,
sondern auch die Möglichkeit, dass Schlachttiere bis zu
40 Stunden und Zuchttiere sogar bis zu 50 Stunden auf
dem Fahrzeug verbleiben. Das war für uns indiskutabel.
Deshalb haben wir zusammen mit anderen Ländern klar
gemacht, dass wir das nicht als eine Verbesserung des
Tierschutzes ansehen.
Es ist klar, dass dieser Punkt unter der irischen Präsidentschaft bis Juni dieses Jahres nicht weiter verfolgt
wird. Ich sehe im Augenblick nicht, wann eine andere
Präsidentschaft dieses Thema wieder aufgreift.
Das war mein Überblick.
Vielen Dank, Frau Künast.
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, über den soeben berichtet worden ist. Ich habe
bereits eine Reihe von Wortmeldungen vorliegen. Als
erstem Fragesteller gebe ich das Wort dem Kollegen
Hans-Michael Goldmann.
Sehr verehrte Frau Ministerin, herzlichen Dank für
den Überblick. Sie haben zu Recht von dem so genannten zweiten Schritt gesprochen, aber wir sind ja noch
beim ersten Schritt, der Ausgestaltung der Neuordnung
im Bereich der Landwirtschaft. Sie wissen, dass wir
nicht mit allen Punkten einverstanden sind. Deswegen
werden wir uns noch im Bundesrat damit beschäftigen
und im Vermittlungsausschuss hoffentlich zu einem guten Ergebnis kommen.
Die Grundidee, die Sie auch mit dem zweiten Schritt
erkämpft haben, halten wir für richtig: mehr Marktorientierung und weg von der Hilfe für Produktion, stattdessen die Entkoppelung der Förderung von der Produktion.
Ich habe dazu allerdings zwei meiner Meinung nach sehr
wichtige Fragen.
Der erste Bereich, den ich ansprechen will, betrifft
den Tabak. Der Tabakanbau ist in einigen Bundesländern
ein ernst zu nehmender Wirtschaftszweig, insbesondere
in Rheinland-Pfalz. Sie sprachen davon, dass es in Ihrer
Linie liegt, den Nikotinmissbrauch einzuschränken. Sie
mussten allerdings zugeben, dass Kleinerzeuger wahrscheinlich relativ schnell ihre Produktion werden einstellen müssen. Welche Größenordnung wird die Produktionseinstellung Ihrer Meinung nach betragen? Wie viele
Arbeitsplätze wird das in diesem Bereich gefährden?
Wie ist sichergestellt, dass diejenigen, die ihre Produktion einstellen müssen, in den Genuss der Mittel kommen, die für Umstrukturierung zur Verfügung stehen, damit sie die Verluste aus dem Einstellungsprozess - dieser
trifft sie schmerzlich; sie gehen im Grunde genommen
Pleite - auffangen können?
Meine zweite Frage betrifft den Bereich Baumwolle.
Ist meine Einschätzung richtig, dass das Ergebnis zwar
ein kleiner Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit auf dem
Baumwollmarkt ist, dass es aber weit von dem Ansinnen
entfernt ist, das Ihre Ministerkollegin Frau WieczorekZeul bei der Welthandelsrunde in Cancun verfolgt hat?
Herr Goldmann, auf Ihre Frage, wie viele Arbeitsplätze betroffen sind, muss ich Ihnen antworten, dass
man die Zahl nicht konkret beziffern kann. Die Zahlungen betragen bis zu 7 800 Euro pro Hektar. Beim ersten
Reformschritt - 40 Prozent der Beihilfen werden entkoppelt, 60 Prozent sind gekoppelt - können sich die Erzeuger angesichts der Zahlungen in Höhe von
40 Prozent - man kann sich leicht ausrechnen, dass das
kein niedriger Betrag ist - entscheiden, den Tabakanbau
einzustellen und stattdessen in eine andere Produktion
einzusteigen. Später haben sie dann die Möglichkeit,
sich mit 50 Prozent der bisherigen Zahlungen auf eine
andere Produktion zu konzentrieren. Ab 2010 gibt es
dann den Umstrukturierungsfonds. Zu diesem Zeitpunkt
erwarten wir größere Veränderungen. Er hilft uns, in den
entsprechenden Regionen den strukturellen Neuaufbau
durch Investitionen usw. zu unterstützen.
Wir können im Augenblick nicht genau einschätzen,
wie sich die einzelnen Tabakanbauer aufgrund dieses Ergebnisses entscheiden werden. Wir gehen davon aus,
dass eine größere Anzahl der Kleinerzeuger angesichts
der Arbeitsintensität und angesichts 40 Prozent entkoppelter Prämie, die man in etwas Neues investieren kann,
die Entscheidung treffen wird, vielleicht schon im
nächsten oder übernächsten Jahr mit der Tabakproduktion aufzuhören. Ich kann nicht gegenrechnen, wie viele
Arbeitsplätze entstehen werden, wenn jemand etwas
Neues anfängt und wenn der Umstrukturierungsfonds
nutzbar ist. Tatsache aber ist: Die Landwirte sind so meines Erachtens halbwegs abgesichert.
Man muss in diesem Zusammenhang aber auch die
gesundheitlichen Folgen des Tabakkonsums berücksichtigen. In der Bundesrepublik gibt es pro Jahr etwa
100 000 bzw. pro Tag gut 300 tabakbedingte Todesfälle.
Das heißt: Am heutigen Tag sterben in Deutschland etwa
300 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Man
kann natürlich, wie ich glaube zum Teil zu Recht, sagen,
der Tabak komme dann aus anderen Teilen der Welt. Ich
gebe zu, dass das Tabakproblem noch nicht gelöst ist.
Wir brauchen noch viel an Jugendarbeit und Aufklärung.
Es kann meines Erachtens aber nicht sein, dass wir mehrere Tausend Euro pro Hektar im Jahr für die Tabakproduktion ausgeben, wissend, dass 300 Menschen in
Deutschland pro Tag an den Folgen des Tabakkonsums
sterben. Es ist unsere Verpflichtung, die Tabakerzeuger
beim Aufbau von etwas Neuem zu unterstützen. Deshalb
haben wir den Umstrukturierungsfonds eingerichtet und
deshalb unternehmen wir viele andere Maßnahmen, zum
Beispiel im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe. Wir
geben Auskunft, was wir im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe fördern und wie sich die Fördermöglichkeiten für den ländlichen Raum ab Januar 2006 auf europäischer Ebene verändern. Wir haben uns darauf
vorbereitet, das zu verändern, weil wir wussten, dass
diese Reformschritte kommen werden, wenn wir uns
halbwegs klug anstellen.
Ich komme noch auf Ihre Frage zum Bereich Baumwolle zu sprechen. Ich glaube nicht, dass das nur ein
kleiner Schritt ist; es ist vielmehr ein unentbehrlicher
Schritt, um auf internationaler Ebene weiterzukommen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul und ich hätten gerne mehr
erreicht. Aber so ist das im Leben: Wenn man mit
14 anderen Agrarministern zusammensitzt, von denen
einige an ihrer Meinung festhalten, dann müssen Sie
zusehen, wie weit sie kommen können. Wir haben bis
in die Morgenstunden verhandelt und sind im Ergebnis
zu einer Entkoppelung von 65 Prozent gekommen. Die
Rechtsberater der Kommission haben gesagt, mehr gehe
nicht, weil Griechenland und Spanien im Beitragspassus zugesagt worden ist, dass es auch in Zukunft eine
kostendeckende Subventionierung des Baumwollanbaus gibt. In solchen Nächten entdeckt man immer die
Kuriositäten auf dem Weg zur Weiterentwicklung der
Europäischen Union. Das steht aber nun einmal im Beitrittstext.
({0})
Ich glaube, wenn man die Möglichkeiten ganz ausschöpfen will, muss man so kess sein, noch mehr zu fordern.
Auch die Kommission ist offensichtlich der Meinung,
dass das, was wir jetzt vereinbart haben, legal ist. Nach
meinem Kenntnisstand sind die westafrikanischen Länder ganz froh über eine solch hohe Entkoppelung. Sie
sehen dies als positives Zeichen; so ist das bei uns zumindest immer angekommen. Jetzt geht es mit den anderen Reformschritten weiter.
Heute Abend treffe ich den Landwirtschaftsminister
von Burkina Faso. Ich erwarte, dass er das als einen
positiven Schritt ansieht. Sie wissen, dass es sich um
einen Prozess, eine sich entwickelnde Arbeit handelt.
Viel wird davon abhängen, wie sich die Gespräche zwischen der EU und Mercosur entwickeln, die wiederum
Auswirkungen auf die nächsten WTO-Gespräche haben werden.
Auf eines will ich aus aktuellem Anlass hinweisen:
Im Rahmen des WTO-Verfahrens haben einige Gutachter Brasilien und nicht den USA - es ging um die
Baumwolle - Recht gegeben. Das ist ein erster Teilsieg
Brasiliens, das die US-Regeln für stark handelsverzerrend hält und sagt, dass sie verändert werden müssen. In
diesem Zusammenhang hat Europa zu einem historisch
gesehen guten Zeitpunkt gezeigt, dass es hier offener
und weiter ist. Es mag sein, dass wir darüber bei den Gesprächen mit Mercosur und auch später mit anderen Ländern in gute Verhandlungen zum gegenseitigen Vorteil
eintreten werden.
Das Fragerecht geht jetzt an die Kollegin Cornelia
Behm.
Frau Ministerin, die Umsetzung der EU-Agrarreform
hat eine ganze Reihe von Besorgnissen auf verschiedenen Seiten hervorgerufen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie uns den Zeitplan der Umsetzung einmal kurz darstellen könnten.
Manche stellen sich die Frage, welche Bedeutung der
zweite Teil des Reformpakets angesichts der Tatsache
hat, dass es bereits ein im letzten Jahr eingeleitetes parlamentarisches Verfahren gibt, welches sich auf Getreide,
Obst, Gemüse und Fleisch - insbesondere Rindfleisch bezieht.
Heute findet eine Besprechung auf der Ebene der Abteilungsleiter des Bundes und der Länder statt, um die
vorgestern Nacht in Luxemburg gefassten Beschlüsse
auszuwerten. Gemeinsam mit den Ländern soll überlegt
werden, wie wir diese in nationales Recht umsetzen können, damit wir sie direkt an das Reformpaket I, welches
sich in der Beratung befindet, anhängen können.
Zu diesem Bereich wollen wir am 7. Mai 2004 die
erste Lesung im Bundestag durchführen. Am 14. Mai
2004 soll der Bundesrat einen Beschluss zum ersten
Reformteil fassen. Ich gehe davon aus, dass es dort zu
einer Anrufung des Vermittlungsausschusses kommen
wird.
Danach wird es zur Ergänzung des laufenden Gesetzgebungsverfahrens bezüglich des zweiten Teils des
Reformpakets kommen, wobei es um Tabak und Hopfen
geht. Ich stelle mir vor, dass wir die zweite und dritte
Lesung im Bundestag am Freitag, den 28. Mai 2004,
durchführen werden, sodass am 11. Juni 2004 im Bundesrat darüber abgestimmt werden kann. Dieser Termin
liegt bekanntlich hinreichend vor dem 1. August 2004.
Die nächste Frage hat die Kollegin Ulrike Höfken.
Sehr geehrte Frau Ministerin, wir haben den Berichten entnommen, dass es aufgrund der GAP-IIBeschlüsse auch zu Einsparungen kommt. Das ist keine
schlechte Meldung. Ich bitte Sie, dies konkret zu erläutern und vielleicht auch darzulegen, was das im Hinblick
auf Deutschlands Position als Nettozahler bedeutet.
Zu den erwarteten Einsparungen ist Folgendes zu
sagen: Durch die in der letzten Woche gefassten Beschlüsse bezüglich der Marktordnung werden mit
Sicherheit fast 60 Millionen Euro eingespart. Diesen Betrag wird die EU jedes Jahr einsparen. Wir schätzen - so
auch das BMF -, dass wir daneben ungefähr
100 Millionen Euro jährlich einsparen, weil einige im
Bereich des Tabaks Tätige aufgeben werden.
Ich will das erklären: Wenn viele Tabakbauern aufgeben und die gekoppelte Subvention nicht in Anspruch
genommen wird, passiert das, was auch in anderen
Marktordnungen geschieht: Es kommt zu einer Einsparung.
Ich glaube wir haben insgesamt ein akzeptables Paket
mit geeigneten Übergangszeiten für die Betroffenen geschnürt. Diese haben die Möglichkeit, noch ein paar
Jahre weiterzuproduzieren und erst dann den Anbau umzustellen. Auf der anderen Seite müssen wir den ab 2006
gültigen Finanzrahmen für die Europäische Union diskutieren. Auf der Grundlage der Lissabon-Strategie wollen wir im Bereich Bildung und Forschung mehr Mittel
bereitstellen. Es ist immer klüger, seinen Beitrag - das
gilt auch im Agrarbereich - selber zu strukturieren, als
ihn strukturieren zu lassen. Dies wird auch fachlich zu
einem besseren Ergebnis führen.
Die Einsparungen wirken sich insgesamt so aus, dass
sich der Beitrag Deutschlands für das nächste Jahr immer um ein Viertel reduziert. Dieser Beitrag wird bleiben. Die Antwort auf die Frage, wohin die Gelder, so
wie sie jetzt über die Marktordnung verteilt werden, fließen, lautet, dass es für Deutschland als dem größten Nettozahler keine größeren Belastungen gibt.
Die nächste Frage hat der Kollege Friedrich
Ostendorff.
Frau Ministerin, durch die Reformbeschlüsse in Luxemburg im letzten Jahr und den vor ein paar Tagen ist
die Agrarreform so weit gekommen, wie es von uns
kaum jemand für möglich gehalten hätte. Ich denke, das
hat mit Ihrem unermüdlichen Einsatz zu tun.
Im Kontext der bevorstehenden WTO-Verhandlungen
frage ich Sie: Welche Bedeutung messen Sie der Agrarreform für die WTO-Verhandlungen und auch die Verhandlungen mit den Mercosur-Staaten bei?
Ich habe eine weitere Frage. Sie haben vorhin zum
Tiertransportrecht und zur Dauer von Tiertransporten
Ausführungen gemacht. Uns interessiert: Welche Staaten
teilen die deutsche Auffassung? Wie kommen wir hier
aus Ihrer Sicht weiter?
Es ist klar, dass für die Mercosur- und die WTO-Verhandlungen bestimmte Zeitvorstellungen gelten. Die
Verhandlungen der EU mit den vier südamerikanischen
Ländern sollen im Oktober dieses Jahres abgeschlossen
sein. Zum jetzigen Zeitpunkt finden Gespräche zwischen
der EU und den Mercosur-Staaten in Buenos Aires statt;
Kommissar Fischler ist vor Ort. Es wird erwartet, dass in
Kürze beide Seiten bezifferte Angebote und konkrete
Vorstellungen für den Agrarbereich vorlegen werden.
Die EU will mit ihrer Verhandlungsstrategie dafür
sorgen, dass wir als Ergebnis der Mercosur-Verhandlungen und der Doha-Runde nicht zweimal bezahlen müssen: das erste Mal bei den Verhandlungen mit den vier
südamerikanischen Ländern und das zweite Mal bei den
WTO-Verhandlungen, die nicht wieder bei null anfangen
dürfen. Vielmehr muss beides sinnvoll miteinander verknüpft werden; das möchte ich einmal so im Raum stehen lassen. Umgekehrt werden bei den MercosurBundesministerin Renate Künast
Verhandlungen Zugeständnisse außerhalb des Agrarbereichs erwartet.
In den WTO-Verhandlungen ist die Position der EU
sicherlich besser als die anderer Ländergruppen wie der
G 20, also der großen Gruppe der Entwicklungsländer,
angeführt von Indien und Brasilien. Wir können mit Fug
und Recht sagen: Die EU hat ihre Hausaufgaben gemacht. In den Verhandlungen besitzen wir sehr viel
Spielraum. Hinsichtlich der Deckelungen der Mittel in
den Kategorien Amber Box und Blue Box sind wir gut
aufgestellt; denn durch die Entkoppelungen haben wir
Marktverzerrungen abgebaut und beseitigt. Diese Regelungen, die scharf verteidigt werden, wurden ebenso bei
den Förderungen der Green Box angewendet; das wissen
auch die anderen Länder.
Die Überproduktion ist zurückgegangen. Dies gibt
anderen Ländern verstärkt Absatzmöglichkeiten, zum
Beispiel im Bereich Rindfleisch. Unser Ziel ist nicht, mit
Nahrungsmittelhilfen Überschüsse zu produzieren. Das
macht die EU schon lange nicht mehr. Andere große
Agrarproduzenten sind aber noch nicht so weit.
Auf WTO-Ebene gibt es eine Vielzahl laufender bilateraler Gespräche, in denen es darum geht, Marktzugänge klarer darzustellen und deutlich zu machen, wer
was leisten kann. Dabei müssen wir auch die Interessen
der AKP-Staaten beim Export von Zucker berücksichtigen. Unsere Hoffnung ist, dass sich Fortschritte in den
Mercosur-Verhandlungen auf die WTO-Verhandlungen
auswirken werden.
Sie hatten noch nach dem Schutz der Tiere beim
Transport gefragt. Insbesondere die nördlichen Länder
hatten ein großes Interesse daran, zu wirklichen Tierschutzregelungen zu kommen. Das waren Schweden,
Dänemark, das Vereinigte Königreich und die Beneluxländer. Hinzu kommt Portugal, das seine Position geändert hat. Die Mittelmeerländer Griechenland, Spanien
und Italien haben es aber geschafft, für ihre Position etwas mehr als 26 Stimmen zu erhalten, was die so genannte blockierende Minderheit ist. Dagegen konnten
wir nichts machen. Anderenfalls hätten wir diesen Ländern so weit entgegenkommen müssen, dass das nicht
guten Gewissens als Verbesserung des Tierschutzes hätte
bezeichnet werden können.
Die nächste Frage hat der Kollege Manfred Zöllmer
von der SPD-Fraktion.
Frau Ministerin, die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU ist - das zeigen die jetzigen Verhandlungsergebnisse - eine Erfolgsgeschichte für Sie und die
Bundesregierung insgesamt. Dies wird aus meiner Sicht
auch dadurch deutlich, dass Herr Miller zum Äußersten
gegriffen und Sie ausdrücklich für das Verhandlungsergebnis zum Hopfen gelobt hat.
({0})
Etwas Vergleichbares hat es nach meiner Kenntnis bisher überhaupt noch nicht gegeben.
Für viele Produkte sind die Verhandlungen erfolgreich zum Abschluss gebracht worden. Aus deutscher
Sicht bleibt noch ein Bereich, der für uns ganz wichtig
ist und für den es noch keine Marktordnung gibt: Das ist
der Zucker.
({1})
Wie ist da der Stand der Verhandlungen? Welche Perspektiven sehen Sie und wann rechnen Sie für den Bereich des Zuckers mit einem Ergebnis?
Es ist schön, Herr Zöllmer, dass Sie die Erfolgsgeschichte herausgestellt haben. Jemand von der FDP
hat dazwischengerufen: Wer ist Herr Miller? - Herr
Miller ist der Agrarminister von Bayern. Ich werde den
Tag wegen dieses Lobes aus Bayern in meinem Kalender
dick rot anstreichen.
({0})
Dabei ist anzumerken, dass sogar die Rodungsflächen
einbezogen sind, die die Kommission bisher herausgerechnet hatte. Der Bereich Hopfen war zu 100 Prozent
ein Erfolg. Jetzt müssen wir nur noch dafür Sorge tragen,
dass das Bier auch getrunken wird, sonst hat das Ganze
seinen Sinn verfehlt. Im Augenblick ist die Entwicklung
etwas gegenläufig.
Sie haben den Zucker angesprochen. Die ganze Reform wurde aufgesplittet. Ich finde, das war taktisch
klug, weil wir so zu großen Reformschritten gekommen
sind. Wir haben im letzten Jahr über Marktordnungen
diskutiert und entschieden. Ich nenne als Beispiele
Getreide, Obst, Gemüse und Rindfleisch. Es lag im Interesse der nördlichen Länder, mit der Entkoppelung die
Wand zu durchstoßen und ein neues System einzuführen.
Deshalb sind wir dieses Mal in zwei Tagen zu einem
Verhandlungsergebnis gekommen, wohingegen wir im
letzten Jahr noch eine vierwöchige Präsenz in Luxemburg zeigen mussten. Die jetzige Verhandlung war bei
weitem menschenfreundlicher.
Jetzt haben wir den zweiten Schritt gemacht, aber es
fehlt der Bereich Zucker. Der zuständige Kommissar hat
angedeutet, dass es zur Zuckermarktordnung von ihm
ein weiteres Papier im Juni dieses Jahres geben werde.
Ich bin unsicher, ob dem tatsächlich so sein wird, weil
jeder Vorschlag zunächst einige Monate in die Warteschleife geschickt würde. Denn es gibt die EP-Wahlen,
die Neukonstituierung des Europäischen Parlaments und
die Bildung einer neuen Kommission, was bis zum
November dauern wird. Damit haben wir einen Arbeitsstillstand, weil niemand verhandeln und Mehrheiten für
diesen Bereich erhalten kann. Daher habe ich Zweifel,
ob es in diesem Jahr diesbezüglich Entscheidungen geben wird. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage,
ob das nicht bestens zu dem Zeitplan der WTO-Verhandlungen passt.
Die nächste Frage hat die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan.
Frau Ministerin, im Agrarrat sind noch weitere Themen verhandelt worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Frage der Genehmigung des In-VerkehrBringens von Bt-11-Mais ansprechen. Derzeit werden
weltweit auf mehreren hunderttausend Hektar verschiedene Sorten Bt-Mais angebaut. Sie selbst haben kürzlich
im Ausschuss festgestellt, dass nicht von einer gesundheitlichen Gefährdung durch gentechnisch veränderte
Pflanzen auszugehen ist. Ich frage Sie, aufgrund welcher
konkreten Vorgänge Sie die allergologischen und toxikologischen Fragen für noch nicht geklärt halten und warum Sie sich der Stimme enthalten haben, statt dagegen
zu stimmen, wenn es tatsächlich Gefährdungen geben
sollte.
Ich habe noch eine zweite Frage. Wir stehen kurz vor
der EU-Osterweiterung, durch die sich der gemeinsame
Binnenmarkt vergrößern wird. Gleichwohl ist keine
Einigung über Tiertransporte erfolgt. Woran ist dies konkret gescheitert und wie groß ist die Chance, baldmöglichst eine Einigung zu erzielen, damit wir auch hinsichtlich der Tiertransporte auf die EU-Osterweiterung
vorbereitet sind?
Was die Frage des In-Verkehr-Bringens von gentechnisch verändertem Mais angeht, ist vorgestern in der Abstimmung des Rates weder eine qualifizierte Mehrheit
dafür noch eine dagegen zustande gekommen, sodass
nach dem so genannten Komitologieverfahren jetzt die
Kommission entscheiden kann, ob sie eine entsprechende Regelung erlässt. In der Abstimmung im Rat haben das Vereinigte Königreich, Irland, Italien, Schweden
und Finnland mit Ja und Dänemark, Griechenland,
Frankreich, Österreich, Portugal und Luxemburg mit
Nein gestimmt. Enthalten haben sich Belgien, Deutschland und - das ist bei den Enthaltungen ein Novum Spanien. Spanien wurde bisher gerne als Land angeführt,
das schon gentechnisch veränderten Mais anbaut, ohne
dass sich daraus Probleme ergeben. Sie sehen mir sicherlich nach, dass ich in diesem Zusammenhang darauf hinweise, dass sich Positionen auch verändern können.
Wissenschaftler aus Frankreich und Österreich haben
Bedenken in toxikologischer und allergologischer Hinsicht geäußert. Wissenschaftler aus meinem Ministerium
nachgeordneten Behörden halten aufgrund des Vorsorgeprinzips weitere Prüfungen für notwendig. Im Rahmen
der Ressortabstimmung ist festgestellt worden, dass sich
nicht alle Ressorts diese wissenschaftliche Auffassung
zu Eigen machen. Auf diese Weise ist die Enthaltung zustande gekommen.
Die andere Frage bezog sich auf die weitere Regelung
der Tiertransporte in der EU der 25. Wir haben uns, wie
gesagt, in der extrem misslichen Lage befunden, angesichts der Tiertransporte über endlos lange Strecken und
der fehlenden Kontrollen zu Verbesserungen kommen zu
müssen. Deshalb wurde eine zeitliche Begrenzung angestrebt. Das Europäische Parlament wie auch der Bundesrat haben eine Begrenzung auf acht Stunden vorgeschlagen. Auch viele andere Möglichkeiten sind diskutiert
worden. Dabei ist der Vorschlag herausgekommen, eine
Regelung auf der Grundlage von neun Stunden Transportzeit in Verbindung mit jeweils 2, 12 und 24 Stunden
Ruhezeit zu schaffen. Eine Entladung sollte erst nach
Ablauf eines solchen Turnusses stattfinden. Das heißt,
während des Transports stünden die Tiere bis zu
40 Stunden.
Sie weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
die Schweine liegen würden. Aber der derzeit in der Diskussion befindliche Vorschlag zur Ladedichte bleibt hinter dem Vorschlag der Kommission zurück. Nunmehr
geht es um den Vorschlag der Präsidentschaft vom
18. März, in dem die Ladedichte so verändert worden ist,
dass die Tiere nicht liegen können. Sie müssten den
Transport deshalb im Stehen verbringen. Ihnen ist aus
den Medien sicherlich bekannt, welcher Anblick sich
unter solchen Bedingungen in einem Transportfahrzeug
bietet. Bei der vorgesehenen Regelung von neun Stunden Transportzeit mit jeweils 2, 12 und 24 Stunden Ruhezeit war im Übrigen keine zeitliche Begrenzung vorgesehen. Nach einer Unterbrechung sollte der Turnus
wieder von vorne beginnen.
Auch bei der Ladedichte sollte es, wie gesagt, eine
Verschlechterung geben. Als ich darauf hingewiesen
habe, dass sich die Tiere auch hinlegen müssen, haben
mir einige entgegengehalten, dass es auch ökonomische
Aspekte zu bedenken gebe. Es sah nach allem aus, nur
nicht danach, die blockierende Minderheit dazu zu bewegen, dass sie ihre Position aufgibt. Wir haben wirklich
lange verhandelt, viele Versuche unternommen und auch
viele Gespräche mit anderen Delegationen geführt, und
zwar auch in dem Wissen um das, was Sie, Frau
Happach-Kasan, angesprochen haben, nämlich dass eine
Einigung in einer EU der 25 definitiv nicht einfacher zu
erreichen sein wird; denn es wird sicherlich das wirtschaftliche Interesse bestehen, lebende Tiere vom nordöstlichen Rand bis weit in den Süden der EU zu transportieren. Trotz alledem waren die Gegensätze nicht
auflösbar. Ich bin keinen Millimeter der Behauptung gefolgt, das, was vorgeschlagen worden ist, sei Tierschutz
und dieses Kapitel könne deshalb für die nächsten zehn
Jahre geschlossen werden. Das war mit mir nicht zu machen.
Wie geht es nun weiter? Die Niederlande, die im
zweiten Halbjahr dieses Jahres die Präsidentschaft innehaben werden, haben schon signalisiert, dass sie das
Thema nicht aufgreifen werden; denn die Niederländer
glauben, dass sie als kleines Land, das an dieser Stelle
auch eigene Interessen hat, nicht in der Lage sein werden, Mehrheiten herzustellen. Sie werden andere
Schwerpunkte setzen. Wir werden jetzt in Ruhe auch mit
den nördlichen Ländern darüber reden müssen, ob und,
wenn ja, wie man das in den nächsten Jahren wieder aufgreifen kann oder ob es Sinn macht, das Ganze in Einzelteile zu zerlegen, zum Beispiel einen Teil nur auf Anwesenheit und obligatorische Kontrollen beim Beladen
zu beschränken, um so zu erreichen, dass zumindest die
Gruppe der schwachen bzw. der kranken Tiere erst gar
nicht der Tortur eines Transportes ausgesetzt wird. Vielleicht kann man hier eher eine Mehrheit erreichen als bei
der Zeitbegrenzung.
Die letzte Frage zu diesem Themenbereich hat der
Kollege Norbert Schindler.
Frau Ministerin, nachdem Sie so viel Lob von der anderen Seite bekommen haben, möchte ich eine Klarstellung zur Tabakordnung vornehmen und dazu meine erste
Frage stellen. Ich stelle fest, dass der Beschluss bedeutet:
Tabakanbau in Deutschland wird vom Jahr 2010 an im
jetzigen Umfang nicht mehr stattfinden, wahrscheinlich
gar nicht mehr. Das ist eine traurige Bilanz. Natürlich
können Sie in Blau und Weiß in Ihrem Kalender vermerken, dass Sie aus Bayern für das, was Sie im Bereich des
Hopfens erreicht haben, gelobt worden sind. Das sei
Ihnen gegönnt. Aber beim Tabak verhält es sich anders.
Natürlich habe ich noch die Hoffnung, dass wir in
drei, vier Jahren auch im EU-Ministerrat erneut darüber
verhandeln werden und dass Deutschland dann in der
Tabakfrage eine andere Position einnehmen wird als
jetzt. Meine konkrete Frage an Sie, Frau Ministerin, lautet: Wie soll die Entkopplung von 40 Prozent bis 2010
gestaltet werden? Könnte man sich hier auf das Modell
beziehen, über das wir derzeit im Zusammenhang mit
anderen Produktbereichen diskutieren und das sich an
betriebsindividuellen Aspekten orientiert, oder gibt es
andere Vorschläge? Was können die betroffenen Betriebe vom Jahr 2010 an erwarten? Die Bauern glauben
ja den Beschlüssen der Politik nicht mehr. Wenn man bedenkt, dass die Agenda 2000 bereits nach drei Jahren
revidiert worden ist, dann ist die Frage durchaus berechtigt, ob solche längerfristigen Beschlüsse überhaupt vertrauenswürdig sind.
Meine andere Frage betrifft den Zuckerbereich. Ich
frage angesichts der Lockerheit, mit der Sie in der Vergangenheit an die Tabakfrage herangegangen sind, in
tiefer Sorge: Wann bezieht die Bundesregierung endlich
Position zugunsten der deutschen Zuckerrübenerzeuger
und der Zuckerrübenfabriken im nach- und vorgelagerten Bereich und wartet nicht nur ab, bis Herr Fischler
oder die neue Kommission einen Vorschlag macht? Hier
geht es auch darum, die deutschen Interessen einmal zu
artikulieren. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Zum Zucker: Wir meinen zu den bisherigen Vorschlägen von Herrn Fischler - auch wir haben über viele Details diskutiert -, dass die Option II eine gute Ausgangsposition ist. Herr Schindler, ich weiß natürlich, dass wir
hinsichtlich der Richtung der Reformschritte schlicht
und einfach gänzlich unterschiedliche Auffassungen haben. Insofern geht es nicht darum, wann die Bundesregierung Position bezieht, sondern darum, dass wir einfach nicht die Position einnehmen, die Sie gerne hätten.
Damit bin ich beim Tabak. Sie gehen davon aus, dass
die Bundesregierung in drei Jahren anders reden wird.
Ich kann Ihnen garantieren, dass ich in drei Jahren dort
stehen und genau das Gleiche sagen werde.
({0})
- Darum können wir wetten.
({1})
- Wir können es gleich bilateral ausmachen. Es kann eigentlich nur um guten deutschen Wein gehen.
({2})
Da wir uns in der Spargelzeit befinden, sollte es Weißwein sein. Man muss ja praktisch denken, Herr
Schindler.
({3})
- Okay, 24 Flaschen Riesling Spätlese trocken, so oder
so. Wahrscheinlich kommen alle Anwesenden mit einem
Gläschen vorbei.
({4})
- Das war eine Einladung.
({5})
- Das gilt, egal was sein wird.
Sie haben gesagt, der Tabakanbau verschwinde ab
2010. Zumindest für mich geht es nicht darum, dass man
sich an einem Produkt festhält; vielmehr müssen wir uns
überlegen, ob wir den Regionen Zeit geben, sich notfalls
umzustellen, und ob wir sie finanziell dabei unterstützen,
an dieser Stelle etwas Neues und anderes aufzubauen.
Denken Sie an die Lissabon-Strategie und an alle Debatten, die wir hier über einen tatsächlichen Subventionsabbau geführt haben! Auch Herr Koch, der so ungefähr Ihrer politischen Richtung zuzuordnen ist, und andere
haben große Dinge gefordert. Es soll sogar Leute geben,
die sagen: Eine Steuererklärung muss - das ist mein Bezug zum Hopfen - auf einen Bierdeckel passen. Das
setzt im Hinblick auf den Tabak zwingend voraus, dass
alle anderen Subventionen abgeschafft werden, damit
man auf einem Bierdeckel eine Steuererklärung machen
kann; sonst würde das nicht funktionieren.
Wenn man so etwas will, dann muss man die Dinge
aber in sich logisch zusammenführen. Deshalb sage ich:
Veränderung bei den Steuern, Subventionsabbau, Geld
für Neues, für Innovationen, für Bildung, Forschung und
Entwicklung, damit kreative Jobs geschaffen werden
und damit sich auf diesem Gebiet etwas entwickelt. Das
ist offensichtlich unser aller Ansinnen. Das heißt nun
einmal auch, dass Sie schauen müssen, ob Sie das, was
da passiert, noch irgendwie politisch legitimieren können. Dazu sage ich: 7 800 Euro pro Hektar sind nicht legitimierbar. Wir geben Steuergelder speziell für den Tabakanbau, während es auf der anderen Seite pro Tag
ungefähr 300 Tote wegen Rauchens gibt. Auch ich kann
diesen Widerspruch auf Dauer nicht begründen. Das
geht nur, wenn man angewandtes Spaltungsirresein
praktiziert, was keiner von uns tun möchte.
Wir kommen also gar nicht darum herum, an dieser
Stelle zu sagen: Wir machen etwas anders, aber immer
mit Übergangszeiten, damit man sich darauf einstellen
kann und damit man eine Chance hat, etwas Neues aufzubauen. Das Gesamtergebnis darf im Verhältnis zu anderem keine grobe Benachteiligung sein.
Die Reformen im Tabakbereich sind für die Bauern
selbst nicht schlecht. Sie sind für die nächste Verarbeitungsstufe vielleicht schlecht, wo man jetzt glaubt, man
könne sich an der Höhe der Prämien sozusagen im Geleitzug nicht immer ganz geschickt andocken. Ich wiederhole: Für die Bauern selbst sind diese Reformen gar
nicht so schlecht. Man muss zwischen beidem schon unterscheiden.
Herr Schindler, zur Umsetzung sage ich klar und definitiv: Es gibt heute eine Sitzung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Abteilungsleiterebene. Dort wird
miteinander geredet. Es gibt zwei ganz unterschiedliche
Modelle: Man kann betriebsbezogen vorgehen und die
Subventionen für den Tabakbereich aufrechterhalten
oder man kann auf die Flächenprämie setzen. Wir wollen
mit den betroffenen Bundesländern darüber diskutieren,
welche Regelung richtig ist. Ich bin dazu voll und ganz
bereit. Ich trete dafür ein, das in Verbindung mit dem
schon laufenden Verfahren zum ersten Reformpaket
ohne Verzögerung zustande zu bringen. Da ich an Verzögerungen kein Interesse habe, können Sie sich vorstellen, dass ich ein für meine Verhältnisse großes Maß an
Kompromissbereitschaft habe.
Gibt es noch Wortmeldungen oder Fragen zu anderen
Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht
der Fall.
Wir kommen zu weiteren, darüber hinausgehenden
Fragen. Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat sich zu
Wort gemeldet.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Frage bezieht
sich auf ein außenpolitisches Thema. Der Bundesregierung ist sicherlich bekannt, dass es ab März sehr viele
Übergriffe auf Kurdinnen und Kurden in der syrischen Provinz Heseki gab. Ich möchte gern wissen, ob
die Bundesregierung und insbesondere das Auswärtige
Amt Möglichkeiten sehen, etwas für die Verbesserung
der Lage der Kurdinnen und Kurden in Syrien zu tun.
Zur Beantwortung steht der Staatsminister Hans
Martin Bury zur Verfügung.
Frau Kollegin, dieses Thema hat in der heutigen Kabinettssitzung der Bundesregierung keine Rolle gespielt.
Wenn das die Antwort war, dann ist diese Frage beantwortet.
({0})
- Frau Lötzsch, eine weitere Frage steht Ihnen nicht zu.
({1})
- Ja, das ist etwas unbefriedigend. Also gewähre ich
Ihnen eine weitere Frage.
Herr Präsident, Sie haben mich freundlicherweise unter „weitere Fragen“ aufgerufen. Ich habe daher auch
nicht nach Themen der heutigen Kabinettssitzung gefragt. Deshalb erwarte ich schon eine Antwort vom
Herrn Staatsminister.
({0})
Herr Bury, wollen Sie sich äußern?
Frau Kollegin, die Befragung der Bundesregierung
bezieht sich im Gegensatz zur Fragestunde im Wesentlichen auf die vorangegangene Kabinettssitzung. Deshalb habe ich Ihnen in dieser Weise geantwortet.
Zur Fragestunde gibt es von Ihnen, glaube ich, keine
entsprechende Frage. Ich bin trotzdem gern bereit, Ihnen
schriftlich Informationen zur Verfügung zu stellen.
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende der Befragung der Bundesregierung.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
- Drucksachen 15/2953, 15/2965 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Ziffer 10
der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen des Kollegen Dietrich Austermann auf:
Wie bewertet die Bundesregierung, dass die sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Wachstumserwartungen nach unten korrigiert haben, und welche haushaltspolitischen Konsequenzen zieht die Bundesregierung
daraus?
Welche Auswirkungen hat die Absenkung der
Wachstumsprognosen auf das zu erwartende Haushaltsdefizit
mit Blick auf die europäischen Stabilitätskriterien?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Diller zur Verfügung. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Austermann, die Wirtschaftsforschungsinstitute teilen die Einschätzung der Bundesregierung, dass sich
Deutschland aus der Stagnation löst. In der Zusammenfassung ist beispielsweise zu lesen - ich zitiere -:
Die deutsche Wirtschaft löst sich langsam aus der
Stagnation. Seit Herbst vergangenen Jahres nehmen
Produktion und Nachfrage wieder zu ... Maßgeblich
für den Produktionsanstieg sind zum einen die Impulse, die - trotz der drastischen Aufwertung des
Euro - vom Aufschwung der Weltwirtschaft ausgehen. Zum anderen kommen mit dem Nachlassen
der Unsicherheiten nicht zuletzt im Gefolge des
Irak-Krieges die Anregungen aus dem expansiven
Kurs der Geldpolitik mehr und mehr zum Tragen;
sie stärken die Konjunktur auch im übrigen Euroraum. Erste Zeichen einer binnenwirtschaftlichen
Erholung zeigen sich in Deutschland bei den Ausrüstungsinvestitionen.
Die Bundesregierung erarbeitet derzeit eine eigene
Konjunkturprognose, die, wie Sie wissen, Grundlage für
die Steuerschätzung sein wird, die Mitte Mai vorgelegt
werden wird. Dabei bewegen wir uns traditionell innerhalb des Prognosespektrums nicht nur der nationalen
Institute - das haben Sie angesprochen -, sondern auch
internationaler Organisationen. Die Gemeinschaftsdiagnose hilft der Bundesregierung bei der eigenen Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Ende dieser Woche werden wir unsere aktualisierte
Konjunkturprognose vorlegen. Mitte Mai erfolgt die
Steuerschätzung. Erst auf Grundlage dieser Daten kann
über mögliche haushaltspolitische Konsequenzen entschieden werden.
Zusatzfragen? - Bitte.
Meine erste Zusatzfrage: Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, dass Kollegen aus der Koalition aufgrund
der wirtschaftlichen Entwicklung, die anders verläuft als
erwartet, inzwischen von der Notwendigkeit eines Haushaltssicherungsgesetzes sprechen? Ich beziehe mich dabei insbesondere auf Aussagen der Kollegin Hermenau
und des Kollegen Schöler. Sie sprechen auch davon, dass
es eine Lücke im Haushalt von mindestens 10 Milliarden
Euro gibt, dies im Zusammenhang mit der Wachstumsentwicklung, aber auch mit weiteren Faktoren. Sind Sie
nicht der Meinung, dass im Hinblick darauf schon jetzt
und nicht erst nach der Steuerschätzung gehandelt werden muss? Die Erfahrung der letzten Jahre ist, dass nach
einer Steuerschätzung jeweils gesagt wird: Jetzt warten
wir auf die nächste Steuerschätzung. - Ich gehe also davon aus, dass im Mai gesagt wird: Wir warten jetzt auf
die Steuerschätzung im November. - Ist es nicht so, dass
aufgrund der eigenen Einschätzung der Kollegen aus der
Koalition eine rasche Entscheidung erforderlich ist und
nicht weiter zugewartet werden kann?
Herr Kollege Austermann, ich habe bei der Bekanntgabe des Bundesbankgewinns darauf hingewiesen - Sie
wissen das aus unserer Diskussion im Haushaltsausschuss -, dass wir durch den deutlich niedrigeren Bundesbankgewinn - statt der traditionell etatisierten
3,5 Milliarden Euro sind es nur 250 Millionen Euro - sozusagen keine stillen Reserven mehr im Haushalt haben.
Deswegen ist sicherlich eine Risikoabschätzung vorzunehmen. Ich kenne die Äußerungen der Kollegin und des
Kollegen aus der Presse, wie Sie auch. Wir werden unsere Entscheidungen Mitte Mai treffen, wenn die Steuerschätzung vorliegt.
Zweite Zusatzfrage.
Ich darf eine weitere Frage stellen. In einem Zeitungsbericht von Anfang dieser Woche heißt es, dass das
Finanzministerium davon ausgeht, dass sich in der Steuerschätzung Steuermindereinnahmen von Bund, Ländern
und Gemeinden in einer Größenordnung von 6 Milliarden Euro manifestieren werden. Können Sie diese Zahl
bestätigen? Wenn ja, führen Sie sie auch auf die Entwicklung zurück, wie sie die Sachverständigen jetzt der
Bundesregierung bestätigt haben?
Herr Kollege Austermann, die endgültigen belastbaren Zahlen können erst dann vorgetragen werden, wenn
die kompletten Erkenntnisse aus den einzelnen Ländern
dem Kreis der Steuerschätzer vorliegen. Das wird in wenigen Wochen, nämlich Mitte Mai, sein.
Eine weitere Frage, diesmal vom Kollegen Jürgen
Koppelin.
Herr Staatssekretär, können Sie Auskunft darüber geben, wie oft die Wirtschaftsforschungsinstitute seit
Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung ihre Prognosen zum Wirtschaftswachstum nach unten korrigieren mussten?
Herr Kollege Koppelin, zunächst einmal ist zu sagen,
dass sie in den ersten Jahren ihre Prognosen nach oben
korrigieren mussten. Erst infolge der weltwirtschaftlichen Entwicklung seit 2001 mussten die Prognosen in
der Tat nach unten korrigiert werden. Gegenwärtig korrigieren sie ihre Prognosen zum Wirtschaftswachstum
wieder nach oben. Um das zu belegen, weise ich auf
folgenden Sachverhalt hin: Die Institute gehen davon
aus, dass wir im laufenden Jahr ein Wirtschaftswachstum von 0,9 Prozent haben werden plus ein aus mehr
Arbeitstagen resultierendes Wirtschaftswachstum von
0,6 Prozentpunkten, sodass es insgesamt 1,5 Prozent
Wirtschaftswachstum sind. Die Differenz zwischen
1,5 und 1,7 Prozent liegt übrigens im Bereich des Prognosefehlers. Dann sagen sie, dass im Jahre 2005 aus
den 0,9 Prozent 1,7 Prozent Wirtschaftswachstum werden. Weil es im nächsten Jahr allerdings einen Arbeitstag
weniger gibt - das hängt damit zusammen, ob Feiertage
aufs Wochenende oder mitten in die Woche fallen -, sind
0,2 Prozentpunkte davon abzuziehen, sodass es nach
ihrer gegenwärtigen Schätzung real auch 1,5 Prozent
Wirtschaftswachstum sein werden.
Herr von Klaeden zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident, die Antworten der Bundesregierung
fallen dermaßen attentistisch und euphemistisch aus und
berücksichtigen in keiner Weise die dramatische Entwicklung insbesondere in Ostdeutschland. Deswegen
beantragen wir, zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde
nach der Fragestunde durchzuführen.
Vielen Dank. Es wird dann eine Aktuelle Stunde zu
diesem Thema nach Abwicklung der Fragestunde geben.
Natürlich können jetzt noch weitere Fragen zu diesem
Punkt gestellt werden. Es hatte sich der Kollege Werner
Kuhn gemeldet.
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, ein differenziertes Bild der Wachstumsprognosen des DIW für die
neuen Bundesländer aufzuzeigen? Seit Jahren stagniert
der Aufholprozess in Ostdeutschland nicht nur, sondern
die Schere zwischen Ost und West geht bezüglich des
Wirtschaftswachstums ja sogar noch weiter auseinander.
Herr Kollege, Sie wissen wie ich, dass im produzierenden Gewerbe in Ostdeutschland erfreuliche Wachstumsraten zu verzeichnen waren und sind, dass aber die
Gesamtentwicklung in Ostdeutschland durch die negative Entwicklung in der Bauwirtschaft nach unten gezogen wird. Dieser Prozess wird sich irgendwann beruhigen,
sodass wir auch in diesem Bereich in Ostdeutschland
wieder erfreuliche Wirtschaftswachstumsraten bekommen werden.
({0})
Nein, eine zweite Frage lasse ich nicht zu.
Herr Staatssekretär, ich würde Sie bitten, etwas lauter
zu sprechen, denn an meinem Platz sind Sie akustisch
überhaupt nicht zu verstehen.
({0})
- Ich habe von „akustisch“ gesprochen.
Eine weitere Frage hat der Kollege Michael
Kretschmer.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
können Sie ausschließen, dass eventuelle Mindereinnahmen auch auf den Forschungshaushalt durchschlagen,
also dort weitere Kürzungen vorgenommen werden müssen? Sie wissen ja, dass im Jahr der Innovationen, das
diese Bundesregierung ausgerufen hat, bis heute schon
die Projektmittel um über 11 Prozent gekürzt wurden.
Das hat dramatische Folgen für die Forschung in
Deutschland und zieht Entlassungen bzw. Einstellungsstopps nach sich. Können Sie eine Aussage dazu treffen,
dass derzeit eine ganze Reihe von Programmen auf Eis
liegen und nicht angefahren werden, mit den beschriebenen Folgen? Ist dies möglicherweise im Hinblick auf die
jetzt eingetretene Situation geschehen, dass große Mindereinnahmen zu erwarten sind?
Herr Kollege, Letzteres kann ich ausschließen. Im
Übrigen sind Entscheidungen für die Zukunft im Lichte
der Steuerschätzung von Mitte Mai zu treffen.
Die nächste Frage hat die Kollegin Susanne Jaffke.
Herr Staatssekretär, plant die Bundesregierung mit
Blick auf die Einnahmeausfälle, die jetzt bekannt geworden sind, auch Einschnitte bei den Barmitteln im Bundeshaushalt bezüglich der GA Ost vorzunehmen, und,
wenn ja, in welcher Größenordnung?
Frau Kollegin, es gibt, wie ich mehrfach ausführte,
keine konkreten Planungen. Wir werden Entscheidungen
erst treffen, wenn die Steuerschätzung Mitte Mai vorliegt.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zu den Fragen auf der Drucksache 15/2953 in der üblichen Reihenfolge. Die Frage 1
des Kollegen Nolting aus dem Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung soll schriftlich beantwortet
werden. Herr Staatssekretär Wagner, Ihr Bereich ist damit erledigt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Margareta Wolf zur Verfügung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe zunächst die Frage 2 der Kollegin Tanja
Gönner auf:
Welche konkreten Maßnahmen wird die Bundesregierung
nach der Entscheidung der Europäischen Kommission vom
20. April 2004 in Straßburg in die Wege leiten, um fristgerecht die durch die Umsetzung der Pfandregelung der Bundesrepublik Deutschland nach Auffassung der Europäischen
Kommission entstandene Behinderung des Wettbewerbs im
Binnenmarkt zu beseitigen und somit eine Klage beim Europäischen Gerichtshof zu vermeiden?
Frau Kollegin Gönner, die Bundesregierung ist der
Auffassung, dass die Umsetzung der Pfandpflicht in
Deutschland mit europäischem Recht vereinbar ist und
den Wettbewerb nicht behindert. Aus Sicht des Bundesumweltministeriums hat die Europäische Kommission die Ausführungen der Bundesregierung im Vertragsverletzungsverfahren bisher nicht ausreichend
gewürdigt. Der Wortlaut der mit Gründen versehenen
Stellungnahme der Kommission ist der Bundesregierung, wie Sie wissen, mit Datum vom 22. April 2004,
16.30 Uhr, zugeleitet worden. Die Bundesregierung
prüft derzeit die Stellungnahme der Kommission. Nach
Abschluss der Prüfung wird zu entscheiden sein, ob und
gegebenenfalls inwieweit die Bundesregierung an ihrer
Stellungnahme gegenüber der Europäischen Kommission vom 22. Dezember 2003 hinsichtlich ihrer rechtlichen Bewertung festhält oder ob gegebenenfalls Anlass
besteht, diese zu ergänzen oder zu modifizieren. Es ist
beabsichtigt, in diese Prüfung auch die in Kürze zu
erwartenden Schlussanträge des Generalanwalts beim
Europäischen Gerichtshof in zwei beim EuGH anhängigen Verfahren zur deutschen Pfandregelung mit einzubeziehen.
Zusatzfrage, Frau Gönner?
Frau Staatssekretärin, kann ich Ihren Worten damit
entnehmen, dass die Bundesregierung derzeit keine Notwendigkeit zum Handeln sieht, sondern an ihrer bisher
gegenüber der Kommission vorgetragenen Rechtsauffassung, dass die Verpackungsverordnung und die derzeit
geltende Pfandpflicht mit europäischem Recht im Einklang stehen, festhält, und dies, obwohl sie jetzt zum
zweiten Mal eine Stellungnahme der Kommission erhalten hat - im Übrigen mit Androhung des Vertragsverletzungsverfahrens -, die zum Ausdruck bringt, dass diese
eben nicht europäischem Recht genügen?
Frau Kollegin Gönner, ich bitte um Nachsicht. Ich
habe vorgetragen, dass wir das Schreiben der Kommission am 22. April erhalten haben. Wir sind natürlich gehalten, dieses Schreiben sorgfältig zu analysieren, und
werden aufgrund dieses Schreibens Eckpunkte erarbeiten, die in diesem Hause sicherlich zu diskutieren sein
werden. Aber ich möchte Sie in diesem Kontext darauf
hinweisen, dass sich das Oberverwaltungsgericht Berlin
in vier parallelen Verfahren eingehend mit der Argumentation der Kommission auseinander gesetzt und die Position der Bundesregierung in seinen Beschlüssen vom
15. April dieses Jahres ausdrücklich bestätigt hat. Auch
dies spricht dafür, in unsere Antwort die in Kürze zu
erwartenden Schlussanträge des Generalanwalts beim
Europäischen Gerichtshof zu den zwei beim EuGH anhängigen Verfahren einzubeziehen. Ich denke, dass Sie
als Juristin durchaus Verständnis dafür haben.
Weitere Zusatzfrage, Frau Gönner.
Als Juristin habe ich zwar Verständnis dafür. Ich erlaube mir trotzdem die Bemerkung, dass die Frage, ob
eine Regelung dem europäischen Recht entspricht, nicht
durch das OVG Berlin entschieden wird, dessen Haltung in unterschiedlichen Verfahren schon mehrfach
deutlich geworden ist. Nach wie vor entscheiden dies
die Kommission als Hüterin der Verträge und der
EuGH. Ich lasse mich überraschen, wie Sie die etwaigen Schlussanträge bewerten werden, und gehe davon
aus, dass die Bundesregierung schon den einen oder anderen Hinweis aus der mündlichen Verhandlung bekommen hat.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie auch zukünftig an der
Rechtsauffassung festhalten wollen, dass nicht die Bundesregierung für ein Rücknahmesystem zuständig ist,
und ob Sie nach wie vor der Meinung sind, dass die
Grundlagen eines marktwirtschaftlichen Systems, die
Sie gelegt haben, zu dem führen, was in Art. 7 der Richtlinie festgelegt ist.
Sehr geehrte Frau Kollegin Gönner, wir sehen im Moment keinen Anlass, von unserer ursprünglichen Rechtsposition abzugehen.
Vielen Dank. - Ich freue mich, dass die sozialdemokratische Fraktion ein solch großes Interesse an der Fragestunde zeigt.
({0})
Dieses Interesse könnte aber auf einer Fehlinformation
beruhen. Ich will Sie daher darüber in Kenntnis setzen,
dass die Aktuelle Stunde erst in 95 Minuten stattfindet.
({1})
- Aber nicht von mir, sondern aus Ihren eigenen Reihen.
Das ist der Unterschied.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Frage 3 der Kollegin Tanja Gönner:
Wie stellt sich die Bundesregierung zu der Aussage der
Europäischen Kommission - Mitteilung der Kommission SG
({2}) D/50740 -, dass die Höhe des Pfandes zwar in der geltenden Verpackungsverordnung bereits enthalten ist, der in
der Novelle der Verpackungsverordnung erstmals auf alle
Einwegverpackungen ausgedehnte Anwendungsbereich aber
eine Neubewertung der Regelungen nötig macht, und wie will
sie darauf reagieren?
Frau Kollegin Gönner, die zitierte Mitteilung der
Kommission ist eine Reaktion auf die deutsche Stellungnahme vom 26. Januar 2004, die auf die ausführliche
Stellungnahme der Kommission zu dem notifizierten
Verordnungsentwurf der deutschen Pfandnovelle vom
6. Oktober 2003 erfolgte.
In ihrer ausführlichen Stellungnahme vom Oktober
2003 trug die Kommission vor, dass die Höhe des Pfandbetrages von 25 Cent auf Verpackungen unabhängig von
ihrer Größe möglicherweise nachteilige Auswirkungen
auf einige Getränke habe. Die Verbraucher könnten davon absehen, so die Kommission, Produkte zu kaufen,
bei denen das Pfand den Produktwert erreicht oder übersteigt.
In ihrer Stellungnahme vom 26. Januar dieses Jahres
hat die Bundesregierung die Kommission darauf hingewiesen, dass die Pfandhöhe unmittelbar mit der durch
die Pfandpflicht bezweckten Lenkungswirkung zugunsten der abfallvermeidenden und gesamtökologisch
vorteilhaften Mehrwegverpackung korrespondiert. Es
wurde ferner darauf hingewiesen, dass der Produktwert
in aller Regel deutlich über dem Pfandbetrag liegt.
Selbst wenn der Pfandwert in Einzelfällen den Produktwert erreichen sollte, führe dies jedenfalls nicht dazu,
dass die Verbraucher davon absehen, solche Produkte zu
kaufen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Pfandbetrag zwar beim erstmaligen Erwerb eines solchen Getränkes anfällt, bei weiteren Erwerbsfällen aber vom
Verbraucher nicht mehr aufzuwenden ist.
Ferner hat die Bundesregierung die Kommission
darüber informiert, dass ihr keine Erkenntnisse darüber
vorliegen, dass die nunmehr seit über einem Jahr praktizierte Pfandregelung die von der Kommission unterstellte Wirkung zeigt. Im Gegenteil: Die Marktanteile
der Vertreiber, die besonders niedrigpreisige pfandpflichtige Getränke im Sortiment führen, haben sich im
vergangenen Jahr erhöht. Mit einer weiteren Abstufung
der Pfandhöhe nach unten würde unweigerlich ein Lenkungseffekt zugunsten kleinerer Verpackungsgrößen
bewirkt werden. Dieses ist aber aus ökologischen Gründen nicht zu rechtfertigen und stünde mit den Zielen im
zweiten Erwägungsgrund der Verpackungsrichtlinie
nicht im Einklang, wonach die Verringerung der Gesamtmenge an Verpackungen anzustreben ist.
In ihrer in der Fragestellung zitierten Mitteilung vom
15. April 2004 geht die Kommission auf die ausführlichen Darlegungen der Bundesregierung leider in keiner
Weise ein. Sie führt nunmehr erstmals in diesem Zusammenhang an, dass der im notifizierten Entwurf gegenüber dem geltenden Recht geänderte Anwendungsbereich der Pfandregelung eine Rolle spielen würde. Die
Bundesregierung sieht in dieser Aussage keinen Anlass,
ihre Stellungnahme vom 26. Januar dieses Jahres zu modifizieren.
Zusatzfrage, Frau Gönner?
Ja, bitte. - Trotzdem eine Nachfrage: Es ist ja nicht
nur die Kommission, die Bedenken hinsichtlich des notifizierten Entwurfs vorträgt. Sieben Länder haben ausführliche Stellungnahmen abgegeben und ein weiteres
Land hat Bemerkungen dazu gemacht. Sie alle gehen in
die Richtung der Bedenken, die die Kommission vorträgt, indem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass
es einen Unterschied gibt zwischen dem heutigen Anwendungsbereich, der Mehrwegquote, und der Zielsetzung in der Zukunft, wonach alle Einweggetränkeverpackungen der Pfandpflicht unterliegen sollen. Die
Kommission weist darauf hin, dass die Bundesregierung
Änderungen des Verordnungsentwurfes in Betracht ziehen sollte, um den Bedenken der Kommission - ich ergänze: auch den Bedenken der Mitgliedsländer - Rechnung zu tragen. Wird zumindest geprüft, inwiefern hier
möglicherweise ein Unterschied besteht? Werden also
die Bedenken der Kommission erneut geprüft oder wird
tatsächlich gesagt, man sehe keine Notwendigkeit einer
Änderung, und die Stellungnahme der Kommission wird
noch nicht einmal überprüft?
Frau Kollegin Gönner, wie ich bei der vorhergehenden Frage gesagt habe, werden wir natürlich das Schreiben der Kommission ausführlich analysieren und prüfen.
Lassen Sie mich aber noch einmal feststellen, dass sich
die Beanstandungen der Länder und der Kommission
nicht auf den vorgelegten Entwurf einer Dritten Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung beziehen, sondern die Pfandpflicht nach geltendem deutschen
Recht betreffen. Die Einwendungen sind demnach nicht
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
Wie gesagt, wir werden das alles ganz sorgsam prüfen
und über unsere Antwort in diesem Hohen Hause zu diskutieren haben.
Sie wissen, dass ich Ihnen ungern widerspreche; es
besteht allerdings ein Unterschied. Es gibt zwei unterschiedliche Verfahren der Europäischen Kommission:
das erste hinsichtlich der derzeit geltenden Pfandpflicht
und das zweite hinsichtlich der Novellierung der Verpackungsverordnung, die derzeit noch im Bundesrat zur
Entscheidung ansteht. Genau darauf bezieht sich die
Mitteilung der Kommission. Sie macht darin klar, dass
sie ebenfalls große Bedenken gegen die jetzt vorliegende
Novelle vor dem Hintergrund hat, dass der AnwenTanja Gönner
dungsbereich erweitert wurde und deswegen aufgrund
der Höhe des Pfandes Marktverwerfungen befürchtet
werden. Insofern wäre ich dankbar, wenn die Bundesregierung bei ihrer Prüfung zwischen diesen beiden Verfahren unterscheiden würde; denn ich glaube, es täte diesem Haus gut.
Selbstverständlich differenzieren wir zwischen diesen
beiden Verfahren, Frau Kollegin Gönner. Aber es muss
erlaubt sein, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Pfandhöhe bereits im geltenden Recht
enthalten ist und von der Kommission bei der damaligen
Notifizierung nicht beanstandet wurde, obwohl das
Pfand, gemessen an der Kaufkraft, seinerzeit deutlich
höher war. Darauf sollte man in diesem Hohen Hause im
Vorfeld der Erarbeitung einer Antwort an die Kommission durchaus einmal hinweisen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Herr
Matschie, auch Sie werden nicht benötigt, weil die Kollegin Gudrun Kopp erkrankt ist und um schriftliche Beantwortung der von ihr gestellten Frage 4 gebeten hat.
Die beiden Fragen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes - das waren die Fragen 5 und 6 des Abgeordneten Wimmer - wurden zurückgezogen.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 der Kollegin Hannelore Roedel
auf:
Wie bewertet die Bundesregierung, nachdem die Anhörung des Europäischen Parlaments zur EU-Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von
Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung
mit Gütern und Dienstleistungen abgeschlossen ist und zur
Entscheidung im Ministerrat ansteht, diese Richtlinie?
Ich war etwas überrascht, wie schnell wir vorankommen; deswegen bitte ich um Nachsicht, dass ich nach Ihnen aufgestanden bin, Frau Roedel.
Ich möchte Ihre Frage wie folgt beantworten: Voranzustellen ist, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission vom November 2003 - ich betone das Wort
„Vorschlag“ - für eine Richtlinie des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von
Frauen und Männern beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen derzeit nicht
zur Entscheidung im Rat ansteht.
Der Vorschlag stützt sich auf die Rechtsgrundlage des
Art. 13 des EG-Vertrages, der den Rat der Europäischen
Union ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission und
nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen unter anderem
aus Gründen des Geschlechts zu bekämpfen. Die Richtlinie muss einstimmig durch den Rat verabschiedet werden. Das Europäische Parlament verfügt lediglich über
ein Anhörungsrecht.
Seit Dezember 2003 wird der Richtlinienvorschlag in
der zuständigen Arbeitsgruppe des Rates der Europäischen Union, in welcher sich Delegationen der Regierungen sämtlicher alter und auch neuer Mitgliedstaaten
treffen, verhandelt. Anfang Juni 2004 wird er erstmals
durch die zuständigen Minister im Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz
im Rahmen einer allgemeinen Orientierungsdebatte erörtert werden. Die Verhandlungen im Rat werden voraussichtlich noch einige Zeit in Anspruch nehmen; denn
die nach dem Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten
zum 1. Mai 2004 25 Mitgliedstaaten müssen sich einstimmig auf einen für alle akzeptablen Richtlinientext einigen.
Zur Frage der Bewertung des Richtlinienvorschlags
verweise ich auf die umfassenden Ausführungen in dem
Bericht der Bundesregierung zur Unterrichtung des
Deutschen Bundestages vom 11. Februar 2004. Darin
begrüßt die Bundesregierung die Zielrichtung des Richtlinienvorschlags, bezweifelt aber eine ausreichende Begründung eines Handlungsbedarfs gerade im Hinblick
auf den mit der Richtlinie verbundenen Eingriff in die
Privatautonomie. An dieser Bewertung hat auch die Beurteilung des Richtlinienvorschlags durch das Europäische Parlament in dessen Entschließung vom 30. März
2004 nichts geändert.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Können Sie mir noch etwas mehr über den Meinungsfindungsprozess in der Bundesregierung sagen, als der
Antwort vom 29. Dezember 2003 zu entnehmen war,
oder befinden Sie sich noch in der Abstimmungsphase?
Ich habe Ihnen soeben das Meinungsbild der Bundesregierung vorgetragen. Es gibt keine weitere Abstimmungsphase.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Die beiden einzigen Fragen zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums der Finanzen, nämlich die Fragen 8 und 9 des Kollegen Hans Michelbach, werden
schriftlich beantwortet.
Das Gleiche gilt für den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und
Die Frage 10 der Kollegin Gudrun Kopp
und die Frage 11 der Kollegin Gitta Connemann werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit direkt zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk zur Verfügung. Ich rufe zunächst die Fragen 12 und 13 des
Abgeordneten Bahr auf:
Wie bewertet die Bundesregierung - vergleiche „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 5. April 2004 - die im Vergleich
zum Vorjahr laut Kinderärzten um 30 Prozent gesunkene Zahl
der Masernimpfungen bei Kindern?
Welchen Zusammenhang sieht die Bundesregierung zwischen dem Rückgang der Impfungen und der Einführung der
Praxisgebühr im Rahmen der Gesundheitsreform und, soweit
es sich um einen Trend handelt, was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu unternehmen?
Herr Kollege Bahr, Sie fragen aufgrund einer Veröffentlichung in der „FAZ“, ob der Bundesregierung die
Zahlen bekannt sind bzw. ob sie sie bestätigen kann, die
von einem dramatischen Rückgang des Impfens von
Kindern und Jugendlichen sprechen. In diesem Artikel
wurde ein Zusammenhang mit den Regelungen des
GKV-Modernisierungsgesetzes hergestellt. Auch mich
haben diese Pressemeldungen alarmiert und ich habe bei
der KBV nachfragen lassen, ob diese Zahlen bestätigt
werden können und aufgrund welcher Tatsachen diese
Pressemitteilungen zustande kommen konnten.
Die KBV kann diese Zahl ausdrücklich nicht bestätigen. Darüber hinaus halten wir den Eindruck, den dieser
Artikel erweckt, für unzutreffend. Seitens der KBV
wurde uns mitgeteilt, dass ein Rückgang von Masernimpfungen von Kindern nicht bestätigt werden kann, da
die Abrechnungszahlen für das erste Quartal 2004 noch
nicht vorliegen. Sie hat ferner recherchiert, dass der Kinderarzt, auf dessen Informationen der Artikel der „FAZ“
vom 5. April 2004 letztlich zurückgeht, seine Einschätzung auf der Basis der Absatzzahlen des Masernimpfstoffs getroffen hat.
Absatzzahlen sind aber nicht aussagekräftig. Kurzfristige Änderungen von Verkaufszahlen lassen keine
ausreichenden Rückschlüsse auf tatsächlich durchgeführte Impfungen, insbesondere bei Subpopulationen,
zu. Bei einem beobachteten unerwartet hohen Rückgang
von Verkaufszahlen kann es sich um ein vorübergehendes Phänomen handeln. Ein solcher Effekt könnte zum
Beispiel eintreten, weil Impfungen kurzfristig verschoben werden oder weil im Vorzeitraum, zum Beispiel aufgrund von Epidemien in Reiseländern, besonders viel
geimpft wurde bzw. vorübergehend mehr Impfstoff bestellt wurde, als aktuell benötigt wurde.
Aus Änderungen der Verkaufszahlen beim Impfstoff
für Masern, Mumps und Röteln ist nur begrenzt erkennbar, auf welche Altersgruppen dies gegebenenfalls Auswirkungen hat. Da die Impfung nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt begrenzt ist, kann sie jederzeit erfolgreich
nachgeholt werden. Nur ein langfristiger Rückgang der
Umsätze wäre daher Besorgnis erregend.
Pauschale Angaben von Durchimpfungsraten für Kinder sind grundsätzlich nicht möglich, da es kein Register
des Impfstatus gibt. Angaben sind allenfalls für die
Gruppe der Kinder verfügbar, die eingeschult werden, da
seit In-Kraft-Treten des Infektionsschutzgesetzes die
Gesundheitsämter oder die von ihnen beauftragten Ärzte
den Impfstatus bei Erstaufnahme in die erste Klasse einer allgemein bildenden Schule zu erheben haben und
die hierbei gewonnenen aggregierten und anonymisierten Daten über die obersten Landesgesundheitsbehörden
dem Robert-Koch-Institut übermittelt werden.
Also nochmals: Diese Hochrechung ist deutlich verfrüht. Sie kann unsererseits nicht bestätigt werden. Der
KBV liegen diesbezüglich keine gesicherten Zahlen vor.
Insgesamt muss man auch sehen, dass es in der Bevölkerung, gerade auch bei Kindern und Jugendlichen, eine
generelle Impfmüdigkeit gibt.
Ich betone an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich:
Impfen ist bei vielen Krankheiten das Beste, was man
tun kann. Es hat sich bewährt. Dass gerade Infektionskrankheiten in Deutschland so zurückgedrängt wurden,
hat mit dem Impfen zu tun. Es wäre deshalb wichtig,
dass wir alle, die wir hier im Bundestag vertreten sind,
gemeinsam dafür sorgen, dass die Impfraten wieder steigen.
Ich will an dieser Stelle auch noch einmal sagen: Es
hatte seinen guten Grund, dass sowohl das Impfen als
auch die Gesundheitsuntersuchungen von Kindern im
GMG von der Praxisgebühr befreit wurden und auch
nicht mit Zuzahlungen belastet sind.
Zusatzfrage?
Frau Staatssekretärin, Herr Präsident, ich habe eine
Nachfrage. Sie sagten, Sie könnten diese Zahl zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestätigen. Wann rechnen Sie mit
dem Vorliegen der entsprechenden Zahlen über die Entwicklung der Impfungen in den ersten Monaten dieses
Jahres? Wenn wir dann einen Rückgang um etwa
30 Prozent feststellen würden, sollte uns das dann aus
Sicht der Bundesregierung alarmieren und Anlass sein,
darüber zu diskutieren, wie die Zahl der Impfungen wieder steigen kann?
Herr Kollege Bahr, ich habe bereits gesagt, dass die
reinen Absatzzahlen noch nichts über die tatsächliche
Impfquote von Kindern aussagen. Denn natürlich werden auch Impfungen bei der erwachsenen Bevölkerung,
insbesondere im Zusammenhang mit Auslandsaufenthalten, durchgeführt. Deswegen steigt die Zahl der Impfungen zum Beispiel vor der Reisezeit. Es ist zum Beispiel
auch nicht klar, ob Impfstoffe teilweise bevorratet werden.
Wenn die Zahl der Impfungen bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich zurückgehen würde, müssten wir
handeln. Wir haben noch einmal nachgefragt, wie die
Absatzzahlen aussehen und ob man aus ihnen auf einen
Trend schließen kann. Ich lese Ihnen aus den Erhebungen zum ersten Quartal vor: Der Absatz der Masernimpfstoffe ging im ersten Quartal 2004 gegenüber dem
Vorjahreszeitraum um 69 Prozent zurück, war aber im
vierten Quartal 2003 um 94 Prozent gestiegen. Bei
Rötelnimpfstoffen ergab sich im ersten Quartal 2004 sogar ein Absatzzuwachs gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 38 Prozent.
Das heißt: Erstens kann man nicht von einem generellen Rückgang der Absatzzahlen sprechen. Zweitens
muss man eventuelle Vorzieheffekte mit berücksichtigen
und drittens stimme ich Ihnen zu, dass wir bei einem
tatsächlichen Rückgang des Anteils der geimpften Kinder, eine deutliche Initiative für das Impfen entwickeln
müssten. Wir müssten die Bevölkerung auch verstärkt
darauf hinweisen, dass Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen und die Untersuchungen von Kindern unter
18 Jahren von der Praxisgebühr generell befreit sind.
Das sollte man der Bevölkerung mit geeigneten öffentlichen Maßnahmen klar machen, wenn sich die Impfquote tatsächlich verschlechtert.
Weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Eine meiner Fragen haben Sie noch nicht beantwortet: wann wir damit rechnen können, dass die entsprechenden Zahlen vorliegen. Ich verstehe den Zusammenhang zwischen den Absatzzahlen und der Anzahl der
Impfungen, den Sie dargestellt haben. Aber trotzdem
muss es doch eine Kalkulation des Ministeriums geben,
wann wir mit den Zahlen rechnen können. Denn dass
diese Zahlen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vorliegen, heißt ja noch nicht, dass wir sie nicht im Laufe dieses Jahres bekommen werden.
Ich habe Ihnen gesagt: Die einzige Möglichkeit, gesicherte Fakten zur Anzahl geimpfter Kinder zu erhalten,
besteht zum Zeitpunkt ihrer Einschulung. Das ist natürlich zu spät. Deswegen haben wir die Kassenärztliche
Bundesvereinigung aufgefordert - sie hat uns auch zugesagt, das zu tun -, eigene Erhebungen vorzunehmen und
die Bundesregierung unverzüglich zu informieren, sofern sich aus den Ergebnissen Handlungsbedarf ergibt.
In diesem Fall könnte zum Beispiel die Gruppe der Kinder- und Jugendärzte gezielt angeschrieben und gebeten
werden, darauf zu achten, ob ein signifikanter Rückgang
von Impfungen zu verzeichnen ist, und uns dies gegebenenfalls mitzuteilen.
Wir kommen zu Frage 14 der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch:
Trifft es zu - vergleiche „Süddeutsche Zeitung“ vom
20. April 2004 -, dass im ersten Quartal über 200 000 Patienten ihre Praxisgebühren nicht bezahlt haben und die Kassenärztlichen Vereinigungen sich weigern, Mahnverfahren einzuleiten?
Frau Kollegin Lötzsch, Sie haben die Frage gestellt,
ob es zutrifft, dass im ersten Quartal dieses Jahres über
200 000 Patienten keine Praxisgebühr bezahlt haben und
die Kassenärztlichen Vereinigungen sich weigern,
Mahnverfahren einzuleiten. Die Zusammenhänge, die
hier dargestellt wurden, sind spekulativ; denn man muss
die entsprechenden Zahlen im Zusammenhang mit der
Anzahl der Arztbesuche betrachten. Dann ergibt sich ein
deutlich verändertes Bild.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat die Zahl,
die Sie genannt haben, ermittelt, indem sie in drei Kassenärztlichen Vereinigungen die Zahl der Fälle, in denen
die Praxisgebühr nicht gezahlt wurde, ermittelt und diese
Zahl auf das gesamte Bundesgebiet hochgerechnet hat.
Angesichts der Tatsache, dass es bundesweit insgesamt
23 Kassenärztliche Vereinigungen mit unterschiedlichen Strukturen gibt, ist die Bezugnahme auf lediglich
drei Kassenärztliche Vereinigungen als Datengrundlage
nicht ausreichend, um eine valide Zahl von Nichtzahlern
zu ermitteln.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass der angesprochene Trend stimmt - faktisch wurden nur 38 000 Fälle
in drei Kassenärztlichen Vereinigungen ermittelt; diese
Zahl wurde dann hochgerechnet -, beträgt die Nichtzahlerquote bezogen auf 25 Millionen zuzahlungsrelevante
Fälle lediglich 0,15 Prozent. Diese Zahl zeigt, dass die
Patientinnen und Patienten die Praxisgebühr ganz überwiegend entrichtet haben. Ich glaube, viele andere Berufsgruppen, die auf Zuzahlungen in anderer Form angewiesen sind, wären über eine Nichtzahlerquote von
- aufgerundet - 0,2 Prozent sehr froh.
Eine Zusatzfrage, Frau Lötzsch? - Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatssekretärin,
einige Krankenkassen haben sich ja entschlossen, keine
Praxisgebühr mehr zu erheben und das Hausarztprinzip
durchzusetzen. Wie viele Krankenkassen werden dieses
Verfahren nach Ihrer Kenntnis wählen und wie viele Versicherte werden davon betroffen sein?
Der von Ihnen beschriebene Weg wurde im GKVModernisierungsgesetz ausdrücklich eröffnet. Ein Ziel
der Bundesregierung war es, den Kassen größere Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich ihres Angebots an die
Versicherten einzuräumen. Dazu können Bonusmodelle
gehören, durch die zum Beispiel jemandem, der an
einem Diabetikerprogramm teilnimmt oder zunächst zu
seinem Hausarzt geht, die Praxisgebühr erlassen werden
kann.
Wir haben keine vollständige Kenntnis über die einzelnen Programme der Kassen, verfolgen ihre Ankündigungen aber sehr aufmerksam. Der Gesetzgeber wollte
ausdrücklich - in diesem Haus gab es zum GKV-Modernisierungsgesetz ja große Zustimmung -, dass die Kassen größere Gestaltungsspielräume bekommen. Aus
Untersuchungen, die beispielsweise in der Schweiz
durchgeführt wurden, wissen wir, dass Hausarztmodelle
mit qualifizierten Hausärzten Steuerungsfunktionen im
System erfüllen und zu deutlichen Einsparungen führen
können. Deswegen ist es sachgerecht, dass diejenigen
Krankenkassen, die freiwillig das Hausarztmodell anbieten - sodass der Hausarzt seine Aufgabe als Lotse im
Gesundheitssystem erfüllen kann -, von der Erhebung
der Praxisgebühr absehen können, um den Patientinnen
und Patienten einen Anreiz zu geben, sich im System
vernünftig zu verhalten.
Wir kennen die Presseankündigungen: Es gibt zum
Beispiel in Mannheim einen Modellversuch, den die
AOK Baden-Württemberg zum Hausarztmodell durchführt. Wir haben darüber hinaus Kenntnis, dass große
Ersatzkassen im Moment Nachlässe bei der Teilnahme
an Diabetikerprogrammen anbieten. Ich kann Ihnen aber
nicht abschließend sagen, wie viele es im Einzelnen
sind. Wir wollten auf jeden Fall gewährleisten, dass es
nicht zu einer Umfinanzierung dergestalt kommt, dass
ein Bonus gezahlt wird, während sich gleichzeitig die
wirtschaftliche Situation der Kassen verschlechtert. Im
Gesetzgebungsverfahren ist abgesichert worden, dass
diese Bonusstrukturen nicht zulasten der allgemeinen
Leistungen der Kassen verrechnet werden dürfen. Die
Modelle müssen sich unter dem Strich rechnen.
Unsere Erfahrungen zeigen, dass zum Beispiel gut
eingestellte Chroniker, Menschen, die freiwillig den
Hausarzt als Lotsen wahrnehmen, zu Einsparungen im
System beitragen. Damit ist der Erlass der Praxisgebühr
in diesem Fall gerechtfertigt und aus diesem Grund haben wir diese Option ausdrücklich eröffnet.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich will zunächst noch
darauf hinweisen, dass wir von der PDS zu denen gehört
haben, die dem in Rede stehenden Gesetz nicht zugestimmt haben.
Frau Staatssekretärin, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, dass die Bundesregierung eigentlich der Auffassung ist, dass die bei jedem Arztbesuch zu entrichtende
Praxisgebühr überhaupt nicht sachgerecht ist?
Liebe Kollegin, Sie haben offensichtlich nicht sorgfältig genug zugehört: Genau dies habe ich nicht gesagt.
Wir haben in Deutschland im europäischen Vergleich die
meisten Arztbesuche und sehr kurze Verweildauern in
der Arztpraxis. Teilweise hatten wir ein Ärzte-Hopping,
das nicht gerechtfertigt war, teilweise sind durch Doppeluntersuchungen Zusatzkosten im System angefallen.
Hier kann die Praxisgebühr steuernde Wirkung entfalten.
Sie ist natürlich auch ein Finanzierungsinstrument,
um das hohe Defizit der Krankenkassen abzubauen. Es
kann schließlich nicht angehen, dass die Krankenkassenbeiträge tendenziell immer weiter steigen. Dieser Trend
konnte gestoppt und umgekehrt werden. Die Alternative
zum GKV-Modernisierungsgesetz wären steigende
Krankenkassenbeiträge gewesen; das muss man immer
wieder sagen. Wir haben uns für das Instrument der Praxisgebühr entschieden, weil dieses Instrument zu deutlichen Einsparungen führt und es den Kassen ermöglicht,
im Wettbewerb miteinander finanzielle Anreize für die
Versicherten zu schaffen, sich im System vernünftig zu
verhalten. Wir sind für Vielfalt bei den Angeboten der
Kassen und wir sind für mündige Versicherte und mündige Patientinnen und Patienten, die sich die für sie passende Struktur selbst auswählen.
Eine weitere Frage der Kollegin Pau.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben als Ziel des
GKV-Modernisierungsgesetzes und insbesondere der
Einführung der Praxisgebühr eine Senkung der Krankenkassenbeiträge genannt. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Krankenkassen tatsächlich mit dem Prozess der Senkung begonnen haben?
Frau Kollegin, zunächst einmal ist festzuhalten, dass
die Kassen Ende letzten Jahres in einer Größenordnung
von gut 5 Milliarden Euro verschuldet waren. Das heißt,
wenn wir nichts getan hätten, lägen die Krankenkassenbeiträge mittlerweile erheblich höher. Zu zwei Zeitpunkten sind Senkungen erfolgt: Die erste Senkungswelle
- zum 1. Januar dieses Jahres - hat Kassen mit ungefähr
13 Millionen Versicherten erfasst, eine zweite, die Kassen mit weiteren 12 Millionen Versicherten betroffen
hat, war zum 1. April dieses Jahres zu verzeichnen.
Große Versorgerkassen haben ihre Beiträge gesenkt: unter anderem die DAK, die BEK und zwei AOKs. Vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass die Alternative zum
GKV-Modernisierungsgesetz steigende Krankenkassenbeiträge gewesen wären, ist das ein Erfolg.
Ich darf Sie korrigieren: Die Ausgabenstruktur der
Krankenkassen in Ordnung zu bringen war ein Element
des GKV-Modernisierungsgesetzes. Es ging aber auch
darum, Strukturen aufzubrechen, mehr Transparenz ins
System zu bringen und die Patientenrechte zu stärken;
das waren die anderen Elemente, über die wir hier in der
Fragestunde gar nicht ausführlich gesprochen haben.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Die Frage 15 des Abgeordneten Kretschmer wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke zur Verfügung.
Die Frage 16 des Kollegen Börnsen soll schriftlich
beantwortet werden.
Wir kommen zu Frage 17 der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch:
Wie bewertet die Bundesregierung den Bericht des Gesprächskreises Ost und welche Schlussfolgerungen zieht die
Bundesregierung - „Spiegel online“ vom 3. April 2004 - aus
der kritischen Analyse der Lage in den neuen Ländern?
Frau Kollegin Dr. Lötzsch, der Gesprächskreis Ost ist
ein informelles Beratergremium aus Persönlichkeiten
aus Wirtschaft, Politik und Kreditwirtschaft, dessen Zusammenkünfte abwechselnd unter der Gesprächsleitung
des Bundesministers für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Dr. Manfred Stolpe, und des Bundesministers für
Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, stattfinden.
Im Zentrum des Gesprächskreises steht die Frage, welche zusätzlichen Beiträge Wirtschaft, Politik und Kreditwirtschaft leisten können, um die Standort- und Entwicklungsbedingungen der Wirtschaft in den neuen
Ländern zu verbessern.
Das Gremium ist bisher zweimal zusammengekommen. In der zweiten Sitzung wurden verschiedene Papiere zum Thema Aufbau Ost diskutiert, darunter auch
ein Thesenpapier von Klaus von Dohnanyi und Edgar
Most, die beide Mitglieder im Gesprächskreis sind. Im
Thesenpapier von Klaus von Dohnanyi und Edgar Most
werden eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die im
Gesprächskreis Ost kontrovers diskutiert wurden. Dabei
war das Meinungsbild insgesamt sehr differenziert. Das
Papier stellt kein abgestimmtes Ergebnis der beiden Diskussionsrunden im Gesprächskreis Ost dar. Einzelne
Vorschläge, zum Beispiel die Schwerpunktsetzung der
Förderpolitik auf Clusterbildung, finden sich auch in der
von der Bundesregierung beabsichtigten Neujustierung
der Wirtschafts- und Strukturpolitik für die neuen Länder wieder.
Das Thesenpapier von Klaus von Dohnanyi und
Edgar Most ist nur eine Quelle des „Spiegel“-Beitrages.
Die negative Gesamtbilanz, die in dem Artikel zum Aufbau Ost gezogen wird, teilt die Bundesregierung nicht.
Im Prozess des Aufbaus Ost wurden beachtliche Erfolge
erzielt. Dazu gehören der Ausbau der Infrastruktur, die
Sanierung der Städte und die Verbesserung der Wohnund Umweltbedingungen der Menschen. Das verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland entwickelt sich seit
Jahren positiv. In allen neuen Ländern sind industrielle
Schwerpunkte entstanden. Gleichwohl gibt es noch Probleme in den neuen Ländern, insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit infolge der bestehenden Arbeitsplatzlücke.
Mit der Neujustierung der Wirtschafts- und Strukturpolitik in den neuen Ländern sollen die entstandenen
wirtschaftlichen Schwerpunkte gezielt gefördert werden,
um dort ein sich selbst tragendes Wachstum zu erreichen. Die Bundesregierung befindet sich bereits in einem engen Abstimmungsprozess mit den Ländern über
die künftige Schwerpunktbildung Ost.
Zusatzfrage, Frau Lötzsch.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eine Reihe von konkreten Vorschlägen sowohl aus den Papieren des Gesprächskreises Ost als auch aus den Diskussionen benannt. Darum möchte ich, um etwas Konkretes
aufzugreifen, nachfragen, ob die Bundesregierung meine
Auffassung teilt, dass es erforderlich ist, Transfermittel
aus dem Solidarpakt II zur Stärkung der Forschungslandschaft Ost und für eine zielgerichtete Standortpolitik
bei der Forschungsförderung vorzuziehen. Wenn Sie
diese Auffassung teilen - was ich natürlich begrüßen
würde -: Wie sollte dann die Umsetzung erfolgen?
Frau Kollegin Lötzsch, zum Solidarpakt II haben Verhandlungen stattgefunden. Im Solidarpakt II sind die
Aufgaben benannt worden, für die finanzielle Mittel zur
Verfügung gestellt werden. Wir wollen an dem Solidarpakt festhalten und wollen ihn nicht infrage stellen. Eine
andere Verwendung der Mittel würde bedeuten, dass wir
den Solidarpakt neu verhandeln wollten. Das wollen wir
nicht. Sie wissen, es gibt schon den Schwerpunkt bei der
Förderung von Forschung und Entwicklung in den neuen
Bundesländern. Das Ziel, in den neuen Bundesländern
verstärkt Forschungs- und Entwicklungsmittel einzusetzen, wollen wir auch weiterhin verfolgen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Lötzsch? - Bitte.
Ich möchte eine andere konkrete Nachfrage stellen.
Frau Staatssekretärin, teilt die Bundesregierung meine
Auffassung, dass es eine wichtige Hilfe für die Entwicklung im Osten wäre, die Entschuldung der Wohnungsunternehmen voranzutreiben und möglichst zu einem guten
Ende zu führen?
Frau Kollegin Dr. Lötzsch, Sie wissen, dass mich dieses Thema schon seit vielen Jahren sehr stark beschäftigt. Ich finde, wir haben eine gute Altschuldenregelung
getroffen, mit der wir Wohnungsunternehmen helfen, die
in große Bedrängnis geraten sind und deren Existenz bedroht ist. Sie wissen, dass wir die Altschulden nicht generell übernehmen können, weil es sich dabei um enorm
hohe Beträge handelt. Das heißt, wir setzen auf eine gezielte Förderung im Paket mit dem Stadtumbau Ost. Wir
stellen hier verschiedenste Mittel zur Verfügung, um
dauerhaft leer stehende Wohnungen abzureißen gleichzeitig und das Wohnumfeld zu verbessern.
Wir stellen insgesamt ein ganzes Bündel von Maßnahmen für die Wohnungswirtschaft zur Verfügung, das
zur Stabilisierung der Wohnungswirtschaft beiträgt und
vor allen Dingen auch die Lebensqualität der Menschen
verbessert. Ich denke, dies ist eine sachgerechte Förderung, die wir auch brauchen. Wir konzentrieren uns also
auf diejenigen, die Hilfe brauchen.
Eine weitere Frage des Kollegen Manfred Grund.
Frau Staatssekretärin, ich bin Ihnen sehr dankbar,
dass Sie gesagt haben, dass die Bundesregierung am
Solidarpakt II festhält.
Ich habe eine Frage zu dem auch von Ihnen zitierten
Papier von Herrn von Dohnanyi, an dem auch Edgar
Most mitgearbeitet hat. Von Edgar Most gibt es ein Zeitungsinterview, in dem er etwas zugespitzt sagt: Der Osten vergreist, verdummt und verarmt. Teilt die Bundesregierung diesen Satz von Edgar Most?
Herr Kollege Grund, ich finde, dass man in der gesamten Debatte um den Aufbau Ost folgende zwei Dinge
benennen muss:
Erstens. Man muss ganz klar sagen, dass die Leistungen, die die Menschen in Ostdeutschland - auch in unserer gemeinsamen Heimat Thüringen, Herr Kollege
Grund - in den letzten 15 Jahren erbracht haben, enorm
waren und Erfolge zeigen. Ich meine, wer mit offenen
Augen durch die neuen Bundesländer geht, kann diese
Erfolge sehen. Dieses Land hat große Anstrengungen
unternommen, um durch eine gesamtdeutsche Solidarität
voranzukommen. Ich denke, diesen sehr wichtigen
Punkt muss man darstellen.
Gleichwohl muss man ein Zweites hinzufügen: Wir
benötigen nach wie vor eine Förderung, da wir nach wie
vor wir große Probleme haben. Uns muss es darum gehen, die Arbeitsplatzlücke in Ostdeutschland zu schließen, weil nur dann junge Menschen ihre Chancen vor
Ort suchen werden. Bei dem von Ihnen angesprochenen
Zitat geht es um die Abwanderung. Dieses Thema beschäftigt uns sehr stark und macht uns Sorgen.
Dabei muss man aber mehrere Bereiche betrachten.
Auf der einen Seite muss man Chancen schaffen und für
ordentliche Verdienstmöglichkeiten sorgen; denn nur so
kann man die Jugend in Ostdeutschland halten. Auf der
anderen Seite brauchen wir vernünftige Bildungsangebote. Das beginnt aus meiner Sicht ganz eindeutig schon
bei der schulischen Bildung. Da gilt es einiges durchaus
noch zu verbessern; das ist gar keine Frage. Wir müssen
zum Beispiel die Universitäten und Fachhochschulen für
die Anforderungen fit machen, sodass wir junge Leute
zum Studieren in die neuen Bundesländer locken können. Ob uns das gelingt, wird auch ganz stark davon abhängen, wie sich die Landesregierungen hier einbinden
lassen.
Ich denke, diese Dinge werden dazu führen, dass wir
die Abwanderung begrenzen können.
Eine weitere Frage der Kollegin Petra Pau.
Frau Staatssekretärin, da wir uns jetzt bereits in der
Debatte der unterschiedlichen notwendigen Maßnahmen
in den unterschiedlichen Bereichen befinden, habe ich
noch eine Nachfrage: Teilt die Bundesregierung meine
Auffassung, dass die Einführung einer kommunalen
Investitionspauschale für die Entwicklung Ostdeutschlands unbedingt notwendig ist?
Frau Kollegin Pau, Sie wissen, dass man bei den
kommunalen Investitionspauschalen auch verfassungsrechtliche Dinge betrachten muss und dass wir keine
direkten Fördergelder an die Kommunen geben können.
Wir müssen erreichen - dazu gibt es eine Arbeitsgruppe beim Bundesfinanzminister -, dass die Kommunen aufgrund ihrer Finanzausstattung in der Lage sind,
zu investieren. Durch verschiedene andere Reformprojekte trägt die Bundesregierung dazu bei, die Kommunen zu entlasten, damit sie wieder mehr öffentliche
Investitionen leisten können. Den Zusammenhang mit
den öffentlichen Investitionen sehen wir natürlich; das
ist ganz klar.
Eine Frage der Kollegin Veronika Bellmann.
Frau Staatssekretärin, ich möchte auf die Aussagen
zurückkommen, die Sie bei der Antwort auf die Frage
von Kollegin Lötzsch zur Förderung von Wissenschaft
und Forschung in den neuen Bundesländern gemacht haben. Nun ist das nicht unbedingt Ihr Bereich, aber vielleicht können Sie trotzdem eine Aussage dazu treffen
oder zumindest dafür sorgen, dass meine Frage beantwortet wird.
Das Programm FUTOUR ist am 31. Dezember 2003
ausgelaufen. Es förderte Existenzgründer und innovative
Unternehmen im Forschungsbereich. Können Sie eine
Aussage darüber treffen, inwiefern dieses Programm
weitergeführt wird? Wir alle haben betont, wie wichtig
für uns Wissenschaft und Forschung im Zusammenhang
mit dem Mittelstand insbesondere im Osten Deutschlands sind. Können Sie etwas dazu sagen, ob es Diskussionen darüber gibt, ein neues Programm in dieser Richtung aufzulegen?
Frau Kollegin Bellmann, wir wissen, dass in den
neuen Bundesländern die Unternehmen zwar sehr klein
sind, aber viel Innovationskraft besitzen. Aber aufgrund
der kleinen Unternehmensgröße ist es meistens so, dass
weniger Geld für Forschung und Entwicklung ausgegeben wird. Da auch wir der Meinung sind, dass durch
Forschung und Entwicklung neue Produkte entstehen,
wodurch Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern geschaffen werden, sehen wir hier einen ganz klaren
Schwerpunkt. Es gibt verschiedene Förderprogramme.
Sie kennen das Inno-Regio-Projekt, Pro-Inno und all die
anderen Programme. Wir wollen durch die Schwerpunktbildung Forschung und Entwicklung in den neuen
Bundesländern nach wie vor fördern.
Sie haben Recht: Ich bin nicht Staatssekretärin im
Bundesministerium für Bildung und Forschung. Insofern
kann ich Ihnen zu FUTOUR nichts Konkretes sagen. Ich
bitte Sie dafür um Verständnis und werde dafür sorgen,
dass Ihnen eine schriftliche Antwort zugeht.
({0})
Die Fragen 18, 19 und 20 werden schriftlich beantwortet. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper zur
Verfügung.
Die Fragen 21, 22 und 23 sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen dann zur Frage 24 der Kollegin Petra
Pau:
Seit wann besteht - einschließlich eines entsprechenden
Information Board - die „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“, in der Bundes- und Landesbehörden, Polizei
und Nachrichtendienste regelmäßig zusammenarbeiten - vergleiche den Aufsatz von Manfred Klink, „Bekämpfung des internationalen Terrorismus im Zusammenhang mit den Anschlägen am 11. September 2001 in den USA“, „Die
Kriminalpolizei“, September 2002 -, und welche Ergebnisse
konnte sie bisher erzielen?
Frau Kollegin Pau, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Die „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“ besteht auf Grundlage eines Beschlusses des
Arbeitskreises II, „Innere Sicherheit“, der Ständigen
Konferenz der Innenminister und Innensenatoren der
Länder seit dem 21. September 2001.
An den Sitzungen der „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“, die anlassbezogen stattfinden,
nehmen Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der
Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt, des
Unterarbeitskreises des AK II „Führung, Einsatz, Kriminalitätsbekämpfung“, der Landesämter für Verfassungsschutz, des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des
Bundesnachrichtendienstes, des Militärischen Abschirmdienstes, der Zentralstelle für Nachrichten der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes, des Generalbundesanwaltes und des Bundeskriminalamtes teil. Vorsitz und
Geschäftsführung werden im Bereich des Bundeskriminalamtes geführt.
Entsprechend ihrer Aufgabe nimmt die „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“ eine ständige
Bewertung und Fortschreibung des Lagebildes vor, entwickelt alternative Lageszenarien, wie dies etwa im Vorfeld des Irakkrieges geschah, und spricht Empfehlungen
für bundesweit abgestimmte Polizeimaßnahmen zur Terrorismusbekämpfung im Bereich von Prävention und
Repression an den so genannten AK II aus.
Das in dem zitierten Aufsatz ebenfalls genannte, am
26. April 2001 gegründete Information Board „Netzwerke arabischer Mudschahidin“ steht in keinem Zusammenhang zu der „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“. Vertreter des BfV, des BND und des
BKA - dort sind wieder Vorsitz und Geschäftsführung
angesiedelt - erörtern Gefährdungs- und strafrechtlich
relevante Sachverhalte, um die dabei gewonnenen Informationen zur Bewertung der Gefährdungslage und für
die konkrete Ermittlungsarbeit zu nutzen. Hiermit gelingt es insbesondere, die unterschiedlichen Ressourcen
komplementär zueinander zu nutzen und schnellere Informations- und Entscheidungswege zu implementieren.
Zusatzfrage, Frau Pau.
Auch wenn das von Ihnen, Herr Staatssekretär, genannte Information Board nicht zuarbeitet, habe ich dennoch eine Frage. Das BMI hat in einem Bericht an den
Innenausschuss vom 30. Juli 2001 als Ziel von zwei Pilotprojekten im Rahmen der Information Boards genannt, komplexe Kriminalitätsphänomene gemeinsam
zu beobachten, zu analysieren und gegebenenfalls zu bekämpfen. Mich interessiert, welche operativen Mittel
und Instrumentarien die Information Boards der „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“ zur Verfügung stellen.
Frau Kollegin Pau, in Ihrer Frage gibt es ein Missverständnis. Das Information Board ist insbesondere der
Versuch, den Informationsaustausch und den Informationsfluss zwischen den drei Einrichtungen, die ich
Ihnen vorhin genannt habe, in Gang zu halten. Ich wiederhole noch einmal: Es handelt sich um das Bundeskriminalamt, den Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Wir haben dieses Information Board im April 2001
deswegen eingerichtet, weil wir Defizite bei den Informationsaustauschwegen sahen. Es geht nicht in erster
Linie um operative Maßnahmen, sondern es geht in erster Linie um den Informationsfluss und den Informationsaustausch. Das ist ganz wichtig. Jetzt werden Sie
vielleicht fragen, ob das vorher nicht der Fall gewesen
ist. Es gab in der Tat einen gewissen Mangel, was den
Informationsaustausch angeht.
Weitere Zusatzfrage.
Ich habe noch eine Zusatzfrage zur Tätigkeit der „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“. Sie haben die einzelnen Behörden und Bereiche, die zusammenarbeiten, genannt. Können Sie auch etwas dazu
sagen, welche Dienststellen mit wie vielen Mitarbeitern
wie lange für diese Koordinierungsgruppe tätig sind oder
tatsächlich abgeordnet wurden? In dem Bericht vom
30. Juli 2001 wird dies angedeutet.
Die „Koordinierungsgruppe Internationaler Terrorismus“ tagt nicht ständig, sondern, wie ich vorhin ausgeführt habe, anlassbezogen. Das ist auch im Hinblick auf
den Aufwand wichtig. Auch der Aufwand ist anlassbezogen. Die von mir genannten beteiligten Dienststellen
ordnen je nach Anlass immer nur ein, zwei oder drei
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab.
Man hat beispielsweise daran gearbeitet, mit welchen
Kriterien eine bundesweite Rasterfahndung eingeführt
werden könnte. Die Koordinierungsgruppe hat dazu einen Vorschlag erarbeitet, der den Ländern zur Durchführung zugeleitet worden ist. Dieser Vorschlag hatte keinen
verbindlichen Charakter, sondern war ein Angebot bezüglich der Frage, in welcher Form die Rasterfahndung
durchgeführt werden sollte. Wir waren daran interessiert,
dass diesem Instrument bundeseinheitliche Kriterien zugrunde lagen, damit die einzelnen Länderergebnisse objektiv vergleichbar waren.
Eine weitere Frage der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Staatssekretär, wir sprechen hier über ein Problem von hoher datenschutzrechtlicher Relevanz. Es gibt
das Trennungsgebot, das unserer Meinung nach durch
dieses Information Board berührt wird. Ich möchte wissen - ich hoffe, dass Sie das konkret beantworten können -, wie viele Datensätze von welchen in- und ausländischen Behörden in dieses Information Board
eingeflossen sind und welche verfassungsrechtlichen
und vor allen Dingen datenschutzrechtlichen Probleme
sich aus der Sicht der Bundesregierung bei diesem Zusammenfließen und bei der Aufhebung des Trennungsgebotes ergeben könnten.
Erstens. Es handelt sich nicht um eine Aufhebung des
Trennungsgebotes. Das Trennungsgebot erfordert, Nachrichtendienste nicht an polizeiliche Dienststellen anzugliedern bzw. ihnen keine polizeilichen Zwangs- oder
Weisungsbefugnisse zuzuerkennen. Wenn wir hier im
Rahmen der jeweiligen gesetzlichen Befugnisse Informationen austauschen, gemeinsame Lagebilder und Szenarien entwickeln und Handlungsempfehlungen abstimmen, ist dies im Hinblick auf das so genannte
Trennungsgebot völlig unproblematisch. Ich habe Ihnen
bereits dargelegt, welche Anforderungen sich daraus ergeben. Daran halten wir uns und ich denke, damit sind
wir bisher auch gut gefahren.
Zweitens. Die Arbeit des Information Board, das wir
im April 2001 ins Leben gerufen haben, verläuft nicht
so, wie Sie sich das vorstellen. Es werden nicht von vielen Seiten elektronische oder schriftliche Datensätze geliefert; vielmehr tauschen die Vertreter der drei von mir
genannten Einrichtungen in regelmäßigen Abständen Informationen aus. Das ist ein relativ einfaches, aber effektives Verfahren.
Wir kommen zu Frage 25 der Kollegin Petra Pau.
Wie viele antisemitische Straftaten wurden im ersten
Quartal 2004 in der Bundesrepublik Deutschland begangen
und wie viele Opfer dieser Straftaten gab es?
Frau Kollegin Pau, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung, die allerdings in Ihrem Fall fast überflüssig ist; Sie
fragen schließlich öfter nach statistischen Angaben. Die
im Folgenden aufgeführten Zahlen stellen keine abschließende Statistik dar, sondern können sich aufgrund
von Nachmeldungen noch teilweise erheblich verändern.
Sie kennen das Meldeverfahren: Der Bund sammelt nur
die Angaben ein, die die Länder zuliefern.
Im ersten Quartal 2004 wurden insgesamt 263 antisemitische Straftaten gemeldet, die dem Phänomenbereich
„Politisch motivierte Kriminalität - rechts“ zugeordnet
werden. Im ersten Quartal 2004 wurden drei Personen
verletzt. Todesfälle waren nicht zu verzeichnen.
Eine Zusatzfrage, Frau Pau.
Auch meine erste Zusatzfrage ist Ihnen schon bekannt. Ich wüsste gerne, wie sich nach Kenntnis der
Bundesregierung die antisemitischen Straftaten auf die
einzelnen Bundesländer aufteilen. Sollte Ihnen die Beantwortung dieser Frage nicht möglich sein, wüsste ich
gerne, wann die Erhebung dieser Statistik eingestellt
wurde. Sie erinnern sich sicherlich an unseren Disput im
März, als Sie mir die Aufschlüsselung nach Ländern für
das vierte Quartal 2003 nicht nennen konnten.
Ich erinnere mich nicht, dass wir einen Disput hatten,
Frau Kollegin Pau. Ihrer Bitte komme ich gerne nach. Es
wäre sicherlich etwas langweilig für die Anwesenden,
wenn ich die Angaben einzeln verlesen würde. Ich lasse
sie Ihnen deshalb schriftlich zukommen.
Sie sind auch stets daran interessiert, zu erfahren, ob
es bezogen auf die einzelnen Bundesländer bestimmte
regionale Schwerpunkte gibt. Meines Erachtens stellt
keine Zahl bezogen auf ein einzelnes Bundesland einen
Ausreißer nach oben dar. Die Angaben müssen auf die
Bevölkerungszahl hochgerechnet werden. Insofern ist sicherlich nicht von einem besonderen Schwerpunkt auszugehen. Aber Sie können sich weiterhin fleißig informieren und mich gegebenenfalls dazu befragen.
Zweite Zusatzfrage, Frau Pau.
Erst möchte ich mein Einverständnis erklären. Mit Erlaubnis des Präsidenten sollten wir dann die lang geübte
Praxis der Übergabe ans Protokoll üben, damit sich auch
die nicht anwesenden Kollegen informieren können.
Meine zweite Nachfrage stelle ich vor dem Hintergrund der derzeit in Berlin stattfindende Antisemitismuskonferenz der OSZE. Ich frage Sie, welche verfassungsschutzrelevanten Erkenntnisse die Bundesregierung über
die Aktivitäten und begangenen Straftaten des rechtsextremen „Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“ hat und über welche Verbindungen diese Vereinigung der Holocaust-Leugner
nach Kenntnis der Bundesregierung ins Ausland verfügt.
Frau Kollegin Pau, sehen Sie es mir nach; ich habe
vieles im Kopf und kenne mich auch aus, aber ich sehe
mich außerstande, Ihre Frage zu beantworten, welche
speziellen Erkenntnisse dem Verfassungsschutz vorliegen. Ich glaube, dass Ihre ursprünglich gestellte Frage
mit dieser Zusatzfrage sehr ausgeweitet wird. Aber ich
bin gerne bereit, mich zu informieren, ob es spezielle Erkenntnisse gibt, ob sie gegebenenfalls weitergegeben
werden können und inwieweit sie in bestimmte Lagebeurteilungen eingeflossen sind. Ich denke, das wäre gegebenenfalls auch wichtig.
Eine weitere Frage der Kollegin Veronika Bellmann.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, ob es im
Rahmen der EU-Osterweiterung Erhebungen zum
Thema „Antisemitismus und antisemitische Straftaten“
gibt und, wenn ja, ob sie möglicherweise Bestandteil des
Gutachtens sind, das zur Kriminalitätsentwicklung im
Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung erstellt worden ist. Dem Vernehmen nach gibt es ein solches Gutachten, das die Bundesregierung aber nicht veröffentlicht. Ich möchte also gerne wissen, ob es überhaupt
Aussagen dazu gibt und, wenn ja, ob das Gutachten
Nachforschungen betreffend das Thema Antisemitismus
enthält.
Frau Kollegin, ich kann Ihnen gegenüber folgende
Aussage machen: Die EU-Erweiterung bedeutet, dass
unsere Nachbarländer Tschechien und Polen vom
1. Mai dieses Jahres an, also in wenigen Tagen, Mitglieder der EU sein werden. Aber man muss wissen, dass
mit dem EU-Beitritt nicht gleichzeitig eine Mitgliedschaft im so genannten Schengen-Verbund einhergeht.
Der Schengen-Verbund sieht die Erfüllung bestimmter
Sicherheitskriterien vor, beispielsweise wie die polizeiliche Arbeit an der Grenze zu erfolgen hat. Diese Kriterien sind nicht automatisch mit dem EU-Beitritt erfüllt;
das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Europäische
Union hat ein klares Verfahren dafür entwickelt, wie die
Erfüllung dieser Kriterien überprüft wird und wann die
Mitgliedschaft in der EU auch in eine Mitgliedschaft im
so genannten Schengen-Verbund übergeht. Das ist für
uns im Hinblick auf die Entwicklung der Kriminalität,
insbesondere der organisierten Kriminalität, und in der
Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern ganz
wichtig. Hier leisten wir im Übrigen Erstaunliches. Beispielsweise sind mit unseren polnischen Nachbarn insgesamt sage und schreibe 8 500 gemeinsame Streifen
durchgeführt worden. Das ist ein beachtliches Ergebnis
der Zusammenarbeit.
Wir werden uns gemeinsam beispielsweise auch mit
der Fragestellung auseinander setzen müssen, wie es um
das antisemitische Verhalten in den einzelnen Mitgliedstaaten bestellt ist. Eines kann man schon jetzt sagen:
Antisemitismus ist ein europaweites Phänomen. Es lässt
sich in den verschiedensten Mitgliedstaaten vorfinden,
wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung. Angesichts dessen ist es ganz wichtig, dass man bei der Bekämpfung und der Begegnung solcher Phänomene gut
zusammenarbeitet.
Eine weitere Frage der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Staatssekretär, ich möchte noch etwas enger an
die Fragen von Frau Pau anknüpfen. Mich interessiert,
welche verfassungsschutzrelevanten Kenntnisse die
Bundesregierung über aktuelle antisemitische und geschichtsrevisionistische Aktivitäten von Rechtsextremen
und so genannten neuen rechten Gruppierungen in der
Bundesrepublik insgesamt hat.
Frau Kollegin, hier verweise ich Sie auf unseren Verfassungsschutzbericht, der jedem Mann und jeder Frau
öffentlich zugänglich ist und der kein Buch mit sieben
Siegeln ist. Dort wird sich sehr ordentlich und ordnungsgemäß mit diesem Fragenkomplex auseinander gesetzt.
Wenn Sie kein Exemplar haben sollten, überreiche ich
Ihnen gerne eines.
Wir kommen zur Frage 26 der Kollegin Ina Lenke:
Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des Bundesministers des Innern, Otto Schily - vergleiche „Süddeutsche Zeitung“ vom 19. März 2004 -, die Einführung eines allgemeinen Pflichtjahres schaffe ein Abwehrbewusstsein der
deutschen Bevölkerung gegen den internationalen Terrorismus?
Frau Kollegin Lenke, die Einführung eines sozialen
Pflichtjahres ist nicht nur eine Rechtsfrage. Der Bundesminister des Innern hat vielmehr auch auf den politischen und den gesellschaftlichen Kontext hingewiesen.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Lenke.
Nach dieser spärlichen und nichts sagenden Antwort,
Herr Staatssekretär, die Sie mir heute hier geben, halte
ich das, was vonseiten der Bundesregierung gesagt worden ist - nicht das, was Sie gesagt haben -, für eine politische Frechheit. Herr Innenminister Schily hätte hierher
kommen sollen, um im Plenum die Stirn zu bieten. Erstens. Er hat einen Pflichtdienst gefordert, der länger ist
als der jetzige.
Zweitens. Er verbindet einen sozialen Pflichtdienst
mit einem Terrorabwehrdienst, der innerhalb von zwölf
Monaten zu leisten ist. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage von Bundesinnenminister Otto Schily,
die Einführung eines allgemeinen Pflichtjahres schaffe
ein Abwehrbewusstsein der deutschen Bevölkerung - sie
besteht nicht nur aus jugendlichen Männern und Frauen,
sondern auch aus Alten - in Bezug auf den internationalen Terrorismus? Schily verbindet Letzteres also mit einem allgemeinen Zwangsdienst.
Frau Kollegin, ich möchte dahingestellt sein lassen,
ob Ihre Bewertung unserer Antwort korrekt ist. Ich
denke, dass Sie sich da zumindest an einer Grenze dessen bewegen, wie man miteinander umgeht.
({0})
Im Übrigen bedeutet die Übernahme eines Ministeramtes nicht, dass ein Minister nicht über bestimmte Fragestellungen nachdenken und sich entsprechend äußern
darf.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Wie sollte eine Ausbildung in diesem zwölfmonatigen Zwangsdienst aussehen, um gegen den internationalen Terrorismus auf deutschem Boden wirksam vorgehen zu können? Das heißt unter anderem natürlich, dass
an Waffen ausgebildet wird.
Frau Kollegin Lenke, Sie unterstellen konkrete
Dinge. Eine Beantwortung dieser Frage steht hier nicht
an.
Eine weitere Frage des Kollegen Löning.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Ausgangsfrage
noch immer nicht beantwortet. Ich möchte Sie bitten, das
nachzuholen. Gibt es einen Standpunkt der Bundesregierung zur Einführung des allgemeinen Pflichtjahres, wie
es Herr Schily gefordert hat?
Sie haben die Ausgangsfrage wohl selbst nicht richtig
verstanden. Sie beziehen sich auf den Bundesinnenminister und nicht auf die Bundesregierung. Dazu habe ich
Ihnen eine Antwort gegeben.
Eine weitere Zusatzfrage stellt die Kollegin Petra Pau.
Herr Staatssekretär, ich möchte am Denkprozess des
Bundesinnenministers, den Sie hier eben erwähnt haben,
jetzt gern teilnehmen. Es kann uns ja nicht schaden,
wenn wir den tief gehenden Erkenntnissen des Herrn
Minister Schily folgen und über Schlussfolgerungen
nachdenken. Deshalb wüsste ich jetzt gern, wie der Innenminister die Aussage meint, dass ein allgemeines
Pflichtjahr ein Abwehrbewusstsein der deutschen Bevölkerung in Bezug auf den internationalen Terrorismus bewirkt. Wie begründet er dieses Ergebnis seines Denkprozesses?
Ich habe bei der Beantwortung der Ausgangsfrage
ganz bewusst darauf hingewiesen, dass der Bundesminister des Innern auf den politischen und gesellschaftlichen Kontext eingegangen ist, in den eine solche Fragestellung eingebunden werden muss, und darauf, wo es an
der einen oder anderen Stelle Auswirkungen geben
könnte, wie Sie sie in Ihrer Frage beschreiben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Die Frage 27 soll
gemäß Ziffer 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Alle Fragen
dazu - es handelt sich um die Fragen 28 bis 32 - sollen
schriftlich beantwortet werden.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Die Aktuelle Stunde soll um 15.30 Uhr aufgerufen
werden; deswegen unterbreche ich jetzt die Sitzung.
({0})
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Die Fraktion der CDU/CSU hat gemäß Ziffer I.1
Buchstabe b der Richtlinien für Aussprachen zu Themen
von allgemeinem aktuellen Interesse zu der Antwort der
Bundesregierung auf die dringlichen Fragen 1 und 2 eine
Aktuelle Stunde verlangt.
Ich rufe daher auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Auswirkungen korrigierter Wachstumserwartungen auf die Haushaltssituation
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt,
Herrn Professor Wolfgang Böhmer.
({0})
Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich darf Sie zunächst an die vielen Diskussionen
erinnern, die wir im Dezember des letzten Jahres miteinander geführt haben. Uns wurde verheißungsvoll versprochen: Wir müssen nur die Steuerreform vorziehen,
uns bis über die Ohren verschulden,
({2})
dann wird das einen solchen Konsumrausch auslösen,
dass das alles am Ende zu einem wirtschaftlichen Aufschwung führt und die Steuereinnahmen wieder stärker
fließen. - Ich habe Ihnen schon damals gesagt: Das ist
schlicht eine politische Klapperstorchgeschichte.
Wenn Sie jetzt das Gutachten der so genannten Wirtschaftsweisen lesen, dann können Sie alles das wiederfinden, was wir schon damals gesagt haben: Unter den
gegenwärtigen Rahmenbedingungen wird ein solcher
Effekt nicht eintreten. - Genau das hat sich bestätigt.
({3})
Die Reduzierung der prognostizierten wirtschaftlichen Daten betrifft uns alle. Sie ist für niemanden ein
Grund zur Freude. Es wird wieder diejenigen am meisten treffen, deren wirtschaftliche Entwicklung ohnehin
schon am schlechtesten ist, und das sind nun leider die
neuen Bundesländer. Seit etwa 1998 ist das wirtschaftliche Bruttowachstum in den neuen Bundesländern geringer als in den alten. Wir müssen uns immer wieder
den gepflegten Vorwurf anhören, die uns zur Verfügung
gestellten finanziellen Hilfen nicht zweckentsprechend
und nicht vernünftig verwandt zu haben. Dies ist schlicht
unbegründet.
Seit der Wiedervereinigung hat es in den neuen Bundesländern einen wirtschaftlichen Transformationsprozess und einen Strukturwandel gegeben, der - das wissen wir alle - in der Wirtschaftsgeschichte beispiellos
ist. Da ist von vielen vorzeigbaren Erfolgen zu berichten.
Richtig ist aber auch, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen sein kann und dass er völlig ungleichmäßig
verlaufen ist.
Die neuen Bundesländer umfassen etwa ein Drittel
der Fläche und stellen weniger als ein Fünftel der Bevölkerung. Sie erwirtschaften etwa ein Zehntel des Sozialprodukts und leisten nur gut ein Zwanzigstel des Exports
Deutschlands. Gemessen am westdeutschen Niveau beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner etwa
62 Prozent, die durchschnittliche Produktivität pro Einwohner etwa 72 Prozent, der Kapitalstock pro Einwohner 68 Prozent und die öffentliche Infrastruktur pro Einwohner 75 Prozent. Die Selbstständigenquote liegt bei
uns bei etwa 88 Prozent der westdeutschen. Die Lohnstückkosten betrugen 2002 etwa 108 Prozent des westlichen Niveaus. Sie sind zwischendurch etwas gefallen.
Die Arbeitslosenquote liegt immer noch bei etwa
254 Prozent der westdeutschen.
Da der wirtschaftliche Strukturwandel und der Aufbauprozess nicht nur mit einer Währungs- und Wirtschaftsunion begannen, sondern bald auch eine Sozialund Rechtsunion folgte, müssen wir Sozialleistungen
finanzieren, die deutlich über der eigenen Wirtschaftskraft liegen. Wir müssen in einem Normendickicht und
Rechtsrahmen entscheiden, den sich die alten Bundesländer erst Mitte der 70er-Jahre gegeben haben und unter
dem sie auch nach der eigenen Sicht ihre Aufbauleistung
während der 60er-Jahre nicht hätten schaffen können.
Hinzu kommt, dass wir unsere Wirtschaft gegen einen
gesättigten Markt aufbauen mussten und eigentlich nur
als Kunden interessant waren und sind. Dagegen mussten wir unsere Rolle als Produzenten mühsam erkämpfen. Der so genannte Aufbau Ost ist deswegen noch
lange nicht vollendet. Er ist aber auch nicht grundsätzlich misslungen. Ich widerspreche da allen, die anderes
sagen.
({4})
Die uns zur Verfügung gestellten Sonderbundesergänzungszuweisungen werden zur Behebung der teilungsbedingten Sonderlasten verwandt. Dazu gehört aber auch
die Finanzierung der Sonderversorgungssysteme der
ehemaligen DDR nach Maßgabe von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, in denen uns - das wissen Sie
alle - immer mehr Lasten aufgebürdet wurden.
({5})
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({6})
In keinem Bundesland wird noch Wirtschaftsförderung
nach dem so genannten Gießkannenprinzip praktiziert.
Dieses wird tatsächlich nur noch in den Medien vertreten
und dort leider immer wieder stereotyp wiederholt. Wir
möchten allerdings über Struktur und Schwerpunkte der
Wirtschaftsförderung selbst entscheiden. Das Zusammenlegen der so genannten Ostförderung der vier Förderministerien der Bundesregierung - diesen Vorschlag
habe ich kürzlich gehört - in einer Institution, die zentral
über die Förderwürdigkeit entscheidet, also eine so genannte Cluster-Bildung, würde aus unserer Sicht ein
Wiederaufgreifen der Wirtschaftssteuerung durch eine
staatliche Plankommission bedeuten. Diese Zusammenlegung wird von allen neuen Bundesländern abgelehnt.
({7})
Sie widerspräche auch den Zielvorstellungen, die wir in
der Föderalismuskommission zurzeit gemeinsam diskutieren.
Wir leugnen dabei nicht, dass wir noch weitere Hilfe
brauchen. Das heißt aber nicht, noch mehr Geld. Das
heißt vor allen Dingen, mehr Rechte, mehr rechtliche
Freiheit, um uns selbst helfen zu können.
({8})
Das heißt auch, mehr eigene Gestaltungs- und Regelungszuständigkeiten. Wir möchten gerne Herrn Bundeswirtschaftsminister Clement beim Wort nehmen und im
Osten eine so genannte Innovationsregion mit weitgehender Deregulierung schaffen. Wir brauchen zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen nicht nur kurzfristige Eingliederungshilfen - diese gibt es ja schon -,
sondern für längere Zeit Lohnkostenzuschüsse. Das ist
immer noch besser als Sozialtransfer ohne Gegenleistung.
({9})
Je eher die im so genannten Korb II zugesagten Investitionshilfen zur Verfügung gestellt werden, umso eher
können sie wirksam werden. Die Entwicklung der Löhne
muss sich konsequent an der Entwicklung der Produktivität orientieren. Was in den Niederlanden, meine Damen und Herren, schon 1982 im so genannten Pakt von
Wassenaar mit den Gewerkschaften vereinbart werden
konnte, sollte auch bei uns offiziell möglich sein.
({10})
Hier hat nämlich die Wirklichkeit wenigstens in den
neuen Bundesländern den Gesetzgeber schon überholt.
Für unterentwickelte Regionen sollten grundsätzlich
vereinfachte Regelungen im Genehmigungs- und Arbeitsrecht gelten. Das verlangt aus meiner Sicht - auch
das will ich sagen; das brauchen wir nämlich, damit innerhalb Deutschlands die Situation entspannt und entkrampft wird - eine grundsätzlich neue Strategie der
Förderpolitik in Deutschland. Wir erfassen genügend
Messdaten, um die wirtschaftliche Situation einer Region definieren zu können. Die Strukturförderung der
Europäischen Union praktiziert das ja längst. Unabhängig von der geographischen Lage - das heißt, ob Ost
oder West - oder dem Alter eines Landes ist die Förderbedürftigkeit dann gegeben, wenn bestimmte vereinbarte
Messwerte in definierter Weise unterschritten werden.
Das würde die gegenwärtige Diskussion auf ein ganz anderes Niveau stellen und die Förderpolitik in Deutschland so umstrukturieren, dass es keine Eifersüchteleien
mehr zwischen Ost und West gibt.
({11})
Die wirtschaftliche Situation in Deutschland kann
nicht besser werden, wenn sie nicht zunächst dort besser
wird, wo sie gegenwärtig noch am schlechtesten ist. Die
neuen Bundesländer werden nur aufholen, wenn sie über
einen längeren Zeitraum ein höheres Wirtschaftswachstum als der Rest der Republik haben. Den Vorschlag von
Herrn von Dohnanyi in den Schönhauser Wirtschaftsgesprächen im vorigen Jahr, nämlich in Deutschland getrennte Wirtschaftsstatistiken einzuführen, haben wir,
meine Damen und Herren, damals abgelehnt und lehnen
wir auch heute ab. Die Vereinigung Deutschlands sollte
auf dem Papier nicht rückgängig gemacht werden, also
auch nicht in der Statistik.
({12})
Wenn es uns nicht gelingt, die neuen Bundesländer
weiterzuentwickeln und die Bevölkerungswanderung
aufzuhalten, wird am Ende die gesamte Bundesrepublik
darunter leiden. Die demographischen Verschiebungen
und die Wanderungsverluste werden zu Konsequenzen
führen, die uns allen schaden und die die bestehenden
Probleme verschärfen.
Deshalb liegt es im wohlverstandenen Interesse auch
der westlichen Bundesländer, dass der Aufbau im Osten
gelingt. Dabei haben wir - das wollen wir ganz offen sagen - auch einige Fehler gemacht. Die Einbeziehung der
ostdeutschen Länder in das westdeutsche Arbeits- und
Sozialrecht geschah auf der Basis der damaligen Gesetzeslage, die die Wohlstandsgesellschaft Westdeutschland
in den 70er-Jahren entwickelt hatte. Es war irreal, anzunehmen, dass die neu gegründeten, noch völlig kapitalschwachen Betriebe in Ostdeutschland auf der Grundlage des geltenden Sozial- und Arbeitsrechtes ihren
Strukturwandel würden organisieren können.
Der Wirtschaftsaufbau in einem gesättigten Markt bedeutet für uns vor allen Dingen die Förderung von Innovation sowie industrienaher Forschung und Entwicklung. Das böte auch Chancen auf Arbeitsplätze für junge
Menschen, die dann im Lande blieben.
Meine Damen und Herren, ich höre jetzt immer wieder, dass die Bundesregierung viel Zeit für die Diskussion von gesetzlichen Vorhaben verwendet, von denen
sie sagt, dass sie diese Gesetze eigentlich gar nicht anwenden will. Darum mache ich den Vorschlag, diese Zeit
für die Umsetzung der Vorschläge des Bundeswirtschaftsministers zu nutzen; denn das sind Vorschläge,
die wir alle gerne umgesetzt sähen.
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({13})
Vielen Dank.
({14})
Für die Bundesregierung hat nun der Bundesminister
für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sollten uns über eines klar sein: Es gibt eine
Wachstumsbremse in Deutschland
({0})
- das haben Sie schon gestern gesagt; das ist keine Novität - und diese Wachstumsbremse sind die Schlechtredner, diejenigen, die ständig blockieren,
({1})
und diejenigen, die den Pessimismus in Deutschland
pflegen. Herr Austermann, Sie gehören sicher dazu.
Das Gutachten der Wirtschaftssachverständigen, Herr
Kollege Niebel, gibt wirklich keinen Anlass zu Pessimismus. Dort steht schwarz auf weiß, was richtig und
notwendig ist. Übrigens steht in dem Gutachten auch,
Herr Kollege Niebel, dass die in Angriff genommenen
Arbeitsmarktreformen Schritte in die richtige Richtung
sind.
Dabei wissen wir alle, dass solche Strukturreformen
keine direkten konjunkturellen Impulse geben können.
Sie wirken aber am Arbeitsmarkt und tragen dazu bei,
das Geschäftsklima zu verbessern. Die Gutachter unterstreichen zu Recht, dass viele unserer Arbeitsmarktreformen das Wachstumspotenzial steigern. Dadurch kann die
wirtschaftliche Belebung, die in einen Aufschwung
übergehen muss, stärker ausfallen und länger anhalten,
als es ohne die Reformen der Fall wäre.
Ich teile aber auch die Auffassung der Institute, dass
kein Grund besteht, die Hände in den Schoß zu legen,
sondern dass wir auf dem Weg umfassender wirtschaftspolitischer Reformen weiter vorangehen müssen - so
wie wir das tun, ob Sie das wollen oder ob Sie das
blockieren.
({2})
Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben, wie Sie
feststellen konnten, ihre Prognose für das Bruttoinlandsprodukt des Jahres 2004 von 1,7 auf 1,5 Prozent korrigiert. Dazu mag der schwache Konjunkturverlauf im ersten Quartal dieses Jahres beigetragen haben, der
schlechter war als erhofft. Ich nehme nicht an, dass Sie
darauf gehofft hatten.
({3})
Wir befinden uns aber jetzt in einer Phase der deutlichen
Besserung. Ebenso mag der gestiegene Ölpreis zu der
leichten Anpassung beigetragen haben. Dabei möchte
ich unterstreichen, was der Bundeskanzler gestern gesagt hat: Für die Experten ist es schwer, jemandem wie
mir die Korrektur der Prognose für das Bruttoinlandsprodukt von 1,7 auf 1,5 Prozent volkswirtschaftlich oder
wissenschaftlich zu begründen und zu erläutern. Aber
ich nehme diese Korrektur zur Kenntnis.
({4})
Wir sollten die Dinge sehen, wie sie sind. Die Gemeinschaftsprognose bewegt sich jedenfalls im Rahmen
der Vorausschätzung der Bundesregierung. Sie wissen,
dass wir von einem Wachstum zwischen 1,5 und
2 Prozent ausgehen. Wir bewegen uns zurzeit am unteren Rand dieser Prognose, wie alle Institute feststellen.
Aber nichts spricht dagegen, dass sich die Beschleunigung des konjunkturellen Verlaufs in diesem Jahr und
erst recht im nächsten Jahr erhöht. So stellt es sich jedenfalls aus der Sicht unserer und auch anderer Fachleute
dar. Im Hinblick auf die Entwicklung im nächsten Jahr
sind die Schätzungen der Institute zu vorsichtig. Sie
rechnen aber mit einer konjunkturellen Beschleunigung
für das Jahr 2005. Das heißt, wir alle, vor allem die Wirtschaft, treten allmählich das Gaspedal durch. Wir haben
den Reformmotor in Gang gesetzt. Sie haben es nicht getan; wir haben es getan.
({5})
Wir sind überzeugt, dass wir noch in diesem Jahr weitere
Früchte ernten können.
Da ich schon das Stichwort Wachstumsbremse erwähnt habe, möchte ich auf zwei konkret hinweisen. Die
eine Wachstumsbremse ist namentlich Herr Ministerpräsident Koch mit seinem Hin und Her beim Optionsmodell.
({6})
Die Institute - wir werden das morgen noch im Einzelnen diskutieren - schreiben ihm ins Stammbuch
({7})
- regen Sie sich ab und lesen Sie es nach! -, dass ein
Nebeneinander verschiedener Modelle beim Arbeitslosengeld II, also bei der sozialen Grundsicherung, zu
Reibungsverlusten führt und nicht unproblematisch ist.
Das heißt, die Institute bescheinigen ihm das, was Sie
ständig beklagen, nämlich den Hang zu einer aufgeblähten Bürokratie, die den angestrebten Effizienzgewinn zunichte machen kann. Sie werden verstehen, dass ich das
- anders als Sie, Herr Niebel - genauso sehe.
Wir haben mit der vorgezogenen Steuerreform die Investitionsbedingungen für Unternehmen verbessert und
den Arbeitsmarkt flexibilisiert. Damit bin ich bei der
zweiten Wachstumsbremse. Sie sind es wiederum gewesen, die verhindert haben
({8})
- hören Sie auf zu lachen und hören Sie einfach zu! -,
dass die dritte Stufe der Steuerreform in einem Schritt
umgesetzt wurde.
({9})
Die Nachfrage und auch die Investitionsbereitschaft in
Deutschland wären natürlich jetzt größer, wenn wir die
Steuerreform in einem Schritt vollzogen hätten.
({10})
Sie haben - das wissen auch Sie - aus opportunistischen
Gründen einen Fehler gemacht und damit der gesamten
Volkswirtschaft in Deutschland Schaden zugefügt. Das
ist nun einmal so.
Sie mögen den Pessimismus pflegen und die positive
Entwicklung schlechtreden wollen. Aber Sie werden
nicht an der Tatsache vorbeikommen können, dass der
Ifo-Geschäftsklimaindex insbesondere für den Einzelhandel signalisiert, dass die privaten Haushalte wieder
Vertrauen fassen und dass der private Konsum die Binnenkonjunktur demnächst beleben wird. Das bestätigt
auch der Konsumklimaindikator der Gesellschaft für
Konsumforschung.
Diese positive Tendenz zeigt sich auch beim Auftragseingang. Sie können heute den Nachrichten entnehmen
- das deutete sich schon auf der Hannover-Messe an -,
dass der deutsche Maschinen- und Anlagenbau nach den
vier hervorragend verlaufenen Monaten November, Dezember, Januar und Februar eine weitere positive Entwicklung erwartet. Wenn diese ansteigende Tendenz bis
etwa Juni andauert - der VDMA meldet für März einen
Anstieg der Aufträge im deutschen Maschinenbau um
37 Prozent -, dann wird das Wachstum im deutschen
Maschinenbau, der Schlüsselindustrie für die gewerbliche Wirtschaft, nicht nur 2 Prozent, sondern mehr als
3 Prozent betragen. Sie werden erleben, dass es aufgrund
dieser Tatsache eine Verbesserung der Situation am Arbeitsmarkt gibt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das
zusammen mit mir begrüßen würden, anstatt zu versuchen, diese positive Entwicklung zu leugnen.
({11})
Herr Ministerpräsident Böhmer, hinsichtlich des Aufbaus Ost sagen die Institute sehr eindeutig: Wenn
Deutschlands Wirtschaft insgesamt nicht wieder an Dynamik gewinnt, wird auch der Osten keine ausreichenden Wachstumsimpulse erhalten. Um es klar zu sagen:
Alles hängt davon ab, dass die Wirtschaft in Deutschland
an Fahrt gewinnt. Es wäre gut, wenn alle politischen und
wirtschaftlichen Kräfte - ob es Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verwaltungen oder Gewerkschaften sind - auf dieses Ziel hinarbeiten würden. Der Osten muss nicht auf
Dauer - gewissermaßen gottgegeben - ein Niedriglohngebiet bleiben. Wir werden ihn auch nicht per Gesetz
dazu machen; niemand von uns denkt im Traum daran.
Diejenigen, die daran denken, sollten sich das aus dem
Kopf schlagen. Das ist die falsche Antwort, die von uns
nicht gegeben wird.
Es wird auch übersehen - in diesem Punkt stimme ich
mit Herrn Ministerpräsident Böhmer überein -, dass in
Ostdeutschland bereits eine Menge entstanden ist, wesentlich mehr, als wir bei all diesen allgemeinen Szenarien zur Kenntnis nehmen. Es sind wettbewerbsfähige
Unternehmen entstanden, von denen einzelne inzwischen eine bessere Lohn- und Tarifstruktur haben als
Unternehmen in Westdeutschland. Ich denke beispielsweise an die Region Jena. Ich könnte Ihnen noch viele
andere Regionen aufzählen, die inzwischen ein Wachstumskern sind und eine außerordentlich positive Entwicklung aufweisen. Die Unternehmen, die dort sehr
erfolgreich Produkte herstellen, haben gute Zukunftschancen.
Schauen Sie sich beispielsweise die Entwicklung der
Halbleiterindustrie in der Region Dresden an. In diesem
Bereich gibt es 11 000 Arbeitsplätze. Etwa 20 000 Arbeitsplätze wurden in der Zuliefererindustrie geschaffen.
Die Amerikaner würden längst von einem „Chip Valley
Dresden“ sprechen. Aber wir sind immer noch dabei,
Gemälde zu zeichnen, die Schrecken in Deutschland
verbreiten. Ich will ganz klar sagen, dass wir uns daran
nicht beteiligen werden.
({12})
Herr Ministerpräsident Böhmer, Sie haben von einer
Plankommission gesprochen, die entstehen soll. Ich
weiß nicht, wo diese entstehen soll. Wir sollten uns vor
Popanzen hüten und uns nicht wechselseitig vorhalten,
dass sich nichts tut und niemand die Absicht hat, etwas
zu tun.
Sie wollen keine neuen Trennungen. Sie können sich
darauf verlassen: Auch wir wollen das nicht. Wir wollen
eine positive Entwicklung in ganz Deutschland. Aber
selbstverständlich brauchen wir vermehrt und auf lange
Zeit Anstrengungen in Ostdeutschland. Ich weiß sehr
persönlich, wovon ich rede. Als jemand, der aus dem
Ruhrgebiet kommt, habe ich einige Erfahrungen damit.
Was die Entwicklung von Zentren, von wettbewerbsfähigen Regionen und deren Ausstattung, die sie erhalten müssen, angeht: Von den im Rahmen des Finanzausgleiches auszuzahlenden Mitteln - bis 2019 sind es
ungefähr 153 Milliarden Euro - fließen etwa 100 Milliarden zu Ihnen, zu den Länderministerpräsidenten und in
die Länder. Deshalb liegt die Verantwortung für die Entwicklung solcher Zentren in ganz besonderer Weise bei
Ihnen. Sie werden in diesem Prozess voranschreiten. Ich
denke, dass wir, wenn der Abend kommt und der Tag
etwas ruhiger gestaltet wird, darüber sehr viel präziser
miteinander reden können, als das jetzt der Fall ist.
Was die Innovationsregionen angeht, bin ich sehr dafür, dass sich alle Regionen in Deutschland an dem Prozess der Deregulierung und der Entbürokratisierung beteiligen. Eines will ich allerdings in aller Klarheit sagen
- das habe ich schon mehrfach auf Anfragen von Wirtschaftsministerkollegen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen gesagt -: Ein Sonderarbeitsrecht mit
einem verminderten Kündigungsschutz oder eingeschränkten Tarifverträgen beispielsweise wird, kann und
sollte es nach meiner festen Überzeugung in Deutschland nicht geben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir
demnächst ein sachsen-anhaltinisches Arbeitsrecht haben, das anders ist als das Arbeitsrecht im übrigen
Deutschland.
({13})
Das werden wir nicht machen. Ich weiß nicht, ob Sie das
wollen. Auch das würde zu Trennungen führen, die niemand von uns für richtig halten kann. Deshalb glaube
ich, dass wir gut beraten sind, uns bei dem Thema Innovationsregionen auf Fragen des Bürokratieabbaus sowie
der Verbesserung und Beschleunigung des Verfahrensund Genehmigungsrechts zu konzentrieren. Daraus kann
sich eine Menge an Vorteilen ergeben. Diese sollten wir
nutzen.
Ich teile übrigens die Worte der Wirtschaftsinstitute
zur unmittelbar bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union nach Osteuropa. Um es klar zu sagen
- ich zitiere einen Sachverständigen -:
Sich gegen Outsourcing zu stemmen hieße, auf
Wachstumschancen zu verzichten.
Wir müssen endlich wieder lernen, nicht immer nur
die Nachteile und die Risiken für Deutschland zu sehen,
die es natürlich überall gibt. Wir werden von anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union beneidet.
({14})
Deutschland als exportorientiertes Land wird von den
Wachstumsmärkten in Osteuropa und in Mitteleuropa
profitieren. Die Erweiterung wird nicht zulasten deutscher Arbeitsplätze gehen.
({15})
Herr Minister, gestatten Sie mir nur den Hinweis, dass
nach den Regeln unserer Aktuellen Stunde bei Überschreiten einer bestimmten Redezeit durch Mitglieder
der Bundesregierung auf Verlangen einer Fraktion eine
allgemeine Aussprache eröffnet werden kann. Das soll
für Ihre weiteren Dispositionen ein zielführender Hinweis sein.
Herr Präsident, ich bin für den Hinweis auf die sehr
strengen Gepflogenheiten dankbar.
Ich will deshalb mit einem Wort von Fontane schließen, das ich noch gerne vortragen möchte; denn es wird
hier so oft von Wachstumsbremsen gesprochen. Theodor
Fontane hat gesagt - ich wusste das gar nicht; es ist mir
aufgeschrieben worden; ich finde das Zitat so schön,
dass ich es Ihnen gerne vorlesen möchte; das ist dann der
Schluss, Herr Präsident -:
Der Konservatismus soll übrigens, seinem Wesen
nach, eine Bremse sein. Damit muss man vieles entschuldigen ({0})
in diesem Falle auch manches, was vonseiten der Opposition gesagt wird. Aber Sie wissen: Ich hoffe auf Ihre
Besserung. Alles Gute!
({1})
Das Zitat von Fontane wollen wir auf die Redezeit
von Minister Clement nicht anrechnen.
({0})
Damit erteile ich nun als nächstem Redner dem Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Clement, ich habe mich gestern über Ihren Kommentar zum Frühjahrsgutachten gewundert. Sie behaupten, die grün-roten Minireförmchen hätten schon einen
Effekt auf das Wachstum gehabt; sie seien quasi Wachstumsgeber.
({0})
- So werden Sie von Reuters - ich habe die Meldung dabei - zitiert. Dann hat die Agentur etwas gefälscht. Ihre
Pressestelle sollte das korrigieren.
Ich will aus dem Frühjahrsgutachten zitieren. Die
Gutachter schreiben: Es sei falsch, zu meinen, die bessere Konjunktur sei auch oder sogar vorwiegend das Ergebnis der in Gang gesetzten Reformen und man könne
nur warten, weil vermeintlich genug getan sei. Vielmehr
sei jetzt die Wirtschaftspolitik gefordert, das Potenzialwachstum zu stärken usw., usw.
({1})
Das ist quasi eine Abmahnung, mehr konsequente Reformen zu machen.
Sie haben die Opposition, deren Aufgabe es ist, auf
Fehler - wir können die jetzige Situation nicht als gut
bezeichnen - hinzuweisen, als Wachstumsbremse beschimpft. Wir tun unsere Pflicht, wenn wir auf die Schwächen der grün-roten Politik hinweisen. Sie leisten ausschließlich einen Beitrag zur Verunsicherung der Bürger.
({2})
Das Gutachten zeigt ganz deutlich: Es gibt ein Miniwachstum; wenn wir die Kalendereffekte berücksichtigen, beträgt das Wachstum 0,9 Prozent. Dabei kann
keine Beschäftigung entstehen.
Auch die Prognose für das nächste Jahr ist sehr mäßig. Es gibt Schwächen: Das Potenzialwachstum ist zu
gering, es gibt zu wenig Flexibilität und Investitionen.
Es gibt eine Schwäche auf dem Binnenmarkt aufgrund
des geringen Konsums. Die Menschen sind zutiefst verunsichert. Manche Politiker fordern, die Erbschaftsteuer
zu erhöhen, der Mittelstand wird mit der Ausbildungsplatzabgabe verrückt gemacht und die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Frau Simonis, will die
Mehrwertsteuer erhöhen.
({3})
Wie soll dabei Vertrauen entstehen? Sie verunsichern
die Bürger und jetzt bezeichnen Sie sogar diejenigen, die
zu Recht auf Probleme hinweisen, als die eigentliche
Konjunkturbremse. Bei einer solchen Politik verlieren
die Menschen jedes Vertrauen in die Politik. Sie glauben
Ihnen nichts mehr, die Menschen vertrauen Ihnen nicht
mehr. Deshalb ist Angstsparen zur Realität in Deutschland geworden; daraus entsteht die Schwäche am Binnenmarkt; deshalb wird zu wenig konsumiert und investiert. Das ist die Ursache.
({4})
Sie setzen falsche Rahmenbedingungen. Die Steuerpolitik der Regierung ist nicht konsequent genug. Sie
sind nicht flexibel genug, Sie lockern nicht das Tarifvertragsrecht. Sie wissen, dass hier eine der Zementierungen liegt. Betriebliche Bündnisse für Arbeit sind ohne
Genehmigung der Kartellbrüder von Gewerkschaften
und Arbeitgeberverbänden - nach meiner Auffassung
machen das beide falsch - nicht möglich. Hier müssen
die Betriebe mehr Rechte erhalten. Im Osten Deutschlands - Herr Professor Böhmer weiß das - sind zwei
Drittel aller Arbeitsverhältnisse außerhalb des geltenden
Tarifvertragsrechts.
({5})
Das ist unschön, aber eine Notreaktion, weil Sie zu starre
Regeln setzen.
({6})
Sie müssen Reformen konsequent umsetzen und Vertrauen wiedergewinnen. Durch die Osterweiterung wird
es Niedrigsteuergebiete und Niedriglohngebiete im gemeinsamen Markt geben. Die baltischen Staaten, die
Slowakei und Slowenien haben eine Flat tax von unter
20 Prozent. Es wird relativ bald egal sein, wo der Sitz eines Unternehmens ist, ob beispielsweise in Riga oder in
Köln. Wenn man in Riga unter 20 Prozent Steuern zahlt,
während die Steuern bei uns unverändert hoch bleiben,
wird es zu weiteren Verlagerungen kommen. Sie können
daher nicht diejenigen beschimpfen, die es besser machen, sondern müssen unsere hausgemachten Probleme
lösen.
({7})
Wir müssen endlich aufhören, so zu tun, als sei alles
wunderbar, die Opposition müsse nur ruhig sein. Sie
können nicht alles gesundbeten und dann wird alles
prima.
Vergleichen wir einmal die europäischen Staaten.
Weshalb ist die Arbeitslosigkeit in den Niederlanden weniger als halb so hoch wie in Deutschland? Weshalb ist
sie in Großbritannien weniger als halb so hoch wie in
Deutschland? Warum ist sie in Schweden weniger als
halb so hoch wie in Deutschland?
({8})
Sie ist es deshalb, weil dort eine bessere Politik gemacht
wird, weil es dort mehr Flexibilität gibt und Reformen
konsequent umgesetzt wurden.
({9})
Die Weltwirtschaft betrifft uns alle. Die Asiaten und
Amerikaner machen es besser und aufgrund dessen erleben wir eine laue Belebung. Weil es in Amerika boomt,
ist der Export - Gott sei Dank - angesprungen. Aber der
alte Mechanismus - wenn der Export steigt, springen
Impulse auf den Binnenmarkt über - wirkt zum ersten
Mal nicht. Der Export ist zwar angesprungen; aber der
Binnenmarkt verharrt, weil kein Vertrauen vorhanden ist
und keine Reformen, die zu mehr Flexibilität geführt
hätten, konsequent umgesetzt worden sind. Der Konsum
stagniert aufgrund des Angstsparens. Der Mittelstand hat
kein Vertrauen in die Zukunftsentwicklung. Deshalb haben wir kein kräftiges Wachstum, das wir aber bräuchten. Sie wissen, dass die Beschäftigungsschwelle günstigstenfalls bei 1,5 Prozent Wachstum liegt; bei
0,9 Prozent Wachstum erreichen Sie keine Effekte auf
dem Beschäftigungmarkt. Da helfen auch die schönfärberischen Tricksereien in der Arbeitsmarktstatistik nicht.
({10})
Sie haben die Leute verrückt gemacht. Sie haben die
630-Mark-Arbeitsverhältnisse abgeschafft. Jetzt feiern
Sie Minijobs.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das ist überall festzustellen. Ursache ist die Politik.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Weil hier so viel vom Vertrauen in den
Markt gesprochen wird,
({0})
möchte ich die Frage stellen: Wie sollen die Marktteilnehmer reagieren, wenn sie an einem Tag in der Zeitung
lesen, die Sachverständigen hätten die Wachstumsprognose von 1,7 Prozent auf 1,5 Prozent nach unten korrigiert, und am gleichen Tag in der Zeitung steht, der IfoGeschäftsklimaindex sei überraschenderweise gestiegen? Die einen sind also ein bisschen vorsichtiger, während die anderen eine steigende Zahl nennen.
Ich will damit sagen, dass wir diesen Zirkus,
({1})
indem wir das Geschehen am Binnenmarkt anhand von
Feinstausschlägen innerhalb eines Prognoseszenarios
bewerten, einmal kritisch hinterfragen sollten.
({2})
Ich sage zugespitzt: Wenn Sie der Konjunktur in
Deutschland einen Gefallen tun wollten, dann müssten
Sie einmal ein Jahr lang auf diesen Zirkus verzichten.
({3})
Nun weiß auch ich, dass das nicht geht; aber ich will
darauf hinweisen: Wer wie Herr Brüderle hier ernsthaft
sagt, das Problem sei der Binnenmarkt und die Leute
gingen nicht einkaufen, der muss sich fragen, welche
fast dämonische Wirkung wir diesen Zahlen und der Reduzierung von 1,7 auf 1,5 Prozent zuschreiben.
({4})
Schauen Sie sich im Alltag an, wie sehr negative Prognosen einen tatsächlichen Prozess beschleunigen können - Selffulfilling Prophecy -, dann wissen Sie wirklich, was ich meine.
Andersherum gesagt: Alle hier im Haus würden gut
daran tun, sich darauf zu besinnen, was wir tun können,
damit die optimistischen Kräfte, die Wachstumskräfte,
zunehmen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Es gibt eine
ganz einfache Botschaft: Wir müssen die Reformen in
Deutschland, die wir mit der Agenda 2010 begonnen haben - ich betone bewusst: begonnen haben -, energisch
fortsetzen.
({5})
- Nein, dabei schaue ich Sie an und ich sage Ihnen auch,
warum. Wir müssen eine der entscheidendsten Reformen, nämlich die Abschaffung dieses absurden Systems,
dass wir gleichzeitig eine Sozialhilfe und eine Arbeitslosenhilfe für Arbeitsfähige mit verschiedenen Verwaltungen und Kassen vorhalten, beenden. Diese Reform ist
noch nicht in trockenen Tüchern.
({6})
Ich finde schon, dass sich die Union und vorneweg Herr
Koch den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass sie derzeit die entscheidende Arbeitsmarktreform durch den
Zirkus, den sie im Zusammenhang mit der Frage der Zuständigkeiten veranstalten, blockieren.
({7})
Diese Sache müssen Sie und wir lösen. Dann geht es in
Deutschland auch wieder aufwärts. Dann brauchen wir
nicht weiter über den Niedriglohnsektor zu philosophieren.
({8})
Dazu will ich noch eine Bemerkung machen, auch
wenn Ministerpräsident Böhmer leider nicht mehr da ist.
Ein breiter, aus Staatszuschüssen finanzierter Niedriglohnsektor in Deutschland, sei es im Osten oder sei es
überall in Deutschland, ist, wenn man es genau nimmt,
ökonomischer Unsinn. Es kommt vielmehr darauf an, für
die Menschen, die arbeiten können, aber aus spezifischen Gründen über die Brücke zum Arbeitsmarkt
schwer gehen können, individuell zugeschnittene Lösungen zu finden, damit sie in den Arbeitsmarkt gelangen.
Dabei ist übrigens das Arbeitslosengeld II ein enormer
Fortschritt gegenüber dem Status quo einer Sozialhilfe,
die eine Sozialstaatsfalle ist.
({9})
Wenn wir in Deutschland über irgendetwas diskutieren sollten, dann über die Frage, wie wir die Begehbarkeit der Brücken in den Erwerbsarbeitsmarkt verbessern
können. Ein breiter, staatlich subventionierter Niedriglohnsektor ist doch wohl ein Witz. Ich bin erstaunt, dass
ein solcher Vorschlag heute von der Union kommt, die
immer gesagt hat, sie lehne breit angelegte Subventionen
für den Arbeitsmarkt ab. In den Folgebeiträgen müssen
Sie dem Hohen Hause wirklich erklären, wie Sie jetzt
auf diese Idee gekommen sind. Es gibt intelligentere Lösungen, die mehr auf den Einzelfall zugeschnitten sind.
Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in
Deutschland und der Debatten der letzten Monate - man
kann fast sagen: der letzten Jahre - kommen meine Fraktion und ich zu der Überzeugung, dass das Defizit in
Deutschland ganz klar bei den Innovationen liegt und
dass wir dort zulegen müssen.
Deswegen sage ich Ihnen:
({10})
Es wird um Investitionen in Forschung und Bildung gehen. Noch eine Steuerreform durchzuführen, die uns
10 oder 20 Milliarden Euro kostet - solche Rezepte taugen nichts. Zuerst müssen wir in den genannten Bereichen investieren.
({11})
Denn, Herr Brüderle, den Wettbewerb mit den Löhnen in
Tschechien oder Litauen werden wir - Marktwirtschaft
hin oder her - nicht gewinnen können. Dieser Wettlauf
ist absurd.
({12})
Wir müssen es schaffen, an unseren deutschen Standorten Produkte zu entwickeln, Dienstleistungen zu erbringen und Produktionsverfahren einzusetzen, wie sie
in anderen Ländern, egal welche Löhne dort gezahlt
werden, nicht möglich sind.
({13})
Dazu müssen wir im Parlament gemeinsame Anstrengungen unternehmen.
({14})
Das würde viel mehr helfen, als wenn wir uns voodoomäßig darüber unterhalten, ob das Wirtschaftswachstum
1,5 Prozent oder 1,7 Prozent betragen wird.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
({0})
Das ist sehr schön.
Eines möchte ich an meine Nachredner gerichtet sagen: Ich muss gleich weg; wer mich also beleidigen
möchte, sollte sich an den Kollegen Schulz wenden. Da
ich mich für meine Verhältnisse sehr bemüht habe, heute
niemanden zu beleidigen,
({0})
bitte ich Sie, meine Abwesenheit ausnahmsweise zu entschuldigen.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der deutsche
Wachstumsmotor stottert; im Rest der Welt läuft es wie
geschmiert.
({0})
Das sollte sowohl Ihnen, Herr Minister Clement, als
auch Ihnen, Herr Kuhn, reichlich zu denken geben. Dass
die Wirtschaft in allen Teilen der Welt läuft, nur nicht in
der Bundesrepublik, das muss doch Gründe haben.
({1})
Da Sie mittlerweile sechs Jahre an der Regierung sind,
können Sie sich auch nicht mehr damit herausreden, dass
das an Ihrer Vorgängerregierung liegt.
Jetzt entdecken Sie ständig den Aufschwung, der angeblich vor der Tür steht. Herr Minister, ich habe Folgendes nachgelesen: Im letzten halben Jahr haben Sie
den Aufschwung 23-mal direkt vor der Tür gesehen. Der
Kanzler hat Sie im gleichen Zeitraum mit circa 50-mal
sogar übertroffen.
({2})
Aber der Aufschwung ist immer noch nicht da. Wer
glaubt denn noch Ihren Versprechungen, dass der Aufschwung vor der Tür steht, wenn Sie ihn zwar immer
wieder kommen sehen, er in der Realität aber erstens
nicht kommt und zweitens nicht da ist?
Kollege Brüderle hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass im Gutachten des Wissenschaftsrates steht, dass Sie
mit den Strukturreformen vorankommen müssen. Das ist
eine schallende Ohrfeige für Sie. Darüber reden Sie hinweg. Sie haben das Beschäftigungsziel verfehlt. Darüber
reden Sie hinweg. Sie haben das Wachstumsziel verfehlt.
Darüber reden Sie hinweg. Den Aufbau Ost setzen Sie in
den Sand. Auch darüber reden Sie hinweg.
({3})
All das, Herr Minister, kann doch so nicht gehen. Hier
müssen grundlegende Veränderungen vorgenommen
werden.
Wenn Sie von Reformen sprechen, dann handelt es
sich um Reformen wie die Ausbildungsplatzabgabe, zu
denen die gesamte Wirtschaft, Sie selbst und auch Teile
Ihrer Fraktion sagen, dass sie völlig verfehlt sind. Aber
ein sturer Holzkopf aus dem Sauerland hält an ihnen
fest, weil die Linken meinen, ihre Ideologie sonst nicht
richtig umsetzen zu können.
({4})
Dr. Klaus W. Lippold ({5})
Das ist für Deutschland schädlich. Herr Clement, nehmen Sie auf die Ideologie keine Rücksicht und führen
Sie vernünftige Strukturreformen durch! Dann kommen
wir einen ganz entscheidenden Schritt weiter. Aber so,
wie Sie vorgehen, wird uns das nicht gelingen.
Zu den Themen Arbeitsmarkt und Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe haben wir klare, eindeutige Vorschläge gemacht, denen Sie hätten zustimmen können.
({6})
Nicht Herr Koch ist das Problem, sondern Sie sind das
Problem. Sie sollten unseren Vorschlägen auch einmal
zustimmen und nicht immer Querschüsse abgeben. Dann
kommen wir in der Sache weiter. Aber Sie machen nur
Nebel. So kann das nicht funktionieren.
Nun komme ich zu einem anderen Thema, das ich für
ganz entscheidend halte. Sicherlich bestehen, was den
Konsum betrifft, erhebliche Schwierigkeiten. Wenn Sie
die Zeitschriften von heute lesen, können Sie den Kommentierungen sehr deutlich entnehmen, dass diese
Schwierigkeiten anhalten werden. Warum? Das liegt
doch nicht an der Opposition, sondern schlicht und ergreifend daran, dass die Leute aus Angst sparen. Dadurch ist es zu einem Rekordkonsumverzicht gekommen, wie wir ihn noch nie hatten. Warum sparen sie aus
Angst? - Sie sehen, wie links und rechts von ihnen Arbeitsplätze abgebaut werden. Deshalb haben sie Angst,
ihren Arbeitsplatz ebenfalls zu verlieren. Darüber hinaus
sehen sie, dass diese Regierung jeden Tag eine andere
Sau durchs Dorf treibt: Der eine redet davon, die Erbschaftsteuer zu erhöhen, der andere davon, die Vermögensteuer wieder einzuführen. Der Dritte redet von einer
zusätzlichen Variante der Ökosteuer: Das Abkassieren
beim Benzin allein genügt Kollege Müller nicht, da
muss jetzt auch noch eine Ökosteuer auf Wasser und
eine auf Abfall in Erwägung gezogen werden.
Wo kommen wir hin, wenn Sie immer nur an neue
Belastungen denken? Glauben Sie, dass die Leute dann
fröhlich konsumieren?
({7})
Sie sind diejenigen, die den Leuten auf den verschiedensten Wegen die Kaufkraft nehmen, hinterher aber ankommen und fragen: Warum gehen die Leute nicht in die
Geschäfte und kaufen? Sie haben eine Rekordpleitewelle, wie wir sie seit langem nicht mehr hatten, und es
ist absehbar, dass sich diese Pleitewelle im Stillen fortsetzen wird. Sie werden auch in diesem Jahr wieder
Schuldenberge auftürmen, die weit über das hinausgehen, was der Stabilitätspakt, den wir in der Europäischen Union geschlossen haben, erlaubt. Auch das
schreiben Ihnen die Sachverständigen ins Stammbuch;
auch das erwähnen Sie mit keinem Wort. Sie verletzen
das Ziel des europäischen Stabilitätspaktes in einer geradezu dramatischen Art und Weise, glauben aber, dass mit
einer solchen verfehlten Politik Remedur geschaffen
werden kann.
({8})
Herr Clement, Sie werden ändern müssen, was diese
Bundesregierung vorhat. Sie werden endlich einmal
durchsetzen müssen, was Sie zwar verschiedentlich auf
Industriekongressen angekündigt haben, was aber bedauerlicherweise im Kabinett keine Mehrheit findet und
von Ihrer Koalitionsfraktion weggebügelt wird. Werden
Sie durchsetzungsfähig, dann haben wir einen ersten Ansatzpunkt. Übernehmen Sie das, was Ihnen die Opposition an konstruktiver Zusammenarbeit anbietet, dann haben Sie einen zweiten Ansatzpunkt. Dann wären die
ersten Weichen für eine Besserung gestellt.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Walter Schöler,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Lippold, das Gemeinschaftsgutachten der
Wirtschaftsforschungsinstitute ist alles andere als eine
Hiobsbotschaft; dieses Gutachten verkündet vielmehr
die Botschaft, dass die Wirtschaftsbelebung auf dem
Vormarsch ist:
({0})
Dafür gibt es in diesem Gutachten deutliche Hinweise,
sowohl für das zweite Halbjahr 2004 als auch für 2005.
Ich räume durchaus ein: Es wäre sicherlich schöner
gewesen, wir hätten schon jetzt eine günstigere Entwicklung verzeichnen können. Aber zu Schwarzmalerei, wie
sie in Ihrem Beitrag festzustellen war, gibt dieses Gutachten überhaupt keinen Anlass. Sie versuchen hier wieder, als der Schwarzmaler vom Dienst aufzutreten und
alles mies zu machen, um damit von Ihrem eigenen Versagen insbesondere in den letzten Wochen und Monaten
abzulenken.
Die Institute nehmen zwar ihre letzte Schätzung für
die Zunahme des realen Bruttoinlandsproduktes um
0,2 Prozentpunkte und damit geringfügig zurück; das ist
mehrfach gesagt worden. Die Institute sagen aber auch
unverblümt, wer das mit zu verantworten hat, nämlich
Sie von der Opposition. Sie von der Union haben sich
doch im Vermittlungsverfahren Ende letzten Jahres quer
gelegt; die FDP hat sich gar nicht mehr beteiligt. Wer
war es denn, der das Vorziehen der gesamten dritten
Stufe der Steuerreform auf den 1. Januar 2004 abgelehnt
hat? - Sie waren doch die Neinsager zu dieser möglichen
Belebung der Binnennachfrage!
({1})
Sie waren es doch, die damit das Anziehen der Konjunktur verhindert haben. Dadurch fehlen jetzt weitere, notwendige Konjunkturimpulse. Die Institute stellen auch
klipp und klar fest: Die Schätzungen haben um
0,2 Prozentpunkte nach unten korrigiert werden müssen,
weil das steuerliche Entlastungsvolumen geringer ist, als
es bei der letzten Steuerschätzung im November 2003
von den Sachverständigen unterstellt wurde.
Sie von der Union rufen heute also wieder „Haltet den
Dieb“ - dabei sind Sie selbst der Dieb! Denn ohne Ihre
Obstruktion hätten wir nach Aussage der Institute heute
eine bessere wirtschaftliche Entwicklung, als sie gestern
prognostiziert worden ist.
Sie haben sich nicht nur beim Vorziehen eines Teils
bzw. der gesamten dritten Stufe der Steuerreform verweigert, Sie haben auch große Teile der von der Koalition auf den Weg gebrachten Vorschläge zum Abbau von
ungerechtfertigten Steuervergünstigungen und zum Subventionsabbau nicht mitgetragen; das wissen wir doch
alle. Sie beklagen zwar immer, dass nicht in genügendem Umfang Subventionen abgebaut worden sind und
dass auch die Länder und Gemeinden in finanziellen
Schwierigkeiten sind. Aber Sie hätten ja die Möglichkeit
gehabt, die Vorschläge mitzutragen.
Dass Sie die Neinsager waren, wirkt sich jetzt negativ
aus: Um die Staatsfinanzen stünde es heute auf allen drei
Ebenen - Bund, Länder und Gemeinden - deutlich besser, wenn Sie die Konzepte mitgetragen und sich nicht
verweigert hätten. Ich muss Sie daran erinnern: Wir haben immerhin das Steuervergünstigungsabbaugesetz und
das Haushaltsbegleitgesetz 2004 vorgelegt. Viele Teile
davon haben Sie nicht mitgetragen. Beklagen Sie das
jetzt bitte nicht.
Ich komme nun zu den haushaltspolitischen Konsequenzen des Gutachtens; Kollege Dr. Lippold hatte sie
schon angesprochen. Im November hatten die Institute
die Steuereinnahmen für 2004 auf rund 492 Milliarden
Euro für den Gesamtstaat geschätzt. Jetzt liegt ihre
Schätzung für 2004 bei 486 Milliarden Euro; das sind
6 Milliarden Euro weniger. Davon entfallen rund
2 Milliarden Euro auf den Bund, der Rest auf die Länder
und Gemeinden. Hinzu kommt eine Belastung in ähnlicher Größenordnung - das räume ich durchaus ein -, da
sich eine Verbesserung am Arbeitsmarkt noch länger
hinschleppen wird. Dies sind erhebliche Belastungen für
den Haushalt. Sie tun sehr weh. Das wissen wir. Ich will
nichts beschönigen.
Die tatsächliche Größenordnung der Steuerausfälle
und Mehrausgaben für den Arbeitsmarkt kann man derzeit nicht exakt beziffern. Dazu brauchen wir zumindest
die Steuerschätzung, die im Mai auf den Tisch gelegt
werden wird, und die Zahlen über die weitere Entwicklung am Arbeitsmarkt. Erst dann werden verlässliche
Daten vorliegen. Es bringt nichts, vorher zu jammern
und das zu beklagen, was Sie selbst zu wesentlichen Teilen angerichtet haben. Dann wird zu entscheiden sein,
wie Haushaltsprobleme, die vielleicht entstehen werden,
zu lösen sind.
Das Gemeinschaftsgutachten rechnet auch für 2005
mit einem gesamtstaatlichen Defizit von 3,5 Prozent,
also mit einem Überschreiten des Maastricht-Defizitkriteriums. Ich verkünde Ihnen von dieser Stelle aus nicht,
dass das Unsinn ist und dass wir unter der Defizitgrenze
von 3 Prozent bleiben werden, sondern sage Ihnen vielmehr Folgendes: Wir werden uns bemühen, für 2005 einen Haushalt aufzustellen und zu verabschieden ({2})
dazu werden wir die Daten heranziehen, die wir bis zum
November dieses Jahres bekommen - mit dem bei Abwägung der gesamtwirtschaftlichen Erfordernisse muss anstrebt werden, dass auch das Defizitkriterium eingehalten
wird. Das erfordert mehr als das, was Sie hier vortragen,
nämlich ein behutsames Vorgehen. Wir dürfen nicht mit
einem drastischen Sparprogramm die positive Konjunkturentwicklung abwürgen. Das wäre völlig kontraproduktiv. Ein Sparpaket von 12 Milliarden Euro, wie es die
Institute vorschlagen, ist deshalb überdimensioniert.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
An unserem festen Willen, weiter zu konsolidieren,
kann und darf es dennoch keinen Zweifel geben. Wir
werden den schwierigen Weg weitergehen und auf den
Dreiklang Konsolidierung, Schaffen von Investitionsanreizen und Verfolgung einer Politik setzen, die sich auf
die Schwerpunkte Innovationsförderung, Bildung und
Familie konzentriert.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Fuchs, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Leider ist der Möchtegernminister Kuhn nicht mehr anwesend. Man sollte ihm nachrufen, dass das Frühjahrsgutachten vom Wirtschaftsministerium in Auftrag gegeben wird. Wenn Sie das Gutachten schon kritisieren,
dann sollten Sie wenigstens wissen, was Sie tun. Aber
wahrscheinlich haben Sie es nicht so halten können wie
sonst und haben nicht die Statistik fälschen können. Das
war nicht möglich. Die Institute haben Ihnen die grausame Wahrheit gesagt. Mit Frühjahr verbindet man Aufbruch, Wachstum und Erneuerung. Das, was Ihnen unterbreitet wurde, ist eine einzige Hiobsbotschaft. Das
passt Ihnen natürlich nicht.
Ihre Reformpolitik, mit der Sie begonnen haben, ist
bis jetzt mit keinem einzigen Erfolg gesegnet. Sie ist
handwerklich katastrophal umgesetzt. Eigentlich dürfte
man gar nicht von Handwerk sprechen. Jeder Handwerksmeister müsste beleidigt sein.
({0})
Keines Ihrer Projekte läuft ohne Pannen. Ich erinnere
nur an das Dosenpfand, die Maut oder das Arbeitslosengeld II, das im Volksmund schon Maut II heißt.
({1})
Dieser Zickzackkurs wird nicht dazu führen, dass wir in
Deutschland zu mehr Wachstum kommen. Ich betrachte
dieses Frühjahrsgutachten als eine Ohrfeige für die Bundesregierung.
({2})
Es geht noch viel weiter: Es ist eine Anklage; denn es
gibt keine Anzeichen für Binnenwachstum. Schauen Sie
sich einmal das Wachstum in anderen Ländern an und
fragen Sie sich, warum es dort funktioniert und bei uns
nicht.
({3})
Die USA wachsen um 4 Prozent, Kanada wächst um
3 Prozent und selbst Japan, das jahrelang gekränkelt hat,
liegt bei 3,2 Prozent. Wie sieht es bei uns aus? Herr Minister, Sie reden nur und können noch froh sein, wenn es
1,5 Prozent sein werden.
Ich will das nicht schlechtreden,
({4})
aber mittlerweile sagen auch schon einige Wirtschaftsverbände, es seien nur 1,2 Prozent. Dabei müssen Sie bedenken, dass das wirkliche Wachstum im Prinzip nur
0,6 Prozent betragen wird, da die anderen 0,6 Prozent allein schon durch die vier zusätzlichen Arbeitstage in diesem Jahr erreicht werden. Das heißt, Sie kränkeln bei
0,6 Prozent herum und wollen uns klarmachen, dass das
der große Durchbruch und Aufschwung ist.
({5})
Wie Sie auf das Plus von 1,5 Prozent kommen wollen, das Sie eben noch skizziert haben, wird Ihr großes
Geheimnis bleiben. Im ersten Quartal betrug das Wachstum 0,2 Prozent. Das Wachstum müsste in jedem nachfolgenden Quartal deutlich über 2 Prozent liegen, damit
Sie in diesem Jahr überhaupt noch auf einen Durchschnitt von 1,5 Prozent kommen. Sie müssen mir einmal
erklären, wie Sie das hinbekommen wollen. Selbst in einer reifen Volkswirtschaft hat es nur selten einen solchen
Sprung gegeben.
Das größte Problem ist Ihre Finanzpolitik. Allein im
letzten Jahr betrug die Neuverschuldung auf Bundesebene 40 Milliarden Euro. Ich sage Ihnen voraus - der
Kollege Austermann hat das in den letzten Tagen brillant
belegt -, dass die Neuverschuldung in diesem Jahr über
45 Milliarden Euro liegen wird. Was bedeutet das? - Das
bedeutet schlicht und ergreifend, dass Sie im nächsten
Jahr die allein in diesen beiden Haushaltsjahren neu aufgenommenen Schulden in Höhe von 85 Milliarden Euro
zusätzlich verzinsen müssen; denn der Staat muss genauso wie jede Bürgerin und jeder Bürger Zinsen bezahlen. Allein dadurch werden 4 Milliarden Euro weniger
für Investitionen zur Verfügung stehen. Der Investitionshaushalt des Bundes schrumpft immer mehr, was nicht
nur an der Maut liegt. Wenn es hier nicht zu grundsätzlichen Veränderungen kommt, sodass auch der Staat wieder Investitionen tätigt, dann sehe ich keine Möglichkeit,
dass die Wirtschaft in Deutschland wieder wächst.
({6})
Verehrter Herr Minister, der Kollege Brüderle hat Ihnen etwas Schönes aus dem Gutachten zitiert. Auch ich
möchte noch etwas zitieren; denn es scheint so zu sein,
als hätten Sie nur die positiven Seiten des Gutachtens gelesen. Ich empfehle Ihnen, das Gutachten komplett zu lesen, da sehr viel Wichtiges darin steht, zum Beispiel:
In der Finanzpolitik in Deutschland ist derzeit kein
klares Konzept zu erkennen.
Außerdem steht dort:
Zwar ist es aus heutiger Sicht schwierig, die Bürger
weiter zu entlasten, doch muss man mit einer Reform des Steuersystems nicht Jahre warten …
({7})
Wir erwarten Ihre Vorschläge, es kommt aber nichts. Sie
glauben, dass Sie mit dem bisschen, was Sie bisher getan
haben, dieses Land wieder in Schwung bringen.
Am beängstigendsten ist für mich aber die Tatsache,
dass der Bundeskanzler jeglichen Reformeifer verloren
hat und er mittlerweile anscheinend von Herrn
Müntefering gefesselt im Amt sitzt und nicht mehr weiß,
was er tun soll.
({8})
Wir werden aus der Misere nicht herauskommen, wenn
er nicht sofort weitere Reformen durchführt. Sie sind
aufgefordert, endlich Ihr Bremserhäuschen zu verlassen
und sich bitte nach vorne in den Zug zu bewegen. Tun
Sie etwas!
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Frühjahrsgutachten gibt sicherlich keinen Anlass, in Jubel
auszubrechen. Es gibt aber etliche Gründe für vorsichtigen und verhaltenen Optimismus. Darüber sollten wir
auch reden.
Nicht nur am Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt sich,
dass die deutsche Wirtschaft langsam aus der Stagnation
Werner Schulz ({0})
herauskommt. Das ist bei diesen festgefahrenen und verkrusteten Verhältnissen schon eine Leistung. Seit letzten
Herbst steigen die Produktion und der Absatz. Daneben
erholt sich die Binnenwirtschaft durch die Erhöhung der
Ausrüstungsinvestitionen. Ich finde, auch darüber sollte
man reden. Herr Fuchs, man sollte nicht, wie Sie, alle
apokalyptischen Reiter, die sich finden lassen, auf dieses
langsam in Trab gekommene Konjunkturpferd setzen.
Das hilft uns überhaupt nicht weiter.
({1})
Das ist die übliche Art, mit der Sie alles herunterreden,
was diese Regierung getan hat. Im Gutachten steht eindeutig, dass die Forschungsinstitute den Kurs der Bundesregierung bestätigen, auch wenn die Reformen im
Moment noch keine sehr klaren Wirkungen zeigen.
Worüber reden wir? Wir reden über die Abweichung
einer Prognose von 0,2 Prozent. Ich bitte Sie: Wenn ich
an die letzten Jahre denke, bin ich richtig glücklich, mit
welcher Treffsicherheit die Prognose dieses Mal eingetreten ist.
({2})
Ich hatte angesichts der letzten Prognosen schon gedacht, Wirtschaftsraten sei in diesen Instituten eine Tätigkeit.
({3})
- Sie bestätigen das. Bei Ihnen helfen auch gute Tipps
nicht mehr.
({4})
- Es ist sehr schwierig, solche Prognosen zu treffen.
Fakt ist, dass wir in der Lage sind, die Wirtschaft
voranzubringen. Wir können uns auch nicht mit den Fehlern vorheriger Regierungen herausreden. Im Wirtschaftsgutachten steht: Die versäumten Strukturreformen sind das Resultat von Jahrzehnten. Die Probleme,
die wir haben, sind nicht von heute auf morgen entstanden oder vom Himmel gefallen.
({5})
Da Sie so viel Wert auf Zitate legen, habe auch ich ein
Zitat. Es ist zwar nicht von Fontane, aber von Rolf-E.
Breuer, CDU-Mitglied seit 1969, ehemals Sprecher des
Vorstands und jetzt Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank. Er hat gesagt:
Schuld trägt das Verharren in Strukturen, die in den
letzten Jahrzehnten nicht reformiert worden sind.
Ich sage bewusst „Jahrzehnte“, weil der oberflächliche Betrachter dazu neigt, alles der jetzigen Regierung anzulasten. Das ist nicht richtig. Speziell in
den letzten Jahren der Kohl-Regierung sind überfällige Reformen nicht angepackt worden.
Genau das ist unser Problem.
({6})
Genau das würde ich auch dem Ministerpräsidenten
von Sachsen-Anhalt sagen. Der Aufbau Ost eignet sich
nicht für eine Momentaufnahme. Ostdeutschland ist seit
14 Jahren ein Innovations- und Experimentierfeld. Dabei
muss man auch berücksichtigen, dass dort eine Deindustrialisierung in nicht gekannter Größenordnung stattgefunden hat. Wenn der Kahlschlag erst einmal da ist, dann
ist nicht sofort ein neuer Wald aus dem Boden gestampft. Es gibt dort zwar keine blühenden Landschaften, aber Landschaften im Zwielicht.
Es gibt durchaus positive Beispiele, aber auch eine
Menge von Fehlallokationen, von Kapitalverschwendung und -vergeudung durch unterlassene Struktur- und
Industriepolitik. Wir haben zu lange blind auf das Anreizen von Marktkräften und Investitionszulagen gesetzt.
Auch darüber muss man reden, wenn gefragt wird, wo in
den letzten Jahren unsere Wachstumskräfte geblieben
sind. Sie sind nicht dafür eingesetzt worden, um den
Aufbau Ost in dem Maße voranzubringen, wie es möglich gewesen wäre.
Jetzt reden wir über Cluster und Wachstumskerne.
Das hätte man von Anfang an machen können. Aber
wenn Sie einen Riss im Fundament haben, dann ist dieser nicht so leicht zu reparieren. Das, was wir momentan
zu bewältigen haben, ist nicht mit schnellen Vorschlägen
für Lohnzuschüsse aus der Welt zu schaffen. Ich warne
vor „Kohlesubventionen über Tage“, also vor Subventionen für den Erhalt der Niedriglöhne im Osten. Dieses
Problem ist auch nicht mit flotten Regelungen und Bürokratieabbau zu lösen, die sich nur auf den administrativen Bereich konzentrieren. Das reicht nicht.
Kollege Brüderle hat in seiner Fünfminutenrede die
schwache Binnenkonjunktur und den mangelnden Konsum betont, was im Gutachten als Hauptaspekt aufgegriffen wird. Es ist deutlich, dass es den Bürgerinnen
und Bürgern in unserem Land an Zukunftsvertrauen
fehlt.
({7})
Das ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Politik.
({8})
- Es ist das Ergebnis Ihrer Politik, wenn Sie heute von
Vollkaskomentalität sprechen. Es ist das Ergebnis Ihrer
Politik, wenn Sie jetzt erklären, dass das Niveau dieses
Wohlfahrtsstaates nicht gehalten werden kann. Es ist das
Ergebnis Ihrer Politik, wenn Sie sagen, Globalisierung
erfordert es, dass die Deutschen endlich ihre Ansprüche
zurückschrauben.
Was glauben Sie, was dann passiert? Die Leute werden verstärkt Vorsorge betreiben, sind verunsichert und
halten ihr Geld zusammen. Sie können das auch AngstWerner Schulz ({9})
sparen nennen. Natürlich müssen wir diesen Zustand
überwinden. Wir überwinden ihn aber nur mit den Reformen, bei denen wir beweisen, wozu sie gut und nütze
sind. Das ist der Punkt.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Manfred Grund,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schulz, wir alle haben den Regierungswechsel 1998 noch in bester Erinnerung, um an der
Legendenbildung, die Sie betreiben, teilzunehmen.
({0})
Legendenbildung ist, zu behaupten, Sie hätten 1998/99
mit Reformen anfangen müssen. Ich möchte Sie daran
erinnern, was Sie zuerst gemacht haben: Sie haben Reformen zurückgenommen.
({1})
Sie haben sich ein ganzes halbes Jahr damit beschäftigt,
die Reformen, die wir mühsam genug auf den Weg
gebracht haben, - Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz,
Schlechtwettergeld, Kranken- und Rentenversicherung,
den demographischen Faktor -, zurückzunehmen.
({2})
Der Bundeskanzler hat selbst zugestanden, dass es einer der größten Fehler, die diese Regierung gemacht hat,
war, diese Reformen zurückzunehmen. Weben Sie nicht
an diesen Legenden. Sie sind mit einem Webfehler gestartet. Dieser Webfehler wirkt sich bis heute aus.
({3})
Das Frühjahrsgutachten weist darauf hin, dass wir an
den Fehlern leiden, die zu Anfang Ihrer Regierungspolitik gemacht wurden.
Die heutige Aktuelle Stunde wird von einer Diskussion überlagert, die insbesondere in der letzten Woche
geführt worden ist. Es geht um den Aufbau Ost und die
Verwendung der Finanztransfers der letzten 15 Jahre. Es
ist von 1 250 Milliarden Euro die Rede, also von
1,25 Billionen Euro, die in die neuen Bundesländer geflossen sind. Wer nicht jeden Tag mit dem Aufbau Ost
und der Thematik der neuen Bundesländer befasst ist,
der erhält den Eindruck, dass ein Großteil dieser Milliarden in den Sand gesetzt worden ist.
Ich will gar nicht abstreiten, dass einiges den Sand gesetzt wurde, insbesondere in den berühmten märkischen
Sand. Doch dem Aufbau Ost wird die Diskussion, wie
sie geführt wird, weder gerecht noch hilft sie uns aktuell
weiter. Das Positive an der Diskussion über den Aufbau
Ost ist, dass wir erstmals wieder nach jahrelangem
Schweigen auf der Regierungsbank überhaupt über die
politischen und sozialen Implikationen reden, die mit
dem Aufbau Ost verbunden sind.
({4})
Das Negative an der Diskussion ist, dass sie interessengeleitet und für den Osten schwerlich zu gewinnen ist.
Es verfestigt sich das Bild vom Fass ohne Boden, vom
dauerhaften Kostgänger und vom hohen Niveau, auf
dem die Ossis leiden.
Wem kann an einer solchen Diskussion und an einer
solchen Zuspitzung gelegen sein? Was veranlasst einen
Mann wie Herrn Dohnanyi zu der Aussage, dass die
4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die jährlich transferiert werden, dazu führen, dass der Osten den Westen
ausblute? Was soll uns der Satz sagen - der in diesem
Zusammenhang gefallen ist -, dass der Osten vergreist,
verdummt und verarmt? Wem hilft das tatsächlich weiter?
Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Diskussion
ist das vernehmbare Schweigen der Bundesregierung in
dieser Debatte, in der viel früher Gegenargumente hätten
gebracht werden müssen.
({5})
Ich habe eine Vermutung, warum diese Diskussion so
unglücklich läuft: Es geht gar nicht um den Aufbau Ost,
es geht nicht um Thüringen oder Sachsen, sondern es
geht um Nordrhein-Westfalen. Es geht um die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen in diesem Herbst und
die Landtagswahlen im nächsten Jahr. Denn in Nordrhein-Westfalen entscheidet sich Sein oder Nichtsein für
die SPD. Der Ausgang der Wahlen in Nordrhein-Westfalen entscheidet über die Zukunft des Bundeskanzlers.
({6})
Der Kanzler hat den Osten bereits abgeschrieben. Anders ist es nicht zu erklären, dass mit Minister Manfred
Stolpe ausgerechnet derjenige für den Aufbau Ost
zuständig ist, der wirklich einige Milliarden in den märkischen Sand gesetzt hat. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass ausgerechnet an den Verkehrsprojekten
„Deutsche Einheit“ gespart wird und die ICE-Trasse von
Nürnberg über Erfurt nach Berlin auf den sprichwörtlichen Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wurde.
Es geht nicht um den Osten, es geht um NordrheinWestfalen. Um hier eine Stimmungswende zu erreichen,
braucht die SPD positive Nachrichten. Positive Nachrichten sind aber weder über den Arbeitsmarkt noch über
die Konjunktur zu haben. Die Misere lässt sich auch
nicht mehr schönreden. Deswegen kommt jetzt eine andere Botschaft ins Spiel und die heißt: Es steht eigentlich
gar nicht so schlecht um uns und wir stünden viel besser
da, wenn wir den Osten nicht dauerhaft am Hals hätten.
Gerade Nordrhein-Westfalen ginge es ohne die Transfers
in die neuen Bundesländer besser.
({7})
Also: Alte sozialdemokratische Wärmestube mit dem
Aufbau Ost als Sündenbock.
({8})
Im Alten Testament wurden Sündenböcke fluchbeladen in die Wüste gejagt und damit hatte sich das Problem erledigt. Doch so erledigt sich der Aufbau Ost
nicht, weder durch Wegtreiben noch durch Zeitablauf
noch durch das Vollschreiben kluger Papiere von gescheiterten Sanierern. Herr von Dohnanyi gehört dazu.
Der Lösungsansatz liegt woanders und er ist unbequem,
weil er mehr als Geld verlangt.
({9})
Er verlangt, dass sich das Land als Ganzes auf den Prüfstand stellt und sich hinterfragen lässt.
Rüdiger Pohl, der langjährige Chef des Instituts für
Wirtschaftsforschung in Halle, drückt es so banal wie fanal aus:
Der Westen bremst den Osten aus.
Damit weist er auf einen simplen Zusammenhang hin.
Herr Kollege Grund, wenn Sie bitte auch auf die Zeit
achten würden.
Erlauben Sie mir noch einen letzten Satz, Herr Präsident.
Dem deutschen Osten geht es deshalb so schlecht,
weil es dem Land als Ganzem nicht gut geht. Dies einzugestehen wäre die Voraussetzung für eine wirkliche Debatte über die Frage, mit welchen Instrumentarien erreicht werden kann, dass es dem Osten bzw. dem
gesamten Land wieder besser geht.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sigrid SkarpelisSperk, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Diese von der Opposition beantragte Debatte
muss bei jedem Beteiligten Verwunderung auslösen. Wir
befinden uns in wirtschaftspolitischer Hinsicht in einer
schwierigen Situation. Weder die deutsche noch die europäische Volkswirtschaft sind in einer zufriedenstellenden Lage. Darin sind wir uns einig. Die Wachstumsraten
steigen erfreulicherweise an, sind aber immer noch viel
zu niedrig. Die Beschäftigungssituation ist nicht nur im
Osten, sondern bundesweit unbefriedigend. Wie wir wissen, steigen deswegen die Defizite in den Sozial- und
Staatskassen weiter an. Das ist übrigens nicht nur ein
deutsches Problem, sondern es erstreckt sich über ganz
Europa. Wir müssen gemeinsam versuchen, die zu niedrigen Wachstumsraten in Europa zu überwinden.
Sie aber haben keine einzige Rezeptur vorgeschlagen.
({0})
Was Sie vorgebracht haben, war ein einziges Gejammer.
Das war keine volkswirtschaftliche Auseinandersetzung
mit der Lage, in der wir uns befinden. Zudem haben Sie
falsch zitiert.
({1})
Ich halte es nicht für richtig, Herr Fuchs - wo ist er
denn? -, dass Sie dem Wirtschaftsminister und einer Behörde das Fälschen von Statistiken vorgeworfen haben
- wenn ich das richtig verstanden habe -, aber nicht zu
einer Auseinandersetzung zur Verfügung stehen.
({2})
Wenn jemand derart schwere Vorwürfe in diesem Hause
erhebt, dann sollte er Manns genug sein, wenigstens bis
zum Ende der Debatte auszuhalten.
({3})
Ich halte es auch nicht für richtig, dass jemand den
Vorwurf der Fälschung erhebt, ohne ihn zu belegen. So
können wir in diesem Hause nicht miteinander umgehen.
({4})
Wir sollten uns darin einig sein, dass ein Wachstumskurs wie auch die Konsolidierung der Staatsfinanzen
notwendig sind. Diese muss aber beim Bund, in den
Ländern und in den Kommunen ernsthaft und gemeinsam betrieben werden. Es geht nicht an, der staunenden
Bevölkerung in dieser Frage ein Hickhack vorzuführen.
Mit massiven Kürzungen à la Austermann, mit denen
Sie sich aus der Affäre zu ziehen glauben, würden wir
die Konjunktur nur kaputtsparen. Wir würden damit keinen sinnvollen Konsolidierungskurs einschlagen. So etwas hat in der Vergangenheit nicht funktioniert und wird
auch in Zukunft nicht funktionieren können.
({5})
Was Sie im vergangenen halben Jahr an Rezepturen
angeboten haben, ist nicht nur in sich widersprüchlich,
sondern auch volkswirtschaftlich unsinnig und gehört eigentlich in den Papierkorb; denn in der politischen Debatte ist das Voodoo-Ökonomie. Es ist traurig, dass wir
darüber in diesem Hause diskutieren müssen.
({6})
In der öffentlichen Debatte über die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik hat die Schizophrenie mit Ihren Vorschlägen im vergangenen halben Jahr einen
neuen Rekord erreicht. Das fing schon im vergangenen
Herbst an. Zuerst fielen starke Worte über die Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Erinnern
wir uns: Angela Merkel sprach von einer Versündigung
von Bundeskanzler Schröder und Bundesfinanzminister
Eichel am Erbe der Deutschen Mark.
({7})
Guido Westerwelle sah eine Katastrophe voraus.
({8})
Edmund Stoiber sah die Bundesregierung in der Rolle
des Totengräbers bezüglich des Pakts.
Dann kam Weihnachten. Was bekamen wir dann?
({9})
- Ja, genau. Wir bekamen die Steuerreform, die Herr
Merz mit einem phantastischen politischen Salto Mortale vorgeschlagen hat. Dann folgten die Herzog-Vorschläge. Herr Seehofer - ich muss an dieser Stelle einen
der Ihren zitieren - stellte fest, dass sich die Kosten aller
CDU-Vorschläge auf mehr als 100 Milliarden Euro belaufen würden.
({10})
Wie passen denn nun die austermannschen Vorschläge und die merkelsche Steuerreform zusammen?
Selbst wenn man bedenkt, dass Sie das alles nachher mit
Herrn Stoiber zu einer Art Steuerreform light zusammengestrickt haben, kommt man zu dem Schluss, dass
dieses Rezept nicht vernünftig und finanzierbar ist.
Ihre heutigen Vorschläge sind - entschuldigen Sie
bitte - nach dem gleichen Stiefel erfolgt. Auf der einen
Seite wollen Herr Lippold und Herr Fuchs investieren
und nochmals investieren. Auf der anderen Seite werden
die finanzpolitische Stabilität und insbesondere die Konsolidierung der Staatsfinanzen angemahnt. Sie sollten
einmal darüber nachdenken, was Sie zur gleichen Zeit in
ein und derselben Debatte verlangen. Diesen volkswirtschaftlichen Stuss darf sich ein erwachsener Mensch und
Ökonom in diesem Haus jedenfalls verbitten. So geht
das nicht weiter.
({11})
Heute wurden - Herr Brüderle ist leider nicht mehr
anwesend ({12})
nicht nur mehr Investitionen gefordert. Vielmehr wurde
auch verlangt, die Bundesregierung müsse etwas im Osten tun. Aber gleichzeitig wurden die in Riga geltenden
Steuersätze als wunderbares Beispiel genannt.
({13})
Fassen Sie sich einmal an den Kopf und denken Sie darüber nach, wie ein Bundeshaushalt aufgestellt werden
sollte, wenn Ihre Vorschläge - der eine von Ihnen verlangt mehr Investitionen und der andere will gleichzeitig
15- oder 20-prozentige Steuersätze für Unternehmen umgesetzt würden! Gegen diesen Stuss haben sich die
Ministerpräsidenten, und zwar auch diejenigen der Bundesländer, in denen von Ihnen geführte Koalitionen regieren, energisch zur Wehr gesetzt. Ich kann nur hinzufügen:
völlig zu Recht, denn sie haben noch so viel Verantwortungsgefühl, um an ihre Länderhaushalte zu denken.
Das, was Sie heute vorgeschlagen haben, war eine
Wiederauflage dessen, was Sie im letzten halben Jahr an
politischer und insbesondere wirtschaftspolitischer Schizophrenie geboten haben, und das noch nicht einmal auf
hohem verbalen Niveau. Wir sollten in diesem Haus eigentlich darüber reden, wie es vernünftigerweise in
Deutschland weitergehen soll.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Max Straubinger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, Sie haben von der
Vielfalt und der Unterschiedlichkeit der Aussagen in der
Steuerpolitik gesprochen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass der Bundeskanzler bei der Verkündung seiner
Agenda im März 2003 gesagt hat, ein Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform sei nicht finanzierbar.
({0})
- Stimmt, Herr Kollege Göhner, sogar noch im Juni.
Darüber hinaus kann ich mich ebenfalls noch gut daran erinnern, was konsequente Steuerpolitik von SPD
und Grünen bedeutet. 1996 hat Rot-Grün eine steuerliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger und damit
das Entstehen einer wirtschaftlichen Dynamik verhindert. 1998/99 wurden die notwendigen Reformen, die
die Kohl-Regierung durchgeführt hatte, im Gesundheitswesen und in der Rentenversicherung zurückgenommen.
Der demographische Faktor wird nun mit fünfjähriger
Verzögerung - so lange hat die SPD gebraucht, um darüber nachzudenken - als Nachhaltigkeitsfaktor wieder
eingeführt. Das sind letztendlich die Ursachen für die
schlechten Konjunkturaussichten, wie sie auch im Frühjahrsgutachten der sechs Wirtschaftsforschungsinstitute
zum Ausdruck kommen.
Wir freuen uns ja, wenn es überhaupt Wirtschaftswachstum gibt. Aber wir sollten uns an die Lage zu Beginn des Jahres 2003 erinnern. Auch damals wurde ein
Wirtschaftswachstum von 1 Prozent bis 1,5 Prozent vorausgesagt. Das Ergebnis war schließlich kein Wirtschaftswachstum, sondern ein Minus von 0,1 Prozent im
Jahr 2003.
({1})
Ich hoffe, dass es im Jahr 2004 nicht wieder so sein wird.
Zuerst lagen die Prognosen bei 1,7 Prozent. Nun liegen
sie bei 1,5 Prozent. Möglicherweise werden wir zum
Ende dieses Jahres nur ein Wirtschaftswachstum von
0,6 Prozent erreichen, weil vier Tage mehr in Deutschland gearbeitet worden ist. Das kann es doch nicht sein!
({2})
- Die Bayern arbeiten wahrscheinlich ein bisschen
schneller, Herr Kollege Wend.
Entscheidend ist ebenfalls, dass die Weltkonjunktur
mit einem Plus von 3,7 Prozent an uns vorüberzieht.
Ähnliches gilt auch innerhalb der EU. So hat Großbritannien ein Wirtschaftswachstum von über 3 Prozent.
Das ist möglich geworden, weil unter Margaret Thatcher
der Arbeitsmarkt in Großbritannien konsequent erneuert
wurde, was wirtschaftliche Impulse ausgelöst hat.
({3})
Über 4,5 Millionen Arbeitslose in diesem Land, das ist
die traurige Bilanz Ihrer Regierungspolitik. Der Bundeswirtschaftsminister hat diese heute mit keinem Wort erwähnt. Es ist notwendig, hier endlich einmal Impulse zu
setzen.
Von März 2003 bis März dieses Jahres waren über
520 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse weniger zu verzeichnen. Das ist eine dramatische Entwicklung. Die betroffenen Menschen sind auf
soziale Leistungen angewiesen. Das trägt zu der Schwierigkeit bei, hier ein besseres wirtschaftliches Umfeld zu
schaffen. 40 000 Unternehmenspleiten in einem Jahr
sind auch das Ergebnis rot-grüner Politik.
({4})
Was hat dazu geführt? Dazu geführt hat natürlich die
massive Verunsicherung der Verbraucher. Von „Angstsparen“ war heute schon die Rede. Wenn man Angst um
den Arbeitsplatz haben muss - die muss man angesichts
der Regierungspolitik von Rot-Grün tagtäglich haben -,
dann kann man nichts anderes erwarten, als dass die
Bürgerinnen und Bürger etwas zurücklegen. Wie soll der
Bürger überhaupt noch Vertrauen haben, wenn er jeden
Tag erfahren muss, dass zusätzliche Steuererhöhungen
angedacht werden, dass die Ökosteuer, weil sie angeblich so großartig ist, weiter erhöht werden muss, dass die
Erbschaftsteuer erhöht und die Vermögensteuer wieder
eingeführt werden muss? Heute ist die Steuer auf Lebensversicherungen beschlossen worden. Das verunsichert die Bürgerinnen und Bürger in größtem Maße.
({5})
Am dramatischsten ist eigentlich, dass wir den wirtschaftenden Betrieben keine Freiräume gewähren; wir
überziehen sie mit Bürokratie. Jetzt kommt noch die
Ausbildungsplatzabgabe hinzu. Der Bundeswirtschaftsminister lehnt sie zwar ab; aber er hat nicht die Kraft,
seinen Willen gegenüber der Fraktion, dem Bundeskanzler und dem Parteivorsitzenden der SPD durchzusetzen.
Aus ideologischer Verbohrtheit muss eine neue Umlage
geschaffen werden, die massiv die Betriebe und zusätzlich die öffentliche Hand belasten wird. Es würde mich
nicht ärgern, wenn diese Umlage die Gewerkschaften
belastete. Das wäre aber nur ein schwacher Trost.
Diese Entwicklung wurde im Prinzip durch die ideologisierte Politik von Rot-Grün eingeleitet. Ausstieg aus
der Kernenergie, das bedeutet Arbeitsplatzverluste in
Deutschland.
Herr Kollege!
Käfighühnerhaltungsverbot bedeutet Arbeitsplatzverluste in Deutschland. Umsetzung der Agrarpolitik à la
Künast bedeutet Arbeitsplatzverluste in Deutschland.
({0})
Damit haben Sie den wirtschaftlichen Niedergang in
Deutschland eingeleitet. Es wäre besser, Sie träten zurück und gäben der Union die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass wir in Deutschland einen wirtschaftlichen Aufschwung verzeichnen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Stephan Hilsberg,
SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Straubinger, bevor Sie hier weiter über
unsere Verbraucherschutzministerin Künast lamentieren:
Erkundigen Sie sich einmal bei Ihrem eigenen Landwirtschaftsminister Miller! Er hat Frau Künast neulich für
die gute, ausgesprochen moderne und wegweisende Politik, die wir machen, gelobt. Das sei Ihnen einmal gesagt.
Ich habe es als wohltuend empfunden, dass wir heute
die Gelegenheit nutzen, wieder einmal etwas über die
Problematiken des Aufbaus Ost zu sagen. Das ist lange
nicht mehr der Fall gewesen. Die Herausforderung, die
tatsächlich noch besteht und nicht bewältigt ist, rechtfertigt das in jeder Hinsicht.
({0})
Ich bin auch über die Sachlichkeit, mit der der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Herr Böhmer, hierzu
Stellung genommen hat, angenehm überrascht gewesen.
Das belebt die Debatte und verhilft zu Lösungsansätzen,
die wir in diesem Bereich brauchen. Herr Grund, das hat
sich von Ihren Verbalinjurien in diesen Fragen wohltuend abgehoben.
Leider hat sich Herr Böhmer der verbreiteten und zunehmenden Unsitte angeschlossen - das muss schon gesagt werden, auch an unsere eigene Adresse -, als DebatStephan Hilsberg
tenteilnehmer nach Beendigung der Rede das Plenum zu
verlassen.
({1})
Wir nehmen uns selbst nicht mehr ernst, wenn diejenigen, die an Debatten aktiv teilnehmen, nicht einmal
mehr die Geduld aufbringen, im Anschluss an den eigenen Redebeitrag die Debattenbeiträge der Kollegen entgegenzunehmen.
({2})
Wenn es so läuft, dann haben Debatten hier keinen Sinn.
Irgendwie ist das für diese Debatte auch typisch. Sie veranstalten hier wegen der Korrektur der Wachstumserwartungen der Wirtschaftsgutachter um 0,2 Prozentpunkte einen solchen Terz. Das ist unsere Zeit nicht
wert.
({3})
Lassen Sie mich noch einige weitere Punkte ansprechen, die mit Ostdeutschland zu tun haben. Zu den Aufbauleistungen und Fehlern, die in Ostdeutschland gemacht wurden, kann man manches sagen, aber wer der
Bundesregierung Schweigen vorwirft, richtet sich an die
falsche Adresse. Die Bundesregierung mit Manfred
Stolpe war die erste seit langer Zeit, die wieder neue Akzente in die Debatte um den Aufbau Ost hineingebracht
hat. Es war diese Bundesregierung, die einen eigenen
Gesprächskreis eingerichtet hat, der dazu geführt hat,
dass wir hier überhaupt wieder über diese Sachen reden.
Dass die Debatte über den Aufbau Ost aber leider
auch wieder Ressentiments ans Tageslicht befördert hat,
gehört zu den unerquicklichen, zum Teil sogar - da hat
Herr Westerwelle völlig Recht; an dieser Stelle muss
man ihm zustimmen - widerlichen und ekligen Begleiterscheinungen. Jeder Anschlag auf die Teilungsbereitschaft ist ein Anschlag auf die deutsche Einheit. Niemand hat das verdient, weder diejenigen, die das Geld
ausgeben - ohne diese Transferleistungen ist der Lebensstandard nicht zu finanzieren und über die Angleichung der Lebensbedingungen gar nicht zu reden -,
noch diejenigen, die das Geld zur Verfügung stellen. Es
ist eine der großen Leistungen der Bundesrepublik - das
muss an dieser Stelle einmal gesagt werden -, mit diesem Lastenausgleich die deutsche Einheit zu finanzieren.
({4})
Richtig ist, dass die Aufgaben in Ostdeutschland noch
nicht erfüllt sind. Richtig ist, dass Ostdeutschland nach
wie vor - gar keine Frage - wirtschaftliches Problemgebiet ist. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen,
um das Wirtschaftswachstum in diesem Teil Deutschlands zu beschleunigen. Es muss überdurchschnittlich
ausfallen, wenn wir den Angleichungsprozess nach vorn
bringen wollen. Darüber zu reden und zu diskutieren ist
aller Mühen wert.
Aber es gibt taugliche und untaugliche Instrumente.
Ich will ganz klar sagen: Ich möchte nicht, dass Ostdeutschland dauerhaft zu einem Niedriglohngebiet gemacht wird. Wer das tut, der fegt Ostdeutschland irgendwann genauso leer wie das Hochplateau in Frankreich
oder den Mezzogiorno in Italien. Das kann nicht die Zukunft sein.
Ich möchte auch keine Sonderwirtschaftszonen, hinter denen sich letztlich nur verbirgt, dass soziale oder
Umweltstandards unterlaufen werden. Wir werden Ostdeutschland auch keinen Gefallen tun, wenn wir die
Auffassung vertreten, uns von den Entwicklungen der
Moderne abkoppeln zu können. Nur dann, wenn die modernen und gerechtfertigten Standards in sozialer Hinsicht, in Beteiligungshinsicht und in Umwelthinsicht
auch in Ostdeutschland realisiert werden, machen wir
Ostdeutschland zu einer modernen, zukunftsfähigen Region. Das müssen wir wissen, bei allen Leistungen und
bei allen Herausforderungen, die an dieser Stelle zu bestehen sind.
Was wir brauchen, ist Folgendes - mehr noch als die
vorliegenden Gutachten haben es uns allen die Fortschrittsberichte ins Stammbuch geschrieben -: Wir brauchen mehr Wachstumskerne in Ostdeutschland. Die, die
vorhanden sind, sind gut, aber sie reichen nicht aus. Es
ist ein Fehler gewesen - Werner Schulz hat darüber
gesprochen -, dass noch viel zu lange Zeit nach dem
Zeitpunkt, zu dem das erkannt wurde, Investitionsfördermittel in Branchen bzw. Technologien und Einzelinvestitionen geflossen sind, die gar nicht wegen Ostdeutschland dorthin gegangen sind, sondern deswegen, weil dort
niedrige Arbeitskosten zusätzliche Standortvorteile versprochen haben. Sie alle sind auf dem Sprung; bei steigenden Lohnkosten werden sie weiter gen Osten gehen.
Wir haben im investiven Bereich selber gefördert, was
wir beklagen, nämlich vaterlandsloses Verhalten von einigen Unternehmen, die sich aber ökonomisch gesehen
verständlich verhalten haben.
({5})
Deswegen kommt es darauf an, die Weichenstellung
hier so zu ändern, dass wir stärker als bisher nachhaltige
Cluster und Betriebe fördern, die nach Ostdeutschland
gehen, weil wir dort eine hervorragende Infrastruktur haben, weil wir eine hervorragende Forschung haben und
weil wir gut ausgebildete Leute haben, die natürlich
nicht in Niedriglohngebiete wie Lettland oder Estland
abgeworben werden, weil die an dieser Stelle noch lange
nicht mithalten können.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja, ich komme zum Ende. - Diese Zukunft Ostdeutschlands gilt es weiter zu fördern.
Nach wie vor gilt - damit will ich schließen; das ist
wichtig und das bleibt wichtig -: Die ostdeutschen Probleme sind Sonderprobleme - gar keine Frage -, aber
ihre Lösung ist in die Lösung der Strukturprobleme eingebettet, die wir in der gesamten Bundesrepublik haben.
Wir haben damit angefangen. Wir sind auf einem guten
Weg. Die Gutachten, die wir heute diskutieren, beweisen
und bescheinigen uns, dass wir insgesamt auf dem richtigen Weg sind. Statt zu bremsen, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten Sie uns an dieser Stelle
unterstützen; dann würden Sie sich und uns einen Gefallen tun.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Göhner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Kollegen! Wenn eine Konjunkturprognose um
0,2 Prozentpunkte nach oben oder unten korrigiert wird,
ist das in der Tat kein Anlass, Grundsatzfragen zu erörtern. Wir müssen uns aber um die längerfristigen Trends
und die Fakten kümmern, die uns präsentiert wurden.
Diese Dinge sind im Frühjahrsgutachten eindrucksvoll
und messerscharf dargelegt.
Ein längerfristiger Trend ist eine starke Aufwärtsentwicklung des Welthandels: In diesem Jahr wird nach
dem Gutachten ein Plus von 9,5 Prozent erwartet. Da das
leichte Wachstum von, arbeitstäglich bereinigt, 0,9 Prozent, das sich in Deutschland in diesem Jahr langsam aus
der Stagnation heraus entwickelt, insbesondere exportgestützt ist, ist eine Wahrheit, die wir diesem Gutachten
entnehmen können, dass unser Anteil am Welthandel
massiv zurückgeht. Die Weltwirtschaft, zumindest in
den USA und in Ostasien, boomt und damit in der Tat
auch der Welthandel. Der deutsche Anteil am weltweiten
Export ist, obwohl sich unser Wachstum allein auf den
Export stützt, dennoch rückläufig.
({0})
In diesem und im nächsten Jahr haben wir noch einen
anderen Sachverhalt zu verzeichnen: Die Wirtschaft im
Euroraum wächst stärker als die in Deutschland. Sie ist
im Euroraum ohne Deutschland in den letzten fünf Jahren doppelt so stark gewachsen wie in Deutschland.
Vergessen wir also einmal die 0,2 Prozentpunkte. Aus
dem langfristigen Trend, der sich trotz richtiger Weichenstellungen in Teilbereichen der Sozialpolitik und
des Arbeitsmarkes leider verfestigt, ergibt sich nämlich,
dass wir weiter zurückfallen. Mit diesem eindeutigen
Sachverhalt, den man im Frühjahrsgutachten nachlesen
kann, müssen wir uns auseinander setzen.
({1})
Mit Recht ist hier ja schon betont worden, dass in dem
Gutachten bezüglich der momentanen Konjunkturlage
die Schwäche des Binnenmarktes herausgehoben wird.
Wir sollten uns schon der eigentlichen Ursachen vergewissern, die dafür im Gutachten genannt werden. Ganz
eindeutig - das haben einige Redner angedeutet - wird
als Hauptursache die Verunsicherung der Verbraucher
und die dadurch erfolgende Zurückhaltung im privaten
Konsum benannt. Diese Zurückhaltung wirkt sich natürlich auch auf Investoren aus, so positiv die Entwicklung
der Investitionsgüterindustrie, die sich aus Nachholbedarf ergibt, auch ist.
Angesichts dieser Verunsicherung, meine Damen und
Herren, ist es aus meiner Sicht eine ganz fatale Fehleinschätzung und vielleicht der entscheidende Fehler der
Regierungspolitik, zu meinen, dass die bisherige so genannte Reformpolitik, also die Inhalte der Agenda 2010,
den Wachstumsmotor darstelle. Herr Clement, Sie haben
gesagt, der Reformkurs sei jetzt der Wachstumsgeber.
Das ist, auf den Punkt gebracht, eine Fehleinschätzung.
Die Agenda 2010 - lassen wir einmal den Streit um
Kleinigkeiten weg - ging in ihrer Grundrichtung in der
Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik in die richtige Richtung. Das ist auch Auffassung des Gutachtens, wenngleich darin zu Recht betont wird, dass es sich hierbei
um Notoperationen handelte und weitere Schritte folgen
müssten. So ist es, kann ich dazu nur sagen. Wachstumsimpulse sind daraus aber nicht entstanden. Herr
Clement, Sie haben hier eben gesagt, im Gutachten
werde festgestellt, die Arbeitsmarktpolitik habe einen
Wachstumsschub gebracht und sich positiv ausgewirkt.
Das Gegenteil ist richtig. Im Gutachten wird ausdrücklich gesagt: Nein, daraus ergibt sich, entgegen der Vorhersage, kein Wachstum. Das ist aus Sicht der Gutachter
keine Kritik an den Maßnahmen, sondern sie sagen nur
- damit wir uns darüber im Klaren sind -: Um Wachstum zu erreichen, brauchen wir anderes.
Thomas Hanke hat heute im Kommentar auf Seite 1
des „Handelsblattes“ mit der Überschrift „Der blockierte
Aufschwung“ die Sache auf den Punkt gebracht: Der
blockierte Aufschwung in Deutschland ist Folge der Verunsicherung. Ein Vorredner hat eben darauf hingewiesen, dass im Gutachten gleich zweimal festgestellt wird,
dass der Finanzpolitik in Deutschland kein klares Konzept zugrunde liegt. Das ist ja wirklich so. Sie reden jetzt
von einem Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform.
Noch vor zehn Monaten ist von dieser Stelle aus vom
Bundeskanzler das Gegenteil verkündet worden. Sie
müssen sich einfach darüber im Klaren sein, dass Ihr politisches Hin und Her und Ihr Rein und Raus für weitere
Verunsicherung sorgt. Das hat konjunkturpolitisch das
zur Folge, was wir jetzt feststellen.
({2})
Diese Verunsicherung ist Folge der Tatsache, dass Sie einerseits sagen, Sie wollten den Reformkurs fortsetzen,
andererseits aber gegenteilige Entscheidungen treffen.
Vergegenwärtigen wir uns einmal, was in diesem ersten Quartal passiert ist, das, wie Sie, Herr Minister
Clement, zu Recht sagen, konjunkturell schlechter gelaufen ist, als wir es uns gemeinsam erhofft haben. Was
ist politisch passiert? Auf der wirtschaftspolitischen
Agenda - das können Sie auf den Wirtschaftsseiten der
Zeitungen nachlesen - ist das Thema Nummer eins die
Ausbildungsplatzabgabe. Dieses Thema ist garniert mit
Diskussionen - Sie halten von alledem nichts; das will
ich konzedieren - über Vermögen- und Erbschaftsteuer
und den entsprechenden Parteitagsdiskussionen. Das
führt zur Fortsetzung der Verunsicherung. Damit können
wir die Wachstumsbremsen nicht lösen.
Das Gutachten selbst sagt in aller Deutlichkeit, dass
die Schritte in die richtige Richtung auf dem Arbeitsmarkt aber nicht geeignet waren, die wesentlichen Faktoren der Höhe und der Struktur der Arbeitslosigkeit zu
beseitigen. Als Nummer eins nennt das Gutachten die zu
hohe Regulierungsdichte. Davor sind Sie selbst zurückgeschreckt; Sie haben nicht das aufgegriffen, was ursprünglich einmal in der Pipeline war. Wenn wir Wachstumsbremsen lösen wollen, darf dieser Bereich nicht
weiter tabuisiert werden.
({3})
Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Frühjahrsgutachten spricht von einer Erholung auch in Ostdeutschland noch im Laufe dieses Jahres. Wir reden über
das Frühjahrsgutachten in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Zukunft Ostdeutschlands wieder einmal in
aller Munde ist. Das Problembündel von Arbeitslosigkeit, Produktionsschwäche und Bevölkerungsschwund
hat damit in der breiten Öffentlichkeit erneut die Bedeutung gewonnen und die Priorität bekommen, die es
braucht. Der Aufbau Ost steht ganz oben auf der Agenda
und da gehört er auch hin.
Aufgrund der Erfahrung in den letzten 14 Jahren
deutscher Einheit muss aber festgestellt werden: Solche
erhitzten Debatten, wie wir sie derzeit erleben, hat es
mehr als einmal gegeben. Kluge Leute in ganz Deutschland zerbrechen sich den Kopf über Ostdeutschland und
es gibt kaum noch jemanden, der von bloß regionalen
Sorgen spricht. Auch dem Letzten ist offenbar klar geworden, dass es um das ganze Deutschland geht, wenn
wir von Ostdeutschland reden. Allerdings musste man
bei einigen Schlagzeilen der letzten Wochen fast den
Eindruck gewinnen, als zöge ein völlig maroder Osten
den Westen in den Abgrund. Eine fetzige Schlagzeile ist
schnell hingehauen, nach dem Motto: Je schlimmer,
desto besser. Kollege Grund, das gilt natürlich auch für
die Nachrichten über den ICE und andere Problemlagen.
Aber, meine Damen und Herren - das sage ich gerade
in Richtung der Oppositionsabgeordneten, die hier gesprochen haben -: Angst und Hysterie schaffen keine
neuen Arbeitsplätze.
({0})
Im Kern muss es uns allen doch darum gehen, dass Ostdeutschland nicht Klotz am Bein des Westens ist, sondern ein solides Standbein der deutschen Wirtschaft
wird. Was wir deshalb brauchen, ist eine realistische
Analyse mit guten Vor-Ort-Kenntnissen in den neuen
Ländern. Dazu gehören eine gewisse Disziplin und vor
allen Dingen auch eine gewisse Enthaltsamkeit, was
Übertreibungen angeht. Ich bin davon überzeugt, dass
nur eine differenzierte Stärken-Schwächen-Analyse in
Bezug auf den Osten die Grundlage für einen neuen Ansatz der Förderung gibt. Es sind die gründlich geprüften
Vorschläge und die langfristig tragfähigen Konzepte, die
dem Arbeitsmarkt und der Wirtschaft aufhelfen und Ostdeutschland über den Tag hinaus voranbringen.
Deshalb reden wir zurzeit über eine Neujustierung
des Aufbaus Ost.
({1})
Für diesen mit den Ministern Wolfgang Clement,
Edelgard Bulmahn und Renate Künast abgestimmten
Neuansatz hat Minister Manfred Stolpe bereits im Januar
die Diskussion angestoßen; Anfang April hat er ihn mit
den Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer besprochen. Dabei wurde übrigens ein hoher Grad an
Übereinstimmung erzielt:
Erstens. Wir müssen einen spürbaren neuen Impuls
für mehr Wachstum und Beschäftigung geben. Damit
wollen wir klar machen, dass Bund und Länder gegen
Sozialnot, Perspektivlosigkeit und Abwanderung im Osten ihre Kräfte noch einmal bündeln und neu in Bewegung setzen müssen.
Zweitens. Wir müssen effizienter mit den Steuergeldern umgehen. Wir müssen Förderprogramme intelligenter stricken und zielgenauer auf die differenzierte
Wirtschaftsstruktur im Osten ausrichten.
({2})
Dabei muss klar sein: Weiteres Wachstum ist vor allem
in den bestehenden Wachstumskernen zu erreichen. Eine
nachhaltige Wirtschaftsentwicklung ist zunächst nur dort
zu verwirklichen. Deshalb müssen und werden wir uns
auf diese Kerne konzentrieren, um das schon Erreichte
zu stabilisieren und darauf aufzubauen.
Drittens. Wir müssen die Transparenz der Mittelverwendung erhöhen, um die Akzeptanz der Mittelbereitstellung zu sichern. Was für Investitionen gedacht ist,
muss erkennbar investiv eingesetzt werden. Das muss
man den ostdeutschen Ministerpräsidenten ganz deutlich
sagen. Herr Kollege, auf Ihren Zwischenruf hin will ich
Ihnen sagen: Auch die Länder stehen hier ganz klar in
der Pflicht.
({3})
Ich wiederhole: Was für Investitionen gedacht ist, muss
erkennbar investiv eingesetzt werden. Um diese Fragen
geht es. Daran wird gearbeitet. Am heutigen Nachmittag, genauer: in diesen Minuten, sitzt der Minister
Dr. Stolpe mit Vertretern der Länder zusammen, um
diese Arbeit voranzubringen.
Vieles von dem, was jetzt so heiß diskutiert worden
ist, ist Bestandteil des Konzeptes, das wir schon längst
vorgelegt haben. Es gilt jetzt, die einzelnen Vorschläge
sorgfältig zu diskutieren und konkret abzuarbeiten. Wir
haben beim Aufbau Ost ein klares Ziel: Wir wollen bei
der Angleichung der Lebensverhältnisse weiter vorankommen. Wir steuern einen klaren Kurs, um dieses eindeutige Ziel zügig zu erreichen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Helge Braun, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Nachrichten der letzten beiden Tage zeigen
exemplarisch die Situation, die wir in Deutschland momentan haben. Zum einen stagniert die Entwicklung der
deutschen Wirtschaft, obwohl in den Ländern um uns
herum und - noch viel stärker - in anderen Ländern der
Welt die Wirtschaft deutlich anzieht. Zum anderen haben
die Fusionsverhandlungen zwischen Sanofi und Aventis
zu einem Ergebnis geführt, das wir nicht gutheißen können. Die französische Regierung hat sich in diese Verhandlungen massiv eingemischt. Die deutsche Regierung aber war der Auffassung, dass diese Verhandlungen
Sache der Wirtschaft seien
({0})
und sie sich nicht einmischen wolle.
({1})
Während also auf der einen Seite die französischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Vermittlung ihrer Regierung bereits eine Bestandsgarantie für
ihre Arbeitsplätze in der Hand haben, legt die deutsche
Regierung ihre Hände in den Schoß.
Das Gleiche machen Sie heute wieder bei der Frage,
wie es wirtschaftlich weitergehen soll. Ihr Generalkonzept ist: Die Opposition soll die Entwicklung nicht
schlechtreden; dann wird die Konjunktur in Deutschland
schon wieder anspringen.
Die Wahrheit sieht aber anders aus. Industrienationen
wie die USA und Japan, die positive Zahlen vermelden,
was den Aufschwung angeht, haben in den letzten zwei,
drei Jahren Investitionen in Schlüsseltechnologien sowie
in Bildung und Forschung getätigt, die deutlich höher
liegen als die entsprechenden Ausgaben in Deutschland.
Die USA haben ihre Forschungsausgaben um 30 Prozent
und Japan hat die entsprechenden Ausgaben um
15 Prozent gesteigert.
({2})
Jetzt ernten sie erste Erfolge in diesem Bereich.
Wir aber müssen beobachten, dass ein großes Unternehmen wie Aventis von einem kleineren Unternehmen
in einer solchen Art und Weise attackiert wurde. Herr
Minister, ich will Ihnen an dieser Stelle Folgendes sagen: Diese Fusion macht exemplarisch die strukturellen
Probleme Deutschlands deutlich. Wie kann es denn sein,
dass ein großes Unternehmen von einem kleinen Unternehmen aufgekauft wird? Das liegt daran, dass durch die
Abgabenlast in Deutschland die Kapitaldecke der Unternehmen so dünn geworden ist, dass sie in keiner Weise
mehr in der Lage sind, feindlichen Übernahmen noch
standzuhalten.
({3})
Schauen Sie sich die Situation in Europa an! Während
es die Franzosen im Bereich der Chemieindustrie immer
wieder schaffen, die Interessen ihrer Unternehmen in
Europa erfolgreich durchzusetzen, sind Sie auf dem Gebiet der europäischen Chemikalienpolitik in keiner
Weise in der Lage, die Interessen der deutschen Unternehmen zu vertreten.
Auch Bildung und Forschung wird in dem Frühjahrsbericht der Wirtschaftsweisen behandelt. Diese schreiben, dass die Ausgaben des Staates für Sach- und Humankapital erheblich aufgestockt werden sollten. Auch
Sie, Herr Minister, und der Kollege Fritz Kuhn, der nicht
mehr anwesend ist, haben das vorhin angesprochen.
Aber die Realität ist, dass Sie die Ausgaben für Bildung
und Forschung in Deutschland im letzten Jahr gesenkt
haben. Sie haben dies mit dem Argument getan, dass Sie
sie im kommenden Jahr, wenn sich die wirtschaftliche
Situation verbessert hat und der Aufschwung da ist, wieder anheben wollen. Deshalb ist die Aussage im Frühjahrsgutachten richtig, dass die Talsohle, was die Investitionen angeht, auch in den kommenden Jahren bestehen
bleibt, weil der von Ihnen herbeigeredete Aufschwung
nicht stattfinden wird.
Daher nützt es auch nichts, darüber zu reden, ob ein
Wachstum von 0,2 Prozent viel oder wenig ist. Die entscheidende Botschaft des heutigen Tages ist, dass es in
der deutschen Wirtschaft entgegen Ihren Erwartungen
und Ankündigungen eben nicht zu dem erwünschten
Aufschwung kommt. Auch wir würden ihn uns wünschen. Deshalb ist es wichtig, dass jetzt die Maßnahmen,
die im Frühjahrsgutachten genannt werden, eingeleitet
werden. Dazu gehört eine Steuer- und Abgabenpolitik,
die sich mehr an den Unternehmen orientiert.
Dazu gehört auch, dass die Ausbildungsplatzabgabe
nicht eingeführt wird. Sie verweisen ja die ganze Zeit
darauf, dass es auch in anderen Ländern so etwas wie die
Ausbildungsplatzabgabe gibt. Sie sollten dann aber auch
hinzufügen, wie hoch die Ausbildungszahlen in den
Ländern sind, in denen es eine Ausbildungsplatzabgabe
gibt. Wir liegen bei 7 bis 8 Prozent. Die Franzosen und
die Dänen haben eine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt. In diesen Ländern liegt die Ausbildungsquote bei
5 bzw. 3 Prozent. Der Glaube, dass man hiermit Effekte
erzielen kann, die jungen Menschen in Deutschland helfen, ist also trügerisch.
({4})
Das Frühjahrsgutachten ist ein Schlag in das Gesicht
der Bundesregierung. Ihre Äußerungen, nur die Opposition sei an all diesen Entwicklungen schuld und man
könne im Hinblick auf die Übernahme durch Sanofi oder
das Wirtschaftswachstum nichts machen, führen nicht
nur dazu, dass das Vertrauen der Menschen in Deutschland deutlich geringer wird, sondern auch dazu, dass sich
uns die Frage aufdrängt, warum Sie in Deutschland noch
regieren wollen, wenn Sie keinerlei Konzeptionen haben, wie Sie dieses Land in Zukunft auf das vorbereiten
wollen, was in Deutschland wirklich wichtig ist, nämlich
die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum.
({5})
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Rainer Wend, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir eine Vorbemerkung zu Herrn Grund. Herr
Grund, Sie haben gesagt, im Hinblick auf die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen bräuchten wir positive
Botschaften und würden deswegen davon reden, dass
wir den Osten „am Hals“ hätten. Herr Grund, wenn Sie
wüssten, was in Nordrhein-Westfalen nach der Wende
insbesondere im Rahmen der Partnerschaft mit Brandenburg geleistet wurde,
({0})
wenn Sie wüssten, dass bis heute Zahlungen aus Nordrhein-Westfalen erbracht werden, die vielen in unseren
Regionen schwerfallen, weil es im Ruhrgebiet selber
und an anderen Stellen nicht besonders gut aussieht, und
wenn Sie dann noch wüssten, dass nicht Peer Steinbrück
bzw. Nordrhein-Westfalen, sondern Stoiber, Teufel und
Koch den Länderfinanzausgleich mit einer Klage überzogen haben, dann würden Sie wissen, dass Ihr Beitrag,
Herr Grund, schlicht anmaßend war.
({1})
Lassen Sie mich zusammenfassen, wie heute über das
Frühjahrsgutachten diskutiert wurde. Ich finde diese
Diskussion - dabei nehme ich uns nicht aus - ein bisschen unangenehm. Denn was passiert? Die eine Seite
des Hauses spricht von einem Schlag ins Gesicht, von
Ohrfeige, Hiobsbotschaft usw.
({2})
Die andere Seite meint, sich verteidigen zu müssen,
sucht also in dem Gutachten nach Stellen, an denen zum
Beispiel steht: auf dem richtigen Weg, vernünftige Ansätze usw.
({3})
Es findet sozusagen eine Kopfdebatte darüber statt, wer
dieses Frühjahrsgutachten für sich in Anspruch nehmen
kann.
Spannender ist doch die Frage: Welche Substanz hat
das Gutachten und welche Konsequenzen hat das für die
Politik? Ich bin Herrn Göhner für seinen Beitrag sehr
dankbar, über dessen Inhalt wir gewiss streiten können.
Sie sollten das nicht als Benotung betrachten; aber Ihr
Beitrag hatte wirklich Substanz und war interessant. Sie
haben den auch für mich zentralen Punkt des Vertrauens
und der Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger
hinsichtlich der Zukunft angesprochen, die in der Tat,
was die Binnenkonjunktur angeht, die große Bremse in
unserem Land sind.
Was ist der Grund dafür? Man kann zwar jetzt wieder
in eine primitive Schwarz-Weiß-Malerei verfallen. Ich
möchte aber einmal folgenden Gedanken ausführen: Die
Menschen in unserem Land sind seit 50 Jahren, seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland, daran gewöhnt,
dass es fast immer quasi automatisch aufwärts gegangen
ist. Die Löhne und die Renten sind gestiegen; die Arbeitszeit ist verkürzt worden; der Urlaub ist verlängert
worden. Es ging allen fast automatisch immer besser.
Die Gewerkschaften, die Sozialdemokraten, aber auch
die Union haben für sich reklamiert, dass die Politik der
sozialen Marktwirtschaft dafür verantwortlich gewesen
ist, dass es fast automatisch immer aufwärts gegangen
ist.
Wir alle müssen den Menschen heute sagen: Mit diesem Automatismus des Aufwärts ist es vorbei.
({4})
Dass es vorbei ist, hat rationale Gründe, über die wir
reden müssen. Im Wesentlichen sind es zwei Gründe.
Der erste Grund ist: Sowohl das Kapital als auch der
Faktor Arbeit oder der inzwischen wichtigste Rohstoff in
unserer Welt, die Informationen, können zum Teil innerhalb von Minuten über den ganzen Erdball transportiert
werden. Die Folge ist ein weltweiter Wettbewerb um Investitionen, um Kapital und um Arbeitsplätze. Auf diese
fundamentale Veränderung, die immer mit dem Schlagwort Globalisierung beschrieben wird, müssen wir uns
einstellen. Damit ist eine substanzielle Veränderung unserer bisherigen Nachkriegspolitik verbunden.
Der zweite Grund ist die demographische Entwicklung. Zum Glück werden die Menschen immer älter,
folglich werden die sozialen Sicherungssysteme immer
länger in Anspruch genommen. Hinzu kommt, dass immer weniger Kinder geboren werden. Das Problem liegt
also klar auf der Hand. Wir alle müssen den Menschen
deutlich machen, dass sich die Werte unserer Nachkriegspolitik nicht verändern dürfen, dass aber die Instrumente, mit denen wir soziale Sicherheit erhalten und
dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung sowie eine
bessere Ausgangsposition für künftige Generationen erreichen wollen, einer grundlegenden Veränderung bedürfen.
({5})
Das ist die tiefe Einsicht, die hinter der Agenda 2010
des Kanzlers steht. Über die Einzelheiten der Agenda
kann man streiten, aber man kann nicht darüber streiten,
dass wir 15 Jahre lang nicht bereit waren - das betrifft
Sie genauso wie uns; das sage ich hier ganz freimütig -,
mit den Menschen über die grundlegenden Veränderungen offen zu diskutieren. Es ist das große Verdienst der
Agenda 2010, dass diese Auseinandersetzung in Angriff
genommen wurde.
Abschließend möchte ich Ihnen sagen: Ich weiß, dass
die Agenda 2010 weder die absolute Lösung noch das
Ende der Reformpolitik der Bundesregierung sein kann.
Wir müssen in Anbetracht der Veränderungen unsere
Wirtschaft und unsere Rahmenbedingungen neu aufstellen. Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme so umgestalten, dass sich auch künftige Generationen auf sie
verlassen können. Das ist eine große Aufgabe, über die
zu streiten sich lohnen würde, statt Ihr Kleinklein von
heute Nachmittag fortzusetzen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss der
Aktuellen Stunde erlaube ich mir zwei Bemerkungen. In
den Regelungen zur Aktuellen Stunde heißt es unter
Ziffer 6:
Die Aussprache dauert höchstens eine Stunde.
Ich weise darauf hin, dass die Aktuelle Stunde pünktlich
um 15.30 Uhr begonnen hat.
Unter Ziffer 7 heißt es:
Der einzelne Redner darf nicht länger als fünf Minuten sprechen.
Es muss nicht sein, dass diese klaren Regelungen der
Geschäftsordnung nahezu ausnahmslos nur nach optischen oder akustischen Hinweisen wahrgenommen, aber
nicht eingehalten werden.
Meine zweite Bemerkung: Es gibt in unserer Geschäftsordnung keine Regelung über die erwartete Verweildauer von Rednern in Debatten des Bundestages.
Ich möchte allen Fraktionen noch einmal den Hinweis
geben, bei der Benennung von Rednern möglichst darauf
zu achten, ob interessierte Kolleginnen und Kollegen
nicht nur reden wollen, sondern auch an der Debatte teilnehmen können.
({0})
Da die Zahl der Mitglieder in allen Fraktionen deutlich
größer ist als die Zahl der jeweils infrage kommenden
Redner, muss dieses Problem lösbar sein. - Ich bedanke
mich.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 29. April 2004, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.