Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Wilhelm Josef Sebastian feierte am
21. März seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich.
({0})
Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung ist von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
die noch offene Position des stellvertretenden Mitglieds
zu besetzen. Hierfür wird die Kollegin Undine Kurth
({1}) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Kurth als stellvertretendes Mitglied in den Parlamentarischen Beirat gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Unterschiedliche Auffassungen im Bundeskabinett zum
Emissionshandel und zur Ökosteuer ({2})
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 15/2743 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich
({4}), Sibylle Laurischk, Joachim Günther ({5}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gesamtverkehrskonzept Südbaden - Bündelung von Schiene und
Straße im Rheingraben
- Drucksache 15/2470 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für die Einhaltung der
grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in
Guantanamo Bay
- Drucksache 15/2756 ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung des Engagements der Bundesregierung für den Wiederaufbau- und
Stabilisierungsprozess in Afghanistan
- Drucksache 15/2757 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 7 g
- Menschenrechte in Tunesien - abgesetzt werden. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung
im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Rechtsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden
… Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialgesetzbuches - Achtes Buch - ({7})
- Drucksache 15/1406 überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Gerade wird mir ein Zettel mit der Mitteilung gereicht, dass die Kollegin Silvia Schmidt ({9})
heute ihren 50. Geburtstag feiert. Herzlichen Glückwunsch!
({10})
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Erklärung durch den
Unser Weg zu neuer Stärke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor einem Jahr habe ich hier dem Deutschen
Bundestag die Agenda 2010 vorgestellt. Mit ihr verfolgen wir ein klares Ziel: Deutschland zu neuer Stärke führen.
Mit dieser Politik kommen wir unserer Verantwortung
nach, Deutschlands Zukunft nicht nur außenpolitisch zu
sichern, sondern unsere Gesellschaft auch ökonomisch
und sozial zu erneuern, damit Deutschland unter völlig
veränderten Bedingungen ein Land des Wohlstands und
der sozialen Gerechtigkeit bleibt, ein Land, das für eine
Kultur der Zuversicht und des Fortschritts im Sinne praktizierter Vernunft steht, ein Land, das modern ist, weil es
alle Quellen des Wissens erschließt und sie in einer offenen Gesellschaft allen zugänglich macht, ein Land, das
aus diesen Gründen einen Platz in der Weltspitze einnimmt, nicht weil wir ein Recht auf diesen Platz hätten
oder weil wir andere dominieren wollten, sondern weil es
gerade durch die Praxis von Verantwortung und Erneuerung zur Weltspitze gehört.
({0})
Heute steht Deutschland auf diesem Weg bereits um
einiges besser da als noch vor zwölf Monaten.
({1})
Die wirtschaftliche Stagnation der vergangenen drei
Jahre ist überwunden,
({2})
die Investitionstätigkeit zieht wieder an, Auftragseingänge und Produktion der Industrie weisen aufwärts.
Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr zum ersten
Mal seit drei Jahren wieder wachsen. Im vergangenen
Jahr hat die deutsche Exportwirtschaft so viele Waren
und Dienstleistungen abgesetzt wie kein anderes Land
der Welt. Der Rückgang der Erwerbstätigkeit kommt allmählich zum Stillstand.
Das sind ermutigende Erfolge, auf denen wir aufbauen können. Sie zeigen, dass wir auf dem richtigen
Weg sind. Aber es ist nichts, worauf wir uns ausruhen
könnten.
Was mich allerdings noch mehr ermutigt und was ich
wichtig finde, ist die Tatsache, dass wir in diesem einen
Jahr gewiss unter Schwierigkeiten, aber doch gezeigt haben: Wir Deutschen sind fähig und bereit, unser Land zu
reformieren und den Egoismus zu überwinden - den
Egoismus der Einzelnen, aber vor allem den Egoismus
der Interessengruppen.
Vor einigen Wochen schrieb die „New York Times“,
die Deutschen hätten in der Reformdiskussion die
Chance, sich darauf zu besinnen, dass sie nicht die Fähigkeit verloren hätten, hart zu arbeiten, Neues hervorzubringen und Opfer auf sich zu nehmen. Genau damit
hätten sie das Wirtschaftswunder hervorgebracht. - Ich
denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
können heute allen Schwierigkeiten und allen Problemen
zum Trotz sagen: Wir Deutschen sind jetzt im Begriff,
diese Chance, uns auf unsere eigenen Stärken zu besinnen, auch zu nutzen. Wir haben bewiesen, dass wir bereit
sind zur Wahrheit und zur Lösung von Problemen, auch
wenn sie schmerzhaft und auch wenn sie kompliziert
sind. Wir haben damit die Blockierer und die Schwarzmaler widerlegt.
({3})
Aus meinen vielen, gelegentlich sehr kontroversen
Gesprächen über den zweifellos schwierigen Umbau
unseres Sozialstaates ist mir eine Begegnung besonders
in Erinnerung geblieben. Es war eine Rentnerin aus
Bocholt, die am Ende einer solchen Diskussion aufstand
und sagte: Ich und viele, die in ähnlicher Lage sind wie
ich, sehen ja ein, dass auch wir etwas beitragen müssen.
Aber es ist nicht immer einfach für uns. Deshalb würden
wir uns wünschen, dass die Politik und die Gesellschaft
uns auch einmal ihre Anerkennung aussprechen. Noch
wichtiger ist es, dass sie uns klar machen: Was wir jetzt
beitragen, lohnt sich, weil unsere Kinder und unsere Enkelkinder etwas davon haben werden.
Mich hat das sehr beeindruckt. Ich finde, darüber
sollte man in diesem Land nachdenken.
({4})
Es ist gewiss so, dass die heutige Rentnergeneration
unser Land zur Stärke geführt hat. Diese Generation hat
das Land wieder aufgebaut, als es in Trümmern lag.
Diese Generation weiß, was Entbehrungen bedeuten.
Wir wissen, dass für viele dieser heutigen Rentnerinnen
und Rentner 10 oder 20 Euro weniger im Monat sehr
wohl einen Unterschied in der Lebensqualität ausmachen. Deshalb ist mir keine Entscheidung zur
Agenda 2010 so schwer gefallen wie die, auch Rentnerinnen und Rentner stärker zu belasten.
({5})
Ich weiß, was diese Rentnergeneration für das Gemeinwohl zu leisten bereit ist, und viele in unserem
Land - vor allen Dingen diejenigen, denen es sehr gut
geht - sollten sich ein Beispiel daran nehmen.
({6})
Diesen Menschen versprechen wir: Eine Politik des bloßen Umverteilens von unten nach oben wird es mit uns
nicht geben. Umverteilen aber müssen wir, und zwar
vom Gestern und Heute ins Morgen, in die Zukunft unserer Kinder und unserer Enkel.
({7})
Was ich dieser Generation, zumal dieser Rentnergeneration, gerne sagen würde, ist: Was wir zusammen begonnen haben, wird sich auszahlen: in Zukunftschancen,
in Freiheit und Wohlstand für unsere Kinder und für deren Kinder.
Wir haben in dem zurückliegenden Jahr viel geschafft. Wir haben sehr viele Probleme, deren Bewältigung wir alle zusammen auf die lange Bank geschoben
hatten und die über Jahrzehnte hinweg nicht gelöst worden waren, auf einmal angehen müssen. Das war nicht
leicht und es ist nicht ohne Reibungsverluste verlaufen
- ich weiß wahrlich, worüber ich in diesem Zusammenhang rede -, übrigens auch nicht ohne Fehler im Detail.
Klar ist allerdings auch: Wir sind noch längst nicht
am Ende unseres Weges. Aber die wichtigste Zwischenbilanz, die wir heute ziehen können, lässt sich sehen:
Wir haben uns und anderen bewiesen, dass auch in
schwierigen Zeiten und in oft mühseligen und langwierigen Verfahren Veränderungen für das Gemeinwohl
möglich und machbar sind. Wir haben gesehen: Wenn
die politische Führung den Mut zur Veränderung aufbringt, dann besteht die Chance, dass wir auch die Bereitschaft der Menschen finden, solche Veränderungen
mitzutragen. Notwendig - im wahrsten Sinne dieses
Wortes - ist das für unser Land. Wir haben erkannt
- diese Erkenntnis wächst in unserer Gesellschaft -, dass
Veränderungen auch dann sein müssen, wenn sie im Einzelfall schmerzhaft sind, übrigens so schmerzhaft, wie es
auch die diesen Veränderungen zugrunde liegende Wirklichkeit gelegentlich ist.
({8})
Wir wissen heute sehr viel genauer, mit welchen Blockaden wir es auf unserem Weg zur Erneuerung zu tun
haben.
({9})
Wir haben begonnen, eine Verständigung über den notwendigen Weg zu erreichen. Es geht um eine Verständigung darüber, was dieses Land nach innen und nach außen sein will und sein wird: eine treibende Kraft der
europäischen Integration, ein selbstbewusstes, aber nie
überhebliches Mitglied der Völkerfamilie, ein wichtiger
Partner im Kampf gegen Terrorismus und Gewalt, aber
eben auch ein Anwalt für eine gerechte, weil kooperative
Weltordnung.
({10})
Im Innern will und wird es ein Land sein, das seiner
Kraft vertraut, der Kraft, die nach bitteren Erfahrungen
von Diktatur, Krieg und Zerstörung Wiederaufbau und
neuen Wohlstand geschaffen hat, ein Land, das diese
Kraft in der Erneuerung wiedergewinnt und dabei den
Egoismus überwindet, vor allem ein Land, das auch in
der Veränderung eine soziale Gesellschaft bleiben will
und bleiben wird, weil gerade das ein Teil unserer Kraft
ist.
({11})
Ich weiß sehr wohl: Die Idee von der sozialen Gesellschaft hat heute eine Menge Gegner. In der Rechnung
derjenigen, die predigen, dass in der Globalisierung nur
ein ungezügelter Marktliberalismus konkurrenzfähig sei,
zerfällt jede Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Ich
denke aber auch an diejenigen, die den Sozialstaat alter
Prägung um jeden Preis verteidigen wollen, die den Sozialstaat mit einem Sozialhilfestaat verwechseln und
jede Reform als Angriff auf die Gerechtigkeit bekämpfen. Beide liegen falsch.
({12})
Deutschlands Weg zu neuer Stärke führt allein über die
Verteidigung der sozialen Gesellschaft. Das setzen wir
all denen entgegen, die Reformen nur als Verzicht begreifen, aber auch denjenigen, die immer nur Verzicht
predigen, dabei aber ausschließlich an andere denken.
({13})
Bei der Besinnung auf unsere Stärken gibt es auch
eine Rückbesinnung auf unsere Tugenden: Erfindergeist
und Fleiß, Kreativität, auch Leistungsbereitschaft und
auch die Tugend der Anständigkeit. In der öffentlichen
Diskussion hat man das häufig „die deutschen Arbeitnehmertugenden“ genannt. Das ist aber falsch. Es müssen auch Arbeitgebertugenden sein.
({14})
Wir können den Menschen sehr wohl verständlich
machen, dass staatliche Mittel, die wir für Zukunftsinvestitionen brauchen, nur dort eingespart werden können, wo sie bislang ausgegeben worden sind: bei den
Subventionen und auch in den Sozialhaushalten.
({15})
Wir können ihnen genauso gut verständlich machen,
dass schärfere Regeln bei der Arbeitsaufnahme sein
müssen, weil es in einer sozialen Gesellschaft nicht sein
darf, dass jemand, der die Annahme einer zumutbaren
Arbeit verweigert, besser dasteht als jemand, der sich abmüht. Aber auch mein Verständnis endet dort, wo diejenigen, die wenig oder durchschnittlich verdienen, selbstverständlich Opfer für die Zukunft bringen, während
sich einige Hundert Spitzenverdiener ungeniert Pensionsansprüche und Abfindungen in Millionenhöhe genehmigen.
({16})
Dieses Verhalten mag sogar nach Recht und Gesetz sein.
Aber es ist nicht nach Moral und Anstand.
({17})
Auch in Zeiten der Globalisierung ist die Sozialbindung des Eigentums, wie sie im Grundgesetz steht, keineswegs hinfällig geworden. Wir haben den Umbau des
Sozialstaates begonnen, und zwar mit dem Ziel, dass er
auch in Zukunft denjenigen hilft, die sich nicht selber
helfen können. Aber wir werden den umgebauten Sozialstaat viel besser als bisher nutzen, weil wir in
Deutschland auf dieser Basis eine dynamische und wettbewerbsfähige Gesellschaft weiterentwickeln, die aber
auch eine Gesellschaft des sozialen Zusammenhalts, der
Freiheit, der Sicherheit und der Teilhabe sein wird. Deswegen werden wir die Mitbestimmung nicht kaputtmachen lassen, sondern weiterentwickeln.
({18})
Das sind die Themen der Zukunft: Innovationen, neue
Patente, neue Verfahren und neue Märkte. Wir wollen
Wachstum durch Modernisierung. Aber vor allem wollen wir Innovation für unsere Kinder bei Bildung, Forschung und Betreuung; denn das bringt Zukunftschancen.
({19})
Zwei Dinge sind es, die beim Aussprechen dessen,
was ist, immer am Anfang stehen müssen. Erstens. Wir
leben und arbeiten in einer offenen Volkswirtschaft, die
sich Tag für Tag dem internationalen Wettbewerb zu
stellen hat, und zwar zu Bedingungen, unter denen die
Freiheit, Kapital global anzulegen oder zu investieren,
ungleich größer ist als die Sicherheit eines Facharbeiters,
einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden. Zu behaupten, ein Land, das so stark von Außenwirtschaftsbeziehungen abhängig ist wie Deutschland, könne sich gleichsam von der Globalisierung abkoppeln, wäre grob
fahrlässig. Aber zu fordern, dass wir deswegen alle Errungenschaften der Teilhabe, der Sozialverträglichkeit
und des Schutzes der Lebensgrundlagen über Bord werfen sollten, wäre wiederum ein Anschlag auf all das, was
uns stark gemacht hat und stark erhält.
({20})
Die zweite Entwicklungslinie, mit der wir es zu tun
haben, ist: Wir leben in einer alternden Gesellschaft.
Immer weniger Beschäftigte müssen für immer mehr
Rentnerinnen und Rentner aufkommen.
({21})
- Auch wenn das nicht neu ist, muss es immer wieder
einmal gesagt werden, damit Sie es ebenfalls verstehen.
({22})
Mir liegt daran, dass das bei uns im Land noch deutlicher wird.
1960 haben zehn Beschäftigte die Altersversorgung
von einem Rentner bezahlt. Deswegen waren die Beiträge relativ niedrig. Bis heute sind die Beiträge deutlich
gestiegen, weil nur noch drei bis vier Beschäftigte für
einen Rentner aufkommen müssen. Bei ungebremster
Entwicklung werden es 2030 nur noch zwei Beschäftigte
sein, die für einen Rentner aufkommen müssen.
Seit den 60er-Jahren sind in Deutschland sowohl das
Wirtschaftswachstum als auch die Geburtenrate ständig rückläufig. Natürlich hängt das eine mit dem anderen
zusammen. Wenn die Bevölkerung schrumpft - das ist
nicht nur ein deutsches Problem, sondern ein Problem,
das alle europäischen Länder haben; alle diejenigen, die
es zu lösen versuchen, haben damit ähnliche Schwierigkeiten wie, zugestandenermaßen, wir auch -, geraten
nicht nur die sozialen Sicherungssysteme bei uns und in
ganz Europa immer stärker unter Druck, sondern es wird
auch immer schwieriger, den Wohlstand zu erwirtschaften, der unseren Sozialstaat überhaupt erst ermöglicht.
Gewiss, eine Bevölkerungspolitik, wie gerade wir in
Deutschland sie in zwei Diktaturen erlebt haben - ich
nenne nur die Stichworte; „Mutterkreuz“ hieß es bei den
Nazis und „Abkindern“ in der früheren DDR -, ist das
Gegenteil von einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Aber wir müssen aufpassen, dass unser
Wunsch nach Freiheit uns nicht die Freude am Leben
mit Kindern verdirbt.
({23})
Wer sich für ein Leben mit Kindern entscheidet, trifft damit immer eine Entscheidung, die über das eigene Leben
und die eigenen Interessen hinausweist. Diese Entscheidung kann der Staat niemandem abnehmen. Aber dafür
sorgen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen stimmen, für die Eltern, aber noch mehr für die Kinder, das
muss ein moderner Sozialstaat leisten.
({24})
Globalisierung und demographische Entwicklung lassen uns keine Alternative dazu, unseren Sozialstaat und
die Marktwirtschaft zu reformieren. Es gibt natürlich Reformalternativen - die mag im demokratischen Wettstreit
jeder selbst beurteilen -, aber es gibt keine Alternative
zur Reform. Der Weg, den die Bundesregierung vorschlägt, ist klar umrissen. Es ist der Weg der ökologischen Modernisierung und der Weg der gesellschaftlichen Erneuerung.
({25})
Die Agenda 2010 ist eben kein bloßes Sparprogramm.
Sie ist ein Programm, bei dem Geld eingespart wird und
werden muss - das ist wahr -, aber es wird eingespart,
um es im Sinne eines besseren Lebens verfügbar zu machen, also in die Zukunft zu investieren.
({26})
Die Agenda 2010 ist eine Antwort darauf, dass die
Zeit der immer währenden Zuwächse der Wirtschaft, in
der immer mehr an die Menschen im Land verteilt werden kann, vorüber ist. Das bloße Verteilen von Mitteln
war auch nie der wirkliche Inhalt des Sozialstaates.
({27})
Wir geben pro Kopf der Bevölkerung mehr Geld für
die Gesundheitsvorsorge aus als fast alle anderen Staaten
der Welt. Trotzdem sind wir nicht gesünder. Unsere Aufwendungen für familienpolitische Leistungen sind, materiell gesehen, höher als in fast allen anderen Staaten
der Welt. Trotzdem gibt es bei uns nicht mehr Kinder.
Unsere Arbeitslosenversicherung und die Mittel zur Arbeitsförderung sind in der ganzen Welt wirklich einmalig. Trotzdem ist es in unserem Land seit mehr als
30 Jahren nicht gelungen, jedem, der arbeiten will und
kann, einen Arbeitsplatz zu besorgen. Deswegen war
und bleibt es richtig, immer wieder neu zu überprüfen,
ob die gewaltigen Summen, die wir für die gewünschten
Zwecke aufwenden, auch tatsächlich effizient genug eingesetzt werden.
({28})
Die Maßnahmen, die wir zum Teil gemeinsam beschlossen haben, zeigen erste Erfolge. Im Gesundheitswesen, bei Arztbesuchen und Überweisungen, aber auch
bei Medikamenten und beim Aufbau und Ausbau von
Gesundheitszentren, kommen wir zu strukturellen Verbesserungen. Auf diese Weise können Milliarden Euro
eingespart werden. Aber der strukturelle Erfolg ist um
ein Vielfaches wichtiger, denn Gesundheit beginnt bei
der Vorsorge. Das heißt, jeder Einzelne steht für sich in
der Verantwortung.
Gesundheit heißt aber auch Fürsorge. Alle Beteiligten, von der Pharmaindustrie über die Apotheker, die
Ärzte und die Krankenkassen wissen inzwischen, dass
wir von unseren Grundsätzen nicht zurückweichen werden.
({29})
Es bleibt dabei: Jeder und jedem muss das medizinisch
Notwendige zur Verfügung stehen; aber Selbstbedienung bei den Gesundheitskassen lassen wir nicht zu, weder bei Herstellern und Verkäufern von Medikamenten
noch bei Ärzten und Apothekern, aber auch nicht bei Patienten.
({30})
Bei der Rente haben wir die notwendigen Maßnahmen schon vor der Agenda 2010 eingeleitet, indem wir
dafür gesorgt haben, dass sich auch diejenigen eine
eigene Zusatzversorgung aufbauen können, die es aus
eigenen Mitteln allein nicht schaffen würden. Regelungen, die zu umständlich sind, weil der Sicherheitsaspekt
zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde, werden wir
ändern. Wir haben - die Debatten darüber waren gewiss
kontrovers und für den einen oder anderen auch
schmerzlich - einen Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt.
({31})
Das musste sein, damit die Altersversorgung für die
Rentner sicherer wird und für die aktiv Beschäftigten bezahlbar bleibt.
In der Steuerpolitik haben wir Impulse für Investitionen und Gerechtigkeit ausgelöst. Zu Jahresbeginn haben
wir Arbeitnehmer und Unternehmen um insgesamt
15 Milliarden Euro entlastet.
({32})
Lassen Sie mich übrigens auch das einmal deutlich machen: Bei unserem Regierungsantritt 1998 lagen der
Eingangsteuersatz bei 25,9 Prozent und der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent. Nach der letzten Stufe zu Beginn des nächsten Jahres werden sie 15 bzw. 42 Prozent
erreichen. Das sind die niedrigsten Werte seit Bestehen
der Bundesrepublik.
({33})
Ich füge hinzu: Wer noch mehr will, sollte ganz klar sagen, wie er es bezahlen will.
({34})
Wir setzen diese Politik mit einer Reform der Besteuerung der Alterseinkünfte fort, wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt hat. Die so genannte nachgelagerte Rentenbesteuerung wird dazu führen, dass die
Beiträge zur Altersvorsorge von der Steuer abgesetzt
werden können. Weil in dieser Debatte so viel Schindluder getrieben wird, lassen Sie mich sagen, meine Damen
und Herren: Dazu ist erstens die Regierung und die sie
tragende Mehrheit durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gezwungen - sie steht dafür in der Pflicht und zweitens wird es in den Jahren 2005 bis 2010 zu
einer Steuerentlastung von insgesamt 15 Milliarden Euro
führen.
Es ist wahr, ich hätte mir durchaus vorstellen können,
bei der Steuerreform schneller voranzugehen. Aber auch
hier muss man in Erinnerung rufen, auch wenn Weihnachten schon etwas länger her ist: Mehr an Entlastung
war mit der Opposition, die in der Länderkammer eine
Mehrheit hat, nicht zu machen.
({35})
Meine Damen und Herren, wir haben ja in dieser Debatte wunderbare Erfahrungen gemacht. Als wir gesagt
haben, lasst uns doch dafür sorgen, dass der ganze Entlastungsbetrag, also 22 Milliarden Euro, auf einmal Anfang 2004 wirksam wird, da ist uns gesagt worden - es
waren ja alle dabei -: Das geht nicht, das halten die Landeshaushalte nicht aus. Ein paar Tage später kamen dann
Pläne derer, die vorher sagten, es gehe nicht, auf den
Tisch, die ein mehr als doppelt so hohes Entlastungsvolumen forderten. Das ist unseriöse Politik. Das kann man
so nicht machen.
({36})
Ich hatte gesagt, dass es keine Alternative zu Reformen gibt. Aber es gibt sehr wohl Alternativen bei den
Reformen. Die Ungerechtigkeiten, die Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, mit Ihren verschiedenen Modellen planen, müssen einmal
deutlich ausgesprochen werden. Zugleich müssen wir
sagen: Wir machen das nicht.
({37})
Sie wollen zum Beispiel Spitzenverdiener steuerlich
doppelt so stark entlasten wie Geringverdiener. Darüber
hinaus sollen Menschen mit geringen Einkommen die
hohen Kopfprämien zahlen, die Sie als Ihr Konzept einer
Gesundheitsreform verkaufen.
Wir dagegen haben ein anderes Konzept: Wir senken
die Steuern auf Arbeitseinkommen. Wir wollen, dass
Kapital, das für Zinsgewinne angelegt wird, effektiv besteuert wird, weil die Arbeitskosten auch dadurch gesenkt werden können.
({38})
Die Arbeitnehmer und die Investoren können sich darauf
verlassen: In Deutschland werden weniger Steuern gezahlt als in vielen Vergleichsländern, auch in vielen Vergleichsländern der jetzigen Europäischen Union. Die
Beiträge zur Rente, also die Lohnzusatzkosten, sind eindeutig festgeschrieben und ich bin sicher, dass die Beiträge zur Krankenversicherung noch im Laufe dieses
Jahres weiter sinken werden. Das, meine Damen und
Herren, sind die hier und heute messbaren Erfolge der
Agenda 2010.
({39})
Aber es gilt auch - das haben wir uns zum Ziel gesetzt -, Deutschland als Sozialstaat umzubauen und zurück an die Weltspitze zu führen, ökonomisch, ökologisch und sozial. Das ist nicht zuletzt deshalb nötig, um
die Ressourcen freizubekommen, die wir brauchen, um
in Zukunft zu investieren, Ressourcen, die wir nur verfügbar machen können, wenn wir die Staatsausgaben
und die Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme unter
Kontrolle halten, und zwar im doppelten Sinne: erstens
indem wir dafür sorgen, dass mit diesen Geldern effizient umgegangen wird, und zweitens indem wir bei
Subventionen und Sozialausgaben darauf achten, wo sie
wirklich nötig und vor allem im Sinne der Zukunftsgestaltung wichtig sind. Öffentliche Güter wie Sicherheit
und Rechtsstaatlichkeit, Gesundheit oder auch Kultur
sind eben keine Waren, deren Wert sich nach dem Shareholder-Value-Prinzip ermitteln ließe.
({40})
Es sind auch keine Waren, die gleichsam von selbst auf
dem Markt erscheinen. Gleichwohl haben die Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht darauf, dass ihnen diese Güter erhalten bleiben und, wo immer nötig und möglich,
weiterentwickelt werden. Das gilt in allererster Linie für
die Bildung und die Betreuung unserer Kinder.
({41})
Bildung und Betreuung müssen für eine Gesellschaft,
die über den Eigennutz hinausdenkt, von zentraler Bedeutung sein, und zwar aus drei gewichtigen Gründen:
Erstens. Deutschland ist ein Land, das über keine nennenswerten Rohstoffreserven verfügt und dessen Zukunft bestimmt nicht darin liegt, Billiglohnländern bei
der Herstellung von Massenware Konkurrenz zu machen.
({42})
Seine Zukunft liegt auch nicht darin, mit denen, die jetzt
neu in die Europäische Union kommen, um immer niedrigere Löhne zu konkurrieren. Das ist nicht die Zukunft
unseres Landes, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({43})
Weil das so ist, können wir es uns schlicht nicht leisten,
auch nur eine einzige junge Frau oder einen einzigen
jungen Mann nicht seinen Begabungen entsprechend
möglichst qualifiziert ausbilden zu lassen und zu beschäftigen.
({44})
Zweitens. Deutschland ist ein Land mit einer der
höchsten Raten an Arbeitsproduktivität. Das hat uns
stark gemacht und das muss so bleiben. Aber wir haben
bereits heute einen Mangel an Fachkräften in bestimmten Branchen. Dieser Mangel wird sich in den nächsten
Jahren drastisch ausweiten. Einer der Gründe dafür ist,
dass wir es nicht vermocht haben, in unserem Land genügend Nachwuchs gut zu qualifizieren. Das ist eben
nicht allein Aufgabe und Auftrag der Politik, sondern
der ganzen Gesellschaft und - ich sage es sehr konkret auch der deutschen Wirtschaft.
({45})
Die Frage der Qualifikation hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass es gut ausgebildete Frauen gibt, die,
obwohl sie gerne arbeiten würden, dies nicht tun können,
weil sie keine Betreuungsangebote bekommen. Unser
Schul- und Betreuungswesen zwingt sie dazu, sich im
Zweifel ausschließlich für die Familie und gegen den
Beruf zu entscheiden. Das kann und das darf nicht so
bleiben.
({46})
Alle Sachverständigen sind sich darüber einig, dass
eine unserer wesentlichen Wachstumsschwächen darin
liegt, dass das Arbeitsvolumen in hoch qualifizierten Berufen zu gering ist. Diese Lücke lässt sich nicht allein
- aber sie gehört dazu - durch Zuwanderung schließen,
die wir in einem modernen Gesetz, von dem ich hoffe,
dass es alsbald zustande kommt, regeln müssen. Sie lässt
sich auch nicht durch ständige Mehrarbeit schließen.
Das sage ich, obwohl ich weiß, dass sie im Einzelfall
sein muss. Sie lässt sich auf Dauer nur schließen, indem
wir mehr in die Fähigkeiten unserer Kinder, also der jungen Generation, investieren und indem wir gut ausgebildeten Frauen, die Kinder haben wollen, endlich die
Möglichkeit geben, eine Familie zu haben und gleichzeitig arbeiten zu können.
({47})
Drittens brauchen und wollen wir Kinder - sie sind
das Wertvollste, was wir haben -; denn Fortschritt und
technologische Entwicklung kann es nur in einer Gesellschaft geben, die der Neugier und auch der Experimentierlust von Kindern Raum gibt. „Kinder“ ist also ein anderes Wort für Zukunft und für Zuversicht.
({48})
Kinder bereichern unser Leben und sorgen dafür, dass
wir nicht stehen bleiben, gleichsam im Eigennutz verstocken.
Aus den Erfahrungen vergleichbarer Länder wissen
wir, dass es keinen Königsweg gibt, der von einer bestimmten Politik zu einer größeren Bereitschaft führen
würde, sich für Kinder zu entscheiden. Wir wissen auch:
Dort, wo es ausreichend Krippenplätze und auch Ganztagsschulen gibt, sind die Geburtenraten höher als bei
uns. Wir müssen jedenfalls feststellen, dass Deutschland
in dieser Frage längst nicht auf der Höhe der Notwendigkeiten und auch nicht auf der Höhe der Möglichkeiten
ist.
({49})
Wir sind nicht dort, wo wir sein sollten, weil einerseits Familienpolitik nie ausschließlich mit Geld und
schon gar nicht nach dem Gießkannenprinzip gemacht
werden kann und weil andererseits jede Diskussion über
Geburtenraten und Erziehung bei uns sofort in ideologische Glaubenskämpfe ausartet. Da wird oftmals in plumpester Demagogie Betreuung mit Verwahrung verwechselt. Als wenn es darum ginge!
({50})
Da wird die Notwendigkeit, dass Kinder schon im Vorschulalter das Lernen lernen, als staatlicher Eingriff in
die Hoheit der Eltern verunglimpft.
Schließlich: Lehrer und Pädagogen sind die wichtigsten Vermittler des Wandels. Wir sollten uns darauf konzentrieren, ihre Ausbildung zu verbessern und ihre Fähigkeiten auf die Höhe der Zeit zu bringen.
({51})
Dabei darf es keinen Streit um Kompetenzen geben.
Eine Politik des unbedingten Ja zu Kindern und Familie
müssen wir nicht erst im Vermittlungsausschuss - jeder
weiß, wie es da zugeht - behandeln.
({52})
Wir werden deshalb unsere Initiative für den Bau von
Ganztagsschulen weiterführen. Wir werden dafür sorgen, dass unsere Initiative zum Ausbau der Kinderbetreuung gemeinsam mit den Kommunen und Ländern
zum Erfolg führt.
({53})
Wir setzen dabei nicht nur auf Einrichtungen, sondern
auch auf individuelle Betreuung durch qualifizierte Tagesmütter. Daher wollen wir die wichtige Aufgabe von
Tagesmüttern weiter stärken und auch damit das Betreuungsangebot verbreitern.
({54})
Meine Damen und Herren, Bildung ist der Schlüssel
zu Fortschritt und Sicherheit im 21. Jahrhundert. Es gibt
nur eine Antwort auf die Frage, womit wir in einer globalisierten Ökonomie gutes Geld für gute Arbeit verdienen können: mit Spitzenqualität und Spitzentechnologie. Ohne ein breit gefächertes Verständnis für andere
Sprachen und andere Kulturen werden wir unsere offene
Gesellschaft nicht weiterentwickeln und sie übrigens
auch nicht gegen Extremismus wirklich verteidigen können.
({55})
Schon daraus wird klar, dass wir die skandalöse Benachteiligung, die Kinder aus unterprivilegierten Familien oder auch aus Migrantenhaushalten in unserem
heutigen Schulwesen erfahren, beenden müssen.
({56})
Das ist übrigens keine Erkenntnis linker oder grüner
Systemveränderer, sondern eine Erkenntnis der in dieser
Hinsicht ganz unverdächtigen OECD. Wir müssen die
Länder und ihre Kultusminister dazu anregen, sich diesen Aufgaben zu stellen. Der Bund wird ihnen dabei entgegenkommen.
Bildung beginnt in der Schule; aber sie endet bekanntlich nicht dort. In der Schule sollen die Kinder mit
auf den Weg bekommen, dass lebenslanges Lernen Lust
und nicht Last ist.
({57})
Aber wir müssen schon heute eine lernende Gesellschaft sein. Die Berufschancen des Einzelnen und die
Marktchancen unserer Volkswirtschaft hängen entscheidend davon ab, wie wir ständig neues Wissen in unsere
Arbeit und in die Wirtschaft einbringen.
Für die Älteren bedeutet dies: Wir müssen aufhören,
sie aus der Arbeit herauszudrängen.
({58})
Wir brauchen ihre Erfahrung und müssen sie immer wieder mit Angeboten zur Auffrischung ihres Wissens begeistern.
Für die Jüngeren geht es um eine gute Berufsausbildung. Noch ist es so, dass uns alle Welt um unser duales
Ausbildungssystem beneidet. Aber der Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen bringt dieses hervorragende Modell in größte Gefahr.
({59})
Wir wissen: Viele Unternehmen tun sehr viel mehr, als
sie müssten. Andere aber meinen, sie könnten und dürften sich der Verpflichtung zur Berufsausbildung entziehen.
Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit
dieses Hohen Hauses wird das nicht zulassen.
({60})
Wir haben nie gesagt, dass eine Ausbildungsumlage
dazu da ist, der Wirtschaft das Leben schwer zu machen.
Aber wir werden sie brauchen, wenn es zu keiner anderen befriedigenden Lösung kommt.
({61})
Ich kann nur davor warnen: Mit einer Diskussion über
die Instrumente darf sich niemand - auch und gerade in
der Wirtschaft - aus seiner Verantwortung für die Ausbildung davonschleichen.
({62})
Was wir heute leisten müssen, ist eine umfassende
Innovation. Dafür hat unser Land beste Voraussetzungen. 2003 war Deutschland Exportweltmeister. Bei den
internationalen Patenten sind wir weltweit führend. Bei
den Schlüsseltechnologien stehen wir hervorragend da.
Die Biotechnologie hat in Deutschland einen rasanten
Aufstieg erfahren. Inzwischen sind wir hier europaweit
Spitze. Viele innovative Unternehmen mit vielen Tausend Beschäftigten sind in diesem Bereich entstanden.
Das Gleiche gilt für die Informations- und Kommunikationstechnologie, für die Nanotechnologie, für optische
Technologien und für die Energieforschung.
Wir wissen: Der Weg der ökologischen Modernisierung unseres Landes ist richtig.
({63})
Denn für uns ist klar: Nur der sparsame Umgang mit
allen natürlichen Ressourcen erhält künftigen Generationen Lebensspielräume und Handlungsmöglichkeiten.
Das große Werk der Erneuerung kann nicht von der Politik allein geleistet werden. Es ist Aufgabe der ganzen
Gesellschaft. Deshalb haben wir zusammen mit Vertretern der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Gewerkschaften die Initiative „Partner für Innovation“ ins Leben
gerufen, um gemeinsam Ideen dafür zu entwickeln, wie
wir unser Land in Zukunft an der Spitze halten und - wo
immer nötig - nach vorn bringen können. Nächste Woche werden erste konkrete Vorschläge zur Verbesserung
der Startchancen für innovative Unternehmen, für einen
leichteren Zugang zu Wagniskapital, zum weiteren Abbau von Bürokratie und zur Umsetzung neuer Ideen in
marktfähige Produkte vorliegen.
Deutschland hat fantastische Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker. Auf dieses Talent und die
Begeisterung der vielen Menschen, die hier leben, ist
Verlass.
({64})
Aber wir müssen immer wieder dafür sorgen, dass sie in
Deutschland die notwendigen Bedingungen vorfinden,
um unsere Zukunft gestalten zu können. Investitionen
in Forschung und Entwicklung sind für ein Hochtechnologieland wie das unsere überlebenswichtig.
({65})
Wir haben es uns deshalb zum Ziel gesetzt, die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf
3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Dafür
müssen Bund, Länder und Kommunen mehr in diese Bereiche investieren.
({66})
Diese Mittel können weder im Wege einer Neuverschuldung aufgebracht werden noch können wir darauf
warten, dass höhere Wachstumsraten zu mehr Steuereinnahmen führen. Wir können nicht immer nur sagen - in
diesem Bereich erst recht nicht -: Es ist kein Geld da.
Stattdessen müssen wir sehen, wo Subventionen aus der
Vergangenheit in Zukunftsinvestitionen umgeschichtet
werden können.
({67})
Ich mache einen Vorschlag, der nur zusammen mit
der Mehrheit der Länderkammer zu realisieren ist. Mein
Vorschlag betrifft die Eigenheimzulage. Die Förderung
von Wohneigentum durch den Staat war historisch sinnvoll und nützlich. In früheren Jahren musste vor allem
für junge Familien dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden. Zudem ging es darum, Eigentum in
privater Hand zu bilden und dadurch unsere Städte und
Gemeinden für eine wachsende Bevölkerung auszubauen. Dafür haben wir viel Geld ausgegeben und geben
es immer noch aus. Diese Voraussetzungen gelten heute
aber so nicht mehr. Wir haben in Deutschland keine
Wohnungsnot mehr und die Bevölkerungszahl nimmt
- unabhängig von dem, was wir jetzt diskutieren - langfristig eher ab als zu.
Aus diesem Grunde ist es sehr viel sinnvoller, das für
die Eigenheimzulage verwendete Geld für mehr Innovationen und damit für die Chance auf neue Arbeitsplätze
auszugeben.
({68})
Das wäre eine Investition in die Zukunft unserer Kinder
und angesichts der Mehrheitsverhältnisse in unserem
Land, der Mehrheitsverhältnisse in der zweiten Kammer
bitte ich Sie, mitzuhelfen, dass wir dieses Geld, das wir
dort so nicht mehr brauchen, in die Zukunft unseres Landes investieren können.
({69})
Auf diese Weise könnten der Bund und die Länder bis
2010 insgesamt rund 4 Milliarden Euro sparen. Die
Kommunen würden um 700 Millionen Euro entlastet.
Der Bund würde seinen Anteil in die Förderung von
Forschung und Entwicklung investieren, sodass wir das
3-Prozent-Ziel bis 2010 nach und nach erreichen können.
({70})
Von den Ländern würden wir erwarten, dass sie ihren
Anteil für Bildungsaufgaben, vor allem für bessere
Schulen, verwenden. Die Kommunen könnten mit ihrem
Anteil das Betreuungsangebot für Kinder verbessern.
In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich
den Vorschlag des Bundesbankpräsidenten Welteke, einen Teil der Goldreserven der Bundesbank zu verkaufen
({71})
und für Bildung und Forschung einzusetzen.
({72})
Mit dem Wettbewerb „Brain up! Deutschland sucht
seine Spitzenuniversitäten“ geben wir darüber hinaus einen wichtigen Impuls für die Entwicklung von Spitzenuniversitäten. Wir haben in unsrem Land gute Universitäten und Forschungseinrichtungen. Wir sind in der
Breite sehr stark. Das sollten wir in der internationalen
Diskussion wieder einmal mit berechtigtem Stolz deutlich machen. Wir brauchen auch international attraktive
Zentren. Nur so werden wir Deutschlands kluge Köpfe
hier halten und aus dem Ausland zurückholen können.
Meine Damen und Herren, es sind viele falsche Propheten unterwegs, die uns vermeintlich gute Ratschläge
geben, auf welchen Kurs wir Deutschland bringen sollen.
({73})
- Ich meinte eigentlich gar nicht ausdrücklich Sie,
({74})
aber wenn Sie sich diesen Schuh schon anziehen, dann
vermutlich deshalb, weil er Ihnen passt.
({75})
Wir reden nicht von denen, die nichts verändern wollen. Wer alles so lassen will, wie es ist, wird am Ende
nur noch den Mangel verteilen - weil nichts mehr erwirtschaftet würde, was sich verteilen ließe. Das sage ich
durchaus dem einen oder anderen unserer Freunde.
Nein, ich meine jene, die uns raten, unsere kooperative Wirtschaftsordnung von Teilhabe und Tarifautonomie, von Mitbestimmung und Mitverantwortung über
Bord zu werfen. Sie glauben, dass nur ungezügelter
Wirtschaftsliberalismus Innovationen hervorbringt, auf
die es im globalen Wettbewerb ankommt.
Ich sage dazu: Wir haben ein erfolgreiches Modell
des Wirtschaftens, des Arbeitens und des Zusammenlebens. Es basiert auf dem Zusammenwirken von Staat,
Wirtschaft und Arbeitnehmern, die Mitverantwortung
tragen und deshalb auch ein Recht auf Mitsprache haben.
({76})
Dieses Modell bleibt der Schlüssel für unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit für unsere Zukunft. Nichts
wäre verkehrter, als es einzureißen.
Was wir stattdessen brauchen, ist ein neues Verhältnis
von Freiheit, Verantwortung und Sicherheit, und zwar in
diesem bewährten System und nicht gegen das System.
({77})
Was wir brauchen, ist ein neues Verständnis von Gerechtigkeit. Das sage ich all denjenigen, die über die Gerechtigkeit der Politik der Agenda 2010 so kontrovers und so
intensiv diskutieren.
Ein neues Verständnis von Gerechtigkeit heißt: eine
Gerechtigkeit, die sich nicht nur auf den Ausgleich zwischen den heute im Berufsleben Stehenden beschränkt,
sondern sich über mindestens drei Generationen erstreckt - die Älteren, die unser Land aufgebaut und die
Grundlagen für unseren Wohlstand gelegt haben, die
heute Aktiven, die mit ihrer Leistung unseren Lebensstandard sichern, und die Generation unserer Kinder und
Enkel, die es uns nicht verzeihen würden, wenn wir nicht
auch an ihr Wohlergehen dächten.
({78})
In dieser über Generationen hinweg reichenden Verantwortung handeln wir. Das macht den inhaltlichen Sinn
der Agenda 2010 aus, der exakt darin besteht, Ressourcen nicht heute zu verzehren, sondern sie auch zu investieren, damit unsere Kinder und deren Kinder Lebenschancen haben und bekommen.
({79})
Dem entspricht ein Mehr an Verantwortung eines jeden Einzelnen für sich in der jetzigen Generation, aber
auch für seine Lebenspartner und seine Familie und
nicht zuletzt für das Gemeinwesen. Das ist der Grund,
warum das Motto heißt: Egoismus überwinden und
neuen Gemeinsinn fördern.
({80})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neue Freiheit und neue Verantwortung bedeuten immer auch neue
Unsicherheiten. Das gilt in Zeiten des ökonomischen
und sozialen Wandels erst recht. Es gilt erst recht in einer Welt neuer Risiken und neuer Bedrohungen, in der
Welt, in der wir leben.
Ich war gestern in Madrid und habe dort an dem
Staatsakt für die Opfer des niederträchtigen Terroranschlags vom 11. März teilgenommen. Es war eine wichtige Gelegenheit, dem spanischen König, der gewählten
Regierung und der Bevölkerung unsere Anteilnahme
und unsere Solidarität zuzusichern. Es war, jedenfalls für
mich, auch eine wichtige Gelegenheit, das spanische
Volk gegen schlimme Diffamierungen in Schutz zu nehmen,
({81})
Diffamierungen, die auch bei uns veröffentlicht wurden
und besagen, die Spanier hätten vor dem Terrorismus
Reißaus genommen und sich in eine Beschwichtigungspolitik geflüchtet.
Meine Damen und Herren, Spaniens jüngere Geschichte gehört zu den stolzesten Erfahrungen Europas.
Noch vor 30 Jahren lebten die Spanier unter der FrancoDiktatur. Dass Spanien die Strukturen dieser Diktatur
überwinden und zu einer lebendigen Demokratie werden
konnte, hat ganz wesentlich mit der europäischen Perspektive und der europäischen Hilfe für die spanischen
Demokraten zu tun.
({82})
Sie werden verstehen, dass ich an dieser Stelle ganz besonders den früheren Bundeskanzler Willy Brandt hervorhebe. In diesen schweren Stunden hat das spanische
Volk wirklich Besseres verdient, als von Außenstehenden verhöhnt zu werden, nur weil es seine demokratische Reife unter Beweis gestellt hat.
({83})
Meine Damen und Herren, das Beispiel Spanien ruft
uns in Erinnerung, wie weit wir in Europa vorangeschritten sind. Noch vor drei Jahrzehnten war die Demokratie
im westlichen Teil unseres Kontinents keineswegs eine
Selbstverständlichkeit. In Osteuropa gab es bis 1989
Diktatur und Unterdrückung, Stacheldraht und Schießbefehl. Am 1. Mai dieses Jahres wird die Europäische
Union zehn neue demokratische Staaten in ihre Mitte
aufnehmen. Wir - damit meine ich unsere Generation,
die Generation derer, die heute, ob in Opposition oder
Regierung, politisch handeln - haben heute die große
Chance, Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch
politisch zu einigen. Ich denke, das ist eine historisch
einmalige Gelegenheit. Wir dürfen und werden sie nicht
verstreichen lassen oder im kleinlichen Hader zerreden.
({84})
In diesem Prozess kommt dem deutsch-französischen Verhältnis eine ganz besondere Bedeutung zu.
Heute ist der Dialog mit unseren französischen Freunden
in allen wichtigen außen- und europapolitischen Fragen
so eng wie vielleicht nie zuvor in der Geschichte. Das
zeigt übrigens auch die Einladung Präsident Chiracs zur
Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der
Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni,
dem so genannten D-Day.
({85})
Zum ersten Mal überhaupt nimmt ein deutscher Bundeskanzler - gemeinsam mit den Vertretern der westlichen Siegermächte - an dieser Feier teil. Ich stehe nicht
an, zu sagen, dass mich diese Einladung des französischen Präsidenten persönlich sehr berührt hat und dass
ich ihm dafür sehr dankbar bin. Ebenso bewegt hat mich
die Einladung des polnischen Ministerpräsidenten
Leszek Miller zum 60. Jahrestags des Warschauer Aufstands am 1. August dieses Jahres. Meine Damen und
Herren, diese Gesten betrachte ich als einen Beweis für
das tiefe Vertrauen, das unsere europäischen Freunde
Deutschland und damit den Deutschen heute entgegenbringen.
({86})
Wir werden dieses Vertrauen übrigens nur erhalten können, wenn wir uns immer wieder der Sensibilitäten in
unserer gemeinsamen Geschichte bewusst sind und alles, aber auch alles, vermeiden, was in diesen Ländern,
die so sehr unter Deutschland gelitten haben, missverstanden werden könnte.
({87})
Der eine oder andere in diesem Hohen Hause wird es
mir vielleicht nachsehen, wenn ich an dieser Stelle daran
erinnere, welche Debatten wir vor etwa einem Jahr geführt haben, als wir miteinander über Sicherheit und
über die Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung an einem
Krieg gestritten haben. Sie werden verstehen, dass ich
ganz selbstbewusst sage: Wir waren damals auf dem
richtigen Weg und wir sind es auch heute.
({88})
Unser Land - das ist im Übrigen weithin anerkannt ist vorbildlich engagiert, wenn es darum geht, Frieden
und Sicherheit zu schaffen. Wir setzen vor allem auf zivile Mittel, etwa internationale Einsätze deutscher Polizisten. Wir sind aber auch der drittgrößte Beitragszahler
der Vereinten Nationen und nicht zuletzt dient diesem
Ziel auch unsere Entwicklungspolitik. Und: Wenn alle
friedlichen Mittel ausgeschöpft sind, sind wir bereit,
auch militärische Mittel einzusetzen; mir liegt daran,
dass das in einer solchen Debatte klar wird.
Mehr als 7 000 unserer Soldaten helfen heute unter
Einsatz ihres Lebens, den Frieden in der Welt zu sichern.
Wie notwendig das ist, zeigt uns nicht zuletzt das Wiederaufflammen der Gewalt im Kosovo. Afghanistan hat
seit Januar eine neue Verfassung - ein Zeichen der Hoffnung für die Menschen dort und ein Mehr an Sicherheit
für die gesamte Region. Wir wollen, dass dieser Stabilisierungsprozess weiter voranschreitet. Deutschland wird
deshalb in der nächsten Woche in Berlin Gastgeber der
dritten großen Afghanistan-Konferenz sein. Auch das
zeigt das große Vertrauen, das Afghanistan, aber auch
die gesamte internationale Gemeinschaft uns entgegenbringt.
Wir haben auch ein vitales Interesse an der Stabilisierung des Irak. Das verlangt eine Verbesserung der Sicherheitslage dort. Deshalb beteiligen wir uns - durchaus substanziell - an der Ausbildung irakischer
Polizisten. Darüber hinaus wird Deutschland eine wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Irak
übernehmen.
Meine Damen und Herren, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus - gleich, ob islamistisch
oder anderweitig religiös oder politisch motiviert - werden wir dauerhaft nur gewinnen, wenn es uns gelingt, den
Gewalttätern ihre Basis zu entziehen, und zwar sowohl
die finanzielle und logistische als auch die ideologische
Basis. Terroristen sind abhängig von Finanzierung, Waffenlieferungen, logistischer Unterstützung. Genauso klar
muss aber sein: Terrorismus kann dort am besten gedeihen, wo Menschen aus Wut, aus Verzweiflung oder aus
Überzeugung die Gräueltaten der Terroristen unterstützen oder zumindest dulden.
Zur Bekämpfung des Terrorismus sind daher verschiedene Komponenten miteinander zu verbinden. Dabei steht eines im Vordergrund: Alle Maßnahmen - ob
polizeilich, nachrichtendienstlich, militärisch oder politisch - müssen viel enger als in der Vergangenheit im europäischen Kontext und darüber hinaus aufeinander abgestimmt sein. Wir müssen in Europa vor allen Dingen
durch präventive Maßnahmen für einen besseren Schutz
der Menschen sorgen. Dazu gehört eine intensivere Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane in Europa. Heute
Abend werden wir im Europäischen Rat verschärfte
Maßnahmen zur gemeinsamen Terrorismusbekämpfung
beschließen.
Zu einer Politik der Prävention gehört aber auch die
Integration der Menschen, die mit anderen kulturellen
und religiösen Hintergründen zu uns gekommen sind.
({89})
Das ist ein politisches Gebot, damit wir unsere offene
Gesellschaft erhalten und weiterentwickeln können. Das
ist aber auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft und
ebenso ein Gebot der Sicherheit und der Gefahrenabwehr. In diesem Zusammenhang sage ich in aller Deutlichkeit: Terroristische Verschwörer und Personen, von
denen eine Gefahr für unsere Sicherheit ausgeht, haben
in Deutschland nichts zu suchen.
({90})
Der Bundesinnenminister hat noch einmal deutlich darauf hingewiesen, dass mögliche Sicherheitslücken im
Ausländerrecht, so es sie denn gibt, geschlossen werden müssen und auch geschlossen werden. Das betrifft
sowohl die Visumerteilung als auch die Ausweisung und
Abschiebung von Ausländern, die eine Gefahr für unsere
Sicherheit darstellen. Wenn dies aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist - das sage ich, um missverständlichen Interpretationen zu begegnen -, dann sollten diese
Personen obligatorisch besonderen polizeilichen Meldeauflagen und Wohnsitzbeschränkungen unterliegen.
Um der bestehenden Bedrohungslage konsequent zu
begegnen und Gefahren für unser Land abzuwehren,
wird die Bundesregierung eigene Vorschläge unterbreiten. Regierung und Opposition müssen in diesen wichtigen Fragen der Sicherheit unseres Landes gemeinsam
und entschlossen handeln. Niemand sollte versuchen,
den anderen in die Defensive zu treiben. Das würde der
gemeinsamen Aufgabe nicht gerecht.
({91})
Bei all dem, was wir hier tun, muss klar sein: Es gibt
keine Bürgerrechte ohne Sicherheit. Es gibt aber auch
keine Sicherheit ohne Bürgerrechte.
({92})
Gerade im Kampf gegen den Terrorismus muss es heißen: Sicherheit ist ein Bürgerrecht. Die Abwehr terroristischer Bedrohungen stellt uns vor neue Herausforderungen; das ist wahr. Das darf uns aber nicht dazu verleiten,
Verantwortung zu verwischen, auch nicht zwischen dem
Bund und den Ländern. Ich betone deshalb: Innere Sicherheit ist vor allem Sache der Polizei und des Bundesgrenzschutzes.
({93})
Nur sie verfügen über die erforderliche Ausbildung und
die entsprechende verfassungsrechtliche Legitimation.
Natürlich kann die Bundeswehr auch weiterhin zu Amtsund Nothilfe bei schweren Katastrophen und Unglücksfällen im Inland eingesetzt werden. Für den Fall, dass
nur die Bundeswehr aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten eingreifen kann, etwa bei einem terroristischen
Angriff aus der Luft, hat die Bundesregierung, hat der
Bundesverteidigungsminister Vorsorge getroffen. Wir
haben das Luftsicherheitsgesetz auf den Weg gebracht
und dabei die notwendigen Einrichtungen bei der Bundeswehr geschaffen, um solchen terroristischen Gefahren auch begegnen zu können. Darauf können sich die
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes verlassen.
({94})
Es muss aber auch klar sein - es hilft nicht, darüber hinwegzureden; das unterscheidet uns -: Für polizeiliche
Aufgaben sind unsere Soldaten nicht ausgebildet. Die
Bundeswehr wird auch in Zukunft nicht zur Hilfspolizei
werden.
({95})
Kein Land der Welt ist heute in der Lage, die neuen
Herausforderungen alleine zu bewältigen. Wir brauchen
dafür ein starkes multilaterales System, wir brauchen die
Vereinten Nationen. Allerdings müssen die Vereinten
Nationen reformiert werden, wenn sie die vor ihnen liegenden Aufgaben lösen wollen. Generalsekretär Kofi
Annan hat mit seiner Reforminitiative das richtige Signal
gesetzt. Es geht dabei auch um die Reform des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Dieser wird seiner
Rolle nur gerecht, wenn er repräsentativer zusammengesetzt ist als heute. Deshalb beteiligt sich Deutschland aktiv an der Diskussion und setzt sich für eine Reform zur
Erweiterung des Sicherheitsrates ein. Wichtige Staaten
des Südens sollten zukünftig einen ständigen Sitz erhalten. Das Gleiche gilt für die Industrieländer, die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit
wesentlich beitragen. Deutschland ist bereit, als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates Verantwortung zu übernehmen.
Meine Damen und Herren, die vergangenen zwölf
Monate haben die Bundesregierung auf vielfältige Weise
in ihrer Politik bestätigt. Das ist aber nicht der Grund,
warum wir das alles tun. Wir wollen Deutschland vielmehr auf einen zukunftsträchtigen Weg bringen. Vieles,
was wir vorgeschlagen und umgesetzt haben, stieß zunächst auf Ablehnung. Dieser Prozess ist - das weiß ich
sehr wohl - nicht zu Ende. Das muss man in einer aufgeregten Mediengesellschaft gelegentlich um der Sache
willen in Kauf nehmen. Aber aus Ablehnung wird - dessen bin ich mir sicher - mehr und mehr Einsicht in die
Notwendigkeit dieser Reformmaßnahmen werden. Und
aus Einsicht wird dann mehr und mehr Zustimmung
werden.
({96})
Die breite politische Debatte, die wir mit den Reformen angestoßen haben, ist nicht so angelegt, dass die
eine oder andere Partei gleich ihren unmittelbaren Nutzen daraus ziehen könnte oder sollte. Ich bin davon überzeugt: Diese Debatte um die Notwendigkeit der Veränderung wird unserem Land nutzen; denn wenn sich die
Menschen intensiver an der politischen Diskussion beteiligen, dann wird es für die Lobbys und Interessengruppen schwerer, ihre Egoismen im Stillen zu verfolgen
und durchzusetzen.
({97})
Es ist wahr: In der Vergangenheit ist vieles, was nötig
gewesen wäre, versäumt worden. Niemand sollte sich
von der Verantwortung dafür freisprechen; ich tue das jedenfalls nicht. Deshalb müssen die Reformen jetzt
durchgeführt werden. Es darf kein Zuwarten geben, weil
alles sehr viel schlimmer würde, wenn wir das täten.
Heute sage ich: Die Bundesregierung wird deshalb die
Notwendigkeit der Maßnahmen immer wieder und immer intensiver erklären und dadurch dafür sorgen, dass
das Wort Reform wieder einen guten Klang bekommt,
nämlich den Klang von Verantwortung, von Vertrauen
und vor allem von Zukunftsorientierung und damit verbundener Zuversicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
meinen Amtseid als Bundeskanzler dafür geleistet,
meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, Schaden von ihm zu wenden und seinen Nutzen zu
mehren.
({98})
Dafür kämpfe ich seit mehr als fünf Jahren und das wird
so weitergehen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({99})
Ich erteile nun der Vorsitzenden der Fraktion der
CDU/CSU, Kollegin Angela Merkel, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen 75 Minuten lang aufmerksam
zugehört
({0})
und mich zunehmend gefragt, ob Sie und Ihre Bundesregierung die wirkliche Situation in unserem Lande eigentlich kennen.
({1})
Ich glaube, dass das wesentliche Problem dieser Gesellschaft nicht darin besteht, dass sie aufgeteilt ist in
Beharrer und Spalter, in Erneuerer und Veränderer auf
der einen Seite und Ignoranten auf der anderen Seite. Ich
glaube, dass das wesentliche Problem dieser Zeit
({2})
die vertikale Spaltung dieser Gesellschaft ist - zwischen
einer Bundesregierung, die abgekapselt irgendwo in einer irrealen Welt agiert,
({3})
und einer Bevölkerung, die dieser Bundesregierung
nichts mehr glaubt, ihr nicht vertraut und sie als nicht
verlässlich ansieht. Das ist das Problem dieses Landes.
({4})
Sie haben in Überschriften geredet. Sie waren schön
und teilweise auch zutreffend.
({5})
Aber das Problem ist: Sie haben sich in diese Überschriften geflüchtet, ohne dass Sie an der entscheidenden
Stelle den Mut zum konkreten Handeln aufbringen.
({6})
Wo in Ihrer Regierungserklärung war der Arbeitnehmer,
der Angst hat, weil sein Betrieb ins Ausland verlagert
wird? Wo waren die Menschen in den neuen Bundesländern,
({7})
die merken, dass die Lebensverhältnisse immer noch
nicht angeglichen sind? Wo war der Steuerzahler, der
seine eigene Steuererklärung nicht versteht?
({8})
Wo war der Selbstständige, der - im letzten Jahr stärker
als in jedem anderen Jahr der Bundesrepublik Deutschland - Sorge haben musste, dass auch er Konkurs anmelden muss?
({9})
Wo war die Krankenschwester, die für ihre Überstunden
einen großen Teil an Abgaben und Steuern abführen
muss?
({10})
Wo war der Polizist, der bei seiner täglichen Arbeit seinen Kopf hinhält?
Die einzelnen Menschen haben sich in dieser Regierungserklärung nicht wiedergefunden.
({11})
Was war der Sinn, Herr Bundeskanzler?
({12})
- Es ist eben unheimlich schwer, die Wahrheit zu ertragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte darum,
auch der Oppositionsführerin auf angemessene Weise
zuzuhören.
({0})
Was, Herr Bundeskanzler, war der Sinn Ihrer Regierungserklärung? Es hätte sein können, dass Sie eine Zwischenbilanz ziehen wollten: Was ist erledigt, was ist unerledigt? Dabei wäre herausgekommen, dass noch vieles
von dem, was Sie vor einem Jahr vorgetragen haben, offen ist. Es hätte auch sein können, dass diese Regierungserklärung dazu dient, uns aufzuzeigen, wie es weitergehen soll. Wir haben 45 Minuten gewartet, bis Sie
uns verraten haben, dass Sie nächste Woche etwas dazu
sagen wollen, wie man Existenzgründungen erleichtern
kann. Warum haben Sie das nicht hier und heute getan?
Das wäre doch ein guter Anlass für diese Regierungserklärung gewesen.
({0})
Wenn aber die Regierungserklärung beides nicht
wollte - weder Zwischenbilanz noch Blick in die Zukunft -, dann hätte man doch wenigstens erwarten können, dass Sie das tun, was Sie am Sonntag auf dem SPDParteitag versprochen haben: Sie wollen „sich ehrlich
machen“. Was heißt denn, Sie wollen „sich ehrlich machen“? Dazu gehörte doch erst einmal, zuzugeben, dass
Sie bis dahin gelogen und betrogen haben.
({1})
Neue Stärke für Deutschland - das ist meine feste Überzeugung - kann nicht mit alten Schwächen entstehen.
Deshalb muss mit ihnen aufgeräumt werden.
({2})
Herr Bundeskanzler, in der Gesellschaft finden Sie
zurzeit keine Unterstützung, weil die Menschen den
Glauben in die positiven Wirkungen Ihrer dauernden
Veränderungen verloren haben und keine Gewissheit
mehr über das, was kommt, kennen. Und in Ihren eigenen Reihen mangelt es an Unterstützung, weil Sie selbst
immer wieder - wie auch heute - den parteiinternen Kritikern die Argumente frei Haus liefern. Sie tun immer
wieder so, als sei schon alles geschafft, als seien die wesentlichen Veränderungen bereits umgesetzt und als sei
alles paletti. Sie wundern sich, wenn sich die eigenen
Leute auf Ihre Worte verlassen und anschließend - wenn
Sie drei Monate später sagen, dass wieder reformiert
werden müsse - nicht verstehen, was das für eine Welt
ist.
({3})
Das ist Ihr Problem. Diesem Teufelskreis konnten Sie
auch heute nicht entrinnen.
({4})
Niemand bei uns zweifelt daran, dass die Agenda
2010 der erste richtige Schritt für notwendige Reformen
in Deutschland war. Aber ich füge hinzu: Regierungspolitik von Rot-Grün in einer zweiten Legislaturperiode
muss mehr sein, als nur die Fehler aus der ersten zu beseitigen. Sonst verdient die Agenda ihren Namen nicht.
({5})
Deshalb sind wir der festen Überzeugung, dass diese
Agenda nicht ausreicht. Es muss weitergehen. Die
Frage ist: Wie kann es weitergehen und warum reicht
sie nicht aus? Sie reicht nicht aus, weil wir seit August
2002 - das ist noch nicht so lange her - 730 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in
Deutschland verloren haben. Allein im vergangenen
Jahr gab es 300 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse weniger. Aus genau diesem
Grunde sinken auch die Krankenkassenbeiträge leider
nicht so schnell, wie wir es erwarteten.
({6})
Sie haben keine Antwort auf die Frage, wie es mit der
Pflegeversicherung weitergeht. In Ihrer Regierungserklärung fehlten schon die Befunde - Politik beginnt mit
dem Betrachten der Realität - über dieses Land und damit war es von vornherein ausgeschlossen, dass die richtigen Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.
({7})
Worum geht es den Menschen in diesem Land? Der
Erfolg von Politik wird sich daran messen lassen müssen, ob es in einer Situation der Globalisierung gelingt,
für uns in Deutschland Bedingungen zu schaffen, unter
denen wir unseren Wohlstand für die Älteren, die Jüngeren und die Familien aufrechterhalten können.
({8})
Die Frage, wie wir den Wohlstand aufrechterhalten, was
wir machen müssen, um uns den neuen Bedingungen anzupassen, ist die Frage, die uns und jeden in diesem
Hause umtreiben muss.
({9})
Deshalb geht es nicht um Veränderung an sich. Es geht
auch nicht um „Reformitis“ oder darum, irgendjemandem Schmerzen zuzufügen. Es geht nicht um Aktionismus, sondern es geht darum, im Sinne unserer deutschen
Interessen für Deutschland das Beste aus der Globalisierung zu machen. Das ist die Aufgabe.
({10})
Nun hat der neue SPD-Vorsitzende am Sonntag davon
gesprochen, dass wir alle Suchende sind. Ich glaube
schon, dass niemand das Patentrezept hat. Aber, meine
Damen und Herren, wer wirklich sucht, der findet auch.
({11})
Ich verlange von Ihnen gar nicht, dass Sie die Konzepte
der Opposition studieren, ich verlange nicht, dass Sie
sich anschauen - es wäre schön, aber man kann es eben
nicht verlangen -, was wir zur Weiterentwicklung der
sozialen Marktwirtschaft, zu einer neuen sozialen
Marktwirtschaft im Zusammenhang mit der Globalisierung gesagt haben. Ich verlange von Ihnen auch nicht,
dass Sie heute die Seite zwei einer großen deutschen
Boulevardzeitung lesen,
({12})
mit der Sie sich nicht mehr abgeben. Aber was ich von
Ihnen verlange, Herr Bundeskanzler, ist, dass Sie wenigstens das lesen, was Ihnen Ihre eigenen Sachverständigen, die Sie bezahlen, ins Stammbuch schreiben,
anstatt die Zeit mit Selbstfindungsprozessen, Selbsterfahrungsprozessen, Selbstzweifelprozessen und Suchprozessen zu vergeuden, die längst hätten beendet werden müssen, weil alles schwarz auf weiß in Ihren
eigenen Regierungsunterlagen steht. Das ist das, was
man erwarten kann.
({13})
Für uns, die Union, gibt es keinen Zweifel, dass auch unter den Bedingungen der Globalisierung die soziale
Marktwirtschaft die Antwort auf die Frage ist, wie eine
menschliche Gesellschaft zu erreichen ist.
({14})
Das Wort „soziale Marktwirtschaft“ ist interessanterweise in Ihrer gesamten Regierungserklärung nicht vorgekommen.
({15})
Wir fühlen uns dem Erbe Ludwig Erhards und Konrad
Adenauers verpflichtet und wir werden es in eine neue
Zeit übertragen, weil dies die menschlichste und erfolgreichste Gesellschaft formiert, die wir uns vorstellen
können. Davon sind wir überzeugt.
({16})
Es führt kein Weg daran vorbei, dass sich die Verzweiflung des vergangenen Jahres an der LKW-Maut,
am Dosenpfand, am Transrapid, an Beraterverträgen,
Skandalen um die Bundesagentur für Arbeit und vielem
anderen dieser Art festmacht. Es gibt auch keinen Zweifel, dass wir uns Vorgänge dieser Art - von denen Sie
keinen einzigen erwähnt haben - nicht leisten können,
wenn Deutschland wieder mit seiner Wertarbeit „Made
in Germany“ einen guten Ruf in der Welt bekommen
soll. Wir als Opposition werden dafür sorgen, dass dieser
gute Ruf wiederhergestellt wird - trotz des Gemurkses in
Ihrer Regierungsarbeit, Herr Bundeskanzler. Das ist das
Problem.
({17})
Weil die Regierungsarbeit und die Zerstrittenheit der
Opposition - ({18})
- Mein Gott, Sie sind aber wirklich leicht zu befriedigen.
({19})
Weil die Zerstrittenheit der rot-grünen Bundesregierung
und der sie tragenden Fraktionen so elementar ist und
langsam auf die gesamte Regierungsarbeit wirkt, wissen
wir, dass wir als Opposition eine riesige Verantwortung
haben.
({20})
Wir könnten es uns sehr leicht machen. Wir könnten
im Bundesrat vieles blockieren.
({21})
Aber wir wissen: Deutschland darf nicht stillstehen.
Deutschland muss vorankommen. Deshalb werden wir
als Opposition nicht nur weiter Verantwortung übernehmen, sondern wir werden sogar mehr Verantwortung
übernehmen, um den Stillstand in diesem Land zu beenden.
({22})
Wir haben schon im vergangenen Jahr Verantwortung
übernommen. Wir haben uns am Gesundheitskonsens
beteiligt. Im Übrigen gibt es bei uns inzwischen keinen
einzigen Landesverband, der in diesem Punkt Änderungsanträge stellt. Wir stehen zu diesem Gesundheitskompromiss, obwohl er von der Gesundheitsministerin
schlampig umgesetzt worden ist und damit eine Vielzahl
von Problemen hervorruft, die nicht notwendig gewesen
wären.
({23})
Wir haben uns mit den Koch/Steinbrück-Vorschlägen
am Subventionsabbau beteiligt. Wir haben mit Ihnen um
eine vernünftige Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe gerungen. Das war extrem schwierig.
Wir haben versucht, eine vernünftige Balance von Strukturreformen und Steuersenkungen zu erreichen, und wir
haben im Übrigen auch jedem der Auslandseinsätze zugestimmt, Herr Bundeskanzler, und zwar aus Verantwortung für den Frieden in der Welt und aus Überzeugung.
({24})
Ich glaube, dass wir deshalb mit etwas Stolz feststellen können: Wir sind die konstruktivste Opposition, die
es jemals in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland gegeben hat.
({25})
Wir müssen dem Land helfen, auch in diesem Jahr
und trotz der vielen Wahlen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, unterbreite ich Ihnen den zweitbesten Vorschlag für
unser Land: ein konkretes Angebot, das konkreteste Angebot, das eine Opposition machen kann. Ich biete Ihnen
an, dass wir, wo immer dies möglich ist, im Sinne einer
nationalen Kraftanstrengung notwendige Strukturreformen anpacken: erstens die Steuerpolitik.
({26})
Wir haben heute interessanterweise Ihren Vorschlag zur
Eigenheimzulage gehört. Dazu kann man nur feststellen:
Seien Sie uns dankbar, dass wir verhindert haben, dass
die Eigenheimzulage schon im Dezember von Herrn
Eichel verfrühstückt worden ist. Sonst hätten Sie gar
nichts mehr vorzuschlagen.
({27})
Herr Bundeskanzler, wir haben eine andere Vorstellung von der Bedeutung des Steuersystems in Deutschland und davon, was das Vertrauen der Menschen in dieses System wiederherstellen würde. Deshalb sagen wir:
Wir brauchen einen grundsätzlichen Neuanfang im Steuersystem; wir brauchen einen Abbau der Subventionstatbestände im Einkommensteuersystem
({28})
zugunsten einer wirklichen Entlastung der Bürgerinnen
und Bürger.
({29})
Unsere Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Die
Vorschläge der FDP dazu liegen auch auf dem Tisch; sie
gehen zum Teil sogar weiter. Wir - Friedrich Merz, ich
denke, auch Herr Solms und Kurt Faltlhauser - sind bereit, noch morgen zu beginnen, mit Ihnen darüber zu verhandeln. Sie müssen sich dann bekennen, ob Sie wirklich das Vertrauen der Menschen ins Steuersystem
wieder erlangen wollen oder ob Sie das Ganze auf die
lange Bank schieben und alle Subventionstatbestände für
Konsumzwecke verfrühstücken wollen. Das ist nicht unser Weg.
({30})
Man hat von Ihnen so viel Widersprüchliches gehört:
von den Grünen im Grundsatz ein Ja, von Herrn Eichel
einmal ein Ja und einmal ein Nein.
({31})
Ich kann nur sagen: Machen Sie Gebrauch von Ihrer
Richtlinienkompetenz! Sagen Sie: Jawohl, wir sind bereit; wir haben zwar keinen eigenen Gesetzentwurf, aber
wir nehmen objektiv die Anträge der Opposition an und
sind bereit, darüber zu sprechen. Wir wollen das zum
Wohle Deutschlands machen. - Das wäre ein wirklicher
Fortschritt für Deutschland.
({32})
Im Übrigen sind wir wie Sie der Meinung, dass Steuerstrukturreformen allein nicht ausreichen. Wir haben
immer gesagt: Wir brauchen weitere Reformen.
Herr Bundeskanzler, es ist geradezu rührend, dass Sie
hier erwähnen, die Kommunen setzten die Regelungen
zur Kinderbetreuung nicht um. Dabei trägt die Bundesregierung die Schuld daran, dass aufgrund der Hartz-Gesetze gar kein Geld für die Kinderbetreuung zur Verfügung steht; deshalb können die Kommunen nichts
machen.
({33})
Sorgen Sie dafür, dass das endlich auf die Reihe kommt!
Ich komme auf den 14. März des vergangenen Jahres
zurück. Wir haben von Ihnen bis heute keinen einzigen
Vorschlag zu einem Optionsmodell beim Kündigungsschutz gehört. Ein solches wurde am 14. März 2003 von
Ihnen, Herr Bundeskanzler, persönlich angekündigt.
Zweitens. Wir ringen zurzeit um etwas, was ich als
Kernbereich der Agenda 2010 verstanden habe, nämlich
um die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
({34})
Ich kann nur sagen: Bei diesem Thema wird sich entscheiden, ob Sie für die Zukunft weiter einen unsinnigen
Zentralisierungsglauben für richtig halten oder ob Sie
den regionalen Einheiten die Möglichkeit eröffnen, das
Wichtige, das Richtige für die Menschen im Lande zu
tun. Das ist die Frage, vor der wir stehen.
({35})
Herr Müntefering, ich sage ganz bewusst: ob Sie die
Möglichkeit eröffnen. Wir haben extra gesagt: Wir wollen den Kommunen beide Optionen eröffnen.
({36})
Sie haben aber verhindert, dass es im Sinne der Kommunen zu einer Grundgesetzänderung kommt - das hat
wirklich zu geschehen -, damit sie finanzielle Sicherheit
bekommen. Das ist die Wahrheit! Herr Clement hat es
schon zugestanden: Sie persönlich haben es verhindert.
({37})
Warum spreche ich so ausführlich über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe? Ich spreche darüber, weil hier ein Schlüssel zur Beantwortung
der Frage liegt, ob arbeitslose Menschen in diesem
Lande eine Hoffnung haben, ob „Fordern und Fördern“
zur Realität wird oder ob wir langsam die Arme sinken
lassen und sagen: Wir können nichts tun.
Wir brauchen - das ist meine feste Überzeugung - im
Zuge der Globalisierung einen Paradigmenwechsel. Wir
werden Arbeiten haben, die weniger Geld auf dem Arbeitsmarkt erbringen, als Menschen für ein menschenwürdiges Leben brauchen. Wir werden vor der Frage stehen, ob wir diesen Menschen den Zugang zur Arbeit
völlig verweigern oder ob wir aber bereit sind, im unteren Lohnbereich zusätzliche staatliche Transferzahlungen mit erarbeitetem Einkommen zu verbinden.
({38})
Genau dies wissen die Klugen in Ihren Reihen schon
heute. Ein Mann wie Hubertus Schmoldt hat gesagt: Wir
werden das in den unteren Lohnbereichen brauchen,
weil die Globalisierung ansonsten nicht qualifizierte Arbeit woandershin abwandern lässt und Menschen in
Deutschland keine Chance mehr haben. Wir werden um
den von uns vorgeschlagenen Weg erbittert kämpfen,
weil er im Sinne der betroffenen Menschen in Deutschland ist.
({39})
Wir werden noch um einen weiteren Punkt erbittert
ringen. Herr Bundeskanzler, Sie selbst haben in Ihrer
Regierungserklärung vom 14. März 2003 gesagt:
… Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich,
Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen … Ich erwarte also, dass
sich die Tarifparteien entlang dessen, was es bereits
gibt - aber in weit größerem Umfang -, auf betriebliche Bündnisse einigen … Geschieht das nicht,
wird der Gesetzgeber zu handeln haben.
Das ist nicht geschehen.
({40})
Wer behauptet, dass der letzte Tarifabschluss der IG Metall dies in großem Umfang möglich macht, der lügt sich
in die Tasche.
({41})
Die gemeinsame Verantwortung der Tarifparteien
- ich bin ganz sicher, dass wir darüber wieder sprechen
werden - wird dadurch, dass weite Teile der Arbeitgeber
und der Arbeitnehmer den Streik als Instrument ausschließen, heute zum Teil zu einer Farce, weil man nach
zu hohen Tarifabschlüssen gleich im Hinterkopf hat, Arbeitsplätze in das Ausland zu verlagern. Diesen Weg
werden wir nicht mitgehen. Wir werden jedenfalls alles
tun, um das zu verhindern.
({42})
Wir, der Deutsche Bundestag, sind zuvörderst verpflichtet, den Menschen in Deutschland wieder eine
Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Wenn die Möglichkeit, von Tarifverträgen abzuweichen, Arbeitsplätze
in Deutschland sichert, dann ist es unsere nationale AufDr. Angela Merkel
gabe, genau dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen
zu schaffen. Das ist meine, das ist unsere feste Überzeugung.
({43})
Drittens. Wir brauchen neben den Reformen des
Steuersystems und des Arbeitsmarktes eine Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme. Ich habe
heute von Ihnen nichts dazu gehört. Wir haben zwar die
Gesundheitsreform mitgetragen,
({44})
aber wir wissen, dass das nicht ausreicht. Wir alle waren
uns einig, dass diese Reform unter günstigen Arbeitsmarktbedingungen und bei vernünftigen Strukturreformen in diesem Bereich bis 2006 tragen kann. Wir haben
gesagt: Langfristig muss das Gesundheitswesen radikal
reformiert werden. Nach meiner festen Überzeugung
wird eine Reform des jetzigen Systems mit den gleichen
Belastungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie wir sie jetzt haben, nicht möglich sein.
({45})
Wir brauchen eine Weichenstellung.
({46})
Wenn es nach Ihnen geht, dann soll es die so genannte
Bürgerversicherung sein. Dann müssen Sie uns aber
auch folgende Fragen beantworten - das haben Sie bisher nicht getan -: Ist es wahr, dass mit der Einführung einer Bürgerversicherung die Beitragsbemessungsgrenze
um rund ein Drittel angehoben werden muss? Ist es
wahr, dass durch eine Bürgerversicherung die Beiträge
gerade für die Leistungsträger in unserer Gesellschaft
- die Facharbeiter, die Meister in den Betrieben und die
qualifizierten Angestellten - bis zu 70, 80 Euro erhöht
werden? Ist es wahr, dass mit der Einführung einer Bürgerversicherung sämtliche Einkünfte der Arbeitnehmer
aus Mieten, Pachten und Zinsen neben der Einkommensteuer auch noch mit einem Krankenkassenbeitrag von
12 oder 13 Prozent belastet werden? Ist es wahr - das
hört man manchmal aus Ihren Reihen -, dass die volle
Belastung der Betriebsrenten ein erster Schritt in Richtung Bürgerversicherung war?
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn das alles wahr ist,
dann ist das richtig, was Ihnen Ihre Sachverständigen ins
Stammbuch geschrieben haben, nämlich dass durch die
Bürgerversicherung bis zu 1 Million Arbeitsplätze verloren geht und dass durch eine Umstellung auf eine
Gesundheitsprämie - das sind Ihre, nicht meine Sachverständigen - bis zu 1 Million Arbeitsplätze geschaffen
werden kann. Ich sage Ihnen, wofür wir uns entscheiden
werden: Wir werden uns für Arbeitsplätze in Deutschland und nicht für den Killer von Arbeitsplätzen - eine
falsche Kopplung der Lohnzusatzkosten an die Arbeitskosten - entscheiden.
({47})
Dass das ein Problem ist, Herr Bundeskanzler, haben
Sie uns zumindest im vorigen Jahr noch gesagt. Sie haben gesagt: „Es kann nicht so bleiben, dass dem Arbeitnehmer in Deutschland von einem zusätzlich verdienten
Euro sofort 70 Cent weggenommen werden“ - so ist es
doch zurzeit ({48})
„und damit kein Anreiz für Arbeit besteht.“
({49})
Dieser Sachverhalt muss sich ändern, sonst wächst in
Deutschland nur noch die Schwarzarbeit. Das ist die
Realität.
({50})
Viertens. Es ist richtig, dass wir Innovationen brauchen, dass wir unseren Wohlstand überhaupt nur sichern
können, wenn wir hoch qualifizierte Arbeitsplätze in
Deutschland haben. Es ist auch richtig, dass Männer genauso wie Frauen an dieser hohen Qualifizierung teilhaben müssen und dass sie die Chance haben müssen, im
Land Arbeit zu finden, und nicht gezwungen sein dürfen,
ihre Zukunft außerhalb des Landes zu suchen.
Ich bin schon ein bisschen enttäuscht darüber, dass
nach dem Ende des ersten Vierteljahres dieses Jahres,
nach einer angekündigten Innovationsoffensive, heute,
Ende März, gar nichts dazu gesagt worden ist.
({51})
Es ist nichts dazu gesagt worden, wie unsere Hochschulen aussehen sollen,
({52})
nichts dazu, ob wir endlich das Verbot von Studiengebühren abschaffen, nichts dazu, wie wir einheitliche
Leistungsstandards erreichen wollen, nichts darüber, wie
denn die einzelnen Technologien weiter gefördert werden sollen.
„Wir sind Spitze in der Biotechnologie“ haben Sie
vorhin gesagt, Herr Bundeskanzler. Beschäftigen Sie
sich bitte einmal mit den Chancen der Grünen Gentechnologie in Deutschland.
({53})
Befassen Sie sich bitte ganz einfach einmal mit der Tatsache, dass weltweit 67 Millionen Hektar für Versuche
mit gentechnisch veränderten Organismen im Freiland
zur Verfügung stehen, während es bei uns im Lande nur
500 Hektar sind. Glauben Sie, dass wir in einem
zukunftstechnischen Bereich, in einem Bereich, in dem
mit Sicherheit hohe Renditen erwirtschaftet werden, jemals Spitze sein können, wenn wir so an die Sache
herangehen? Ich glaube das nicht. Deshalb müssen wir
darüber reden.
({54})
Sie haben über den Abbau von Subventionen gesprochen. Man muss ja schon ganz gut wegschauen, wenn
man das, was Sie bei der Steinkohle vorhaben, als Abbau
von Subventionen bezeichnen will.
({55})
Herr Bundeskanzler, es wäre schön, Sie würden uns
in diesem Hause einmal erklären, wie Sie eigentlich die
Förderung von regenerativen Energien im Zusammenhang mit Subventionen und einem effizienten Energiestandort Deutschland in der Welt sehen. Kein Wort!
Fehlanzeige!
({56})
Wir haben jetzt pro Kilowattstunde einen Aufschlag
von 0,38 Cent für erneuerbare Energien. Ich bin für erneuerbare Energien.
({57})
Ich stehe auch zu dem Ziel der Verdoppelung der Nutzung der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010. Aber
ich glaube schon, dass wir uns einmal überlegen müssen,
in welchem Maße wir Windenergie fördern wollen und
welchen Aufschlag auf den Strompreis wir uns leisten
können.
({58})
Diese Frage kann man nicht wegdrängen. Sie wird darüber entscheiden, ob in Deutschland investiert wird, ja
oder nein.
({59})
Herr Trittin, ich habe selbst intensiv mit am KiotoProtokoll verhandelt.
({60})
Ich bin wirklich für Klimaschutz.
({61})
Ich bedauere es zutiefst, dass nicht nur die Vereinigten
Staaten von Amerika dieses Protokoll nicht ratifizieren,
sondern dass vor allen Dingen auch Russland dieses Protokoll nicht ratifiziert. Wenn das so bleibt, wenn es Ihnen
nicht gelingt, Herrn Präsidenten Putin dazu zu bewegen,
das zu ändern - das wäre eine gute europäisch-russische
Maßnahme -, dann - das wissen Sie - kann dieses Protokoll nicht in Kraft treten.
Wir haben das Kioto-Protokoll nicht verhandelt, um
in Deutschland anschließend keine energieintensive Industrie mehr zu haben. Das war nicht mein Ziel. Das ist
nicht unser Ziel. Deshalb muss der Handel mit Zertifikaten für CO2-Emissionen so angelegt sein, dass er
Deutschland nicht in eine schlechtere Wettbewerbsposition in Europa bringt als andere Länder.
({62})
Sie treffen auf dem Gipfel am Wochenende wieder
alle: Fragen Sie den französischen Präsidenten, wie es
sich mit der Chemieindustrie verhält; fragen Sie den österreichischen Bundeskanzler, wie die Wachstumsraten
sind. Ich bin dankbar, dass Sie wenigstens einen Minister in Ihren Reihen haben, der den Verstand in diesem
Bereich noch nicht verloren hat. Wir werden ihn unterstützen, wo immer wir können.
({63})
Es geht bis zum Jahre 2012, Herr Bundeskanzler, um
vieles. Wenn die Wirtschaft erst einmal den Standort
Deutschland verlässt und Investitionen woanders getätigt werden, dann sind eine Vielzahl von Arbeitsplätzen,
die für Deutschland so wichtig sind, nicht mehr zurückzuholen. Bei Investitionen geht es um Vertrauen in dieses Land. Da ich von Vertrauen spreche, habe ich eine
Bitte. Nachdem Sie wieder nichts über die neuen Bundesländer gesagt haben,
({64})
tun Sie auch etwas anderes nicht mehr: Versprechen Sie
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht dauernd Sachen, die Sie nicht einhalten können. Das Versprechen in Ammendorf haben Sie im Vorfeld einer
Wahl abgegeben.
({65})
Jeder, der ein wenig Ahnung von Wirtschaft hat, wusste,
dass dieses Versprechen nicht zu halten ist.
({66})
Ich sage Ihnen: Trinken Sie lieber wieder mit Ihren Cousinen Kaffee. Aber enttäuschen Sie die Menschen nicht,
wenn es um Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern
geht.
({67})
Fünftens, Herr Bundeskanzler, muss und wird die
Union auch mehr Verantwortung in der Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik übernehmen. Ich habe Ihre
Ausführungen an einer Stelle nicht verstanden.
({68})
Ich frage Sie: Wer verhöhnt das spanische Volk? Nennen
Sie Ross und Reiter.
({69})
Ich weiß, dass jeder außer den Terroristen mit dem spanischen Volk leidet, und ich weiß, dass niemand außer
den Terroristen das spanische Volk verhöhnt. Es ist
meine Grundüberzeugung, dass das für jeden hier in diesem Hause gilt.
({70})
Ich wünsche mir und Ihnen, dass auf dem Gipfel, der
jetzt am Wochenende ansteht, ein klares gemeinschaftliches europäisches Signal gegeben wird, dass es null Toleranz gegenüber jeder Form von Terrorismus gibt. Hier
besteht Gemeinsamkeit zwischen den Demokraten in
diesem Lande. Diese muss gewahrt werden, sonst sind
wir den Terroristen gnadenlos ausgeliefert. Das will niemand.
({71})
Ich kann Ihnen sagen: Trotz aller Kontroversen in den
Diskussionen im letzten Jahr fühlen wir uns in unserer
Auffassung bestätigt, dass es zu einem gemeinsamen
Europa überhaupt keine Alternative gibt und dass es
keine Gemeinschaft der Demokraten in dieser Welt gibt,
wenn sich Europa gegen Amerika stellt. Deshalb ist es
richtig, dass auch Sie auf einen vernünftigen Weg zurückgekehrt sind und zu einem freundschaftlichen und
kameradschaftlichen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika kommen. Ich bin froh darüber.
({72})
Ich glaube, dass es gerade in diesen Tagen, in denen
auch Europa zur Zielscheibe des Terrorismus wird, von
historischer Bedeutung ist, dass wir am 1. Mai die Wiedervereinigung Europas feiern können. Die Aufnahme
der zehn neuen Mitgliedstaaten stellt mehr dar als nur
eine Aufnahme in den Binnenmarkt. Es ist der Sieg von
Demokratie und Freiheit in ganz Europa. Deshalb sind
die Schwierigkeiten, die wir haben werden, klein gegen
das, was wir gewonnen haben. Freiheit und Demokratie
haben gesiegt und wir alle können stolz darauf sein.
({73})
Dann werden wir noch immer Diskussionen führen.
Wir sind froh, dass wir inzwischen Einigkeit haben,
({74})
dass Zuwanderung von Höchstqualifizierten in unser
Land notwendig ist, dass Zuwanderung aber an anderer
Stelle gesteuert und begrenzt werden muss. Wir sind
froh, dass der Bundesinnenminister gesagt hat, dass man
angesichts der neuen Bedrohung schauen müsse, wo in
unserem Recht Lücken bestehen, um zu verhindern, dass
diejenigen, die verdächtig sind, terroristische Taten zu
begehen, einreisen, bzw. um sie ausweisen zu können.
({75})
Ich sage ausdrücklich: Wir verhandeln diese Fragen
der Zuwanderung in dem Geist, dass wir eine Lösung
herbeiführen wollen, die Zuwanderung steuert und begrenzt, die Integration verbessert, den Kindern endlich
zu vernünftigen Sprachkenntnissen verhilft und unser
Land sicherer macht. Wie bei allem, was wir tun, sagen
wir: Wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen, dann
werden wir einem entsprechenden Kompromiss natürlich zustimmen.
Herr Bundeskanzler, wir werden auch noch eine
Weile kontrovers über das Thema Bundeswehr und die
Übernahme von Aufgaben im Zusammenhang mit der
inneren Sicherheit diskutieren. Ich finde, wir sollten hier
von Beschimpfungen wie „Hilfspolizei“ Abstand nehmen. Dazu sind die Fragen zu ernst. Sie selbst haben
dankenswerterweise ein Luftsicherheitsgesetz eingebracht. Wir meinen, dass ähnlich komplizierte Fälle im
Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waffen auftreten können. Es ist doch unstrittig, dass sich innere und äußere Sicherheit nicht mehr wie zu Zeiten des
Kalten Krieges trennen lassen. Es ist unstrittig, dass man
neue Antworten braucht, wenn man den Veränderungen
gerecht werden will. Wenn wir eine sichere Grundlage
und zu diesem Zweck eine Änderung des Grundgesetzes
fordern, dann ist das nichts anderes als die Antwort auf
eine veränderte Sicherheitslage. Bitte denken Sie darüber nach. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.
({76})
Meine Damen und Herren, jede politische Partei wird
angesichts der großen Aufgaben unseres Landes und unserer Zeit in erheblichem Maße herausgefordert. Ich
sage gerade in Bezug auf den Terrorismus: Ich habe mir
zum Ende des Kalten Krieges nicht vorstellen können,
dass wir mit solchen Arten von Bedrohung würden fertig
werden müssen. Ich habe nicht gesehen, dass - damit
müssen wir uns auseinander setzen - wir es mit Gegnern
zu tun haben würden, die ihr eigenes Leben nicht achten
und die bereit sind, es preiszugeben, um unsere Art zu
leben zu vernichten.
Da in diesen Tagen manchmal Hannah Arendt zitiert
worden ist, möchte auch ich einen Satz von ihr zitieren.
Sie hat gesagt: Der Sinn von Politik ist Freiheit. Ich
glaube, dass der Sinn von Politik für uns ist, unser freiheitliches Leben in einer gerechten Gesellschaft voranzutreiben.
Deshalb sollten wir uns im Geiste der Freiheit auf einige Ziele für Deutschland einigen. Ich finde, unser
Land sollte in Bezug auf wirtschaftliches Wachstum, öffentliche und private Investitionen, eine niedrige offene
und verdeckte Arbeitslosigkeit und die Qualität von Bildung und Ausbildung in zehn Jahren jeweils wieder unter den ersten Drei in Europa sein. Das wäre ein lohnendes gemeinsames Ziel, auf das wir hinarbeiten könnten.
({77})
Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann würden
die Menschen wieder sagen: Es lohnt sich, eine individuelle Veränderung, auch eine schwierige, anzunehmen.
Ich bin überzeugt: Wenn wir uns auf diese Ziele einigen
könnten, dann könnten wir es schaffen, dass es am Ende
des Weges niemanden mehr gibt, der arbeitsfähig ist und
trotzdem kein Arbeitsangebot von der Gesellschaft bekommt. Dann könnten wir es schaffen, dass niemand in
den Vorruhestand gedrängt wird, obwohl er findet, dass
er der Gesellschaft mit seiner Leistung dienen könnte.
Dann könnten wir es schaffen, dass die Schwarzarbeit in
unserem Lande wenigstens um die Hälfte zurückgeht,
weil es sich wieder lohnt, für gutes Geld zu arbeiten.
Dann könnten wir es schaffen, dass wir, was die Ergebnisse der PISA-Studie angeht, von den Finnen nicht
mehr weit entfernt sind und dass unsere Kinder die gleiche Chance auf Ausbildung haben. Dann könnten wir es
schaffen, dass wir nicht mehr nach Amerika fahren müssen, um deutsche Wissenschaftler, die dort forschen, zu
treffen, weil sie wieder bei uns ein Zuhause haben.
Ich habe Ihnen heute die zweitbeste Lösung angeboten, die Lösung, die wir als Opposition anbieten können.
({78})
Wir arbeiten konstruktiv mit. Ich habe Ihnen konkrete
Angebote unterbreitet.
Herr Bundeskanzler, ich will Ihnen die beste Lösung
natürlich auch nicht verschweigen.
({79})
Sie haben heute gezeigt, dass Sie die Überschriften kennen. Aber Sie haben auch gezeigt, dass Sie die Bodenhaftung, wenn es um die Politik für dieses Land geht,
verloren haben.
({80})
Weil Sie die Bodenhaftung verloren haben, können Sie
die Sorgen und Ängste der Menschen nicht wahrnehmen. Wer diese aber nicht wahrnimmt, kann die Menschen nicht auf den notwendigen Weg mitnehmen.
({81})
Deshalb sage ich: Herr Bundeskanzler, die beste Lösung für unser Land ist Rücktritt und Neuwahlen.
({82})
Dann wären wir in der Lage, das zu tun, was notwendig
ist.
Herzlichen Dank.
({83})
Ich erteile dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, dem
Kollegen Franz Müntefering, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Merkel,
({0})
Sie sind eine großzügige Vorsitzende. Das konnte ich
während Ihrer Rede feststellen. Ich hätte nämlich nicht
gedacht, dass Sie in diesen wichtigen Tagen Ihrem Redenschreiber Urlaub geben.
({1})
Anders ist nicht zu erklären, warum Sie heute Morgen
eine solche Rede hier gehalten haben.
Sie haben gesagt, dass wir in dem vergangenen Jahr
manchmal hinter unseren Möglichkeiten geblieben sind
und dass wir hätten besser sein können. Das ist ein schönes Lob; das ist auch nicht falsch. Natürlich können wir
noch besser werden. Es tut mir aber Leid, dass ich dieses
Lob an Sie nicht zurückgeben kann; denn Sie haben Ihr
Niveau heute Morgen gehalten.
({2})
Die Art und Weise, wie Sie über Europa und über die
Rolle, die der Bundeskanzler in Europa spielt, gesprochen haben, hat deutlich gemacht, dass Sie für eine solche Aufgabe nie und nimmer geeignet wären. Europa
können Sie nicht, Frau Merkel.
({3})
Es ist sehr gut, dass man in den Protokollen nachlesen
kann, welche Reden vor einem Jahr gehalten wurden.
Sie haben in Ihrer Rede vom 14. März 2003 angekündigt, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
eine historische Ausrichtung bekommen sollte. Sie haben in dieser Rede am 14. März des vergangenen Jahres
die militärische Option für den Irak ausdrücklich nicht
ausgeschlossen.
Ich sage hier noch einmal für meine Fraktion und die
deutsche Sozialdemokratie: Wir sind stolz darauf, dass
Gerhard Schröder und die Koalition im letzten Jahr entschieden haben, nicht am Irakkrieg teilzunehmen. Das
war eine historische Leistung von großer Bedeutung.
({4})
Sie haben an diesem 14. März angekündigt, im Jahre
2004 einen Vorschlag zu machen, wie die Systeme der
sozialen Sicherung wetterfest gemacht werden könnten.
Ein solcher Vorschlag ist bisher nicht zu erkennen. Sie
haben heute gewisse Punkte kurz angesprochen, die damit zu tun haben könnten: die Kopfpauschale und kurze
Anmerkungen zur Rente und zur Pflege. Sie haben aber
keine zusammenhängende Feststellung gemacht, wie die
Systeme der sozialen Sicherung aus Ihrer Sicht der
Dinge aussehen sollen.
({5})
- Ich spreche über das, was Sie im letzten Jahr gesagt
haben. Herr Kauder, man muss sich an dem messen lassen, was man selbst angesprochen hat.
({6})
Sie haben an diesem 14. März des vergangenen Jahres
auch angesprochen, dass es weitere steuerliche Entlastungen geben solle. Sie haben dann Ende letzten Jahres
- wir haben es noch in guter Erinnerung - sehr unterschiedliche Konzepte auf dem Tisch gehabt. Kurz vor
Weihnachten war Herr Merz ganz oben auf Ihrer Hitliste.
({7})
Dazu gab es dann große Beschlüsse. Dann kam aber
Herr Glos dazwischen. Dann hat Herr Kirchhof eine
Rolle gespielt. Inzwischen ist nichts mehr von all dem
übrig geblieben, was Sie angekündigt haben. Gott sei
Dank können Sie solche Spiele nur im Sandkasten machen. Es ist schon gut für das Land, dass Frau Merkel in
der Opposition ist und wir regieren.
({8})
Frau Merkel, Sie haben eben die Krankenschwestern
angesprochen. Das war eine besonders schöne und interessante Stelle.
({9})
Dabei geht es darum, wie viele Steuern Krankenschwestern zahlen müssen. Herr Merz - er geht gerade hinaus -,
aber auch Sie und Herr Stoiber haben, als Sie sich an
dem bewussten Sonntag nicht einigen konnten, im Nachhinein festgestellt, dass die Steuerfreiheit für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtzuschläge Zug um Zug gestrichen
wird. Dazu sage ich Ihnen - das ist auch der Ehrlichkeit
wegen ein hochinteressanter Punkt -: Man kann an dieser Stelle so denken. Nur, Sie sollten hier nicht sagen,
was Sie dazu gesagt haben. Wir in dieser Koalition stehen dafür, dass eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf
keinen Fall dadurch ermöglicht wird, dass Krankenschwestern und Busfahrer in Zukunft ihre Zuschläge
versteuern müssen, Frau Merkel.
({10})
Sie haben in dieser Rede am 14. März letzten Jahres
gesagt: Reden ist Silber, Handeln ist Gold. - Herzlichen
Glückwunsch zur Silbermedaille, Frau Merkel!
({11})
Für mehr reicht es nicht.
({12})
Wir haben in diesem Jahr gehandelt. Wir haben eine
Reihe schwieriger und auch komplizierter Gesetze eingebracht und haben sie im Deutschen Bundestag
({13})
und nach heftigen Kämpfen manchmal auch im Bundesrat beschlossen.
({14})
Wir haben die Steuerreform durchgesetzt und haben über
das hinaus, was vorgesehen war, erreicht, dass zum
1. Januar dieses Jahres
({15})
28 Prozent derer, die einkommensteuerpflichtig sind,
keine Lohnsteuer mehr zahlen müssen.
({16})
Wenn Sie darüber sprechen, wer wie viel von seinem
Lohn abgezogen bekommt, sollten Sie keine Durchschnittsrechnung vornehmen, sondern sich anschauen,
was die Koalition für diejenigen getan hat, die unten
sind: Der Grundfreibetrag wurde von 6 322 auf
7 644 Euro erhöht und der Eingangssteuersatz wurde
von 25,9 auf 15 Prozent gesenkt. Davon haben Sie zwar
oft gesprochen; das haben Sie aber nie durchgesetzt. Das
ist Sache dieser Koalition.
({17})
Während Sie sich in Sachen Steuerreform in die Büsche geschlagen haben und manchmal nicht wissen, ob
Sie uns jetzt links oder rechts überholen sollen, haben
wir praktische Dinge getan. Wenn Sie im Vermittlungsausschuss mitgemacht hätten, hätten wir den im Rahmen der Steuerreform vorgesehenen Nachlass um
7 Milliarden Euro, der erst im nächsten Jahr wirksam
wird, schon in diesem Jahr umsetzen können.
Wir haben im Hinblick auf den Arbeitsmarkt Entscheidungen getroffen, die für uns nicht immer leicht
waren. Vieles von dem, was wir beschlossen haben, ist
bei uns zum Teil unter Ächzen geschehen und nicht
schnell in leichten Entscheidungen. Wir haben dafür gesorgt, dass auf dem Arbeitsmarkt im Bereich der Zumutbarkeit und des Kündigungsschutzes größere Flexibilität - wir glauben, letztlich auch zugunsten der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - gegeben ist.
Wir haben etwas getan, Sie haben nur darüber geredet.
Wir haben die Handwerksordnung novelliert, wollten jedoch noch ein Stück weiter gehen. Wir haben es ermöglicht, dass erfahrene Gesellen in Zukunft eigene Unternehmen, eigene Handwerksbetriebe gründen können.
Diese Entscheidung war richtig. Sie wurde auf Ihrer
Seite übrigens besonders heftig von der FDP bekämpft.
({18})
Wir haben bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau zusammen mit der Deutschen Ausgleichsbank ein spezielles Förderprogramm für den Mittelstand eingerichtet.
Wir haben dafür gesorgt, dass es Geld für die Städte und
Gemeinden gibt, um Ganztagsschulen einzuführen. Dieses Geld könnte übrigens noch intensiver als bisher von
den Städten und Gemeinden angefordert werden. Das
wäre schon gut.
Wir haben mit unserer Gemeindefinanzreform dafür
gesorgt, dass in diesem Jahr 2,5 Milliarden Euro mehr
bei den Städten und Gemeinden ankommen.
({19})
All diese Dinge haben wir vom letzten Jahr bis heute
konkret umgesetzt,
({20})
manchmal unter Ächzen, manchmal beklatscht. Dieser
Weg ist nicht einfach, aber richtig und führt uns nach
vorn.
({21})
Was haben Sie in dieser Zeit gemacht? Frau Merkel,
als Sie eben über das Gesundheitswesen gesprochen und
versucht haben, Frau Schmidt die Verantwortung für das
zu übertragen, was bezüglich der Umsetzung der
Gesundheitsreform passiert ist, habe ich mir Herrn
Seehofer angeschaut und gesehen, wie ihm die Röte
langsam ins Gesicht gestiegen ist, weil er gewusst hat,
dass der Vorwurf an die völlig falsche Adresse gerichtet
war.
({22})
Dieses Gesundheitsmodernisierungsgesetz haben wir
miteinander beschlossen. Es beinhaltet Akzente von uns
und Akzente von Ihnen. Deshalb möchte ich zu zwei
Punkten etwas anmerken. Hinsichtlich des Wettbewerbs im Gesundheitswesen sind wir weit hinter dem
zurückgeblieben, was wir uns vorgestellt hatten, nämlich
zu ermöglichen, dass die Krankenversicherungen mit
den Ärzten und Gesundheitseinrichtungen klare und
wettbewerbsfähige Verträge schließen. Es ist wichtig,
das noch einmal anzusprechen, weil Sie die Förderung
des Wettbewerbs immer für sich in Anspruch nehmen.
Manchmal denkt man - und manche von uns sagen
das auch -, Sie seien an dieser Stelle ideologisch und sozusagen Ordnungspolitikerin. Das sind Sie überhaupt
nicht. Sie sind einfach ganz kleinkarierte Lobbyistin. Etwas anderes sind Sie nicht.
({23})
Wenn es um Wettbewerb geht, Herr Westerwelle und
Frau Merkel, kennen Sie keine Verwandten und keine
Ideologiebücher mehr. Sie kennen dann nur noch diejenigen, die Ihnen nahe sind.
({24})
Wir haben die Praxisgebühr beschlossen. Frau
Merkel, ich will Ihnen dabei aber gern den Vortritt lassen. Es wäre anständig von Ihnen gewesen, hier wenigstens einmal deutlich zu sagen, dass wir dieses Gesetz gemeinsam beschlossen haben,
({25})
dass die Idee dieser Praxisgebühr aber von der CDU/
CSU vorgebracht und deren Einführung erzwungen worden ist. Das ist nun einmal schlicht die Wahrheit.
({26})
Wir laufen vor den gemeinsamen Beschlüssen nicht
weg. Es wäre aber schon gut, wenn die Dinge nicht so
verdreht würden, wie Frau Merkel das eben wieder versucht hat.
({27})
Ohne Sie wäre die Positivliste möglich gewesen.
({28})
Auch die haben Sie mit Ihren Mehrheiten im Bundesrat
verhindert.
({29})
Man kann dazu unterschiedlicher Meinung sein. Ich
möchte das hier nur festhalten, damit draußen die richtigen Botschaften ankommen.
In Sachen Tarifautonomie haben Sie jüngst noch einmal Ihr wahres Gesicht gezeigt. Ich glaube, an diesem
Punkt geht es in der Gesellschaft in der Tat um eine Weichenstellung.
({30})
Es geht darum, ob man will, dass in dieser Gesellschaft
jeder Einzelne für sich kämpft und kämpfen muss, oder
ob es so etwas wie eine Bündelung von Interessen gibt.
Wir glauben, zur Demokratie gehört es dazu, dass man
weiß, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterschiedliche Interessen haben. Es ist keine Schande, darüber zu
sprechen. Wir glauben aber auch, dass versucht werden
muss, die unterschiedlichen Interessen in einem gemeinsamen System auszugleichen. Wir sind überzeugt, dass
es für die Bundesrepublik Deutschland richtig war, dass
es starke Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppen gegeben hat und gibt, die diesen Interessenausgleich zum
Wohle der ganzen Gesellschaft organisieren.
({31})
Es ist nicht immer leicht, damit umzugehen. Aber die
Alternative dazu ist letztendlich, dass in jedem Betrieb
jeder für sich selbst kämpft. Das wäre für die Gesellschaft und für die Unternehmen nicht gut.
({32})
Ich fasse zusammen: Wir wollen, dass die Tarifautonomie erhalten bleibt. Wir wollen, dass die Betriebe, die
darauf angewiesen sind, von den tariflichen Vereinbarungen abzuweichen, dies können, wenn die Tarifparteien dies gemeinsam akzeptieren. Das wird an vielen
Stellen, Hunderte Male gemacht. Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland sind nicht die fünfte
Kolonne, die dabei ist, die Betriebe kaputtzumachen.
Vielmehr versuchen sie, ihren Betrieb und ihre Arbeitsplätze und die der Kolleginnen und Kollegen zu sichern.
So ist das.
({33})
Auch wenn man sich mit dem einen oder anderen in
ganz konkreten Punkten zu streiten hat - das tun wir und
das lassen wir nicht aus -: Wir wollen, dass auch in Zukunft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland ihre Interessen bündeln können, vertreten
können, erstreiten können und, wenn es nötig ist - hoffentlich selten -, erstreiken können. Das gehört zur Demokratie in diesem Lande. Dazu stehen wir.
({34})
Nun habe ich etwas zur CDU/CSU, aber noch nichts
zur FDP gesagt. Es soll auch nicht viel sein. Aber ich
habe gestern eine Pressemitteilung gelesen. Da hat Herr
Westerwelle sich gemeldet
({35})
und gesagt, wenn er die Bundestagswahl 2006 nicht erfolgreich bestehe, dann wolle er nicht mehr Parteivorsitzender sein.
({36})
Ich habe unserer Kreativgruppe den Auftrag gegeben,
ein Plakat daraus zu machen. Die Idee haben wir schon.
Auf dem Plakat wird stehen: Wählen Sie FDP! Sonst bin
ich beleidigt und bleibe nicht länger Vorsitzender der
FDP. - Das wird im Jahre 2006 auf den Plakaten stehen.
({37})
Es wäre ehrlicher, Sie würden heute schon gehen.
({38})
Denn was Sie da angekündigt haben, weckt eine Hoffnung. Sie können davon ausgehen: Wir werden dafür
sorgen, dass Sie im Jahre 2006 Ihren Abschied als Parteivorsitzender nehmen können.
({39})
Machen Sie unter Ihren Schuhen zwischen der 1 und der
8 ein Komma! Das ist die Perspektive.
({40})
- Dass Herr Gerhardt darüber lacht, das weiß ich. Das
hat er wahrscheinlich damals schon getan. Das ist nicht
neu.
({41})
Ich sehe das an Ihren beiden Gesichtern; es ist sehr aufschlussreich, Sie hintereinander sitzen zu sehen.
({42})
Wir haben in diesem Jahr eine ganze Menge erreicht.
Wir haben den negativen Trend im Lande gestoppt. Die
Arbeitslosigkeit ist nicht weiter angestiegen ({43})
entgegen manchem, was Sie draußen immer wieder behaupten. Die Beschäftigtenzahlen sind höher als im
Jahre 1998. Das ist so.
({44})
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit gerade bei den Jugendlichen liegt in der Größenordnung von 50 000. Das
ist eine gute Entwicklung. Das ist ganz entscheidend ein
Verdienst von Wolfgang Clement, der im Bereich des
Arbeitsmarktes ganz besonders für die jungen Menschen
in diesem Land etwas getan hat und auch weiter tut.
({45})
Es gab im letzten Jahr 1,6 Millionen Existenzgründungen in Deutschland. Die Preise der teuren Arzneimittel
sind gesunken.
Frau Merkel, in Ihrer Rede vom 14. März letzten Jahres haben Sie angekündigt, die Rentenversicherungsbeiträge würden im Jahre 2003 auf 19,9 Prozent steigen. Sie
sind nicht gestiegen. Sie sind bei 19,5 Prozent geblieben.
Das ist eine Größenordnung von 4 Milliarden Euro.
({46})
Sie können sich darauf verlassen, dass wir erreichen,
was wir vorhaben: die Lohnnebenkosten niedrig zu halten und die Renten- und Krankenversicherungsbeiträge
nicht steigen zu lassen.
({47})
Die Botschaften der letzten Stunden besagen, dass gerade in den letzten Tagen wieder einige Krankenkassen
- es sind große dabei - Schritt für Schritt ihre Beiträge
senken.
({48})
Auch das ist ein Verdienst von Ulla Schmidt. Ich möchte
ihr an dieser Stelle ein Dankeschön sagen.
({49})
Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
({0})
Er ist Sauerländer. Das muss ich machen.
({0})
Herr Müntefering, herzlichen Dank. Sie haben gerade
gesagt, wir hätten im letzten Jahr 1,6 Millionen Existenzgründungen in Deutschland gehabt. Diese Zahl habe
ich mehrfach gehört. Sie kann nicht richtig sein. Bitte
überlegen Sie einmal mit: Insgesamt gibt es in Deutschland nur 3,3 Millionen Selbstständige. Würde die Zahl,
die Sie genannt haben - 1,6 Millionen -, stimmen, wären
im letzten Jahr etwa 50 Prozent unserer Betriebe neu dazugekommen. Das müssen Sie sich einmal vorstellen.
Diese Zahl ist grundfalsch. Überprüfen Sie sie bitte einmal!
Gut, klären wir die Zahl miteinander. Die 1,6 Millionen beinhalten auch diejenigen, die als Ich-AGs angefangen haben. Diese Personengruppe gehört dazu.
({0})
25 Prozent derer, die arbeitslos waren, haben sich selbstständig gemacht. Sie sind hier eingerechnet. Das ist so
richtig und auch gut. Die Menschen, die aus der Arbeitslosigkeit heraus den Impuls gewonnen haben, sich
- auch wenn es ihnen schwer fiel - selbstständig zu machen, zählen wir im Bereich der Existenzgründungen
mit. Das ist doch klar.
({1})
Wir haben uns für das Jahr 2004 vorgenommen, die
Agenda 2010 weiter umzusetzen. Wir wissen, dass wir
hier noch eine Menge wichtiger Aufgaben vor uns haben, zum Beispiel bei Hartz IV, also bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. An der
Stelle Ihrer Rede, als Sie, Frau Merkel, dazu etwas gesagt haben, bin ich darauf gekommen, dass Ihr Redenschreiber wohl in Urlaub gewesen sein muss; denn hier
haben Sie ein bisschen viel durcheinander geworfen. Sie
haben davon gesprochen, dass die Kommunen die
Ganztagseinrichtungen gar nicht finanzieren könnten,
weil sie noch kein Geld durch die Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bekommen hätten.
Frau Merkel, die entsprechenden Einnahmen in Höhe
von 1,5 Milliarden Euro können erst im Jahre 2005 wirksam werden, weil die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erst im Jahre 2005 stattfindet. Jetzt nicken Sie freundlich; eben haben Sie das aber etwas anders dargestellt. Lesen Sie das einmal nach!
({2})
Was die Art und Weise der Organisation angeht, stelle
ich fest: Wir haben gemeinsam ein Gesetz verabschiedet,
in dem wir davon ausgehen, dass die Arbeitsgemeinschaften zwischen der Bundesagentur und den Städten
und Gemeinden dieser Aufgabe gerecht werden. Es geht
darum, dass die jetzigen Arbeitslosenhilfeempfänger
und Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfähig sind, stärker
an die Vermittlung herangeführt werden. Dafür werden
wir beide Stellen brauchen: die Bundesagentur und die
Städte und Gemeinden. Nur wenn beide vernünftig zusammenarbeiten, kann man dieses Problem überhaupt
lösen.
Der Streit darüber, wie man das vernünftigerweise
machen sollte, ist nicht wirklich ausgetragen worden. In
der Nacht, in der der Vermittlungsausschuss getagt hat,
haben wir darüber lange gesprochen. Wir waren nicht
der Meinung von Herrn Koch, der gesagt hat, das müsse
kommunalisiert werden. Mein Eindruck ist, dass auch
viele von Ihnen das nicht so sehen. Aber ich will Ihnen
etwas sagen, was in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt
ist. Denn als es in der Nacht darum ging, diesen Streit zu
schlichten, um hier zu einer Lösung zu kommen, habe
ich einen Vorschlag gemacht: Sehr geehrter Herr Koch,
führen Sie doch einen Feldversuch durch. In Hessen und
Sachsen wird kommunalisiert; alle übrigen Länder gehen den anderen Weg. Das wäre eine schöne, feine und
saubere Lösung gewesen. Daraufhin hat Herr Koch gesagt: Nein, so sei das alles nicht gemeint gewesen.
({3})
- Frau Merkel, weil ich das gehört habe, will ich Ihnen
sagen: Ich weiß nicht so recht, ob Sie an dieser Stelle
wirklich behilflich sein wollen und ob manche von Ihnen
nur chaotisieren wollen.
({4})
Unsere dringende Empfehlung an die Städte und Gemeinden und an die Kreise ist, sich jetzt mit der Bundesagentur zusammenzusetzen und gemeinsam zu entscheiden, wie das zu organisieren sei. Wenn wir beide
der Meinung sind - das sind wir offensichtlich -, dass
man Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen
muss, dann müssen wir dies nach pragmatischen Gesichtspunkten und ohne parteipolitisches Taktieren tun.
({5})
An dieser Stelle müssen wir eine Lösung finden, die
für das ganze Land angemessen ist. Dazu gehört, dass es
in den nächsten Tagen und Wochen vor Ort eine intensive Debatte über die Frage geben muss, wie die Arbeitsgemeinschaften zwischen der Bundesagentur und den
Städten und Gemeinden organisiert werden können. Wir
sind auf beide angewiesen. Beide sollen ihren gerechten
Anteil an der Arbeit, aber auch an den Möglichkeiten haben, hier mitzubestimmen.
Herr Müntefering, der Kollege Rauen würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Herr Müntefering, als neuer SPD-Vorsitzender mögen
Sie sich ja über vieles hinwegsetzen können. Aber hier
im Hause sitzen etliche Kolleginnen und Kollegen, die
viele Jahre im Vermittlungsausschuss tätig gewesen
sind. Es war immer völlig selbstverständlich, dass über
Ergebnisse und Gespräche im Rahmen des Vermittlungsausschusses nicht in der Öffentlichkeit berichtet wurde.
Ich bitte auch Sie, sich zukünftig daran zu halten.
({0})
Herr Rauen, ich nehme die Mahnung gern auf. Meine
Erwartung an Sie, an Herrn Koch und an Frau Merkel
und alle anderen, die an dem Verfahren beteiligt sind, ist
allerdings, dass Sie sich fair verhalten; das ist meine
herzliche Bitte.
({0})
Wenn wir fair miteinander umgehen, muss man nicht
über die Dinge sprechen, die hinter verschlossenen Türen besprochen wurden. Es ist nicht in Ordnung, nach
draußen so zu tun, als ob diese Koalition uneinsichtig
wäre, als ob wir nicht wollten, dass das Optionsmodell
in fairer Weise zustande kommt.
({1})
Das ist meine Replik auf das, was Frau Merkel vorhin
gesagt hat; sprechen Sie einmal mit ihr darüber. Herr
Rauen, ich könnte auch sagen: Es ist unverantwortlich,
in diesem Stadium der Verhandlungen so zu tun, als ob
Parteitaktik bei Ihnen oder bei uns das dominierende
Motiv wäre. Wir wollen vernünftige Lösungen, im Interesse der Arbeitslosen und im Interesse der Agentur sowie der Städte und Gemeinden. Miteinander können wir
das schaffen.
({2})
Wir werden in diesem Jahr eine große, energische Anstrengung unternehmen, um dafür zu sorgen, dass kein
junger Mann und keine junge Frau von der Schulbank
in die Arbeitslosigkeit übergeht.
({3})
Dazu gehört das JUMP- und das JUMP-Plus-Programm
von Wolfgang Clement, dazu gehört aber auch der Bereich der Ausbildung und dazu gehört auch, dass möglichst viele junge Leute in die Universitäten gehen. Ich
sage Ihnen und all denen, die uns noch nicht zustimmen:
Wenn es diese Gesellschaft nicht schafft, einen Weg zu
finden, zu verhindern, dass die jungen Menschen nach
der Schule arbeitslos werden, dann versündigen wir uns
an dieser jungen Generation und lassen zu, dass ein Sockel von Sozialhilfekarrieren entsteht, der für dieses
Land und für die Kinder, die daraus erwachsen, verheerend ist.
({4})
Wir wollen erreichen, dass die jungen Menschen, die die
Schule beendet haben, manche erfolgreich, manche nicht
- ich sage es einmal in meiner Sprache -, arbeiten lernen, sich qualifizieren können, eine Ausbildung bekommen und in ihrem Leben die Möglichkeiten, die sie haben, nutzen können. Das Schlimmste, was man tun kann,
ist, einem jungen Menschen, der mit 16 oder 18 Jahren
aus der Schule kommt, zu sagen: Du hast dich angestrengt, es hat nicht gereicht. Setz dich hin, krieg Stütze,
halt den Mund, stör uns nicht. Das kann nicht die Politik
in diesem Lande sein. Deshalb muss an dieser Stelle etwas passieren.
({5})
Frau Merkel, weil Sie mir manchmal so leicht mit Beton begegnen: Denken Sie einfach einmal darüber nach,
was Sie dazu beitragen können - auch im Bundesrat -,
an dieser Stelle in Deutschland wirklich etwas zu erreichen. Dazu gehört mehr als nur die Frage der Ausbildung; das weiß ich. Wir werden das Gesamtthema dieses
Jahr auf der Tagesordnung behalten.
Im Verlauf des letzten Jahres wurden 500 000 junge
Menschen arbeitslos. Die Fluktuation war hoch, es gab
aber auch einen großen Sockel von arbeitslosen jungen
Menschen ohne Ausbildung. Wer in dieser Gesellschaft
jedoch keine Ausbildung hat, dessen Chancen, ins Erwerbsleben hineinzuwachsen, werden immer kleiner;
darüber müssen wir hier doch nicht streiten. Deshalb
sage ich: Wir müssen alles dafür tun, dass auf freiwilligem Weg, durch Tarifverhandlungen und Tarifverträge
und unter Einsatz der Kammern erreicht wird, dass alle
jungen Menschen diese Chance bekommen. Die Potenziale dazu sind in dieser Gesellschaft vorhanden. Im
letzten Jahr wurden 560 000 neue Ausbildungsverträge
abgeschlossen. Zum Schluss blieb eine Lücke von gerade einmal 20 000. Wer 560 000 hinbekommt, kann
auch noch diese 20 000 hinbekommen. Mehr wollen wir
nicht, aber dass das zustande kommt, wollen wir.
({6})
Wir werden in diesem Jahr eine Debatte über die
Pflege führen. Heute lasse ich dieses Thema weg, aber
wir werden intensiv darüber zu debattieren haben. Ich
glaube, dass da ein gesellschaftliches Problem besteht,
an dem sich deutlich machen lässt, dass nicht alle Probleme, die diese Gesellschaft hat, mal eben durch ein
Bundesgesetz von hier aus erledigt werden können.
Stattdessen müssen wir die Gesellschaft dafür gewinnen,
„Eigenverantwortung“ nicht als „Rückzug auf sich
selbst“ zu verstehen, sondern als die Aufgabe, in eigener
Initiative oder in Verbänden oder Organisationen selber
Aufgaben zu übernehmen, zum Beispiel im Bereich der
Pflege. Diese Gesellschaft muss davon wegkommen, zu
glauben, alle Probleme ließen sich durch ein Bundesgesetz lösen. Deshalb wird das Thema Pflege nicht nur gesetzliche Initiative erfordern, sondern auch eine intensive gesellschaftliche Debatte.
Ähnlich ist es mit der Bürgerversicherung. Sie haben gefragt, ob das denn wahr sei, Frau Merkel. Sie können den Stand der Dinge nicht so genau kennen, deshalb
will ich Ihnen kurz sagen: Wir haben beschlossen, dass
wir den Weg hin zur Bürgerversicherung gehen. Das Ziel
sind Vertiefung und Verbreiterung des ganzen Systems
unter den Gesichtspunkten Gerechtigkeit für den Einzelnen und Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Das ist eine
gute Alternative zum Weg hin zur Kopfpauschale, den
Sie einzuschlagen versuchen. Wir sind bei diesem Punkt
keineswegs schon fertig. Wir werden unseren Weg präzisieren. Das wird noch einige Zeit dauern. In diesem Jahr
wird es in der Bundesrepublik Deutschland ganz sicher
kein Gesetz mehr dazu geben.
Der Gedanke, der dahinter steht, dass nämlich der
Kernbereich der Systeme der sozialen Sicherung bei uns
solidarisch finanziert bleiben soll, ist richtig.
({7})
Das müssen Sie inzwischen doch dazugelernt haben. All
die jungen, schicken Millionäre, die es vor einigen Jahren gab und die uns stolz erzählt haben, dass sie ihre
komplette Alterssicherung über die Aktienmärkte abgesichert hätten, wurden eines Besseren belehrt. Zum guten Schluss muss aus den sozialen Systemen klassischer
Art, der Finanzierung aus der Steuerkasse und der Eigenverantwortung des Einzelnen, indem er zuzahlt, ein
vernünftiger Mix entstehen. Bei diesem Ziel, das wir
umzusetzen versuchen, müssen wir immer im Blick behalten, dass der Kern der Sozialversicherung solidarisch
finanziert bleiben muss. Man kann es drehen, wie man
will, das Beste ist: Menschen für Menschen, Generation
für Generation. Eine bessere Lösung bei der Alterssicherung gibt es nicht. Das muss im Kern so erhalten bleiben.
({8})
Wir werden auch das Thema Innovation nicht vergessen. Keine Sorge, Sie werden bald wieder damit konfrontiert sein. Schließlich wissen wir genau, dass die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entscheidend davon
abhängt, wie in den Bereichen Qualifizierung, Forschung und Technologie in diesem Lande weiter verfahren wird. Bei den Investitionen in diesem Bereich hat es
in den 90er-Jahren eine Stagnation, zum Teil sogar einen
Abbruch gegeben. Daran waren Sie beteiligt. Sie waren
damals an der Regierung. Wir sind klüger geworden.
({9})
Wir haben, seitdem Edelgard Bulmahn dem Bildungsministerium vorsteht, dessen Etat um etwa 30 Prozent erhöht. Diese Investitionsmittel fehlen uns natürlich an anderer Stelle. Trotzdem sagen wir den Rentnerinnen und
Rentnern und der Gesellschaft insgesamt: Was wir heute
in die Forschung, in die Technologie und in die Entwicklung neuer Arbeitsplätze und neuer Produkte investieren, das ist die Investition in die Zukunftsfähigkeit
des Landes überhaupt. Man kann nichts Besseres tun, als
in diesen Bereich zu investieren.
({10})
Wir werden diesen Weg weitergehen. Das wird hart
werden, weil das bedeutet, mehr Geld zur Verfügung zu
stellen, um im Jahr 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu kommen. Aber ganz Europa muss
diesen Weg gehen und die deutsche Wirtschaft ebenso.
Das kann der Bund nicht alleine schaffen, das müssen
auch die Länder und die Gemeinden als große Aufgabe
verstehen. Wir werden zu diesem Thema an dieser Stelle
also weiter über das diskutieren, was in den nächsten
Jahren und vielleicht noch in diesem Jahr erforderlich
und nötig ist.
Meine Damen und Herren, wir werden bei dem, was
wir in diesem Jahr und in den nächsten Jahren zu tun haben, darauf zu achten haben, dass wir das Wünschbare
im Blick behalten und es nicht vergessen, dass wir aber
gleichzeitig das Notwendige erkennen und das Machbare tun. Das sind die Zielkonflikte, die Spannungsverhältnisse, mit denen wir es zu tun haben. Wir wissen,
dass man sich vieles anders wünschen würde und dass
vieles über das hinausgehen müsste, was wir heute tun
oder tun können. Wir wissen, dass bestimmte Dinge getan werden müssen. Wir machen das, was heute notwendig ist, damit wir auf einem guten Weg in die Zukunft
gehen können. Das wird anstrengend bleiben; das ist
überhaupt keine Frage. Aber wir haben im Jahr 2003 ein
gutes Stück auf dem richtigen Wege zurückgelegt und
haben etwas von dem weggeräumt, was in den 90er-Jahren in Deutschland liegen geblieben ist.
({11})
Es ist wahr, dass wir spät dran sind. In den vergangenen Wochen und Monaten haben ich und andere oft darüber gesprochen, wie es war und dass in der Vergangenheit tatsächlich etwas liegen geblieben ist. Ich finde, es
reicht nun, den Blick zurückzuwerfen; jetzt muss der
Blick nach vorne gerichtet werden. Wir müssen das tun,
was in diesem Jahr und was für die Zukunft erforderlich
ist. Wir dürfen uns nicht mit den Dingen aufhalten, die
weit hinter uns liegen, sondern müssen mutig und entschlossen die Dinge in Angriff nehmen, die der Bundeskanzler heute in seiner Rede beschrieben hat und die in
diesem Jahr auf der Agenda stehen.
Im vergangenen Jahr habe ich in meiner Rede zur
Agenda gesagt: Herr Bundeskanzler, Sie haben für die
Agenda 2010 die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion. Herr Bundeskanzler, das wird auch so bleiben.
({12})
Das Wort hat nun Dr. Guido Westerwelle für die FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Müntefering, Sie haben am Schluss
Ihrer Rede davon gesprochen, Sie hätten vieles von dem,
was liegen geblieben sei, abgeräumt und erledigt. Der
Herr Bundeskanzler hat sich in seiner Regierungserklärung gerühmt, er habe die Steuersätze in seiner Regierungszeit gesenkt. Für uns von der Opposition möchte
ich dazu sagen: Wenn Sie uns nicht blockiert hätten und
wenn Sie nach der Wahl nicht alles aufgehoben hätten,
dann hätten wir seit sieben Jahren niedrigere Steuersätze, einen demographischen Faktor bei der Rente und
ein modernes Arbeitsrecht.
({0})
Herr Kollege Müntefering, ansonsten kann man Ihnen
zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers gratulieren. Das ist der Sieg der Müntefering-SPD. Diejenigen, die geschrieben haben, es werde nach dem Parteitag
der Sozialdemokraten keinen Wechsel in der Politik geben, sind heute eines Besseres belehrt worden. Das Einzige, was von der Agenda 2010 in Wahrheit noch übrig
gelassen wurde, ist der Name selbst.
Sie warnen vor einem angeblich drohenden ungezügelten Marktliberalismus. Wer bei einer Staatsquote
von 57 Prozent den ungezügelten Marktliberalismus
kommen sieht, der hat die soziale Marktwirtschaft nicht
verstanden.
({1})
- Ich weiß, dass Sie den Unterschied zwischen dem
Brutto- und dem Nettoinlandsprodukt nicht kennen; das
ist mir schon klar.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zu den entscheidenden Punkten, die herausgearbeitet
worden sind. Vor einem Jahr hat der Bundeskanzler in
seiner Regierungserklärung darüber gesprochen, dass
das Tarifvertragsrecht verändert werden müsse, und er
hat die Ausbildungsplatzabgabe abgelehnt. Ein Jahr später kündigen Sie die Ausbildungsplatzabgabe an und
verabschieden sich vom Ziel der Liberalisierung des Tarifvertragsrechts. Das ist eine völlige Veränderung Ihrer
bisherigen Politik,
({3})
ein Agenda-Wechsel und nicht die Fortsetzung der
Agenda 2010. Sie haben Ihrer Regierung neue Vorzeichen gegeben und sich wieder einmal neu erfunden. Damit haben Sie sich zwar in die Seele der Sozialdemokratie hineingeredet, von Deutschland und den Problemen
haben Sie sich aber erneut verabschiedet.
({4})
Sie haben die Agenda 2010 zu Grabe getragen und die
alte SPD ausgegraben.
Reden wir einmal über die Ausbildungsplatzabgabe.
Die Wahrheit ist bekanntermaßen konkret. Die von Ihnen angekündigte Ausbildungsplatzabgabe wird ja nicht
nur in Ihren eigenen Reihen als falsch angesehen. Ich bin
gespannt, was von Herrn Clement übrig bleibt, wenn das
alte Lieblingsprojekt der Müntefering-SPD, das von Ihnen auf Parteitagen immer wieder vorgeschlagen wird,
jetzt kommt.
Durch die Ausbildungsplatzabgabe wird nicht ein einziger Ausbildungsplatz in Deutschland geschaffen. Sie
wird nur dazu führen, dass noch mehr mittelständische
Unternehmen in die Pleite geraten. Genau das müssen
wir in Deutschland verhindern. Im letzten Jahr gab es
über 40 000 Pleiten, insbesondere im Mittelstand. Sie
leiden unter einem argen Realitätsverlust, da Sie das verschweigen. Wer Pleite geht, kann nicht ausbilden. Stärken Sie gerade die Unternehmen im Mittelstand, dann
wird auch mehr ausgebildet! Ein plumper Appell an Patriotismus reicht für eine Regierung, die handeln sollte,
nicht.
({5})
Es ist schon interessant, wie diese Debatte seit dem
Parteitag der Sozialdemokraten intoniert worden ist. Die
Ausbildungsplatzabgabe wird kommen; das ist eine
Frage der Zeit. Sie werden sich bemühen, den entsprechenden Text geschickt zu formulieren. Das einzige Ergebnis wird sein, dass weniger Ausbildungsplätze entstehen, anstatt mehr Ausbildungsplätze zu schaffen.
Dieses Land wird nicht neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze dadurch bekommen, dass neue Steuern und
Abgaben erfunden werden. Dieses Land bekommt nur
dann neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze, wenn wir
das Steuerrecht modernisieren und vereinfachen und die
Steuern- und Abgabenlast in Deutschland insgesamt senken.
({6})
Davon ist bei Ihnen überhaupt nicht mehr die Rede. Ganz
im Gegenteil: Das Thema Steuersenkung haben Sie
heute ad acta gelegt. Sie haben uns heute mitgeteilt, Sie
sehen keine Spielräume für Steuersenkungen. Ganz im
Gegenteil: Sie haben sogar Steuererhöhungen angekündigt. Wenn Sie nämlich die Eigenheimzulage streichen
wollen, um damit Ihre Haushaltslöcher zu stopfen und
die notwendigen Ausgaben in der Bildung zu finanzieren, weil Sie an anderer Stelle nicht die Kraft zum Sparen
haben, dann ist das nichts anderes als eine faktische Steuererhöhung. Wer die steuerlichen Ausnahmetatbestände
beseitigen will, der muss in niedrigere Steuersätze investieren und darf damit nicht die Haushaltslöcher von
Herrn Eichel stopfen. Das kann die Bürgerinnen und
Bürger teuer zu stehen kommen.
({7})
Auch das ist eine bemerkenswerte und völlig neue
Gegenüberstellung. Die Eigenheimzulage wird jetzt als
Gegenrechnungsposten für Bildung und Wissenschaft
eingesetzt. Sie tun so, als ob wir uns in Deutschland zwischen niedrigeren Steuern und einem besseren Bildungssystem entscheiden müssten. Dieses Land braucht beides: niedrigere Steuern und ein besseres Bildungssystem.
Was Deutschland aber nicht braucht, sind Ihre Steinkohlesubventionen in Höhe von 16 Milliarden Euro.
Sie sind erst vor kurzem von Ihnen angekündigt und zugesagt worden, Herr Bundeskanzler.
({8})
Die Subventionen für die Steinkohle haben einen ganz
einfachen Grund. In Nordrhein-Westfalen, wo Herr
Müntefering herkommt, gibt es bald Kommunalwahlen.
Die Subventionen sind nichts anderes als der Versuch,
sich bei den Funktionären Ihrer eigenen Anhängerschaft
im Ruhrgebiet Ruhe erkaufen zu wollen. Das ist höchst
unvernünftig. Das ist eine Form von politischer Korruption, was hier stattfindet. Das Gefährliche dabei ist, dass
Sie hier von Egoisten und Lobbyisten reden, Sie selber
aber in Wahrheit der verlängerte Arm der Steinkohlefunktionäre und der Gewerkschaften in dieser Regierung
zulasten des Ruhrgebiets geworden sind.
({9})
Reden wir bitte einmal über die bemerkenswerte Diskussion, die schlaglichtartig den neuen Kurs der SPD
klarmacht: die Patriotismusdebatte. Diese wurde übrigens nur noch durch Ihren neuen Generalsekretär getoppt, Herr Kollege Müntefering. Er hat nicht nur wie
der Bundeskanzler von mangelndem Patriotismus bei
der deutschen Unternehmerschaft gesprochen, sondern
er hat das Wort von den Vaterlandslosen in einer Presseerklärung benutzt. Ausgerechnet Sozialdemokraten sprechen von vaterlandslos!
({10})
Es ist bemerkenswert, dass Sie solche Begriffe in den
Mund nehmen.
({11})
- Das kann ich Ihnen sagen. Vaterlandslos und unpatriotisch sind nicht Unternehmen, die sich vor der Pleite
schützen wollen. Vaterlandslos und unpatriotisch ist Ihre
Politik, die Unternehmen ins Ausland treibt. Das ist die
eigentliche Lage in Deutschland.
({12})
Herr Müntefering, sparen Sie sich Ihre Zahlenspiele
mit 1, 8 und 18. Bei der Allensbach-Umfrage in der letzten Woche lag die FDP bei 8 Prozent und die SPD bei
24 Prozent. Ich gebe zu: Sie sind im Augenblick näher
an den 18 Prozent als wir; das ist leider wahr.
Ich will an dieser Stelle auf einen Punkt zu sprechen
kommen, über den Sie nicht reden wollen: die Lage in
Deutschland. Ich lese Ihnen aus einem Brief vor, der mir
in dieser Woche von einem deutschen Unternehmer
übergeben worden ist. Er wurde von Gersau in der
Schweiz angeschrieben. Dort heißt es offen und völlig
unverbrämt:
Hohe Steuerbelastungen führen in Deutschland
dazu, dass der Erblasser nur sehr beschränkt über
seinen Nachlass verfügen kann. Teilweise wird dadurch die geordnete Übergabe des Lebenswerks an
die Nachkommenschaft erschwert oder gar vereitelt.
Das Kanton Schwyz kennt keine Erbschaftsteuern.
Wir sind deshalb in der Lage, Ihnen Lösungen anzubieten, bei denen der Nachlass ungeschmälert den
Nachkommen übergeben werden kann. Wir sind
gerne bereit, Ihren Mandanten die Möglichkeit und
Vorteile eines allfälligen Umzuges nach Gersau aufzuzeigen.
Damit werben unsere Nachbarländer. Sie aber verabschieden sich vom Ziel der Steuersenkung und kündigen
innerhalb von 14 Tagen auch noch die Ausbildungsplatzabgabe, die Erhöhung der Erbschaftsteuer und die
Wiedereinführung der Vermögensteuer an. Das ist der
falsche Weg für dieses Land.
({13})
Deswegen hatten Sie völlig Recht, als Sie auf Ihrem
Parteitag gesagt haben, das sei ein Kulturkampf
zwischen Opposition und Regierung. Es ist ein Kulturkampf, das ist wahr. Es ist der Kampf der rot-grünen
Neidgesellschaft gegen eine Anerkennungskultur, die
Leistung befördert, belohnt und nicht bestraft. Wir sitzen
alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern.
Sonst kann man niemals soziale Gerechtigkeit in
Deutschland finanzieren.
({14})
Deswegen will ich Ihnen sagen: Erbschaftsteuer, Vermögensteuer, Mehrwertsteuer - Frau Simonis, immerhin
eine Ministerpräsidentin, hat angekündigt, dass die
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht werden
sollte -, all das sind Vorschläge, die Sie auf Ihre neue
Agenda setzen. Sie haben sich nach einem Jahr
Agenda 2010 von der Politik der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet. Sie sind auf dem
Weg zurück zur alten SPD. Das mag Ihnen das Leben
mit den Sozialdemokraten leichter machen, das Leben
für die Deutschen in Deutschland wird schwerer. Das ist
das traurige Ergebnis dieser heutigen Debatte.
({15})
Das Wort hat nun die Kollegin Katrin GöringEckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, das, was Sie uns gerade vorgetragen haben,
war die Rede vom letzten Jahr, vom vorletzten Jahr und
vom vorvorletzten Jahr. Es gibt nur einen Unterschied:
Sie haben nicht mehr diese Schuhe mit der Zahl 18 an,
von denen Herr Müntefering geredet hat, sondern Sie
laufen jetzt lieber in Stoppersocken, damit es ein bisschen weicher ist.
({0})
Herr Westerwelle, wenn Sie hier über Lobbypolitik
reden, dann möchte ich daran erinnern, warum Sie beim
Gesundheitskonsens ausgestiegen sind,
({1})
den die Union und die anderen Parteien mit allen Abstrichen mitgetragen haben. Sie sind ausgestiegen, weil es
plötzlich für Ihre Lobbypolitik zugunsten der Pharmaindustrie eng wurde. Das ist die Politik, die Sie betreiben:
ein bisschen Klientel-, ein bisschen Lobbypolitik, aber
keine Konzepte, sondern nur die alten Reden vom letzten und vom vorletzten Jahr.
({2})
Damit werden Sie nicht durchkommen.
({3})
Schauen wir uns kurz das an, was die Union heute gesagt hat. Ich habe der sehr detaillierten Rede von Frau
Merkel genau zugehört und ein bisschen ins Publikum
geschaut.
({4})
Es gab Leute, die geklatscht haben, es gab Leute, die mit
innerer Beteiligung geklatscht haben, und es gab Leute,
die gar nicht geklatscht haben. Da saß Herr Schäuble,
der immer dann, wenn es Beifall geben sollte, mit seinem Taschentuch hantierte,
({5})
und da saß Herr Merz, der sich immer dann, wenn es
Beifall geben sollte, umschaute, ob das jetzt wirklich
sein muss. Das ist die Situation in der Union. Sie haben
versucht, uns innere Zerstrittenheit vorzuwerfen. Aber
da hatten Sie einen freudschen Versprecher und sprachen
von der Zerstrittenheit innerhalb der Opposition. Das ist
richtig. Merkel, Merz, Stoiber, Koch, Schäuble ({6})
alle gegeneinander.
Es geht in der Union schon lange nicht mehr um Konzepte. Das haben Sie heute wieder bewiesen. Es geht in
der Union eigentlich nur noch darum, was man sagen
kann, damit man jemand anderen aus dem eigenen Laden besonders hart trifft. Das ist die Realität. Wir kümmern uns um Deutschland.
({7})
Wir kümmern uns um die Konzepte und darum, wie es
vorangeht. Sie kümmern sich um sich selbst. Ihr Laden
ist nichts anderes als eine Was-nützt-Merkel-Partei. Damit müssen wir uns auseinander setzen.
({8})
Frau Merkel, ich will an eines erinnern. Ich habe am
letzten Sonntag Ihr Interview in der „Welt am Sonntag“
gelesen.
({9})
In dem Interview wurden Sie gefragt, Frau Merkel: War
das Ja zum Irakkrieg eigentlich richtig?
({10})
Frau Merkel hat darauf geantwortet: Wir wollen nicht
mehr darüber reden, sondern lieber nach vorne blicken.
Das ist alles Vergangenheit.
Frau Merkel, ich bin überzeugt davon,
({11})
dass die Menschen in diesem Land ein Recht darauf haben, zu erfahren, ob Sie immer noch derselben Meinung
sind wie damals. Ich bin überzeugt davon, dass die Menschen ein Recht darauf haben, zu erfahren, was gewesen
wäre und was heute wäre, wenn Sie damals regiert hätten. Dann hätten Hunderte von deutschen Soldaten im
Irak in einem Krieg gestanden, der sich auf nichts anderes gründet als auf Lügen. Das ist die Realität.
({12})
Wir wollen von Ihnen wissen, Frau Merkel, wie Sie
heute dazu stehen. Das kann man wohl verlangen.
({13})
Ähnlich ist es im Hinblick auf Ihre Auslassungen zu
Europa, Frau Merkel.
({14})
Sie haben hier festgestellt, dass gerade in Osteuropa am
1. Mai gefeiert wird. Das glaube ich auch. Aber es gibt,
ehrlich gesagt, einige Leute, denen das Feiern im Halse
stecken geblieben ist.
({15})
- Dass sie nicht feiern können, Herr Glos, hat mit jemandem aus Ihren eigenen Reihen zu tun, nämlich mit Frau
Steinbach.
({16})
Frau Steinbach wird nicht nur in dieser Republik, sondern auch in Polen als diejenige wahrgenommen, die mit
einem Zentrum für Vertreibung
({17})
das zarte Pflänzchen der guten deutsch-polnischen Beziehungen zerstören will.
({18})
Frau Steinbach sorgt für Verunsicherung. Wir wollen
aber ein gemeinsames Europa, in dem es solche Verunsicherungen und Verunglimpfungen der Geschichte nicht
gibt. Wir wollen, dass die Brücke über die Oder beschritten werden kann; wir wollen nicht, dass neue Mauern
gebaut werden.
({19})
Wenn Sie wirklich wollen, dass am 1. Mai auch in Polen
aus vollem Herzen gefeiert werden kann, dann erwarte
ich von Ihnen, dass Sie Frau Steinbach und Herrn Koch,
der genauso argumentiert, endlich stoppen.
({20})
Frau Merkel, auch das, was Sie in der Innenpolitik
machen, ist nicht besser. Ihre Konzepte dienen dem Eigennutz und spiegeln den Streit in den eigenen Reihen
wider. Es geht dabei um die Kopfpauschale und um den
Bundespräsidenten.
({21})
Das war ein Theater. Man könnte fast sagen, es ging darum, wer in der Klamotte, die dabei aufgeführt worden
ist, die beste Nebenrolle hatte: Angela, Edmund oder
Guido? Herr Westerwelle, ich glaube, Sie können froh
sein, dass wir den Meisterzwang weitestgehend abgeschafft haben. Sonst wären Sie mit Ihrem Meisterstück
und der Meisterprüfung bei der Aufstellung eines Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl sicherlich nicht
durchgekommen.
({22})
Aber eines muss klar sein, wenn Sie in der Innenpolitik - auch bei der inneren Sicherheit - wieder die alten
Kamellen bringen. Wir haben die Anschläge in Madrid
erlebt. Viele Menschen in unserem Land haben Angst.
({23})
Ich meine, das müssen wir sehr ernst nehmen.
Meine eigenen Kinder, die jeden Tag mit dem Zug
fahren, haben danach gefragt, was das eigentlich für sie
bedeutet und ob sie auch gefährdet sind. Deswegen sage
ich: Wir haben verstanden, dass die Menschen Angst haben; es muss klar sein, dass eventuell bestehende Gesetzeslücken geschlossen werden müssen.
({24})
Ich will Ihnen aber sagen, was auch klar sein muss!
Es reicht nicht, einmal kurz nachzudenken, ohne sich mit
der Sache wirklich zu beschäftigen, und dann die alten
Klamotten wieder herauszuholen. Die beste alte Klamotte, die Sie immer wieder herausholen, ist der Einsatz
der Bundeswehr im Inneren. Glauben Sie, wir hätten
in Deutschland auch nur ein bisschen mehr Sicherheit,
wenn wir einen Panzer vor einen Bahnhof stellen und
Wehrpflichtige in Zügen patrouillieren lassen?
({25})
Das ist nicht der richtige Weg. Es geht vielmehr darum,
über die Möglichkeiten nachzudenken, mit denen die Sicherheit wirklich erhöht werden kann. Es geht nicht um
Symbolpolitik und um alte Kamellen.
({26})
Ich habe von Ihnen auch nichts zu dem gehört, Frau
Merkel, was die meisten Leute im normalen Leben in
dieser Republik am allermeisten umtreibt. Das sind die
Fragen, wie es unseren Kindern geht und wie es mit der
Kindererziehung und der Bildung weitergeht. Dazu haben Sie nichts gesagt. Sie haben sich ein bisschen über
Forschung und Innovationen ausgelassen, aber Sie haben die Fragen der Familien übergangen und außen vor
gelassen. Das ist wahrscheinlich die neue Art der Familienpartei CDU.
Wenn wir es weiterhin zulassen, dass 72 Prozent der
Kinder aus besser gestellten Familien Abitur machen
und dass diejenigen, die aus den Unterschichten stammen, nicht weiterkommen, weil sie keine Chancen haben, dann ist das ein Skandal. Das ist eine richtige Sauerei. Dazu sage ich: Man muss sich gemeinsam
anstrengen; das kann man nicht einfach übergehen
- auch nicht im Deutschen Bundestag - nach dem
Motto: Wir sind ja nicht zuständig.
({27})
Lassen Sie uns kurz nach Bayern schauen - Claudia
wird es mir verzeihen -:
({28})
Nur 30 Prozent der Jugendlichen dort machen Abitur. In
Großbritannien, in den USA und im Rest der Republik
ist das anders. Ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bayern wirklich blöder sind als alle anderen.
({29})
Es kommt darauf an, dass wir dann, wenn die Kinder
ganz klein sind, anfangen. Deswegen ist es so wichtig,
sich um die Kinderbetreuung der unter Dreijährigen zu
sorgen. Ich persönlich finde: Dabei soll man nicht nur
mit Bitten, mit den Wünschen nach Zusammenarbeit
und mit Parolen arbeiten. Ich glaube, was die unter Dreijährigen angeht, brauchen wir für bestimmte Gruppen
ganz klar einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung,
damit sich in diesem Bereich wirklich etwas ändert, damit in Deutschland wirklich mehr Kinderbetreuungsplätze entstehen und damit das Geld, das in die Kassen
der Kommunen fließt, wirklich für Kinderbetreuungsplätze eingesetzt wird. Das ist nötig, um die gesellschaftliche Realität zu verändern. Man sollte nicht hinterher reparieren, sondern unten, bei den ganz Kleinen, anfangen.
({30})
Es kommt auf die Migrantenkinder und auf die Kinder
aus den Unterschichten an.
Außerdem kommt es darauf an, dass in Deutschland
Beruf und Familie endlich vernünftig vereinbart werden
können.
({31})
Ich weiß, dass die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie immer ein bisschen ideologisch gesehen wird,
gerade in Ihren Reihen. Darüber ist man leider noch immer nicht hinweg. Man kann es auch einmal ganz ökonomisch betrachten: 1 Euro, der in Kinderbetreuung investiert wird, bringt am Ende 4 Euro, die man wieder
herausbekommt. Die Frauenerwerbstätigkeitsquote hat
nämlich auch mit dem Wachstum der Gesellschaft zu
tun. Das kann man in anderen Ländern erkennen.
Schauen Sie nach Frankreich! Wenn wir wirklich
Wachstum wollen, dann müssen wir die Rahmenbedingungen an genau dieser Stelle ändern und dann dürfen
wir nicht auf ein paar Chimären schauen.
Sie haben die Grüne Gentechnik angesprochen - normalerweise reden Sie gern über die Atomenergie -: In
diesen Bereichen wird es weder zu Wachstum noch zu
neuen Arbeitsplätzen kommen. Dem entgegenzuwirken
ist nicht die Aufgabe der Politik. Wir müssen vielmehr
die Rahmenbedingungen ändern. Dafür sind wir da; das
ist unsere Aufgabe.
({32})
Wollen wir wirklich, dass mehr Kinder geboren werden? Natürlich wollen wir das! Ich finde, wir sollten alles dafür tun. Wir sollten unsere Kinderbetreuung und
unsere Schulen verbessern; wir sollten dafür sorgen,
dass man in Deutschland wieder Lust bekommt, mit
Kindern zu leben. Ich glaube, das können wir, und ich
glaube, das würde der Kultur in unserem Land wirklich
gut tun.
({33})
Ich komme auf das Thema Zuwanderung zu sprechen. Über ein Zuwanderungsgesetz wird jetzt intensiv
verhandelt. Ich hoffe sehr, dass wir zu einem Ergebnis
kommen. Ich sage Ihnen dazu auch eines: Wenn man die
Integration von Zuwanderern nur mit Strafen und mit
Sanktionen in Zusammenhang bringt, dann werden wir
nicht weiterkommen.
({34})
Die Integration ist die zentrale gesellschaftliche Frage,
die wir in vielen Stadtteilen und an vielen Orten dieser
Republik beantworten müssen. Wenn wir es nicht schaffen, die gesellschaftliche Integration zu verbessern, dann
fällt unsere Gesellschaft auseinander. Deswegen geht es
hier darum, Angebote zu machen, die angenommen werden müssen. Aber es geht nicht darum, dort Strafen anzudrohen, wo keine Angebote sind. Darauf wird es in
den anstehenden Verhandlungen ankommen.
({35})
Außerdem kommt es auf die Bewältigung der humanitären Fragen an. In einer offenen Gesellschaft muss
man über die Frage der Humanität reden. Ich hoffe, dass
wir auf diesem Gebiet zusammenkommen. Ich hoffe
auch, dass wir auf dem Feld der Arbeitsmigration einen
kleinen Schritt vorankommen. Viele sagen dazu jetzt:
Der Tiger, der springen soll, ist nur noch sehr klein. Ich
bin trotzdem überzeugt: Dieses Gesetz wird ein erster,
ein wichtiger Schritt sein. Ich hoffe sehr, dass wir nicht
nur unserer Gesellschaft, sondern auch der Wirtschaft
den Gefallen tun, dass in diesem Bereich etwas vorangeht.
Ich bin der Meinung, dass wir der Wirtschaft nicht jeden Gefallen tun sollten. Manchmal hat man das Gefühl,
dass jeden Tag etwas Neues oder auch immer wieder das
Alte gefordert wird und dass, nachdem die Forderungen
erfüllt worden sind, ein paar Wirtschaftsfunktionäre wie
die beiden Onkel in der „Muppet-Show“ auf dem Balkon
sitzen und meckern. Dazu kommen ein paar Ehrengäste:
Frau Merkel und besonders Herr Westerwelle.
({36})
In der gegenwärtigen Situation in Deutschland stehen
30 000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da. Angesichts dessen frage ich mich: Worin besteht der Beitrag
der Wirtschaft dazu, damit es in unserem Land weitergeht?
Herr Westerwelle, der Bundeskanzler hat im letzten
Jahr nicht gesagt, dass er gegen eine Ausbildungsplatzumlage sei. Er hat vielmehr gesagt: Wenn wir
keine andere Möglichkeit haben, wenn die notwendigen
Ausbildungsplätze nicht entstehen, dann müssen wir für
eine gesetzliche Regelung sorgen. Genau das müssen
wir jetzt möglicherweise tun, und zwar nicht weil wir
das wollen oder weil wir darüber nachgedacht haben,
wie wir der Wirtschaft besonders gut schaden können,
sondern weil es keine andere Möglichkeit gibt, dafür zu
sorgen, dass betriebliche Ausbildungsplätze in ausreichendem Maße in Deutschland entstehen. Es geht darum, dass die Jugendlichen nicht auf die Straße geschickt werden oder auf dem Sofa sitzen, dass sie also
nicht zu denjenigen gehören, die keine Chance haben.
Deswegen muss für eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen gesorgt werden.
({37})
Wenn man sich die heutigen Äußerungen zu den sozialen Fragen anschaut, dann stellt man wieder fest, dass
es mit der Einigkeit in der Union nicht weit her ist. Zur
Rentenversicherung ist von Ihnen nicht viel gesagt
worden. Sie trauern noch immer um den demographischen Faktor. Wenn dieser in die Rentenformel eingeführt worden wäre, dann läge der Beitragssatz in der
Rentenversicherung heute deutlich über 21 Prozent. Tatsächlich liegt er bei 19,5 Prozent. Sie können Ihre Trauer
ruhig weiter pflegen. Aber uns interessiert schon, welches Konzept Sie eigentlich haben, welche Vorstellungen Sie haben, wie es mit der Rentenversicherung weitergehen soll. Ich glaube, das interessiert auch die
Bürgerinnen und Bürger.
Wie es mit der Gesundheitsreform weitergehen soll,
haben Sie deutlich gemacht, jedenfalls diejenigen von
Ihnen - es sind nur ein paar -, die die auf dem letzten
Parteitag gefassten Beschlüsse mittragen. Herr Seehofer
gehört sicherlich nicht dazu. Die Alternative ist: Kopfpauschale oder Bürgerversicherung. Ich habe mir alle
Ihre Konzepte - das Herzog-Konzept, das Merz-Konzept und den Masterplan von CDU und CSU - genau angeschaut und dabei ist mir eines aufgefallen: In allen
Konzepten kommt zwar die Kopfpauschale vor, aber an
keiner Stelle wird deutlich, wie der soziale Ausgleich
funktionieren soll, vor allem wie er bezahlt werden soll.
Frau Merkel, das sagt mir, dass Sie gar keinen sozialen
Ausgleich wollen. Das ist es, was Sie tatsächlich vorhaben. Sie wollen eine andere Republik. Sie sollten so ehrlich sein und das auch sagen.
({38})
Wenn wir über die Zukunft der Gesellschaft reden,
dann müssen wir zwei Dinge berücksichtigen. Zum einen wird die Gesellschaft älter. Man sollte nicht verschweigen, dass aufgrund dessen die meisten Arbeitsplätze in Zukunft im Gesundheits- und Pflegebereich
entstehen werden. Dort werden qualifizierte Menschen
aus unserem Land gebraucht, die auch bereit sind, die
Arbeit zu tun. Zum anderen wird sich die Gesellschaft
verjüngen. Darauf hoffen und setzen wir, weil auch dadurch Arbeitsplätze entstehen werden, zum Beispiel in
Kindergärten, in Schulen und im Bereich der Dienstleistungen für junge Familien, in denen Frauen berufstätig
sind. Frau Merkel, solche Arbeitsplätze haben nichts mit
Symbolthemen zu tun.
Ich möchte noch einmal auf die Grüne Gentechnik
zu sprechen kommen. Das, was Sie vorschlagen - wahrscheinlich ist das ein Beitrag zur deutsch-amerikanischen Freundschaft -,
({39})
wird letztlich nur dazu führen, dass amerikanische Unternehmen ihr Saatgut in Deutschland besser verkaufen
können. Wahrscheinlich haben Sie das gemeint, als Sie
über die Grüne Gentechnik und ihre Chancen geredet haben.
({40})
Wir müssen uns in der Tat um die Arbeitsplätze kümmern, die hier entstehen können. Es gibt einen sehr großen Bereich, in dem ziemlich viele Arbeitsplätze entstanden sind. Das ist der Umweltbereich. Die Koalition
hat sich entschieden, nicht nur für eine soziale, sondern
auch für eine ökologische Erneuerung zu sorgen. Es geht
nicht mehr um die Auseinandersetzung aus den 70erJahren, also nicht um Arbeitsplätze gegen Umwelt, sondern um Arbeitsplätze, die tatsächlich entstehen. Es geht
um Arbeitsplätze, die entstehen, weil wir die Lohnnebenkosten durch die Ökosteuer gesenkt haben. Es geht
um Arbeitsplätze, die entstehen, weil wir in Wärmedämmung investiert haben. Es geht um 100 000 Arbeitsplätze, die im Bereich der erneuerbaren Energien entstanden sind.
({41})
Sie können das alles ruhig als grünen Vorgarten bezeichnen. Aber schauen Sie sich einmal an, was BMW,
die Deutsche Lufthansa und die Deutsche Bahn vereinbart haben, in welche Zukunfts- und Innovationstechnologien sie investieren wollen. Diese Unternehmen gehen
davon aus, dass es in Zukunft zwei große Problembereiche gibt. Der eine ist der Transport- und Logistikbereich - hier muss man über neue Wege diskutieren - und
der andere ist eine neue Brennstofftechnologie. Das hat
nichts mit grünem Vorgarten zu tun. Hier kann man vielmehr Geld in Deutschland verdienen. In diese Projekte
sollte man investieren.
({42})
Wenn man über Logistik der Zukunft redet, dann redet man auch über eine andere Lebensweise. Es wird in
Zukunft immer öfter so sein, dass man die CD bei Amazon, die Bücher bei Libri, die Unterwäsche beim OttoVersand und die Gartengeräte bei Manufactum bestellt.
({43})
Das alles kommt dann irgendwie an. Hoffentlich muss
dann nicht jemand den ganzen Tag zu Hause sein und
auf das Paket warten.
Es gibt also große Herausforderungen an die Logistik
in Deutschland. Ich glaube, dass wir da vorn sein können, auch wenn es ein paar große Unternehmen in
Deutschland nicht geschafft haben, das Mautsystem so
schnell auf eine vernünftige Grundlage zu stellen, wie
sich das wahrscheinlich alle hier gewünscht hätten.
Diese Chance bei der neuen Logistik sollten wir ergreifen. Da sollten wir aktiv werden.
Ich will ein Thema ansprechen, das in diesen Tagen in
der Öffentlichkeit eine große Rolle spielt, nämlich den
Emissionshandel. Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Zeit
als Umweltministerin nicht besonders viele große Erfolge gehabt. Ein großer Erfolg war sicherlich die Unterzeichnung des Kioto-Protokolls. Es geht hierbei nicht
um eine grüne Hobbyveranstaltung oder etwas, das wir
uns gerade ausgedacht haben, sondern es geht um eine
internationale Verabredung, es geht um eine europäische
Verabredung. Wir wollen nicht vor allen anderen herlaufen, sondern es geht um unsere Verpflichtung zum Klimaschutz und gleichzeitig um die Rücksichtnahmen auf
die Interessen der Industrie. Herr Töpfer ist dafür. Viele
der Unternehmen haben bei den Verhandlungen darüber
zu erkennen gegeben, dass sie sich vorstellen können, innerhalb dessen, was verabredet worden ist, tätig zu werden. Aber eines muss man auch sagen: Die Industrie
selbst war mit ihrer Selbstverpflichtung natürlich sehr
viel ehrgeiziger, als das heute der Fall zu sein scheint.
Wir werden am Ende eine Verabredung haben - da
bin ich sehr zuversichtlich -, bei der wir die wirtschaftlichen Interessen mit dem Klimaschutz vereinbaren. Es
geht darum, dass die Emissionen reduziert werden. Wir
haben diese Verantwortung international, wir haben sie
europäisch und wir werden ihr in Deutschland - da können Sie ganz sicher sein - gerecht werden.
({44})
Herr Töpfer ist dafür. Frau Merkel war dafür - das
muss man sicherlich sagen -, aber jetzt ist Merkel nur
noch für Merkel. Sie werden sich ja wahrscheinlich noch
ein bisschen über die Kanzlerfrage unterhalten, über
Merz, Merkel, Stoiber, Koch, wie auch immer das ausgehen mag.
({45})
- Nach dem heutigen Tag - das kann man sicherlich so
sagen - ist wieder alles offen.
({46})
Wir als Regierung werden es Ihnen in diesem Streit nicht
leicht machen. Sie können ihn in aller Ruhe führen.
Wir werden uns weiter für gesellschaftlichen Zusammenhalt und dafür einsetzen, dass das Land erneuert
wird, aber gegen eine reine Ökonomisierung der Gesellschaft, wie Sie sie wollen. Sozialstaatsreformen kann
man nicht nur mit dem Taschenrechner machen. Man
muss sie auch mit dem Herzen machen. Wir wollen den
sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Wir wollen die
soziale und ökologische Erneuerung. Sie können in dieser Zeit mit den besagten Herren frühstücken. Sie frühstücken, wir regieren.
({47})
Sie reden über die Kanzlerfrage, wir handeln. Daran
werden Sie sich gewöhnen müssen, auch über das Jahr
2006 hinaus. Wie heißt es ab jetzt? - Wenn Sie regieren
würden, wäre das Mist. Dann muss man am Ende einer
Rede jetzt auch immer noch sagen: Glück auf!
Ich danke Ihnen.
({48})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Glos für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gern wieder an
die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und daran
anknüpfen, wie Deutschland zu mehr Stärke kommt.
Während Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler, war eine
gewisse Unlust spürbar, nicht nur bei Ihnen selbst, sondern auch auf der linken Seite.
({0})
Über der Veranstaltung lag irgendwie so ein Hauch von
Tausendundeiner Nacht.
({1})
Wenn man alles das, was Sie gesagt haben, für bare
Münze nähme, dann wären die Verhältnisse in unserem
Land in Ordnung. Leider ist das nicht so.
Die Rede heute hat gezeigt - den Eindruck habe ich -,
dass man Reformen eigentlich satt hat und vom Reformbedarf ein Stück Abstand nehmen will, um wieder in ein
ruhigeres Fahrwasser zu kommen. Herr Bundeskanzler,
Sie haben vor der letzten Bundestagswahl eine Zeit lang
- wir haben es erlebt - die Politik der ruhigen Hand
praktiziert. Ich muss sagen: Ihre Hand ist ruhig geblieben, nur Deutschland hat dabei das Zittern gelernt. Das
ist die eigentliche Schwierigkeit.
({2})
Es geht nicht um die Befindlichkeit Einzelner, sondern
es geht insgesamt darum, wie wir unser Land, das in einem sehr schwierigen Zustand ist, wieder nach vorne
bringen.
Ich glaube auch nicht, dass Sie, Herr Müntefering,
jetzt alle Reformen stoppen und verwässern sollten, um
Ihre Partei zufrieden zu stellen. Vielmehr muss meiner
Meinung nach noch mehr getan werden, als im Zuge der
Agenda 2010 getan worden ist.
({3})
Es wäre eine Selbsttäuschung, zu glauben, wenn sich
Deutschland nicht mehr bewegte, würde sich auch um
uns herum nichts mehr bewegen. Die anderen bewegen
sich weiter. Wenn ich mir die SPD anschaue, habe ich
den Eindruck - ich weiß, dass es sehr viel Mühe bereitet
hat -, dass die gesamte Bewegung auf dem Laufband
stattgefunden hat. Wenn man das schneller stellt, kommt
man zwar furchtbar ins Schwitzen, was der eigenen Gesundheit dienen mag, aber trotzdem wird man feststellen, dass man im Ergebnis überhaupt keinen Schritt nach
vorne gekommen ist. Aber in unserem Land brauchen
wir ganz dringend ein Vorankommen.
({4})
- Ich weiß, Herr Tauss, dass Ihre Zwischenrufe aufgrund
Ihrer Stimme immer durchdringen.
({5})
Aber der Inhalt ist meistens sehr schlecht.
({6})
Schließlich lassen Sie mich hierzu noch sagen: Es
gibt Bewegung in diesem Land, nämlich die Bewegung
von Arbeitsplätzen: Wir haben 300 000 Arbeitsplätze
weniger. Nun weiß ich, dass nicht alle Arbeitsplätze abgewandert sind, sondern ein Teil auch entfallen ist. Frau
Kollegin Merkel und ich hatten unlängst ein Gespräch
mit Vertretern der großen Energieerzeuger. Diese sagten, bevor sie auslaufende Kraftwerksleistungen ersetzten, müsse man natürlich analysieren, was in diesem
Land künftig noch produziert und wie viel Energie dafür
gebraucht wird. Wenn Arbeitsplätze wegfallen, entfällt
natürlich auch immer mehr Energiebedarf. So kann ich
den Bedarf überall herunterbrechen. Ich glaube aber, damit kann ein Land auf Dauer nicht leben und zurechtkommen. Deshalb meine ich, dass die Bewegung, das
Vertreiben von Arbeitsplätzen gestoppt werden muss.
({7})
Vor allen Dingen muss man in der Bundesregierung
damit aufhören, sich selbst gegenseitig zu blockieren.
Ich hoffe, Sie lösen den Konflikt zwischen Clement und
Trittin in dem Sinne auf, dass Arbeitsplätze in Deutschland bleiben,
({8})
und nicht in dem Sinne, dass das Parteiprogramm einer
Partei verwirklicht wird. Ihre Rede, Frau GöringEckardt, war mit Verlaub, gnädige Frau, keine Rede, die
jemanden ermutigt hätte, in Deutschland zu investieren.
Das war eigentlich eine Zusammenfassung der Vorurteile und Bedenken, die es gibt. Vielleicht war diese
Rede auch nach innen gerichtet und ist mit Blick auf einen Parteitag der Grünen gehalten worden.
({9})
Wenn wir alle nur für unsere eigene Klientel und unsere
eigenen Anhänger sprechen und dabei die deutschen Interessen aus dem Auge verlieren, kommen wir in unserem Land nicht vorwärts.
({10})
Das Jahr seit Verkünden der Agenda 2010 war auch
von SPD- und koalitionsinternen Flügelkämpfen
geprägt, die bis heute anhalten. Da werden Sie, Herr
Müntefering, ein Stück Arbeit zu leisten haben. Ich sehe
auch mit einer gewissen Sorge, dass sich innerhalb der
SPD Abspaltungstendenzen breit machen. Da gibt es
einen Menschen, der Ernst heißt und aus Schweinfurt
kommt; er ist dort der IG-Metall-Häuptling.
({11})
Ich beobachte seine Umtriebe und würde den Mann an
Ihrer Stelle ganz schön ernst nehmen, wie sein Name
schon sagt. Die Genossen von den Gewerkschaften meinen es zum Teil ernst und sagen das nicht einfach so dahin. Die haben nicht kapiert, dass wir uns ändern müssen, um so zu bleiben, wie wir sind, und stellen natürlich
innerhalb der SPD eine starke Kraft dar. Ich kann nur
hoffen, dass Sie sich nicht beirren lassen. Die große Sozialdemokratische Partei hat ja eine Tradition, gemäß der
sie für Arbeit in Deutschland und nicht nur für Machterhalt eintritt. Wenn es nicht anders geht, dann konzentrieren Sie sich auf Ihre Kernkompetenzen. Nach der verlorenen Wahl, die mit Blick auf Deutschland, wie ich
hoffe, bald kommt, können Sie dann ja aus der Kernkompetenz heraus, falls wir nach vielen Jahrzehnten mal
versagen sollten, wieder neu nach der Macht greifen.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
noch einmal auf den Bundeskanzler zurück. Herr Bundeskanzler, Sie haben am 14. März 2003 erklärt - ich zitiere -:
Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuversicht in Europa werden …
So weit Ihre Aussage. Unter Ihrer Führung, Herr Bundeskanzler, ist unser Land zu einer Nation der Verzagtheit und Mutlosigkeit geworden. Das bereitet Sorge. Ich
glaube, in Deutschland ist nur die Stimmung schlechter
als die Lage. Natürlich ist eine schlechte Stimmung typisch deutsch. Aber wenn man eine Regierung hat, die
nicht mit Wahrheit und Klarheit operiert, die den Menschen Sand in die Augen streut, dann muss man sich
nicht wundern, wenn sich Investoren und Konsumenten
zurückhalten.
({13})
Der SPD-Parteitag
({14})
war gut. Das war einer Ihrer langen Sätze, Herr Kollege
Müntefering.
({15})
- Sie kopieren ihn schon.
({16})
Auch der SPD-Parteitag hat natürlich nichts nach
vorne gebracht. Er hat im Grunde neuen Richtungsstreit
vorprogrammiert; denn es wird einen Richtungsstreit geben zwischen den Traditionalisten, die glauben, man
könne die heile Welt, die heile Gewerkschaftswelt in einen abgeschotteten Bereich zurückbringen, und denen,
die einsehen, dass wir uns ändern müssen, damit die
deutsche Volkswirtschaft wieder stark wird.
Ich nenne Ihnen einmal die Verunsicherungen, die
auf uns lasten:
Die Verunsicherung Nummer eins resultiert aus der
bewussten Realitätsverweigerung vor der Bundestagswahl 2002, als es hieß: Alles in Ordnung. Man muss den
Menschen vorher sagen, was auf sie zukommt und was
sich tut.
Die Verunsicherung Nummer zwei resultiert aus der
vorsätzlichen Täuschung der Menschen über den wahren
Reformbedarf unseres Landes. Es hieß nämlich damals:
Weiter so, Deutschland!
Die Verunsicherung Nummer drei geht zurück auf die
Konzeptionslosigkeit, die Flickschusterei und das permanente Nachbessern und Verändern der Reformansätze, wie wir es im letzten Jahr erlebt haben.
({17})
Ich bin der Meinung, dass die Bilanz der Agenda 2010
ein Jahr nach ihrer Ankündigung leider nicht gut ist. Verbraucher und Investoren halten sich zurück, der erhoffte
psychologische Schub, den wir brauchen, ist leider ausgeblieben. Ich befürchte, dass es auch in diesem Jahr zu
keinem grundlegenden Wandel kommen wird, weil die
Wirtschaftslage sehr viel schlechter ist, als es regierungsamtlich dargestellt wird. Wenn Sie sich mit Unternehmen bzw. deren Repräsentanten - ganz egal, ob großen Unternehmen, Handwerksbetrieben oder dem
Mittelstand - unterhalten, stoßen Sie immer auf die gleiche schlechte Stimmung und die gleiche Zukunftsangst.
Ich befürchte, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen
unseres Landes gerade durch die EU-Osterweiterung rascher vorangehen wird, als es vorher der Fall gewesen ist.
Die offizielle Arbeitslosenstatistik ist geschönt. Wir
wissen, dass wir in Wirklichkeit 5 Millionen Arbeitslose
haben. Die Zahl von 4,3 Millionen, die jetzt genannt
wird, ist nur statistischen Tricks zu verdanken. Wir wissen, dass wir im letzten Jahr mit 40 000 Unternehmensinsolvenzen - nicht nur beim Mittelstand, sondern
auch bei großen Firmen, bis hin zu Holzmann - einen
neuen Pleiterekord erreicht haben. Es ist vorhin schon
gesagt worden: Wer pleite ist, kann nicht mehr ausbilden. Die Zahl der Ausbildungsplätze steigt nicht, wenn
eine neue Bürokratie aufgebaut wird. Im Gegenteil, viele
Firmen werden glauben, sich von der Ausbildung freikaufen zu können. Dadurch ist die Wirkung für die jungen Leute noch verheerender als ohnedies.
({18})
Herr Bundeskanzler, Sie dürfen gerne gehen; ich habe
Verständnis für Ihre Zeitprobleme.
({19})
- Dafür bedanke ich mich sehr. - Ich habe Ihnen allerdings eineinviertel Stunden in der Hoffnung zugehört,
dass ich viel Neues dabei lerne, weil ich noch immer
neugierig bin.
Aber lassen Sie mich bitte zum Inhalt meiner Rede
zurückkommen. Ich meine, dass die Prognose von 2 Prozent Wirtschaftswachstum, die Sie abgegeben haben,
Herr Bundeskanzler, leider unrealistisch ist. Die Forschungsinstitute rücken schon davon ab. Der Höhenflug
der Börse vom Jahresanfang ist schon gestoppt. Die
Neuemissionen werden zurückgezogen; auch heute gab
es wieder eine entsprechende Nachricht. All das ist nicht
gut für die Stimmung im Land. Die Beschimpfung von
Unternehmern führt überhaupt nicht weiter. Die Diskussion über die „vaterlandslosen Gesellen“ fand ich lächerlich. Wenn dem so wäre, Herr Bundeskanzler, dann wären Sie der Reiseleiter der vaterlandslosen Gesellen;
({20})
denn Sie hatten in China 100 Unternehmer dabei, um sie
auf die dortigen Investitionsmöglichkeiten hinzuweisen.
Sie würden es sich nie antun, vaterlandslose Gesellen zu
führen. Sie haben es sich schon angetan, die SPD zu führen.
({21})
Ich weiß, dass man sehr rasch missverstanden werden
kann.
Ob Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze oder Haushaltskonsolidierung: Bei allen entscheidenden makroökonomischen Daten befindet sich Deutschland leider
auf einem Abstiegsplatz in Europa. Ich glaube, wir sollten uns die Lage nicht künstlich schönreden. Das führt
nämlich zu überhaupt nichts.
Seit Wochen schon werden der Eurokurs und die
Zinsen zu einem möglichen Aufschwunghindernis erklärt. Diese Faktoren spielen natürlich eine Rolle. Ich
will die Wirkung des gestiegenen Eurokurses überhaupt
nicht bagatellisieren. Aber die Ausrede, soundso viel
Prozent unserer Exporte gingen in die USA, kann ich
nicht gelten lassen; denn die Importe in unser Land sind
sehr viel billiger geworden.
Wissen Sie, wer inzwischen vaterlandslos geworden
ist? - Das sind die deutschen Verbraucher. Sie glauben
Sprüchen wie „Geiz ist geil“ und kaufen die Konsumgüter im Allgemeinen bei großen Handelsketten, deren
Produkte zum großen Teil aus China kommen. Das zeigt
auch, wie schwierig es ist, bei solchen Sachverhalten
zwischen Wirkung, Wechselwirkung und Gegenwirkung
zu unterscheiden.
Betrachten wir einmal den Euro: Für einen Euro hat
man anfänglich 1,19 Dollar bekommen. Jetzt liegt der
Kurs zwischen 1,23 und 1,25 Dollar. Das kann es also
auch nicht gewesen sein, was so viel verändert hat. Ich
meine daher, dass unsere Probleme nicht allein durch externe Faktoren, sondern vor allen Dingen - darauf will
ich eigentlich hinaus - durch die Verwerfungen im Innern bedingt sind.
Auch die schonungslose Bestandsaufnahme, was in
unserem Land tatsächlich los ist, und eine Analyse der
gegenwärtigen Situation haben gefehlt. Vielleicht war
es deswegen für Sie so schwierig, Herr Bundeskanzler,
die Agenda 2010 in Ihren eigenen Reihen durchzusetzen. Ich meine, dass Deutschland gewaltig über seine
Verhältnisse lebt. Die Produktivitätszuwächse unserer
Volkswirtschaft reichen nicht mehr aus, um den unvermeidbaren Strukturwandel zu bewältigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und sich im globalen Wettbewerb zu
behaupten. Dass Deutschland in diesem Bereich Boden
verloren hat, das werden selbst Sie, Herr Kollege
Stiegler, anschließend in Ihrer Rede nicht bestreiten können.
Ein Staat lebt über seine Verhältnisse, wenn er seine
konsumptiven Ausgaben - darunter verstehe ich vor allen Dingen Sozialleistungen und Personalkosten - nicht
mehr durch Steuereinnahmen, sondern durch Kreditaufnahme und Vermögensveräußerungen finanziert. Die
Flucht in immer höhere Steuern und Abgaben ist dem
Staat allerdings verwehrt, wie das unaufhaltsame Wachsen der Schattenwirtschaft, die gestiegene Neigung zur
Steuerumgehung, die Kapitalflucht und vor allen Dingen
die verstärkte Verlagerung von Betrieben ins Ausland
letztendlich zeigen.
Deswegen hat es auch der Finanzminister so schwer,
dem ich gestern Abend versprochen habe - im Moment
ist er leider nicht anwesend -, etwas Nettes über ihn zu
sagen.
({22})
Er schwitzt ebenfalls im Hamsterrad und kommt aus den
genannten Gründen keinen Meter vorwärts.
Es besteht kein Zweifel: Wenn ein Staat über seine
Verhältnisse lebt, dann muss die junge Generation die
Zeche zahlen. Das spüren die Jungen im Land. Das Problem, dass vielleicht die eine oder andere Fachkraft
nicht zuwandern kann, wird überbewertet. Ein großes
Problem ist allerdings, dass leistungsfähige junge Leute
diesem Land den Rücken kehren. Ihre Zahl beträgt
150 000 im Jahr; darunter befinden sich die Bestqualifizierten. Das gibt für die Zukunft Anlass zu Sorgen, Herr
Bundeskanzler. Darüber müssen wir sehr ernsthaft diskutieren.
({23})
Noch ein Wort zu den Steuern und Abgaben. Ich habe
unlängst - ich kann es belegen - eine Beschwerde einer
jungen Frau bekommen, die - wie ihr Mann - berufstätig
ist. Weil sie die Beste in ihrer Abteilung war, hat sie eine
Prämie von 8 000 Euro erhalten. Davon wurden ihr lediglich 2 400 Euro überwiesen. Fachkräfte, die aufgrund
ihrer Qualifikation die Möglichkeit haben, beispielsweise in die USA oder nach Großbritannien zu gehen,
ziehen weg, weil sie kein Verständnis dafür haben, wie
es in diesem Land zugeht.
({24})
Sie haben vorhin die Bundesbank gelobt, aus deren
Bericht für den Monat März ich zitieren will:
Im vergangenen Jahr erreichten die staatlichen Defizite und Schulden in Deutschland neue Höchststände … Der überwiegende Teil der Probleme ist
struktureller Natur und kann deshalb nur durch einen entschlossenen Konsolidierungskurs und tief
greifende Reformen überwunden werden.
Deswegen sollten Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Reformen weitermachen.
Noch ein paar harte Fakten: Im Jahr 2003 betrug das
Defizit im öffentlichen Gesamthaushalt rund 85 Milliarden Euro. Das sind circa 170 Milliarden DM. Neue Hiobsbotschaften zuhauf: zuletzt, dass der Bundesbankgewinn, der mit 3,5 Milliarden Euro prognostiziert war,
wegbricht. Das sind alles geringe Größen; keiner regt sich
mehr darüber auf. Der gesamtstaatliche Schuldenstand
beträgt 1,37 Billionen Euro und wächst ständig weiter.
Wie sollen da die jungen Leute Hoffnung bekommen?
Mit einer Defizitquote von 3,9 Prozent hat Deutschland den Referenzwert des europäischen Stabilitätspaktes beträchtlich verletzt. Wir werden diesen nicht so
schnell wieder erreichen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland war diese Defizitquote nur in den Jahren 1975 und 1981 höher. In beiden Jahren stellte die
SPD den Bundeskanzler, wie Sie vielleicht noch wissen.
({25})
Das nur zu der Geschichte - sie wird immer wieder erzählt -, dass all diese Schulden während der Kohl-Zeit
durch die deutsche Wiedervereinigung entstanden seien.
Die Fehler sind zum großen Teil von Sozialdemokraten
hausgemacht.
({26})
- Vielen Dank, Herr Tauss, dass Sie „Ja“ sagen.
({27})
Auch die im Haushaltsrecht verankerte Obergrenze
der Neuverschuldung nach Art. 115 Grundgesetz wurde
deutlich überschritten. Die Schulden des Bundes erreichten Ende 2003 eine Höhe von 760 Milliarden Euro. Das
heißt, mehr als jeder sechste Euro des Bundeshaushalts
wird inzwischen für Zinsen ausgegeben. Damit kann die
junge Generation nicht leben.
({28})
Deswegen ist Konsolidierungspolitik soziale Politik.
Das sollten wir den Menschen klarmachen.
({29})
Alles andere ist falsch und belastet die Zukunft.
In den öffentlichen Sozialversicherungssystemen
sieht es ähnlich aus. Nach mehrfacher Senkung der
Schwankungsreserve in der Rentenversicherung - Sie
wissen das - ist das Minimum inzwischen unterschritten
worden. Statt wie erhofft die Krankenversicherungsbeiträge zu senken, gibt es jetzt die Diskussion, welche
Krankenkassen überschuldet sind. Ich hoffe, es gibt ein
paar, die die Beiträge senken können.
Herr Bundeskanzler, eines wollte ich hier klarstellen:
Ich habe mich vor einem Jahr anlässlich der Diskussion
über die Gesundheitsreform dafür bedankt, dass Sie
sich quasi bei Horst Seehofer entschuldigt haben - ich
fand das sehr wichtig -, der im vorletzten Bundestagswahlkampf eine schwere Zeit durchgemacht hat, weil er
im Rahmen der Krankenversicherung das Instrument der
Selbstbeteiligung eingeführt hat. Wir spüren jetzt: Dies
ist wohl die einzige Möglichkeit, die die Menschen zu
sparsamerem Handeln veranlasst.
Nur darf man dann nicht sagen - das waren nicht Sie,
sondern Herr Müntefering, glaube ich, und andere Redner der Koalition -:
({30})
An all dem, was die Leute ärgert, ist Seehofer schuld,
und für das, was gut läuft, ist ursächlich Frau Schmidt
verantwortlich. Richtig ist: Gemeinsam ist man zu einer
Lösung gekommen. Wir haben damit ebenso wie später
im Vermittlungsausschuss gezeigt, dass wir wollen, dass
konsolidiert wird und dieses Land in Ordnung kommt,
und dass wir keine Blockierer sind. Wir bohren natürlich
keine Löcher in die Bordwand eines Schiffes, auf dem
wir selber sitzen. Nur, wenn manches in der administrativen Umsetzung falsch läuft, dann können wir uns dafür
nicht in Anspruch nehmen lassen.
Aber grundsätzlich stehen wir zu Ihrem Konsolidierungskurs. Bei all dem, was für die Konsolidierung und
die Zukunft wichtig ist, können Sie sich auf uns stärker
verlassen als auf die Sozialdemokraten. Wir wissen, was
wir unserem Vaterland schuldig sind.
({31})
Anlass zur Besorgnis bietet auch die geringe Investitionsquote der öffentlichen Haushalte. Wohin das
führt, merken die Leute, die immer häufiger über
Schlaglöcher und auf Autobahnen fahren müssen, auf
denen es mehr Staus als rasch fließenden Verkehr gibt.
Der Verfall der Infrastruktur, der mit dem Sparen am falschen Platz einhergeht, wird uns, aber vor allen Dingen
die künftige Generation belasten.
Ich meine, die Sozialleistungsquote ist viel zu hoch.
Auf diesem Gebiet muss konsolidiert werden. Wir können uns diese hohe Quote auf Dauer nicht leisten. Dass
es schwierig ist, dies bei den Betroffenen umzusetzen,
wissen wir selber und alle diejenigen, die konsolidieren
müssen.
Wir müssen vor allen Dingen das riesige Defizit auf
dem Arbeitsmarkt und im Bereich der Zukunftsinvestitionen beseitigen, das besteht, weil bei uns zu viel in
den öffentlichen Konsum fließt und zu wenig für produktive, zum Wachstum unseres Kapitalstocks beitragende Ausgaben zur Verfügung steht.
Ich sage es Ihnen noch einmal, Herr Bundeskanzler:
Wer so wirtschaftet, versündigt sich an der jungen Generation.
({32})
Das dürfen wir uns nicht vorwerfen lassen. Wir sind
praktisch an den Grenzen des Wohlfahrtsstaates angelangt. Dieser Wohlfahrtsstaat produziert aufgrund der
zuvor beschriebenen Umstände nicht mehr Wohlstand,
sondern er produziert immer mehr Ungerechtigkeit und
macht den künftigen Generationen das Leben schwer.
Deswegen tragen wir die Begrenzung der Sozialausgaben mit. Deswegen verspreche ich Ihnen noch einmal
unsere Unterstützung bei allen vernünftigen Reformen.
Ob Rot-Grün den Mut dazu hat, all die Vorhaben durchzuführen, die mannigfaltig auf dem Tisch liegen und zu
denen Ihnen viele Experten raten, wird sich zeigen.
Wenn Rot-Grün nicht den Mut hat, das zu tun, was getan
werden muss, hoffe ich, dass man dann zumindest den
Mut hat, den Weg frei zu machen, damit andere versuchen können, es im Interesse unseres Landes besser zu
machen.
Das wäre auch für uns - wenn Neuwahlen wären und
wir gewonnen hätten - kein leichter Weg.
({33})
Wir wissen, dass er ungeheuer schwer und mühevoll zu
gehen ist und dass es schlimm ist, wenn man den Menschen gewohnte Leistungen entziehen muss. Das wissen
auch wir in Bayern, wo das derzeit eine Rolle spielt, weil
wir einen ausgeglichenen Haushalt haben wollen. Die
Menschen dabei mitzunehmen ist nicht leicht. Ich finde
aber, dass das getan werden muss.
Herr Müntefering, Sie sind quasi eine Art Reservekanzler. Machen Sie dem Kanzler das Leben nicht
allzu schwer! Wenn Sie unterstützen, dann unterstützen
Sie eine vernünftige, zukunftsgerichtete Politik.
({34})
Tun Sie vor allen Dingen das, was der Bundeskanzler
zwar versprochen, aber leider nicht getan hat! Er hat gesagt: Erst das Land und dann die Partei. Demnach hätte
er auf die Kanzlerschaft verzichten und den Parteivorsitz
behalten müssen.
({35})
Danke schön.
({36})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Michael
Glos ist heute offenbar in der Verfassung,
({0})
wie er uns die Wirtschaft beschreibt: lustlos und depressiv.
({1})
Ich bitte Ulla Schmidt um ein Rezept für Johanniskraut
- das ist jetzt immer noch verordbar -, um seine Stimmung aufzuhellen.
({2})
Auf Michael Glos trifft zu - Wie hat Luther gesagt? -:
„Aus einem traurigen A… kommt kein fröhlicher F…“
({3})
Er hat Depressionen,
({4})
weil in Passau mehr Polizisten vor der Halle demonstriert haben, als drinnen Gäste waren. Das schlägt auf
seine Stimmung.
({5})
Michael Glos leidet an noch einer Krankheit, an der
„Dementia politica“.
({6})
Das ist nahe der retrograden Amnesie. Er stellt sich hierher, macht uns Vorschläge, erinnert sich aber scheinbar
nicht an die Zeit, als seine Partei zusammen mit Theo
Waigel und anderen dieses Land regiert hat. Wie kann
man hier anderen Ratschläge erteilen, wenn man selbst
in seiner Regierungszeit die Dinge, die man jetzt von anderen fordert, nicht erreicht hat?
({7})
Nur ein paar makroökonomische Daten: Wenn Sie damals die Preisstabilität erreicht hätten, die wir heute haben, hätten Sie Feste gefeiert. Dann wäre der Tanz ums
Goldene Kalb ein kleiner Event gewesen.
({8})
Heute wird darüber nicht geredet.
({9})
Sie jammern über Schulden. Ich empfehle dazu den
März-Bericht der Bundesbank. Darin ist eine wunderbare Kurve über die Verschuldungsentwicklung abgebildet.
Als Sie die Regierung übernahmen, standen die
Schulden bei 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Als
Sie sie an uns übergaben, waren es über 60 Prozent. Das
ist Verschuldungspolitik. Die haben Sie gemacht. Sie haben kein Recht, mit dem Finger auf andere zu zeigen.
({10})
Das Gleiche gilt für die Beschäftigung. Wer sich die
Statistik anschaut, sieht: Die Rekordhalter in der Arbeitslosigkeit waren Sie im Februar 1997, obwohl Sie
Hunderttausende ABM gemacht haben, um die Statistik
zu verschönern. Sie haben weiß Gott kein Recht, mit
dem Finger auf die heutige Regierung zu zeigen. Bei uns
sinkt die Arbeitslosigkeit. Sie sollten das nicht kritisieren. Sie sollten sich mit uns darüber freuen, dass das gelingt.
({11})
Das Gleiche gilt für die Beiträge. Die höchste Beitragsbelastung hatten wir in Ihrer Zeit. Der Rentenbeitrag lag über 20 Prozent. Alle Trends zeigten nach oben.
Wir haben die Rückentwicklung bei den Beiträgen eingeleitet.
Über die Steuern hat Franz Müntefering schon das
Notwendige gesagt. Bei Ihnen gab es die höchste Steuerund Abgabenlast. Das haben wir für Arbeitnehmer, aber
auch für Unternehmer - auch für das Handwerk, Ernst
Hinsken - deutlich geändert. Ihr würdet euch rühmen
und preisen lassen, wenn ihr das nur in Ansätzen erreicht
hättet.
({12})
Bei Forschung und Entwicklung ging es zu Ihrer Zeit
nach unten, zu unserer Zeit nach oben.
Was die Lebensverhältnisse anbetrifft: Während Ihrer
letzten Legislaturperiode sind die Nettoeinkommen der
Arbeitnehmer Jahr für Jahr gesunken. Zu unserer Zeit
sind sie Jahr für Jahr gestiegen - nicht wegen großartiger
Tarifverträge, sondern wegen der Steuer- und Beitragspolitik.
Sie sind schlechte Ratgeber. Als Sie handeln konnten,
haben Sie nichts zustande gebracht. Deshalb brauchen
wir Ihre guten Ratschläge heute nicht.
({13})
Sie sollten nicht die Sonthofen-Strategie weiterführen,
sondern fragen: Wie kommen wir weiter?
Ich bin dem Bundeskanzler dafür dankbar, dass er
darauf hingewiesen hat, dass es nicht nur Arbeitnehmertugenden, sondern auch Arbeitgebertugenden gibt. Es
gibt auch die Verantwortung der Wirtschaft. Man darf
daran erinnern, wer die Probleme der letzten Jahre mitzuverantworten hat.
Wer hat denn die Börsenblase verursacht, die mit
700 Milliarden Euro geplatzt ist? Das waren doch die famosen Investmentbanker, die den Hals nicht voll kriegen
konnten und die damit eine ganze Volkswirtschaft in
Mitleidenschaft gezogen haben.
({14})
Dann wollten sie sich mit hohen Abfindungen verdrücken. Sie waren doch immer stolz, den ShareholderValue gefördert zu haben. Schau dir an, was aus der stolzen Deutschen Bank, was aus der Hypo-Vereinsbank
geworden ist - dank dem Management dieser großartigen Leute. Sie haben allen Anlass, Buße zu tun und
zu schauen, dass die Veranstaltung wieder in Ordnung
kommt.
({15})
Meine Damen und Herren, wir wollen dafür sorgen,
dass diejenigen, die etwas unternehmen wollen, wieder
auf die Beine kommen.
Sie beklagen die Konkurse. Creditreform sagt uns:
75 Prozent der Konkurse haben Fehler im Management
zur Ursache - mangelndes Controlling, keine anständige
Buchhaltung, keine Unternehmensplanung, keine strategische Ausrichtung. Wir verlangen Qualitätsverbesserungen nicht nur bei den Arbeitnehmern. Auch die Unternehmer und Mittelständler haben an sich zu arbeiten.
Da gab es viele Schönwetterkapitäne, die ihre Schiffe in
stürmischem Wasser auf Grund gesetzt haben. Das alles
kann man nicht, wie Sie es versuchen, der Politik anlasten. Reden Sie mit Ihren Freunden in der Wirtschaft! Suchen Sie die Auseinandersetzung!
Lassen Sie uns den Mittelstand auffordern, jetzt nicht
etwa vor dem Rating davonzulaufen, sondern die Ratinganforderungen dazu zu nutzen, die Unternehmen zu
optimieren! Da ist unglaublich viel nicht in Ordnung.
Das müssen wir miteinander wieder auf Vordermann
bringen.
Schauen Sie sich die Eigenkapitalausstattung der
Unternehmen an. Viele haben zwar in den letzten Jahren
keinen Gewinn gemacht. Aber in früheren Jahren ist
auch zu viel entnommen worden - dank der schlechten
Beratung durch die Steuerberater: Schütt aus, hol zurück! Eine Eigenkapitalausstattung des Mittelstands von
im Durchschnitt 5,8 Prozent kann nicht in Ordnung sein.
Diese Probleme verhindern jetzt den Aufschwung. Diese
Probleme lösen wir. Daran haben Sie überhaupt nicht gerührt.
({16})
Herr Kollege Stiegler, lassen Sie eine Zusatzfrage des
Kollegen Hinsken zu?
({0})
Eine Frage von Herrn Hinsken immer.
Herr Kollege Stiegler, Sie haben eben darauf verwiesen, dass zu 75 Prozent Managerfehler die Ursache von
Insolvenzen sind.
Ja, laut einer Feststellung von Creditreform.
Ich frage Sie: Warum hat die Zahl der Insolvenzen in
der Bundesrepublik Deutschland vor zwei Jahren bei unter 30 000 pro Jahr gelegen und warum hat sie im letzten
Jahr und in diesem Jahr bei über 40 000 gelegen? Haben
hier nur Managerfehler eine Rolle gespielt oder sind
nicht in erster Linie die katastrophale wirtschaftliche
Lage und die verfehlte Wirtschaftspolitik der Bundesregierung schuld, dass diese Unternehmen in den Konkurs getrieben wurden?
({0})
Das sind Ihre berühmten Ablenkungsmanöver, nach
dem Motto: Ist es gut gegangen, waren es die Manager;
sie dürfen sich dann bedienen. Ist es nicht gut gegangen,
ist der Staat schuld.
({0})
Aber erst in schwierigen Zeiten zeigt sich, ob jemand ein
Unternehmer oder nur ein Schönwetterkapitän ist bzw.
ob jemand etwas kann oder eine Pflaume ist.
({1})
Hier ist eine Prüfung erforderlich. Sie wissen genauso
gut wie ich, wie viele Betriebe keine ordentliche Buchhaltung und Unternehmensplanung vorweisen können
und in den letzten Jahren Fehler beim Investitionsverhalten gemacht haben. Ich wehre mich dagegen, dass Sie
diese Situation schamlos ausnutzen wollen, um der Politik das Versagen anderer in die Schuhe zu schieben, statt
mitzuarbeiten und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich sowohl Existenzgründer als auch bereits bestehende mittelständische Unternehmen am Markt behaupten können, wenn sie ihre Fehler aufgearbeitet haben
und daher in Zukunft mehr leisten können, als sie bisher
bewiesen haben.
({2})
Meine Damen und Herren, zusammen mit der KfW
unternehmen wir große Anstrengungen, um den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Fehler der Vergangenheit auszubügeln. Ich erinnere an die KfWProgramme „Unternehmerkredit“, „Unternehmerkapital“, die Nachrangdarlehen, all die mezzaninen Finanzierungsinstrumente und die True-Sale-Initiative, durch die
die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der
Wirtschaft Mittel zufließen, wodurch diejenigen, die etwas unternehmen wollen, vorankommen. Auch die Banken sollten wir gemeinsam ermuntern, die neuen Angebote der KfW anzunehmen und den Mittelständlern bei
der Finanzierung von Investitionen und neuen Projekten
zu helfen. Das wäre eine Investition in den Aufschwung.
Wenn Sie aber Trübsal blasen und schwarz malen, tun
Sie nichts für den Aufschwung.
Wenn wir also gemeinsam unsere Banken und Sparkassen - die Genossenschaftsbanken und Sparkassen
sind in diesem Bereich noch am besten - und auch die
Großbanken dazu bringen, den Mittelstand wieder zu
entdecken, dann kommen wir vorwärts; denn derzeit gibt
es mehr Ideen, als in Produkte und Arbeitsplätze umgesetzt werden. Das ist die andere Seite der Medaille. Auf
der einen Seite geht es also um die Kalkulierbarkeit der
sozialen Systeme und der Steuern, auf der anderen Seite
aber auch um das Freimachen von Mitteln für neue
Investitionen.
Meine Damen und Herren, das sollten wir miteinander angehen. Hier darf man nicht, wie Herr Braun, sagen: Leute, wandert aus! Man muss vielmehr sagen:
Bleibt da! Teilweise seid ihr durch eure Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer reich geworden. Jetzt habt ihr für
sie auch eine Verpflichtung. Werdet ihr gefälligst gerecht!
({3})
Hier zu Ende zu produzieren und sich dann zu verdrücken, das ist die Mentalität, die auf den Kapitalmärkten herrscht. Dagegen spüren viele Mittelständler eine
regionale Verantwortung. Wir sollten ihnen durch unsere
Programme - ob im Bund, in den Ländern oder in den
Gemeinden - helfen, voranzukommen. Der Unterschied
zwischen Ihnen und uns - hier handelt es sich um einen
richtigen Paradigmenwechsel - ist folgender: Sie wollen, fehlgeleitet von Professor Sinn, aus Deutschland
eine Niedriglohngesellschaft machen.
({4})
Wir wollen, angeleitet von Bundeskanzler Gerhard
Schröder und von Franz Müntefering, zu Innovationen
beitragen und Deutschland zu einem Hochlohnland entwickeln, das sich weltweit mit seinen Produkten behaupten kann.
({5})
Wir können im Wettbewerb mit China oder anderen
nicht mit einfachen Produkten bestehen, sondern wir
müssen all das herstellen, was andere nicht, noch nicht,
nicht so gut, nicht mit der gleichen Zuverlässigkeit oder
der Termintreue liefern können; das ist der richtige
Weg. - Aber Ihr Weg ist der folgende: Manager werden
nach amerikanischem Vorbild bezahlt, die Arbeitnehmer
hingegen bekommen tschechische oder chinesische
Löhne. Das kann nicht angehen und da werden Sie bei
uns auf Granit beißen.
({6})
Was die einfacheren Arbeitsplätze betrifft, haben wir,
Frau Merkel, im Vermittlungsausschuss gemeinsam ein
Programm beschlossen. Ich hatte heute manchmal den
Eindruck, Sie wüssten gar nicht mehr, was wir in der
Nacht alles miteinander
({7})
beschlossen haben. Sonst könnten Sie hier nicht so reden. Was wir beschlossen haben, entspricht zwar nicht
der Koch-Linie - Sie wollten ja ganz herunter mit den
Löhnen -, aber wir haben damit den einfacheren Arbeitsplätzen im unteren Tarifsegment eine Chance in
Deutschland eröffnet; das werden auch Sie nicht bestreiten können.
({8})
Eine Kombination von Markteinkommen und Transfereinkommen wird es auch in Zukunft geben. Was wir
aber nicht mitmachen werden, ist Ihre „neue soziale
Marktwirtschaft“. Was Sie vorhaben, ist offensichtlich
eine reaktionäre, alte Wirtschaftsordnung: eine Wirtschaft ohne Tarifverträge, auf die man sich stützen kann,
eine Wirtschaft ohne Betriebsverfassung, eine Wirtschaft
mit flächendeckenden Lohnkürzungen. Das kann nicht
unser Ziel sein! Damit werden wir das Land nicht voranbringen, sondern damit würden wir uns eher rückwärts
bewegen.
Ich denke, wir sollten uns miteinander der Chancen
besinnen. Noch haben wir einen hohen Exportüberschuss und die Wirtschaft ist auf allen Märkten vertreten.
Wir arbeiten mit anderen Ländern zusammen. Noch haben wir in vielen Bereichen Technologievorsprünge.
Aber nur wenn wir jetzt diese Konzentration auf Forschung, auf Entwicklung, auf Technologietransfer miteinander schaffen, werden wir auch in Zukunft dieser
kleiner werdenden jüngeren Generation die notwendigen
Mittel geben können, damit sie die älter werdende Gesellschaft ertragen und tragen kann, ohne dass sie daran
verzweifeln muss oder wir Älteren daran verzweifeln
müssen.
({9})
Das ist die entscheidende Frage, vor der wir hier stehen
und die wir miteinander lösen müssen.
Sie glauben immer, wenn Sie Trübsal blasen, würden
Ihnen die Wählerinnen und Wähler zufliegen. - Das mag
vorübergehend gelingen. Der Stoiber hat sich preisen
lassen als der, der die Insel der Seligen regiert, auf der es
keine Probleme gibt. Die Bayern wissen inzwischen,
dass es anders ist: Er hat nach der Landtagswahl etwas
ganz anderes gemacht, als er vorher den Leuten versprochen hat.
({10})
Mit diesem Manöver - tarnen und täuschen - werden Sie
nicht länger durchkommen. Sie müssen sich der Wahrheit stellen.
({11})
Wir müssen vor allem die wirtschaftlichen Chancen
nutzen, die sich uns bieten. Dieses Land hat ideale Chancen. Mein Gott, welches Land der Erde sollte nicht in
Verzweiflung geraten, wenn schon Deutschland keine
Chance hätte, mit den Problemen fertig zu werden? Hören Sie deshalb endlich auf, schwarz in schwarz zu malen! - Sie sind schon schwarz genug.
({12})
Nehmen Sie zur Kenntnis: Schwarz ist die Farbe des
Winters, rot-grün ist die Farbe des Frühlings und des
Sommers.
({13})
Lassen Sie uns die Winterstarre und die Depression
überwinden und neue Aktivität entfalten. Raus aus dem
Gebüsch! An die Arbeit!
({14})
Michael Glos, nimm dein Johanniskraut, dann geht es
dir auch wieder besser! Glückauf!
({15})
Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion,
Dr. Wolfgang Gerhardt.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle
sind von Optimismus beseelt und ich als Vorsitzender
der FDP-Bundestagsfraktion ohnehin. In den Wirren der
Zeit ist man als Liberaler zu Optimismus geradezu verpflichtet. Das muss mir deswegen niemand einreden,
Herr Kollege Stiegler.
Optimismus trägt nur, wenn man die Strukturschwächen klar diagnostiziert, die Kennziffern benennt und
sich über die wahre Lage nicht täuscht.
({0})
Der Bundeskanzler hat vorgetragen - ich fasse das angesichts der Kürze der Zeit sehr zusammen -, wir seien
Exportweltmeister. Das ist richtig und falsch zugleich.
Wir sind nicht mehr Exportweltmeister in dem Sinne,
dass wir wie früher Produkte exportieren, die in
Deutschland hergestellt werden. Wir sind Exportweltmeister, weil uns in der Wertschöpfungskette noch die
Chance geboten wird, in Deutschland Produkte herzustellen, wir aber gleichzeitig Produkte in anderen Ländern herstellen lassen - ich nenne das Stichwort Globalisierung -, denen wir deutsche Labels aufkleben.
Herr Bundeskanzler, ich nenne Ihnen ein Beispiel, das
Herr Professor Sinn in seinem Buch „Ist Deutschland
noch zu retten?“ aufzeigt. Es handelt sich um ein bestimmtes Auto, das mir sehr gefällt. Das müsste eigentlich in der Firma hergestellt werden, zu der Sie schon
immer eine große politische Anhänglichkeit bewiesen
haben. Tatsächlich wird es in der Slowakei von slowakischen Ingenieuren und Arbeitnehmern hergestellt, erscheint aber in der Bilanz des deutschen Exportweltmeisters. Das ist zwar für die Slowakei gut, es kann aber
nicht unsere ökonomische Zielvorstellung davon sein,
dass Plätze für Deutschland in der Wertschöpfungskette
im Zuge der Globalisierung verloren werden. Deshalb ist
der Titel Exportweltmeister eine Täuschung.
({1})
Auf dem letzten Kongress der IG Metall traf ich Betriebsratsvorsitzende, die mir begeistert erklärt haben:
Wir sind Exportweltmeister und deshalb können wir bei
der nächsten Tarifverhandlungsrunde zulegen. Uns geht
es doch eigentlich gut. - Wenn Sie mit dem Begriff
Exportweltmeister die Öffentlichkeit und sich nicht täuschen wollen, dann müssen Sie dem entgegentreten und
bei diesem Begriff differenzieren. Das gehört zu dieser
Debatte.
Ich komme nun zu einigen Daten. Da ich nicht die
Zeit habe, mich über Daten zu streiten, nehme ich die
Daten, die Sie zum Europäischen Gipfel vorgelegt bekommen haben. Sie haben in Lissabon eine Strategie beschlossen, Europa bis 2010 zum dynamischsten, innovativsten und am meisten auf Wissen basierten Raum der
Welt zu machen. Damals haben Sie verkündet: Das kriegen wir hin; mit einem Wachstum von 3 Prozent nähern
wir uns der Vollbeschäftigung.
Jetzt ist in den Kommuniqués zu lesen, das Wachstum
habe im letzten Jahr 0,8 Prozent betragen, bestenfalls
werde es bei 1,25 Prozent liegen. Das Wachstum in
Deutschland wird wahrscheinlich noch darunter liegen.
Das Defizitkriterium ist nicht eingehalten worden. Das
Pro-Kopf-Inlandsprodukt der Europäischen Union beträgt 72 Prozent des Pro-Kopf-Inlandsprodukts der Vereinigten Staaten. Wir wissen, dass Sie die Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten nicht sonderlich mögen,
aber dennoch sollten Sie einmal darüber nachdenken,
warum wir nur 72 Prozent erreichen.
({2})
In Europa haben wir einen Produktivitätszuwachs von
0,5 bis 1 Prozent, die Vereinigten Staaten haben dagegen
einen von 2 Prozent. Daraus ergibt sich doch - das ist bis
jetzt unausgesprochen geblieben -, dass wir nicht dynamisch und nicht wettbewerbsfähig genug sind. Politische
Führung geht nicht ohne ökonomische Kompetenz.
({3})
Ökonomische Kompetenz will sich bei Ihrer Partei nicht
einstellen. Das hat der Parteitag am Wochenende wieder
gezeigt.
({4})
Das, was wir mit Europa erreichen wollen - das ist doch
auch in Ihrem Interesse -, dass wir nämlich eine GlobalPlayer-Rolle einnehmen, wodurch wir Armut bekämpfen
und Stabilität und soziale Sicherheit schaffen können,
wird von Ihnen in Ihrer Politik nicht berücksichtigt. Sie
tragen dazu nicht bei.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Es ist
uns nicht wirklich gelungen, die Steuern zu senken und
die sozialen Sicherungssysteme wirklich zu reformieren. Herr Bundeskanzler, Sie haben die sozialen Sicherungssysteme doch nicht richtig reformiert. Die
Agenda 2010 ist eine Schmalspurreform. Wir haben
noch die Großbaustelle bei den Langzeitarbeitslosen.
Wir haben noch keinen Wettbewerb im Gesundheitswesen. Der ganze Streit der Linken in Ihrer Partei hat sich
darauf beschränkt, ob das Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung bei 46 oder 43 Prozent liegen
soll. Wenn das das letzte Großprojekt der deutschen Linken war, dann zeigt das, dass die intellektuelle Armut
gar nicht mehr zu überbieten ist.
({5})
Die Rente ist noch nicht sozial sicher, selbst wenn wir all
die Reformen hätten. Sie haben sie aber noch nicht
durchgeführt. Deshalb sind Sie in der heutigen Regierungserklärung ganz deutlich hinter den Zielen der
Agenda 2010, die Sie im letzten März verkündet haben,
zurückgeblieben.
({6})
Das kann man ganz klar feststellen.
Sie haben auch nichts gesagt, was darüber hinausgeht,
außer in einem Punkt, den ich jetzt aufgreifen möchte,
weil er in richtiger Weise angesprochen worden ist, weil
aber die Konsequenzen offen geblieben sind. Das größte
Innovationspotenzial in einer Gesellschaft liegt bei den
Kindern. Selbst wenn wir niedrigere Steuern hätten und
alles so geregelt wäre, wie ich mir das vorstelle, gäbe es
überhaupt noch keinen Optimismus im Land, wenn es
nicht Menschen gäbe, die diese Signale aufnehmen. Gehen wir von dem Innovations- und Fragedruck der Kinder, also der nachwachsenden Generation, aus. Das haben Sie richtig beschrieben.
Dem werden Sie mit Ihrer Erklärung und der Konsequenz daraus aber nicht gerecht. Der wettbewerblichen
Neugier der Kinder, die sich im Bildungssystem bis hin
zu den Universitäten mit immer größerem Frage- und
Forderungsdruck stufenweise entfaltet, bieten Sie in Ihrer sozialdemokratischen und rot-grünen Vorstellungswelt überhaupt kein adäquates Bildungssystem an: Es ist
nicht wettbewerblich organisiert, die Abschlüsse qualifizieren nicht ausreichend
({7})
und es führt nicht in überschaubarer Zeit zu einem Studienabschluss.
Das Angebot, Ganztagsschulen einzurichten, um eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen, ist doch nicht die Antwort auf die Kernfrage des
Bildungswesens.
({8})
Die Kernfrage des Bildungswesens lautet, ob Rot-Grün
diesem Bildungswesen wettbewerbliche Strukturen geben will, die der Entwicklung der Talente bei den Kindern entsprechen. Herr Bundeskanzler, bei aller verfassungsrechtlichen Zuständigkeit der Länder kann man
Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Kernfrage hier im Hause
überprüfen. Wenn Sie glaubwürdig sein wollen, dann
müssen Sie den Hochschulen Autonomie geben, das
Hochschulrahmengesetz des Bundes ändern und den
Hochschulen die Auswahl ihrer Studentinnen und Studenten selbst überlassen.
({9})
Diese politische Kernentscheidung müsste in diesem
Bundestag getroffen werden. Damit würde ein Signal für
die Wettbewerbsfähigkeit des Bildungswesens gegeben.
({10})
Hier redet niemand von der Opposition, der nicht
wünschte, dass Deutschland wettbewerbsfähiger würde.
Ich wünsche mir auch, dass wir weniger Arbeitslose haben. Ich habe mich aber nie zu der Bemerkung des Bundeskanzlers verstiegen, mich daran messen zu lassen,
wie weit ich die Arbeitslosenzahl senken werde. Herr
Bundeskanzler, Sie müssen es nicht mehr erwähnen; jeder weiß es ja. Ich käme mir an Ihrer Stelle aber doch
komisch vor: Sie haben hier eine solche Regierungserklärung abgegeben, ohne sich an die allererste Regierungserklärung, die Sie abgegeben haben, zu erinnern.
Da haben Sie gesagt, Sie wollten an der Zahl der Arbeitslosen in Deutschland gemessen werden, und meinten im übertragenen Sinne, Sie hätten es nicht verdient,
in diesem Amt zu bleiben, wenn Ihnen die versprochene
Senkung nicht gelänge. Herr Bundeskanzler, wenn Sie
sich daran gehalten hätten, dann hätten Sie heute Morgen hier gar nichts mehr erklären dürfen.
({11})
Das alles hat auch mit der Sozialfrage zu tun. Ihre
Partei diskutierte die Sozialfrage auf dem Parteitag nach
dem Motto: Der größte Sozialpolitiker ist derjenige, der
anderen so tief in die Tasche greift, dass er etwas zur
Umverteilung herausholen kann.
({12})
Das ist in Ihren Reihen unausrottbar. Ich glaube, dass
sich die Kompetenz der Politik und die soziale Kompetenz einer Gesellschaft an der Zahl der Arbeitsplätze
zeigt und nicht an der Höhe der sozialen Sicherungsmaßnahmen, wie Sie in der SPD sie permanent diskutieren.
({13})
Das ist hier kein Wettbewerb, bei dem die einen Positives für Deutschland wollen und die Opposition in Gestalt der FDP-Bundestagsfraktion, die ich zu vertreten
habe, alles schlechtreden will. Sie haben jetzt bereits seit
einigen Jahren die Regierungsverantwortung und müssen sich fragen lassen, ob Sie im Kern eine neue Beschäftigungsdynamik, eine größere Wettbewerbsfähigkeit, ein stärker wettbewerbliches Bildungswesen, ein
besseres Gesundheitswesen und die Lissabon-Strategie
zustande gebracht haben.
({14})
Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Ich komme sofort zum Schluss. - Man kann nicht mit
diesem geringen Anspruch sagen, es sei nicht mehr viel
zu besorgen; es sei nur noch die Eigenheimzulage zu
streichen, damit Investitionen im Bildungswesen finanziert werden könnten.
Nein, die Agenda 2010 war schmal genug. Dieses
Land kommt nur dann wieder auf die Beine, wenn die
politische Führung - das meine ich bezogen auf alle
Gruppierungen und Parteien - die notwendige Courage
hat, die Öffentlichkeit unnachgiebig und wiederholt mit
großen Veränderungen vertraut zu machen
({0})
und ihr klare Ziele und Perspektiven zu benennen. Dem
sind Sie heute nicht gerecht geworden. Das war eine
reine Modernisierungsrhetorik.
Herzlichen Dank.
({1})
Nun hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine drei Minuten Redezeit möchte ich für einige
Bemerkungen nutzen.
Erste Bemerkung. Frau Merkel hat dem Kanzler vorgeworfen, er würde lügen und betrügen und sich nicht
um Menschen wie beispielsweise die Krankenschwester
und den Polizisten kümmern. Sehr geehrte Frau Merkel,
ich möchte Ihnen an dieser Stelle sagen, was ich für Betrug halte. Ich halte es zum Beispiel für Betrug, wenn die
Mitglieder Ihrer Partei mit Herrn Merz an der Spitze
durchs Land reisen und der deutschen Bevölkerung eine
Vereinfachung des Steuersystems versprechen, aber
nicht gleichzeitig die Rechnung präsentieren. Das Versprechen mit der Steuererklärung auf einem Bierdeckel
können Sie nicht einlösen. Das halte ich für einen Betrug
an der deutschen Bevölkerung.
({0})
Ich halte es auch für Betrug, wenn Sie auf der Grundlage des Herzog-Konzepts bei der Gesundheitsreform
Änderungen vorschlagen, die den Menschen nicht schaden, sondern nutzen sollen. Bei diesem Vorschlag mit
der Kopfpauschale - das ist das Gleiche wie mit der
Steuererklärung auf dem Bierdeckel nach Herrn Merz bleiben Sie uns den sozialen Ausgleich schuldig. Grob
gerechnet ergibt sich nach Ihren Konzepten eine Finanzlücke von etwa 50 bis 60 Milliarden Euro. Frau Merkel,
wissen Sie, was das ist? Genau wie die Sache mit dem
Bierdeckel ist das eine Zechprellerei gegenüber der deutschen Bevölkerung.
({1})
Immer wenn es bei Reformkonzepten um die harten
Fakten geht, muss man auch die Finanzierung berücksichtigen. Dabei fällt mir jedes Mal - ich höre immer gut
zu - ein Spruch von Lichtenberg ein: Ach, wäre es doch
heiße Luft gewesen. Allein, es war nur ein wehendes Vakuum. - Das sage ich Frau Merkel als Physikerin.
({2})
Zweite Bemerkung. Wir haben ein gutes Beispiel für
die typische Politik der Opposition erlebt. Als der Kanzler den konkreten Vorschlag gemacht hat, durch Subventionsabbau, die Streichung der Eigenheimzulage, Mittel
für die Bildung freizusetzen, was haben wir von Ihnen
gehört? Sie haben sich dazu nicht geäußert. Ich hätte
gerne gewusst, ob Sie diesen Vorschlag für diskussionswürdig und interessant halten. Nein, Sie haben mit stolzgeschwellter Brust darauf hingewiesen, dass Sie im Bundesrat im Winter letzten Jahres die Streichung von
Subventionen vereitelt haben. So wird ein Schuh daraus.
Wenn Sie den Bundesrat nicht permanent als Bremse
nutzen würden, dann wären wir in Deutschland mit den
Reformen schon weiter: beim Subventionsabbau, bei der
Steuerreform, der Entlastung der Kommunen und der
Einschränkung der Frühverrentung. Auch die Gesundheitsreform sähe heute anders aus und wir hätten mehr
Wettbewerb im System.
({3})
Frau Merkel, Sie haben uns einen Einblick in die Art
gegeben, wie Sie Politik machen. Wir durften einen
Blick auf Ihre schwarze Agenda werfen. Sie haben das
mit dem Begriff Paradigmenwechsel verschleiert. In
Wirklichkeit ist Ihr Rezept für eine hoch entwickelte Gesellschaft der Wechsel hin zu einem Niedriglohnland,
um zum Beispiel mit Tschechien konkurrieren zu können.
({4})
Ich halte das für dummes Zeug, ökonomischen Unsinn
und arbeitsmarktpolitisch für nicht hilfreich.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Laurenz Meyer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war
schon spannend, heute in der Debatte zu sehen, dass sich
die Regierungskoalition überhaupt nicht mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers beschäftigt hat, sondern ausschließlich mit der Rede von Frau Merkel.
({0})
({1})
Woran liegt das? Sie hat als Einzige die Punkte angesprochen, mit denen sich die Menschen in Europa beschäftigen.
({2})
Während sich die Leute in Europa mit dem Gesundheitssystem, dem Rentensystem, dem Steuersystem und den
Arbeitsmarktgesetzen auseinander setzen, haben Sie sich
die letzten Monate ausschließlich mit dem Fiasko bei der
Maut und dem Dosenpfand beschäftigt. Herr Trittin, der
Gott sei Dank noch hier sitzt,
({3})
hat davon gesprochen, dass der Arbeitsplatzabbau in der
Getränkeindustrie gewollt sei. Er hat es inzwischen geschafft, selbst ein so gutes Instrument wie den Emissionshandel zu einem Instrument zu machen, mit dem in
Deutschland Arbeitsplätze systematisch vernichtet werden sollen. Ich bin gespannt, ob Herr Clement durchhält.
({4})
Es wäre allerdings das erste Mal, dass er durchhält; denn
bisher hat er praktisch nichts vorzuzeigen.
Es wurde wieder davon gesprochen, dass Deutschland
Exportweltmeister sei. Herr Gerhardt hat das Richtige
dazu gesagt, nämlich dass wir nur deshalb Exportweltmeister sind, weil wir so viel im Ausland produzieren
und unsere Produkte nur dadurch konkurrenzfähig sind.
Das hat Herr Braun im Kern - lesen Sie es nach - ausgesprochen. Dafür wird er heute von Herrn Stiegler verhauen. Der Generalsekretär der SPD, Herr Benneter, hat
das gestern noch im Rundfunk gemacht. Der Bundeskanzler hat sich aber schon einen Tag vorher mit Herrn
Braun ausgesprochen und um gutes Wetter gebeten.
Ich finde, diese Scheinheiligkeit ist wirklich durch
nichts mehr zu überbieten: hinten herum telefonieren
und gutes Wetter machen und nach vorne schimpfen, um
die eigenen Wähler zu bedienen. Das ist scheinheilig bis
zum Gehtnichtmehr.
({5})
Laurenz Meyer ({6})
Herr Müntefering, lassen Sie mich bitte einen Punkt
ganz klar ansprechen, weil wir gerade beim Stichwort
„scheinheilig“ sind.
({7})
Was war eigentlich los, als in Österreich eine Koalition
der Österreichischen Volkspartei mit den Freiheitlichen
von Herrn Haider am Himmel auftauchte? Österreich
sollte ausgestoßen und nicht mehr an EU-Konferenzen
beteiligt werden. Jetzt ist die Schwesterpartei der SPD in
Österreich mit Herrn Haider in Kärnten ins Bett gestiegen - und kein Wort von der deutschen SPD zu diesem
aus ihrer Sicht vorher noch skandalösen Vorgang!
({8})
Das nenne ich scheinheilig bis zum Gehtnichtmehr. In
der Zukunft sollten Sie Ihre Glaubwürdigkeit an der Garderobe abgeben.
({9})
Herr Schröder hat gesagt, Deutschland stehe heute
besser da als noch vor zwölf Monaten. Ich frage mich,
woraus er das schließt. Anschließend hat er sich ausgiebig mit der Situation insbesondere von Frauen beschäftigt, die berufstätig sein und gleichzeitig Kinder haben
wollen. Er hat allerdings keine konkreten Vorschläge gemacht. Sie, die Frauen in der SPD-Fraktion, haben allen
Ernstes für das, was er vorgetragen hat, geklatscht. Das
ist doch wirklich die Höhe. Seit zwei Jahren versprechen
Sie den Frauen mickrige 4 Milliarden Euro für die
Ganztagsbetreuung in ganz Deutschland.
({10})
Seit zwei Jahren ist aber kein müder Euro geflossen. Seit
zwei Jahren nur Rederei! Rot und Grün haben in den
letzten zwei Jahren nichts, aber auch gar nichts getan,
({11})
um die Situation von Familien mit Kindern zu verbessern.
({12})
Wenn das, was der Bundeskanzler heute hier vorgetragen hat, Ihr Familienbild ist, dann muss ich Ihnen sagen:
Das ist ein antiquiertes Familienbild.
({13})
Denn politisches Taktieren hat bei der Entscheidung von
jungen Familien, ob sie berufstätig sein wollen oder
nicht, wenn sie Kinder haben, überhaupt nichts zu suchen. Wir müssen beides möglich machen. Das ist unsere Philosophie.
({14})
- Dass Sie sich aufregen, kann ich verstehen. Das ist offensichtlich ein Schuss ins Schwarze.
({15})
Der Bundeskanzler hat die Situation in Frankreich
angesprochen. In Frankreich ähneln die finanziellen
Rahmenbedingungen denjenigen, die wir in unserem
Steuerkonzept vorschlagen.
({16})
Die jungen Familien werden ganz wesentlich finanziell
entlastet. Es gibt kein Entweder-oder von Ganztagsbetreuung und finanzieller Entlastung. In Frankreich findet
beides statt und das hat sich ausgewirkt. Wenn wir nicht
beides gleichzeitig machen, werden wir keine Erfolge
haben.
({17})
Mit den 4 Milliarden Euro können Sie gerade einmal
Einrichtungen für das Kochen des Essens bezahlen, aber
nicht die Ganztagsbetreuung und den Ganztagsunterricht. Da müssen Sie schon wesentlich tiefer in die Tasche greifen. Es hilft auch nicht, das den Gemeinden zuschieben zu wollen, wie Sie es machen.
({18})
- Sie werden sich noch freuen, wenn Sie im September
nicht zur Oberbürgermeisterin gewählt werden, weil Sie
dann nämlich nicht für das geradestehen müssen, was
der Bundeskanzler Ihnen auf die Nase drücken will. Sie
werden dann anschließend wieder hier sitzen und sich
freuen, dass Sie nicht gewählt worden sind - was für
Stuttgart allerdings besser ist.
Des Weiteren ist angesprochen worden, dass endlich
die Situation von Migranten und unterprivilegierten Familien im heutigen Schulsystem angegangen werden
müsse.
({19})
Wenn Sie überall in Deutschland für die Bildungspolitik
zuständig wären, dann Gnade uns Gott!
Bei den PISA-Studien ist herausgekommen, dass in
meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen - Sie müssten
das Ihrer Fraktion erzählen, Herr Poß - die deutschen
Kinder schlechtere Ergebnisse erzielt haben als die Ausländerkinder in Bayern.
({20})
Das ist die Situation. Die Ausländerkinder in Bayern haben bei der PISA-Studie bessere Ergebnisse erzielt als
die deutschen Kinder in Nordrhein-Westfalen.
({21})
- Sie wissen das gar nicht. Ich weiß, dass Sie das trifft.
Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie wären in Deutschland für die Bildungspolitik zuständig.
({22})
Laurenz Meyer ({23})
Dann ginge es darum, wie Sie die Finanzierung sichern
wollen, und um die Eigenheimzulage. Frau Merkel hat
es schon angesprochen: Stellen Sie sich vor, sie wäre bei
einem Ihrer zwei Versuche gestrichen worden. Das ist
wie früher beim Jäger 90 und den Grünen. Bei jeder Finanzierung wurde der Jäger 90 angeführt. Jetzt ist es die
Eigenheimzulage. Die CDU/CSU-Fraktion wird aber die
Eigenheimzulage nicht antasten, solange nicht wesentlich niedrigere Steuern für den Einzelnen dies möglich
machen.
({24})
Die heutige Debatte hat wieder gezeigt, dass Sie versuchen, die Probleme nicht mehr anzusprechen, und dass
Sie weder über das Thema Gesundheit noch über Steuern und Arbeitsmarktveränderungen in anderen Ländern
eine erfolgreiche Diskussion führen.
({25})
Dadurch wollen Sie Ihre eigene Basis beruhigen und
vielleicht die Austrittswelle vorübergehend stoppen.
({26})
Den Spagat, den Sie bisher in der Partei versucht haben und der schon mit zwei Beinen nicht geklappt hat,
versuchen Sie nun mit vier Beinen. Deswegen meine ich,
Sie sollten wirklich wissen, was für Deutschland angesagt ist, nämlich eine klare Analyse. Sie sollten zumindest Maßnahmen vorschlagen und sich an der Diskussion beteiligen, die wir Ihnen zu den von uns
aufgeführten konkreten Handlungsfeldern vorschlagen.
({27})
Sie haben doch den Vorteil, dass die Opposition klare
und präzise Vorstellungen vorgelegt hat.
({28})
Sie sind damit in einer viel besseren Situation als jemals
eine Regierungspartei vor Ihnen.
Heute ist hier gesagt worden: Wir machen so weiter
wie bisher. - Das müssen die Bürger in unserem Land
als nichts anderes als eine Drohung empfinden.
({29})
Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gesellschaftspolitische Innovationen, Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, hervorragende Bildung und Ausbildung und eine ausgezeichnete Lehre und Forschung sind
die großen Herausforderungen für die nächsten Jahrzehnte, vor denen wir stehen. Deshalb habe ich erwartet,
dass irgendjemand von der Opposition, der CDU/CSU,
wenigstens den Hauch einer Konzeption für eine gesellschaftspolitische Erneuerung bringt.
({0})
Frau Merkel hat in ihrer Rede dazu nur einen halben
Satz gesagt, in dem sie beschrieben hat, was nach ihrer
Meinung in der Kinderbetreuung nicht angeht. Was Herr
Meyer gerade vorgetragen hat, war nun wirklich - ({1})
Es ist eigentlich nicht zu beschreiben.
Fangen wir mit der PISA-Studie an. Herr Meyer, ich
würde Ihnen dringend empfehlen, Nachhilfeunterricht
zu nehmen. Denn das, was Sie ausgeführt haben, ist ein
Beleg für die Richtigkeit der PISA-Studie.
({2})
Wenn Sie nämlich die Pisa-Studie richtig lesen, dann
werden Sie zum Beispiel erkennen, dass in keinem anderen Land außer in Deutschland - im Übrigen ganz besonders in Bayern - die soziale Herkunft eines Kindes,
ob Mädchen oder Junge, darüber entscheidet, ob es berufliche Ausbildungs- und Fortbildungschancen hat. Das
ist der Kernpunkt der PISA-Studie. Dazu haben Sie kein
einziges Wort gesagt.
({3})
Ich empfehle Ihnen dringend, Studien so zu lesen, wie
sie sind, und nicht die wichtigen Teile zu verschweigen.
Wenn ich davon ausgehen muss, dass Sie es eigentlich gelesen haben, aber hier nicht erwähnen, dann ist
das für mich wieder einmal der Beweis dafür, welches
Menschenbild Sie haben und wie Sie soziale Gerechtigkeit definieren. Ich sage Ihnen: Sozialdemokraten würden mit jungen Leuten und deren Chancen nie so umgehen. Ich bin froh, dass wir die Verantwortung für das
haben, was in diesem Bereich läuft.
({4})
Hinzu kommt: Sie erzählen in Ihren Sonntagsreden
immer unheimlich viel von Familie und von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie von Bildung und
Ausbildung.
({5})
Heute geht es hier in einer wichtigen Debatte um genau
das; dennoch wird in den Beiträgen Ihrer Hauptrednerinnen und -redner die Frage der Vereinbarkeit nicht behanNicolette Kressl
delt. Daraus kann ich nur schlussfolgern: Es handelt sich
hierbei für Sie immer noch um das gesellschaftspolitische Sahnehäubchen, nach dem Motto: Wenn wir noch
etwas übrig haben, dann machen wir da etwas.
({6})
Der Kernpunkt ist aber, dass Bildung, Ausbildung
und Qualifikation nicht nur mit Gesellschaftspolitik,
sondern auch mit Wirtschaftspolitik zu tun haben. Mit
der Frage, wie wir die Startchancen junger Menschen
verbessern können, geht die Entscheidung einher - das
will ich Ihnen deutlich sagen -, welche Köpfe in
Deutschland in Zukunft für die Wettbewerbsfähigkeit
des Landes sorgen.
({7})
Ich bin deshalb so froh, dass der Bundeskanzler wichtige Teile seiner Rede genau dieser Frage gewidmet hat.
({8})
Wir haben nämlich erkannt, dass es sich nicht um das
Sahnehäubchen handelt, sondern dass es hierbei um den
Kernpunkt bei der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung geht.
Ich will Sie auf eine Studie des IAB, des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur
für Arbeit, verweisen, die verdeutlicht, dass in den Jahren 1995 bis 2010 1,5 Millionen Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte verloren gehen werden. Das heißt: Sowohl
die Frage der sozialen Gerechtigkeit für die Menschen
und deren Lebenschancen als auch die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung hängen damit zusammen, ob
wir die Potenziale, die es bei uns gibt, in Zukunft auch
wirklich nutzen können.
Wir lassen noch viel zu viele Potenziale bei den jungen Menschen, die wir nicht ausreichend und nicht früh
genug fördern, brachliegen.
({9})
Für uns ist die Frage der Betreuung, der Erziehung und
der frühkindlichen Bildung entscheidend.
({10})
Deshalb sieht unser Programm vor, dass die 1,5 Milliarden Euro aus den Ersparnissen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in die Kassen
der Kommunen fließen.
({11})
Wenn Sie gestern einmal in die Zeitung geschaut haben, dann wissen Sie: Familienministerin Renate
Schmidt hat mit den kommunalen Spitzenverbänden vereinbart, dass wir die Verantwortung dafür übernehmen,
dass die 1,5 Milliarden Euro - insgesamt 2,5 Milliarden
Euro - tatsächlich bei den Kommunen ankommen. Auch
Franz Müntefering sagt es immer wieder: Dazu stehen
wir. Gleichzeitig können wir mit den Kommunen den
Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige organisieren.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich kann gut verstehen, dass die Kommunen nach 16 Jahren Ihrer Regierungspolitik etwas misstrauisch sind.
({12})
Wenn ich mit den Kommunen über den Ausbau der Kinderbetreuung rede, dann erinnern sie mich immer an Ihre
Regierungszeit.
({13})
Wir haben damals mehrmals beantragt, dass der Bund
Verantwortung für die Kosten zur Gewährleistung des
Rechts auf einen Kindergartenplatz übernimmt; bei den
Kommunen ist allerdings nichts angekommen. Es war
Ihre Regierungszeit, die die Kommunen so misstrauisch
gemacht hat.
({14})
Der Umstand, dass es den Kommunen nicht leicht
fällt, zu vertrauen, veranlasst uns, eine Finanzierungsgarantie zu geben. Die Tatsache, dass Sie im Vermittlungsausschuss mitverantwortlich dafür sind, hat dazu
geführt, dass sich bei der Gewerbesteuerreform keinerlei
strukturelle Verbesserungen ergeben haben. Auch das
haben Sie zu verantworten. Es ist scheinheilig, sich hier
hinzustellen und zu fragen, wie es den Kommunen geht,
wenn Sie im Vermittlungsausschuss eine strukturelle Gewerbesteuerreform verhindern.
({15})
Im Übrigen haben Sie schon Jahre zuvor die Gewerbesteuer so weit ausgehöhlt, dass es überhaupt nötig war,
strukturelle Reformen vorzunehmen.
Ich finde, Sie sollten wirklich den Mund halten, wenn
es um die Frage geht: Wie unterstützen wir die Kommunen bei der Kinderbetreuung?
({16})
Es geht aber nicht nur um die Förderung von Kindern.
Wir lassen natürlich auch Potenzial brachliegen, wenn
wir nicht für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
sorgen. In volkswirtschaftlicher Hinsicht dürfen wir es
nicht mehr zulassen, dass die Gesellschaft zwar inzwischen über die am besten qualifizierten Frauen verfügt,
dass wir ihnen aber nicht die Möglichkeit geben, ihre
Potenziale, ihre Kreativität und ihr Können in die Wirtschaft einzubringen, weil es uns nicht gelingt, ihnen in
ausreichendem Maße Betreuungsmöglichkeiten schon
im Bereich der unter Dreijährigen anzubieten. Ich halte
das für einen ganz wesentlichen wirtschaftspolitischen
Faktor. Deswegen weisen wir ständig darauf hin, dass
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht das Sahnehäubchen ist, sondern zu einer arbeitsmarktpolitischen
Schlüsselfrage unserer Gesellschaft und insbesondere zu
einer entscheidenden Standortfrage für die Kommunen
werden wird.
({17})
Wir müssen ebenfalls das Potenzial der jungen Schulabgängerinnen und Schulabgänger besser nutzen.
Auch hier geht es um die Kombination von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftspolitischen Fragen.
({18})
Wie soll denn das Vertrauen der jungen Menschen in den
Staat, insbesondere in die staatlichen Institutionen und
seine Verantwortlichen, wachsen können, wenn wir, die
wir in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen, ihnen nicht das Vertrauen geben können, dass wir alles für
ihre Zukunftschancen tun? Wir müssen den jungen Menschen das Vertrauen geben, dass wir alle Anstrengungen
unternehmen, damit sie einen Ausbildungsplatz bekommen. Wenn Sie als einzige Alternative eine Kürzung der
Ausbildungsvergütungen vorschlagen, dann muss ich sagen, dass ich das nicht nur für verantwortungslos, sondern auch für einfallslos und für nicht kreativ halte.
({19})
Es ist ebenfalls wichtig, dass wir uns bei der Erneuerung der Gesellschaft um die Potenziale und die Erfahrungen der Älteren kümmern. Deshalb finde ich es gut,
dass Edelgard Bulmahn und ihr Haus einen Schwerpunkt
auf die Entwicklung und Finanzierung der Weiterbildung legen. Damit werden wir uns auch in den Fraktionen beschäftigen; denn wir müssen nicht nur Jugendlichen und Kindern, sondern auch den Älteren
Zukunftschancen geben. Unsere Gesellschaft muss sich
darauf verlassen können, dass auch Letztere ihre Kreativität und ihr Potenzial in unseren Wirtschaftskreislauf
und in unsere Gesellschaft einbringen.
({20})
Ein wichtiger Teil unseres Konzeptes betreffend den
Umgang mit den Zukunftschancen der Menschen ist,
dass wir entsprechende Rahmenbedingungen durch
Ganztagsbetreuung, beispielsweise durch das Ganztagsschulprogramm, schaffen wollen. Lassen Sie mich
noch ein, zwei Worte über Ihre unsäglichen Aussagen
verlieren. Zum einen ist es logisch, dass das Ganztagsschulprogramm nicht sofort anlaufen konnte; denn die
Länder konnten entgegen unseren Erwartungen nicht
rechtzeitig pädagogische Konzepte vorlegen.
({21})
Zum anderen haben inzwischen schon 900 Schulen Mittel aus dem Ganztagsschulprogramm beantragt.
({22})
Diese 900 Ganztagsschulen gäbe es ohne dieses Programm nicht.
Sie, die Sie 16 Jahre lang im Rahmen Ihrer Bundeskompetenz gar nichts gemacht haben, behaupten, dies
sei zu wenig.
({23})
Aber in Wirklichkeit - das finde ich prima - wollen immer mehr Gemeinderäte und Gemeinderätinnen sowie
immer mehr Elternbeiräte dieses Programm nutzen, weil
sie wissen, dass es Geld gibt.
({24})
Wenn ich eines weiß, dann ist es das: In drei Jahren wird
es eine Entwicklung geben, die Sie mit Ihrer Ideologie
- Gott sei Dank - nie wieder zurückdrehen können.
({25})
Darauf bin ich stolz. Unser Ganztagsschulprogramm hat
dazu geführt, dass Eltern sagen: Es gibt eine Chance,
dass das mitfinanziert wird, und darum kämpfen wir
jetzt.
Die Ganztagsschule ist nicht nur ein Ort, an dem es
Nachmittagsunterricht gibt,
({26})
sondern dort ist auch die Zeit für individuelle Förderung; das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Da
können die Kinder, die in der Familie nicht ausreichend
gefördert werden, Förderung erfahren. Das ist das, was
vorhin im Zusammenhang mit PISA beschrieben worden
ist. So werden ihre Chancen verbessert.
({27})
Hören Sie mit dieser Polemik gegen das Programm auf!
Seien Sie lieber froh darüber, dass wir da für das Land
insgesamt etwas nach vorn gebracht haben!
Zu dieser Konzeption insgesamt gehört für uns auch
Folgendes: Wir wollen die äußeren Rahmenbedingungen
verbessern und Eltern und Familien, Frauen und Männern die Möglichkeit geben, innerhalb der Rahmenbedingungen, die wir setzen, ihr Leben so zu gestalten, wie
sie es wollen. Hören Sie mit dieser ideologischen Behauptung auf, wir wollten eine Form bevorzugen! In
Wirklichkeit ist es in diesem Land doch so, dass durch
fehlende Angebote indirekt eine Form von Zusammenleben und Erziehen vorgeschrieben wird. Wenn die Angebote da sind, dann sollen Frauen und Männer wählen
können. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür
schaffen.
({28})
Zu der Konzeption gehört, dass wir sagen: Dafür sind
wir verantwortlich. - Wer das als Hineindrängen des
Staates in die Familie diffamiert, so wie Sie das gemacht
haben, verkennt Bedürfnisse und Entwicklungen in dieNicolette Kressl
ser Gesellschaft. Das ist der große Unterschied zwischen
uns. Wir wissen, was in der Gesellschaft läuft,
({29})
wir wissen, was die Menschen brauchen, und setzen die
entsprechenden politischen Rahmenbedingungen.
Aber wir wissen natürlich auch, dass wir uns nicht alles leisten können. Wir wollen Startchancen geben und
Rahmenbedingungen setzen. Verantwortlich dafür,
dass die Chancen genutzt werden, sind - das sagen wir
immer dazu - die Menschen selbst. Aber wie können
Menschen ihre Verantwortung wahrnehmen, wenn wir
nicht die Rahmenbedingungen dafür schaffen?
Ich bin davon überzeugt: Mit den Konzeptionen, die
der Bundeskanzler im Bereich Bildung, Ausbildung,
Qualifikation, Erziehung und Betreuung vorgestellt hat,
werden wir Veränderungen im Land schaffen, sodass die
Menschen Wahlfreiheit haben und die jungen Menschen
Startchancen bekommen. Damit machen wir einen guten
Anfang für eine noch bessere wirtschaftliche Entwicklung.
Vielen Dank.
({30})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich grundsätzlich auf die Regierungserklärung
eingehe, will ich eines klarstellen: Bundeskanzler
Schröder hat über demographische Probleme gesprochen
und hat sich dabei eines unglaublichen Vergleichs bedient. Er hat die Nazizeit und die DDR-Zeit gleichgesetzt.
({0})
Er sprach vom Mutterkreuz im Dritten Reich und vom
Abkindern in der DDR. - Ich weise das für die PDS im
Bundestag zurück.
({1})
Ich bedaure, dass ausgerechnet ein SPD-Kanzler so geschichtslos und demagogisch daherredet.
({2})
Wenn wir schon bei Wahrheiten sind: Zur Wahrheit in
der Bundesrepublik im Jahr 2004 gehört, dass wir eine
unerträglich hohe Kinderarmut haben und dass mit der
Umsetzung der Agenda-Gesetze die Kinderarmut tagtäglich steigt.
Nun zur Regierungserklärung. Bundeskanzler
Schröder hat seiner Regierungserklärung den schönen
Titel „Deutschland 2010: Unser Weg zu neuer Stärke“
gegeben. Die Rede schließt an die Agenda 2010 an, die
hier vor Jahresfrist vorgestellt wurde. Sie muss sich daher an dem messen lassen, was seither geschehen ist. Sie
wissen es: Die Agenda 2010 wird vielfach als Abschied
der SPD von sozialdemokratischen Urwerten wie Solidarität und Gerechtigkeit bewertet. Die PDS teilt diese
Kritik grundsätzlich. Dieser Weg zu neuer Stärke führt
ins Abseits.
({3})
SPD und Grüne sagen, sie wollen den Sozialstaat retten. Aber zugleich bauen sie ihn ab. Sie sagen, Solidarität sei wichtig. Aber sie geben sie preis. Sie sagen, Gerechtigkeit sei gut. Aber sie werden immer ungerechter.
Wir haben uns im vergangenen Jahr hier über die Gesundheitsreform, über die Rentenreform, über die Arbeitsmarktreform, über die Steuerreform und vieles
mehr, was Rot-Grün als Agenda 2010 bezeichnet, gestritten. Alle so genannten Reformen sind beim Praxistest durchgefallen. Für die wirklich Betroffenen wurde
nichts besser, aber vieles teurer.
Die Stärke einer Gesellschaft misst sich an den
Schwachen. Das war einmal ein sozialdemokratisches
Credo. Davon entfernt sich die SPD immer mehr. Heute
stärken Sie die Starken und schwächen die Schwachen.
({4})
„Unser Weg zu neuer Stärke“, wie Sie sagen, hat große
Gewinner und viele Verlierer. So ein „Deutschland
2010“ will ich nicht.
({5})
Dabei geht der Opposition zur Rechten - wir haben es
heute wieder gehört - das ganze Abbauprogramm ja
noch nicht weit genug. Ihr Militärprogramm ist ohnehin
mächtiger und gewaltiger.
({6})
- Um auf den Zuruf des Abgeordneten Joseph Fischer
einzugehen: Die rot-grüne Steuerreform hat Berlin mehr
Millionen gekostet als der unsägliche Bankenskandal,
den CDU und SPD verursacht haben.
({7})
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na!)
Es gehört zu den Wahrheiten, die gesagt werden müssen,
wenn wir über Berlin reden: Ihre Agenda macht die Bürgerinnen und Bürger der Hauptstadt arm. Das ist
schlecht.
({8})
Nun habe ich aufmerksam vernommen, was der neue
SPD-Vorsitzende, Herr Müntefering, in seiner Antrittsrede versprochen hat. Ich fasse zusammen: Die SPD hält
an ihrem Kurs fest: Schröders Sozialabbau wird fortgesetzt, Schilys Innenpolitik wurde gelobt und Strucks
Bundeswehr soll noch weiter ins Ausland ziehen. Allein
diese 3-S-Politik lässt einen gruseln. Noch schlimmer
ist: Die neue Mitte der neuen SPD hält ihren neuen Weg
auch noch für neu. Dabei ist vieles nur geklaut, nämlich
bei der CDU/CSU und bei noch schlechteren Vorbildern
abgeschrieben.
Vor diesem Hintergrund frage ich mich allerdings:
Was soll Deutschland im UNO-Sicherheitsrat? Um
nicht missverstanden zu werden: Ich bin sehr für eine
Aufwertung der UNO. Sie war vor dem Hintergrund des
Zweiten Weltkrieges eine historische Errungenschaft
und sie wird immer wichtiger. Allerdings lehrt das Beispiel USA: Wirtschaftliche Größe ist kein Synonym für
Recht und militärische Stärke ist kein Ersatz für Politik.
Wenn also die Bundesrepublik in den UN-Sicherheitsrat
strebt, dann muss sie mehr bieten als einen Anspruch. Es
müssen Alternativen aufgezeigt werden. Die sind aber
nicht erkennbar. Der Bundeskanzler hat auch heute keine
vorgestellt.
({9})
Das trifft übrigens auch auf alles zu, was derzeit über
das Zuwanderungsgesetz und Ihre nette Kungelrunde
zu hören ist. Angekündigt hatte Rot-Grün ein Bürgerrecht, das Ausländer nicht länger als Lückenbüßer und
Störenfriede betrachtet. Nun droht ein Abschieberecht
nach bayerischem Duktus.
({10})
Wer in Verdacht gebracht wird, er könnte Terrorist werden, soll außer Landes entsorgt werden. Deshalb bin ich
sehr gespannt, wie sich Bündnis 90/Die Grünen hier verhalten werden.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie kennen meine
grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Militarisierung der Politik. In der künftigen EU-Verfassung wurde
sie sogar als Pflicht festgeschrieben.
({12})
Deshalb lehnt die PDS den Entwurf auch ab.
({13})
Aber auch hierzulande gibt es genügend Zeitzünder.
Insbesondere die CDU/CSU lässt keinen Anlass aus,
diese zu schärfen. Deshalb wiederhole ich noch einmal
für die PDS: Es gibt keinen Grund, das Grundgesetz zu
ändern und die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Es
gibt auch keinen Grund, die überholte Wehrpflicht
durch andere Zwangsdienste zu ersetzen. Es gibt weiterhin keinen Grund, durch ein Entsendegesetz Kriegseinsätze am Bundestag vorbei zu beschleunigen. Die PDS
im Bundestag lehnt dies daher ab.
({14})
Die PDS bleibt dabei: Die Agenda 2010 weist in eine
falsche und für viele in eine fatale Richtung. Sie belastet
Kranke, Arme und Alte über Gebühr und sie entlastet
jene, die - wie es auf Sozialdemokratisch so schön heißt
- „breite Schultern haben“. Die PDS setzt dem ihre
„Agenda sozial“ entgegen und eine Rentenreform, die
den Namen Reform auch verdient. Sie ist gerechter, weil
sie allen ein würdiges Leben im Alter bietet. Sie ist solidarisch, weil sie die Lasten teilt. Sie ist modern, weil sie
das Rentensystem umbaut, anstatt die Rentner zu
schröpfen.
Deshalb gilt mein Schlusssatz all jenen, die sich mit
dem Kurs des Kanzlers und seiner Kritiker von rechts
nicht abfinden wollen. Das Beste wäre: Wir treffen uns
am 3. April in Köln, Stuttgart und Berlin zu den geplanten Großdemonstrationen gegen die Entsorgung des Sozialstaates.
({15})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den
Letzten beißen die Hunde - wenn noch Hunde da wären.
Aber warten wir einmal ab.
({0})
Ich wollte zum Schluss einige wenige Sätze sagen,
weil ich geradezu erschrocken bin über das, was die Opposition in dieser Debatte heute geboten hat. Wir haben
festgestellt, dass Sie außer Polemik mit dem Höhepunkt
der Rede von Herrn Meyer nicht viel zu bieten hatten.
({1})
Interessant, wie ich jedenfalls aus meiner Sicht feststellen muss, ist, dass Frau Merkel sich in Allgemeinplätzen
ergangen hat und nicht einmal den Schneid gehabt hat,
dem Hohen Hause und damit der Öffentlichkeit die
Schweinereien mitzuteilen, die Sie, wie wir in den letzten Tagen und Wochen gehört haben, schrittweise unternähmen, wenn Sie Regierungsverantwortung tragen
würden.
({2})
Sie haben sich gedrückt und das muss auf den Tisch. Ich
wollte die Zeit nutzen, um das klar zu machen.
Was würde denn passieren, wenn die Union mit der
FDP im Kreuz in diesem Lande regieren würde?
Wilhelm Schmidt ({3})
({4})
Die Tarifautonomie würde geschleift werden. Dass Arbeitnehmerrechte abgebaut werden würden, ist eine
milde Formulierung. Die Entmachtung der Gewerkschaften ist doch Ihr erklärtes Ziel. Dass wir in den letzten 50 Jahren in diesem Lande gut gefahren sind, weil
wir den sozialen Frieden hergestellt und aufrechterhalten haben - der Kanzler und auch Franz Müntefering haben darauf hingewiesen -, ist die Dimension, an der wir
uns orientieren. Wir orientieren uns nicht an dem, was
Sie von uns verlangen.
({5})
Man kann schon über die Substanzlosigkeit der anderen Seite und darüber erschrecken, wie wenig Mitverantwortung übernommen wird. Sie haben in den vergangenen Monaten unter dem Druck der Öffentlichkeit mit uns
gemeinsam im Vermittlungsausschuss, aber auch bezogen auf die Gesundheitsreform außerhalb des Vermittlungsausschusses, den einen oder anderen Reformschritt
eingeleitet. Das ist wohl wahr. Die Art, in der Sie sich
aber hinterher von unbequemen Teilen, die in der Öffentlichkeit kritisiert und diskriminiert worden sind, verabschiedet und nicht Ihre Mitverantwortung wahrgenommen haben, ist skandalös. Das sagen wir Ihnen auch sehr
deutlich; wir finden das unanständig.
({6})
Ich denke, auch Sie haben in der Zwischenzeit festgestellt, dass bei dem einen oder anderen Punkt, der von
Ihnen mit viel Getöse in die Öffentlichkeit getragen worden ist, nichts an Glaubwürdigkeit übrig geblieben ist.
Ich weise auf einen Punkt hin, den Ludwig Stiegler bereits angesprochen hat: die Steuerreform. Was ist denn
aus der merzschen Bierdeckelreform geworden? Die Reform von Herrn Merz hat ja nicht einmal den März erreicht! Sie haben sie vorher sicherheitshalber selber abgeräumt. Heute bekommen wir von Frau Merkel in der
Öffentlichkeit eine ganz vage Einladung dazu, das, was
Sie jetzt nicht mehr machen können oder wollen, nun gemeinsam zu machen. So billig ist das aber nicht zu haben.
({7})
Sie müssen sich da schon eine andere Vorgehensweise
überlegen und dann in einer offenen Veranstaltung mit
uns darüber sprechen. Es geht doch nicht an, dass Sie
immer so tun, als wenn die ohnehin schon niedrigen
Steuersätze noch weiter gesenkt werden könnten, und
wir dann die nützlichen Idioten sind, die nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Umsetzung Ihrer Ideen suchen. So haben wir nicht gewettet, nur dass das einmal
klar ist.
({8})
Ihr Bundespräsidentenkandidat Köhler hat von einer
großen nationalen Anstrengung gesprochen. Diese Anstrengung wäre bei Ihnen wahrhaftig nötig; davon haben
wir heute Morgen aber überhaupt nichts gemerkt. Es ist
wichtig, dass Sie Ihre Substanzlosigkeit, die sich seit
Wochen in den Fragestunden zum Thema Volmer-Erlass
und auch heute Morgen zeigt, überwinden. Wir fordern
Sie auf, in diesem Parlament ernsthaft mitzuarbeiten und
die Polemik in der Öffentlichkeit zu beenden.
({9})
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass wir in der
öffentlichen Debatte mehr denn je gemeinsam versuchen
müssen, die Maßstäbe zurechtzurücken. In einem Jahr,
in dem Marie Juchacz 125 Jahre alt geworden wäre, sollten wir uns ab und zu einmal daran erinnern, mit welcher
Energie und unter welchem Druck unsere Vorgänger in
diesem Hause arbeiten mussten, um nach zwei verlorenen Weltkriegen Reformen durchzusetzen. Aber wir tun
hier so, als ob wir am Abgrund stehen würden, als ob
nächste Woche niemand mehr sein Brot bezahlen könnte
und das absolute Chaos in diesem Land ausbrechen
würde. Das ist Ihre Wortwahl. Dadurch werden die Menschen verunsichert. Wir finden es unanständig und unredlich, wie Sie mit der Öffentlichkeit umgehen. Auch
das lassen wir uns nicht mehr bieten.
({10})
Wir fordern Sie also auf: Nehmen Sie auch Rücksicht
auf die Menschen! Es nützt nichts, ständig zu polemisieren. Was wir in diesem Lande brauchen, ist die Zusammenarbeit. Darauf setzen wir. Das hat der Kanzler in seiner Rede zu Recht zum Ausdruck gebracht. Ich will
betonen: Trotz aller politischen Unterschiede und trotz
der Tatsache, dass Sie leider nicht in der Lage sind - so
auch heute nicht -, die notwendige Substanz für die politische Auseinandersetzung aufzubringen, brauchen wir
die Gemeinsamkeit und die Zusammenarbeit. Wir dürfen
diese Demokratie nicht vor die Hunde gehen lassen. Bei
manchen hat man in der öffentlichen Auseinandersetzung ab und zu den Eindruck, dass sie das bewirken.
Ich fordere auch bei Ihnen wenigstens einen Hauch
von Anstand in der politischen Auseinandersetzung ein.
Dieses Land braucht unsere Zusammenarbeit. Die Menschen wollen keine Polemik und sie wollen keine Auseinandersetzung, die nur an der Oberfläche stattfindet. Sie
wollen konkret wissen, wie es in diesem Lande weitergeht. Auf diese Fragen haben wir die Antworten heute
erneut gegeben. Wir wollen die Innovationen voranbringen. Wir wollen die Bildungsangebote - das hat Frau
Kressl, wie ich finde, ausgezeichnet ausgeführt - für die
jungen Menschen verbessern. Wir wollen die Wirtschaft
stabilisieren und Arbeitsplätze schaffen. Darum sind die
Prozesse im Rahmen der Umsetzung der Agenda 2010
in den vergangenen Monaten ein wichtiger, aber nicht
der einzige Baustein. Wir wollen und müssen die Reformen an dieser Stelle fortsetzen. Dazu treten wir an. Wir
lassen uns auf diesem Weg nicht bremsen.
({11})
Dass sich der Ton in der Auseinandersetzung in den
letzten Tagen und Wochen verändert hat, ist darauf zurückzuführen, dass wir gemerkt haben, dass wir in den
hektischen Monaten des vergangenen Jahres, in denen
wir die Reformprozesse umgesetzt haben, nicht alles in
Wilhelm Schmidt ({12})
dem Maße erklärt haben, wie es normalerweise der Fall
gewesen wäre. Das Entscheidende ist aber, dass wir trotz
allem den Weg nicht verändern dürfen. Wir müssen diesen Weg fortsetzen. Wir wollen allerdings die Menschen
mehr als bisher davon überzeugen.
({13})
Wir müssen zu Veränderungen in der Pflegeversicherung, in der Rentenversicherung und bei den Innovationen kommen, um unser Land zukunftsfest zu machen.
Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Darum setzen wir an
dieser Stelle auf die Zivilgesellschaft. Die organisierte
Zivilgesellschaft ist seit 141 Jahren bis heute für die
SPD sehr wichtig. Wir wollen die Menschen in den Organisationen, Verbänden und Vereinen erreichen und
mitnehmen. Wir wollen sie davon überzeugen, dass dieser Weg der einzig richtige ist. Fakten, die wir alle zur
Kenntnis nehmen können, belegen dies.
Dass der Krankenversicherungsbeitrag inzwischen
gesunken ist, ist ein ermutigendes Zeichen. Dass wir inzwischen einige Länder überzeugt haben, das Ganztagsschulprogramm umzusetzen, ist ebenfalls ein ermutigendes Zeichen. Hier können uns die Sozialverbände, die
Sportverbände und die Organisationen im Bereich der
Kultur und in anderen Bereichen unterstützen. Das soll
nicht geschehen, um die Politik dieser Regierung in den
Vordergrund zu rücken, sondern um für die Menschen in
diesem Land etwas zu tun.
Das ist der einzige Maßstab, der gilt.
({14})
Zur Zivilgesellschaft gehören auch die Unternehmen. Das muss man diesen immer wieder klar machen.
Es kann nicht angehen, dass die Aufgabenverteilung in
diesem Lande lautet: Wir schotten uns ab und machen
unseren eigenen Kram und für die unangenehmen Dinge
des Lebens ist die Politik zuständig. So haben wir erstens nicht gewettet und zweitens funktioniert es so auch
nicht. In enger Zusammenarbeit mit den Unternehmerverbänden und anderen müssen wir klar machen, dass
wir aufeinander angewiesen sind. Es geht nicht, auf der
einen Seite Profite einzustreichen, ohne auf der anderen
Seite Mitverantwortung für Arbeits- und Ausbildungsplätze in diesem Lande zu übernehmen. Die Verantwortung hierfür liegt auch in den Unternehmen. Ich kann nur
zitieren, was der Trigema-Chef, Wolfgang Grupp, gerade in diesen Tagen gesagt hat:
Die Arbeitslosen sind nicht von der Regierung gemacht, sondern von den Unternehmern.
Er setzt fort:
Unter Deutschlands Unternehmern herrscht Verantwortungslosigkeit und ein fataler Hang zum Abkassieren. Deutschland braucht verantwortungsvolle
Leistungsträger.
Das ist natürlich viel zu pauschal; das weiß ich wohl.
Aber es setzt ein Zeichen dahin gehend, dass es in dieser
Zeit auch verantwortungsbewusste Unternehmerinnen
und Unternehmer gibt. Auf diese bauen wir und auf deren Mitmachen setzen wir, damit wir das, was wir für
das Land und seine Menschen als wichtig erachten, umsetzen können.
Die Agenda 2010 hatte also von Anfang an einen
deutlichen zivilgesellschaftlichen Ansatz; ich bekräftige
ihn hiermit. Ich finde, dass wir die Menschen wieder
dazu bringen sollten, sich bereitwillig für die Gemeinschaft einzusetzen. Wir brauchen diesen Gemeinschaftsgeist. Er hat Deutschland in den vergangenen
Jahrzehnten stark gemacht. Wir appellieren, dass alle in
der Politik, alle in der Gesellschaft und alle in der Wirtschaft mitwirken, um diese Dinge, die wir im Interesse
der nächsten Generation auf den Weg bringen müssen,
zu vollenden.
Meine Damen und Herren, wir sind auf dem richtigen
Weg. Die Union bzw. die Opposition ist vielfach leider
auf dem Holzweg. Ich hoffe, dass sie bereit ist umzukehren.
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e sowie
Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({0}), Dr. Klaus W. Lippold ({1}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Deutschland braucht Klarheit bei der Verkehrsinfrastruktur
- Drucksache 15/2603 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({3})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission Ausbau des
transeuropäischen Verkehrsnetzes: Neue
Formen der Finanzierung interoperabler
elektronischer Mautsysteme
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die
allgemeine Einführung und die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gemeinschaft KOM ({4}) 132 endg.; Ratsdok. 8893/03
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 1999/62/EG über die
Erhebung von Gebühren für die Benutzung
bestimmter Verkehrswege durch schwere
Nutzfahrzeuge KOM ({5}) 448 endg.; Rats-
dok. 11944/03
- Drucksachen 15/1153 Nr. 2.33, 15/1547
Nr. 2.128, 15/2588 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Volkmar Uwe Vogel, Dirk Fischer ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Planungs- und Finanzierungssicherheit für die
ICE-Strecken ABS/NBS Nürnberg-Erfurt
({7})
und Erfurt-Leipzig/Halle ({8}) schaffen
- Drucksache 15/2653 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2003
- Drucksache 15/2323 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 2003
- Drucksache 15/2456 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/2743 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({13}), Sibylle Laurischk, Joachim
Günther ({14}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gesamtverkehrskonzept Südbaden - Bündelung von Schiene und Straße im Rheingraben
- Drucksache 15/2470 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Eduard Oswald, CDU/CSU-Fraktion.
({15})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit einem Zitat:
Mobilität ist die Grundlage für Wachstum und Beschäftigung. Mobil sein bedeutet für die meisten
Menschen Freiheit und Lebensqualität. … Politik
für eine leistungsfähige Infrastruktur - das ist aktive Wirtschaftspolitik, sie stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland und sichert die Zukunft unseres Landes.
({0})
Das sind die Kernsätze aus der Einleitung zu Ihrem
Bundesverkehrswegeplan 2003.
({1})
Wenn Sie Ihre Grundsätze auch umgesetzt hätten,
dann hätten Sie wenigstens etwas erreicht. So aber liegen bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.
({2})
Mit Ihrer Investitionspolitik werden Sie den Notwendigkeiten nicht gerecht. Unsere Infrastruktur ist in Not.
Wenn die Meldungen zutreffen, wonach in Ihrer Mittelfristplanung für den Zeitraum 2004 bis 2008 der
Straße rund 3,9 Milliarden Euro, der Schiene 3,5 Milliarden Euro und der Wasserstraße 386 Millionen Euro
fehlen, dann gefährden Sie nicht nur immer mehr Arbeitsplätze in der Baubranche, sondern blockieren auch
die weitere Entwicklung des Wirtschaftsstandortes
Deutschland.
({3})
Hierzu müssen Sie, Herr Bundesminister, heute Stellung
nehmen. Hier und heute darf nicht wie sonst vernebelt
werden. Hier muss vielmehr Klarheit geschaffen werden.
Bezogen auf den gesamten Haushalt muss ich feststellen: Noch nie war der Investitionsanteil des Bundes
so niedrig wie heute. Auch dies muss festgehalten werden.
({4})
Mit Ihrer Politik der Kürzung bei den Verkehrsinvestitionen blockieren Sie die Mobilität jedes Einzelnen und gefährden die notwendige Mobilität von Industrie und
Handel, denen die unzureichende Verkehrsinfrastruktur
zu schaffen macht.
Sie übersehen dabei die Auswirkungen auf den
Baubereich. Investitionen sind wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Initialzündungen. Jeder Euro, der in Investitionen fließt, zahlt sich mehrfach aus. Bauinvestitionen finanzieren sich zu zwei Dritteln selbst, und zwar
über Steuermehreinnahmen, entsprechend höhere Sozialversicherungsbeiträge und weniger Arbeitslosenunterstützung. Diese Dinge müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Deutschland braucht mehr Verkehrsinvestitionen,
denn Staus sind an der Tagesordnung. 15 Prozent unseres Autobahnnetzes sind chronisch überlastet. Nur noch
77 Prozent sind voll gebrauchsfähig, bei den Bundesstraßen sind es weniger als 70 Prozent. Die Staus kosten Zeit
und Arbeitskraft. Sie vergeuden Ressourcen und treiben
den Kraftstoffverbrauch in die Höhe. Die schädlichen
Folgen für die Umwelt sind offensichtlich. Die volkswirtschaftlichen Verluste beziffern sich auf rund 100 Milliarden Euro Jahr für Jahr. Diese Zahlen müssen uns alle erschrecken und man kann nicht einfach zur Tagesordnung
übergehen.
({5})
Eines ist auch klar: Unter dem Mangel an Instandhaltungsmaßnahmen leidet auch die Sicherheit auf unseren Straßen.
({6})
- Je unruhiger es auf der linken Seite des Hauses ist,
umso mehr weiß ich, dass ich Recht habe.
({7})
Züge fahren unpünktlich, denn Langsamfahrstellen
behindern den Verkehrsfluss und mindern die Leistungsfähigkeit der Bahn im Bereich des Personen- und Güterverkehrs. Teile unseres Schienennetzes sind sanierungsbedürftig. Auch die Binnenschifffahrt hat bei Ihnen an
Bedeutung verloren.
Sie müssen sich um all diese Themen kümmern. Sie
müssen aus Ihrer Mautlähmung endlich wieder herauskommen und politisch handeln.
({8})
Sie müssen den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur stärker
am Bedarf orientieren, denn der Bürger, der für die Nutzung des Verkehrssystems viel Geld bezahlt, erwartet
von den politisch Verantwortlichen zu Recht Lösungen
der bestehenden Mobilitätsprobleme.
({9})
Der Autofahrer in Deutschland wird kräftig zur Kasse
gebeten. Von jedem Euro, den er an der Tankstelle bezahlt, fließen 73 Cent in die Kasse des Finanzministers.
({10})
Noch nie waren die Belastungen im Bereich des Straßenverkehrs so hoch wie heute: Die Einnahmen durch die
KFZ- und Mineralölsteuer summieren sich auf 45 Milliarden Euro pro Jahr. Hinzu kommt die weder ökologisch noch ökonomisch sinnvolle Ökosteuer. Wir sind
inzwischen bei der fünften Stufe.
({11})
Daraus sind dem Fiskus noch einmal insgesamt 5 Milliarden Euro zugewachsen. Damit summieren sich die
steuerlichen Belastungen des deutschen Autofahrers auf
50 Milliarden Euro. Das sind 17 Milliarden Euro mehr
als vor zehn Jahren.
Sie können also der Öffentlichkeit nicht vermitteln,
dass es für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur am
Geld fehlt. Der Autofahrer zahlt dafür bereits, meine
sehr verehrten Damen und Herren!
({12})
Ich weiß, es tut weh, den Autofahrern zu sagen: Wir kassieren ab, tun aber gleichzeitig nichts für die Straßen.
({13})
- Die Unruhe spricht für sich.
Wenn einer Abgabenlast auf den Straßenverkehr in
Höhe von rund 50 Milliarden Euro jährlich weniger als
5 Milliarden Euro Investitionsausgaben in die Bundesfernstraßen gegenüberstehen, ist das so nicht hinnehmbar.
({14})
Wer zwei Tage vor der Bundestagswahl übereilt einen
Mautvertrag abschließt
({15})
und sich publikumswirksam feiern lässt, darf sich nicht
wundern, wenn er dann, wenn es nicht funktioniert, auch
die Kritik einstecken muss.
({16})
Tatsache ist doch, dass Sie sich schon vor vier Jahren,
im September 2000, für ein so genanntes Anti-StauProgramm mit großem Presserummel haben feiern lassen. Sie sagten, dass zur Engpassbeseitigung auf Straßen, Schienen und Wasserstraßen die Einnahmen aus der
LKW-Maut verwendet werden sollten und Programmstart sei der 1. Januar 2003. Sie sagten auch, das Programm ermögliche gegenüber dem Normalprogramm
zusätzliche Investitionen. Wie Sie hier gehandelt haben,
war doch unseriös.
({17})
Die Tragik ist, dass nicht nur die Maut nicht funktioniert hat, sondern dass auch Ihr Controlling völlig unzureichend war. Hinzu kommt, dass Sie im Bereich der
Verkehrs- und Baupolitik die anderen Themen haben liegen lassen. Noch nie hat eine Regierung die Menschen
und die Bauwirtschaft so verunsichert, wie Sie das in Ihrer Regierungszeit getan haben.
({18})
Was im Verhältnis von Bahn und Bundesregierung
abläuft, ist ohnehin ein Jammerspiel.
({19})
Wer bestimmt eigentlich über Investitionen auf und bei
der Schiene? Nicht die Bahn stellt den Bahnminister;
vielmehr hat der Verkehrsminister des Bundes diese
Aufgabe wahrzunehmen. Er muss entscheiden, was in
Deutschland in die Schiene investiert werden soll und
wie viel man braucht, niemand anders.
({20})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, denken Sie
daran, dass Sie Ihren gesamten Bundesverkehrswegeplan darauf aufgebaut haben, die Leistungen des Schienengüterverkehrs bis zum Jahr 2015 zu verdoppeln!
Das ist Ihr hoher Anspruch. Wie wollen Sie ihn erfüllen?
Wenn es nicht gelingt, der Schiene die notwendigen Investitionsmittel zu geben, dann bleibt die Verlagerung
des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene eine
Utopie.
({21})
Die Infrastruktur ist in Not. Sie müssen der Infrastruktur mehr Gewicht geben, sie braucht höhere Investitionen. Das Verkehrssystem darf für die Wirtschaft nicht
zur Wachstumsbremse werden.
In diesen Tagen fallen wichtige Entscheidungen über
Baubeginne. Es reicht natürlich nicht, wenn Sie bis auf
die Projekte zur Fußballweltmeisterschaft 2006 kaum
Baubeginne ermöglichen. Das geht nicht an. Dann werden wir in Deutschland total im Stau stehen.
({22})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss.
Ja, Herr Kollege, ich würde darum bitten.
Jede Ortsumgehung ist Menschenschutz. Wir müssen
alle miteinander zur Kenntnis nehmen: Verkehrsinvestitionen sind keine Subventionen,
({0})
sondern notwendig für unser Land, für Arbeitsplätze. Sie
sind Zukunftsinvestitionen.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bauund Wohnungswesen, Manfred Stolpe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Abgeordneter Oswald, ich möchte Ihnen
ausdrücklich für das Zitat aus dem Bundesverkehrswegeplan danken. Es stimmt; dabei bleibt es. Der Bundesverkehrswegeplan bleibt auch.
Ich muss Sie nur ganz herzlich bitten, sich nicht darüber hinwegzusetzen, dass die Finanzen für den
Einzelplan 12 von den dafür zuständigen Organen beschlossen werden, also von Bundestag und Bundesrat.
Sie haben eine Entscheidung getroffen, die uns jetzt Sorgen macht, nämlich dass Zuschüsse zu Verkehrsinvestitionen als Subventionen gewertet werden. Mit diesem
Thema werden wir noch zu tun haben. Das ist der Hauptgrund dafür, dass wir im Moment etwas zögerlich an die
Auftragsvergabe herangehen.
Ich will hier keine Namen nennen; es ist inzwischen
deutschlandweit bekannt, wie das zustande gekommen
ist.
({0})
Es hat auch die Unterstützung von Menschen gefunden,
die seit vielen Jahren im Bereich der Verkehrsinvestitionen tätig sind und eigentlich wissen müssten, was da auf
sie zukommt und was wir nun wieder aus dem Wege räumen müssen.
Als diejenigen, die die Herrschaft über den Haushalt
haben, wissen Sie natürlich auch, dass das Haushaltsrecht nicht zulässt, Aufträge auszuschreiben, wenn die
Mittel nicht vorhanden sind und auch mit Blick auf die
Folgejahre keine Sicherheit besteht. Das ist in der Tat
eine Herausforderung, vor der wir stehen und mit der wir
uns auseinander setzen. Dabei ducken wir nicht ab.
Ich habe aber auch eine gute verkehrspolitische Nachricht. Sie soll ein wenig über den Streit dieser Tage
hinwegführen. Wir haben nach langen Bemühungen vor
wenigen Tagen erreicht, dass ein wichtiges europapolitisches Verkehrsvorhaben mit Symbolkraft im sächsischen Zittau jetzt endlich realisiert werden kann. Darüber ist genau 13 Jahre verhandelt worden.
({1})
Es gab viele Unsicherheiten und es kam immer wieder zu Unterbrechungen der Verhandlungen. Es gab Vertragsentwürfe, die uns hoffen ließen, diese Straße, die
um Zittau herum durch drei Länder führt und ins Tschechische sowie ins Polnische reicht, endlich zu bauen;
dann hat es wieder eine Verschiebung gegeben.
Jetzt herrscht Klarheit. Wir werden in wenigen Tagen
einen Vertrag unterzeichnen können. Am 1. Mai werden
die Regierungschefs der drei beteiligten Länder in einem
symbolischen Akt den ersten Spatenstich vollziehen
können. Das ist handfeste Europapolitik, die im Rahmen
von Verkehrsinfrastrukturinvestitionen gestaltet werden
kann.
Ich bin allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Verwaltungen des Bundes und des Freistaats Sachsen
sehr dankbar, die mit viel Geduld, Fantasie, Kreativität
und gelegentlich auch Demut geholfen haben, endlich zu
diesem Ergebnis zu kommen; denn die Osterweiterung
wird kommen. Dafür wollen wir gerne Symbole errichten. In diesem Zusammenhang brauchen wir Verkehrsinvestitionen.
({2})
- Da ich Ihren Einwurf gut gehört habe, will ich Ihnen
sagen: Wir sind auf die Osterweiterung wirklich gut vorbereitet.
({3})
Wir wissen, dass sie eine große Herausforderung für uns
ist. Wir wissen aber auch um die Sorgen der Menschen.
Manche befürchten, dass ab dem 1. Mai dieses Jahres
geradezu eine Lawine zusätzlichen Verkehrs auf uns zurollen wird. Hierzu will ich ganz klar sagen: Das wird
nicht so sein. Denn erstens entwickeln sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und
seinen östlichen Nachbarn seit Jahren kontinuierlich
weiter. Deshalb wird der 1. Mai dieses Jahres keinen explosionsartigen Aufwuchs bedeuten.
({4})
Zweitens haben wir auch die nötigen Vorbereitungen für
den anstehenden Ausbau und die Modernisierung miteinander getroffen.
Wir haben bereits große Transitstrecken modernisiert
und ausgebaut. Hier erinnere ich an die A 2 und die A 4.
Die anderen Projekte laufen planmäßig weiter. Auch die
Diskussion, die wir gerade geführt haben, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die A 6, die A 8, die A 17
und die A 20 weitergebaut werden;
({5})
all dies sind Strecken, die viel mit den entsprechenden
Verkehrsverbindungen zu tun haben.
Die 24 für den Verkehr zwischen Tschechien, Polen
und Deutschland besonders bedeutsamen Projekte sind
darüber hinaus im Bundesverkehrswegeplan 2003 als
Projekte im Rahmen der EU-Osterweiterung gesondert
aufgeführt. Sie alle sind als vordringlicher Bedarf und
als internationale Projekte eingestuft. Auch im Rahmen
der diesbezüglichen Debatten in der Europäischen Union
haben wir dafür Sorge getragen, dass sie als Transeuropäische Netze anerkannt worden sind.
({6})
Aber, meine Damen und Herren, das kostet Geld. Allerdings handelt es sich hierbei um Investitionen in die
Zukunft unseres Landes. Für diese Regierung galt es
1998 ja zunächst, die vorgefundene Unterfinanzierung
von Verkehrsinvestitionen zu beenden.
({7})
Das war die erste Aufgabe, die wir erfüllen mussten. Ich
muss Sie ja nicht an die entsprechenden Zahlen erinnern,
die wir vorgefunden haben. Die Bundesregierung hat
1999 schnell Entscheidungen getroffen. Erstens wurden
Umschichtungen vorgenommen, sodass im Startjahr
- sozusagen als Erste Hilfe - rund 10 Milliarden Euro
zur Verfügung standen. Zweitens wurde die PällmannKommission eingesetzt, die konkrete Vorschläge zur Aktivierung zusätzlicher Mittel erarbeitet hat.
Die Ergebnisse waren, dass wir deutlich mehr Investitionen und eine Maut brauchen. Deshalb haben wir beschlossen, die streckenbezogene Maut für den Schwerlastverkehr einzuführen und die Mauteinnahmen für
Verkehrsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Nach
zwei gescheiterten Starts - Sie haben daran erinnert,
dass diesen Vorgängen gelegentlich auch ein Hauch von
Abenteuer anhaftete - haben wir mit den Unternehmen
inzwischen ein gutes Maß an Verlässlichkeit und Sicherheit erreichen können. Uns wurde ein plausibler und
nachvollziehbarer Zeitplan vorgelegt, nach dem spätestens am 1. Januar 2005 Einnahmen erzielt werden. Als
deutlicher Beleg dafür, dass die Unternehmen auch
selbst an ihre Technik glauben, ist zu werten, dass sie höheren Vertragsstrafen und einer Haftung in durchaus angemessener Höhe zugestimmt haben.
Deshalb sind wir bereit, das LKW-Mautsystem auch
weiterhin mit dem bestehenden Konsortium aufzubauen.
Uns geht es nun darum, dass das Unternehmen mit der
neuen Mannschaft, die inzwischen zur Verfügung steht,
schnell und zuverlässig den Aufbau des Systems fortsetzt und damit auch Transparenz und Sicherheit für die
beteiligten Unternehmen schafft.
Meine Damen und Herren, in unserer heutigen
Plenardebatte ist mir wichtig, Folgendes deutlich zu sagen: Das Fehlen von Mauteinnahmen konnte im Haushaltsausschuss am 3. März dieses Jahres dadurch ausgeglichen werden, dass die vorgesehenen Mittel des
Einzelplans 12 vollständig zur Verfügung gestellt wurBundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
den. Mautausfälle haben damit keine Streichung von
Verkehrsprojekten zur Folge.
({8})
Für die Gegenfinanzierung haben wir eine vertretbare
Lösung gefunden; das ist auch im Haushaltsausschuss
und im Verkehrsausschuss erörtert worden. Damit werden wir 2004 alle begonnenen Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs weiterbauen können. Wir werden
auch wichtige Neubaumaßnahmen gestalten; die Entscheidungen fallen in diesen Tagen.
({9})
Sorgen erwachsen uns, wie vorhin schon angedeutet,
aus der Tatsache, dass auf dem Haushalt 2005, der noch
nicht beschlossen ist, eine Hypothek lastet,
({10})
die Sie alle mitzuverantworten haben, nämlich die Einstufung von Investitionszuschüssen als Subventionen.
({11})
Diese Unsicherheit wollen wir ausräumen. Wir wollen
die neu geplanten Investitionen angehen, aber können im
Jahr 2004 - das wissen Sie als Profis genau - keine Entscheidungen für mehrjährige Investitionen treffen, weil
man ab 2005 Verpflichtungsermächtigungen bräuchte.
Da das nicht geht, können wir solche Maßnahmen noch
nicht starten. Wohl aber werden wir mit Blick auf die
Jahre 2005 und 2006 einige besonders dringliche Vorhaben in Gang setzen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grund?
Ich mache erst einmal weiter. - Wir bleiben dabei:
Was haushaltsrechtlich gesichert ist, wird sofort entschieden; das kann man gar nicht oft genug sagen. Die
weiteren Entscheidungen treffen wir sofort, wenn wir
Klarheit über den Haushalt 2005 haben. Ich gehe davon
aus, dass wir für den Haushalt 2005 die vordringlichen
Verkehrsinvestitionen gewährleisten können und diesbezüglich hier eine breite Übereinstimmung erreicht
wird. Es gibt wohl niemanden in diesem Saal, der nicht
weiß, wie bedeutsam Verkehrsinvestitionen sind: für unser Land, für die Mobilität der Menschen - besonders für
diejenigen, die pendeln müssen - und nicht zuletzt für
die Arbeitsplätze. Diese Debatte haben wir noch vor uns;
auch da werden wir, denke ich, zu einem vernünftigen
Ergebnis kommen.
({0})
Ich bitte, in dem Zusammenhang noch einmal herausstellen zu dürfen, dass der Bundesverkehrswegeplan bereits jetzt eine große Zahl laufender und fest disponierter
Vorhaben enthält: 600 Projekte laufen, sie werden weitergeführt. Ein Finanzierungsvolumen von 29 Milliarden Euro steht zur Verfügung. Auch auf diese Weise
wird zum Ausdruck gebracht, wie bedeutsam für uns alle
die Verkehrsinfrastrukturinvestitionen sind.
Die große Bedeutung, die wir der Schiene zumessen,
ist in den letzten Jahren durch die Investitionssummen
herausgestellt worden: Wir haben trotz Haushaltskonsolidierung durchschnittlich rund 3,8 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung gestellt; gestartet sind wir - daran
darf ich erinnern - mit 2,7 Milliarden Euro. Diese Regierung hat also einen ganz erheblichen Schritt nach vorne
getan. Auch zukünftig werden wir die Grundsanierung
des bestehenden Netzes und die zeitnahe Fertigstellung
ausgewählter Vorhaben gewährleisten.
({1})
Wir sind dabei, bei den neu zu beginnenden Schienenvorhaben - die bereits begonnenen werden selbstverständlich weitergeführt - kurzfristig eine Priorisierung
vorzunehmen. Wir sind mit der Bahn im Gespräch, um
zu Verständigungen zu kommen. Ich bin überzeugt, dass
Investitionen in das Schienennetz für die Bewältigung
des wachsenden Verkehrsaufkommens - sowohl im Personen- wie auch im Güterverkehr - unverzichtbar sind.
Dies gilt in besonderem Maße für die Fertigstellung der
noch nicht vollendeten Verkehrsprojekte wie zum Beispiel des VDE 8.1/8.2, Leipzig/Halle-Erfurt-Nürnberg.
Diese Maßnahme hat neben ihrer rein wirtschaftlichen
Bedeutung hohe Symbolkraft für das Zusammenwachsen Deutschlands und Europas. Sie wird weitergeführt.
({2})
Alle Behauptungen, dass sie unterbrochen, abgebrochen,
gar nicht erst begonnen wird, weise ich hier zurück: Das
trifft nicht zu.
({3})
Im internationalen Verkehr werden wir den europäischen Einigungsprozess auch durch Investitionen in die
Infrastruktur stützen. In Deutschland kommen dem
nördlichen und dem südlichen Ast der Eisenbahnstrecke
Paris-Ostfrankreich-Südwestdeutschland große Bedeutung zu. Dazu haben wir Absprachen getroffen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass unsererseits dieses europäische Projekt zeitgerecht fertig gestellt werden kann.
Meine Damen und Herren, es ist viel zu tun. Wir befinden uns zurzeit mit Blick auf das Jahr 2005 in einer
Phase der Unsicherheit. Deshalb möchte ich hier eine
Binsenweisheit vortragen, die vermutlich noch von vielen von Ihnen vorgetragen werden wird: Investitionen in
die Verkehrsinfrastruktur bedeuten wirtschaftlichen
Fortschritt, sie sichern Mobilität und vor allem Arbeitsplätze. Das ist einfach wahr. Wir von der Regierung wissen das und werden das beachten. 1 Milliarde Euro an
Investitionen in Straße, Schiene oder Wasserstraße
bedeuten 24 000 Arbeitsplätze. Wer wie wir um Arbeitsplätze ringt, der wird das nicht vergessen und dafür
Sorge tragen, dass die Mittel zur Verfügung stehen.
({4})
Ich möchte Sie alle herzlich bitten, bei allen Auseinandersetzungen - die auch der Belebung des Geschäftes dienen - zu bedenken: Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur sind Langzeitvorhaben und sind nicht an
Wahlperioden orientiert. Wir sind bemüht - das kann ich
Ihnen angesichts meiner Erfahrungen aus der politischen
Zusammenarbeit in der Koalition versichern -, unseren
Verpflichtungen nachzukommen, und werden die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Wir brauchen Mobilität. Mobilität ist ein Hauptfaktor für die Sicherung
unserer Zukunft.
({5})
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr
Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich war wirklich gespannt, ob Sie Ihre nicht zu widerlegende Aussage, es müsse mehr Investitionen in die
Verkehrswege geben, heute mit Zahlen, Zeithorizonten
und konkreten Fakten belastbar unterlegen. Doch mit
dem, was Sie geboten haben, haben Sie aus meiner Sicht
eher gezeigt, dass Sie sich eine eigene Realität geschaffen haben. Offensichtlich leben Sie in einer ganz anderen Welt, die mit der Realität im Verkehrswegebau draußen im Land nichts gemein hat. Mehr kann ich dazu
nicht sagen.
({0})
Sie berufen sich auf den Haushaltsausschuss und sagen, schließlich habe er die Entsperrung aufgehoben.
Das ist richtig, nur: Geld, das im Haushaltsansatz nicht
zur Verfügung steht, mag gesperrt sein oder nicht - es ist
und bleibt nicht vorhanden. Man muss sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen, was Sie als „seriöse Gegenfinanzierung“ bezeichnen: Sie stellen mal eben
1 Milliarde Euro ein, die aus einem Schiedsgerichtsverfahren mit Toll Collect kommen soll, das noch gar nicht
begonnen hat und von dem kein Mensch weiß, wann es
enden und wie viel Geld überhaupt herausspringen wird.
Das geht nach dem Prinzip „Glaube und Hoffnung“; so
viel zum Thema Seriosität der Haushaltszahlen.
Ein anderes Beispiel. Sie nehmen sich 1 Milliarde
Euro von der Deutschen Bahn und sagen: Nehmt diesen
Betrag am freien Markt auf, aber die Zinslasten bleiben
bei euch! - Dafür darf die Bahn noch bisher zinslose
Baukostenzuschüsse vorzeitig tilgen; das macht im Volumen 2 Milliarden Euro. In der Situation, in der sich die
Bahn derzeit befindet - ich komme noch darauf zu sprechen -, kann Herr Mehdorn das machen, aber es ist keine
Antwort auf die Probleme des Wirtschaftsstandortes
Deutschland.
({1})
Bei Investitionen in Verkehrswege geht es um mehr
als nur um Sicherung von Mobilität. Infrastruktur war
bisher einer der entscheidenden Standortfaktoren,
wenn es um Firmenansiedlungen in Deutschland und um
die Schaffung von Arbeitsplätzen ging. Nur wenn Infrastruktur und Verkehr funktionieren, ist man bereit, zu investieren.
({2})
Das kann man nachweisen. Aber Sie sind in Ihrer Regierungszeit dabei, diesen Vorteil zu verschenken.
Herr Minister, am meisten ärgert mich, dass Sie nun
die Herren Koch und Steinbrück in die Schurkenrolle hineindrängen und etwas behaupten, was gar nicht stimmt.
({3})
Im Koch/Steinbrück-Programm steht mit keinem Wort,
dass die Höhe der Straßenbauinvestitionen reduziert
werden soll. Das haben Sie und nur Sie hineininterpretiert.
({4})
Das wird auch nicht dadurch besser und intelligenter,
dass Sie jetzt von sich aus E-Mails an alle Bundesländer
herausschicken, in denen steht, welche Verkehrsprojekte
nicht mehr abgewickelt werden können.
Wenn es stimmt, was Pro Mobilität geschrieben hat,
dann haben sich Koch/Steinbrück auf eine Ausarbeitung
des Deutschen Instituts für Wirtschaft und den dortigen
Subventionsbericht bezogen. In diesem steht dezidiert,
dass Straßenbau kein Subventionsbegriff ist. Man höre
und staune:
Wegen des hohen Einnahmenüberschusses des
Bundes aus dem Straßenverkehr kämen die Kieler
Wissenschaftler in ihren Veröffentlichungen zu dem
Schluss, Straßenbauinvestitionen seien eindeutig
nicht als Subventionen einzuordnen. „Es gibt keine
Subvention des Straßenbaus und damit auch keinen
Subventionsabbau.“
Genau das wollen Sie mit aus unserer Sicht völlig falschen Behauptungen widerlegen. Dieser Punkt muss einmal deutlich gemacht werden.
({5})
Da wir gerade bei den Zahllasten und dem Rückfluss
in die Verkehrsträger sind und da das Ganze vor dem
Hintergrund geschieht, dass die Bahn im Wettbewerb
mit den anderen Verkehrsträgern angeblich benachteiligt
wird, ist es interessant, sich einmal zu vergegenwärtigen,
wer was tatsächlich zahlt und was man dafür erhält.
Wenn Ihre eigenen Zahlen in der vom Bundesministerium herausgegebenen Broschüre „Verkehr in Zahlen“
und auch die Charts der Bahn stimmen, dann zahlen die
Verkehrsteilnehmer auf der Straße - Kollege Oswald hat
das bereits gesagt - im Jahre 2004 48 Milliarden Euro.
Horst Friedrich ({6})
Davon haben Sie aufgrund der Maßnahmen seit Ihrer
Regierungsübernahme im Jahre 1998 rund 16 Milliarden Euro zu verantworten. Der Rückfluss an den Verkehrsträger Straße beträgt seit 1994, also seit der Umsetzung der Bahnreform, 53 Milliarden Euro, während sich
die kumulierten Einnahmen aus dem Straßenverkehr in
dieser Zeit auf 390 Milliarden Euro beliefen.
Schauen wir uns einmal an, wie die entsprechenden
Zahlen bei der Bahn aussehen: Die Bahn zahlt nach eigenen Angaben 380 Millionen Euro im Jahr; seit der Bahnreform kommt man so auf zusammengerechnet etwa
2,5 Milliarden Euro. Das ist fürwahr eine beachtliche
Zahl, die sich aber relativiert, wenn man weiß, dass die
Bahn in dieser Zeit knapp 200 Milliarden Euro erhalten
hat - und das, obwohl dieser Verkehrsträger im Schnitt
nur knapp 8 Prozent der Verkehrsleistungen erbringt.
Hier muss man ansetzen.
({7})
Deswegen ist das, was Sie hier vorschlagen, nicht sachgerecht, sondern rein ideologisch bedingt. Das setzt sich
auch beim Verkehrsträger Binnenschifffahrt und bei den
Wasserstraßen fort.
({8})
Was nützt denn das von Ihnen beauftragte und groß
verbreitete Planco-Gutachten, in dem definitiv steht,
dass Investitionen in Kanäle notwendig sind, um der
Binnenschifffahrt die Chance zu geben, wenigstens im
Containerverkehr Umsätze zu erzielen, wenn Sie weiterhin aus ideologischen Gründen unsere Anträge ablehnen, die Brücken über den Kanälen zu erhöhen - angeblich soll das die Hochwassergefahr erhöhen -, damit
Schiffe mit einer größeren Anzahl an Containerlagen
dort durchfahren können? Sie müssen mir schon einmal
erklären, wie die Hochwassersituation in Deutschland
durch das Anheben einer Brücke beeinträchtigt werden
soll. Die Realitätsferne der Argumentation Ihres Hauses
und Ihrer Koalitionsfraktionen ist nicht mehr zu überbieten. Das setzt sich bei der Luftfahrt in gleicher Weise
fort.
Herr Minister, jetzt komme ich zur eigentlichen politischen Verantwortung. Sie wussten ganz genau, dass die
Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen - diese haben Sie in letzter Zeit noch ein wenig gestützt - Ende
des Jahres 2003 auslaufen. Vor diesem Hintergrund war
Ihnen sicherlich auch bewusst, dass nur durch ein funktionierendes Maut-System einigermaßen dafür gesorgt werden kann, dass die Höhe Ihrer Investitionen konstant
bleibt. Diese war trotz der steigenden Steuerbelastungen
nur maximal genauso hoch, wie bei uns von 1994 bis
1998; erlauben Sie sich einmal nicht nur den Blick auf
das Jahr 1998, sondern auch auf die Jahre davor. Trotz
der eingerechneten Erlöse aus dem Verkauf der UMTSLizenzen und aus der Maut erreichen Sie in Ihrem Haushaltsansatz bei einer gegenüber unserer Zeit deutlich gestiegenen Steuerbelastung für die Verkehrsteilnehmer
nur eine Investitionshöhe von knapp 10 Milliarden Euro.
Diesen Vergleich nehme ich gerne auf. Bezogen auf
die Verkehrsinvestitionen der schwarz-gelben Regierung
lasse ich mich sicherlich nicht an die Wand stellen.
({9})
Ganz zu schweigen davon, dass Sie jetzt offensichtlich
immer noch nicht wissen, wie es Sinn machen würde,
haben Sie hier noch einigen Nachholbedarf.
({10})
Herr Kollege Schmidt, es geht nicht darum, der
Schiene nun etwas wegzunehmen. Es geht schlicht darum, knappe Mittel am effektivsten einzusetzen. In diesem Fall muss man sich auch die Verkehrsleistungen anschauen.
Nächstes Thema. Mit dem, was Sie jetzt machen, legen Sie endgültig die Axt an die Wurzeln der mittelständischen Straßenbauunternehmen: Bei der
Schiene wollen Sie nur noch Erhaltungsaufwand betreiben. Die Bahn kauft mittlerweile Gleisbettungsmaschinen, obwohl diese am freien Markt flächendeckend vorhanden sind, um auch diese Aufgaben selber zu machen.
So wird die mittelständische Bauwirtschaft endgültig abgewürgt. Entsprechende Briefe aus diesem Bereich bestätigen es: Diese gewachsenen, qualitativ hochwertigen
Unternehmen der Bauwirtschaft sind von Ihrer Investitionspolitik getroffen. Auch darum könnten Sie, Herr
Minister, sich einmal kümmern. Schließlich geht es um
Arbeitsplätze, und zwar hauptsächlich in der mittelständischen Bauindustrie.
({11})
Ein Letztes: Vor dem Hintergrund der Diskussionen
um die vorhandenen Mittel macht es Sinn, noch einmal
ernsthaft über bestimmte Verkehrswegeführungen auf
der ICE-Trasse zwischen Offenburg und Freiburg - ich
weiß, dass auf der Tribüne eine Besuchergruppe aus
Südbaden sitzt - nachzudenken, bevor hierfür Geld ausgegeben wird. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt,
der unter vielen anderen hier ebenfalls zu beraten ist. Ich
empfehle ihn nicht nur Ihrer Beachtung, sondern auch
Ihrer Zustimmung.
Wir werden sehen, wie konkret und belastbar Ihre
Fakten sind. Ich fürchte, die deutsche Bauindustrie ist
bei Ihnen verlassen.
Danke sehr.
({12})
Das Wort hat der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe von diesem Pult wiederholt und
deutlich davor gewarnt: Das Konzept, das die Herren
Koch und Steinbrück erarbeitet haben, ist nicht der Rasenmäher zum Abbau von Subventionen, sondern die
Axt im Wald der Investitionen. Was den Verkehrswegebau in Deutschland angeht, ist das die brutalste Kürzungsorgie, die ich bisher erlebt habe. Es lohnt sich, verehrter Herr Kollege Friedrich, ein paar Takte darüber zu
verlieren, was Koch und Steinbrück zur Grundlage gemacht haben
({0})
- habe ich wirklich „Grund“ gesagt, dass sich der Kollege sofort zu einer Zwischenfrage meldet? ({1})
und was im Vermittlungsausschuss daraus gemacht
wurde.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grund?
Aus grundsätzlichen Erwägungen immer.
Da mich der verehrte Herr Kollege Schmidt angesprochen hat,
({0})
stelle ich eine Zwischenfrage. - Lieber Kollege Schmidt,
zum wiederholten Male werden in der Debatte die Namen Koch und Steinbrück und ihre Vorschläge zur Subventionskürzung genannt. Es wurde ja bereits darauf
hingewiesen, dass sich diese Kürzungen nicht auf die
Verkehrswege beziehen.
({1})
Würden Sie mir bestätigen, dass die Einsparungen, die
der Bundesverkehrsminister im Zuge einer globalen
Minderausgabe zur Stützung der Rentenkassen zu erbringen hat, mehr als doppelt so hoch sind wie alle Einsparungen, die mit dem Koch/Steinbrück-Papier einhergehen? Stimmen Sie mir zu, dass dies nicht von den
Herren Koch und Steinbrück zu verantworten ist, sondern dass der Bundesfinanzminister das in diesen Haushalt gedrückt hat?
({2})
Lieber Kollege Grund, Ihre Frage gibt mir die Gelegenheit, mich mit dem auseinander zu setzen, was ich
ohnehin vorgetragen hätte - allerdings außerhalb der Redezeit; das ist Pech, dass Sie die Zwischenfrage so früh
gestellt haben -, nämlich was wirklich in dem Koch/
Steinbrück-Papier steht.
Ich fange mit dem letzten Punkt an, den Sie angesprochen haben. Es ist richtig, dass in dem Papier von Kürzungen - einseitigen Kürzungen: nur zulasten des Schienenbaus! - die Rede ist, und zwar in Höhe von rund
300 Millionen Euro im ersten Jahr, 600 Millionen Euro
im zweiten Jahr und 900 Millionen Euro im dritten Jahr.
({0})
Additiv zu diesen Kürzungen wäre in diesem Haushaltsjahr und - wenn es nach dem Willen des Bundesfinanzministers geht - in den folgenden Haushaltsjahren eine
Summe abzuziehen, die sich aus der globalen Minderausgabe zur Rentenfinanzierung und der Rückzahlung
für die Zwischenfinanzierung der Mautausfälle aus den
Jahren 2003 und 2004 zusammensetzt. Das zumindest
stellt sich der Bundesfinanzminister an dieser Stelle vor.
In dem Papier steht aber auch - das wollen wir nicht
verheimlichen -: Einseitige Kürzungen zulasten der
Schiene bedeuten Eingriffe an einer völlig falschen
Stelle, nämlich allein im investiven Bereich. 68 Prozent
der Mittel, die als Ergebnis der Verhandlungen des Vermittlungsausschusses über das Koch/Steinbrück-Papier
gekürzt werden sollten, betreffen den Einzelplan 12,
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Das heißt im Klartext, dass erstens einseitig zulasten
des Verkehrs- und Bauetats gekürzt werden soll, zweitens einseitig zulasten der Schiene und drittens - jetzt
kommt der eigentliche Kardinalfehler - wird in dem Papier ein verlogener und grundfalscher Investitions- und
Subventionsbegriff zugrunde gelegt. Dort steht nämlich,
Subventionen würden abgebaut, in Wahrheit aber sind
Investitionen gemeint. Das ist der eigentliche Fehler: Investitionen sind keine Subventionen, Investitionen sind
die Voraussetzungen für die Zukunft.
({1})
Ein Unternehmen, das aufhört, zu investieren, gibt sich
selbst auf. Ein Land, das Investitionen in dieser Größenordnung in so kurzer Zeit abbremst, begräbt seine eigenen Zukunftschancen. Deshalb darf dieses Horrorszenario - ich hoffe, wir sind uns darin einig - nicht
Wirklichkeit werden. Es darf nicht sein, dass wir diesen
Weg in den nächsten Jahren beschreiten.
({2})
Wir konnten - Herr Kollege Friedrich, da haben Sie
völlig Recht - diese Grausamkeit dem Betrag nach nicht
abwenden. Wir konnten aber wenigstens dafür sorgen,
dass es nicht einseitig die Schiene trifft, sondern diese
Grausamkeit auf alle Verkehrsträger verteilt wird. Das
ist nicht schön. Es wäre aber sonst für die Schiene überhaupt nicht mehr erträglich gewesen.
Albert Schmidt ({3})
Jetzt zur Frage, wer warum verantwortlich ist. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP,
Sie können sich Ihre Krokodilstränen über diese Investitionskürzungen sparen. Ich will Ihnen sagen, warum.
Union und FDP waren es, die sich im Dezember 2003,
als es im Vermittlungsausschuss um diese Sache ging,
geweigert haben, an die wirklichen Subventionen in einer nennenswerten Größenordnung heranzugehen.
({4})
Ich nenne Ihnen die Beträge: fast 10 Milliarden Euro pro
Jahr für die Eigenheimzulage, 6 Milliarden Euro pro
Jahr für die Pendlerpauschale. Wer hat denn damals gesagt, man dürfe das nicht antasten? Das sind wirkliche
Subventionen. Sie haben sich verweigert. Wir haben die
Halbierung der Pendlerpauschale und stärkere Einschnitte bei der Eigenheimzulage hier im Bundestag mit
unserer Mehrheit beschlossen. Das haben Sie verhindert.
({5})
Deshalb brauchen Sie keine Krokodilstränen zu vergießen. Ich werde Ihnen kein Taschentuch reichen.
({6})
Sie sind hauptverantwortlich für den Schlamassel, in
dem wir uns jetzt befinden.
({7})
Zusammen mit diesen weiteren Kürzungen, die ich
ausgeführt habe, bedeutet das, was sich jetzt abzeichnet,
Folgendes: Ab sofort verringern sich die Bundesmittel
für den Verkehrswegebau gegenüber der bisherigen
Mittelfristplanung Jahr für Jahr um mehr als 600 Millionen Euro - im Jahr 2004 haben wir ein Minus von
670 Millionen Euro, im Jahr 2005 ein Minus von
1,46 Milliarden Euro und im Jahr 2006 ein Minus von
1,9 Milliarden Euro -, um dann in den Jahren danach auf
einem Niveau von etwa 7,6 Milliarden Euro gegenüber
den ursprünglich geplanten 9,5 Milliarden Euro zu verharren.
Das würde bedeuten, dass wir nach diesem Szenario
im Jahr 2006 so schlecht wären wie im Jahr 1997/98, als
Sie aufgehört haben. Wir wären nur noch bei 7,5 Milliarden Euro und damit genauso schlecht wie seinerzeit
Wissmann und Waigel. Das wollen wir doch nicht, liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({8})
Wenn dieser Horrorweg eingeschlagen wird - auch das
muss man deutlich sagen -, ist der neue Bundesverkehrswegeplan, der als Grundlage 9,9 Milliarden Euro
pro Jahr vorsieht, Makulatur, ehe wir ihn überhaupt verabschiedet haben.
({9})
Dann würde nicht einmal die Hälfte der Projekte, die darin stehen, anständig zu finanzieren sein. Für die Schiene
wird es noch schlimmer. Für die Schiene bedeutet dieses
Szenario, dass der Neubau von Strecken in Deutschland
schrittweise zum Erliegen kommt. Bezahlbar wären nur
noch die Modernisierung des Bestandsnetzes - immerhin das -, die Fertigstellung laufender Baumaßnahmen
und vielleicht einige wenige Einzelmaßnahmen, an die
man sich noch herantraut. Das ist die bittere Wahrheit,
wenn wir das in den nächsten Haushaltsberatungen tatsächlich so umsetzen sollten.
Deshalb appelliere ich in allem Ernst an Sie - ich
schaue immer in Ihre Richtung, weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Mehrheit im
Bundesrat haben; die Subventionen bei der Pendlerpauschale und bei der Eigenheimzulage können wir nun einmal nicht ohne den Bundesrat abbauen -:
({10})
Wir müssen uns gemeinsam anstrengen! Das Ganze ist
nicht allein ein verkehrspolitisches Thema, sondern das
ist auch Konjunkturpolitik: Eine Investitionskürzung
von 1 Milliarde Euro ist eben nicht eine schlichte Einsparung in dieser Höhe, sondern verursacht Folgekosten.
Das hat Auswirkungen auf die Sozialkassen, auf die
Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, der Rentenversicherung und der Krankenversicherung.
Deshalb müssen wir an die echten Subventionen herangehen. Es ist Wahnsinn, dass jedes Jahr öffentliche
Mittel in Höhe von fast 10 Milliarden Euro für den Bau
von Eigenheimen eingesetzt werden, für den es in den
meisten Regionen des Landes gar keinen Bedarf mehr
gibt. Es ist Wahnsinn, dass Herr Stoiber und andere bei
der Pendlerpauschale unbedingt die Spendierhosen anbehalten wollen.
({11})
Aber dass der Pendler mit einer immer stärker verkommenen Straße und einem immer stärker verkommenen
Schienennetz zu tun hat, soll uns egal sein?
({12})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen an
der richtigen Stelle Einsparungen vornehmen, und zwar
bei der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale.
Subventionsabbau im echten Sinne des Wortes ist die
Chance, die wir haben und die wir nutzen sollten.
({13})
Wir werden Ihnen das nicht ersparen. Sie können
dann im Bundesrat erklären, warum Sie für den Abbau
echter Subventionen nicht zu haben sind. Ich appelliere
an Sie: Überlegen Sie es sich noch einmal! Gehen Sie
mit uns diesen Weg, wenn Sie es mit der Erhöhung der
Verkehrsinvestitionen, die wir dringend brauchen, ernst
meinen!
Albert Schmidt ({14})
Solange Sie uns im Bundesrat nicht helfen, den drohenden Irrweg zu verlassen und Kürzungen von Staatszuschüssen an der richtigen Stelle vorzunehmen, können
Sie sich Ihr Lamento sparen und brauchen Sie mir nicht
vorzusingen, wie schlimm das alles ist.
({15})
Sie haben als Mehrheitspartei im Bundesrat eine
große Verantwortung. Bitte denken Sie in einer ruhigen
Stunde darüber nach und lassen Sie uns gemeinsam umsteuern. Wir stehen dafür sofort zur Verfügung. Ein Signal von Ihnen genügt und wir holen uns über den Bundesrat die notwendigen Mittel bei der Eigenheimzulage
und der Pendlerpauschale. Wir haben kein Problem damit. Das wollten wir von Anfang an, aber Sie haben es
bisher verhindert.
({16})
Lassen Sie uns bei allem gemeinsamen Impetus, den
wir, denke ich, doch haben,
({17})
in der Diskussion über die Verkehrsprojekte ehrlich sein,
liebe Frau Kollegin Blank, und in absehbarer Zeit nur
die Maßnahmen fordern, die wirklich finanzierbar sind,
und zwar unabhängig davon, ob mit oder ohne Kürzungen.
Sie fordern in Ihrem Antrag die Weiterfinanzierung
der ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt.
({18})
Liebe Frau Kollegin, ich schenke Ihnen zu Weihnachten
einen Taschenrechner. Dann können Sie ausrechnen, wie
lange es dauert, wenn wir dieses Projekt - ich rede von
dem Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1, die
ICE-Ausbau- und Neubaustrecke Nürnberg-Erfurt ({19})
mit dem Finanzierungstempo, das Sie uns hinterlassen
haben und das in den vergangenen Jahren in etwa fortgesetzt wurde, nämlich mit 100 Millionen Euro pro Jahr,
fortsetzen. Es fehlen noch 4,5 Milliarden Euro, die zu investieren sind. Etwa 500 Millionen Euro sind bis Ilmenau bereits verbaut worden.
Wie lange dauert es - das ist die Preisfrage -, bis man
bei einem Budget von 100 Millionen Euro pro Jahr
4,5 Milliarden Euro investiert hat?
({20})
Es würde 45 Jahre dauern. Deswegen macht es nur dann
Sinn, ein solches Großprojekt anzupacken, wenn man
klotzen kann, wenn man große Beträge einsetzt. Mit
Kleckern kommt man nicht weiter. Man muss entweder
klotzen oder es lassen bzw. zurückstellen.
({21})
Das ist meine Auffassung, die im Übrigen nicht neu ist.
Sie kennen sie seit langem. Es ist auch die Auffassung
des Unternehmens Deutsche Bahn AG, die an dieser
Stelle - zumindest, was die Priorisierung anbetrifft - offenbar eher etwas langsamer vorgehen möchte.
({22})
- Wir müssen das Machbare ermöglichen. Ich sage weder Ja noch Nein, sondern ich rechne Ihnen etwas vor.
({23})
Gegen Adam Riese Politik zu machen hat noch nie funktioniert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Vorschlag ist,
das Machbare zu machen und das Unerfüllbare meinethalben in die Vitrine der Wunschträume zu stellen und
dort eine Zeitlang stehen zu lassen, bis es irgendwann
Milliarden oder auch Manna vom Himmel regnet. Wenn
einmal sehr viel Geld vorhanden sein sollte, dann können Sie mit mir über jedes Luxusprojekt reden, und sei
es mit goldenen Tunnels.
({24})
Aber ich glaube nicht an den Weihnachtsmann.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu einem
anderen Punkt ausführen, der heute auf der Tagesordnung steht. Wir bringen heute in erster Lesung die dritte
Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ein. Was
sich so trocken anhört, ist nichts anderes als die Umsetzung dessen, was seit einem Jahr überfällig ist, nämlich
des letzten großen Schrittes der europäischen Eisenbahnpolitik: die garantierte Eröffnung eines fairen Wettbewerbs auf der Schiene.
Wir wollen - das dokumentieren wir mit diesem Gesetzentwurf - den fairen Wettbewerb auf der Schiene.
Wir wollen den diskriminierungsfreien Zugang für alle
Eisenbahnverkehrsunternehmen und eine unabhängige
Wettbewerbsaufsicht.
Lassen Sie uns in den bevorstehenden Beratungen gemeinsam die mit diesem Gesetz verbundenen Möglichkeiten und Chancen diskutieren! Lassen Sie uns dort, wo
es vielleicht nötig ist, Verbesserungen vornehmen! Wir
sollten es aber zügig beraten und bald verabschieden. Ich
bin nämlich überzeugt: Im Wettbewerb auf der Schiene
steckt ein ungeheures Potenzial zur Verbesserung der
Qualität des Verkehrsangebotes, aber auch zur Verbesserung der Verkehrsleistung, und zwar sowohl im Hinblick
auf den Güterverkehr - Verlader, Speditionen - als auch
auf Fahrgäste. Dieses Potenzial sollten wir gemeinsam
möglichst schnell nutzen.
Vielen Dank.
({25})
Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus Lippold, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:
Die Einnahmen aus der LKW-Maut kommen zusätzlich zu den Verkehrsinvestitionen.
({0})
Damit erreichen wir eine langfristige Verstetigung
des hohen Investitionsniveaus und sichern die
Finanzierung des Bundesverkehrswegeplans bis
2015.
({1})
Dies erklärte Bundesverkehrsminister Stolpe anlässlich
der ersten Lesung des Bundeshaushalts 2004 am
11. September 2003. Herr Stolpe, heute sage ich: Das
war eine bewusste Täuschung;
({2})
Sie hatten nämlich schon damals weder den Kampfesnoch den Einsatzwillen, sich gegen den Bundesfinanzminister durchzusetzen.
Herr Stolpe, es kommt eine ganze Menge anderes
hinzu. Sie haben vorhin von der Maut, von der Mautkatastrophe und auch von der Pällmann-Kommission gesprochen. In der Analyse der Pällmann-Kommission
steht ganz eindeutig, dass die Mauteinnahmen der zusätzlichen Finanzierung des Straßenbaus dienen. „Zusätzlich“, Herr Stolpe, und nicht „anstatt“. Sie haben mit
den Ländern eine Vereinbarung getroffen, in der steht,
dass die Mauteinnahmen zusätzlich zu den Ansätzen im
Verkehrshaushalt - nicht anstatt dieser Ansätze - investiert werden.
Herr Stolpe, Sie haben diese Vereinbarung gebrochen.
Dazu haben Sie bis heute noch kein einziges Wort gesagt. Das zeigt, was Vereinbarungen des Bundesrats mit
der Bundesregierung wert sind:
({3})
Sie sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen, weil
Sie sich nicht daran halten.
Die Folgen für die Verkehrsinfrastruktur sind absolut
negativ. Da nützen Ihre Bekenntnisse zur Mobilität, die
Sie hier vorgetragen haben - Sie sagten, für die EUOsterweiterung sei eigentlich alles bestens vorbereitet -,
nichts. Herr Stolpe, das ist - auch wenn das Verkehrsaufkommen zunächst nicht explosionsartig zunimmt - mitnichten der Fall. Sie werden die zu erwartende stetig
steigende, enorme Zunahme des Verkehrs mit dem bestehenden Straßensystem nicht bewältigen. Das wird erst
recht nicht über die Schiene zu bewältigen sein, weil die
Verkehrsströme, die aus dem Osten kommen, nicht mehr
Schienen-, sondern mehr LKW-Verkehr bedeuten. Jede
andere Behauptung ist Augenwischerei. Sie haben hier
eben Schönrederei betrieben und sonst nichts.
Es ist doch abenteuerlich, 1 Milliarde DM als Ergebnis des Schiedsgerichtsverfahrens im Zusammenhang
mit der Maut anzusetzen.
({4})
- 1 Milliarde Euro, Entschuldigung. Ich bleibe immer
wieder bei der alten Währung. - Jeder weiß doch inzwischen, dass die Vereinbarung damals mit einem Augenzwinkern zustande gekommen ist: schnelles Unterschreiben des Vertrags gegen niedrigere Haftungssummen.
Wie wollen Sie heute aus dieser Angelegenheit
herauskommen? Es ist doch völlig klar: Kein Vertreter
der Wirtschaft hätte damals einen Vertrag mit solch hohen Haftungssummen abgeschlossen; denn schon damals war erkennbar, dass der Zeitpunkt der Einführung
der Maut nicht zu halten ist. Das haben Sie frühzeitig gewusst. Aber Herr Bodewig wollte die Unterschrift und
Sie haben sich hinterher um den Vollzug des Vertrages
nicht gekümmert. So kam dieses Desaster zustande. Das
muss hier noch einmal ganz deutlich angesprochen werden.
({5})
Herr Bundesverkehrsminister, deshalb erwarten wir
wenigstens für die Zukunft von Ihnen, dass sich die
Dinge ändern und dass Sie den Investitionen wirklich
den entsprechenden Rang einräumen. Ich appelliere
noch einmal an Sie, sich in der Auseinandersetzung mit
dem Finanzminister nicht sofort geschlagen zu geben.
Bisher nehmen Sie das, was Ihnen widerfährt, mit der
Gelassenheit dessen, der sich sagt: Es ist eh egal.
({6})
Das ist an dieser Geschichte traurig.
Ich warne noch einmal davor, dafür jetzt das Koch/
Steinbrück-Papier verantwortlich zu machen. In diesem Papier steht ganz klar, dass die Investitionen in
Wasser und Straße keine Subventionen sind. Sie hätten
eine andere Lösung für dieses Problem finden müssen.
Aber Sie haben sich nicht um eine andere Lösung bemüht, weil es erstens am einfachsten war und weil Sie
zweitens noch immer nicht eingesehen haben, dass die
Straße in diesem Land Priorität haben muss. Das ist Ihr
ganz entscheidender, grundsätzlicher Fehler. Sie müssen
in der Verkehrspolitik einen anderen Ansatz wählen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Faße?
Ich bitte darum.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass im Koch/Steinbrück-Papier ein Einsparvolumen in Höhe von
40 Millionen Euro bei den Wasserstraßen vorgesehen
war? Sind Sie mit mir einer Meinung, dass es sich hier
sehr wohl um Investitionen und nicht um Subventionen
handelt?
Ich stimme Ihnen völlig zu, dass dies Investitionen
und keine Subventionen sind. Deshalb ist das auch revidiert worden und war der Ansatz betreffend die Straßen
nicht zulässig. Aber obwohl der Subventionsbegriff bei
der Straße nicht zutrifft, hat Herr Stolpe - das hat mich
am meisten geärgert -, in einem Schreiben an den hessischen Finanzminister ausgeführt, dass die A 66 wegen
des besagten Vorganges nicht ausgebaut werden könne.
Herr Stolpe, was soll das eigentlich? Wie können Sie
solche Zusammenhänge herstellen? Das ist nicht haltbar.
({0})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage! - So läuft das jedenfalls nicht. Man kann nicht einfach sagen, die A 66
könne nicht ausgebaut werden. Sie ist schließlich ein
Kernstück im Rhein-Main-Gebiet. Wir werden sehen,
wie die Bevölkerung darauf reagieren wird, wenn in dieser unzulässigen Art und Weise eingegriffen wird.
Einen weiteren Punkt, der mich nachhaltig irritiert,
hat bereits der Kollege Friedrich angesprochen. Verkehrsinvestitionen sichern Arbeitsplätze - Herr Stolpe,
dies kommt bei Ihnen noch immer nicht im notwendigen
Umfang zum Ausdruck - auch und gerade im Osten unseres Landes. Herr Kollege Schmidt, Sie haben gesagt
- ausnahmsweise ist ein Lob fällig; das habe ich ja versprochen -, der Bundesverkehrswegeplan stehe vor dem
Zusammenbruch und sei eigentlich nur noch Makulatur.
Das ist Realität.
({1})
Die Investitionen bleiben auf der Strecke. Herr Kollege
Schmidt, ich sage das deshalb, weil ich Ihre Äußerungen
mit Freude vernommen habe. Die Kollegin RehbockZureich hat sich in ähnlicher Weise geäußert. Aber ich
fürchte, dass Sie sich nicht durchsetzen werden und dass
wir uns in absehbarer Zeit anlässlich dieser Problematik
wieder sprechen werden. Ich wäre froh - Sie hätten unsere Unterstützung -, wenn Sie sich durchsetzen würden.
Unternehmen Sie einen entsprechenden Vorstoß und wir
werden darauf zurückkommen. Wenn es um Verkehrsinvestitionen geht, sind wir jederzeit bereit, ganz klar und
entschieden zu handeln und dafür zu sorgen, dass es
vorangeht.
Herr Kollege Lippold, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?
Ja.
Lieber Herr Kollege Lippold, darf ich Ihre letzte Einlassung, Ihr Angebot, mich zu unterstützen, so verstehen, dass Sie bereit sind, gemeinsam mit dem Bundesrat
eine erneute Initiative des Deutschen Bundestages, die
- bei Verschonung der Investitionen für Straße, Schiene
und Wasserstraße - auf den Abbau der „echten“ Subventionen abzielt, zu unterstützen und Ihren Ministerpräsidenten Roland Koch dazu zu bewegen, dass er in diesem
Punkt die Haltung des Bundeslandes Hessen revidiert
und dass er unserer Auffassung zustimmt, dass das notwendige Geld durch den Abbau der Eigenheimzulage
und der Pendlerpauschale aufgebracht werden muss und
nicht aus dem Etat für Straßen-, Schienen- und Wasserstraßeninvestitionen kommen darf?
({0})
Kollege Schmidt, wenn es um Kürzungen geht, dann
werden wir über alle Subventionen diskutieren müssen.
Das ist der entscheidende Punkt. Auf die Steinkohlesubventionen wurde bereits hingewiesen.
({0})
Derjenige, der am vehementesten für die Erhaltung der
Kohlesubventionen votiert hat, als die Gewerkschaft und
die Bergbauarbeiter in Bonn demonstriert haben, war Ihr
damaliger Sprecher Joschka Fischer, der heute Bundesaußenminister ist. Das heißt, alles, was Sie hier detailliert angeführt haben, fällt auf Sie zurück.
Lassen Sie uns alle Subventionen noch einmal prüfen
und sehen, wo wir am sinnvollsten ansetzen können. Sie
werden immer meine Unterstützung haben, wenn es darum geht, Subventionen zu kürzen. Hier ziehen wir am
gleichen Strang. Ansonsten werden wir gemeinschaftlich
nicht das Ziel erreichen, die Voraussetzungen für Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Weis, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidenten! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Zuhörer, ich möchte mich in einer Vorbemerkung
an Sie wenden. Herr Lippold hat eben von der Verabredung im Vermittlungsausschuss und davon gesprochen,
dass zusätzlich zu den Haushaltsmitteln die Mauteinnahmen verwendet werden sollen. Dazu ist eine Erläuterung
notwendig.
Reinhard Weis ({0})
Wir alle müssten es besser wissen. Kein Vermittlungsausschuss kann dem Haushaltsgesetzgeber eine
Vorgabe für die konkrete Höhe eines Haushaltstitels machen. Das lässt das Haushaltsrecht nicht zu. Wir als
Haushaltsgesetzgeber sind in der Verantwortung, die
Einzeltitel jeweils in der Gesamtschau des Haushalts
festzulegen. Die Realität ist nach drei Jahren Stagnation
bzw. Minuswachstum leider so, wie sie ist. Wir als Verkehrspolitker wären froh darüber gewesen, das Niveau
der Haushaltstitel des Jahres 2002 zu halten, aber die
Realität ist leider eine andere. Da kann man in Bezug auf
Bundesrats- und Vermittlungsausschussverabredungen
nicht von Unverlässlichkeit sprechen.
Herr Oswald hat den Zustand der Bundesstraßen bzw.
Bundesautobahnen beklagt. Ich habe ein etwas differenzierteres Bild. So allgemein, wie er gesprochen hat, kann
er nur die Staatsstraßen aus dem Freistaat Bayern gemeint haben.
({1})
Wer im Glashaus sitzt, lieber Kollege Oswald, sollte
nicht mit Steinen werfen.
({2})
Wir diskutieren heute einen Antrag der CDU/CSU
mit dem wohlklingenden Titel „Deutschland braucht
Klarheit bei der Verkehrsinfrastuktur“. Schön und gut!
Ich würde es allerdings anders formulieren, nämlich:
Deutschland braucht endlich Klarheit darüber, was die
Opposition eigentlich will.
({3})
Haben bei der Opposition die Verkehrsinvestitionen
wirklich oberste Priorität? Ist die CDU/CSU wirklich bereit, auch bei den konsumtiven Ausgaben des Bundes
Einsparungen vorzusehen, wie es in dem Antrag so
schön heißt, oder entscheidet sie sich im Zweifel doch
lieber für den Erhalt der Agrarsubventionen
({4})
und bekämpft alle Vorschläge der Bundesregierung zum
Subventionsabbau?
Die Wahrheit über die Oppositionspolitik ist: Sie reden vollmundig über Subventionsabbau,
({5})
aber wenn es ernst wird, kneifen Sie vor der Verantwortung.
({6})
Richtig ist: Es gibt Schwierigkeiten bei der Investitionsfinanzierung. Es ist allerdings ein Märchen, diese
Schwierigkeiten seien das Resultat der Mautausfälle.
Zur Kompensation der Mautausfälle im Haushalt 2004
wurden vernünftige Regelungen vorgelegt. Seit Anfang
dieses Monats ist die Haushaltssperre für den Einzelplan 12 aufgehoben. Die aus Mautmitteln zu finanzierenden Verkehrsinvestitionen können wie geplant getätigt werden.
({7})
Darüber hat der Minister eben gesprochen. Wir haben
am 12. März hier im Bundestag darüber gesprochen.
Kollege Beckmeyer hat Ausführungen dazu gemacht.
({8})
Ich möchte einer Legendenbildung entgegentreten.
Die Schwierigkeiten, die für das Haushaltsjahr 2004 und
vor allen Dingen auch im Hinblick auf die mittelfristige
Finanzplanung bleiben, sind doch nicht das Ergebnis der
Mautausfälle, sondern sie sind das Ergebnis Ihrer Weigerung, im Bundesrat die Kürzung tatsächlicher Subventionen zugunsten der Sicherung wichtiger staatlicher
Aufgaben mitzutragen.
({9})
Hiermit meine ich die Investitionen, die wir im Bereich
Bildung und Forschung brauchen - davon hat der Bundeskanzler heute morgen gesprochen -, aber auch die Investitionen für die Verkehrsinfrastruktur, die wir in den
vergangenen Jahren auf ein Rekordniveau gehoben haben.
({10})
Sie von der Opposition sind an der Situation, vor der
wir jetzt stehen, genauso beteiligt wie die Regierungsfraktionen in diesem Haus. Als Ergebnis Ihrer Weigerung haben wir die unsäglichen Koch/Steinbrück-Vorschläge als Bestandteil eines Vermittlungsvorschlages
zu bewältigen. Während des Vermittlungsverfahrens am
Ende des Jahres 2003 haben Sie wahrscheinlich noch angenommen, man könne sich den Pelz waschen, ohne dabei nass zu werden.
({11})
Alle Beteiligten in Bund und Ländern mussten zum
damaligen Zeitpunkt wissen, dass es bei der Umsetzung
der Koch/Steinbrück-Vorschläge zu Kürzungen bei der
Finanzierung des Infrastrukturausbaus kommen wird.
({12})
Wir Verkehrspolitiker haben darauf hingewiesen. Wenn
Sie jetzt mit treuherzigem Augenaufschlag
({13})
Reinhard Weis ({14})
ganz erstaunt fragen, wieso die Verkehrsinvestitionen in
2004 nicht die ursprünglich geplante Höhe erreichen
werden - da beziehe ich mich auf die Pressemitteilung
von Dirk Fischer von heute -, dann ist da schon viel
Heuchelei im Spiel.
Wir haben es von Anfang an für einen Kardinalfehler
gehalten, Investitionen in Schienen- und Wasserwege als
Subventionen zu qualifizieren und die in die Straße
nicht. Die Definition, die uns Herr Lippold hier vorgestellt hat, können wir nicht nachvollziehen.
({15})
Leider haben wir Verkehrspolitiker uns nicht durchsetzen können. Aber wo war denn damals der Aufschrei
von den Verkehrspolitikern der Opposition? Wann haben
Sie sich gegen diese neue und völlig verkehrte Definition von Subventionen gewehrt? Wir haben nichts von
Ihnen gehört.
({16})
Wir von der rot-grünen Koalition haben wenigstens
durchgesetzt, dass die Einsparauflagen nicht einseitig
dem Verkehrsträger Schiene angelastet werden. Mit
dem, was wir haushaltstechnisch verabredet haben, haben wir die Investitionen in 2004 auf einem verantwortbaren Niveau gehalten und ein ausgewogenes Verhältnis
der Verkehrsträger untereinander gesichert. Es geht aber
darum, das hohe Investitionsniveau für die Jahre 2005
und folgende zu realisieren. Wir dürfen den Verkehrsbereich nicht kaputtsparen. Wir müssen unsere Verkehrsinfrastruktur auf die EU-Osterweiterung und die zu erwartenden Verkehrsströme vorbereiten.
({17})
Schließlich müssen wir auch Vorkehrungen treffen, dass
bei der Fußballweltmeisterschaft - sie wurde in der heutigen Debatte ja schon einmal erwähnt - keine chaotischen Situationen auf Bahnhöfen und Autobahnkreuzen
entstehen.
Wir müssen deshalb gemeinsam versuchen - ich sage
hier bewusst „gemeinsam“ -, die Auswirkungen der
Koch/Steinbrück-Vorschläge zurückzudrängen. Wir alle
kennen das Worst-Case-Szenario, das in der vergangenen Woche in der „FAZ“ veröffentlicht wurde. Die Zahlen hat Kollege Schmidt heute schon im Einzelnen genannt; ich will sie deshalb nicht wiederholen. In diesem
Worst-Case-Szenario ist festgehalten, welche Entwicklungen die Verkehrsinvestitionen nehmen würden, wenn
wir die Koch/Steinbrück-Vorschläge in den nächsten
Jahren einfach fortschreiben würden. Das darf nicht der
Fall sein.
({18})
- Wir wissen aber, dass es so ist. Diese Abhängigkeit besteht, Horst.
Ich denke, wir sollten uns deshalb gemeinsam mit
dem Gedanken vertraut machen, die Maut von Beginn
an, wenn sie denn zum 1. Januar 2005 eingeführt wird,
auf die ursprünglich vorgesehenen 15 Cent pro Kilometer anzuheben, um zusätzliche Einnahmen zu realisieren.
Diesen Appell richte ich ausdrücklich auch an die Länder, die einer Änderung der Mauthöheverordnung zustimmen müssen.
Da wir heute im Bundestag auch über zwei Vorlagen
zur EU-Wegekostenrichtlinie sprechen, möchte ich dazu
noch ein paar Anmerkungen machen: Bei dem Aufbau
des Mautsystems dürfen der Industrie keine weiteren
peinlichen Fehler mehr unterlaufen. Wir fordern strikte
Offenheit und haben auch den Eindruck, dass ein neuer
Wind bei Toll Collect weht, also mehr Bereitschaft zu
Offenheit und Kooperation besteht. Wir haben in der
nächsten Woche mit führenden Vertretern von Toll
Collect ein Gespräch im Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen. Wir hoffen, dass wir vom Ministerium über die Wirkung des neuen festen Controlling laufend Informationen bekommen.
Unser Ausschuss hat sich zu einem Zeitpunkt mit der
Wegekostenrichtlinie der EU beschäftigt, als das vorläufige Scheitern der EU-Verhandlungen noch nicht absehbar war. Wir haben damals mit großer Mehrheit
- also auch mit den Stimmen der Opposition - unsere
Kritik am damaligen EU-Diskussionsstand geäußert.
Diese legen wir heute dem Bundestag zur Entschließung
vor. Ich möchte kein Geheimnis daraus machen, dass ich
nicht unglücklich darüber bin, dass inzwischen eine Entscheidung auf EU-Ebene über die Wegekostenrichtlinie
zunächst zurückgestellt ist. Die Verhandlungen auf EUEbene drohten nämlich eine Wendung zu nehmen, die
für unser nationales Mautprojekt recht problematisch geworden wäre. Die Absenkung der Mautpflicht auf LKW
ab 3,5 Tonnen oder die Berechnung der Mauthöhe ausschließlich auf Basis der Kosten für die in jüngerer Zeit
fertig gestellten Bundesfernstraßen wäre für uns sehr
schwierig geworden. Nun bin ich doch hoffnungsvoll,
dass wir unser Mautsystem ohne Restriktionen vonseiten
der EU einführen können.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich stelle zusammenfassend fest, Frau Präsidentin,
dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages äußerstes Interesse an einem hohen und angemessenen Investitionsniveau im Verkehrsbereich haben. Ich leite daraus
auch meine Hoffnung ab, dass wir gemeinsam die Wirkungen der unseligen Koch/Steinbrück-Vorschläge abwenden können.
({0})
Der Subventionsabbau bleibt eine aktuelle Aufgabe.
Packen Sie sie mit uns an!
Danke schön.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der guten alten Zeit, als das Wünschen noch
geholfen hat, begannen in Deutschland Märchen mit den
Worten: „Es war einmal“. In der nicht so guten neueren
Zeit, in der das Wünschbare zum Regierungsprinzip erhoben wird, weil Regieren auch Spaß machen soll, in der
Gerhard Schröder Bundeskanzler in Deutschland ist und
ein ausgewiesener Verkehrsexperte wie Manfred Stolpe
Verkehrsminister, beginnen die Märchen mit den Worten: „Es wird einmal“.
({0})
Wir haben heute jede Menge solcher Märchen hier gehört.
Verkehrsminister Stolpe hat gesagt: Es wird weitergebaut, es gibt keinen Abbruch, alles wird gut. Das reiht
sich in die Reihe anderer Versprechungen ein: Die ICETrasse, 8.1 und 8.2 der Verkehrsprojekte, wird weitergebaut, der Knotenpunkt Bahnhof Erfurt wird zu einem der
modernsten Bahnhöfe in Deutschland umgebaut werden
und Leipzig muss im Zusammenhang mit der Olympiabewerbung überhaupt keine Sorge haben, dass es nicht
angebunden wird. - Nichts davon wird wahr. Das sind
bestenfalls Märchen, schlechtestenfalls sind es Lügen.
({1})
Ich will gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückgehen, es genügen die letzten Tage. Vor wenigen Tagen hat die Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium, Frau Gleicke, gesagt: Mit Hochdruck wird an dem
Neu- und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Bundesländern gearbeitet. Das war am Dienstag
dieser Woche. Am Mittwoch dieser Woche ist der Wirtschafts- und Verkehrsminister von Thüringen zu Herrn
Mehdorn in Frankfurt einbestellt worden.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schmidt?
Ja.
({0})
Vielen Dank. - Herr Kollege, um Sie selber davor zu
schützen, dass Sie hier im Bundestag falsche Behauptungen aufstellen,
({0})
kleide ich folgende Bemerkung in Frageform: Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Herr Mehdorn an
dem besagten Tag überhaupt nicht in Frankfurt war, dass
er deshalb Herrn Reinholz auch nicht dort hinbestellt haben kann und dass stattdessen aber eine VMK oder etwas Ähnliches, also eine Konferenz der Länderminister
oder der Abteilungsleiter aus den Ministerien oder was
auch immer, stattgefunden hat, bei der allenfalls jemand
anders zu diesem Thema gesprochen haben kann, jedenfalls nicht Herr Mehdorn, sodass die Pressemitteilung
von Herrn Reinholz zumindest in dieser Form eigentlich
nur falsch sein kann?
Mein Kenntnisstand, lieber Kollege Schmidt, ist, dass
Herr Mehdorn zu einer Besprechung eingeladen hat, um
wichtige Dinge mitzuteilen, zu denen ich gleich kommen werde, und dass es sich keineswegs um ein Gespräch mit irgendwelchen - jetzt zitiere ich jemanden
aus der SPD-Fraktion - „Fuzzis“ bei der Deutschen
Bahn in Frankfurt gehandelt hat, sondern dass auf höchster Bahn-Ebene verhandelt worden ist.
Bei diesem Treffen ist dem Thüringer Verkehrsminister mitgeteilt worden, dass für den Weiterbau der ICETrasse zwischen Erfurt und Nürnberg bis zum Jahre
2009 kein Geld mehr bereitgestellt werde, selbst die Mittel für baurechtserhaltende Maßnahmen seien nach Aussagen der Bahn nicht gesichert, offene Fragen gebe es
auch hinsichtlich des ICE-Bahnhofs in Erfurt.
Ebenfalls auf Eis gelegt sind andere Projekte; es geht
nicht nur um den ICE. Es geht auch um ein Projekt, das
Sie, Kollege Schmidt, zu Land, zu Wasser und in der
Luft seit 1990 intensivst bekämpft haben. Es geht um die
Mitte-Deutschland-Schienenverbindung, zum Beispiel
um die Anbindung von Ronneburg und nicht zuletzt
auch um Leipzig. Auch dafür stehen keine Mittel mehr
zur Verfügung.
Als dies veröffentlicht wurde - da nehme ich Ihren
Einwurf noch einmal auf -, teilte Frau Kollegin Gleicke
mit, sie habe allmählich die Nase gestrichen voll davon,
dass hier versucht werde, die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung infrage zu stellen. Frau Gleicke sagte, dies
seien miese Methoden.
({0})
In der Vorlage der Deutschen Bahn zu dem Gespräch
mit dem Erfurter Verkehrsminister heißt es, die Anpassung der Planung an die neue Haushaltslinie erfordere
Projektabbrüche und Verschiebungen. Das ist die Realität: Projektabbrüche und Verschiebungen. Mit Verschiebungen - der Kollege Schmidt hat süffisant darauf hingewiesen - sind nicht ein oder zwei Jahre gemeint, also
vielleicht auf 2007, sondern eher 20 Jahre. Die Grünen
haben in einer Pressemittlung erklärt, vor 2020 sei nicht
mit der Fertigstellung dieser nicht nur für Thüringen
wichtigen ICE-Trasse zu rechnen.
Aus dem Bundesverkehrsministerium verlautet dazu:
Die Strecke wird weitergebaut. Das sagte Ministeriumssprecher Felix Stenschke der dpa; alles andere sei unverantwortliches Geschwätz.
Nun gibt es vom selben Tag eine zweite Pressemitteilung aus dem Bundesverkehrsministerium. Darin erklärt
eine Pressesprecherin: „Neu angefangen wird wenig in
diesem Jahr.“ Die Bahn müsse 2004 mit Bundeszuschüssen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro auskommen und
wolle ebenfalls viele Bauvorhaben auf Eis legen. Da die
Bahn 2,5 Milliarden Euro in den Erhalt des bestehenden
Netzes investieren müsse, bleibe für Neu- und Ausbauprojekte nur 1 Milliarde Euro übrig. In der Erklärung
heißt es weiterhin, dass als wahrscheinlicher Kandidat
für eine Verschiebung unter anderem die ICE-Neubaustrecke Nürnberg-Erfurt gilt.
({1})
Herr Minister Stolpe, Sie haben in Ihrer Rede von den
Transeuropäischen Netzen gesprochen. Diese ICE-Strecke ist der Bestandteil des Transeuropäischen Netzes
schlechthin.
({2})
Sie beginnt in Norditalien und führt durch Deutschland
bis nach Skandinavien. In dieses Projekt sind bisher
700 Millionen Euro geflossen. Ein ganz erheblicher Teil
davon sind EU-Gelder. Die Realisierung dieses Transeuropäischen Netzes ist aber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden. 700 Millionen Euro sind
sprichwörtlich in den Sand gesetzt worden.
Aber nicht nur bei dieser ICE-Trasse gibt es Probleme. Die Umbauarbeiten am Knotenpunkt Erfurt werden in den nächsten 14 Tagen wahrscheinlich eingestellt
werden.
({3})
Die Baukräne hören auf, sich zu drehen. Das heißt, das
Provisorium ohne Fahrstuhl für Behinderte, ohne Rolltreppe und ohne Überdachung bleibt auf unabsehbare
Zeit bestehen, weil für diesen Bereich kein Geld vorhanden ist.
Meine Damen und Herren, ich verstehe Ihre Erregung. Wir alle gemeinsam sind darüber erregt, insbesondere die Kollegen aus den neuen Bundesländern. Jeder
Bericht bescheinigt den neuen Bundesländern einen Produktivitätsrückstand von ungefähr 20 Prozent, der allein
darauf zurückzuführen ist, dass die Verkehrsanbindung
in den neuen Bundesländern wesentlich schlechter ist als
die Verkehrsanbindung in den alten Bundesländern. Diesen Rückstand von 20 Prozent gilt es schnell aufzuholen.
Dazu waren die Bundesverkehrswegeplanungen bisher
gedacht. Sie hören an dieser Stelle aber damit auf, den
Aufholprozess in den neuen Bundesländern voranzutreiben.
Ich möchte noch einen zweiten Punkt anführen. Wir
wissen, dass ab den Jahren 2007/08 die europäischen
Strukturfonds für die neuen Bundesländer nicht mehr bestehen. Wenn es die Möglichkeit einer Nachfinanzierung
nicht mehr gibt, dann fehlen 3,5 bis 4 Milliarden Euro
für Investitionen, auch für Investitionen im Rahmen des
Verkehrshaushalts. Wir wissen, dass der Solidarpakt II
degressiv ausgestaltet ist. Es stehen also immer weniger
Mittel für Industrieansiedlungen zur Verfügung. Wir
wissen auch, dass die Investitionszulage zeitlich befristet
ist. Es kann im schlechtesten Fall sein, dass es im Jahr
2010 eine einigermaßen funktionierende Verkehrsinfrastruktur gibt - allerdings muss noch eine ganze Menge
bis dahin passieren -, dass wir dann aber keine Mittel für
Industrieansiedlungen in den neuen Bundesländern mehr
haben. Das ist ein Ergebnis, das von uns keiner ernsthaft
will.
({4})
Herr Minister Stolpe, ich möchte Sie einfach bitten,
dass Sie den Versuch unternehmen, dem Aufbau Ost, der
in Ihrem Ministerium angesiedelt ist, ein wenig die
Stange zu halten, damit es nicht irgendwann heißt:
Stolpe sagt nach wie vor die Unwahrheit und erzählt
Märchen.
({5})
Ich glaube, dies sollten Sie sich nicht antun.
Unser Bemühen ist - auch wenn es im Moment keine
gemeinsame Linie gibt -, dass wir die Projekte gemeinsam voranbringen. Wir werden da mitarbeiten. Aber wir
fühlen uns für Ihre fehlenden Konzepte nicht verantwortlich.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin RehbockZureich, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist schon eine erstaunliche Debatte, genauer:
eine heuchlerische Debatte, die wir hier verfolgen können.
({0})
Einerseits beklagen Sie den Rückgang der Investitionsmittel, negieren aber gleichzeitig die Auswirkungen der
Koch/Steinbrück-Liste. Dann beschweren Sie sich auch
noch, dass wir diese Einbrüche bei den Investitionen im
Verkehrsbereich auf alle Verkehrsträger umgelegt haben.
({1})
Zudem, Herr Grund, beklagen Sie die Situation im
Schienenbereich. Die Oppositionsfraktionen sollten mir
einmal mitteilen, wie man das alles unter einen Hut bringen kann.
({2})
Wir haben im Einzelplan 12 eine schwierige Finanzlage; das ist richtig. Ursache dafür sind nicht die ausbleibenden Mautmittel;
({3})
die haben wir ausgeglichen.
Herr Friedrich, auf Folgendes möchte ich eingehen:
Wenn im Haushalt Mittel entsperrt worden sind, stehen
sie zur Verfügung.
Der Einzelplan 12 ist ab 2004 und in den Jahren 2005
und folgende durch die Koch/Steinbrück-Liste belastet.
Dies bereitet uns in den nächsten Jahren riesige Probleme. Ich möchte darauf hinweisen, dass man sich als
Opposition nicht einfach aus der Verantwortung stehlen
kann.
({4})
Sie haben im Vermittlungsausschuss die Koch/
Steinbrück-Liste beschlossen. Sie haben seit 2002 verhindert, dass Subventionen abgebaut werden. Sie waren
es, die verhindert haben, dass man den Verkehrsbereich
nicht als reine Subvention ansieht. Investitionen in die
Straße können keine Subventionen sein. Aber auch Investitionen in den Schienenbereich können keine Subventionen sein, weil die Aufgabe des Bundes, für den
Neu- und Ausbau sowie für die Aufrechterhaltung des
Schienennetzes zu sorgen, grundgesetzlich verankert ist.
({5})
Als wir angetreten sind, haben wir ein marodes Schienennetz angetroffen.
({6})
Sie haben die Schiene in Ihren Haushalten als Steinbruch
benutzt.
({7})
Wir haben 1998 doch nicht mit Investitionsmitteln von
rund 4 Milliarden Euro, wie es im Schienenwegebericht
für das Jahr 2002 steht, sondern mit knapp der Hälfte begonnen.
({8})
Wir haben ein Schienennetz angetroffen, bei dem offensichtlich war, dass nie Mittel in das Bestandsnetz geflossen sind. Diese Bestandsnetzmittel in Höhe von 2,5 Milliarden Euro haben wir in den vergangenen Jahren
gesichert. Dies werden wir auch in Zukunft tun.
({9})
Wir haben vor, die Bundesrepublik im Rahmen eines
integrierten Verkehrsnetzes - dazu gehören alle Verkehrsträger - zu einem modernen Standort zu machen.
Das heißt, wer glaubt, er könne ausschließlich im Bereich Schiene Investitionen streichen, der verfolgt eine
Steinzeitpolitik. Er hat nicht begriffen, dass wir alle Verkehrsträger benötigen.
Ich möchte Sie in dieser schwierigen Situation auffordern: Nehmen Sie die Chance wahr! Denn anscheinend
sind auch Sie der Meinung, dass wir zusätzliche Investitionen in den Verkehrsbereich auf den Weg bringen müssen, um das unsägliche Koch/Steinbrück-Papier auszugleichen. Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Gehen
Sie mit uns den Weg, die wirklichen Subventionen in
diesem Haushalt anzugehen, um die Mittel in die notwendigen Investitionen zu lenken! Wir brauchen Investitionen in die Bereiche Schiene, Straße und Wasserstraße.
({10})
Sie beklagen, dass in den neuen Bundesländern
nicht ausreichend Investitionsmittel zur Verfügung stehen, wie es Herr Grund für den Bereich der Schiene angesprochen hat. Machen Sie sich auf den Weg und bringen Sie Vorschläge für die Haushalte 2005 und folgende
ein, damit wir den hohen Investitionsbedarf von rund
4 Milliarden, den wir uns für den Schienenbereich vorgenommen haben, im Haushalt umsetzen! Wir bieten Ihnen in dieser Hinsicht Zusammenarbeit an. Es kann aber
nicht sein, dass Sie das Koch/Steinbrück-Konzept mit
beschließen, sich dann aber aus der Verantwortung stehlen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Jetzt
wollen wir doch einmal mit den Märchen bezüglich des
Koch/Steinbrück-Konzepts aufräumen. Ich sage jetzt
zum wiederholten Mal: Koch und Steinbrück haben in
ihrem Konzept - damit nehme ich auch Ihren Ministerpräsidenten und nicht nur unseren, den Herrn Koch, in
Schutz - ausschließlich die Schienenmittel genannt und
sonst nichts.
({0})
- Das ist ein geringer Betrag.
({1})
Sie kürzen die Investitionen im Verkehrsbereich
um insgesamt 540 Millionen Euro. 335 Millionen Euro
nehmen Sie von den Straßenbauinvestitionen. Sie machen das aus rein ideologischen Beweggründen gegen
die Beschlüsse im Vermittlungsausschuss und im Haushaltausschuss.
({2})
Koch und Steinbrück wollten nur die Schiene belasten.
({3})
- Kollege Albert Schmidt, es entspricht der grünen Ideologie, zu meinen, man könne alle Schienenmittel verbauen.
({4})
Die beiden Ministerpräsidenten wussten aber, dass
die Deutsche Bahn AG im Jahr 2004 nicht alle Mittel
verbauen kann, denn Bahnchef Mehdorn hat am 18. Dezember 2003 für alle Maßnahmen einen Bau- und
Planungsstopp verhängt. Auch war der Haushalt bis
Anfang März 2004 gesperrt.
({5})
Wie wollen Sie die Planungen für die Schiene wieder
anlaufen lassen? Außerdem hat die Deutsche Bahn AG
in den Jahren 1995 bis 2002 6 Milliarden Euro nicht verbauen können. Das ist nachgewiesen. Die Mittel konnten
erstmalig im Jahr 2003 verbaut werden.
Vielleicht ein Hinweis: Wenn man den Schienenwegeausbaubericht intensiv liest, sieht man, dass die Investitionen in die Schieneninfrastruktur in den letzten fünf
Jahren zurückgefahren und nicht erhöht wurden.
({6})
Mit einem Stop and go bei den Planungen für Schienenstrecken, also bei einer Politik, die bei den Planungsvorhaben mit langen Phasen der Vollbremsung und kurzen Phasen des Fahrens mit Normalgas arbeitet, bleibt
doch eine innovative, zügige und kostengerechte Weiterentwicklung des Schienenverkehrswegebaus im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke. In den Planungsbüros wird Know-how vernichtet und der Bundeskanzler
ruft das „Jahr der Innovation“ aus. Hier ist der Bundeskanzler gefordert, mit Bahnchef Mehdorn endlich ein
ernstes Gespräch zu führen.
Das in privaten Planungsbüros vorhandene eisenbahntechnische Wissen wächst doch nicht auf den Bäumen. Es kommt von gut ausgebildeten und laufend
geschulten Ingenieuren. Dieses Wissen wird derzeit in
Deutschland vernichtet. Woher soll denn der heute Morgen vom Bundeskanzler großartig prophezeite Aufschwung kommen?
({7})
Das Konzept zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur hat so viele Löcher wie ein Schweizer Käse.
Nachdem die Einnahmen aus der LKW-Maut weiterhin
ausbleiben und die Haftungsansprüche einstweilen
- man rechnet mit gut zwei Jahren, bis es im Schiedsverfahren zu einer Entscheidung kommt - so viel wert sind
wie ein ungedeckter Scheck, droht neues Unheil aus der
Mautecke: Wenn, wie in der Neufassung der EU-Wegekostenrichtlinie vorgesehen, nur noch Straßen, die nicht
älter als 15 Jahre sind, bemautet werden dürfen
({8})
- nein, nur die Eurovignette in einem anderen Bereich -,
bedeutet dies das Aus für die gute Idee der Nutzerfinanzierung durch schwere LKW in Deutschland. Die meisten Autobahnen wurden in den 50er- und 60er-Jahren
gebaut, sodass damit der Großteil der Straßen künftig
nicht mehr bemautet werden dürfte.
({9})
Ich bin nicht sicher, ob Ihnen, Herr Minister Stolpe,
diese Brisanz bekannt ist. Dieses Problem können Sie in
Brüssel nicht einfach im gewohnten Plauderton lösen,
sondern Sie müssen handeln. Sie konnten bis heute noch
nicht einmal die dem Gewerbe versprochene Harmonisierung der LKW-Maut realisieren.
Durch das Mautdesaster, insbesondere hervorgerufen
durch das miserable Controlling, ist schon der maximale
Blamagegrad für den Verkehrsminister erreicht. Aber
auch die Industrie hat sich nicht mit Ruhm bekleckert.
Das muss man deutlich sagen. Es fehlen 2,8 Milliarden
Euro bis Ende 2004. Nun ist zu hören, dass aufgrund der
mittelfristigen Finanzplanung das Ressort von Minister
Stolpe noch viel stärker bluten soll, als bisher bekannt
war. Die Verkehrsinvestitionen werden drastisch verringert, ohne dass Sie, Herr Minister, einen Kampfeswillen
gegenüber dem Finanzminister erkennen lassen. Sie wären hier gefordert.
Jetzt wird auch deutlich, dass der Verkehrsminister,
der noch vor drei Wochen im Ausschuss euphorisch vermeldete, dass die Verkehrsinfrastruktur gesichert sei,
damals die glatte Unwahrheit verkündete. Die Bundesregierung verabschiedet sich aus der Verkehrsinfrastrukturpolitik. Sie plant den Verkehrskollaps. Das ist
verkehrspolitisch, aber auch wirtschaftspolitisch unverantwortlich.
({10})
Die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung bedeutet das faktische Aus für fast alle Neubauprojekte.
Zur ICE-Trasse. Der Kollege Grund hat schon ausgeführt, dass das für Thüringen ein Fiasko ist. Das gilt aber
auch für Franken. Es steht fest, dass Bahnchef Mehdorn
erst ab 2009 Mittel zur Verfügung stellen will. Der Verkehrsminister sagt, die Strecke sei gesichert. Er sagt natürlich nicht, wann sie gebaut werden soll.
Kollege Schmidt, Sie müssen sich mit Ihren Aussagen
ein bisschen auseinander setzen. Sie wollen die Strecke
qualifiziert beenden.
({11})
Der Verkehrsminister will sie bauen. Der Bahnchef sagt,
er habe vor 2009 kein Geld.
({12})
Ich frage mich, wer hier der Verkehrsminister ist. Sie
brauchen eigentlich bloß unserem Antrag zuzustimmen.
Auch wenn der Bahn-Tower höher als das Reichstagsgebäude ist, kann man nicht von dort die Verkehrspolitik in
Deutschland bestimmen.
Meine Damen und Herren, Straßenbauinvestitionen
sind keine Subventionen. Die geplanten Kürzungen im
Fernstraßenetat - bis 2008 um rund 20 Prozent - sind ein
verkehrspolitischer Offenbarungseid und kein Beitrag
zum Subventionsabbau. Darüber ist schon berichtet worden. Die Bundesregierung sollte da Subventionen abbauen, wo sie wirklich fließen.
({13})
Im Straßenbau ist das nicht der Fall.
({14})
- Sie haben mir nicht zugehört: Koch und Steinbrück haben nicht die Straßenbaumittel gemeint.
({15})
Wann begreifen Sie das endlich?
Der Straßenbau ist kein Subventionstopf. Der Autofahrer zahlt nämlich immerhin jährlich rund 50 Milliarden Euro an Mineralölsteuer. Er subventioniert damit
den Bundeshaushalt.
({16})
Herr Minister Stolpe, alles in allem kann ich Ihnen
den Vorwurf nicht ersparen, ein äußerst schwacher Sachwalter unserer mobilen Gesellschaft zu sein.
({17})
Zu einer Kurzintervention zur Richtigstellung erhält
der Kollege Schmidt das Wort.
Frau Kollegin Blank, Sie haben mich wiederholt persönlich angesprochen. Ich will gar nichts dazu sagen, ob
der Bahn-Tower höher ist. Das ist offensichtlich.
({0})
Ich will einfach falsche Zahlen zur Höhe der Investitionsmittel, die Sie unterstellen, ganz nüchtern und sachlich richtig stellen. Ich trage Ihnen jetzt nicht die
Haushaltsplanzahlen vor, sondern nenne die Istüberweisungen des Bundes an die Deutsche Bahn AG, die für
Schienenwege verbaut wurden.
Die gerundeten Istzahlen zum Mitschreiben: im Jahr
1997 - im vorletzten Jahr Ihrer Regierungszeit 2,8 Milliarden Euro; im Jahr 1998 - das war der letzte
Haushalt, den Sie zu verantworten hatten - 2,7 Milliarden Euro; 1999 - das war der erste Haushalt, den wir zu
verantworten hatten - 3,4 Milliarden Euro; 2000 ebenfalls 3,4 Milliarden Euro; 2001 schon 3,9 Milliarden
Euro; 2002 dann 4,3 Milliarden Euro; 2003 schließlich
4,5 Milliarden Euro.
Wie Sie bei diesen Zahlen zu der Behauptung kommen, wir hätten in den letzten fünf Jahren diese Mittel
reduziert, ist mir völlig schleierhaft. Ich bitte Sie herzlich, in Zukunft nachzulesen.
Selbst wenn nach dem Kürzungsszenario, das wir
heute gemeinsam kritisiert haben, der schlimmste Fall
einträte, wären wir immer noch bei 3,0 Milliarden Euro
für die Schiene - besser als Sie in den Jahren 1997 und
1998.
({1})
In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich: Lassen Sie uns
über Meinungen streiten, aber Fakten einfach zur Kenntnis nehmen.
({2})
Kollege Schmidt, mir war schon immer klar, dass Sie
nicht gut zuhören können.
({0})
- Lesen kann ich auch. Ich sprach nämlich von den investiven Mitteln,
({1})
nicht von dem Betrag, der der Deutschen Bahn AG jährlich überwiesen wurde.
({2})
- Kollege Schmidt, die Deutsche Bahn AG konnte in
den genannten Jahren 6 Milliarden Euro nicht verbauen.
({3})
Es wurden Teile von einem Darlehen in einen Baukostenzuschuss umgelenkt. Das ist etwas ganz anderes als
Investitionen in das Bestandsnetz oder in Neubau.
({4})
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis und lesen Sie die
Höhe der investiven Mittel in Ihrem Schienenwegeausbaubericht nach!
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Danckert.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren
Kollegen! Ich dachte, wir diskutieren heute über den
Straßenbaubericht und analysieren die Situation, wie sie
ist.
({0})
Stattdessen werden uns aber von allen Seiten alle möglichen Vorstellungen über das, was Koch und Steinbrück
erreichen und umsetzen wollten, vorexerziert. Fakt ist
doch Folgendes - das kann man nachlesen; ich habe mir
den Bericht extra geben lassen -: Koch und Steinbrück
schlagen im Schienenbereich - das kann man Subventionen oder Finanzhilfen nennen - eine Kürzung um
633 Millionen Euro pro Jahr vor - und zwar kumulierend.
({1})
Ich finde, dass wir in der Situation, in der wir gemeinsam sind, vor allem aber die Regierungskoalition, die in
der Verantwortung steht, darüber nachdenken müssen,
ob es sinnvoll ist, wenn es sich zwei außenstehende Ministerpräsidenten, die den Auftrag hatten, Vorschläge
zum Thema Subventionsabbau zu machen, so einfach
machen. Statt dort, wo wirklich Subventionen gewährt
werden, anzusetzen, kürzen sie einfach den Bahnetat
pauschal um jährlich 633 Millionen Euro. Lieber Herr
Oswald und lieber Herr Fischer, das hätten auch Sie
nicht mitgemacht.
({2})
Auch Sie hätten gesagt, dass eine solche Kürzung sachgerecht auf die drei Haupttitel - Straße, Schiene und
Wasserstraße - aufgeteilt werden soll. Genau das ist bei
diesem Vorgang in der Verantwortung der Regierungskoalition gemacht worden.
Ich hätte gerne die Situation bei dieser Debatte hier
im Hause erlebt, wenn wir den Vorschlag von Koch/
Steinbrück übernommen hätten. Sie haben nämlich vermieden, die Mittel für den Straßenbau zu kürzen, was
man ja auch hätte tun können. Das haben sie sich aber
nicht getraut. Sie haben einfach im Schienenbereich pauschal um 633 Millionen Euro pro Jahr bis 2006 gekürzt.
Das finde ich einfach nicht in Ordnung. Das, was wir an
dieser Stelle gemacht haben, ist genau das Richtige. Sie
hätten das auch so gemacht.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer
Kollegin Gleicke?
Gerne.
Herr Kollege Danckert, nachdem wir heute gehört haben, dass sich die Opposition deutlich dahin gehend artikuliert hat, dass sie durch die Koch/Steinbrück-Vorschläge nur die Schiene treffen wollte, möchte ich Sie
fragen - da es sich beim Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nummer 8 um ein Schienenprojekt handelt -, ob
Sie meinen Eindruck teilen, dass der thüringische Ministerpräsident, Herr Althaus, den Kürzungen nach Koch/
Steinbrück nur deshalb zugestimmt hat, um das einzige
Wahlkampfthema, das er hat, nicht zu verlieren?
({0})
Frau Kollegin Gleicke, erst einmal bedanke ich mich
für Ihre Zwischenfrage; denn dadurch geben Sie mir die
Gelegenheit, einen Teil meiner Rede als Antwort auf
Ihre Frage abzuarbeiten.
({0})
Ich könnte Ihnen einfach antworten: Ja.
({1})
Mein Eindruck ist, dass er versucht, dieses Wahlkampfthema in die Öffentlichkeit zu schieben. Dies
denke ich vor allen Dingen - dafür spricht im Moment
viel -, nachdem ich gehört habe, dass er Herrn Mehdorn
gar nicht getroffen hat. Dann würde das besonders problematisch werden.
Das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“, über das Sie
sprechen, ist aus meiner Sicht sehr wichtig. Es eignet
sich überhaupt nicht für innerthüringische Wahlkämpfe.
({2})
Dieses Projekt - dazu lade ich auch die Opposition ein müssen wir gemeinsam stemmen, damit es realisiert
werden kann. Das ist die Antwort auf meine Frage.
({3})
An dieser Stelle hatte ich vor, mich bei allen Parteien
- auch bei denen, die damals Regierungsverantwortung
getragen haben; ebenso bei Herrn Friedrich, der gerade
dazwischengequakt hat ({4})
ausdrücklich für die Initiative, die sie im Zusammenhang mit den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ gezeigt haben, zu bedanken. Das ist ein ganz wichtiger
Beitrag. Deshalb sind wir in der Verantwortung, dafür zu
sorgen, dass dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“
trotz engster Haushaltsspielräume realisiert wird.
({5})
Sollte Herr Mehdorn wirklich gesagt oder gedacht haben, was Herr Reinholz hier berichtet hat - nach meiner
Kenntnis haben die sich überhaupt nicht getroffen; vielleicht hat er aber auch geahnt, was Herr Mehdorn vorhat -, dann überschreitet er aus meiner Sicht seine Möglichkeiten. Ob diese Mittel zur Verfügung stehen, muss
mit dem Ministerium, mit dem Minister Stolpe und seinem Stab, abgesprochen werden. Ich sage als ostdeutscher Abgeordneter: Es würde mich sehr treffen, wenn
wir das Projekt an dieser Stelle stoppen würden. Es muss
fortgeführt werden.
Noch eine Zwischenfrage?
Nein, ich wollte nur sagen: Der Kollege Grund
möchte eine Zwischenfrage stellen. Wenn Sie sich eigene Fragen beantworten, kann ich dafür leider nicht die
Zeit stoppen.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Herr Kollege
Danckert, können Sie bestätigen, dass das Thema 8.1/
8.2, der mögliche Stopp des Baus dieser ICE-Trasse,
nicht durch die thüringische Regierung in die Öffentlichkeit gebracht worden ist, sondern durch Meldungen sowohl von der Deutschen Bahn als auch vom Bundesverkehrsministerium, die ich auch hier vorgetragen habe?
({0})
Würden Sie ferner befürchten, dass, wenn der Stopp des
Baus dieser Trasse wahr werden sollte, die rot-grüne
Bundesregierung ihren eigenen Kandidaten für das Amt
des thüringischen Ministerpräsidenten aufgegeben hätte,
der ja auch davon betroffen wäre?
({1})
Verehrter Herr Kollege Grund, ich habe gestern versucht, die Nachrichten dazu zeitlich zu sortieren. Nach
meiner Kenntnis war der thüringische Wirtschaftsminister Reinholz der Erste, der das Thema in die Öffentlichkeit geblasen hat. Alle anderen haben nachgezogen, um in irgendeiner Weise zu dem Punkt Stellung zu
nehmen. Also war der Eindruck, den Frau Gleicke in ihrer Frage zum Ausdruck gebracht hat, dass hier möglicherweise ein Wahlkampfthema angesprochen werden
soll, gar nicht falsch.
({0})
Das hat mich beunruhigt; danach habe ich die weiteren
Meldungen auch unter diesem Gesichtspunkt gesehen.
Ich sage noch einmal: Wir werden das gemeinsam besprechen; dazu lade ich Sie ein. Die Fortführung des
Projekts „ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt-Halle-Leipzig“
ist notwendig und wichtig. Dann müssen wir uns aber
auch anstrengen: Ich bitte Sie um Vorschläge, wie wir
die Finanzierung vornehmen sollen. Sie stellen sich
hier nur hin und fordern alles Mögliche - wir sehen es
auch in den Ausschüssen: Von überall kommen neue
Vorschläge zu weiteren Projekten, die realisiert werden
sollen -, doch niemand sagt, wie all das finanziert werden soll.
Das erinnert mich verdammt an dieses fette Märchenbuch namens „Bundesverkehrswegeplan 1992 - 2012“,
in dem Tausende von Projekten standen, von denen sich
aber keines richtig realisieren ließ. Sie haben in der Zeit
Ihrer Regierung ja selber mitgekriegt, wie schwer es ist,
sich gegenüber den Haushältern durchzusetzen, die immer ganz andere Interessen haben, viel allgemeinere. Da
müssten Sie eigentlich großes Verständnis für unsere
Seite haben. Wir sind nur darauf bedacht, dass unsere
Straßen- und Schienenprojekte realisiert werden können.
Da sind wir meines Erachtens trotz der schwierigen
Haushaltslage auf einem guten Weg.
({1})
- Frau Blank, Sie dürfen fragen, wenn Sie wirklich wollen.
Das erlaube eigentlich noch immer ich.
Entschuldigen Sie, Frau Präsidentin.
Ich finde, dass zwei Zwischenfragen für eine Rede eigentlich genug sind.
({0})
Da Sie es nun schon erlaubt haben, bitte - aber nur noch
kurz.
Kollege Danckert, Sie sprechen hier so begeistert von
der Trasse Nürnberg-Erfurt. Wären Sie so freundlich,
Ihren Koalitionspartner, den Kollegen Schmidt, der in
den „Nürnberger Nachrichten“ - man kann die Zeitung
ja auch nennen - als Erster verkündet hat - es war also
kein Wahlkampfthema! -, dass er begeistert ist, dass es
weitergeht, davon zu überzeugen, dass der Weiterbau
wichtig ist?
({0})
Frau Kollegin Blank, ich versuche den Kollegen
Schmidt ständig von meinen richtigen Auffassungen zu
überzeugen.
({0})
Vielleicht gelingt mir das auch in dieser Frage.
Aber lassen Sie mich zum Schluss noch etwas anderes sagen: Objektiv betrachtet befinden wir uns in einer
extrem schwierigen Haushaltslage. Man kann sich für
diesen Bereich natürlich alles Mögliche wünschen, aber
wenn man fordert, der Titel für Straßen-, Schienen- oder
Wasserstraßenbau müsse erhöht werden, muss man immer auch dazusagen, an welcher Stelle im Gesamthaushalt eingespart werden soll. Ohne eine solche Gegenfinanzierung - ich nenne das einmal so - geht es nicht.
Wir sind, denke ich, gut beraten, wenn wir uns darüber Gedanken machen, ob die Finanzierung der Straßenund Schienenbaumaßnahmen allein über den Haushalt in
Zukunft der richtige Weg ist. Ich glaube, wir müssen in
dieser Frage neue Wege beschreiten und uns Gedanken
darüber machen, ob die Standards, zu denen wir im
Laufe der Jahre gekommen sind, noch richtig sind. Wir
müssen uns fragen, ob wir es noch vertreten können,
dass in einer Ortslage eine neue Bundesstraße und ein
halbes Jahr später eine Ortsumgehung gebaut wird.
({1})
Diesen Luxus werden wir uns in Zukunft nicht mehr
leisten können.
Wir werden zusehen müssen, ob wir nicht über private Finanzierungsmöglichkeiten - ich nenne als
Stichwort PPP - Alternativen entwickeln können. Denn
ich habe den Eindruck, dass die Privatwirtschaft zum
Teil sehr viel besser mit den Mitteln umgehen kann - es
muss nicht immer zu extrem hohen Nachtragsangeboten
kommen - und bei der Realisierung schneller und zügiger ist. Das könnte eine Alternative sein und soll - das
sage ich ausdrücklich - das Bestehende nicht ablösen.
Wir werden es aber nicht vermeiden können, in diesem
Bereich neue Wege zu beschreiten.
Ein letzter Gedanke. Frau Blank hat beim Thema
Maut, das hier offensichtlich nicht zu vermeiden war,
Gott sei Dank auch die beiden Wirtschaftskonzerne angesprochen. Ich hätte mir an dieser Stelle von Ihnen ein
deutliches Wort gewünscht - wir haben ein solches oft
genug gesprochen -, dass der Ursprung dieser Misere,
die wir zu verzeichnen haben, der ist, dass zwei große
Industriekonsortien ihre vollmundigen Versprechungen
nicht erfüllt haben. Das ist der Grund. Wenn die Maut
Realität geworden wäre, hätten wir ab 31. August/
1. September 2003 das Füllhorn der Mauteinnahmen gehabt. Ich bin dem Minister dankbar, dass er sehr sorgfältig verhandelt hat und zu einem neuen und besseren Ergebnis gekommen ist. Ich wünsche uns allen, dass wir
bis zum Ende des Jahres das Thema Maut abhaken können und uns ein funktionierendes Mautsystem übergeben
wird. Dieses müssen wir dann aber auch weiterentwickeln. Das ist mein Wunsch an Sie. Mehr möchte ich an
dieser Stelle dazu nicht sagen. Das, was wir jetzt vorgesehen haben, kann nicht das Ende sein.
Ich finde, wir sind, was den Straßenbau angeht, auf
einem sehr guten Weg. Wir haben viel erreicht. Die
5,6 Milliarden Euro, die im Jahr 2002 ausgegeben worden sind, sind gut ausgegeben worden. Wir werden sehr
darauf achten, dass die uns zur Verfügung stehenden
Mittel sinnvoll, zweckmäßig und zukunftsweisend ausgegeben werden, damit auch die Wirtschaft davon profitiert. Das ist unser Wunsch.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Satz „Es liegen keine Meldungen vor“ verkünden Staureporter und Piloten für die A 3 in Richtung
Nürnberg im Verkehrsfunk heutzutage nicht einmal
mehr an Heiligabend nach 23 Uhr. Statt der zulässigen
Geschwindigkeit sind in Deutschland Schritttempo oder
Stillstand an der Tagesordnung. Bei der Infrastrukturvorsorge rollen die Räder seit Schröders Amtsantritt eher
rückwärts. Das hat Folgen. Die persönliche Mobilität
wird eingeengt, Chancen für Lebensgestaltung und Erwerb bleiben ungenutzt, Wohlstand und Beschäftigung
sinken, wirtschaftliches Wachstum wird verhindert.
Nach der jetzt bekannt gewordenen Mittelfristplanung
der rot-grünen Bundesregierung kommt alles noch
schlimmer. Für den Zeitraum 2004 bis 2008 fehlen durch
globale Minderausgaben wegen Rentenfinanzierung,
Mautkompensation und Subventionsabbau gegenüber
der geltenden Finanzplanung für die Straße rund 3,9 Milliarden Euro, für die Schiene rund 3,5 Milliarden Euro
und für die Wasserstraßen 386 Millionen Euro. Bereits
2004, also in diesem Jahr, liegt die Höhe der Verkehrsinvestitionen gut 670 Millionen Euro unter den Haushaltsansätzen, die das Parlament beschlossen hat.
({0})
In den Folgejahren werden die Kürzungen sogar auf über
1,8 Milliarden Euro pro Jahr ansteigen.
({1})
In der Summe fallen dem Rotstift bis 2008 knapp
7,8 Milliarden Euro für Verkehrsinfrastruktur zum Opfer.
Bemerkenswert ist dabei - das ist heute schon mehrfach angesprochen worden -, dass die Kürzungen der
Subventionen für die Schieneninfrastruktur von der rotDirk Fischer ({2})
grünen Bundesregierung zu 50 Prozent auf die Straßeninvestitionen umgeschichtet worden sind.
({3})
Es liegt doch auf der Hand, dass die Beratungen der auf
dem Bundesverkehrswegeplan basierenden Ausbaugesetze jetzt schon eher virtueller Art sind, da die Finanzierungsbasis überhaupt nicht mehr stimmt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, offenbar
verschafft es Ihnen aber schon Genugtuung, wenn das
Parlament und die Öffentlichkeit virtuell beschäftigt
sind. Ob hinten etwas herauskommt, ob das ernst zu nehmen ist und ob das dann konsequent durchgeführt wird,
scheint Sie immer weniger zu interessieren.
({4})
Herr Kollege Schmidt, diese Politik hat natürlich erhebliche Konsequenzen. In diesem Jahr 2004 können in
allen 16 Bundesländern zusammen nur noch 23 Straßenprojekte begonnen werden. In den großen Flächenländern Niedersachsen, Hessen und Rheinland-Pfalz
wird in diesem Jahr kein einziges neues Straßenbauprojekt begonnen.
({5})
Dringend notwendige Erhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen liegen auf Eis. Wir leben also von der Substanz. Das hat weit reichende Folgen für die Zukunft.
Die Systeme marodisieren.
({6})
Sie später einmal wieder in Ordnung zu bringen wird
umso teurer werden.
({7})
Die Bundesregierung hat nun endlich das wahre Ausmaß des Dilemmas benannt. Sie hat meine Forderung
vom letzten Freitag, bis zur heutigen Debatte eine „projektscharfe“ Streichliste vorzulegen, immerhin bis gestern nach Feierabend erfüllt. Wesentliche Ursache dieses
Dramas ist der Mautmurks, den Verkehrsminister
Dr. Stolpe und sein Vorgänger Bodewig gemeinsam mit
den von dieser Bundesregierung ausgewählten Vertragspartnern angerichtet haben.
Herr Kollege Danckert, nicht die Opposition, sondern
diese Bundesregierung hat die Vertragspartner ausgesucht.
({8})
Ich möchte einmal darauf hinweisen, dass einer Ihrer
Vertragspartner, der nach Ihrer Auffassung so tolle Leistungen vollbracht hat, nahezu zur Hälfte dem Bund
selbst gehört, sodass der Bund einen bestimmenden Einfluss im Unternehmen hat. Das heißt: Zeigen Sie nicht
mit dem Finger auf andere, sondern doch besser auf sich
selbst.
({9})
Zu den aktuellen Turbulenzen kommt hinzu, dass die
Bundesregierung die Nachfragedynamik des Verkehrsträgers Straße und die aktuellen Möglichkeiten des
Schienenverkehrs völlig falsch einschätzt und an ihren
ideologisch belasteten Wunschvorstellungen festhält,
nach denen die Verkehrsleistungen im Schienenpersonenverkehr bis 2015 um 32 Prozent und im Schienengüterverkehr sogar um 103 Prozent steigen werden.
({10})
Das ist im Verkehrsbericht 2000 nachzulesen und wurde
im Bundesverkehrswegeplan 2003 wiederholt. Letzteres
ist wirklich eine echte Lachnummer; denn zwischenzeitlich hatten Herr Mehdorn - er sprach von einer höchstens 50-prozentigen Steigerung - und Herr Bodewig - er
sprach von einer höchstens 65-prozentigen Steigerung diese Prognosen für den Schienengüterverkehr bereits
nach unten korrigiert. Man nimmt das jedoch nicht zur
Kenntnis und bringt die alten, weit überzogenen Prognosen.
Auch die Realität sieht anders aus: Zwar stieg die
Verkehrsleistung der DB AG im Nahverkehr von 1993
bis 2003 im Wesentlichen aufgrund der Regionalisierungsmittel des Bundes - erwirtschaftet durch den steuerfinanzierten Umsatz - um 27 Prozent, im Fernverkehr
sank sie jedoch trotz der hohen Ausgaben für kostenintensive Projekte um 5,4 Prozent. Die Verkehrsleistungen
des Schienengüterverkehrs stiegen zwischen 1993 und
2002 zwar um knapp 21 Prozent, die des LKW-Verkehrs
stiegen mit über 40 Prozent aber deutlich stärker.
({11})
Im Gesamtverkehrsmarkt sank der Anteil des Schienengüterverkehrs seither von 16 Prozent auf 14 Prozent,
während der LKW-Anteil von 65 Prozent auf 69 Prozent
anstieg.
Ich will jetzt das ansprechen, was die Koalition ganz
kurzfristig zusätzlich in diese Debatte eingeschoben hat,
nämlich den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften. Nach den
EU-Richtlinien hätte die Umsetzung der Ergebnisse der
Taskforce bis zum 15. März 2003 erfolgen müssen. Erst
heute, ein Jahr zu spät, ist der Kabinettsentwurf für dieses Gesetz dem Parlament als Initiative der Koalitionsfraktionen zugeleitet worden. Zwar ist die Umsetzung
der Taskforce-Ergebnisse ein sinnvoller Zwischenschritt
für die Umsetzung des EU-Eisenbahnpakets, deren Ziele
sich mit unserer Bahnreform, mehr Verkehr auf die
Schiene und weniger Belastung des Steuerzahlers, decken. Allerdings lässt der Gesetzentwurf klare Regelungen zur organisatorischen, finanziellen und personellen
Unabhängigkeit von Netz und Verkehr, zum Anspruch
auf diskriminierungsfreie Netznutzung, zur wirksamen
Dirk Fischer ({12})
Kontrolle diskriminierungsfreier Trassenpreise und zum
Schadensersatz bei betrieblichen Störungen vermissen
und bleibt damit weit hinter den europäischen Vorgaben
zurück. Handlungsbedarf bleibt also bestehen.
Die CDU/CSU hält an den Zielen ihrer Bahnreform
fest und fordert deshalb erneut von der Bundesregierung
eine umfassende Bestandsaufnahme und kritische Bewertung der Effekte des bisherigen Vollzuges der Bahnreform mit externer Evaluierung. Interessenunabhängige
Sachverständige sollten ordnungspolitische Empfehlungen an den Gesetzgeber sowie an den Bund als Alleineigentümer richten und Vorschläge für die dritte Stufe der
Bahnreform machen.
Wir brauchen dringend - lassen Sie mich das abschließend sagen - eine strikte Trennung staatlicher Ordnungspolitik durch Gesetze, Verordnungen, Genehmigungsund Kontrollverfahren von jeglicher unternehmerischer
Tätigkeit. Hier gibt es in Deutschland seit Jahren eine inakzeptable Fehlentwicklung. Es kann nicht hingenommen werden, dass der Schwanz DB AG mit dem Hund
Bund wedelt.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2603 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
Drucksache 15/2588. Unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der Unter-
richtung durch die Bundesregierung über einen Vor-
schlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die allgemeine Einführung und die
Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der Ge-
meinschaft eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/2588 empfiehlt der Ausschuss, in Kennt-
nis der Unterrichtung durch die Bundesregierung über
den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Par-
laments und des Rates zur Änderung der Richtlinie über
die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimm-
ter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden, nur die FDP hat sich enthalten.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 c bis 4 e
sowie den Zusatzpunkten 2 und 3. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2653,
15/2323, 15/2456, 15/2743 und 15/2470 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 15/2743 soll gemäß § 96 der Ge-
schäftsordnung zusätzlich an den Haushaltsausschuss über-
wiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das scheint so zu
sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zu-
satzabkommen vom 15. Oktober 2003 zu dem
Abkommen vom 4. Oktober 1954 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Österreich zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiet der Erbschaftsteu-
ern
- Drucksache 15/2721 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der im Dezember 2002 vorgenommenen
Änderungen des Internationalen Übereinkommens von 1974 zum Schutz des menschlichen
Lebens auf See und des Internationalen Codes
für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in
Hafenanlagen
- Drucksache 15/2700 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Innenausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 17 a:
a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
19. August 2002 zwischen den Vertragsstaaten
des Übereinkommens zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation und der
Europäischen Weltraumorganisation über den
Schutz und den Austausch geheimhaltungsbedürftiger Informationen
- Drucksache 15/2545 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 15/2692
Abgeordnete Frank Hofmann ({0})
Dorothee Mantel
Silke Stokar von Neuforn
Ernst Burgbacher
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/2692, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. ({1})
Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 17 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat
- Drucksache 15/2542 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({3})
- Drucksache 15/2739 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2739,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen
worden.
Tagesordnungspunkt 17 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat
Förderung der Privatwirtschaft im Mittelmeerraum ({5}) KOM ({6})
587 endg.; Ratsdok. 13769/03
- Drucksachen 15/1948 Nr. 1.40, 15/2204 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Fahrenschon
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen?
- Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung
über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland ({7})
- Drucksache 15/2742 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Rainer Funke, Günther Friedrich
Nolting, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr ({9})
- Drucksache 15/1985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt
es keinen. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen legen heute den Entwurf eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes vor, also eines Gesetzes, das die Verfahren der
Mitwirkung des Deutschen Bundestages an der Entscheidung über bewaffnete Einsätze deutscher Streitkräfte im Ausland regeln soll.
Gleich zu Anfang möchte ich Folgendes feststellen:
Der Parlamentsvorbehalt bei bewaffneten Einsätzen
im Ausland bleibt und wird in keiner Weise eingeschränkt.
({0})
Dieser Parlamentsvorbehalt ist in der Tat eine deutsche
Besonderheit, aber diese Besonderheit hat sich bewährt.
Sie ist heute Bestandteil unserer Rechtskultur. Es bleibt
dabei: Die Bundeswehr ist und wird ein Parlamentsheer
sein.
({1})
Nach wie vor wird der Deutsche Bundestag jeden
Einsatz bewaffneter Kräfte im Ausland sorgfältig prüfen
und beraten, bevor er eine Zustimmung gibt. Wir tun das
vor dem Hintergrund, dass für uns der Einsatz bewaffneter Kräfte im Ausland kein normales Mittel von Politik
ist, sondern immer ein besonders zu prüfendes und eine
besonders zu beratende Ausnahme bleiben wird. Wir tun
das vor dem Hintergrund, dass wir in jedem Fall zeigen
wollen, dass wir uns unserer Verantwortung für die Entsendung von deutschen Soldaten ins Ausland bewusst
sind. Das ist immer eine Entscheidung, bei der es auch
um lebensgefährliche Risiken geht. Schließlich wollen
wir, dass jede Soldatin und jeder Soldat, die bzw. der für
Deutschland einen Auftrag im Ausland erfüllt, weiß,
dass sowohl die Bundesregierung als auch das Parlament, zumindest in seiner Mehrheit, hinter diesem Auftrag steht.
({2})
Wenn das alles so bleiben soll, dann muss man die
Frage beantworten, warum denn ein Parlamentsbeteiligungsgesetz notwendig ist. Wir haben das Grundgesetz,
wir haben die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und wir haben nach nunmehr annähernd
50 Entscheidungen über Auslandseinsätze - übrigens hat
das Parlament in allen Fällen dem Antrag der jeweiligen
Bundesregierung zugestimmt - schon eine bewährte
Staatspraxis. Trotzdem gibt es in diesem Haus einen
breiten Konsens darüber, dass es Sinn macht, in Form eines Bundesgesetzes verbindliche Regelungen auch im
Detail und damit Rechtssicherheit für alle beteiligten
Seiten zu schaffen.
({3})
Denn die Erfahrung hat uns gelehrt: Es gibt Unsicherheiten darüber, wo der Parlamentsvorbehalt anfängt und wo
er seine Grenzen findet.
Mit der Zeit sind bestimmte Grauzonen entstanden,
zum Beispiel dann, wenn die Bundesregierung in informellen Gesprächen die Zustimmung der Fraktionen eingeholt hat, weil sie sich nicht sicher war, ob sie in diesem Fall schon das Parlament fragen musste oder nicht.
Es gibt auch Probleme bei dem Verhältnis von Anlass
und Aufwand. Zum Beispiel hat sich die Bundesregierung bei der Frage, ob für die Entsendung von ein oder
zwei Uniformierten bei einer begrenzten internationalen
Mission die Parlamentarier aus der Sommerpause zurückgeholt werden sollen, in der Vergangenheit häufig
geweigert, diesen Weg zu gehen. Das ist aus unserer
Sicht nicht wünschenswert.
Wenn es dazu kommt, dass ein Parlamentsrecht in bestimmten Fällen - zum Beispiel bei der Verlängerung
schon mehrfach verlängerter, unbestrittener und unter
unveränderten Umständen stattfindender Einsätze nicht mehr wahrgenommen und dadurch ausgehöhlt
wird, dann ist das nicht gut. Dann ist es sinnvoll, sich
über angemessene Verfahren und Regelungen zu verständigen. Genau das soll mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz erreicht werden. Dabei greifen wir mit
unserem Entwurf eine Anregung auf, die das Bundesverfassungsgericht bereits in dem immer wieder zitierten
Urteil vom 12. Juli 1994 gegeben hat, wohl schon damals erkennend, dass eine gesetzliche Regelung ein Plus
an Rechtssicherheit darstellt und auch ein Mittel ist, um
solche möglichen Grauzonen zu vermeiden.
Nun stellt sich die Frage, ob es nicht wünschenswert
wäre, dass ein Parlamentsbeteiligungsgesetz in diesem
Hause auf eine möglichst breite Grundlage gestellt
würde. Wir haben uns Mühe gegeben und es versucht.
Ich möchte ausdrücklich drei Kollegen besonders danken: Ronald Pofalla von der CDU, Christian Schmidt
von der CSU und Jörg van Essen von der FDP. Ich
glaube, wir haben gute Gespräche geführt, und ich bin
sicher, dass die gemeinsamen Versuche auch dazu beitragen werden, dass die Beratung dieses Gesetzentwurfs in
einem Umfeld von Sachlichkeit stattfinden kann.
({4})
Aber obwohl es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gab, konnten wir uns nicht verständigen. Das gilt
insbesondere für die Fragen, ob es zum einen einen besonderen Entsendeausschuss und zum anderen eine Vorabzustimmung zu integrierten Einsätzen von NATO und
EU, die in Zukunft bevorstehen werden, geben soll. Deswegen gibt es nun konkurrierende Gesetzentwürfe.
Was ist die Methodik bzw. die Vorgehensweise unseres Entwurfs? Ein Mittel ist zunächst einmal die Definition. In dem Gesetzentwurf wird definiert, was ein
bewaffneter Einsatz ist und was nicht. Diese Begriffsbestimmung stellt klar, dass vorbereitende Maßnahmen
und Planungen, aber zum Beispiel auch humanitäre Hilfeleistungen durch einzelne Vertreter der Bundeswehr
- jedenfalls dann, wenn diese nur zum Selbstschutz bewaffnet sind und nicht in die Gefahr geraten, in einen bewaffneten Konflikt einbezogen zu werden - noch keinen
bewaffneten Einsatz darstellen und auch nicht unter den
Parlamentsvorbehalt fallen.
Das besondere Kennzeichen unseres Entwurfs ist die
Einführung eines so genannten vereinfachten Zustimmungsverfahrens. Dieses Verfahren soll dann zur Anwendung kommen, wenn die Einsätze von geringer Intensität und Tragweite sind, zum Beispiel bei KunduzKommandos, die zur Vorbereitung eines Einsatzes entsandt werden, wenn einzelne Soldaten in Austauschvereinbarungen mit verbündeten Streitkräften entsandt werden oder wenn einzelne Uniformierte für Missionen der
Vereinten Nationen, der EU, der OSZE oder ähnlicher
internationaler Organisationen angefordert werden und
auch dies keine besondere politische Tragweite aufweist.
Das vereinfachte Verfahren soll auch dann greifen, wenn
es sich um eine Verlängerung eines Einsatzes handelt,
der unbestritten ist und unter unveränderten Rahmenbedingungen stattfindet.
Vereinfachtes Verfahren heißt in der Sache, die Bundesregierung leitet einen Antrag an das Parlament, gibt
ihn den Sprechern der entsprechenden Fachausschüsse
bekannt und lässt ihn per Drucksache an alle Mitglieder
des Hauses verteilen. Dann beginnt eine Art Verschweigungsfrist - im Gesetzentwurf wird sie zwar nicht so genannt, aber man kann es als solche bezeichnen - von sieben Tagen. Wenn bis dahin nicht eine Fraktion oder
5 Prozent der Mitglieder des Bundestages - das sind bei
der heutigen Größe des Bundestages etwa 30 Mitglieder - Einwand erheben und Beratungsbedarf anmelden,
dann gilt dieser Antrag als stattgegeben. Wenn ein solcher Einspruch allerdings erfolgte, würde das normale
Beratungsverfahren automatisch angewandt.
Dabei ist es wichtig, eines zu wissen: Es handelt sich
hierbei zwar um ein vereinfachtes, aber nicht um ein verkürztes Verfahren. Viele übersehen, dass wir bisher bei
der normalen Praxis des Parlamentsvorbehalts in der Regel nicht mehr als drei Tage benötigen: An einem Tag
wird die Kabinettsentscheidung getroffen, am darauf folgenden Tag findet die erste Lesung statt, der die Überweisung an die Ausschüsse und die Beratungen in den
Ausschüssen folgen, und bereits am dritten Tag entscheidet das Parlament. Es ist ganz wichtig, das zu wissen.
Bei der Frage künftiger integrierter Einsätze ist folgendes Argument zu berücksichtigen: Sowohl bei den
von der EU als auch bei den von der NATO gesetzten
Fristen ist es durchaus möglich, am deutschen Parlamentsvorbehalt festzuhalten, ohne dass man irgendwelche Abstriche bei der Beteiligung an solchen gemeinsamen Missionen machen müsste.
({5})
Ich bin ganz sicher, dass dieses vereinfachte Verfahren nur dann angewendet wird, wenn ein Beratungsbedarf tatsächlich unwahrscheinlich ist. Das wäre der Fall,
wenn die Vereinten Nationen eine Beobachtermission in
irgendeinem Land durchführen und dabei auf ein oder
zwei uniformierte Fachleute aus Deutschland zurückgreifen wollen. Dann würde es keinen gesteigerten Beratungsbedarf geben, insbesondere wenn die Mission nicht
in einem Gebiet von besonderer Spannung oder von besonders widerstreitenden Interessen stattfindet. Das wäre
auch bei einer Verlängerung des Einsatzes der Fall - wir
haben das schon in den letzten Monaten erlebt -, wenn
der Einsatz selbst unstreitig ist und es vor allen Dingen
keine Veränderung beim Umfang und bei der Art des
Einsatzes sowie bei den politischen Rahmenbedingungen gibt.
Wir sind sicher, dass das vereinfachte Verfahren in
der Tat zu einer Entlastung insbesondere von uns selbst,
den Parlamentariern, führen kann und dass es in keinem
Fall zu einer Vermeidung von notwendigen Diskussionen über wesentliche oder umstrittene Einsätze missbraucht werden kann. Das ist schon deswegen nicht
möglich, weil die Hürde, durch sofortiges Widersprechen anstelle des vereinfachten Verfahrens Beratungen
im Rahmen des normalen Prozesses herbeizuführen,
sehr niedrig ist. Ich glaube allerdings auch, dass das vereinfachte Verfahren den Parlamentsvorbehalt stärken
und festigen wird, gerade weil es einen überflüssigen
Aufwand vermeiden hilft, wenn in der Sache ein Konsens besteht.
Wichtig bei unserem Gesetzentwurf ist auch, dass wir
das, worüber man bisher keine Klarheit hatte, regeln. In
diesem Gesetzentwurf ist ein ausdrückliches Rückholrecht des Parlaments vorgesehen. Das heißt, es ist jederzeit möglich, dass die gegebene Zustimmung des
Bundestages zu einem von der Bundesregierung beantragten Einsatz zurückgenommen werden kann. Darüber
bestand bisher keine Klarheit. Die Regelung zur nachträglichen Zustimmung, die wir in den Entwurf aufgenommen haben, schreibt hingegen eigentlich nur das
fest, was bisher ohnehin Staatspraxis war.
Es ist völlig klar, dass bei einer unmittelbaren Gefahr
im Rahmen von Einsätzen, die keinen Aufschub dulden,
oder aber bei Rettungseinsätzen, deren Details nicht bekannt werden dürfen, eine vorherige Parlamentsentscheidung nicht möglich ist. Es wird hierbei aber ausdrücklich am Parlamentsvorbehalt festgehalten. Es hat
eine nachträgliche Entscheidung zu erfolgen. Außerdem
hat eine ständige Unterrichtung des Parlaments zu erfolgen.
Ich bin sicher, dass dieser Entwurf - er hat eine lange
Vorgeschichte und ihm ging viel Vorarbeit voraus - eine
gute Grundlage dafür ist, eine angemessene, eine bessere, vor allen Dingen eine rechtssichere Regelung für
die Zukunft zu treffen. Der einzige Sinn ist tatsächlich,
den schon vorhandenen Parlamentsvorbehalt zu stärken
und für die Zukunft dauerhaft zu gewährleisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eckart von
Klaeden.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Militärische Gewalt solle nicht mehr
als nationaler Souveränitätsakt ausgeübt werden …,
sondern als Akt des kollektiven Selbstschutzes aller
Nationen, die dafür sorgen, dass auf der ganzen
Welt der Friede erhalten bleibt und des Angreifern
unmöglich gemacht wird, den Frieden zu stören.
Das ist ein Zitat von Carlo Schmid aus den Verhandlungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates
aus dem Jahre 1948. Dieses Zitat hat an Aktualität nichts
eingebüßt. Es ist aktueller als je zuvor; denn gerade
angesichts der neuen Gefahren asymmetrischer Bedrohungen werden multinationale Operationen den standardmäßigen Rahmen militärischer und internationaler
Einsätze bilden.
Auch der Entwurf des EU-Verfassungsvertrages sieht
die Einführung der Prinzipien der strukturierten Zusammenarbeit im militärischen Bereich vor und erhöht damit
die Komplexität der intergouvernementalen Entscheidungsfindung. Es kommt daher darauf an, die Entscheidungsprozesse der Bündnisstaaten nicht nur inhaltlich,
sondern auch von ihrer Struktur her so weit wie möglich
zu harmonisieren. Asymmetrische Entscheidungsprozesse
werden sich aufgrund der unterschiedlichen Verfassungslagen in freien Staaten nicht vollständig beseitigen
lassen. Aber es kommt darauf an, die Entscheidungsprozesse so weit wie möglich kompatibel zu machen und
damit auch den neuen Anforderungen einer vernetzten
Sicherheitspolitik zu begegnen, die auf die kommenden
Gefahren ausgerichtet ist. Heiko Borchert hat darauf in
einem, wie ich finde, beeindruckenden Beitrag hingewiesen.
Wir stehen, wie Michael Rühle in der „FAZ“ betont
hat, am Anfang bzw. schon in der Mitte des zweiten
Kernwaffenzeitalters. Das zeigen Nukleartests in Indien
und Pakistan sowie die Atomprogramme Irans und
Nordkoreas. Wenn Nuklearwaffen erst in die Hände von
Terrorgruppen geraten, müssen wir auf schnelles und effektives Eingreifen vorbereitet sein. Wo sich abgrundtiefer Hass auf den Westen mit religiösen Erlösungsvorstellungen verbindet - so Rühle - und wo der eigene Tod in
Kauf genommen oder gar herbeigesehnt wird, ist kein
Platz mehr für eine orthodoxe Abschreckungslogik, die
den Überlebenswillen aller Beteiligten voraussetzt. Für
Terrorgruppen wie al-Qaida sind Nuklearwaffen nicht
wie im westlichen Denken das letzte, sondern das erste
Mittel.
({0})
Diesen Herausforderungen müssen wir im Interesse
der Sicherheit unseres Landes in funktionierenden militärischen und politischen Bündnissen begegnen können.
Diese Bündnisse werden nur erfolgreich sein können,
wenn die Entscheidungsprozesse den Kriterien der Effektivität standhalten können. Die Anschläge von Spanien zeigen, dass terroristische Organisationen durchaus
das Ziel haben, die Geschlossenheit und die Entschlossenheit des Westens zu beeinträchtigen oder zu zerstören.
({1})
Parlamentsvorbehalte kennen in Europa nur Deutschland und Schweden. Deutschland ist damit in Europa das
einzige NATO-Land, das über einen Parlamentsvorbehalt verfügt.
({2})
Ein Bündnis wie die NATO wird nur so stark und die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wird
nur so erfolgreich sein wie ihr schwächstes Mitglied.
Wer durch seine eigenen innerstaatlichen Entscheidungsvoraussetzungen die Entscheidung im Bündnis erschwert, der schwächt das Bündnis und zwingt andere
geradezu zu Alleingängen. Das ist eine Konsequenz, die
Verteidigungsminister Struck nach einem informellen
Ministertreffen in Colorado Springs im Herbst letzten
Jahres gezogen hat. Er hat zu Recht die Langsamkeit
deutscher Entscheidungsprozesse beklagt und Reformen angemahnt.
({3})
Die Langsamkeit deutscher Entscheidungsprozesse
manifestieren SPD und Bündnis 90/Die Grünen durch
den vorliegenden Gesetzentwurf. Herr Kollege Erler hat
das bestätigt, als er gesagt hat, man wolle der bewährten
Parlamentspraxis eine gesetzliche Grundlage geben. Ich
halte es dagegen für abwegig, dem Parlament nach dem
Motto „Vogel, friss oder stirb!“
({4})
einen umfangreichen und detaillierten Gesetzentwurf
vorzulegen, an dem das Parlament noch nicht einmal ein
Komma ändern darf.
Die Erfordernisse, die in § 3 des Gesetzentwurfs von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschrieben werden,
sind meines Erachtens verfassungswidrig. Denn das
Bundesverfassungsgericht hat in seiner AWACS-Entscheidung von 1994 unter Bezugnahme auf den Grundsatz der Gewaltenteilung ausdrücklich festgestellt:
Der der Regierung von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewährte Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit
wird durch den Parlamentsvorbehalt nicht berührt.
Das gilt insbesondere hinsichtlich der Entscheidung
über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer
der Einsätze, die notwendige Koordination in und
mit Organen internationaler Organisationen.
Herr Wiefelspütz, wenn Sie sich einmal die Mühe machen, diese Passage des Verfassungsgerichtsurteils mit
Ihrem Gesetzentwurf zu vergleichen, dann werden auch
Sie zu der Erkenntnis kommen,
({5})
dass dort ein Widerspruch vorliegt.
Der Entwurf von SPD und Grünen ignoriert zudem
die internationale Eingebundenheit der Bundeswehr in
NATO und EU.
({6})
Der Gesetzentwurf tut so, als hätten wir im militärischen
Sinne noch nationale Streitkräfte oder als wäre ihr isolierter Auslandseinsatz der Regelfall.
({7})
Das Gegenteil ist richtig. Mit der Umstrukturierung der
Bundeswehr in Einsatz-, Stabilitäts- und Unterstützungskräfte beginnt die Bundesregierung, die Bundeswehr auf
die Herausforderung einer vernetzten Sicherheitspolitik
des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Das tut Ihr Gesetzentwurf leider nicht. Sie hätten ihn so auch 1955 nach
dem NATO-Beitritt verabschieden können.
({8})
Diese Vorwürfe wird man dem Entwurf eines Auslandseinsätzemitwirkungsgesetzes der FDP sicherlich
nicht machen können. Ich halte den vorgeschlagenen
Entsendeausschuss prinzipiell für eine gute Idee. Allerdings halte ich es aus mehreren Gründen für problematisch, einem solchen Ausschuss die Möglichkeit zu geben, die Zustimmung des Parlaments zu ersetzen.
({9})
Es gehört zum Wesen der parlamentarischen Entscheidung - im Gegensatz zum exekutiven Handeln -, dass
sie, außer in Personalfragen, öffentlich und transparent
zu erfolgen hat. Dass dieser Entsendeausschuss geheim
tagen und Entscheidungen des Parlaments ersetzen soll,
scheint mir ein untrügliches Zeichen dafür zu sein, dass
er sich zu weit in den Kernbereich der Exekutive vorwagen würde.
({10})
Meines Erachtens sollte das Parlament dem Prinzip
der Gewaltenteilung folgen und sich dabei vor allem
dem Ob eines Einsatzes und dessen politischen Zielen
widmen. Es muss dem Bundestag um Ermächtigung
und Kontrolle, aber nicht so sehr um die Durchführung
des Einsatzes gehen. Je mehr sich der Bundestag vor einem Einsatz oder während eines Einsatzes in das operative militärische Geschäft einmischt oder sich da hineinziehen lässt, umso weniger wird er tatsächlich in der
Lage sein, die Durchführung des Einsatzes auch im Interesse der eingesetzten Soldaten wirksam zu kontrollieren.
({11})
- Herr Wiefelspütz, stellen Sie doch eine Zwischenfrage,
wenn Sie so viele intellektuelle Probleme haben!
({12})
Weder bei Verwendungen in integrierten Stäben noch
vor Einsatz in integrierten Verbänden wie der NATO Response Force oder der EU-Eingreiftruppe sollte es daher
meiner Ansicht nach eines konkreten Parlamentsbeschlusses bedürfen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ich bitte darum.
Ich weise Sie nur auf Folgendes hin: Damit ist Ihre
Redezeit vorbei. Sie müssen also in der Antwort sozusagen auch den Schluss Ihrer Rede finden.
({0})
Statt hier dauernd um das Thema herumzureden, sollten Sie einen Gesetzentwurf vorlegen. Wann legen Sie
endlich einen Gesetzentwurf vor, Herr von Klaeden?
({0})
Dass wir um das Thema herumreden, ist eine Unterstellung und völlig falsch. Ihr Beitrag zeigt aber, dass Sie
Schwierigkeiten hatten, meinen Ausführungen zu folgen.
({0})
Das erstaunt mich nicht. - Bleiben Sie bitte stehen, Herr
Wiefelspütz.
({1})
Wir werden bei der Beratung in den Ausschüssen die
Gelegenheit nutzen, unsere Vorstellungen einzubringen,
({2})
die ich in einem letzten Satz kurz beschreiben will. - Ich
meine, dass wir insbesondere beim Einsatz der Bundeswehr in integrierten Stäben, also NATO Response Force
und EU-Eingreiftruppe, ein Verfahren wählen könnten,
das dem Verfahren entspricht, das wir in Immunitätsangelegenheiten haben, nämlich am Anfang einer Legislaturperiode einen generellen Parlamentsbeschluss zu
fassen und dann das Parlament über eine Verstärkung der
Kontrollrechte, wozu ein allgemeines Rückholrecht gehören kann, mit einer effektiven Kontrollbefugnis auszustatten. Ich kann nicht erkennen, dass die bisherige
Parlamentspraxis tatsächlich so erfolgreich ist, wie Sie
behauptet haben. Ich will zum Beispiel an den Vorgang
erinnern - 8982
Nein, Herr Kollege von Klaeden.
Das ist der letzte Satz.
Nein, das war eben schon Ihr letzter Satz. Sie können
jetzt kein Beispiel mehr anführen. - Entschuldigung.
Danke.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried
Nachtwei.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor zwölf Jahren begannen die Auslandseinsätze der
Bundeswehr außerhalb der Landesverteidigung mit der
Aussendung von Sanitätssoldaten nach Kambodscha.
Seitdem gab es weit mehr als zehn Einsätze bewaffneter
Streitkräfte der Bundeswehr im Ausland. Sie umfassten
allerdings ein viel breiteres Einsatzspektrum, als wir es
damals geahnt oder zum Teil befürchtet haben. Man
kann auch feststellen: Zu 99 Prozent waren es Einsätze
zur Friedenssicherung.
Das Parlament der Bundesrepublik besitzt ein so weit
gehendes Mitspracherecht bei Auslandseinsätzen wie
kaum ein anderes Parlament.
({0})
Mit Entscheidungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr hatten es sich der Bundestag und alle in ihm vertretenen Fraktionen nie leicht gemacht. Vor allem für uns
von der Fraktion der Bündnisgrünen war der Entscheidungsprozess oft strittig, strapaziös und riskant. Gerade
deshalb sage ich hier ausdrücklich: Die Parlamentsbeteiligung aufgrund des Parlamentsvorbehalts in Deutschland bei Auslandseinsätzen hat sich bewährt.
({1})
Sie forderte Sorgfalt bei den Entscheidungen und sorgte
insgesamt im internationalen Vergleich für militärische
Zurückhaltung. Sie diente der Konsensbildung im Parlament und in der Gesellschaft bezüglich der entscheidenden Frage von Krieg oder Frieden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Klaeden?
({0})
Ja.
Herr Kollege Nachtwei, können Sie wirklich von einer bewährten Praxis des Parlamentsvorbehalts sprechen,
({0})
nachdem Mitglieder Ihrer Fraktion bezüglich der mit der
Vertrauensfrage verknüpften Entscheidung, ob die Bundeswehr in Afghanistan eingesetzt werden sollte, 2001
das Los geworfen haben?
({1})
Erstens ist das nicht so gewesen. Zweitens habe ich
gerade gesagt, dass es sehr strapaziöse und strittige Entscheidungsprozesse gab.
({0})
Fragen Sie einmal die Soldaten und Soldatinnen der
Bundeswehr selbst, was sie vom Parlamentsvorbehalt
halten! Sie sagen alle durch die Bank, dass er sich sehr
bewährt hat.
({1})
Die Praxis der Parlamentsbeteiligung und die veränderten internationalen Anforderungen an Auslandseinsätze machen aber ein Gesetz notwendig, in dem die
Parlamentsbeteiligung gewahrt, aber zugleich auch präzisiert wird und in dem die multilaterale Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik verbessert wird. Unser Gesetzentwurf regelt das Verfahren der parlamentarischen
Beteiligung bei Auslandseinsätzen, nicht die rechtlichen
Grundlagen und Aufgaben. Deshalb sei hier noch einmal
klargestellt: Selbstverständlich gilt die Vorgabe von
Grundgesetz und Völkerrecht, dass die Bundeswehr außerhalb der Landesverteidigung nur im Rahmen eines
Systems kollektiver Sicherheit zum Zwecke der Friedenssicherung eingesetzt werden darf und nicht anders.
Der Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ umfasst nicht nur so genannte Zwangseinsätze, sondern genauso friedenssichernde Einsätze, wo Soldaten eine bewaffnete Funktion ausüben. Darunter fallen laut Urteil
des Bundesverfassungsgerichts von 1994 allerdings
nicht humanitäre Hilfsleistungen. Darunter fallen unserer Auffassung nach auch nicht Vorbereitung und Planung von Einsätzen. Dies präjudiziert nichts, ist aber gemäß unserer Erfahrung unabdingbar für eine notwendige
schnelle Einsatzbereitschaft im Rahmen der UN.
Auch fällt die Mitarbeit in ständigen integrierten Stäben und Hauptquartieren nicht unter bewaffnete Einsätze. Würde man diese einbeziehen, hieße das, dass die
Mitarbeit in integrierten Stäben und Hauptquartieren unter Dauervorbehalt gestellt würde. Anders verhält es
sich, wenn Stäbe und Hauptquartiere unmittelbar für
Einsätze zusammengestellt werden. Dies unterliegt dem
Parlamentsvorbehalt.
Für Einsätze bewaffneter Streitkräfte gilt generell der
Parlamentsvorbehalt, wahrgenommen durch die Fachausschüsse und das Plenum des Bundestages. In der
Realität der militärischen Integration sind vermehrt einzelne Soldaten bei verbündeten Streitkräften eingesetzt,
vor allem in Stabsfunktionen. Bei UN-geführten Missionen gibt es einen wachsenden Bedarf an einzelnen Soldaten mit Spezialfunktion. Um diesem nachzukommen
und um den Bundestag nicht ständig überzubelasten, soll
es bei der Beteiligung einzelner Soldaten an Einsätzen
geringerer Intensität und Tragweite ein vereinfachtes
Verfahren geben. Aber - Kollege Erler hat es vorhin
ausgeführt - schon durch eine kleine Minderheit von
5 Prozent oder unsere Fraktion, gegebenenfalls irgendwelche anderen kleineren Fraktionen, könnte dann das
volle Verfahren in Gang gesetzt werden.
Entsprechend der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts kann die Bundesregierung bei Gefahr im Verzuge
sowie zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen, sofern durch die Befassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet
wäre, einen Auslandseinsatz anordnen. Sie muss gleichzeitig, wie es auch in der Vergangenheit in solchen Fällen
geschehen ist, unmittelbar in geeigneter Weise das Parlament bzw. die Ausschüsse unterrichten und die Entscheidung dem Bundestag nachträglich vorlegen. Hier ist ausdrücklich festzustellen: Dies ist selbstverständlich kein
Türöffner für so genannte humanitäre Interventionen.
Auch die Unterrichtungspflichten sind von erheblicher Bedeutung. Sie tauchen ausgeführt nur in den Begründungen auf. Aber wenn wir jetzt festlegen, dass Einsätze nach dem Abschluss evaluiert werden sollen - was
hat es gebracht, was hat es gekostet, was hat es möglicherweise nicht gebracht? -, so ist das ein vielleicht unauffälliger, aber sehr wichtiger Fortschritt. Das gilt auch
für das ausdrückliche Rückholrecht, das in diesen Gesetzentwurf aufgenommen worden ist.
Der Gesetzentwurf sieht keinen Entsendeausschuss
vor. Dieser würde unserer Auffassung nach die reale
Parlamentsbeteiligung erheblich einengen
({2})
und nach bisherigen Vorschlägen die Möglichkeit von
Geheimeinsätzen erweitern.
Die Teilnahme an integrierten Verbänden wie der
NATO Response Force wird nicht, wie es zum Beispiel
die Union will, von der Parlamentsbeteiligung ausgenommen. Ist das deshalb integrations- und bündnisfeindlich?
({3})
Die Herausnahme zum Beispiel der NATO Response
Force als Trägerin riskantester und härtester Einsätze aus
dem Parlamentsvorbehalt würde diesen im Kern treffen.
Zudem ist gerade bei der Forderung nach so genannter Schnellsteinsatzfähigkeit einige Nüchternheit angebracht. Eine Schnellsteinsatzfähigkeit ist notwendig bei
Gefahr im Verzuge, Geiselbefreiungen usw.; das ist unbestritten. Aber ansonsten, bei allen anderen Szenarien,
besteht immer ein gewisser zeitlicher Vorlauf für die politische Einigung auf UN-Ebene, auf NATO-Ebene, auf
EU-Ebene, in der Bundesregierung. Kollege Erler hat
darauf hingewiesen, wie vergleichsweise schnell das
Parlament immer war. Da wird, glaube ich, ein Popanz
eines Bedarfs an Schnellsteinsatzfähigkeit aufgebaut.
({4})
Es gibt aber auch entgegengesetzte Kritik, zum Beispiel heute in der „Berliner Zeitung“, wonach unser Gesetzentwurf ein Gesetz zur Einschränkung der Macht des
Parlaments sei. Das ist - ich muss es so deutlich sagen Unsinn.
({5})
Offenbar wurde weder der Gesetzestext gelesen noch ist
die bisherige Praxis von Auslandseinsätzen, von humanitären Hilfsleistungen bekannt.
Herr Kollege, darf ich auch Sie auf die Zeit hinweisen?
Ja, ich komme zum Schluss. - In Wirklichkeit bleibt
der Gesetzentwurf voll im Rahmen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, schöpft dieses parlamentsfreundlich aus und stärkt die multilaterale Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik im Rahmen des Systems der
Vereinten Nationen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute über zwei Entwürfe eines Gesetzes zur Beteiligung bzw. Mitwirkung des Deutschen
Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Es
handelt sich um ein gerade eingebrachtes Gesetz der Koalition und um ein Gesetz, das schon im Herbst letzten
Jahres von meiner Fraktion vorgelegt worden ist und das
auf Anträgen aufbaut, die wir in der letzten und zu Beginn dieser Legislaturperiode in den Deutschen Bundestag eingebracht haben.
Die große Aktivität der FDP-Bundestagsfraktion in
diesem Bereich basiert auf einer langen Tradition. Die
FDP hat immer besonders großen Wert darauf gelegt,
dass die rechtliche Grundlage für die Auslandseinsätze
der deutschen Bundeswehr klar und eindeutig war.
({0})
Wir waren es, die beispielsweise 1994 ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts, das sich gegen die eigene
Regierung richtete, herbeigeführt haben, das uns heute
sehr hilft, die zur Debatte stehenden Fragen zu entscheiden.
({1})
Wir gehen von diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus. Wir wollen Hüter der Grundsätze des
Bundesverfassungsgerichts sein. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich deutlich gemacht, dass es hier
um Fragen im Zusammenhang mit der Verfassung geht.
Gerade die Einsätze der Bundeswehr im Ausland müssen im Einklang mit der Verfassung sein und entsprechend begründet werden.
Das war übrigens der Grund, warum wir eine Klage
vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht haben,
als die Bundesregierung ohne Zustimmung des Bundestages den AWACS-Einsatz über der Türkei angeordnet
hat. Ich bin froh, dass beide Gesetzentwürfe, sowohl der
der Koalition als auch unser eigener, jetzt Klarheit schaffen. Nach diesen Gesetzen hätte der Bundestag dem Einsatz damals zustimmen müssen, weil es sich um einen
Einsatz im Rahmen des Verteidigungsfalles der NATO
gehandelt hat.
({2})
In beiden Gesetzentwürfen ist die Formlierung
enthalten - Sie haben nämlich unsere Formulierung
übernommen -, dass die Zustimmung des Bundestages
dann erforderlich ist, wenn die Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen zu erwarten ist.
({3})
Es gibt überhaupt keinen Fall, bei dem das so klar zu
erwarten ist wie bei dem Verteidigungsfall der NATO.
Jetzt besteht Klarheit in dieser Frage.
({4})
Ich bin ganz sicher, dass auch das Bundesverfassungsgericht entsprechend entscheiden wird.
({5})
Ich bin im Übrigen froh, dass die bisherige Debatte
gezeigt hat - allerdings bin ich etwas unsicher geworden, als ich den Redebeitrag des Kollegen von Klaeden
gehört habe -,
({6})
dass es im Bundestag eine breite Übereinstimmung gibt,
nicht nur an der Mitwirkung des Bundestages festzuhalten, sondern da, wo es möglich ist, die Beteiligung sogar
zu erweitern. Die FDP will es jedenfalls.
({7})
Herr Kollege von Klaeden, ich muss Ihnen ganz deutlich
sagen, dass wir Ihrem Vorschlag, am Anfang einer Legislaturperiode eine Entscheidung für vier Jahre zu treffen - etwas Ähnliches gibt es bei den Immunitätsangelegenheiten -,
({8})
nicht folgen werden.
({9})
Ich will Ihnen auch sagen, warum wir das nicht tun werden. Es hat sich nämlich bei den Debatten im Bundestag
über die verschiedenen Auslandseinsätze gezeigt, wie
gut und richtig es war, dass wir sorgfältig diskutiert haben. Es ist immer wieder zu Klarstellungen und zu Protokollerklärungen der Bundesregierung gekommen, die
den Interessen der Soldaten gedient haben;
({10})
denn die Soldaten wurden keinen Gefahren ausgesetzt,
die wir im Zuge der sorgfältigen Diskussion erkannt haben.
Aber es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied zu
dem Entwurf der Koalition, auf dem wir bestehen. Ich
habe vorhin deutlich gemacht: Wir haben auf der Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von
1994 unseren Gesetzentwurf formuliert. Das Bundesverfassungsgericht hat klar und eindeutig gesagt, dass ausschließlich da, wo Gefahr im Verzuge ist, der Bundestag vorher nicht beteiligt werden muss. Sie haben sich
vor der Antwort auf die Frage gedrückt, was geschieht,
wenn beispielsweise eine Geiselbefreiung von langer
Hand vorbereitet werden kann.
({11})
In diesem Fall ist keine Gefahr im Verzuge. Dann kann
der Bundestag vorher einbezogen werden.
Sie haben nach einer Formulierung gesucht, um die
Einbeziehung des Bundestages zu umgehen. Aber Ihre
Formulierung trägt überhaupt nicht. Ich finde sogar, sie
ist brandgefährlich. Denn demnach gilt: Wenn Personen
aus einer Gefahr zu retten sind und wenn eine Gefährdung des Lebens zu besorgen ist
({12})
- und eine Gefährdung des Lebens zu besorgen ist, Herr
Kollege -, dann muss der Bundestag vorher nicht beteiligt werden.
({13})
Das gilt beispielsweise dann, wenn ein Völkermord vorliegt. Es handelt sich um eine Generalklausel, die wir
nicht akzeptieren werden.
({14})
Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Formulierung auch deshalb für brandgefährlich halte, weil
sie ausschließlich auf die Gefährdung des Lebens der zu
rettenden Personen abstellt. Für uns als FDP ist es wichtig, auch das Leben der Soldaten, die in einen Rettungseinsatz gehen, zu berücksichtigen.
({15})
Deswegen brauchen Sie eine solche Kommission. Sie
kommen daran nicht vorbei.
Ich will an Einsatzszenarien erinnern, über die wir
schon diskutiert haben, nämlich beispielsweise an die
geheimen Einsätze des Kommandos Spezialkräfte. Auch
hier ist Ihre Formulierung überhaupt nicht hilfreich. Sie
kommen deshalb um den speziellen Ausschuss, den wir
vorsehen, nicht herum.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Nein, nicht vom Kollegen Ströbele.
({0})
Ich darf einen zweiten Gesichtspunkt ansprechen, der
uns außerordentlich wichtig ist. Wir wollen die Zahl der
Fälle, in denen die Regierung allein entscheidet, auf
ganz wenige reduzieren. Wenn man einen besonderen
bzw. einen kleinen Ausschuss einrichtet, der in ähnlicher Form organisiert ist wie beispielsweise die Gremien, die die Geheimdienste kontrollieren, dann ist es
möglich, schneller zusammenzukommen, als das beim
Gesamtparlament der Fall ist. Wir möchten unseren besonderen Ausschuss auch dann einschalten, wenn Gefahr im Verzuge ist, wenn schnell entschieden werden
muss. Denn jetzt haben wir folgende Situation: In einem
Fall wird etwa der verteidigungspolitische Sprecher angerufen und in einem anderen Fall ein Parlamentarischer
Geschäftsführer oder ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Sie alle sind nicht legitimiert, für die jeweiligen Fraktionen und deren Positionen zu sprechen. Wenn
wir einen solchen Ausschuss eingerichtet haben, haben
wir Klarheit, wer jeweils in den verschiedenen Fraktionen bei solchen Schnellentscheidungen gefragt werden
kann. Von daher ist ein solcher Ausschuss eine Stärkung
der Mitwirkung des Parlaments.
({1})
Ich wiederhole: Genau das ist unser Ziel.
Ich freue mich auf die Debatte. Kollege Erler hat gesagt, sie sei bisher sachlich gewesen. Auch ich fand das.
Sie war auch spannend. Ich glaube, wir alle haben viel
gelernt. Deshalb hoffe ich, dass wir zum Schluss einen
Gesetzentwurf haben werden, mit dem wir alle leben
können und der vor allem ein Ziel erreicht: dass wir auf
der einen Seite weiter im Bundestag mitwirken und dass
auf der anderen Seite in der Zukunft die Fragen gelöst
werden, die die heutige Debatte aufgezeigt hat.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter
Bartels.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit mehr als einem Jahrzehnt sind Soldaten der
Bundeswehr an größeren internationalen Einsätzen beteiligt. Nach Ende des Kalten Krieges war dies eine
gänzlich neue Situation für die Bundeswehr und ihre
Soldaten und auch für die Politik.
Anfangs waren die rechtlichen Grundlagen einigermaßen unklar. Erst die wegweisende Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli
1994 sorgte für Rechtssicherheit. Danach ist der Einsatz
unserer Streitkräfte im Ausland - damals hieß er „out of
area“ - im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit
mit unserem Grundgesetz vereinbar. Gleichzeitig machten die Verfassungsrichter aber deutlich, dass die Bundesregierung grundsätzlich immer die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen hat,
bevor deutsche Soldaten an bewaffneten Einsätzen im
Ausland teilnehmen. In den Leitsätzen des Urteils heißt
es:
Es ist Sache des Gesetzgebers, jenseits der im Urteil dargelegten Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Form und das Ausmaß der
parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten.
Mit dem vorliegenden Entwurf eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes machen wir von dieser Möglichkeit
Gebrauch. Dass dies nicht schon längst geschehen ist, ist
nicht unbedingt ein Versäumnis der Politik. Das Gericht
hat es in diesem Fall im Unterschied zu vielen anderen
Entscheidungen weitgehend dem Parlament selbst überlassen, das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung
zu regeln. Es hat dies weder dringlich angemahnt noch
eine Frist gesetzt.
Ich will hier ausdrücklich festhalten: In den Jahren
seit Verkündung der Karlsruher Entscheidung hat sich
eine Praxis der parlamentarischen Mitbestimmung bei
Auslandseinsätzen herausgebildet, die gut ist. Das
Verfahren hat sich bewährt. Die Bundeswehr ist ein wahres Parlamentsheer. Wir wollen, dass das so bleibt.
({0})
Mehr als 30-mal haben wir hier im Bundestag über
Auslandseinsätze abgestimmt. - Ich glaube nicht, dass es
50 Entscheidungen waren, wie irrtümlich auf dem Deckblatt des Gesetzentwurfes steht. - 8 000 unserer Soldaten
sind derzeit außerhalb des NATO-Gebiets stationiert: auf
dem Balkan, am Horn von Afrika und in Afghanistan.
Seit 1991 waren 170 000 Bundeswehrangehörige, Soldaten, Zivilbedienstete und Reservisten, im besonderen
Auslandseinsatz. Hierbei geht es also nicht um irgendeine Nebentätigkeit, sondern durchaus um die
Hauptbeschäftigung unserer Bundeswehr.
Für jede Mission gibt es einen Bundestagsbeschluss.
In jedem Einzelfall wurde der Antrag der Regierung sehr
gewissenhaft - für manchen Kollegen war es manchmal
wirklich eine Gewissensprüfung - im Parlament beraten
und entschieden. Dabei ist die parlamentarische Zustimmung weit mehr als eine Formalie. Wir erfüllen nicht
bloß eine verfassungsrechtliche Vorgabe. Vielmehr gibt
der Parlamentsvorbehalt den eingesetzten Soldaten die
Gewissheit, dass zu Hause eine parlamentarische Mehrheit hinter ihnen steht, eine Mehrheit, die in den meisten
Fällen weit größer war als die der jeweiligen Regierungskoalition.
Die Behandlung der Anträge der Bundesregierung
nach dem üblichen parlamentarischen Verfahren - das
heißt, mit erster Lesung, Ausschussberatung, zweiter
und dritter Lesung und dann Beschlussfassung - hat verhindert, dass jemals der Eindruck entstehen konnte, die
Exekutive verfolge unredliche oder parteipolitische
Ziele mit der Beteiligung der Bundeswehr an multinationalen Einsätzen. Die Transparenz unseres parlamentarischen Verfahrens ist vorbildlich. Das ist uns in Deutschland aus guten Gründen wichtiger als anderen Nationen,
die einen solchen Parlamentsvorbehalt nicht kennen. Immerhin geht es um den Einsatz militärischer Gewaltmittel von Deutschland aus, im Extremfall um Krieg. Damit
müssen, nein, damit dürfen wir es uns nicht leicht machen.
Wenn wir nun eine gesetzliche Regelung anstreben,
geht es zuallererst darum, das bisherige Verfahren rechtlich zu formalisieren. Die Rechte des Parlaments werden, wie es in der Begründung des Gesetzes nachzulesen
ist, weder ausgeweitet noch eingeschränkt. Unser Anliegen ist es vielmehr, Bewährtes auf eine sichere rechtliche Grundlage zu stellen und dort, wo die Praxis gezeigt
hat, dass Modifikationen des Verfahrens sinnvoll sind,
diese vorzunehmen. Alle Erfahrungen, die wir in den
vergangenen Jahren gesammelt haben, konnten in unseren Gesetzentwurf einfließen. Insofern ist es ein Vorteil,
dass wir nicht gleich nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts eine gesetzliche Regelung angestrebt haben. Wir präzisieren nun, was unter einem Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des Gesetzes zu
verstehen ist. Das ist eine notwendige Klarstellung, die
mehr Rechtssicherheit schafft. Kollege Erler hat es angesprochen: Rein humanitäre Hilfeleistungen werden auch
künftig nicht der Zustimmung des Bundestages bedürfen.
Unser Parlamentsbeteiligungsgesetz ändert nichts daran, dass vorbereitende Maßnahmen und Planungen weiterhin in den Verantwortungsbereich der Exekutive fallen. Es ist und bleibt Aufgabe der Regierung, sich auf
denkbare Entwicklungen planerisch einzustellen. Die
Verantwortung des Parlaments kann erst beginnen, wenn
es um den konkreten Einsatz deutscher Soldaten geht.
Kein Einsatz ist - das hat in der Vergangenheit bisweilen für Unsicherheit gesorgt - die Arbeit von Bundeswehrangehörigen in ständig integrierten sowie multinational besetzten Stäben und Hauptquartieren der
NATO und anderen Organisationen kollektiver Sicherheit. Jede andere Regelung würde unsere Bündnisfähigkeit infrage stellen. Anders verhält es sich beim Einsatz
unserer Soldaten in multinationalen Stäben und Hauptquartieren, die speziell für einen konkreten Auslandseinsatz gebildet werden. Diesen Unterschied zu machen
halten wir für notwendig.
In unserem Gesetz schreiben wir die bewährte Praxis
fest, dass der Antrag der Bundesregierung, mit deutschen Soldaten an einer internationalen Operation teilzunehmen, vom Parlament nicht geändert oder ergänzt
werden kann. Dies entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, Kollege von Klaeden, das in
seinem Beschluss von 1994 gesagt hat: Die Festlegung
von Modalitäten, Umfang und Dauer des Einsatzes ist
Teil der exekutiven Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit in außenpolitischen Fragen.
({1})
Wir werden im Bundestag nicht Generalstab spielen
und wir können es auch nicht. Wir legen nur fest, welche
Angaben der Antrag enthalten muss: Einsatzauftrag und
-gebiet, rechtliche Grundlagen, Höchstzahl und Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte, die Dauer des
Einsatzes, die voraussichtlichen Kosten und deren Etatisierung. Das sollte nicht kontrovers sein; denn es entspricht bisheriger Übung.
Wir beschließen als Bundestag - auch wenn das Parlamentsbeteiligungsgesetz in Kraft ist - im Kern über die
grundsätzliche Frage der Teilnahme an Einsätzen im
Ausland. Die konkrete Ausgestaltung des Bundeswehrengagements bleibt Sache der Bundesregierung und Sache der militärischen Fachleute. Da mischt der Bundestag nicht mit. Es ist Quatsch, wenn Kollege von Klaeden
- dies hat er auch in der letzten Bundestagsdebatte zur
Bundeswehrreform getan - befürchtet, wir wollten eine
Gewaltenvermischung in Gesetzesform festschreiben.
Wo denn? Wie denn?
({2})
Eine wichtige Neuerung nehmen wir aber vor, wenn
es um die Entscheidung über so genannte Einsätze von
geringerer Intensität und Tragweite geht. Die parlamentarische Praxis bzw. vielmehr die Nichtpraxis hat gezeigt, dass es sinnvoll ist, für die Entsendung einzelner
oder weniger Soldaten ein vereinfachtes Zustimmungsverfahren zu schaffen. Dies gilt zum Beispiel für
die Unterstützung von UN-Beobachtermissionen und für
Erkundungskommandos.
Bislang hat die Bundesregierung aber auf entsprechende internationale Anfragen auch deshalb in manchen Fällen zurückhaltend reagiert, weil ohne eine gesetzliche Regelung schon die Entsendung einiger
weniger Bundeswehrangehöriger einer formalen Zustimmung des Bundestages bedurft hätte - ein relativ großer
Aufwand für Einsätze, die vermutlich ohnehin auf die
Zustimmung aller Fraktionen treffen.
Das vereinfachte Verfahren eröffnet der Regierung
bei Anfragen der UN, der OSZE oder anderer Organisationen neue Handlungsmöglichkeiten, ohne dass das
Parlament seine Rechte aufgeben muss.
Mit der vereinfachten Zustimmungsregelung erleichtern wir auch die konkrete Vorbereitung geplanter
Einsätze erheblich. Bisher war es nicht möglich, Soldaten zum Beispiel zur Sondierung der Lage in ein mögliches Einsatzgebiet zu schicken. Das hatte schon praktische Nachteile, zum Beispiel bei der Auswahl von
Liegenschaften im Einsatzgebiet. Wir erinnern uns an
die Mission in Kabul, wo ein Erkundungskommando
schon hilfreich gewesen wäre, sodass man früher im
Einsatzgebiet hätte sein können, nachdem der Einsatzbeschluss gefallen war.
({3})
Der bewährte Parlamentsvorbehalt erhält nun eine
vernünftige, sehr schlanke, anderthalb Paragraphenseiten starke gesetzliche Grundlage. Wir bleiben bewusst
bei dem Verfahren, das auch bei der Behandlung von anderen Anträgen und Gesetzentwürfen Anwendung findet.
Ein Hauptargument jener, die eine Abkehr von diesem Vorgehen fordern - sei es durch Vorratsbeschlüsse,
sei es durch neue Gremien -, ist, dass die Entscheidungsfindung des Bundestages zu lange dauere. Mit
Blick auf mögliche Einsätze etwa der NATO-ResponseForce wird eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit
Deutschlands im Bündnis befürchtet. Sind wir wirklich
zu langsam? Trödelt die Volksvertretung?
({4})
Was sagt die Statistik? Wenn es darauf ankommt, kann
der Bundestag sehr schnell entscheiden. In acht Fällen
erfolgte der Beschluss des Parlaments noch am Tag des
Kabinettsbeschlusses selbst oder am darauf folgenden
Tag. In zwei Dritteln der Fälle wurde die Bundestagszustimmung innerhalb von vier Tagen erteilt. Wenn dafür
in Einzelfällen Sondersitzungen nötig waren, ist dies
auch Ausdruck der Verantwortung, die wir als Parlamentarier für die Bundeswehr übernehmen.
Gerade weil wir die Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze schicken, ist es notwendig, dass die
Entscheidung über eine deutsche Beteiligung in jedem
Einzelfall vom Bundestag gefasst wird. Es geht vielleicht zackiger; aber schneller als sofort geht es nun
wirklich nicht.
({5})
Keiner der Einsätze ist daran gescheitert, dass der Bundestag nicht in der Lage gewesen wäre, eine Entscheidung zu treffen.
({6})
Inzwischen haben wir eine gewisse Erfahrung im
Umgang mit Entsendeanträgen der Bundesregierung
gewonnen. Routine sollten diese Entscheidungen
aber nicht werden. Denn die Frage, ob wir Bundeswehrkontingente für eine internationale Friedensmission
bereitstellen, kann für die betroffenen Soldatinnen und
Soldaten existenzielle Auswirkungen haben. Die Verantwortung, die wir tragen, können wir nicht auf Sondergremien delegieren und auch nicht auf Vorrat beschließen.
({7})
Unserer parlamentarischen Verantwortung tragen wir
auch dadurch Rechnung, dass wir dem Bundestag ein
gesetzlich abgesichertes Rückholrecht geben - auch
wenn die Rückholung deutscher Soldaten gegen den
Willen der Regierung in der Realität wohl die große
Ausnahme bleiben wird.
Ich bedauere, dass unsere Gespräche mit den Oppositionsfraktionen nicht zur Vorlage eines gemeinsamen
Gesetzentwurfes geführt haben. In dieser für die Bundeswehr, aber auch für unser parlamentarisches Selbstverständnis so wichtigen Frage wäre ein interfraktionelles Vorgehen wünschenswert gewesen.
Unsere Positionen liegen auch gar nicht so weit auseinander. Über den Regelungsbedarf besteht in diesem
Hause weitgehende Einigkeit. Nicht strittig ist in jedem
Fall das Prinzip, dass wir für die Zustimmung zur Entsendung von Erkundungskommandos oder für die Verlängerung unveränderter Einsätze ein einfacheres Verfahren finden sollten. Auch beim Rückholrecht vermag
ich grundsätzliche Differenzen nicht zu erkennen.
({8})
Vielleicht finden wir nun in den anstehenden Ausschussberatungen im Interesse der Sache noch zueinander. Dabei ist möglicherweise hilfreich, dass die Union gar nicht
erst einen eigenen Antrag vorgelegt hat.
({9})
- Aber insofern ist es nicht hinderlich.
Außerdem wird unser Gesetzentwurf, wie ich finde,
durchaus dem Anspruch gerecht, den die Union vor einem Jahr in einem sicherheitspolitischen Positionspapier
formuliert hat. Damals schrieben Sie, Kollege Schmidt:
Fähigkeit zur raschen Reaktion setzt klare, transparente und effiziente politische Entscheidungswege
voraus. Hierzu muss ein Parlamentsbeteiligungsgesetz für Auslandseinsätze der Bundeswehr so rasch
wie möglich verabschiedet werden, um zum Beispiel deutsche Anteile an der NATO- bzw. EU-Eingreiftruppe in einen Einsatz schicken zu können.
Hierzu sind Lösungen zu entwickeln, die die politische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung im
Rahmen der NATO und EU sicherstellen, gleichzeitig aber auch die Rechte des Parlaments wahren.
({10})
Genau dies beschreibt, was wir mit unserem Gesetzentwurf erreichen. Man könnte meinen, Sie kannten unseren Entwurf damals schon. Machen Sie mit!
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mir scheint es aufgrund des bisherigen Verlaufes der Debatte wichtig - denn ich habe den Eindruck, dass hier
Missverständnisse entstanden sind -, drei Dinge festzuhalten.
Erstens. Ich möchte mich bei allen Fraktionen des
Hauses für die wirklich vortrefflichen und sachlich geführten Gespräche bedanken. Ich bedanke mich recht
herzlich bei den Kollegen der Regierungskoalition,
Herrn Erler und Herrn Nachtwei. Denn unsere Gespräche haben in einer Atmosphäre stattgefunden, die - bei
Ihnen wie bei uns - im Verlauf der Debatte in Einzelfragen zu Veränderungen unserer Positionen beigetragen
hat.
Zweitens. Weil Sie Herrn von Klaeden bewusst falsch
verstehen wollen, lege ich Wert auf folgende Feststellung: Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Die
Durchführung der Einsätze, über die wir hier reden, liegt
allerdings in exekutiver Verantwortung.
({0})
Drittens. Über das vom Verfassungsgericht festgestellte Erfordernis der konstitutiven Zustimmung des
Deutschen Bundestages will kein einziger Vertreter dieses Hauses - zumindest ist mir niemand bekannt - an irgendeiner Stelle streitig diskutieren.
({1})
Wir sind der Auffassung, dass die Entscheidung über das
Wie in der Verantwortung der Regierung und die über
das Ob, also die eigentliche Entscheidung, beim Parlament liegen sollte. Daran will niemand rütteln.
Jetzt möchte ich allerdings auf einige wichtige Punkte
aufmerksam machen, weil dort - sonst wären wir ja auch
zu einem gemeinsamen Entwurf gekommen - Unterschiede bestehen. Ich will jetzt nicht, was ich tun könnte,
den Bundesverteidigungsminister zitieren; denn er ist
nicht anwesend. Aber er selbst hat nach einer bestimmten Tagung sehr dafür plädiert, einen - ich nenne ihn einmal so - Entsendeausschuss einzurichten, weil er erkannt hat, dass es Situationen geben kann, die, ohne dass
man am Parlamentsvorbehalt rütteln will, sehr wohl eine
Ausschussentscheidung notwendig erscheinen lassen.
({2})
Damit komme ich zum FDP-Entwurf. Im FDP-Entwurf ist - wie ich finde: richtigerweise - die Bildung
eines Ausschusses für besondere Auslandseinsätze vorgesehen, der in bestimmten Fällen anstelle des Bundestages entscheiden können soll.
({3})
- Ja, dazu komme ich noch. Nach der Konzeption Ihres
Gesetzentwurfs kann er aber im Grunde - das will ich
aus der Sicht unserer Fraktion offen sagen und das werde
ich auch entwickeln - über alle Einsätze entscheiden.
In § 6 Abs. 1 des FDP-Entwurfes werden die Zustimmungsermächtigungen obligatorisch für drei Fallkonstellationen bestimmt, die man sich einmal genau
ansehen muss. Das gilt für Verschlusssachen ab dem Geheimhaltungsgrad „geheim“, bei Gefahr im Verzug und
beim Einsatz einzelner Soldaten im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit. In Abs. 2 ist laut Begründung fakultativ vorgesehen, dass der Bundestag dem
Ausschuss für besondere Auslandseinsätze in geeigneten
Fällen einen Antrag der Bundesregierung überweisen
und diesen mit einer Ermächtigung zur abschließenden
Entscheidung verbinden kann.
({4})
Hier haben wir verfassungsrechtliche Bedenken. Es
gibt im Deutschen Bundestag - wenn wir die Sonderproblematik des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität
und Geschäftsordnung außen vor lassen - nur einen einzigen Ausschuss, der Entscheidungskompetenz hat: den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union. Dieser wiederum hat seine verfassungsrechtliche
Grundlage in Art. 45 des Grundgesetzes, der ihm diese
Kompetenz ausdrücklich zuweist.
({5})
- Der ist sowieso ein Ausschuss sui generis, um es sehr
deutlich zu sagen, weil er ja kein reiner Bundestagsausschuss ist, sondern ein Ausschuss, in dem auch Vertreter
der einzelnen Bundesländer sitzen. Von daher kann der
Ausschuss für die Wahl der obersten Bundesrichter
({6})
nun überhaupt nicht für irgendeinen Vergleich herangezogen werden, Herr Wiefelspütz.
Wir haben Bedenken gegen den Ausschuss in der
FDP-Variante, weil die Zustimmungsermächtigungen
nach unserer Auffassung zu weit gehen und mit der Verfassung nicht vereinbar sind. Eine solche Ermächtigung
sieht unsere Verfassung nicht vor.
Ich will auf den Koalitionsentwurf eingehen. Ein sehr
wesentlicher Einwand von unserer Seite betrifft die integrierten Verbände, etwa die NATO-Response-Force.
Gelten ihre Einsätze per Gesetz als parlamentarisch genehmigt oder hat der Bundestag im konkreten Fall noch
ein Wörtchen mitzureden? - Das hat er sehr wohl - darin
liegen wir gar nicht sehr weit auseinander -, denn es
handelt sich um einen klassischen Out-of-Area-Einsatz.
Nicht jeder Einsatz - auch darin stimmen wir sicherlich
überein - wird innerhalb von fünf Tagen geplant und
vorbereitet, sodass gegebenenfalls keine Zeit bliebe, die
parlamentarischen Gremien einzubeziehen.
Was ist eigentlich, wenn die Bundesregierung wegen
der Eilbedürftigkeit - darauf läuft Ihre Konstruktion
hinaus - Soldaten entsendet, der Bundestag später aber
anderer Auffassung ist?
({7})
Die Blamage für die Bundesregierung, Herr
Wiefelspütz, wäre das eine - das würde mich bei der jetzigen Bundesregierung übrigens nicht sonderlich
stören -, das andere wäre aber, dass Zweifel bei unseren
Partnerstaaten an der Bündnisfähigkeit Deutschlands
ausgelöst werden könnten. Deshalb plädieren wir und
plädiere ich für eine generelle, abstrakte gesetzliche
Zustimmungsvermutung, wenn der Einsatz der Soldaten völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands entspricht.
({8})
Das heißt nicht, dass der Bundestag außen vor wäre:
Diese völkerrechtliche Verpflichtung muss er selbstverständlich ratifizieren. In diesem Zusammenhang muss
selbstverständlich auch über die Ausgestaltung eines
entsprechenden Rückholrechtes nachgedacht werden.
Nicht jeder Einsatz, Herr Wiefelspütz, lässt sich unter
die Rubrik „Gefahr im Verzug“ einordnen. So etwas
kann natürlich vorkommen, aber wenn zum Beispiel
Geiseln in der Sahara befreit werden müssen, erfordern
die dafür nötigen logistischen Aufwendungen doch
schon einige Zeit, wodurch genügend Möglichkeiten für
eine parlamentarische Beteiligung bleiben. Der Tatbestand „Gefahr im Verzug“ tritt nach unserer Auffassung
auch nicht erst mit dem Eintreffen deutscher Truppenkontingente am Gefahrenort ein - warum werden sie
schließlich dorthin verlegt? -, wenn sie dort auf einen
günstigen Augenblick zum Zuschlagen warten. Allein an
diesem Beispiel zeigt sich, dass dem Bundestag eben
doch Einflussmöglichkeiten verbleiben, die er nach Ihrem Entwurf so nicht mehr hätte. Von daher, Herr Erler,
stimme ich Ihnen zu, dass Sie zwar im Wesentlichen die
seit 1994 geübte Praxis festschreiben. Aber in diesem
Punkt verwehren Sie dem Deutschen Bundestag Einflussmöglichkeiten, die er bisher hatte und die durch das
von Ihnen vorgeschlagene Verfahren - ich will mich einmal so ausdrücken - auf ein absolutes Minimum reduziert werden.
Ich könnte weitere Kritikpunkte nennen. Ich würde
mich aber freuen, wenn wir im Rahmen der jetzt auf uns
zukommenden Ausschussberatungen und Anhörungen
weiter den Versuch unternehmen könnten, am Schluss
im Parlament nach Möglichkeit einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu verabschieden. Wir haben unter anderem
auch deshalb keinen eigenen Entwurf eingebracht, weil
wir sehr wohl wissen, dass der Unterschied zwischen Ihnen von der SPD und uns von der CDU/CSU gar nicht
so groß ist. Ein Unterschied besteht dagegen zwischen
Ihrer Auffassung und der Ihres grünen Koalitionspartners.
({9})
Um diesen Unterschied nicht noch größer zu machen
- Herr Ströbele ist ja sozusagen der vorderste Vertreter
dieses Unterschiedes ({10})
und uns Möglichkeiten zu bieten, einen gemeinsamen
Gesetzentwurf zu verabschieden, haben wir darauf verzichtet, durch einen eigenen Gesetzentwurf die Diskussion in der Koalition anzuheizen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Stellen Sie sich vor, die Bundeswehr zieht in den
Krieg und niemand bekommt das mit. Das ist das Ziel
des vorliegenden Gesetzentwurfes der SPD und der Grünen.
({0})
Das Agieren der Bundeswehr soll geräuschärmer und
ohne großes Aufsehen erfolgen. Um das Gesetz harmlos
erscheinen zu lassen, haben die Regierungsfraktionen
Bundeswehreinsätze von geringer Intensität erfunden.
({1})
Dazu sollen Erkundungskommandos und Einsätze von
einzelnen Soldaten im Rahmen der UNO, der NATO und
der EU zählen.
Nun hat Herr Ströbele noch vor einem Jahr richtig erkannt, dass zwei deutsche Generäle, die im Kriegseinsatz wichtige Führungsfunktionen übernehmen, eine
größere Wirkung erzielen können als 100 Soldaten.
({2})
Das ist nachzulesen in der „Berliner Zeitung“ vom April
des vergangenen Jahres. Es ist also völlig abwegig, einen
Einsatz von geringer Intensität an der Zahl der Soldaten
festzumachen. Der grundlegende methodische Fehler ist,
dass die Bedeutung eines Einsatzes vom zahlenmäßigen
Umfang abhängig gemacht wird.
({3})
Dieser Fehler scheint aber politisch gewollt. Sie wollen Bundeswehreinsätze mit geringer Intensität und
die Verlängerung von Bundeswehreinsätzen durch ein
vereinfachtes Zustimmungsverfahren im Stillen abwickeln. Das Prinzip des Verfahrens ist einfach: Wer
schweigt, stimmt zu. Sie wollen, dass die Zustimmung
erteilt ist, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach
der Verteilung der Drucksache von einer Fraktion oder
von 5 Prozent der Abgeordneten eine Befassung im
Bundestag verlangt wird. Auf diese Weise haben Sie uns
als PDS ausgegrenzt. Aber das sei nur nebenbei bemerkt.
({4})
Schon jetzt wissen viele Abgeordnete kaum noch, worüber sie eigentlich abstimmen. Ihr Verfahren wird dazu
beitragen, dass ein großer Teil der Abgeordneten gar
nicht mehr weiß, wo die Bundeswehr weltweit in Aktion
ist.
({5})
Hinzu kommt, dass in den Berichten der Bundeswehr
geheimhaltungsbedürftige Tatsachen nicht enthalten sind
und nur noch einzelne Abgeordnete über geheime Tatsachen informiert werden. Das heißt, es gibt dann Abgeordnete erster und zweiter Klasse, und das auch noch gesetzlich festgeschrieben.
({6})
- Ich habe gerade nicht von den Drucksachen gesprochen, verehrte Kollegen von den Grünen, sondern über
die Berichte. Das ist im Gesetz so ausgeführt.
Schon jetzt ist es so, dass die Verlängerung von Bundeswehreinsätzen im Plenum zu einer reinen Routine
verkommen ist. Es wird gar nicht mehr nachgefragt, ob
die Mission erfüllt wurde und ob eine Verlängerung zur
Lösung des eigentlichen Problems beitragen könnte.
({7})
Der Einsatz wird einfach verlängert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen
schon jetzt versprechen, dass die PDS-Fraktion 2006 im
Bundestag jeden Antrag auf Einsatz der Bundeswehr aus
dem vereinfachten Zustimmungsverfahren herausholen
und auf die Tagesordnung setzen wird. Egal, wer dann
regiert und die Bundeswehr in Einsätze geringer Intensität schicken will, Sie werden mit unseren Fragen und
Anträgen von hoher Intensität zu rechnen haben.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian
Schmidt.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwei Bemerkungen vorab: Erstens. Zum einen hat erfreulicherweise das
Parlament vom Anfang bis zum Ende die Hoheit bei diesem Verfahren, wobei ich als Anfang den 12. Juli 1994
nennen möchte.
Zweitens. Ich glaube, dass für uns die Notwendigkeit
besteht, den Einfluss, den wir von der Verfassung her
haben, so auszuüben, dass er sowohl hinsichtlich der Beteiligung des Parlaments als auch hinsichtlich der internationalen Verpflichtungen unseres Landes optimal ausgestaltet ist.
Bei einem solchen neuen Parlamentsbeteiligungsgesetz, für das wir unterschiedliche Ansätzen haben, muss
als zentraler Punkt berücksichtigt werden - das will ich
unterstreichen -, dass das Parlament, das seine Entscheidungen ja an vielen Faktoren orientieren muss, klug zwischen dem konstitutiven Parlamentsrecht einerseits und
den außen- und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten,
der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit unseres Landes
andererseits abwägen muss. Dabei muss - das sagt das
Verfassungsgericht in seiner einstweiligen Anordnung
in dem Verfahren, das Ihre Fraktion im letzten Jahr hinsichtlich des AWACS-Einsatzes angestrengt hat; Herr
Kollege van Essen, Sie haben das angesprochen - die
ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der
Bundesregierung mit Blick auf die außen- und sicherheitspolitische Verlässlichkeit Deutschlands bei der Abwägung ein besonderes Gewicht haben. Das ist auch im
gesamtstaatlichen Interesse.
Christian Schmidt ({0})
Ich will uns das deswegen noch einmal in Erinnerung
rufen, weil wir uns in einer Situation befinden, in der die
Gewaltenteilung zwar nicht von den Fakten, aber von
der Wirkung her ein Stück weit verwässert wird. Wenn
ich die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe richtig gelesen habe - davon gehe ich einmal aus -, nehmen wir
nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts bei diesen
Fragen nach wie vor quasi eine Ratifizierungsfunktion
wahr. Das heißt: Die Bundesregierung legt einen Antrag
vor und wir entscheiden mit Ja oder Nein darüber; er
wird also nicht verändert.
Faktisch gibt es das Hilfsinstrument der Protokollnotizen. Dieses wird aktuell, wenn die Grünen ihrem eigenen Minister wieder sehr viel Ärger und sehr viele
Schwierigkeiten machen.
({1})
- Diese ist auch dann nötig, wenn wir aus klugen Erwägungen heraus der Meinung sind, wir sollten eine solche
haben.
({2})
Ich will einfach noch einmal festhalten: Es muss dabei bleiben, dass die Entscheidung über und die Verantwortung für den Einsatz bei der Bundesregierung liegt.
Das hat nichts damit zu tun, dass man sich vor der Entscheidung drücken will. Diese Entscheidung müssen und
sollen natürlich alle, die in der entsprechenden Situation
Ja gesagt haben, gegenüber den Soldaten und unseren
Mitbürgern politisch mittragen. Wir müssen aber ganz
klar machen, dass wir in unserer Funktion als Parlamentarier überfordert sind, Einsatzentscheidungen in der
Form zu treffen, als säße hier eine Art Generalstab zusammen. Dieser Eindruck wird ja von manchen auch in
diesem Parlament vermittelt.
Ich erinnere an ein ganz anderes Thema, das wir in
diesem Hause vor nicht langer Zeit behandelt haben. Es
ging um das NPD-Verbot. Ein aus gutem Grunde der Öffentlichkeit prinzipiell zugewandtes Gremium und Organ wie das Parlament, das vom Sprechen und Zuhören
lebt, ist dem Erfordernis der Geheimhaltungsbedürftigkeit nur sehr schwer zugänglich. Ich habe mich geweigert, in die Geheimhaltungsstelle zu gehen und alle
NPD-Unterlagen, die ohnehin falsch waren, nachzulesen, um dann vom Verfassungsgericht den ganzen Vorgang kassiert zu bekommen.
({3})
- Man hört, dass das eine oder andere nicht ganz richtig
gewesen ist.
({4})
Das heißt: Bei wichtigen Fällen, in denen es zu Überschneidungen kommt, muss die Situation geklärt werden. Deswegen ist der Ansatz, einen Ausschuss für diese
begrenzte Anzahl an Fällen vorzusehen, richtig.
({5})
Bezüglich der Ausdehnungsmöglichkeit habe ich aber
meine Zweifel.
({6})
Im Übrigen, Herr Kollege - das sage ich nicht, weil
ich die Intention des FDP-Antrags infrage stellen wollte,
sondern ich sage es, weil die fraktionslose Kollegin, die
mitgeteilt hat, sie gehöre der PDS an, das angesprochen
hat -: Ihr nennt das einen Ausschuss für besondere Auslandseinsätze. Diese Terminologie müssen wir im Verfahren noch ändern, damit hier kein Missverständnis
aufkommt.
Wir sollten uns überlegen, inwieweit wir unseren Einfluss, der sich aus der Ratifizierung ergibt, verstärken
und ihm dadurch besser gerecht werden können, dass
wir frühzeitiger entscheiden. Ich meine das nicht grundsätzlich, aber bezogen auf die Fragen, in denen es um die
außen- und sicherheitspolitische Verlässlichkeit unseres
Landes geht. Das scheint mir bei der Response Force
und bei den anderen integrierten Verbänden ein Problem
zu sein. Ich finde, dem müssen wir uns etwas deutlicher
stellen, als es in beiden Gesetzentwürfen zum Ausdruck
kommt.
Um was geht es dabei? Der Kollege Pofalla hat darauf
verzichtet, Äußerungen des Verteidigungsministers auf
der Tagung von Colorado Springs zu zitieren. Wenn ich
das tun würde, ließe sich eine nahtlose Übereinstimmung im Hinblick auf unsere Fragestellungen feststellen. Es geht darum, dass wir in der Lage sind, unsere militärischen Strukturen in eine immer enger werdende
Integration einzubinden. Das gilt nicht nur auf NATOEbene. Vielmehr ist dies das erklärte Ziel der Europäischen Union mit dem ersten wichtigen Schritt der „Helsinki Headline Goals“ und der so genannten Battle
Groups, der Eingreiftruppen, die für besondere Situationen, beispielsweise für zusammenbrechende Staaten vor
allem in Afrika, gedacht sind.
All das erfordert einen hohen Grad an außenpolitischer Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit und Konsistenz der
Entscheidungslinien. Ich glaube nicht, dass wir für unser
Land, für das wir alle Verantwortung tragen, das Optimum erreichen, wenn das Parlament am Ende einer Entscheidungskette faktisch nichts mehr beeinflussen, sondern nur noch Ja oder Nein sagen kann. Dies könnte
möglicherweise nach einer Entscheidung eines internationalen Gremiums, des NATO-Rats oder einer europäischen Institution, der Fall sein. Dann würden wir nur das
nachvollziehen, was vorher in Struktur und Prinzip entschieden worden ist.
({7})
Mir wäre es lieber, wenn wir diesen Punkt in den Anhörungen noch einmal beraten. Ganz bewusst, ohne jetzt
die Frage eines gemeinsamen Gesetzentwurfs anzusprechen, müssen wir uns überlegen, was wir in dieser Frage
gemeinsam erreichen können. Wir müssen hier eine
Christian Schmidt ({8})
zukunftsgerichtete Lösung finden. Der jetzige Gesetzentwurf der Koalition hingegen ist sehr statisch geraten.
Lassen Sie sich von denen, die jetzt noch in der Opposition sind
({9})
und vor allem das Parlament im Blick haben, unterstützen.
({10})
- Wir werden uns im Jahre 2006 wieder sprechen.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für die Großzügigkeit.
({11})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 15/2742 und 15/1985 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut
Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor
schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 15/2576 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat wieder der
Abgeordnete Ronald Pofalla. Es gibt wirklich fleißige
Abgeordnete.
Frau Präsidentin, ich freue mich, dass Sie weiterhin
präsidieren. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur nachträglichen Sicherungsverwahrung - ich will gleich zum
Thema kommen - betrachte ich durchaus ambivalent.
Einerseits ist nun endlich höchstrichterlich entschieden,
dass unsere Bürgerinnen und Bürger das Recht haben,
vor gefährlichen Gewaltverbrechern, die mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu Wiederholungstätern werden, geschützt zu werden. Dass hierbei der Bundesgesetzgeber
und nicht etwa der Landesgesetzgeber gefragt ist, haben
wir der Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsfraktionen seit jeher plausibel zu machen versucht.
Leider ist uns das bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nicht gelungen.
({0})
Andererseits hat sich insbesondere der Kollege
Joachim Stünker jeglicher logischen Argumentation verweigert
({1})
und stattdessen einseitig behauptet, dass es sich bei der
nachträglichen Sicherungsverwahrung um eine Frage
der Gefahrenabwehr handelt.
({2})
Durch diese Uneinsichtigkeit haben wir viel Zeit verloren, Zeit, die für gesetzgeberische Maßnahmen hätte genutzt werden können. Das müssen ausschließlich Sie
von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen
verantworten.
({3})
Daher möchte ich Sie dringend dazu aufrufen, nicht
noch mehr Zeit mit unsinnigen Verzögerungen zu vergeuden, sondern im Interesse unserer Bürgerinnen und
Bürger in eine sachliche und konstruktive Diskussion
einzutreten.
Die Unionsfraktion hat heute einen Gesetzentwurf
eingebracht, der den Schutz der Bevölkerung durch Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zum
Gegenstand hat. Auch der vom Kabinett verabschiedete
Regierungsentwurf, der heute jedoch hier nicht vorliegt,
hat dieses Ziel vor Augen. Insofern besteht wenigstens
an der Stelle Einigkeit.
Im Unterschied zur Regierung fordern wir aber, dass
die nachträgliche Sicherungsverwahrung unter den
Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Strafgesetzbuch auch
ohne entsprechenden Vorbehalt im Urteil angeordnet
werden kann.
Außerdem sind wir der Auffassung, dass für die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
nicht - wie von Ihnen vorgeschlagen - das erkennende
Gericht, also entweder die Strafkammer des Landgerichtes oder aber der Strafsenat des Oberlandesgerichtes, zuständig sein soll, sondern die Strafvollstreckungskammer. Bedenken Sie doch bitte, dass sich die
Strafvollstreckungskammer während der Strafvollstreckung mit dem Täter befasst und insofern eine fundierte
Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung treffen kann. Zudem wird insbesondere nach langjährigen Haftstrafen das erkennende
Gericht nicht mehr in derselben Besetzung zusammen
sein,
({4})
wie dies zum Zeitpunkt der Verurteilung des Täters der
Fall war. Insoweit kann es passieren, dass mitunter ganz
andere, niemals mit dem Fall und dem Täter befasst gewesene Richter über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden haben. Das wollen wir eben
nicht.
({5})
Wir wollen Richter, die sich mit dem Fall und dem Täter
auch während der Haftzeit ausgiebig haben befassen
können, um dann zu einer qualifizierten Entscheidung zu
kommen.
({6})
- Herr Stünker, Sie sollten mit Ihren Zwischenrufen vorsichtig sein, sonst zitiere ich Sie aus anderen Bundestagsreden,
({7})
um zu zeigen, welchen juristisch grenzwertigen Argumentationen Sie verfallen sind, die sich seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes als falsch herausgestellt haben. Sie sollten nach dieser Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichtes wirklich still sein.
({8})
Ihre ganze juristische Argumentation war über Monate
falsch.
({9})
Die beiden Gesetzentwürfe unterscheiden sich auch in
einem weiteren meiner Meinung nach entscheidenden
Punkt. Ausweislich Ihres neu einzuführenden § 66 b Abs. 1
StGB wollen Sie die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom Vorliegen einer Katalogstraftat im Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1 Strafgesetzbuch abhängig machen. Dies würde dazu führen, dass
die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur bei solchen
Anlasstaten angeordnet werden kann, die entweder den
Tatbestand eines Verbrechens erfüllen oder aber zu den
in § 66 Abs. 3 Strafgesetzbuch abschließend aufgezählten Straftaten gehören. In der Folge könnte damit für einige, wie ich meine, nicht unerhebliche Straftaten keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden.
({10})
- Schön, dass gerade Sie den Zwischenruf machen.
Dann komme ich gleich zu Ihnen.
Lieber Kollege Ströbele, nach dem Entwurf der Bundesregierung wäre beispielsweise in Fällen, in denen ein
Täter mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wieder straffällig wird, beispielsweise bei der Bildung einer kriminellen Vereinigung - ich weiß, warum ich an dieser
Stelle darauf hinweise -, die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht möglich.
({11})
Deshalb würde ich auch Ihnen raten, ohne das näher auszuführen, dass Sie darüber nachdenken, ob Sie das wirklich wollen.
({12})
Wenn Sie das wollen, dann versuchen Sie doch bitte, das
in Ihrer Koalition durchzusetzen.
({13})
Ich warte sowieso gespannt auf das Ergebnis der Diskussion in der Koalition, weil Herr Montag und Herr
Ströbele bereits angekündigt haben, dass ihnen selbst der
Regierungsentwurf, der weit hinter unsere Vorstellungen
zurückfällt,
({14})
offensichtlich schon zu weit geht. Ich wünsche Ihnen in
der Koalition viel Spaß bei der Diskussion über die
nachträgliche Sicherungsverwahrung mit Herrn Ströbele
an der Spitze, die dann, wenn Herr Ströbele sich durchsetzen wird, ganz sicher eines zum Ergebnis haben wird:
Es wird unter dieser Koalition keine rechtsstaatlich korrekte und die Bürger schützende nachträgliche Sicherungsverwahrung geben.
({15})
Aber wir als Opposition werden Sie über den Bundesrat
bzw. über das Vermittlungsverfahren dazu zwingen, an
dieser Stelle Farbe zu bekennen.
({16})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Rechtsfreunde,
kann man fast sagen!
({0})
Der Schutz der Bevölkerung vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern ist ein Thema, dem wir in den
vergangenen Wochen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004 zu Recht
besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Zuletzt haben wir an dieser Stelle in der Regierungsbefragung am
10. März 2004 darüber gesprochen, Herr Dr. Röttgen,
als es um den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu
diesem Thema ging. Diesen Entwurf haben wir genau einen Monat nach der Karlsruher Entscheidung vorgelegt.
Die Reaktion der CDU/CSU, ganz zu schweigen von
der des Staatsministers Huber aus Bayern, auf den Regierungsentwurf hat mich doch etwas gewundert. Vielleicht hatte sie damit zu tun, dass Sie eine Woche vor uns
einen eigenen Gesetzentwurf präsentiert hatten - mit
vernichtendem Echo. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bescheinigte Ihnen:
Bosbach und Röttgen blasen bei der Vorstellung ihres Entwurfs zur Sicherungsverwahrung kräftig die
Backen auf.
Sie meinte wahrscheinlich die Wangen.
({1})
Außerdem spricht die Zeitung von Populismus und
Wahlkampfgetöse.
({2})
Kehren wir also lieber zur Sacharbeit zurück. Welche
Standpunkte wir dabei jeweils vertreten haben, lässt sich
den Entwürfen der Unionsfraktion und der Bundesregierung entnehmen. Wir haben zwei Gesetzentwürfe mit
derselben Zielrichtung und damit die Chance, im weiteren Gesetzgebungsverfahren auf der Basis bereits ausformulierter Vorstellungen zur bestmöglichen Lösung zu
kommen. Ich halte es für parlamentarisch bedenklich,
verehrter Herr Pofalla, heute schon auf den Vermittlungsausschuss zu setzen.
({3})
Ich denke, wir sollten die menschliche und parlamentarische Größe zeigen, zu einer eigenen Lösung des
Bundestages zu kommen, weil wir die gleiche Zielrichtung haben. Die Allgemeinheit hat nämlich ein berechtigtes Interesse am Schutz vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern und sie erwartet zu Recht, dass wir
diesem Interesse bestmöglich gerecht werden. Mit „wir“
meine ich den Deutschen Bundestag.
Wir sind uns darin einig, dass in wenigen, vermutlich
sehr seltenen Fällen der Schutz der Allgemeinheit vor
hochgefährlichen Straftätern die Möglichkeit einer Inhaftierung über deren Strafende hinaus erfordert. Wir
wollen diese Möglichkeit sowohl für Mehrfach- als auch
möglicherweise - in Extremfällen - für Ersttäter vorsehen.
Im Unterschied zum Entwurf der Unionsfraktion belassen wir es allerdings beim bestehenden System der
Sicherungsverwahrung und damit auch bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung. Wir schaffen damit
ein Stufensystem, das eine möglichst frühzeitige Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zulässt. Außerdem müssen nach unseren Vorstellungen schon neue Tatsachen bekannt werden, bevor
man ein bestehendes und immerhin rechtskräftiges Urteil korrigieren und die nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängen darf. Für den Fall, dass Sie mit Ihrem
Vorschlag das Gleiche meinen, Herr Dr. Röttgen und
Herr Pofalla, sollten Sie das auch klar und deutlich ausdrücken.
Ich halte es jedenfalls für ausgeschlossen, dass man
nur aufgrund einer neuen Bewertung bereits bekannter
Tatsachen zur Anordnung der Sicherungsverwahrung
kommen kann. Sicherlich ist jede menschliche Entscheidung, auch die eines Gerichts, von subjektiven Faktoren
mit geprägt. Die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung unabhängig von neuen, objektiven
Faktoren zuzulassen ist mir allerdings zu subjektiv und
hat meiner Meinung nach auch zu wenig fundierte Anknüpfungspunkte gerade in diesem sehr sensiblen Bereich.
Außerdem sollten wir eine nachträgliche Sicherungsverwahrung auf die schweren und gefährlichen Straftaten beschränken, die auch das Bundesverfassungsgericht
vor Augen hat. Ich halte den Katalog des § 66 Abs. 3
StGB nach wie vor für den besten Anknüpfungspunkt.
Das heißt: nachträgliche Sicherungsverwahrung insbesondere bei allen Verbrechen, also auch bei Totschlag,
bei Sexualdelikten, aber auch bei gefährlicher Körperverletzung, bei Misshandlung von Schutzbefohlenen
oder bei schweren Vollrauschtaten.
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch noch
auf Diebe und Betrüger auszudehnen, wie Sie es vorschlagen, geht zu weit.
({4})
Damit verlässt man den Rahmen, den uns das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat.
Umgekehrt sollten wir uns aber um einen Bereich
kümmern, den Ihr Entwurf überhaupt nicht berücksichtigt. Wir stehen im Moment vor der misslichen Situation,
dass Täter, die ursprünglich als schuldunfähig in die
Psychiatrie eingewiesen wurden, aus ihrer Unterbringung entlassen werden müssen, wenn die psychische
Störung nicht oder nicht mehr besteht. Dabei kann auch
von diesem Personenkreis die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten ausgehen, die nach unserer übereinstimmenden Auffassung grundsätzlich die Anordnung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen
könnte. Ich meine deshalb, dass wir auch für diesen
Kreis von Verurteilten eine entsprechende Möglichkeit
vorsehen sollten.
Damit verbunden ist eine erstmalige ausdrückliche
Regelung, nach der die Unterbringung in der Psychiatrie
für erledigt erklärt werden kann. Dabei haben sich die
Gerichte bislang mit reinem Richterrecht beholfen. Dabei sollte es meines Erachtens nicht bleiben.
Deutliche Unterschiede sehe ich im Verfahrensrecht.
Wir haben uns für das so genannte Hauptverhandlungsmodell entschieden, also für eine neue Hauptverhandlung vor dem Tatgericht. Bei der Sicherungsverwahrung handelt es sich - darüber müssen wir uns alle
klar sein - um die Ultima Ratio des Strafrechts. Wenn
das so ist, dann müssen wir konsequenterweise auch die
Verfahrensform wählen, die die meisten rechtsstaatlichen Garantien gewährt: die Form der Hauptverhandlung.
Was wäre im Gegensatz dazu die Konsequenz aus Ihrem Vorschlag zum Verfahren? Es geht um dieselbe
Sanktion wie bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung im Strafurteil selbst. Das Verfahren wäre bei Ihnen
jedoch ganz unterschiedlich ausgestaltet. Denn einmal
würde das Tatgericht die Sicherungsverwahrung im Urteil anordnen, ein anderes Mal hingegen die Strafvollstreckungskammer per Beschluss. Ich kann keine überzeugende Begründung für diese völlig unterschiedliche
Behandlung entdecken. Ich darf Ihnen als langjähriger
Gerichtspraktiker sagen: Die Strafvollstreckungskammer befasst sich mit den Inhaftierten in aller Regel, Herr
Pofalla, aktenmäßig; sie sieht sie meistens nicht einmal.
({5})
- Halt doch einmal den Mund, Junge! Sie widersprechen
einem alten Praktiker. - In der Strafvollstreckungskammer wechseln die Richter häufiger, als Sie sich vorstellen können.
({6})
Nach unseren Vorstellungen müssen also der Grundsatz der Öffentlichkeit, das uneingeschränkte Beweisantragsrecht des Betroffenen und das Recht auf einen
Pflichtverteidiger auch bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung gewahrt bleiben. Der Heranziehung
von zwei Sachverständigen zur Begutachtung messen
wir eine hohe Priorität bei, besonders wenn es sich um
Ersttäter handelt. Außerdem wollen wir, dass die Rechtsanwendung bei dieser schwerwiegenden Sanktion bundesweit einheitlich ist. Deshalb soll für diese Fälle die
Revision beim Bundesgerichtshof zugelassen werden,
damit wir hier alsbald Klarheit haben.
Lassen Sie mich zum Abschluss - so viel Zeit habe
ich noch - kurz auf einige Äußerungen von Herrn van
Essen eingehen, die er vor einiger Zeit gemacht hat. Er
hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Bedenken, die in den Diskussionen der vergangenen Jahre
geäußert worden sind, nicht ohne weiteres über Bord
werfen können; denn in einem Rechtsstaat ist es keineswegs ehrenrührig, eine so schwerwiegende Sanktion wie
die nachträgliche Sicherungsverwahrung zu hinterfragen.
Lieber Herr van Essen, bis zu den beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus der ersten
Februarhälfte hätte ich Ihnen sogar uneingeschränkt zugestimmt. Aber wir haben seitdem eine veränderte Ausgangslage. Selbstverständlich müssen wir nach einer
verfassungskonformen Lösung suchen. Dafür stehen
auch die Rechtspolitiker der Koalitionsfraktionen. Wir
haben zwar nicht viel Zeit, aber diese müssen wir nutzen, um uns auf eine Regelung zu verständigen, die den
Vorgaben unserer Verfassung entspricht. Ich hoffe dabei
auf die Mitwirkung von Ihnen allen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns heute mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung unter anderem deshalb zu befassen, weil das
Bundesverfassungsgericht aufgrund der Verfassungsbeschwerde eines Untergebrachten zu dessen Gunsten entschieden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich
gemacht, dass die rechtliche Grundlage für die weitere
Verwahrung dieser hochgefährlichen Person nicht im
Landesrecht zu suchen ist, sondern dass es eine bundesrechtliche Lösung geben muss. Diese Auffassung haben
auch wir, die FDP-Bundestagsfraktion, immer vertreten.
Trotzdem ist das kein Anlass für Genugtuung; denn die
schwierigen Fragen, die uns in diesem Zusammenhang
in den vergangenen Jahren im Bundestag beschäftigt haben, bestehen fort.
Auf der einen Seite wissen wir, dass sich die besondere Gefährlichkeit von Personen, die verurteilt worden
sind, manchmal erst in der Haft zeigt. Wir stehen in der
Verantwortung, dafür zu sorgen, dass solche Personen
dann, wenn sie freigelassen werden, nicht wieder
schwerste Straftaten begehen, dass also niemand Opfer
von solchen Personen wird. Das ist die eine Verpflichtung, die uns auferlegt worden ist. Auf der anderen Seite
unterliegen wir der Verpflichtung, nichts zu beschließen,
was hinterher der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhält, wie das in diesem Fall gewesen
ist. Wir bewegen uns hier auf einem schmalen Grat.
Dass wir es uns nicht leicht gemacht haben, kann man
daran erkennen, dass wir mehrfach Anhörungen durchgeführt haben, bei denen wir uns den Rat von Sachverständigen eingeholt haben. Dabei gingen die Ratschläge
der Sachverständigen in eine bestimmte Richtung.
Ich stimme Ihnen, Herr Staatssekretär Hartenbach, zu,
dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,
bei der es nicht in erster Linie um die nachträgliche Sicherungsverwahrung ging, es nicht ausschließt, die Sicherungsverwahrung gegebenenfalls auch ohne Vorbehalt nachträglich anzuordnen. Das schließe ich daraus,
dass uns das Bundesverfassungsgericht eine Übergangsfrist gesetzt hat; denn das macht deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht es offensichtlich für möglich hält,
in der vorgegebenen Zeit zu einer verfassungsfesten Lösung zu kommen. Wir, die FDP, wollen uns an der Suche
nach einer verfassungsfesten Lösung selbstverständlich
beteiligen; denn die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht die Sache nicht für nichtig erklärt und die
Täter nicht sofort auf freien Fuß gesetzt hat, macht ja
deutlich, dass es sich hier auch nach der Beurteilung des
Bundesverfassungsgerichts um Personen handelt, die
brandgefährlich sind.
({0})
Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir ausloten, was geht und was nicht geht. Ein paar Fingerzeige
haben wir bekommen. Wir brauchen eine besonders
qualifizierte Prognoseentscheidung. Deshalb wird hier
der Schwerpunkt für die FDP liegen, wenn wir darüber
zu entscheiden haben, welches Verfahren gewählt werden soll. Ich persönlich habe das Gefühl, dass eine Prognose insbesondere bei Ersttätern und Heranwachsenden
sehr schwer zu erstellen sein wird. Darüber werden wir
intensiv diskutieren müssen.
Noch ein anderer Punkt ist mir wichtig, Herr Staatssekretär. Sie haben von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gesprochen. Dieses Gericht hat das
Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland zu interpretieren. Bei den Fragen, die hier in Rede stehen
- Stichworte „Rückwirkungsverbot“ und „Doppelbestrafung“ -, haben wir aber auch Art. 5 der Europäischen
Menschenrechtskonvention zu beachten. Damit werden wir uns bei den Beratungen in besonderer Weise beschäftigen müssen.
Alles das macht deutlich, dass meine Fraktion den
klaren Willen hat, auf der einen Seite das zu ermöglichen, was uns das Bundesverfassungsgericht aufzeigt,
auf der anderen Seite aber auch sicherzustellen, dass das
Verfassungsrecht und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet werden. Es darf nicht geschehen,
dass wir dann, wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind, in den nachfolgenden Überprüfungsverfahren
entweder vor dem Bundesverfassungsgericht oder vor
einem europäischen Gericht noch einmal eine Niederlage erleiden und Schwersttäter dann vor Gericht Recht
bekommen.
({1})
Wir sind in der Verpflichtung, verfassungsfeste Lösungen zu schaffen. Wir als FDP werden uns genau dafür
einsetzen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Pofalla, ich will Ihr Angebot,
zu dieser Frage eine sachliche und konstruktive Auseinandersetzung zu führen, ausdrücklich aufgreifen.
Worum geht es? Es geht um den Schutz von potenziellen Opfern. Es sind ganz wenige Fälle, aber in diesen Fällen geht es um Opfer schrecklicher Straftaten und
die Opfer sind in der Regel oder fast ausnahmslos Kinder und Frauen. Das ist die eine Seite eines großen Problems. Die andere Seite ist, dass wir das überragende
Freiheitsrecht aller Menschen, auch der Strafgefangenen, zu achten haben. Das ist Inhalt der Verfassungsgerichtsentscheidung. Da die richtige Lösung zu finden, ist
eine verdammt schwierige Aufgabe.
Wenn wir wirklich sachlich diskutieren wollen, dann
verbietet sich jede Polemik, auch die, die Sie gegenüber
dem Kollegen Stünker heute an den Tag gelegt haben.
({0})
Die Länder, deren Gesetze für verfassungswidrig erklärt worden sind, haben - sie haben behauptet, sie hätten in einer Notsituation gehandelt - immerhin einen Etikettenschwindel betrieben.
({1})
Sie haben die Materie der Sicherungsverwahrung dem
Polizeirecht zugeordnet. Das Verfassungsgericht hat gesagt: So geht es nicht. Die Sicherungsverwahrung ist
Teil des Strafrechts und gehört damit zur konkurrierenden Gesetzgebung.
({2})
Wir kommen zu einer wichtigen, zu einer hoch interessanten Frage, Herr Kollege Profalla und meine Kollegen von der Opposition, nämlich zu der Frage: Warum
hat das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung
getroffen? Es hat gesagt, dass die Länder nicht befugt
sind, die Straftäterunterbringung zu regeln, weil der
Bund diesbezüglich von seiner Gesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauch gemacht hat.
({3})
Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist
die Materie der Sicherungsverwahrung mit dem, was
schon jetzt im Gesetz steht, abschließend geregelt.
({4})
- Wenn Sie tatsächlich von einer abschließenden Regelung ausgehen würden, dann bräuchten Sie doch keinen
neuen Gesetzentwurf vorzulegen, wie Sie es heute getan
haben!
({5})
- Hören Sie sich doch erst einmal meine Ausführungen
an! Behalten Sie sich das, was Sie zu sagen haben, für
die Beratung im Rechtsausschuss vor!
({6})
- Nein, es ist richtig.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Gesetzeslage zur Sicherungsverwahrung ausführlich dargestellt hat, hat es Lücken aufgezeigt. Das betrifft die
Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung
nach § 66 Abs. 1 StGB, die erleichterte Möglichkeit der
Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3
StGB und zum Schluss die Möglichkeit des Vorbehalts
der Unterbringung nach § 66 a StGB. Die Lücke, die
aufgezeigt worden ist und tatsächlich besteht, ist, dass
diese umfassende Regelung, sowohl was die erleichterte
Anordnung nach § 66 Abs. 3 StGB als auch was den
Vorbehalt der Unterbringung nach § 66 a StGB betrifft,
nur für die Zukunft gilt. Das bedeutet: Im Strafvollzug
gibt es Straftäter, bei denen möglicherweise die formalen
Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung vorliegen, bei deren Verurteilung vor den Stichtagen in 1998
und 2002 die erleichterte Anordnung nach § 66 Abs. 3
StGB oder die Anordnung des Vorbehalts nach § 66 a
StGB nicht möglich waren. Deswegen sagen wir: Wir
sind bereit, diese Lücke zu schließen.
({7})
Die Grünen werden auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reagieren, obwohl uns, meine
Herren Kollegen von der Opposition, das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht zu einer gesetzgeberischen
Reaktion gezwungen hat. Im Urteil steht: Der Bundesgesetzgeber muss entscheiden, ob und inwieweit er reagieren will. Ich sage Ihnen: Wir Grüne wollen reagieren.
Wir wollen die von mir aufgezeigte Lücke schließen, indem wir eine Altfallregelung einführen,
({8})
die genau die Fälle, die ich jetzt angesprochen habe, umfasst.
({9})
Wir verschließen uns aber auch nicht anderen Lösungsmöglichkeiten, wenn sie, wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt, gewährleisten, dass der überragenden Bedeutung des Freiheitsrechts des Betroffenen
Rechnung getragen wird und wir nicht ohne Not - damit
meine ich: nicht ohne eine unabweisbare Notwendigkeit - die bereits jetzt umfassende Regelung der Sicherungsverwahrung weiter ausdehnen als bisher.
({10})
- Wir reden heute nicht über den Regierungsentwurf.
Heute reden wir über Ihren Gesetzentwurf.
Ich sage Ihnen jetzt einmal, warum in Ihren Vorschlägen aus unserer Sicht mehr Schlechtes als Gutes enthalten ist:
Die Strafvollstreckungskammer, die die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung treffen soll, ist eine Kammer, die in der Regel wenig mit den
Strafgefangenen zu tun hat, höchstens mit denen - da erkenne ich auch Ihr Interesse -, die im Vollzug auffällig
geworden sind.
({11})
Mit denen beschäftigen Sie sich ein bisschen, aber mit
denen, die nicht auffällig geworden sind, kaum.
({12})
- Jetzt einmal ganz ruhig, Herr Kollege Dr. Gehb. Sie
kommen doch gleich dran.
Sie wollen keine Hauptverhandlung mit Beweisaufnahme, Sie wollen kein Urteil, sondern nur einen Beschluss. Sie sehen keine Rechtsmittel außer einer Beschwerde vor. Sie sehen eine Verteidigung nicht
notwendig vor, sondern wollen, dass ein Verteidiger nur
dann angehört wird, wenn er da ist. Das einzig Gute, was
Sie wollen, ist, dass Sie zwei Gutachten wollen. Diesen
Vorschlag tragen wir mit. Aber auch da bleiben Sie auf
halbem Weg stehen, weil einer der Gutachter aus dem
Gefängnis kommen kann, in dem der Verurteilte einsitzt.
Das halten wir für keine gute Lösung.
({13})
Eigentlich wollte ich Ihnen, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU-Opposition, zum Schluss sagen: Mit
Ihrem Gesetzentwurf werden wir uns nicht beschäftigen.
({14})
Ich will aber doch noch einmal das Angebot zu einer
sachlichen und konkreten Diskussion im Rechtsausschuss machen. Wir werden nochmals eine Sachverständigenanhörung durchführen. Wir können dann gemeinsam nach dem besten Lösungsweg suchen.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man die Debattenbeiträge, die wir heute gehört haben,
insbesondere das, was der Staatssekretär gesagt hat, und
die Antworten der Ministerin, die sie in der Befragung
der Bundesregierung am 10. März gegeben hat, Revue
passieren lässt, könnte man den Eindruck bekommen, als
habe die SPD nie etwas anderes als die nachträgliche Sicherungsverwahrung gewollt bzw. als sei die SPD die
einzige Partei, die wirklich die nachträgliche Sicherungsverwahrung gewollt hat.
({0})
Im Übrigen hat die Ministerin bei der Befragung der
Bundesregierung noch einen kleinen Fehler begangen,
als sie gesagt hat, dass mit dem vorliegenden Antrag der
Regierung die bisher bestehende Regelung zur Sicherungsverwahrung, nämlich zur vorbehaltenen, ergänzt
werde.
Inzwischen haben wir drei Fälle der Sicherungsverwahrung, nämlich die, die im Urteil direkt angeordnet
wird - diese gibt es schon sehr lange -, die andere, die
im Urteil vorbehalten wird, und jetzt die nachträgliche
Sicherungsverwahrung.
({1})
Die von Ihnen aufgeworfene Frage, Herr Staatssekretär, ob die Richter in der Strafvollstreckungskammer
häufig wechseln, hilft überhaupt nicht weiter. Es ist doch
völlig normal, dass die Besetzung von Spruchkammern
wechselt. Der gesetzliche Richter ist der gesetzliche
Richter.
({2})
Wie verhält es sich denn übrigens, Herr Kollege Montag,
bei der Aussetzung der Strafe zur Bewährung? Wer trifft
eigentlich diese Entscheidung? Aber all diese dogmatischen Fragen gehören eigentlich eher in den Rechtsausschuss oder in eine Vorlesung für Studenten.
Herr Pofalla hat Ihnen, Herr Stünker, eben Vorhaltungen zu dem, was Sie von sich gegeben haben, ersparen
wollen. Ich werde jetzt einmal das Buch Hiob aufschlagen.
({3})
Sie, Herr Jerzy Montag, möchten immer gerne zur Sachlichkeit aufrufen. Wenn man morgens blutig geschlagen
worden ist, kommen Sie abends an und sagen, das war
doch alles nicht so gemeint.
({4})
In der Bundestagsdebatte am 19. Oktober 2001 führte
der frühere rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU,
Norbert Geis, aus, dass im Augenblick nicht die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung bestünde. Zwischenruf von Stünker: „Gott sei Dank!“
Geis: „Nachträglich geht das im Augenblick noch
nicht.“ Stünker: „Gut so!“ Geis: „... haben wir heute
noch nicht die Möglichkeit, nachträglich eine Sicherungsverwahrung anzuordnen.“ Stünker: „Da sind wir
vor!“
({5})
- Sie sind doch sonst nicht so begriffsstutzig!
Ich habe in meiner Rede am 14. November 2002 gesagt - und zwar auf Lateinisch, weil ich dachte, die
Rechtskundigen verstehen das -: „Punitur quia peccatum
est ne peccetur.“ Das heißt auf Deutsch: Es wird bestraft,
weil gesündigt worden ist und damit nicht wieder gesündigt wird. Dieser alte Spruch beinhaltet zum einen die
repressive Strafe, hat also Sühnecharakter, und zum anderen die Prävention, also die Vorbeugung.
Das Einzige, was Sie, Herr Stünker, darauf in Ihrer
Replik damals zu sagen hatten, war: Herr Gehb, damit
hätten Sie eine Professur nicht verdient, nicht einmal den
kleinen Strafrechtsschein.
({6})
Das Bundesverfassungsgericht sagt auf Seite 13 des
Entscheidungsumdrucks: Strafrecht erfasst neben vergeltenden, Schuld ausgleichenden Sanktionen auch spezialpräventive Reaktionen auf eine Straftat.
({7})
- So bereits Gehb im Bundestag. - Herr Stünker am
14. November 2002: „Die Bundesländer müssen hier
ihre Schulaufgaben machen und müssen für die entsprechenden gesetzlichen Regelungen sorgen.“ Zwischenruf
Jürgen Gehb: „Das ist Art. 74 Abs. 1, konkurrierende
Gesetzgebung! Wenn der Bund davon Gebrauch macht,
ist dieser Bereich den Ländern verschlossen!“ Das
wurde von Ihnen, Herr Montag, übrigens eben wörtlich
wiedergegeben. Da hat sich das Bundesverfassungsgericht fast expressis verbis meiner Diktion angeschlossen.
({8})
Sagen Sie einmal, Herr Stünker: Würden Sie in Ihrer
grenzenlosen Überheblichkeit, in der Sie glauben, Noten
vergeben zu können, auch den erkennenden Richtern des
Bundesverfassungsgerichts die Professur oder gar das
Erreichen des kleinen Strafrechtsscheins absprechen?
({9})
- Das hat auch wehgetan.
({10})
Das ist der Unterschied zu den Zeiten, als Professor Pick
noch hier war. Da hatte man solche komischen Zwischenrufe nicht zu befürchten. Herr Montag und vor allen Dingen Herr Stünker, das ist das Problem in der Debatte mit Ihnen - auf einen groben Klotz gehört ein
grober Keil; ich habe das noch nie gesagt, aber Sie haben
es jetzt provoziert -: Mit Ihnen ist es deshalb schwierig,
weil Sie fachlich so schwach auf der Brust sind.
({11})
Wer die Begriffe nicht versteht und nicht beherrscht,
kann natürlich auch eine Diskussion nicht beherrschen,
das ist doch ganz klar. Deswegen kommen wir auch
nicht überein.
Jetzt so zu tun, als sei Sachlichkeit geboten, ist perfide. Herr Montag, Sie führen sich - genau wie früher Ihr
rechtsunkundiger Kollege Volker Beck - in allen diesen
Fällen wie eine ethosgesteuerte Warnblinkanlage auf, indem Sie hier nur mit einem Nebensatz erwähnen, dass es
natürlich auch Opfer gibt.
({12})
Ihr Herz schlägt bei verfassungsrechtlichen Debatten immer zuerst für den Täter und erst an fünfter oder sechster
Stelle für das Opfer.
({13})
Der Unterschied in unserer Politik ist ein ganz einfacher, den auch alle unsere Zuhörerinnen und Zuhörer auf
der Tribüne verstehen: Bei uns geht Opferschutz vor
Täterschutz und nicht Täterschutz vor Opferschutz.
({14})
Meine Damen und Herren, ob wir über den genetischen Fingerabdruck, Terrorismus oder die Sicherungsverwahrung reden, immer sind Ihre Bedenken, ob rechtsstaatliche Prinzipien angewandt worden sind.
({15})
Glaubt denn irgendeiner in Deutschland, dass wir rechtsstaatliche Defizite haben?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Wenn sie nicht beschimpfenden Charakters ist wie
sonst bei Herrn Ströbele.
({0})
Das kann ich nicht garantieren, Herr Kollege.
Herr Kollege Gehb, geben Sie mir Recht, dass die
CDU/CSU-Fraktion noch im Jahr 1998 ausdrücklich abgelehnt hat, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung
ins Strafgesetzbuch zu schreiben? Wie war das da mit
dem Täter- und dem Opferschutz?
Das kann ich Ihnen erklären, Herr Ströbele. Auch ich
bin Christdemokrat. Sie wissen sehr wohl, an welchen
Widersprüchen das gescheitert ist.
({0})
Ich bin seit 1998 Mitglied dieses Hauses. Ich will Ihnen eine Antwort auf Ihre Frage nicht schuldig bleiben.
Wer uns wie Sie zum x-ten Male die nachträgliche Sicherungsverwahrung abschlagen will und wer uns vorhält, dass wir sie während unserer Regierungsverantwortung nicht eingeführt haben, der kommt mir vor wie
jemand, der wegen Mordes an seinen Eltern angeklagt
wird und um Gnade fleht, weil er Vollwaise ist. Das ist
eine ganz perfide Einlassung. Sie können sich setzen,
Herr Ströbele.
({1})
- Doch, das ist die Antwort auf die Frage.
Ich gebe Ihnen Recht, dass viele Gesetzesvorhaben in
den letzten 30 Jahren gescheitert sind.
({2})
Sollen wir deshalb aufhören, Gesetzentwürfe einzubringen? Wenn man den Vorwurf, man hätte schon früher
handeln können, ernst nehmen würde, dann hätte man
nach der ersten Legislaturperiode aufhören können, entsprechende Vorschläge zu machen. Das ist doch völlig
abwegig. Ich appelliere daher an Sie: Machen Sie mit!
Der Rückblick war jedenfalls erforderlich, um eine Geschichtsklitterung zu verhindern.
Ich will zum Abschluss noch etwas Versöhnliches sagen. Es wird uns doch wohl gelingen, aus dem Potpourri
der bisherigen Vorschläge - ich nenne unseren Vorschlag, die Vorschläge der Bundesregierung und des
Bundesrates sowie die Vorschläge von Bayern, Thüringen und Baden-Württemberg - einen Vorschlag zu
entwickeln, der sowohl den rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht, die der Staat gegenüber den Strafgefangenen beachten muss, als auch den gebotenen Schutz
der Bevölkerung vor solchen Menschen gewährleistet.
Herr Ströbele, es handelt sich weiß Gott nicht um Unschuldslämmer. Es muss eine Tat vorliegen, die schwerer
ist als das Klauen eines Lippenstifts im Kaufhof. Es handelt sich um böse Burschen - das sind keine leichten
Fälle -, die wir einsperren wollen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, über das wir
heute hier reden, ist viel zu ernst, als dass man solche
Reden halten sollte, wie Sie es, Herr Kollege Gehb und
Herr Kollege Pofalla, heute Nachmittag getan haben. Jemandem vorzuwerfen, er sei intellektuell zu schwach auf
der Brust, nur weil das Bundesverfassungsgericht anders
entschieden hat - man sollte sich auch das Minderheitenvotum der drei Verfassungsrichter durchlesen -, lenkt
die Debatte in eine Richtung, die dem Thema nicht angemessen ist, Herr Kollege Gehb.
Herr Kollege Stünker, ich frage Sie, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder und eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb zulassen?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Anlass für die erneute Beschäftigung mit diesem
schwierigen Thema der nachträglichen Sicherungsverwahrung - mittlerweile liegen dazu vier Gesetzentwürfe
vor; wenn das Thema so einfach wäre, würde ein Gesetzentwurf ausreichen - sind in der Tat die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom
5. und 10. Februar dieses Jahres. Angesichts der Reden,
die heute hier gehalten wurden, empfehle ich, beide Entscheidungen bis zum Ende zu lesen.
Mit diesen beiden Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die alte Streitfrage - ihre Beantwortung war auch in der Wissenschaft über Jahrzehnte
umstritten -, ob die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen das Rückwirkungsverbot und
gegen das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 103
Grundgesetz verstößt, entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses mit Hinweis auf den Maßregelcharakter der nachträglichen Sicherungsverwahrung
verneint. Es gibt führende Verfassungsrechtler in
Deutschland, die das anders sehen. Aber entschieden ist
entschieden. Wir haben uns daher mit dem Thema wieder zu befassen.
Die zweite Frage war, ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung Gegenstand der konkurrierenden
Gesetzgebung ist. Sie haben in diesem Zusammenhang
auf meine Aussagen verwiesen. Den meisten meiner Reden werden Sie entnommen haben, dass ich materiell
verfassungsrechtliche und weniger formelle Probleme
gesehen habe. - Schönen Dank, dass Sie das bestätigen.
(Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb ({0})
- Doch, genau das habe ich in meinen Reden deutlich
gemacht. Wenn Sie schon zitieren, dann bitte seriös und
vollständig, Herr Kollege Gehb.
({1})
Die Streitfrage ist also entschieden. Daher muss sich
das Hohe Haus jetzt endgültig entscheiden, wie wir es
mit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung für als besonders gefährlich erkannte Straftäter
halten.
Dazu sage ich Ihnen eines vorab: Ich bin jetzt fünf
Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses und das ist die erste
Entscheidung, bei der ich vor einer Gewissensfrage
stehe. Ich war 15 Jahre lang in allen möglichen Bereichen des Strafrechts tätig. Das Problem, um das es hier
geht, ist sehr groß. Dazu möchte ich ein paar Punkte
nennen.
Es geht hier um einen Straftäter, der bereits wegen einer schweren Straftat zu einer in der Regel langjährigen
Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und in dessen Urteil
das erkennende Gericht gerade nicht und damit endgültig rechtskräftig nicht auf Sicherungsverwahrung erkannt hat, dessen Entwicklung im Vollzug aber die besondere Gefährlichkeit dieses Menschen zur Begehung
neuer schwerer Straftaten begründen soll. Damit bewegen wir uns - so auch das Bundesverfassungsgericht - in
einem Grenzbereich des Strafrechts.
Es handelt sich bei diesem Problem daher ausschließlich um ein streng rechtsstaatliches. Es geht nicht um das
Problem, Herr Kollege Gehb, ob Täterschutz vor Opferschutz gehen soll. Eine demokratische, freiheitliche, pluralistische Gesellschaft zeichnet ein streng rechtsstaatlicher Strafprozess aus. Allein darum geht es, nicht aber
um den bei Rot-Grün vermeintlich fehlenden Willen
zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Straftaten.
({2})
Das muss ganz klar sein. Demjenigen, der einen anderen
Eindruck zu erwecken versucht, wie Sie, Herr Gehb, es
eben gemacht haben, sage ich ganz grob: Das ist pure
Demagogie und demokratisch unanständig, Herr Kollege.
({3})
Ich meine, die jetzt zu findende Regelung kann sich
daher nur am Normzweck des Sechsten Titels des Strafgesetzbuches - es liegt ja vor - orientieren, nämlich an
den Maßregeln der Sicherung und Besserung. Diese
Maßregeln sind die so genannte zweite Spur der strafrechtlichen Sanktionen, die wir kennen. Zweck einer
Maßregel ist allein, Herr Kollege Pofalla,
({4})
die Gefahrenabwehr, der Schutz der öffentlichen Sicherheit durch Vorbeugung im Hinblick auf künftige Straftaten.
({5})
Deshalb bestimmt § 62 StGB - man sollte dies einmal
nachlesen -:
Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf
nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung
der vom Täter begangenen und zu erwartenden TaJoachim Stünker
ten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden
Gefahr außer Verhältnis steht.
Damit soll grundsätzlich sichergestellt werden, dass
die letztlich an der Spezialprävention orientierte Zweckbestimmung der Maßregel im Einzelfall auf das rechtsstaatlich erträgliche Maß begrenzt wird. Der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit hat damit für die Maßregel
wie das Schuldprinzip für die Strafe die Funktion eines
limitierenden Korrektivs. Zu Recht wird daher die Sicherungsverwahrung in der gesamten Literatur und in allen Kommentaren als letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik bezeichnet.
In materieller Hinsicht verlangt die schon heute geltende Regelung in den §§ 66 und 66 a StGB, wenn hierüber ein Urteil gesprochen wird, als Voraussetzung einen
Täter mit einer eingewurzelten, aufgrund charakterlicher
Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen
intensiven Neigung zu Rechtsbrüchen. Die Rechtsprechung spricht vom eingeschliffenen inneren Zustand des
Täters, von der fest verwurzelten Neigung, immer wieder straffällig zu werden.
Diese hohen Hürden, wie ich meine, hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen und letztendlich auch das Bundesverfassungsgericht in den beiden
eingangs genannten Entscheidungen aufgestellt. Der
Grund dafür ist folgender: Da die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Ergebnis zeitlich unbegrenzt ist,
kann sie in der Tat ein Leben lang dauern.
({6})
Die Sicherungsverwahrung ist in der Praxis die wirkliche lebenslange Freiheitsstrafe.
({7})
- Einige.
Deshalb müssen die Hürden, die ich genannt habe,
auch für die Fallgestaltung gegeben sein, in der sich die
von mir skizzierte Täterpersönlichkeit erst während des
Vollzugs einer Freiheitsstrafe in der Strafhaft herausstellt.
({8})
- Hören Sie doch zu! - Das heißt, wir müssen, wie ich
meine, in den Beratungen einen rechtsstaatlich vertretbaren Weg finden, auf dem ein Gericht zu der Überzeugungsbildung, die ich zu skizzieren versucht habe, kommen kann.
Dazu gehört für mich: Es muss eine schwerste Straftat
gegen Leib und Leben einer Person oder gegen die sexuelle Selbstbestimmung einer Person als Anlasstat gegeben sein. Zwei unabhängige Sachverständige der forensischen Psychiatrie, die mit dem Täter während des
Strafvollzuges nicht befasst gewesen sind, müssen die
Täterpersönlichkeit in einem Gutachten prognostizieren.
Ferner haben wir das Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Denn mit Sicherheit werden wir mit der Regelung,
welche wir hier treffen, wieder irgendwann wegen einer
Person beim Bundesverfassungsgericht sein, das den
Fall dann überprüfen muss. Das Rechtsstaatsprinzip
brauchen wir deshalb, weil wir mit der nachträglichen
Anordnung in bereits abgewickelte, der Vergangenheit
angehörende Tatbestände und in ein materiell und formell rechtskräftiges Urteil eingreifen.
Deshalb meine ich - nun komme ich zu der Frage,
warum nicht die Strafvollstreckungskammer zuständig
sein soll -: Das Antragsrecht für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung sollte allein bei der zuständigen Staatsanwaltschaft liegen und nicht bei der
Haftanstalt. Denn diese muss kraft Gesetzes auch die
entlastenden Umstände von Amts wegen ermitteln. Diesen Anspruch hat jeder in diesem Land.
({9})
Das gerichtliche Verfahren sollte das Erkenntnisverfahren eines Tatgerichtes sein. Das heißt, die Anordnung sollte durch eine Große Strafkammer des Landgerichtes in öffentlicher Hauptverhandlung mit dem
Rechtsmittel der Revision beim Bundesgerichtshof erfolgen.
Herr Kollege Pofalla, es geht nicht darum, ob sich die
Personen, die dort arbeiten, mit dieser Person, die zehn
Jahre Freiheitsstrafe hinter sich hat, bereits irgendwann
beschäftigt haben. Es geht darum, dass eine Kammer, die
sich jeden Tag von Amts wegen als Schwurgericht mit
diesen schwerwiegenden Fällen befasst, auch über die
notwendige Erfahrung verfügt, die eine Strafvollstreckungskammer leider nicht hat. Das sind die Gründe dafür, das Erkenntnisverfahren mit dem Hauptverhandlungsmodell zu wählen.
Ich bitte Sie inständig - ich will keine Polemik, weil
es mir zu wichtig ist -, noch einmal in Ruhe darüber
nachzudenken. Auch die Richter des Bundesgerichtshofs
- ich war vor einigen Wochen dort - sagen alle: Ihr
könnt das nicht mit dem Beschwerderecht beim OLG regeln. Es können nicht erst 24 OLGs in Deutschland unterschiedliche Entscheidungen treffen, bis es eine einheitliche Rechtsprechung gibt; es muss im Wege der
Revision nach öffentlicher Hauptverhandlung mit allen
Rechten, die ein Angeklagter nach der Strafprozessordnung hat, letztendlich vom Bundesgerichtshof entschieden werden.
Wenn für die Anordnung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach dem Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich bestimmt ist, dass ein Schwurgericht, also
eine Strafkammer als Schwurgericht - das ist im GVG
nachzulesen - darüber zu entscheiden hat, dann muss
ich Sie fragen, ob Sie wirklich bei der nachträglichen
Anordnung einer Sicherungsverwahrung - das ist der
schwerste Eingriff, den man vornehmen kann - unterschwellig ein Gericht entscheiden lassen wollen? Ich
bitte Sie, über diese Systematik noch einmal nachzudenken. Wenn wir gemeinsam den Weg über ein erkennendes Gericht, über eine Hauptverhandlung mit allen
Rechten und zwei Sachverständigen gehen können,
dann
Herr Kollege Stünker, Sie müssen jetzt zum Ende
kommen.
- einen Satz noch, Frau Präsidentin - haben wir sozusagen durch Verfahren Grundrechtsschutz geschaffen.
Das sollten wir in den Beratungen, die jetzt vor uns liegen, gemeinsam überlegen.
Schönen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich sehe ein, dass auf diesem Gebiet im Hinblick auf die Historie dieses Sachverhalts viel Vergangenheitsbewältigung notwendig ist. Aber ich muss
gleichzeitig sagen: Es ist für uns unerklärlich und unverständlich, wieso man so lange Zeit für eine gesellschaftliche Notwendigkeit gebraucht hat. Ich glaube, die Ministerin sprach von acht Fällen, die geregelt werden
müssen und bei denen man erkennbar die Auffassung
vertritt: Hier droht Gefahr für die Bürger, weil Sachverständige offensichtlich erkannt haben, dass man diese
Menschen nicht auf die Gesellschaft loslassen kann.
({0})
Jemand, der genug Gerichtspraxis hat, weiß: Es gibt
in unserer Gesellschaft leider Menschen, bei denen alle
staatlichen Versuche, sie zu resozialisieren und zu bewegen, sich neu zu fixieren, nicht helfen und bei denen die
Fachleute, die Psychologen - es geht hier um zwei unabhängige Gutachter -, feststellen: Um Gottes willen, lasst
ihn nicht auf die Gesellschaft los.
Natürlich weiß auch ich: Es geht hier nicht um eine
Strafe - für seine Tat hat der Täter gebüßt -, sondern darum, die Gesellschaft vor ihm zu schützen und ihn vorsorglich zu verwahren.
Sicher können wir uns in den Fachgremien und im
Rechtsausschuss über die Verfahrensfragen einigen.
Keiner will Tagediebe und Betrüger in Sicherungsverwahrung nehmen. Herr Stünker, das wird nicht das Problem der Rechtsfindung sein. Vielmehr wird es entscheidend auf die beiden Gutachter ankommen. Es geht
konkret um die Frage, ob die Gutachter die Person richtig einschätzen, und nicht um große Rechtsstreitigkeiten.
Letztere sind ausgestanden, wenn das Gesetz erst einmal
im Gesetzblatt steht.
Ich will die Entscheidung nicht einem Amtsrichter
übertragen oder irgendein Schnellverfahren vorsehen,
aber darauf, ob das erkennende Gericht, eine Strafkammer oder eine Strafvollstreckungskammer entscheiden
soll, kommt es mir nicht an. Wir sollten nicht den einen
misstrauen und sie für Idioten halten, während wir die
anderen als gescheit ansehen. Ich glaube nicht, dass irgendeiner bei uns eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch ein ungeeignetes Verfahren will. Ich bin da für
die Anhörung völlig offen.
Eine Problematik ist mir beim Durchlesen aufgefallen. Sie haben vor, die Schwelle für die Anordnung der
Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden höher zu
legen. Nach der alten Definition sind Heranwachsende
die 18- bis 20-Jährigen. Nach Ihrem Vorschlag muss ein
Heranwachsender fünf Jahre Freiheitsstrafe bekommen
haben; vier Jahre sind es bei Erwachsenen. Wenn die
Frage der Sicherungsverwahrung geklärt wird, sind
diese Personen bereits 24 oder 25 Jahre alt. Sie sollen
dann einer günstigeren Regelung als diejenigen unterfallen, die schon bei der Tat volljährig waren.
Ich kann den Sinn dieser Regelung nicht erkennen.
Eine andere Behandlung käme nur in Betracht, wenn
sich der Betroffene zum Zeitpunkt der Entscheidung
noch im Zustand der Unreife befände. Das kann man
nicht gut unterstellen, weil sich aus dem Alter von 18 bis
20 Jahren bei der Straftat und der Dauer der Freiheitsstrafe ergibt, dass die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erst im Alter
von 23 bis 25 Jahren ansteht. Das führt logischerweise
dazu, dass es keine Unterscheidung geben darf.
Eines will ich noch herausstellen: Die nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung ist vielleicht
auch ein Ergebnis der Praxis der Verhängung zu geringer
Strafen, zu der die deutschen Strafgerichte über viele
Jahrzehnte gefunden haben. Wirklich lebenslängliche
Freiheitsstrafen gibt es nicht mehr.
Wir haben in unserem Staat sicherlich eine Reihe von
Straftätern, die wohl nie resozialisierbar sind. Ich habe
kürzlich einmal eine solche Akte in der Hand gehabt.
Solche Leute sind von Anfang an eine Gefahr und werden dies leider wohl immer bleiben, trotz aller medizinischen und psychiatrischen Erfolge. Man verschlösse die
Augen, wenn man so täte, als gäbe es das Problem nicht.
Das haben Sie leider über viele Jahre getan. Sie haben
die Lösung des Problems den Ländern zugeschoben.
Jetzt geht das nicht mehr. Jetzt müssen wir das regeln
und zum Glück wird es geregelt.
Ich sage noch einmal: Wir werden uns über das Verfahren einigen. Wir sollten ein faires Verfahren wählen.
Wir sollten berücksichtigen, dass die Bevölkerung einen
Anspruch darauf hat, vor derart gefährlichen Straftätern
- einige Fälle sind beschrieben - geschützt zu werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/2576 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 f sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
60. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen - eine Chance für die
Menschenrechte
- Drucksache 15/2755 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Dr. Christian Ruck, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger und der Fraktion
der FDP
Stärkung der Menschenrechte in der interna-
tionalen Politik - zur 60. Tagung der Men-
schenrechtskommission der Vereinten Natio-
nen
- Drucksache 15/2741 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan
- Drucksachen 15/2168, 15/2740 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf ({1})
Josef Philip Winkler
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Reform und Stärkung der Menschen-
rechtskommission
- Drucksachen 15/2174, 15/2509 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Hermann Gröhe
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hermann Gröhe, Dr. Egon
Jüttner, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Rainer Funke, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger und der Fraktion der FDP
Den Friedensprozess im Sudan unterstützen
- Drucksachen 15/2152, 15/2715 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Dr. Egon Jüttner
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay
- Drucksachen 15/2175, 15/2768 Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Rudolf Bindig
Rainer Eppelmann
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay
- Drucksache 15/2756 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die 60. Tagung der Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen begann nur vier Tage nach den
Terroranschlägen von Madrid. Mit großer Sorge müssen
wir deshalb feststellen, dass es die gleichen Gefahren
sind, die das Umfeld der Arbeit der Kommission und die
Menschenrechtspolitik insgesamt prägen.
Wir sind deshalb sehr froh darüber, dass die Menschenrechtskommission trotz aller Probleme, über die
wir noch zu reden haben werden, weiterhin als unverzichtbares Dialogforum existiert, auf dem gewaltfreie
Lösungen besprochen werden können, und zwar - dazu
verhält sich die Regierungskoalition in ihrem Antrag 9004
auch mit so genannten menschenrechtlich problematischen Staaten.
Ein schwieriges weltpolitisches Umfeld hat immer
auch problematische Rückwirkungen auf die Menschenrechtspolitik. In Zeiten epochaler Bedrohungen besteht
die Gefahr, sich mit fragwürdigen Bündnispartnern arrangieren zu wollen - nach dem Motto: Schweigst du zu
meinen Menschenrechtsverletzungen, schweige ich zu
deinen. Dies - ich glaube, darüber besteht Konsens können, wollen und werden wir nicht hinnehmen.
({0})
Deswegen werden wir dafür arbeiten, dass sich die
Kommission auch weiterhin mit Länderresolutionen
befasst und nicht nur Grundsatzerklärungen produziert.
Wir müssen aber auch dafür Sorge tragen - hier vertrauen wir auf die Aktivitäten der Bundesregierung -,
dass Resolutionen nicht auf dem Altar machtpolitischer
Überlegungen geopfert oder wegen vermeintlicher regionaler Verbundenheit verhindert werden, wie es in den
vergangenen Jahren leider immer wieder der Fall war. Es
zeigt sich, wie wichtig es ist, in Sachen Menschenrechte
stets mit gutem Beispiel voranzugehen.
Zum Thema Guantanamo wird die Kollegin Angelika
Graf gleich noch Stellung nehmen. Hierzu nur so viel:
Der Terrorismusexperte Walter Laqueur hat nach dem
11. September 2001 gesagt, bei der Terrorbekämpfung
werde die Frage nicht sein, welche Menschenrechte wir
aufgeben wollen, sondern welche wir uns noch leisten
können. Bundesinnenminister Schily hat diesem hochgefährlichen Satz dankenswerterweise energisch widersprochen und betont, die Aufgabe von Menschenrechten
im Zuge der Terrorismusbekämpfung sei genau der falsche Weg. Ich denke, diese Aussage bleibt bestehen.
({1})
Meine Damen und Herren, in unserem Antrag gehen
wir, wie auch in den letzten Jahren, auf die Situation in
einzelnen Ländern ein. Wir glauben, dass wir dies - gerade aufgrund der Schwerpunkte, die auch der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gesetzt hat - zu Recht tun und die Probleme in diesen
Ländern deutlich beschreiben. So ist es nach unserer
Auffassung auch richtig, dass die ersten Länder, die wir
aufführen, Russland und China sind. Zwar verzeichnen
wir in beiden Ländern im Rechtsstaatsdialog und im
Menschenrechtsdialog auch positive Entwicklungen.
Aber unsere Meinung ist: Menschenrechtsverletzungen
können und dürfen niemals gegen positive Taten aufgewogen werden. Auch dieser Satz bleibt für uns die Wahrheit.
({2})
In Simbabwe können wir im Moment leider überhaupt keine positiven Entwicklungen feststellen. Der
menschenverachtende Terror des Mugabe-Regimes geht
ungebremst weiter. Gerade hier erwarten wir auch aus
dem Kreis der Afrikanischen Union Signale in Richtung
auf eine Länderresolution, die in diesem Jahr endlich bei
der Kommission durchgesetzt werden muss.
({3})
Meine Damen und Herren, ich füge aber auch hinzu,
dass die Glaubwürdigkeit der EU bzw. einzelner Staaten,
wenn es um eine konsequente Menschenrechtspolitik
geht, nicht gerade dadurch gestärkt wird, dass man dem
Diktator die Möglichkeit verschafft, sich auf Konferenzen in europäischen Hauptstädten zu präsentieren. Auch
dies gehört zur Wahrheit.
({4})
Es ist gut - darüber bin ich sehr froh -, dass wir uns
zum Fall Sudan mit einem konsensualen Antrag zu Wort
melden, der die Realität beschreibt. Ich glaube, wir alle
können sagen, dass wir hinter diesem Antrag stehen.
Zwar kann auch dort noch nicht von einer substanziellen
Verbesserung der Menschenrechtslage die Rede sein.
Insbesondere aber ist die Forderung berechtigt, die eskalierende Situation im Westen, in der Region Dafur, und
die Notwendigkeit des freien Zugangs zu Hilfsorganisationen in diesen Antrag aufzunehmen.
Die historische Chance für den Abschluss eines Friedensabkommens zwischen dem befeindeten Süden und
Norden des Sudan berechtigt aber durchaus zu der Hoffnung, dass auch die Menschenrechte von diesem Prozess
profitieren werden. Wir begrüßen daher ausdrücklich
den Antrag der FDP-Fraktion und stimmen ihm, mit den
im Ausschuss vorgenommenen Änderungen, aus Überzeugung zu.
({5})
Die Forderungen, die wir in unseren Koalitionsantrag
aufgenommen haben, orientieren sich natürlich auch an
allgemeinen, die Menschenrechte betreffenden Themen.
Der alarmierende Befund der neuen Sonderberichterstatterin Yakin Ertürk zum Beispiel macht es notwendig,
auch dem Problem der Gewalt gegen Frauen wieder
Gehör zu verschaffen und unsere Entschlossenheit auszudrücken, dieses Thema auf der Sitzung der Kommission mit konkreten Zielsetzungen zu behandeln.
({6})
Auch und gerade Frauenrechte, meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen, sind nicht kulturspezifisch
unterschiedlich interpretierbar; ich glaube, diese Wahrheit müssen wir immer wieder aussprechen.
Für eine konsequente Durchsetzung der Menschenrechte - auch im eigenen Hause - stehen weiter die in
unserem Antrag erwähnten Punkte zu der Verantwortung
von Wirtschaftsunternehmen in Bezug auf die Menschenrechte sowie die Kinderrechte. Wir mahnen daher
wieder einmal die Rücknahme der deutschen Vorbehalte
zur UN-Kinderrechtskonvention an und werden dies in
Zukunft weiter betreiben.
({7})
Meine Damen und Herren von der Opposition, nach
dem, was wir im Ausschuss gehört haben, wäre es sehr
schön, wenn Sie endlich auch die Regierungen der noch
von Ihnen regierten Bundesländer dazu bringen würden,
({8})
der Rücknahme der Vorbehalte zuzustimmen; ich
glaube, das wäre mehr als Worte.
({9})
Die Tatsache, dass sich die Menschenrechte nicht auf
Dauer mit Gewalt erzwingen lassen, erfordert auch eine
konsequente Behandlung der wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Menschenrechte. In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich die Initiativen der Bundesregierung - unter anderem auch mit Finnland - zur
weiteren Stärkung dieser Rechte mit dem Fokus auf den
Bedürfnissen sozial marginalisierter Bevölkerungsgruppen, insbesondere ihrer Trinkwasserversorgung, sowie
zur Resolution zum Recht auf angemessenes Wohnen.
Ich glaube, das gehört integral zu unserer Debatte.
Wir begrüßen auch außerordentlich, dass die von der
Unterkommission zur Förderung und dem Schutz von
Menschenrechten verabschiedeten Normen zur die Menschenrechte betreffenden Verantwortung von transnationalen und anderen Wirtschaftsunternehmen positiv aufgegriffen werden, da sie über den auf dem Prinzip der
Freiwilligkeit beruhenden Ansatz von „Global Compact“ hinaus mehr Verbindlichkeit schaffen können und
auch müssen. Auch dies gehört, denke ich, mit zur Menschenrechtsdebatte.
Auf der anderen Seite haben wir gerade in den letzten
Wochen und Monaten zur Kenntnis nehmen müssen,
dass Umfragen - auch in unserem eigenen Land - gezeigt haben, welch geringen Stellenwert die Grund- und
Menschenrechte in unserer Gesellschaft, insbesondere
unter jungen Menschen, einnehmen. Deshalb - ich
glaube, das ist aus dieser Debatte heraus ein Signal möchte ich all denen danken, die sich der schwierigen
Aufgabe widmen, den unverrückbaren Stellenwert der
Menschenrechte auch bei uns immer wieder ins Bewusstsein zu rufen,
({10})
den vielen NGOs zum Beispiel, die im Forum Menschenrechte zusammenarbeiten, aber auch und besonders dem noch jungen Deutschen Institut für Menschenrechte, das bereits jetzt eine hervorragende Arbeit leistet.
({11})
Vor diesem Hintergrund sehe ich die Menschenrechtsarbeit auch in unserem Land auf einem insgesamt guten
Weg. Nur dies berechtigt uns, auf dem internationalen
Parkett Fortschritte anzumahnen und glaubwürdig die
neue VN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Frau
Dr. Arbour, mit Nachdruck zu unterstützen. Auch ihr
seien an dieser Stelle unsere besten Wünsche mitgegeben. Sie tritt die Nachfolge von Sergio de Mello an, der
den Einsatz für die Menschenrechte mit seinem Leben
bezahlte. Wir denken an ihn in Hochachtung und sollten
alles daransetzen, sein Vermächtnis zu erfüllen: die Verwirklichung der Menschenrechte in der ganzen, einen
Welt.
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
({12})
Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen und hier
ganz besonders die Arbeit der Menschenrechtskommission - der wichtigsten Instanz der Völkergemeinschaft
auf diesem Feld der Politik - ist in eine schwere Krise
geraten. Gerade wer die Arbeit dieser Menschenrechtskommission für mühsam, aber alternativlos hält, darf
nichts beschönigen: Eine zunehmende Nord-Süd-Konfrontation, in deren Rahmen Kritik an Menschenrechtsverletzungen generell als westliches Hegemoniestreben
zurückgewiesen wird, und immer fragwürdigere Koalitionen von Staaten, denen es vor allem darum geht, Kritik am eigenen Verhalten zu unterdrücken, haben dazu
geführt, beispielsweise das wichtige Instrument der Länderresolutionen massiv zu schwächen.
Immer wieder scheitert die Ächtung von schwersten
Menschenrechtsverletzungen an so genannten übergeordneten Interessen und fragwürdigen Tauschgeschäften.
Derartigen Tendenzen muss die Bundesrepublik
Deutschland gerade angesichts ihrer Rolle als Koordinator der westlichen Regionalgruppe entschieden entgegenwirken.
({0})
Daher wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Deutsche Bundestag in einer von allen Fraktionen getragenen
Beschlussfassung deutlich gemacht hätte, dass er Bestrebungen, das VN-Menschenrechtssystem weiter zu
schwächen, entgegentritt.
({1})
Dass eine solche Gemeinsamkeit gerade in Menschenrechtsfragen möglich ist - dies will ich ausdrücklich hervorheben -, zeigt die Tatsache, dass heute ein
Antrag der Regierungskoalition zur Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan die Unterstützung der Opposition erfährt, während umgekehrt die Koalitionsparteien
einen gemeinsamen Antrag von Union und FDP zum
Friedensprozess im Sudan unterstützen.
({2})
Auch im Hinblick auf die Lage der Menschenrechtskommission sehe ich im Antrag der Koalitionsparteien
und im Antrag von Union und FDP manche wichtige
Gemeinsamkeit, aber auch eigene Schwerpunktsetzungen, die sich in weiten Teilen gut ergänzen könnten. In
anderen Teilen jedoch, ganz besonderen in seinem Forderungsteil, bleibt der Antrag von Rot-Grün eher blass
und zurückhaltend. So stellen Sie im Hinblick auf das
ebenso wichtige wie umstrittene Instrument der Länderresolution zu Recht fest - ich zitiere aus Ihrem
Antrag -:
Länder-Resolutionen sind eine gewollte und menschenrechtlich notwendige Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates.
Danach beschreiben Sie jedoch lediglich den Konsens in
der Europäischen Union im Hinblick auf bestimmte Länderresolutionen und erklären über diesen Konsens hinaus lediglich eine Resolution zu der in der Tat dramatischen Lage in Simbabwe für begrüßenswert, noch dazu
in sehr indirekter Weise.
Wie aber passt Ihre richtige Beschreibung der Lage in
Tschetschenien wie in der Russischen Föderation insgesamt oder in der Volksrepublik China zusammen mit der
merkwürdigen Zurückhaltung im Forderungsteil Ihres
Antrages gerade im Hinblick auf diese beiden Länder?
Warum drücken Sie sich um eine Resolution zum
Tschetschenien-Konflikt und zur Lage in der Volksrepublik China? Passt Klartext zur Lage in China etwa nicht
in eine Zeit, in der Kanzler Schröder schon wieder Waffen nach Peking liefern will?
({3})
Gerade in einer Zeit, in der Länder wie China, Pakistan
und Kuba die Länderresolutionen insgesamt abschaffen
wollen, sollten wir dieses Instrument nicht nur prinzipiell verteidigen, sondern auch - klarer, als Sie dies tun sagen, in welchen Ländern wir seine Anwendung für angemessen halten.
Der Antrag von Union und FDP ist ehrgeiziger. Er
fordert eine Resolution,
in der die massive Unterdrückung von Freiheitsund Bürgerrechten in der VR China und insbesondere das harte Vorgehen der staatlichen Behörden in
Tibet und Xinjiang deutlich benannt werden.
Wir halten es auch für notwendig, dass der von beiden
Konfliktparteien mit äußerster Brutalität geführte Krieg
in Tschetschenien in einer Resolution auf das Schärfste
verurteilt wird.
Was bedeutet nun Ihre Forderung, Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China deutlich zu
verurteilen, angesichts der von den USA beabsichtigten
Einbringung einer Resolution zur Lage in China? Was
geben wir als Parlament unserer Delegation in Genf im
Hinblick auf diese Frage mit auf den Weg? Bei aller
Würdigung der sehr schwierigen Lage unserer Diplomaten in Genf sollten wir nicht der Versuchung erliegen,
die Messlatte für anzustrebende Ziele so niedrig zu legen, dass die Enttäuschung anschließend nur ja nicht zu
groß wird. Maßstab muss die Schwere der Menschenrechtsverletzungen sein und nicht die Einschätzung dessen, was vielleicht gerade noch durchsetzbar ist. Nur
eine Klarheit in den Zielen erlaubt anschließend eine
redliche Würdigung der Situation der Menschenrechtskommission.
Gerade weil der Antrag von Union und FDP zur laufenden Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen solche Ziele klarer und ehrgeiziger benennt als der Antrag der Regierungskoalition, geben wir
ihm den Vorrang.
Nur stichwortartig nenne ich weitere Punkte, an denen der Antrag der Regierungsfraktionen hätte präzisiert
werden müssen. So stellen Sie fest, dass die „UN-Normen zur menschenrechtlichen Verantwortung von transnationalen und anderen Wirtschaftsunternehmen“ einen
anderen Ansatz darstellen als der auf dem Prinzip der
Freiwilligkeit beruhende „Global Compact“ des VN-Generalsekretärs. Was aber bedeutet dies angesichts Ihrer
positiven Würdigung der UN-Normen für den auch von
Ihnen in der Vergangenheit gelobten „Global Compact“?
Dazu schweigt der Antrag.
Auch im Hinblick auf die Auswirkungen des Kampfes gegen den Terrorismus - das ist ohne Zweifel ein
sehr ernstes Thema - auf die Auseinandersetzungen um
Menschenrechte lässt Ihr Antrag die zwingend erforderliche Differenziertheit vermissen.
Notwendig ist aber eine strikte Trennung zwischen
dem Ringen in demokratischen Rechtsstaaten um eine
angemessene rechtsstaatliche Antwort auf die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und dem
Versuch autoritärer oder gar totalitärer Staaten, eigene
Unterdrückungsmaßnahmen als Terrorabwehr zu bemänteln. Wo eine solche Trennung fehlt, wird die
Grenze zwischen freiheitlichen Demokratien und Unrechtssystemen schnell verwischt.
Lassen Sie mich zum Schluss auf einen weiteren Antrag eingehen. Aus Sicht der Unionsfraktion ergänzt die
FDP mit ihrem Antrag „Für eine Reform und Stärkung
der Menschenrechtskommission“ den von FDP und
Union gemeinsam eingebrachten Antrag zur laufenden
Tagung dieser Kommission in guter Weise. Es würde
dem Ansehen der Menschenrechtskommission in der Tat
dienen, wenn Staaten, die die geltenden Menschenrechtsstandards in ihrem Hoheitsbereich nicht umsetzen
können oder wollen, zukünftig nicht mehr die Leitung
der MRK erhalten könnten und wenn an die Wahl der
Mitglieder künftig Kriterien geknüpft werden, die für
eine effektive Arbeit der MRK unerlässlich sind. Insofern stimmen wir auch diesem Antrag gerne zu.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die 60. Sitzung der Menschenrechtskommission findet in einer politisch schwierigen und angespannten Zeit statt. Die Erschütterung über Terroranschläge
gegen unschuldige Zivilisten sitzt tief.
Nach den blutigen Ereignissen in Madrid hat die
spanische Bevölkerung in bewundernswerter Weise gezeigt, dass die Antwort auf diese Herausforderung Solidarität mit den Opfern, konsequente Verfolgung der Täter und die Herrschaft des Rechts sein müssen. Diese
Haltung als Appeasement gegenüber terroristischer
Gewalt zu denunzieren ist eine böswillige Verleumdung
und Unterstellung. Im Gegenteil: Spanien setzt mit dieser Haltung ein leuchtendes Beispiel dafür, dass der
Kampf zur Verteidigung einer menschenfreundlichen Zivilgesellschaft allein auf dem Boden der universalen und
allgemein gültigen Menschenrechte gewonnen werden
kann.
Mit dem Koalitionsantrag „Für die Einhaltung der
grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in
Guantanamo Bay“ unterstreichen wir die Notwendigkeit, die Grundfreiheiten jedes Einzelnen und die strenge
Einhaltung der Mindestanforderungen an den Schutz der
Menschenrechte zu achten und zu fördern. Nur so lassen
sich die Stärken der Demokratie im Kampf gegen den
Terrorismus beweisen. Deshalb sollte die MRK in ihrer
diesjährigen Sitzung die Umsetzung der Empfehlungen,
die in der 59. Sitzung der Menschenrechtskommission
angenommen worden sind, kritisch prüfen. Darin hat sie
die Staaten aufgefordert, ihre menschenrechtlichen und
humanitären Verpflichtungen auch im Antiterrorkampf
einzuhalten.
In Israel und in den Palästinensergebieten sehen wir
nach der Tötung des Scheichs Jassin die Gefahr einer
weiteren Eskalation der unsäglichen Spirale von Gewalt
und Gegengewalt. Israel hat das Recht und die Pflicht,
seine Bevölkerung vor Terrorakten zu schützen. Wir erkennen das ausdrücklich an. Selbstmordanschläge von
Palästinensern, die unschuldige Menschen töten, sind
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und unterlaufen
jegliche Friedensbemühungen. Doch auch Israel muss
geltendes Recht achten. Die Tötung des Hamas-Führers
steht außerhalb dieser Legalität.
Wir kritisieren auch den Verlauf des so genannten Sicherheitszaunes, bei dem es sich in langen Abschnitten
um eine bis zu zehn Meter hohe Mauer handelt. Diese
Mauer ist nicht nur völkerrechtswidrig, weil sie in ihrem
Verlauf von der grünen Linie bzw. von der Waffenstillstandslinie von 1967 abweicht und palästinensische Gebiete durchtrennt, sie verhindert auch den Zugang der
Bauern zu ihren Feldern und schafft Enklaven, in denen
die Bevölkerung von Schulen, Büros und Krankenhäusern abgeschnitten ist.
Diese entwürdigende Situation ist aus humanitären
und menschenrechtlichen Gründen nicht akzeptabel und
legt den Grundstein für neuen Hass. Deshalb begrüßen
wir es sehr, dass die EU auch in diesem Jahr wieder einen Resolutionsentwurf zur Siedlungspolitik Israels in
den besetzten palästinensischen Gebieten einbringt.
Wir stehen in dieser Woche vor der dritten von
Deutschland mit ausgerichteten Afghanistan-Konferenz. In ihrem Bemühen um den Wiederaufbau dieses in
einem mehr als 20-jährigen Krieg geschundenen Landes
zeigt die Bundesregierung, dass sie Ernst damit macht,
in der internationalen Krisenbewältigung bislang sträflich vernachlässigte Elemente zu entwickeln und nachhaltig einzusetzen: Hilfe beim Aufbau einer funktionierenden Verwaltung, Polizei und Justiz; Unterstützung
beim Prozess, sich eine menschenrechtlich ausgerichtete
Verfassung zu geben; Unterstützung bei der Vorbereitung von Wahlen und bei der Gewährleistung von Sicherheit; Priorität für eine flächendeckende Schulbildung und für eine Basisgesundheitsversorgung. All dies
geschieht in enger Zusammenarbeit mit der Regierung,
der Zivilgesellschaft und in einem multilateral koordinierten Prozess. An diesem positiven Verlauf ist auch
unser Ausschuss - das sage ich mit einer Portion Stolz
auf unsere Arbeit - ein großes Stück beteiligt.
({0})
All diese Elemente hatten sich nach der militärisch erzwungenen Verhinderung eines bevorstehenden Völkermords im Kosovo als grundlegend für die Förderung einer friedlichen Entwicklung herausgestellt. Die jüngste
Gewalteruption im Kosovo widerlegt nicht die Richtigkeit dieses Ansatzes. Sie macht aber eine selbstkritische
Überprüfung des internationalen Engagements dringend
erforderlich. Anstatt voreilig und zu schnell absolut erforderliche Unterstützung herunterzufahren, brauchen
wir mehr Kohärenz, Ausdauer und Verantwortungsbereitschaft durch die EU.
({1})
Dazu gehört aber auch, dass wir unser innenpolitisches Handeln nach diesen Grundsätzen ausrichten. Unsere innenpolitischen Entscheidungen können gravierende Auswirkungen auf die Menschenrechtslage in
anderen Ländern haben: stabilisierend manchmal, aber
oft auch konfliktverstärkend. Die Rückführung von Minderheiten in ein Krisengebiet wie das Kosovo kann die
Lunte sein, die das Pulverfass zur Explosion bringt. Wir
begrüßen deshalb, dass momentan alle Rückführungsmaßnahmen in diese Region ausgesetzt sind.
({2})
Die neuerliche Eskalation von Gewalt im Kosovo zeigt,
dass an eine gefahrlose Rückführung von Minderheitsangehörigen ins Kosovo noch lange nicht zu denken ist.
({3})
Frau Kollegin, Sie müssen an Ihre Redezeit denken.
Vor diesem Hintergrund ist die Praxis bloßer Kettenduldungen für Flüchtlinge in der Bundesrepublik menschenunwürdig. Deshalb appelliere ich, dass nach Jahren
der Duldung für Minderheitsangehörige aus dem Kosovo diesen Menschen mit der Gewährung eines rechtmäßigen Aufenthaltsstatus endlich eine konkrete Zukunftsperspektive ermöglicht wird.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
60. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen findet unter denkbar schwierigen Bedingungen statt. Das zeigt die gestrige Debatte über Israel. Das zeigen auch die Auseinandersetzungen
zwischen China und den USA über eine Chinaresolution. Die MRK-Sitzung droht zu scheitern. Das wäre für
die Zukunft dieses zentralen Instruments des weltweiten
Schutzes der Menschenrechte dramatisch.
Schon die letzten beiden Sitzungen der MRK waren
nach Ansicht der Nichtregierungsorganisationen, aber
auch in den Augen der Weltöffentlichkeit ein Desaster;
das muss man so klar ausdrücken, wie ich es eben getan
habe. Die MRK droht immer mehr von polarisierten tagespolitischen Auseinandersetzungen dominiert zu werden und dabei zu einem Basar zu verkommen. Wir haben
das in der letzten Sitzung in Genf erlebt.
Dabei wird die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen in der Menschenrechtspolitik insgesamt aufs Spiel
gesetzt. Die MRK muss deshalb grundlegend reformiert
werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu einen
Antrag mit konkreten Vorschlägen erarbeitet. Die Menschenrechtslage in vielen Ländern dieser Welt gibt Anlass zu großer Sorge. Amnesty International nennt in
diesem Zusammenhang über 150 Staaten. Ich will hier
nur vier Fälle herausgreifen. Gemeinsam mit den Kollegen der Union bringen wir einen ausführlichen Antrag
ein, in dem auf viele weitere Fälle konkret eingegangen
wird.
In China werden die Menschenrechte zwar gerade in
die Verfassung aufgenommen. Aber in Tibet - bei der
Verfolgung von Religionsgruppen und beim Umgang
mit Dissidenten - bleibt die konkrete Situation der Menschenrechte verheerend. Zudem sollen jetzt für die Vollstreckung der zahlreichen Todesurteile mobile Tötungsmaschinen eingeführt werden. All das muss bei der
MRK auf den Tisch. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, den amerikanischen Entwurf einer Chinaresolution trotz aller Proteste aus Peking gemeinsam mit
den EU-Partnern zu unterstützen.
({0})
In Russland kann Präsident Putin inzwischen nahezu
uneingeschränkt schalten und walten. Angesicht der
fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, aber auch der Situation in den russischen Gefängnissen oder der Beschränkung der Pressefreiheit ist
das besorgniserregend und muss ebenfalls in Genf angesprochen werden.
({1})
Im Iran waren die Parlamentswahlen alles andere als
frei und fair. Die Menschenrechtslage bleibt prekär, obwohl der Iran alle einschlägigen Menschenrechtspakte
unterzeichnet hat. Die Arbeit der mutigen Menschenrechtsverteidiger in diesem Land mit der Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi an der Spitze braucht dringend internationale Unterstützung und Anerkennung. Auch dazu
ist Genf der richtige Ort.
({2})
Der engagierte Einsatz vieler westlicher Länder für
die Menschenrechte ist nur dann wirklich glaubwürdig,
wenn wir uns offen mit Problemen im eigenen Bereich
auseinander setzen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat
deshalb schon im Dezember einen Antrag zur Situation
der Gefangenen der USA in Guantanamo Bay eingebracht, der heute zur Abstimmung steht. Die anderen
Fraktionen haben zunächst einen interfraktionellen Antrag in Aussicht gestellt. Wir waren zu einer Zusammenarbeit bereit. Aber jetzt ist die Union überhaupt nicht
mehr willens, Guantanamo im Bundestag kritisch anzusprechen, und Rot-Grün stellt einen eigenen Alternativantrag zur Abstimmung. Er stimmt zwar in der Beurteilung - besser gesagt: in der Verurteilung - der Situation
mit unserem Antrag überein - über die Analyse sind wir
weitgehend einer Meinung -, aber die FDP fordert, das
Thema sowohl bei der MRK als auch in der UN-Generalversammlung anzusprechen. Das ist den Kollegen von
Rot-Grün, deren Antrag mit unserem sonst weitgehend
deckungsgleich ist, als Forderung wohl zu konkret. Ich
finde das wirklich schade. Die Regierungskoalition tut
der Glaubwürdigkeit ihrer eigenen, aber auch der westlichen Menschenrechtspolitik insgesamt keinen Gefallen,
wenn sie unseren Antrag zu Guantanamo heute ablehnt.
({3})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Nachrichten möchte ich am Beginn meiner Rede
zitieren. Die erste ist: Vor wenigen Tagen gab es in Afghanistan einen schlimmen Anschlag auf den Luftfahrtminister Mirwais Sadik, den Sohn des Provinzherrschers
von Herat, Ismail Khan. Das Attentat soll angeblich dem
Vater gegolten haben. Mit dem Luftfahrtminister starben
bei den Kämpfen etwa 100 Menschen. Der Anschlag
macht deutlich, dass die Sicherheitslage in diesem Land
auch im dritten Jahr nach der Befreiung von den Taliban
noch viel zu wünschen übrig lässt.
Die zweite Meldung ist eine positive: Am Montag
dieser Woche hat für circa 5,6 Millionen afghanische
Kinder - das ist etwa die Hälfte aller afghanischen Kinder im schulpflichtigen Alter - das neue Schuljahr begonnen. Über 1 Million dieser Schulkinder sind Mädchen. Das ist noch nicht zufriedenstellend, aber es ist ein
guter Anfang.
({0})
Der afghanische Bildungsminister, Yunus Qanuni, betonte, die Schülerzahl sei einzigartig in der Geschichte
Afghanistans. Es seien im vergangenen Jahr mithilfe der
Geber 1 217 neue Schulen entstanden.
Vor dem Hintergrund beider Meldungen sollten wir
den vorliegenden ausführlichen Antrag zur Menschenrechtslage in Afghanistan betrachten. Er stellt auch dar,
wie kontinuierlich die Menschenrechtsarbeit der Regierungskoalition ist. Der Beitrag Deutschlands zur Sicherheitslage in Afghanistan hat uns hier schon oft beschäftigt. Sowohl die Soldaten von ISAF als auch die
Polizeibeamten des Bundes und der Länder, die männliche und - ganz wichtig - auch weibliche Polizisten ausbilden, verdienen unseren Dank und unsere Anerkennung.
({1})
Eine halbwegs stabile Sicherheitslage ist die Grundvoraussetzung dafür, dass diese 1 Million Mädchen, von
der ich eben gesprochen habe, in die Schule gehen und
dass Frauen am politischen und ökonomischen Leben
teilnehmen können. Der nächste Lackmustest für den
Willen und die Kraft der afghanischen Regierung ist die
Wahl in diesem Jahr. In diesem Zusammenhang müssen
wir immer wieder unsere Erwartungen klarmachen, dass
Frauen als Wählerinnen und als Kandidatinnen an der
Zukunft ihres Landes mitarbeiten.
({2})
Bisher haben sich leider nur 1,5 Millionen Wahlberechtigte - nur 28 Prozent davon sind Frauen - registrieren
lassen. Das ist viel zu wenig.
({3})
Sicherheit ist auch eine unabdingbare Voraussetzung
für die Rückkehr von Flüchtlingen. Denn die Erfahrung
zeigt - das ist vorhin schon angesprochen worden -: Wer
Flüchtlinge in ein unsicheres Land zurückführt, destabilisiert es weiter.
Der Kampf gegen ungerechte Verurteilungen insbesondere von Frauen und gegen die Straflosigkeit muss
zusammen mit der afghanischen Regierung aufgenommen werden. Immer noch unaufgeklärt ist das Massaker
von Sherbagan vom November/Dezember 2001. Gerade
weil der stellvertretende Verteidigungsminister und General der Nordallianz Dostum darin verwickelt zu sein
scheint, muss die afghanische Seite die Aufklärung der
Vorfälle in ihrem ureigensten Interesse nachdrücklich
verfolgen.
({4})
Ich bedauere allerdings, dass das Medieninteresse an
diesem Vorgang leider in der Zwischenzeit offensichtlich
erlahmt ist. Überhaupt scheint vor dem Hintergrund der
anderen Konflikte - zum Beispiel im Nahen Osten und
im Irak - das öffentliche Interesse an Afghanistan etwas
einzuschlafen. Ich bedauere das; denn Afghanistan und
seine Bürger - insbesondere die Afghaninnen, die unter
dem Terrorregime der Taliban besonders gelitten haben dürfen von der Welt nicht wieder vergessen werden.
({5})
Deshalb begrüße ich es sehr, dass die Bundesrepublik
Deutschland am 31. März und 1. April - das ist nächste
Woche - in Berlin die dritte Afghanistan-Konferenz ausrichtet, wo über die weitere Hilfe für das vom Krieg zerstörte Land beraten wird.
Im direkten Zusammenhang mit dem begrüßenswerten Sturz des Taliban-Regimes und seiner extremistischen Kämpfer steht die Kehrseite dieses Krieges:
Guantanamo Bay. Die Bilder von menschenunwürdig
in Käfigen gehaltenen Gefangenen haben sich in meinem Kopf eingebrannt. Ich bin fassungslos, weil ich
nicht begreifen kann und will, wie sich die älteste Demokratie der Welt - ein modernes westliches Land - so von
den menschenrechtlichen Prinzipien verabschieden
kann.
({6})
Ich weiß mich in meiner Empörung mit vielen Menschen
in den USA einig.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz berichtet von grauenhaften Haftbedingungen. Es hat 32 Selbstmordversuche in dem Lager gegeben. Die Identität der
Inhaftierten steht nicht fest oder wird nicht bekannt gegeben. Keiner hat die Möglichkeit, mit einem Anwalt
oder Angehörigen zu sprechen. Das Völkerrecht wird
dort mit Füßen getreten.
In seiner Ausgabe vom 11. März 2004 berichtet der
„Spiegel“ über die Freilassung von fünf Briten, die wie
rund 660 andere Männer - darunter angeblich zwölf
Minderjährige - seit mehr als zwei Jahren in dem Lager
Angelika Graf ({7})
auf Kuba festgehalten wurden. Drei der Minderjährigen
sind angeblich nach Afghanistan zurückgeschickt worden. Sie waren zwischen 13 und 15 Jahre alt, als sie gefangen genommen wurden. Die Briten sind inzwischen
in England auf freiem Fuß. Gegen sie liege nichts vor,
meldet der „Spiegel“.
Man fragt sich im Einklang mit den Beschlüssen aus
der 59. Sitzung der MRK, zu welchen Reaktionen uns
der Terror im angeblich so freien und aufgeklärten Westen bringt, was wir von den für unsere Demokratien so
wichtigen bürgerlichen Freiheiten und Errungenschaften aufgeben und ob wir nicht genau so reagieren, wie es
die Drahtzieher des Ganzen wollen. Machen wir uns im
Hinblick auf Guantanamo Bay und die Diskussion über
die Anwendung der Folter - sei sie auch noch so sehr
durch übergeordnete Interessen begründet - nicht nolens
volens gemein mit Verbrechern, Terroristen und Staaten,
die wir in der MRK wiederum anklagen?
({8})
Ich jedenfalls bedauere es zutiefst, dass es nicht gelungen ist, zu diesem Thema einen gemeinsamen Antrag
vorzulegen.
({9})
- Bis Dienstagmittag dieser Woche hat es noch gut ausgesehen, Herr Funke. Erst kurzfristig wurde dann beschlossen, dass es doch nicht geht. Insbesondere vor dem
Hintergrund der Debatte über Guantanamo im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe am
11. Februar kann ich die ablehnende Haltung gegenüber
einem gemeinsamen Antrag - das sage ich speziell an
Sie gewandt, Herr Funke - nicht verstehen.
({10})
Der einzige Unterschied lag in der realistischen Einschätzung dessen, welche Initiativen auf EU-Ebene
möglich sind.
({11})
Da haben wir einen Konflikt. Wir meinen, dass es besser
ist, die Realität anzuerkennen, dass es wohl nicht gelingen wird, eine EU-Initiative auf den Weg zu bringen.
Ich begrüße umso mehr, dass die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Roth, dieses
Thema am Rande der MRK in Genf bei einem Treffen
mit der amerikanischen Delegation - Herr Funke, als
Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe wissen das auch Sie - ansprechen wird.
Ich denke, das macht deutlich, dass sich zumindest die
Koalition vor diesem heißen Eisen nicht scheut.
Herzlichen Dank für Ihr Zuhören.
({12})
Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrte Frau Kollegin Graf und Herr Kollege
Funke, wir liegen in der nüchternen Bewertung Guantanamos, in der Zielsetzung und gerade in der Klärung der
völkerrechtlichen Fragen nicht weit auseinander. Zwischen uns besteht auch kein Dissens darüber, dass sich
Freiheit nur dann verteidigen lässt, wenn man die Freiheit selbst nicht durch Maßnahmen der Freiheitsverhinderung gefährdet, und dass das Recht unstreitig zwar die
Fähigkeit zur Durchsetzung braucht, dass aber Macht
ohne Bindung an das Recht verhängnisvolle Wirkungen
entfalten könnte und kann.
Das gilt auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit
von Demokratien. Wir sprechen dies auch gegenüber unseren amerikanischen Freunden an. Das gewünschte Erreichen von Zielsetzungen muss sich zuweilen allerdings
auch am jeweiligen Tonfall messen lassen, gerade wenn
man entsprechend zementierte Abwehrhaltungen aufgrund gewisser Tonlagen bereits erfahren musste. In diesem Punkt unterscheiden wir uns.
({0})
Eine Menschenrechtsdebatte darf auch dazu dienen,
die generelle Einbettung von Menschenrechten in gelegentlich exklusiv erscheinende Politikfelder zu beleuchten. So setzt sich etwa die Außen- und Sicherheitspolitik selbst gern den Anspruch, die stete Verknüpfung mit
Menschenrechten zu suchen. Gefunden wird sie leider
allzu selten. Das gilt allerdings auch vice versa. Beides
dient dem jeweils anderen gelegentlich dankbar als Vehikel. Die Tragfähigkeit ist allerdings auf eher geringe
Lasten beschränkt.
Gerade der Kontext mit den neuen Bedrohungsszenarien lässt diese Beobachtung evident erscheinen. Menschenrechten wird zwar grundsätzlich und inbrünstig
eine überragende Bedeutung zugemessen - richtigerweise -; sie bilden jedoch gerade im Hinblick auf die
Asymmetrie der Bedrohungslagen oftmals ein allzu isoliert betrachtetes Kernelement, obwohl sie angesichts
der höchst aktuellen Sicherheitsdebatte, die wir gerade
in diesen Tagen führen, ein integraler und tragender Bestandteil eines strategischen Gerüstes sein müssten und
sein sollten.
Die großen Sicherheitsstrategien deuten dies an. Sie
lassen jedoch das unverzichtbare Zusammenwirken unterschiedlicher Leitansätze nur erahnen. Menschenrechte
definieren sich - das ist eine banale Feststellung - über
das Individuum. Darüber definiert sich in besonderem
Maße die Demokratie. Aus demokratischen Prozessen
erwachsen in der Regel verbesserte Sicherheitsstandards, solche, die auch den asymmetrischen Bedrohungen möglicherweise zu begegnen wissen.
Die Glaubwürdigkeit einer Demokratie erwächst
letztlich aus diesem Rückbezug auf das Individuum und
auf Menschenrechte. Wenn man also Demokratie als
höchste Errungenschaft, möglicherweise als Exportprodukt zu bezeichnen neigt, verpflichtet das umso mehr
zum behutsamen Umgang mit diesen Ausgangswerten.
In diesem Kontext wage ich Guantanamo zu nennen.
Das Defizit an trennscharfen Begrifflichkeiten
wächst. Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht der
Versuchung verfallen, der eben genannten Asymmetrie
der Bedrohungen gewissermaßen spiegelbildlich durch
vage Phrasen zu begegnen, Phrasen, die dann überaus
konkreten Maßnahmen zur Legitimation dienen müssen.
Der „Kampf gegen den Terror“ als Begriffspaar, so notwendig, so wichtig und so richtig er ist, ist in dieser Hinsicht ein Beispiel unter vielen. Flexibilität? Ja. Auch sie
ist notwendig. Aber es darf im Hinblick auf die Vereinten Nationen, wie Sie es genannt haben, keine unbestimmten Freifahrtscheine geben. Dieser Umstand wird
zwar vielfach beklagt. Aber die Konsequenz daraus
muss - auch für die Bundesregierung - sein, diese Beobachtung in den dringend erforderlichen Abgleich der jeweiligen Sicherheitsstrategien münden zu lassen und
eine klare Benennung nationaler Interessen, insbesondere unserer, daran anschließen zu lassen.
Es gilt, die Schwäche der Vereinten Nationen in dieser Hinsicht zu überwinden, aber auch - ebenfalls im
Hinblick auf die Bundesregierung - für Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Politikfeldern, insbesondere
zwischen den unterschiedlichen Ressorts, zu sorgen.
Kunduz ist gerade ein Beispiel, wie es nicht laufen
sollte.
Es bleibt zu hoffen, dass wir nicht erst die
120. Tagung der Menschenrechtskommission abwarten
müssen, um all diese Dinge auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt, Claudia Roth.
Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat ist die 60. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf von Licht und
Schatten geprägt. Schatten werfen vor allem die verbrecherischen Anschläge von Madrid auf die Kommissionssitzung. Sie stellen uns erneut vor die zentrale und
große Herausforderung, Terrorismus, der auf die Grundwerte unserer freien und offenen Gesellschaft zielt, entschlossen zu bekämpfen, aber - auch das ist Thema auf
der 60. Tagung der Menschenrechtskommission in Genf auf der Basis rechtsstaatlicher Mittel, der Menschenrechte und der Bürgerrechte. Der Zweck heiligt hier eindeutig nicht die Mittel. In diesem Zusammenhang sehe
ich auch den Umgang mit Verdächtigen, insbesondere
mit den Gefangenen in Guantanamo. Seien Sie sicher,
dass dieses Thema schon angesprochen worden ist!
({0})
Freiheit und Sicherheit müssen immer - das ist auch
ein zentraler Punkt unserer innenpolitischen Debatte die Balance halten. Wenn wir Sicherheit ohne Freiheit
wollen, dann werden wir beides verlieren. Die Terroristen hätten dann ihr Ziel erreicht. Genau über dieses
Thema wird im Rahmen einer von Mexiko eingebrachten Resolution in Genf debattiert. Die Menschenrechtskommission hat aber auch die Aufgabe, unmissverständlich klar zu machen, dass der Antiterrorkampf nicht als
Vorwand, nicht als Alibi in innenpolitischen Auseinandersetzungen dienen darf. Nach dem 11. September
2001 ist immer wieder behauptet worden, es gehe in
Tschetschenien, in Teilen Chinas und auch in Kolumbien
um den Antiterrorkampf. Aber das ist nur ein Vorwand.
Auch damit wird sich die Menschenrechtskommission
befassen.
Einen weiteren langen Schatten gerade in den letzten
Tagen wirft die gezielte, außergerichtliche Tötung von
Scheich Jassin. Das sorgt nicht nur in der Menschenrechtskommission für eine große Eskalationsgefahr. Die
Europäische Union hat mit ausdrücklicher Unterstützung
der Bundesregierung die Tötung als inakzeptabel und
unvereinbar mit dem Völkerrecht scharf kritisiert.
({1})
Gleichzeitig - das ist wichtig und knüpft an das an, worauf Frau Nickels hingewiesen hat - hat die EU aber jede
Form von Terrorismus und Gewalt verurteilt, hat Gewaltverzicht von allen Seiten eingefordert und hat darauf
bestanden, dass es im Nahen Osten nur eine politische
Lösung geben kann.
Ich möchte noch auf einen anderen Schatten hinweisen, den Herr Funke schon zu Recht beschrieben hat und
der auch auf der 60. Tagung der Menschenrechtskommission von Anfang an Realität ist, nämlich auf den Versuch einer scharfen Polarisierung, auf die große Gefahr
der regionalen Blockbildung sowie auf das wirklich aggressive und beleidigende Auftreten von besonders
„glaubwürdigen“ Menschenrechtsverteidigern wie den
Vertretern Kubas und Simbabwes sowie die außerordentlich scharfen Worte und Repliken Chinas.
Es gibt aber auch Licht und Hoffnung bei der Sitzung
der Menschenrechtskommission dieses Jahres. Das hat
ganz zweifellos eine sehr breit getragene Initiative von
Ministerinnen und hohen Repräsentantinnen hervorgebracht. Über 20 Ministerinnen und Delegationsleiterinnen haben eine umfassende gemeinsame Erklärung betreffend Gewalt gegen Frauen verabschiedet, in der
jede Form von Gewalt und jede Form von Diskriminierung gegenüber Frauen kritisiert werden, in der explizit
Frauenhandel angesprochen wird und in der deutlich gemacht wird, dass es für Gewalt gegen Frauen, für Menschenrechtsverletzungen an Frauen keine Begründung
gibt, auch nicht durch Religion, Kultur oder Tradition.
({2})
Es war für mich ein wirklich hoffnungsvoller Vormittag, als Ministerinnen aus allen Teilen dieser Welt zu
diesem Thema gesprochen haben: aus Ruanda, aus
Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt
Südafrika, aus dem Jemen, von den Philippinen, aus vielen europäischen Ländern. Es war auch ein gutes Signal,
dass unser bekanntermaßen männlicher Außenminister
auf die Bedeutung der Frauenrechte nicht zuletzt im Nation-Building-Prozess, zum Beispiel in Afghanistan, hingewiesen hat.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt:
Ja. - Frau Präsidentin, lassen Sie mich aber bitte doch
noch ein paar Punkte ansprechen.
Nein, ich lasse Sie keine Punkte mehr ansprechen. Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt:
Dann werde ich Ihnen alles das schriftlich nachreichen, was hier anzusprechen ist: die Bedeutung der Länderresolutionen, selbstverständlich die Unterstützung
der China-Resolution durch die Bundesrepublik und die
EU,
({0})
selbstverständlich die Unterstützung Tschetscheniens
- die EU wird die Tschetschenien-Resolution einbringen -, selbstverständlich die Unterstützung der Simbabwe- und der Sudan-Resolution und anderes.
Licht wird hoffentlich noch ein Besuch bringen, nämlich der Besuch des Menschenrechtsausschusses des
Deutschen Bundestages. Ich finde es außerordentlich
wichtig, dass wir auch als Parlament deutlich machen:
Wir ziehen an einem Strang, wenn es um die Menschenrechte geht. - Ich würde mir wünschen, weil mir das die
Arbeit international leichter machen würde, dass wir mit
den Hausaufgaben zu Hause anfangen und dass wir zum
Beispiel
({1})
endlich das Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention
unterzeichnen und dass wir die Vorbehalte zur Kinderkonvention zurücknehmen.
({2})
Das ist ein Appell an die Länder. Herr Kauder, bitte geben Sie das an Ihre Kollegen und Kolleginnen weiter!
({3})
Das würde die Glaubwürdigkeit sehr erhöhen.
Danke schön.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube nicht, dass die Rücknahme der Vorbehalte der
Bundesrepublik Deutschland zur Kinderrechtskonvention wirklich eine parteipolitische Angelegenheit ist. Nur so viel dazu.
({0})
Wie in der heutigen Debatte bereits deutlich geworden ist, stehen die Krise der Institution Menschenrechtskommission und die Krise im Menschenrechtsbereich
allgemein in einem direkten Zusammenhang. Beide bedingen einander und sind Ursache und Wirkung zugleich. Deutschland hat als Koordinator der Gruppe der
westlichen Länder bei der MRK eine besondere Verantwortung. Die MRK-Anträge, die heute vorliegen, weisen
viele Gemeinsamkeiten auf. Das ist positiv und zeigt
auch, dass zumindest unter den Menschenrechtspolitikern eine große Einigkeit über die Zielsetzung deutscher
Menschenrechtspolitik herrscht. Es wäre allerdings hilfreich, wenn die Bundesregierung deutlichen Äußerungen des Bundestags auch immer ebenso deutliche Äußerungen auf internationaler Ebene folgen lassen würde.
Einigkeit herrscht zum Beispiel beim Thema Afghanistan. Die Situation in Afghanistan - Frau Kollegin
Graf hat es schon angesprochen - ist trotz großer Fortschritte bei der Erstellung einer Verfassung nach wie vor
alles andere als gesichert. Das betrifft im Besonderem
die Rechte der Frauen. Es wird wirklich ein Lackmustest
für die neue Verfassung und ihre Umsetzung sein, ob die
darin verankerte Gleichheit von Mann und Frau Wahrheit wird.
({1})
Stabilität in Afghanistan ist eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität der gesamten Nahostregion; denn
die Liste der Krisenherde, in denen Menschenrechte eingeschränkt und nicht beachtet werden, scheint sich mehr
und mehr zu verlängern. Ich nenne die blutige Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern, die immer noch unsichere Situation im Irak und den sich verschärfenden Konflikt in der iranischen Gesellschaft.
Gerade im Iran ist Deutschland als ein wichtiger Handels- und Gesprächspartner gefordert. Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede vor der MRK darauf hingewiesen, die kürzlich im Iran durchgeführten Wahlen
seien - wörtlich - „nicht fair und frei“ gewesen. Der
vom Deutschen Bundestag einstimmig hierzu verabschiedete Antrag war um einiges deutlicher. Auch vom
Außenminister hätte ich mir an dieser Stelle etwas mehr
Deutlichkeit gewünscht.
Das gilt auch für den Bereich des Fernen Ostens.
Hier sind neben Defiziten im Strafrecht und in der Justiz
im Besonderen die Fragen von Glaubens- und Meinungsfreiheit, ob in Presse, Funk, Fernsehen oder den
neuen Medien, Dauerthemen der Menschenrechtsagenda. China, Vietnam, Nordkorea, aber auch kleinere
Länder wie Burma geben Beispiele dafür, wie mit politisch Andersdenkenden und religiös Andersgläubigen
umgegangen wird. Für meine Fraktion will ich hier noch
einmal festhalten, dass gerade die Durchsetzung der Religionsfreiheit als fundamentales Menschenrecht einen
herausragenden Schwerpunkt unserer Arbeit darstellt.
({2})
CDU/CSU und FDP setzen in ihrem Antrag noch einen weiteren geographischen Schwerpunkt, nämlich
Afrika, und hier im Speziellen das so genannte Subsaharagebiet. Die Liste der Länder, in denen nicht nur elementare Rechte verweigert werden, sondern auch Hunger, Not und Bürgerkrieg herrschen, ist mehr als lang.
Uganda, Sudan - hierzu liegt ein eigener Antrag vor, der
in Zusammenarbeit mit Kirchen und vor Ort tätigen
NGOs erarbeitet worden ist -, Kongo, Simbabwe und
viele andere Länder leiden an zerfallenden Staatsstrukturen, Failing States, und bürgerkriegsähnlichen Zuständen oder wirklichen Bürgerkriegen, bei denen die Gefahr, dass es zu Übergriffen gegen einzelne
Bevölkerungsgruppen bis hin zu tatsächlichen Genoziden kommen kann, sehr groß ist. Die Frage, wie die
Weltgemeinschaft mit den Failing States umgeht, ist
nicht nur aus menschenrechtlicher Sicht von entscheidender Bedeutung. Rechtsleere Räume und zerfallende
Strukturen bieten Nährböden für Gewalt, Hass und Terror. Wir sehen es als eine der herausragenden Aufgaben
der kommenden Jahre an, Strategien dafür zu entwickeln, wie Menschenrechte auch in den Failing States erhalten bzw. erstmals hergestellt werden können.
Deutschland und die Europäische Union haben hierbei
eine besondere Verantwortung.
({3})
Besondere Verantwortung muss die Europäische
Union aber auch noch auf einem anderen Gebiet wahrnehmen: bei den Ländern - das steht jetzt nicht direkt
auf der Tagesordnung, ich möchte es nur bei dieser Gelegenheit einmal ansprechen -, die durch das Mittelmeerabkommen mit Europa assoziiert sind, und bei allen tatsächlichen und potenziellen Beitrittskandidaten.
Die Situation in den Maghreb-Staaten, die in sehr
engen Beziehungen zur Europäischen Union stehen, ist
durch die schrecklichen Ereignisse im mittleren und südlichen Afrika aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Dies sollte allerdings für uns umso mehr Grund
sein, auf die Menschenrechtsverletzungen in den Bereichen Religions-, Glaubens- und Meinungsfreiheit sowie
bei Frauen hinzuweisen. Deutschland und die Europäische Union haben hierfür die Mittel und damit auch hier
eine besondere Verantwortung.
({4})
Diese Verantwortung erstreckt sich, wie bereits erwähnt, im besonderen Maße auch auf die EU-Beitrittskandidaten und solche, die es gerne werden wollen. Hier
gibt es durchaus deutliche Alarmzeichen: So hat das Europäische Parlament kürzlich besonders Rumänien wegen der mangelnden Umsetzung menschenrechtlicher
Standards gerügt; im außenpolitischen Ausschuss sind
sogar Forderungen nach Aussetzung der Beitrittsverhandlungen laut geworden.
Umso unverständlicher ist es dann für mich, dass in
Europa - auch noch mit der Stimme Deutschlands - beschlossen werden kann, auf ein Menschenrechtsmonitoring in Bezug auf die Türkei zu verzichten.
({5})
Wohlgemerkt: Die Fortschritte, die die Türkei bereits bei
der Implementierung von Menschenrechtsstandards gemacht hat, sind beträchtlich. Das ist unbestritten. Jetzt
jedoch den Druck zu lockern ist das falsche Zeichen zur
falschen Zeit.
({6})
Dafür klaffen Verfassungsnorm und gesellschaftliche
Realität zu weit auseinander.
Alles in allem ist es angebracht, die Frage, was
Deutschland bei der MRK tun kann oder was nicht, weiterhin auf der Tagesordnung zu haben. Deshalb beantragen CDU/CSU und FDP auch einen Bericht über die Tätigkeit der Bundesregierung bei der MRK, in dem
zeitnah dargestellt werden soll, inwieweit Beschlüsse
des Bundestages tatsächlich umgesetzt worden sind. Der
Antrag von CDU/CSU und FDP erhebt diese Forderung
an prominenter Stelle, um zu verdeutlichen, dass die
Frage der Menschenrechte dauerhaft auf der Agenda des
Bundestages stehen muss. Auch dies ist, neben vielen
anderen Gründen, ein wirklich guter Grund, diesem Antrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({7})
Die Kollegin Petra Pau hat ihre Rede zu Protokoll ge-
geben.1)
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungs-
punkt 7 a. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 15/2755 mit dem Titel „60. Tagung der Menschen-
rechtskommission der Vereinten Nationen - eine Chance
für die Menschenrechte“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der
Drucksache 15/2741 mit dem Titel „Stärkung der Menschenrechte in der internationalen Politik - zur
60. Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur „Stärkung der Menschenrechte in
Afghanistan“, Drucksache 15/2740. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2168 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 d. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/2509 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Für eine Reform und Stärkung der
Menschenrechtskommission“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/2174 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/
CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 e. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/2715 zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Den Friedensprozess im Sudan unterstützen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2152 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 f. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
auf Drucksache 15/2768 zu dem Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/2175 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die
Stimmen der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 4. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 15/2756 mit dem Titel „Für
die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und
Grundfreiheiten in Guantanamo Bay“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Johannes Singhammer, Klaus Hofbauer, KarlJosef Laumann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Klarstellung der Auswirkungen der EU-Osterweiterung
- Drucksache 15/2438 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen
Tagen - 36 sind es - werden zehn neue Mitgliedstaaten
der Europäischen Union beitreten. Damit vollzieht die
Gemeinschaft die in Umfang und Vielfalt größte Erweiterung in ihrer Geschichte.
({0})
Die EU-Osterweiterung ist ein historischer Schritt von
erheblicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller
Bedeutung.
Als Abgeordneter aus einer Grenzregion, die nur ein
paar Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt
ist, sage ich: Schon die letzten 14 Jahre seit Öffnung der
Grenze haben unserem Lande und auch den Grenzregionen insgesamt gut getan. Die EU-Osterweiterung wird
nach meiner Überzeugung ein großer Erfolg werden.
({1})
Eines muss uns aber bewusst sein: Die EU-Osterweiterung birgt Chancen und Herausforderungen zugleich.
Wir müssen einfach feststellen, dass es noch erhebliche
Unterschiede gibt, die wir zu bewältigen haben.
Einer der zentralen Punkte, bei denen man der Bundesregierung Versäumnisse in den letzten Jahren vorwerfen kann, ist die Informationspolitik bezüglich der EUOsterweiterung.
({2})
Es sind noch viele Fragen offen. Die Menschen sind verunsichert; denn es wird ihnen keine Antwort gegeben.
Ich möchte deswegen bei dieser Gelegenheit denen
danken, die sich um die Beantwortung dieser Fragen in
den letzten Jahren bemüht haben. Ich denke an unsere
Kommunalpolitiker, an unsere Verbände und an die
Kammern. Hier ist bereits viel geschehen. Die wenigsten
Initiativen sind allerdings von dieser Bundesregierung
ausgegangen.
({3})
Wir müssen daher feststellen, dass wir sehr unvorbereitet
in diese Erweiterung gehen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat deswegen diese Große
Anfrage eingereicht. Wir haben Fragen zusammengefasst, die die Menschen an uns herangetragen haben und
die sie bewegen. Ich bedauere sehr, dass eine zeitnahe
Beantwortung dieser Fragen durch die Bundesregierung
nicht möglich gewesen ist.
({4})
Wir hätten gerade die kommenden Wochen nutzen können, Informationen an die Bevölkerung weiterzugeben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir viel zur Aufklärung hätten beitragen können.
Ich bedauere auch, feststellen zu müssen, dass die
Akzeptanz der EU-Osterweiterung immer mehr sinkt.
Eine Befragung, die im Oktober 2003 durchgeführt
wurde, hat ergeben, dass die Zustimmung zur Erweiterung in Deutschland nur noch 46 Prozent beträgt. Am
Anfang des Jahres 2003 waren es noch 59 Prozent. Innerhalb von wenigen Monaten ist die Akzeptanz der EUOsterweiterung um fast 20 Prozent gesunken. Deswegen
müssen wir einige Akzente setzen.
In vier Bereichen gibt es Handlungsbedarf. Ich nenne
den Ausbau der Infrastruktur, die Aufrechterhaltung der
Sicherheit - auch dieses Thema bewegt die Menschen -,
die Arbeitsmarkt- und die Wirtschaftspolitik sowie die
Strukturpolitik und die Strukturförderung.
Heute Nachmittag gab es im Deutschen Bundestag
eine ausführliche Diskussion über die Verkehrspolitik.
Der Herr Verkehrsminister wollte uns weismachen, dass
die Bundesregierung alles für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur getan hat. Fehlanzeige!
({5})
Die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ist gescheitert. Bis 1998 sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ kraftvoll und äußerst erfolgreich vorangetrieben
worden. Deswegen zählt Ihr Argument überhaupt nicht.
Man weiß seit Jahren, dass die EU-Osterweiterung kommen wird. Aber man hat im Bereich der Verkehrspolitik
nur wenig dafür getan.
({6})
Wir werden im Rahmen der Debatte über den Bundesverkehrswegeplan die Defizite der Bundesregierung aufzeigen und einen entsprechenden Antrag stellen.
Ich möchte auch die Bahn ansprechen. Bei der Bahn
ist im Rahmen der EU-Osterweiterung überhaupt nichts
passiert. Wir müssen feststellen, dass der Verkehr an der
Grenze zu Tschechien von der Schiene auf die Straße
verlagert wird, weil die Zusammenarbeit überhaupt nicht
funktioniert.
Ich bitte darum, auch das Thema Sicherheit in den
Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen. Dies
möchte ich jetzt nicht näher ausführen.
Ich darf aber eines sagen: Ein Problem, das wir zurzeit im Rahmen der EU-Osterweiterung haben, ist die
verheerende Arbeits- und Wirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung.
({7})
Wegen der schlechten Wirtschaftsdaten haben sich die
Sorgen und Ängste im Hinblick auf die EU-Osterweiterung gewaltig verstärkt. Wenn wir eine andere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik
({8})
hätten, würden wir die Akzeptanz der EU-Osterweiterung gewaltig nach vorne bringen.
({9})
In diesem europäischen Einigungsprozess wird natürlich die Strukturpolitik eine ganz entscheidende Rolle
spielen. Ich möchte dazu feststellen: Was die zukünftige
europäische Strukturpolitik anbelangt, ist die Bundesregierung nicht vorbereitet. Die Bundesregierung hat zum
Beispiel zum Kohäsionsbericht, der seit drei, vier Wochen vorliegt, keine Meinung. Sie sagt nicht, welche
Konsequenzen man daraus zieht. Die Strukturpolitik
wird im Rahmen der EU-Osterweiterung eine ganz entscheidende Rolle spielen.
Was hat man gemacht? Man wollte im vergangenen
Haushaltsjahr die Mittel für die GA „West“ streichen
bzw. ganz ad acta legen. Das kann nicht hingenommen
werden. Wir müssen also gerade im Bereich der Strukturpolitik, die in den nächsten Jahren im Rahmen der
EU-Osterweiterung eine entscheidende Rolle spielt,
Fehlanzeige feststellen.
Lassen Sie mich meine Aussagen zusammenfassen.
Folgende Punkte sind entscheidend - die müssen wir
angehen, um die Akzeptanz der EU-Osterweiterung zu
verstärken -: erstens Ausbau der grenzüberschreitenden
Verkehrsinfrastruktur einschließlich Bahnvernetzung,
zweitens Förderung des Zusammenwachsens der Arbeits- und Wirtschaftsmärkte - es kommt nichts von allein; wir müssen den Prozess gestalten und dürfen uns
nicht einfach von den Dingen abwenden -,
({10})
drittens konsequente Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und schließlich Unterstützung der
Grenzregionen.
Das Thema EU-Osterweiterung ist nicht mit dem
1. Mai dieses Jahres abgeschlossen. Deutschland braucht
eine umfassende Informations- und Aktionskampagne.
Von der rot-grünen Bundesregierung gehen dazu zurzeit
zu wenig Impulse und Initiativen aus.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Staatsminister Hans Martin
Bury.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute Abend auf der Grundlage einer Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion über die
Erweiterung der Europäischen Union. Ich muss Ihnen
sagen, dass ich nicht im Wortsinne von einer „großen“
Anfrage sprechen würde. Denn das, was Sie hier vorgelegt haben, folgt einmal mehr dem bekannten Muster Ihrer Oppositionsarbeit nach dem Motto: Ja, aber. Dann
folgt eine nicht enden wollende Liste von Einwänden,
Bedenken, Mahnungen.
Lassen Sie mich deshalb zu Beginn dieser Debatte
unmissverständlich sagen: Ja, Deutschland freut sich auf
die Einigung Europas.
({0})
Wir heißen die neuen Mitgliedstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger in der erweiterten Europäischen Union
herzlich willkommen.
({1})
Wir spüren, was Willy Brandt mit Blick auf die deutsche Wiedervereinigung in die Worte fasste: Jetzt wächst
zusammen, was zusammengehört.
Wir haben die einmalige, wirklich historische
Chance, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Zusammenhalts zu bauen. Deutschland mit seiner Position im Herzen Europas kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Kein Land wird aller Voraussicht nach so
sehr von den positiven Wirkungen der EU-Erweiterung
profitieren wie Deutschland.
({2})
Schon heute übersteigt unser Handel mit den mittel- und
osteuropäischen Staaten den mit unserem traditionell
wichtigsten Handelspartner USA: Die Dynamik in den
neuen Mitgliedstaaten ist ungebrochen. Ich wünschte
mir in den Reihen der Opposition mitunter etwas von
dieser Aufbruchstimmung, dieser Risikobereitschaft und
diesem Willen, gemeinsam Verantwortung für notwendige Reformen zu übernehmen.
({3})
Niemand bestreitet die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Aber die Bundesregierung und die Regierungskoalition belassen es nicht bei der Beschreibung
von Problemen. Mit der Agenda 2010
({4})
nehmen wir die Herausforderungen der Globalisierung,
des demographischen Wandels und des technologischen
Fortschritts an. Der Bundeskanzler hat das heute Morgen
in seiner Regierungserklärung eindrucksvoll verdeutlicht.
Es besteht kein Zweifel: Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, aber auch Europas insgesamt verbessern. Das ist unter anderem Thema des
Europäischen Rates, der heute Abend in Brüssel zusammengekommen ist. Wir leisten unseren Beitrag - national und zugleich für Europa insgesamt - mit der
Agenda 2010, mit der gezielten Stärkung von Bildung,
Forschung und Entwicklung sowie neuer Technologien.
Also mit der Verbesserung der strukturellen Voraussetzungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in
Deutschland und Europa.
({5})
Das ist die Antwort auf Standortkonkurrenz in internationalem Maßstab: nicht osteuropäische Löhne und
asiatische Sozialstandards, sondern ein global wettbewerbsfähiges Europa, ein Europa, das Mindeststandards im Sozialen und beim Umweltschutz verpflichtet
ist. Die Erfahrung zeigt und die Dynamik in den neuen
Mitgliedstaaten unterstreicht es: Mit der Perspektive auf
wachsenden Wohlstand wächst auch der Anreiz für die
Menschen, dort zu bleiben, und sinkt zugleich die Kostendifferenz.
Aber was den Steuerwettbewerb betrifft, sage ich Ihnen klipp und klar: Wir sollten es nicht unterstützen,
wenn Länder ihre Steuersätze so weit reduzieren, dass
sie nicht mehr genügend Einnahmen generieren, um die
eigene Infrastruktur zu entwickeln, und dabei zugleich
die Erwartung hegen, diese Infrastruktur mithilfe von
Transferzahlungen auszubauen, die Länder wie Deutschland speisen müssen.
Sorgen vor einem Verdrängungswettbewerb auch auf
dem Arbeitsmarkt kann und muss man mit dem Hinweis
begegnen, dass gerade die Bundesregierung von Anfang
an sichergestellt hat, dass eine unfaire Konkurrenz durch
geeignete Übergangsvorschriften verhindert wird.
Diese sind flexibel genug, um sie an die Entwicklung bedarfsgerecht anzupassen.
({6})
Dem Standortwettbewerb begegnen wir nicht mit
Jammern, sondern mit Handeln. Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, sollten mitmachen.
({7})
Wenn Sie die Sorgen artikulieren, die es unbestreitbar
gibt, so ist das in Ordnung. Vorausgesetzt, Sie beteiligen
sich konstruktiv daran, die Themen nicht nur zu benennen, sondern auch die damit verbundenen Probleme zu
lösen. Sie beklagen etwa - wie Herr Hofbauer es gerade
getan hat - die Gefahr zunehmender Kriminalität. Ich
bin mir sehr bewusst, dass es hinsichtlich dieses Themas
Ängste gibt. Umso mehr muss ich Sie auffordern, in den
Bundesländern, in denen Sie Verantwortung tragen, die
Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen nicht länger zu
blockieren. Der europäische Haftbefehl würde Auslieferungen von Straftätern wie Terroristen oder Menschenhändlern innerhalb Europas wesentlich erleichtern und
beschleunigen. Ermittlungsergebnisse und Vernehmungen könnten schneller zusammengeführt, Straftaten besser aufgeklärt oder sogar verhindert werden.
({8})
Es ist in Europa nicht erklärbar, dass Sie hier wegen Details blockieren. Es ist auch nicht verantwortbar, dass Sie
hier blockieren.
({9})
Europa - das haben spätestens die schrecklichen Anschläge in Madrid deutlich gemacht - muss und kann nur
gemeinsam die notwendige Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger erfolgreich gewährleisten. Denn organisierte Kriminalität macht an nationalen Grenzen schon
lange ebensowenig Halt wie internationaler Terrorismus.
Auch hier hilft uns Kleinstaaterei nicht weiter, sondern
mehr Kooperation sowie entschiedenes und zugleich
besonnenes Handeln.
Die Anschläge in Madrid waren Anschläge auf die
Werte, die wir alle in Europa teilen. Umso wichtiger und
drängender ist es, zu einer Einigung über eine europäische Verfassung zu kommen, die diesen gemeinsamen
Werten und Zielen Ausdruck verleiht und einen Rahmen
schafft, um diese Werte und Ziele in europäischer Politik
zu realisieren.
Heute Abend beraten die Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union auch darüber, wie wir die erweiterte EU handlungsfähig erhalten, wie wir ihre demokratische Legitimation stärken, ihre Institutionen und
Entscheidungsprozesse effizienter und transparenter machen können, kurz gesagt: wie wir Europa in die Lage
versetzen, die berechtigten Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen. Wir haben Anlass zu Optimismus. Denn es gibt die realistische Chance, die Regierungskonferenz zu einem erfolgreichen Abschluss zu
führen. Deutschland unterstützt die irische Präsidentschaft nach Kräften auf diesem Weg. Unser Ziel ist ein
starkes und bürgernahes Europa, ein Europa in guter
Verfassung.
({10})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk von der FDPFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Mai ist es so weit. Dann wird
Europa größer. Dann wird ein neues Kapitel in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses aufgeschlagen. Europa überwindet endlich die Spaltung. Das
ist wirklich ein Ereignis von historischer Dimension.
Natürlich eröffnen sich durch die Osterweiterung große
Chancen für Deutschland.
Aber große Worte allein, Herr Staatsminister Bury,
bringen uns nicht weiter. Man muss schon etwas dafür
tun, dass Chancen entstehen, und die Folgen sehen. Man
kann die Dinge nicht einfach dem Selbstlauf überlassen.
Wir sind doch kein Nachtwächterstaat.
({0})
- Da müssen Sie stark differenzieren. Ein Nachtwächterstaat ist etwas ganz anderes.
({1})
Wir sollten endlich einmal vor dem Schaden klug
sein. Es ist wirklich unverantwortlich, dass kurz vor der
EU-Erweiterung noch so viele Fragen ungelöst sind. Sie
werden nicht gestellt, weil wir Sie ärgern wollen, sondern weil die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht
gemacht hat.
Zum Beispiel stellt sich im Bereich der Sozialsysteme die Frage, ob Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten weiterhin ihre im Heimatland lebenden Familienmitglieder kostenfrei mitversichern können und wie hoch
die Kosten für Kinder- und Erziehungsgeld sind. Die
Bundesregierung hat geantwortet, von den deutschen
Krankenkassen flössen 14 Millionen Euro ins Ausland;
in umgekehrter Richtung sei es 1 Million Euro. Das ist
ein starkes Missverhältnis. Man ist offensichtlich davon
ausgegangen, dass sich das irgendwie ausgleiche. Beim
Kindergeld waren es bisher 120 Millionen Euro jährlich.
Es geht also darum, wie die Bundesregierung sicherstellt, dass Anreize zur Inanspruchnahme der Systeme
der sozialen Grundsicherung vermieden werden, ohne
dass die neuen Unionsbürger diskriminiert werden. Auch
diese Auswirkungen sind schnellstens zu klären, damit
keine weitere Überdehnung des deutschen Sozialsicherungssystems erfolgt. Das muss man einfach einmal ansprechen.
Kann man neben zunehmender Abwanderung von
Arbeitnehmern eine weitere Zunahme der Abwanderung
von Unternehmen wegen des drastischen Steuergefälles
in Kauf nehmen? Es geht doch nicht darum, ob die Beitrittsstaaten ihre Steuern erhöhen, sondern darum, ob wir
sie senken, damit nicht abgewandert wird.
({2})
Auch im Bereich der Infrastruktur ist bisher zu wenig
passiert. Es gibt keine durchgehenden Autobahnverbindungen von Deutschland nach Tschechien oder nach Polen. Die Tschechen sind zwar fertig, aber Nürnberg
hängt noch. Das betrifft auch den Grenzraum. Es ist
doch wirklich das Einmaleins der Wirtschaftspolitik,
dass Infrastruktur die Grundlage für Ansiedlungen ist.
Außerdem gibt es bislang keinen gemeinsamen Aktionsplan von Grenzschutz- und Zollbehörden. Es
wird einfach davon ausgegangen, dass am 1. Mai die
Grenzkontrollen wegfallen. Wir wissen aber, dass die
Personenkontrollen weiterhin notwendig sind und dass
mehr Fahrzeuge ankommen. Da muss man schon im
Vorhinein etwas tun. Es wird am 1. Mai nicht ganz so
einfach werden. Da muss man gestalten und sich nicht
einfach wundern, dass es nicht klappt.
({3})
Es stellt sich also die Frage, wie die Kontrollen ab
dem 1. Mai gestaltet werden sollen. Einerseits soll es nur
noch Personenkontrollen geben; andererseits werden wir
mit mehr Verkehr rechnen müssen.
({4})
Was wird zum Beispiel mit dem Grenzübergang Forst an
der Grenze zu Polen? Am 1. Mai wird das Problem nicht
gelöst sein. Wir kennen das Theater zu der Frage, wer
die Kosten für den Stauraum Preschen trägt. Das muss
vorher geklärt werden.
Es ist sicher, dass man den Folgen der EU-Erweiterung mit intensiver grenzüberschreitender Wirtschaftskooperation begegnen kann und muss. Das ist das
Mittel. Wir müssen über unsere Grenzen hinweg kooperieren.
Umso unverständlicher ist, dass die Deutsch-Polnische Wirtschaftsfördergesellschaft ab 2005 nicht mehr
gefördert wird. Das ist unverantwortlich. Diese Förderung würde nur ein paar Cent kosten. Obwohl die EUErweiterung jetzt erst richtig losgeht, fördert man sie
nicht mehr. Genau dann, wenn man die Deutsch-Polnische Wirtschaftsfördergesellschaft AG brauchen würde,
wird sie fallen gelassen und kann daher nicht mehr eingesetzt werden. Das ist nicht nachvollziehbar und kontraproduktiv; denn die EU-Osterweiterung wird, wie
schon gesagt wurde, am 1. Mai dieses Jahres nicht abgeschlossen, sondern sie fängt dann erst richtig an.
Nachdem aus der EU-Gemeinschaftsaktion für
Grenzregionen vom Juli 2001 - das war ja eigentlich
die Lösung der EU; dadurch sollte die Anpassung der
Grenzregionen vollzogen werden - nichts geworden ist,
wird ein bisschen Geld für Polnischkurse zur Verfügung
gestellt. Ich möchte nichts gegen Polnisch- und Tschechischkurse sagen. Aber es kann ja wohl nicht sein, dass
wir uns mit einer solchen Gemeinschaftsaktion für
Grenzregionen der EU zufrieden geben.
Es hätte eine wirkliche Gemeinschaftsaktion der EU,
der Bundesregierung, der Länder und auch der Regionen
werden müssen. Daher bin ich mir sicher, dass man hier
nachbessern und für diese Wachstumsregionen - so sind
die Grenzregionen genannt worden - etwas tun muss.
Hier muss schnellstens - das ist unser Vorschlag - eine
deutsch-polnische und eine deutsch-tschechische Eingreiftruppe eingesetzt werden
({5})
- bis zum 1. Mai dieses Jahres ist ja nicht mehr viel Zeit -,
die sich mit den praktischen Auswirkungen befasst und
entsprechende Maßnahmen umsetzt. Dabei sollten die
Grenzräume bei Nutzung der vorhandenen Euroregionen als grenzüberschreitende Wirtschaftsräume, als Modellregionen, betrachtet werden.
In den lange überfälligen Grenzlandkonzepten - sie
fehlen - müssen über Steuern, Infrastruktur und Bürokratieabbau Anreize geschaffen werden. Das ist offen.
Wir wollen, dass die Euroregionen mehr Spielraum bekommen und dass das nicht nur von der Bundesregierung gemacht wird. Aber hier müssen Freiräume für sie
geschaffen werden.
Herr Kollege Türk, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Das gibt es übrigens schon. Ich meine das Karlsruher Abkommen zwischen Deutschland, Luxemburg,
Frankreich und der Schweiz. Dort ist dies praktiziert
worden.
({0})
Ich frage mich, warum das nicht auch an der EU-Außengrenze möglich sein kann und soll.
({1})
Nun sind Sie zufrieden.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock
vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist beruhigend und schön, festzustellen, wie einig wir
uns über die Bedeutung der Osterweiterung und auch bei
der Formulierung der positiven Sonntagsbotschaften, die
wir bei solchen Anlässen immer nach außen verkünden,
sind. Was mich an dieser Debatte aber stört, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ist, dass man
nicht das Gefühl hat, dass Sie an einer Lösung der siRainder Steenblock
cherlich noch vorhandenen Probleme tatsächlich interessiert sind, sondern dass Sie solche Debatten initiieren,
um sie für Ihre doppelbödige Botschaft zu nutzen.
({0})
Auf der einen Seite sagen Sie immer, dass Sie für die
Osterweiterung sind und ihre Chancen nutzen wollen.
Aber durch die Art und Weise, wie Sie debattieren, senden Sie auf der anderen Seiten unterhalb dieser Ebene
folgende Botschaften aus: Das alles ist ganz schwierig.
Es bestehen große ökonomische Probleme. Sie sprechen
von einer Belastungssituation. Die Frage ist daher, ob
das Vorgehen überhaupt richtig ist.
({1})
- Nein, Sie lassen sich nicht darauf ein, dass es eine positive Grundlage gibt, um die Probleme zusammen zu lösen, sondern Sie mäkeln und reden die historische
Chance, die unsere Wirtschaft hat, schlecht, anstatt die
positiven Impulse der Osterweiterung voranzutreiben.
({2})
- Herr Türk, dass kann ich Ihnen anhand der Position,
die Sie gerade vorgetragen haben, deutlich machen. Sie
haben von einem Nachtwächterstaat geredet. Das einzige, was einem Liberalen dazu einfällt, ist, an staatliche
Fördertöpfe zu appellieren. Das versteht ein Wirtschaftsliberaler anscheinend unter einem aktivem Staat; darum
geht es Ihnen. Das, was Sie der Bundesrepublik ständig
vorwerfen, ist, dass sie nicht genug Geld an die Unternehmer verteilt, damit sie ihre Profite einigermaßen abgesichert realisieren können.
({3})
- Nein, ich will auch gerne konkret werden: Sie haben
über die Deutsch-Polnische Wirtschaftsfördergesellschaft gesprochen und bemängelt, dass die staatlichen
Zuschüsse an dieser Stelle nicht mehr so fließen wie in
der Vergangenheit. Schauen Sie einmal nach Österreich: Die Wirtschaftsförderungsgesellschaften, die den
österreichisch-tschechischen Grenzraum bedienen - also
genau die gleiche Aufgabe haben -, haben es mittlerweile geschafft, sich aus den Beiträgen der Unternehmen
selber zu finanzieren. Das sind Unternehmer, die tatsächlich versuchen, etwas zu leisten, und nicht Unternehmerinnen und Unternehmer, die immer nur auf staatliche Zuschüsse schielen, sich alimentieren lassen und
eine beamtenmäßige Unternehmermentalität ausleben.
So wollen wir keine Politik gestalten: Wir wollen doch
keine Abhängigkeit vom Staat schaffen! Wir setzen darauf, dass diese Leute ihr Schicksal selber in die Hand
nehmen.
Herr Kollege Steenblock, erlauben Sie eine Frage des
Kollegen Scheuer?
Nein, bei der kurzen Zeit, die ich noch habe: Tut mir
Leid, wir können das gerne nachher besprechen.
Es wird Ihnen nicht auf Ihre Zeit angerechnet.
Stimmt, Entschuldigung. Wenn es nicht von meiner
Zeit abgeht,
({0})
dann können Sie natürlich gerne.
Ich stoppe die Uhr, Sie können das feststellen.
Danke schön.
Das ist sehr nett, Herr Kollege.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sie, Herr Steenblock, fordern die Opposition auf, Möglichkeiten zum Handeln aufzuzeigen. Der Bundeskanzler hat eine solche Möglichkeit zum Handeln offenbar
auch erkannt, nämlich im Jahr 2000 in Weiden, wo er ein
Förderprogramm für die Grenzregionen angekündigt
hat - Sie haben ein solches gerade verneint. Der Bundeskanzler hat wortwörtlich gesagt: „ein vernünftiges, auch
materiell unterlegtes Programm der Förderung der
Grenzregionen“. - Der Herr Kollege Ludwig Stiegler hat
sich schon gefreut und zu Hause verkündet, dass ein Förderprogramm kommen wird. Aber es ist bei der Ankündigung und beim Versprechen geblieben. - Was sagen
Sie denn dazu, dass der Bundeskanzler die Notwendigkeit erkannt hat, ein Förderprogramm aufzustellen?
Lieber Kollege, wenn ich Sie richtig verstanden habe,
haben Sie sich auf eine Äußerung aus dem Jahre 2000
bezogen.
({0})
Einige Kollegen haben zu Recht auf die Herausforderungen hingewiesen, vor denen wir jetzt stehen. Wenn Sie
den Erweiterungsprozess verfolgt haben, dann dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass wir diese Herausforderungen unter den Bedingungen der Strukturfonds meistern müssen. Das sind die Förderinstrumente, die wir
jetzt, gerade für die Grenzregionen, nutzbar machen
müssen. Ich will jetzt nicht noch einmal die Debatten des
Jahres 2000 führen: Mit den Strukturfonds haben wir für
2004 bis 2006 neue Förderstrukturen, besonders für die
Beitrittsländer, aber auch für die ostdeutschen Bundesländer.
In den östlichen Ländern, gerade in Polen, haben wir
aber auch das Problem, dass solche regionalen Kooperationen auf polnischer Seite dadurch erschwert werden,
dass dort noch sehr viel zentralstaatliche Regulierung
stattfindet, wodurch Partnerschaften in den Grenzregionen etwas behindert werden. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass die Förderstrukturen auf beiden Seiten der
Grenze kompatibler werden. Durch die Strukturfondsmittel haben wir jetzt die Möglichkeiten, das auch zu
realisieren. Deshalb glaube ich, dass wir da in der Zukunft - auf die sollten wir uns beziehen - gute Chancen
haben.
({1})
- Bayern auch, ja.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Stichwort
Euro-Regio ist gefallen, ich glaube, auch von Ihnen,
Herr Türk. Das sind Instrumente, die ich sicherlich sehr
unterstütze. Wir haben an Schleswig-Holsteins Westgrenze sehr positive Erfahrungen damit gemacht. Solche
Ansätze werden schon diskutiert, aber sie müssen aus
der Region heraus entwickelt werden; Sie wissen sehr
gut, dass es keine Aufgabe der Bundesregierung ist, solche Euro-Regios zu implementieren. Euro-Regios sind
Regionen, die Bottom-up, also von unten, wachsen müssen; nur dann machen sie auch einen Sinn. Solche EuroRegionen im Bereich der deutsch-polnischen und der
deutsch-tschechischen Grenze zu realisieren ist sicherlich etwas ausgesprochen Positives und Unterstützenswertes.
({3})
- Es reicht nicht aus, es ist aber ein Instrument, das wir
unterstützen und stärken wollen und in dem wir auch positive Aspekte sehen.
Sie haben gesagt, vieles sei nicht passiert. Wenn Sie
sich aber einmal anschauen, wie sich insbesondere der
Handel zwischen Deutschland und Polen, aber auch
zwischen Deutschland und den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern entwickelt hat, dann stellen Sie
fest, dass die Osterweiterung langfristig politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität nicht nur in diesen
Ländern erzeugen wird, sondern dass gerade Deutschland als Exportnation sehr stark von der Osterweiterung
profitieren wird. Wie kein anderes EU-Land werden wir
von der Osterweiterung profitieren. Schon jetzt werden
10 Prozent unseres Außenhandels mit dieser Region abgewickelt. In diesem Bereich hat sich unendlich viel bewegt. Diese Bewegung wollen und werden wir weiterhin
unterstützen. Der Export in diese Länder ist mittlerweile
umfangreicher als der Export in die Vereinigten Staaten.
Sie müssten eigentlich wissen, dass die Auslagerung
von Produktionskapazitäten in vielen Fällen Arbeitsplätze in Deutschland stabilisiert und neue Ausbildungsund Produktionsstätten generiert.
({4})
Diesen Zusammenhang stellen Sie häufig überhaupt
nicht dar. Natürlich brauchen wir auch Standorte deutscher Unternehmen in den mittel- und osteuropäischen
Ländern, damit sie dort marktnah produzieren können.
Das hilft uns weiter. Ich glaube, dass wir uns auf einem
guten Weg befinden. Wir sollten - damit die Botschaft in
den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern ankommt - gemeinsam sagen: Wir wollen diese Kooperation. Wir sollten nicht ständig daran rummäkeln, sondern
die offenen Fragen gemeinsam lösen.
Wir sind motiviert und bei uns herrscht die Bereitschaft zur Kooperation vor. Wir widmen uns dem Projekt der Osterweiterung mit aller politischen und ökonomischen Kraft. Das ist die zentrale Aufgabe unserer
Politik.
Danke.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Veronika Bellmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Steenblock, wenigsten war Ihr Vortrag engagiert. Ich lade Sie und Herrn Bury herzlich in die
Grenzregion nach Ostdeutschland ein, damit Sie einmal
das Reale sehen und nicht nur das, was man sich in rosaroten Farben ausmalt. Die Realität sieht nämlich ganz
anders aus.
({0})
- Regen Sie sich nicht so auf! Ich erzähle Ihnen gleich,
was Sie daraus folgern können.
({1})
Ich möchte zu diesem Thema eine nüchterne Analyse
vorstellen, nämlich die in Ostdeutschland vorherrschende. Einerseits gibt es die konkrete Hoffnung auf
eine Verbesserung der Situation in den neuen Ländern
durch die EU-Osterweiterung. Darin haben Sie durchaus
Recht. Andererseits gibt es aber auch diffuse Ängste bei
der realistischen Einschätzung der Probleme und eine
schwer überschaubare Gemengelage von Befürchtungen. Diese Ängste und Befürchtungen kann man nicht
einfach wegreden oder negieren, sondern man muss sie
analysieren und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
({2})
Eigentlich sollte das die Bundesregierung machen. Dazu
ist sie aber wahrscheinlich weder willens noch in der
Lage.
({3})
Da wir das machen wollen und spätestens ab der
nächsten Förderperiode ohnehin in der Regierungsverantwortung sind, machen wir jetzt eine Analyse und ziehen daraus die richtigen Schlussfolgerungen.
({4})
Eine solche Analyse der möglichen Auswirkung der EUOsterweiterung ist für die neuen Länder von zentraler
Bedeutung. Von der konkreten Ausgestaltung der zukünftigen Strukturpolitik in den Jahren 2007 bis 2013
sowie der wirtschaftlichen Behauptung gegenüber den
neuen Mitgliedern hängt nämlich viel ab.
In dem am 18. Februar 2004 vorgelegten 3. Kohäsionsbericht der EU-Kommission sind die möglichen
Folgen für die neuen Länder sehr deutlich dargestellt
worden. Dadurch rückten sie ins öffentliche Interesse.
Konkret zur Analyse im Bereich Wirtschaft und Arbeitsmarkt: Die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion sieht in der EU-Osterweiterung vor allem Vorteile,
die Öffentlichkeit hat eher Ängste, zum Beispiel wegen
einer möglichen hohen Zuwanderung von Arbeitskräften
aus den Beitrittsländern, einer Verdrängung heimischer
Arbeitnehmer, einer verstärkten Konkurrenz im primären und tertiären Wirtschaftssektor durch kostengünstigere Anbieter aus den Beitrittsländern oder die Verlagerung von Produktionsstätten in die Beitrittsländer.
Aufgrund einer Erhöhung des Einkommensniveaus in
den Beitrittsländern hofft man - das gehört zu den indirekten Wirkungsfaktoren - auf eine stärkere Güternachfrage. Außerdem hofft man darauf - ich glaube, dass das
in Einzelfällen begründet ist -, dass Deutschland insgesamt durch vermehrte Exporte profitieren kann.
Für die Unternehmen in Ostdeutschland zählt das
aber kaum, da sich viele Firmen auf Marktsegmente spezialisiert haben, die denen in den Beitrittsländern entsprechen. Dort kann allerdings zu geringeren Kosten
produziert werden. Es ist deshalb zu erwarten, dass die
ostdeutschen Firmen dem Wettbewerbsdruck nicht
standhalten können.
Die Auswirkungen der Erweiterung auf die Arbeitsmärkte in den neuen Ländern hängen von wichtigen Faktoren ab. Zunächst ist entscheidend, wie die Unternehmen auf den verstärkten Wettbewerbsdruck reagieren
und ob sie ihm gewachsen sind; dies habe ich eben bereits angesprochen. Es ist allerdings zu erwarten, dass in
den lohnintensiven Branchen diesem Druck nicht standgehalten werden kann und eine Abwanderung von Unternehmen aus Ostdeutschland in die Beitrittsländer somit durchaus möglich ist. Wir in Ostdeutschland haben
eine nur sehr geringe Unternehmensdichte. Wenn davon
noch welche abwandern, ist das für unsere Wirtschaft
tödlich.
Was sind nun die notwendigen Maßnahmen? Wir
wollen nicht nur analysieren, sondern auch Maßnahmen
vorschlagen.
({5})
Erster Punkt. Wir müssen flexible Arbeitsmarktstrukturen schaffen und vor allem bei Unternehmensgründungen bürokratische Hemmnisse abbauen. Wir haben heute früh in der Regierungserklärung gehört, dass
der Kanzler dazu in der nächsten Woche wieder einmal
ein Machtwort sprechen will. Ich sage es einmal mit den
Worten meines Kollegen Riesenhuber: Das ist wieder
ein erneuter Fall von Kanzlerdämmerung.
({6})
Herr Riesenhuber sagte: Es dämmert und dämmert und
dämmert und wird nicht hell. Vielleicht sollte man dem
Kanzler einmal sagen, er soll etwas Konkretes dazu vorlegen.
({7})
Als zweiten Punkt möchte ich den weiteren Ausbau
der Infrastruktur vor allen Dingen im Verkehrsbereich nennen; auch das ist heute schon angesprochen
worden. In meinem Wahlkreis gibt es ein ganz konkretes
Objekt, nämlich die Ortsumgehung Marienberg als direkte Verbindung von Sachsen nach Tschechien. Herr
Stolpe sagt, dass es im Jahr der Erweiterung keine neuen
Projekte gebe. Man könnte sagen, er wird seinem Namen
durchaus gerecht: Er stolpert von einem Schlagloch ins
andere.
({8})
Nun zur Strukturförderung. Die Strukturfördermittel sind für die neuen Länder von hoher Bedeutung. Allein in der laufenden Förderperiode sind den neuen Ländern 20,6 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt
worden. Der Höchstförderstatus ist mit dem Beihilferegime der EU verknüpft. Durch den Verlust dieses Status würden die beihilferechtlichen Möglichkeiten der
neuen Länder erheblich eingeschränkt werden; auch das
wäre tödlich. Die maximalen Sätze zur Förderung der
gewerblichen Wirtschaft würden für größere Unternehmen von 35 Prozent auf 18 Prozent und für KMU von
50 Prozent auf 28 Prozent sinken. Die Förderhöhe ist
momentan das einzige Anreizinstrument, das wir Unternehmen für die Ansiedlung in den ostdeutschen Bundesländern bieten können. Wir können weder mit der Steu9022
erhöhe noch mit der Lohnhöhe und erst recht nicht mit
der Abgabenhöhe konkurrieren.
({9})
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel aus meinem
Wahlkreis nennen: Das Unternehmen Siltronic hat mit
einer Förderhöhe von 120 Millionen Euro Investitionen
in Höhe von 480 Millionen Euro ausgelöst und damit
866 Arbeitsplätze schaffen können. Daran sieht man,
wie effektiv EU-Fördermittel eingesetzt werden können.
Von daher begrüßen wir die im Dritten Kohäsionsbericht
vorgeschlagene Fortsetzung der Förderung strukturschwacher Gebiete in der jetzigen EU-15.
({10})
Der Kohäsionsbericht trägt dem weitgehend Rechnung und ist ein wichtiger Schritt für die Absicherung
einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der Region. Inwieweit die Vorschläge der Kommission umgesetzt werden, hängt von den Entscheidungen des Europäischen Rates und des Europaparlaments sowie von
den der Kommission zur Verfügung stehenden Finanzmitteln ab.
Ich fordere die Regierung auf, bezüglich der Begrenzung der EU-Ausgaben auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens ein wenig über den Tellerrand hinauszuschauen. Wenn die Rückflüsse aus diesen Fördermitteln
in den ostdeutschen Bundesländern nicht mehr wie bisher zur Verfügung stehen - auch nicht in den Ziel-2- und
Ziel-3-Regionen; es geht also um alle Rückflüsse -,
dann wird das für Ostdeutschland eine Erhöhung der Arbeitslosenquote um 2 Prozent bedeuten. Wir liegen jetzt
schon bei 18 Prozent.
({11})
Sie zahlen dann vielleicht weniger an die EU, aber Sie
leisten dann höhere Transferzahlungen an die Arbeitslosen. Wenn Sie das möchten, dann können Sie das gerne
tun.
({12})
Die Förderung der sechs Nettozahler zu begrenzen ist
auf jeden Fall nicht im Sinne der neuen Bundesländer.
({13})
- Wenn Sie jetzt den Deckel Ihres Mundes schließen
würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
({14})
Die EU-Osterweiterung darf nicht auf dem Rücken
der ostdeutschen Bundesländer durchgeführt werden.
Unser Appell ist: Die neuen Länder sollten einen Interessenausgleich mit der Bundesregierung suchen. Mit der
Forderung nach einer Ausgabenbegrenzung sollte eben
nicht nur der Bundeshaushalt auf Kosten der neuen Länder saniert werden. Das ist weder wirtschaftlich sinnvoll
noch möglich; denn um die fehlenden Rückflüsse von
der EU mit Bundesmitteln auszugleichen, fehlt jegliches
Konzept.
Nun zum letzten Punkt, der grenzüberschreitenden
Kriminalität. Die Gewährleistung der Sicherheit in den
Grenzgebieten kann nur durch eine enge Zusammenarbeit von Bundesgrenzschutz, Zoll und Polizei erreicht
werden. Wichtig sind vor allem Ausgleichsmaßnahmen
im Bereich des Zolls nach dem Rückzug von der Grenze
durch die vorgesehene personelle Aufstockung der Mobilen Kontrollgruppen. Ich habe schon in einer Rede an
den Bundesfinanzminister appelliert, die Mobilen Kontrollgruppen sowohl in der Personalstärke als auch in der
Anzahl aufzustocken. Leider kommt die Bundesregierung dem nicht nach.
Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Die EU ist eben nicht nur ein Wirtschafts-, sondern
auch ein Sicherheitsraum. Wir sollten also dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung in den Grenzregionen
Rechnung tragen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, die Sorgen und
Nöte der Menschen ernst zu nehmen und sie nicht einfach
wegzudeklinieren. Sie müssen den leidenschaftlichen
Worten für die EU-Osterweiterung auch Taten folgen lassen. Finanzielle Konzepte sind notwendig. Bundesfinanzminister Eichel hingegen hat erklärt, er würde einen
Teufel tun, finanzielle Konzepte zu erarbeiten.
Frau Kollegin Bellmann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Mein letzter Satz.
Vielleicht kann Ihnen dabei der Wahlspruch des amerikanischen Publizisten und Politikers Pat Buchanan behilflich sein: „Wir kämpfen, bis die Hölle zufriert; dann
kämpfen wir auf dem Eis weiter.“
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jörg Vogelsänger von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die EU-Osterweiterung ist eine Riesenchance. Die EU-Osterweiterung wird eine ständige Aufgabe für dieses Parlament sein. Deshalb wird nicht nur
die Beantwortung der Großen Anfrage eine Gelegenheit
zur Debatte sein. Wir müssen uns fragen, ob uns eine
kontroverse Debatte weiterhilft. Wir müssen die Menschen gemeinsam mitnehmen.
({0})
Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn
Staaten ist die entscheidendste Veränderung in dieser Legislaturperiode und die größte Chance für Europa und
Deutschland zugleich. Damit wird die Spaltung Europas
endgültig überwunden, die Deutschland besonders betroffen hat. Ein Dank gilt hierbei Polen, Ungarn und
Tschechien, die für erste Löcher im Eisernen Vorhang
sorgten.
({1})
Die Erweiterung der EU hilft uns politisch, verschafft
unserer Wirtschaft neue Möglichkeiten und erhöht die
Notwendigkeit des Ausbaus der Infrastruktur. Es geht
bei der Erweiterung der EU nicht um das Ob, sondern
um das Wie, um die aktive Gestaltung dieses Prozesses.
Deshalb möchte ich auf konkrete Projekte im Infrastrukturbereich eingehen. Immerhin betrifft ein erheblicher
Teil der Großen Anfrage diesen Bereich. Der neue Bundesverkehrswegeplan ist im aktuellen Gesetzgebungsverfahren. Im alten Bundesverkehrswegeplan waren die
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ prägend. Diese endeten bei der Schiene in Berlin.
Im neuen Bundesverkehrswegeplan haben internationale Projekte ein besonderes Gewicht. Als Beispiel
seien Berlin-Stettin, Berlin-Frankfurt/Oder-Warschau
und Dresden-Prag genannt.
({2})
Im Rahmen des EFRE-Programms werden übrigens
680 Millionen Euro EU-Mittel für den Ausbau der
Schieneninfrastruktur von 2000 bis 2006 eingesetzt. Wir
müssen eines ganz deutlich sagen: Ostdeutschland ist
Nettoempfängerland von EU-Mitteln.
Mit dem bestehenden Ausbau der Oder-LausitzStraße im Verbund mit dem Ausbau der LEILA, wie im
neuen Bundesverkehrswegeplan vorgesehen, wird eine
leistungsfähige Straßenverbindung von Norden nach Süden im grenznahen Raum sowie in den Wirtschaftsraum
Halle/Leipzig geschaffen, was positive Auswirkungen
auf den kleinen und großen Grenzverkehr zu unserem
polnischen Nachbarn haben wird.
Herr Kollege Türk, auch die Autobahn A 2 nach Posen in Polen ist im Bau. 2007 soll sie fertig gestellt werden. Das verbindet sich gut mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan.
Eine besondere Situation haben wir an der Oder und
Neiße. Obwohl dort 40 Jahre die so genannte OderNeiße-Friedensgrenze war, hielt sich der Ausbau der Infrastruktur nach Polen in engen Grenzen. In den 80erJahren hatte dies wegen Solidarnosc mit Sicherheit auch
einen politischen Hintergrund. Deshalb freut es mich besonders, dass die neue Oderbrücke nördlich von Eisenhüttenstadt zusätzlich in den Bundesverkehrswegeplan
aufgenommen wurde.
({3})
Zur Umsetzung dieses Projektes gibt es erste positive
Gespräche mit der polnischen Seite. Im Übrigen gibt es
auch zahlreiche Aktivitäten auf der kommunalen Seite.
So hat der Kreistag Oder-Spree den Wiederaufbau der
Neißebrücke bei Coschen beschlossen. Gefördert werden soll das Projekt nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, also aus Bundesmitteln. Vielleicht sollten wir solche Projekte den Herren Koch und Steinbrück
vorstellen, damit in diesem investiven Bereich mit hoher
Wirksamkeit nicht der allgemeine Kürzungsvorschlag
nach dem Rasenmäherprinzip kommt.
Brücken baut man aus Stahl und Beton. Aber es gilt
auch Brücken zwischen den Unternehmen und den Menschen zu bauen. Hierzu kann jeder seinen Beitrag leisten.
Das geht von Städtepartnerschaften bis zu konkreten
Gesprächen über wirtschaftliche Projekte. Optimistisch
stimmt mich, dass sich die Wirtschaft, aber auch viele
Menschen schon wie selbstverständlich auf die Osterweiterung vorbereiten. Besonders junge Menschen
haben wenig Berührungsängste. An der Frankfurter Universität Viadrina, die mit Gesine Schwan eine hervorragende Rektorin, aber auch eine hervorragende Kandidatin für das Bundespräsidentenamt hat,
({4})
lernen über ein Drittel ausländische Studenten, die überwiegend aus Polen kommen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Thomas Silberhorn?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben auf den Bundesverkehrswegeplan Bezug genommen und vor diesem Hintergrund
eine Reihe von Verkehrsprojekten im Ost-West-Verkehr
genannt.
Richtig.
Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass wir analog
zu den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ nach der
Wiedervereinigung jetzt in Bezug auf die Osterweiterung der Europäischen Union auch Verkehrsprojekte
„Europäische Osterweiterung“ brauchen und dass wir
hierfür erstens diese Projekte im vordringlichen Bedarf
des Bundesverkehrswegeplans ausweisen müssten und
dass wir zweitens eine Planungsvereinfachung und Planungsbeschleunigung gesetzlich festlegen müssten, so
wie es auch bei den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ geschehen ist? Darf ich Sie fragen, welche Initiativen Sie dazu starten, wenn Sie das in Bezug auf die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ hier propagieren?
({0})
Ich habe positive Beispiele aus dem Bundesverkehrswegeplan genannt, insbesondere aus dem Land Brandenburg. Brandenburg setzt besondere Priorität auf die
Oder-Lausitz-Straße, auch auf den Ausbau im grenznahen Raum. Vielleicht sollte sich Bayern daran ein Beispiel nehmen.
({0})
Ein Satz zum Ende. Als Parlamentarier habe ich die
baltischen Staaten besucht. Beeindruckt war ich vom
Optimismus der Menschen und ihrer politischen Vertreter. Vielleicht sollten wir Deutsche uns daran ein Beispiel nehmen. Langfristig wird Deutschland als Exportland und als Verkehrsdrehscheibe besonders von der
Erweiterung profitieren.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatsminister Bury, als Sie eben darüber gesprochen haben, warum
Sie die Große Anfrage nicht beantworten konnten, und
als Sie versucht haben, diese Große Anfrage ins Lächerliche zu ziehen, habe ich gemerkt, wie weit diese Bundesregierung ist. Die Große Anfrage an Sie wurde am
27. Januar dieses Jahres gestellt und Sie haben uns jetzt
mitgeteilt, dass Sie sie im Juli beantworten können, also
zwei Monate nach der EU-Osterweiterung.
({0})
Das heißt, diese Bundesregierung ist nicht in der Lage,
eine gar nicht so komplex gestaltete Anfrage in der richtigen Zeitspanne zu beantworten. Es wäre schon angebracht gewesen, sie vor der EU-Osterweiterung zu beantworten.
({1})
Sie fangen wohl erst jetzt an, darüber nachzudenken.
Das ist doch Ihr Problem. Sie haben sich mit der Frage
bisher nicht beschäftigt. Sie glauben, Sie könnten mit einer Lappalie über eine solche Frage hinweggehen. Das
wundert mich sehr. Ich bin auch ein bisschen enttäuscht.
Aber das muss man bei den Antworten, die man bekommt, wohl jeden Tag sein.
({2})
Wenn Sie allein diese Woche die Berichterstattung in
der Presse verfolgt haben, konnten Sie lesen: „Wir steuern gegen Osten“ oder „Keine Angst vorm Jobexport“.
Aber niemand von Ihnen hat sich richtig mit diesem
Thema beschäftigt. Was passieren wird, werden wir sehen.
({3})
Hinzu kommt eine unsägliche Patriotismusäußerung des
Bundeskanzlers, für die er sich am nächsten Tag entschuldigen musste.
({4})
Keiner weiß etwas über die Fakten. Zu den Fakten
möchte ich einige Punkte anführen, Herr Kollege
Steenblock. Was die Beitrittsländer angeht, haben wir
nur noch mit einem einzigen der fünf großen Länder eine
positive Handelsbilanz. Mit Tschechien, Slowenien,
Ungarn und der Slowakei haben wir bereits jetzt eine negative Handelsbilanz. Sie war vor vier bis fünf Jahren
noch positiv, hat sich aber blitzartig verändert.
({5})
Das führt dazu - um es Ihnen genau zu erklären -, dass
wir immer mehr aus diesen Ländern importieren und
dass wir in der nächsten Zeit verstärkt dort produzieren
werden.
Der Handel prosperiert. Ich bin für die EU-Osterweiterung und freue mich sehr darüber. Für uns liegt eine
große Chance darin, aber nur dann, wenn wir wettbewerbsfähig sind und bleiben. Gegenwärtig sieht es für
uns alles andere als positiv aus.
Der Wettbewerbsdruck ist durch die EU-Osterweiterung gestiegen und wird noch weiter zunehmen. Es
wird - Frau Kollegin Bellmann hat das sehr gut erklärt die neuen Bundesländer, die Grenzregionen, aber auch
Bayern - wie es der Kollege Hofbauer dargestellt hat besonders treffen. Darüber sollten wir uns im Klaren
sein. In unserer heutigen Debatte geht es im Prinzip um
nichts anderes als um unsere Wettbewerbsfähigkeit.
Aber davor drücken Sie sich, weil Sie genau wissen,
dass Deutschland in der Wettbewerbsfähigkeit weit hinterherhinkt. Alle Zahlen zeigen uns das immer deutlicher.
({6})
Die große Gefahr dabei ist, dass die sieben Jahre geltenden schützenden Übergangsregelungen hinsichtlich
der Freizügigkeit der Arbeitnehmer blitzartig unterlaufen werden. Wie wir alle wissen, gibt es die Dienstleistungsfreiheit. Auch eine Automobilwerkstatt ist ein
Dienstleister. Er schickt fünf Mann hierher, die ein Auto
reparieren, und schon ist die Regelung umgangen worden. Darüber sollten wir uns im Klaren sein.
Des Weiteren droht die Verlagerung unserer eigenen
Arbeitsplätze in die Beitrittsländer. Denn alles, was
nicht kundennah gefertigt werden muss, kann in Zukunft
viel günstiger in Mittel- und Osteuropa gefertigt werden.
Darüber sollten wir uns ebenfalls im Klaren sein. Das
wird auch der Fall sein, wenn wir nicht schnell umsteuern und Bedingungen schaffen, die den Unternehmen
das Verbleiben in Deutschland erleichtern, statt ihnen
ständig zusätzliche Belastungen aufzubürden.
Ich habe heute in der gesamten Regierungserklärung
des Bundeskanzlers nicht eine einzige Äußerung zum
Thema neue Bundesländer gehört. Er hätte sich aber
dazu äußern sollen, was in Ostdeutschland zu erwarten
ist. Es ist zwar sehr enttäuschend, aber anscheinend interessieren ihn diese Probleme nicht.
Der Kollege Scheuer hat völlig zu Recht festgestellt,
dass der Bundeskanzler in der Weidener Erklärung - wie
Sie wissen, Herr Scheuer, ist er in seinen Erklärungen
immer großartig - angekündigt hat: Wo erforderlich,
werden wir gegensteuern und abfedern. Aber was wird
tatsächlich gemacht? - Nichts. Sonst hätten wir heute sicherlich etwas darüber erfahren. Das Einzige, was wir
erfahren haben, ist, dass wir mit Steuererhöhungen rechnen müssen, weil die Eigenheimzulage endgültig abgeschafft werden soll.
({7})
Weitere Steuererhöhungen können wir in Deutschland
nicht mehr gebrauchen.
({8})
Wo ist denn Ihre Hilfe für den Standort Deutschland
geblieben? Wo bleibt Ihr Einsatz dafür, dass die Bedingungen in diesen Regionen verbessert werden?
({9})
Sie werden es noch schaffen, dass alle Arbeitsplätze in
Deutschland verloren gehen. Sie werden es auch noch
schaffen, dass keiner mehr ein Interesse daran hat, in
Deutschland weiterzumachen.
Wenn Sie glauben, Sie könnten diesen Standort dadurch verbessern, dass Sie in Zukunft eine Ausbildungsplatzabgabe einführen, dann werden Sie feststellen müssen, dass auch das letzte Unternehmen kein Interesse
mehr daran hat, an diesem Standort zu investieren. Glauben Sie denn, irgendein Unternehmen würde aus Jux und
Tollerei Arbeitsplätze verlagern?
({10})
Nur dann, wenn es dazu gezwungen ist, tut es das. Es ist
ganz simpel: Sie zwingen die Unternehmen durch Ihr
verantwortungsloses Handeln dazu. Nur dann, wenn ein
Unternehmen überhaupt keine andere Chance mehr hat,
weil es hier, in Deutschland, nicht mehr zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren kann, verlagert es Arbeitsplätze ins Ausland. Es tut dies nur unter diesen Bedingungen. Diese Bedingungen haben Sie mit Ihrer
miserablen Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren erzeugt.
({11})
Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Ein Unternehmen verlagert Arbeitsplätze nur dann, wenn die Kosten
für die Produktion in Deutschland nicht mehr durch die
erzielbaren Preise gedeckt werden können. Es handelt so
aus keinem einzigen anderen Grund.
Es gibt schon heute viele Unternehmen, die partiell
ihre Produkte im Ausland herstellen. Glauben Sie denn,
man könnte auf ein einziges deutsches Auto noch „made
in Germany“ schreiben? Nach den WTO-Richtlinien ist
das überhaupt nicht mehr möglich, weil der wesentliche
Teil deutscher Autos nicht mehr in Deutschland hergestellt wird. Wenn alle Teile eines deutschen Autos in
Deutschland zu deutschen Kosten hergestellt würden,
dann könnte kein einziges deutsches Auto mehr verkauft
werden. Also produziert die deutsche Automobilindustrie wie viele andere Industriezweige partiell im Ausland. Ich möchte ein Beispiel nennen: Audi stellt in
Deutschland keinen einzigen Motor mehr her; sie werden alle in Ungarn gebaut. Dadurch ist Audi in der Lage,
seine Autos zu einem wettbewerbsfähigen Preis auf den
Markt zu bringen.
Sie sollten sich diesen sachlichen Gründen nicht verweigern. Sie sollten vielmehr die Konsequenzen daraus
ziehen. Diese Konsequenzen können eigentlich nur lauten, dass wir in Deutschland so schnell wie möglich umsteuern und endlich anfangen müssen, wirkliche Reformen durchzuführen.
Außer einer Steuererhöhung habe ich vom Bundeskanzler heute in einer über einstündigen Rede nicht ein
einziges Wort zu einem konkreten Projekt gehört.
({12})
Was die deutsche Wirtschaft von Ihnen will, das sind
konkrete Projekte. Sie zu entwickeln, das ist auch Ihre
Aufgabe. Ich denke an Projekte, die den Arbeitsmarkt
endlich entlasten, indem sie ihn von seinen Verkrustungen befreien, und an eine durchgreifende Steuerreform.
Die Kollegin Merkel hat dazu heute Morgen konkrete
Vorschläge gemacht.
({13})
All das ist für Sie anscheinend nicht existent. Sie
wurschteln weiter und vertreiben auch noch den letzten
Arbeitsplatz aus Deutschland.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
- Herr Kollege Küster, Frau Kollegin Lührmann hat das
Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Das nenne ich Fleißarbeit: Die CDU/CSU
stellt der Bundesregierung sage und schreibe 113 Fragen
zur Osterweiterung der Europäischen Union. Die schiere
Zahl soll uns hier wohl beeindrucken. Aber Quantität ist
eben nicht gleich Qualität. Und die lässt in Ihrem Fragenkatalog zu wünschen übrig.
({0})
Die Summe Ihrer Fragen lässt sich auf eine einfache
Formel bringen: Die Osterweiterung birgt für die Bundesrepublik Deutschland vor allem eines: ein unkalkulierbares Risiko. Von Frage 1 bis Frage 113, meine Damen und Herren der Union, lese ich zwischen den Zeilen
Vorbehalte und eben nicht Freude über die historische
Wiedervereinigung der Europäischen Union.
({1})
Sie befürchten eine massenhafte Migration. Sie fürchten
die „Überdehnung“ der Europäischen Union und sie
fürchten ein Mehr an Kriminalität.
({2})
Frau Kollegin Lührmann, machen Sie bitte einen Moment Pause.
Ich bitte die Abgeordneten in den Reihen der CDU/
CSU, ihre Konferenz einzustellen oder außerhalb des
Saales fortzusetzen.
({0})
Im Übrigen möchte der Kollege Kretschmer eine
Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Kretschmer.
Frau Kollegin, bei aller Wertschätzung möchte ich Ihnen ein paar Fragen aus unserer Großen Anfrage stellen
und Sie bitten, sie zu beantworten.
({0})
Was wird zum Beispiel aus den Grenzspediteuren, die
am 1. Mai 2005 arbeitslos werden? Was wird zum Beispiel aus dem Sicherheitsdefizit, wenn die Zöllner abgezogen werden und der BGS nicht kommt, um für einen
Ausgleich zu sorgen? Was sagen Sie dazu, dass es zum
Beispiel Grenzstaus von 25 Kilometern und länger gibt
- dies wird sich vom 1. Mai an nicht verringern - und
dass die Bundesregierung trotzdem nicht plant, mehr
Grenzübergänge zu öffnen oder die Tonnagebegrenzung
für regionale LKWs zu erhöhen, oder dass eine Forschungskooperation nicht möglich ist, weil man nach
deutschem Verwaltungsrecht polnischen und tschechischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen kein
deutsches Geld geben darf?
Das sind ganz konkrete Fragen, die nichts damit zu
tun haben, dass wir etwas schlecht machen wollen. Wir
wollen vielmehr, dass die Erweiterung vernünftig vorbereitet wird.
({1})
Werter Herr Kollege, soweit ich weiß, dürfen Sie nur
eine Zwischenfrage stellen. Sie haben gerade den Vorwurf, den ich erhoben habe, mit der Summe Ihrer verschiedenen Befürchtungen und teilweise mit Ihren Übertreibungen hinsichtlich der Grenzöffnung bestätigt. Sie
wissen sehr wohl, dass es koordinierte Programme der
EU gibt, um die neuen Schengen-Grenzen innerhalb geregelter Übergangsfristen aufzubauen. Ich kann nur diesen Punkt herauspicken. Ansonsten bitte ich Sie, zusammen mit mir in den nächsten Minuten einen nüchternen
Blick auf die Lage zu werfen.
({0})
Wird es denn wirklich so düster? Eines vorweg: Es ist
richtig, diese Punkte aufzugreifen sowie die Ängste und
Sorgen, die es in der deutschen Bevölkerung gibt, anzusprechen. Diese müssen ernst genommen werden. Das
tun wir auch. Aber ich finde die Art, wie Sie in der Öffentlichkeit und insbesondere hier mit diesem Thema
umgehen, unverantwortlich;
({1})
denn Sie spielen mit den Ängsten der Menschen und verstärken Vorbehalte, anstatt sie zu entkräften. Sie übertreiben die Risiken und erwähnen kaum die Chancen.
Das ist fahrlässig.
({2})
Wenn Sie zum Beispiel über Migration reden - wie
Sie das in Ihrer Zwischenfrage getan haben - dann klingt
das so, als ob demnächst Millionen Osteuropäer auf den
deutschen Arbeitsmarkt strömen würden. In verschiedenen Studien wie in der des DIW im Auftrag der Kommission hat man herausgefunden, dass lediglich 2 bis
3 Prozent der Bevölkerung in den osteuropäischen Beitrittsländern bereit sind, auszuwandern. Das hängt noch
von vielen ungeklärten Faktoren ab. Es gibt, wie Sie wissen, zum Beispiel lange Übergangszeiten bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Außerdem gilt es zu bedenken,
dass die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Mitgliedstaaten aller Voraussicht nach sehr positiv verlaufen
wird. Übrigens, vor allem junge und gut ausgebildete
Fachkräfte in den osteuropäischen Beitrittsstaaten planen, eventuell ihre Heimat gen Westen zu verlassen. Von
deren Ehrgeiz und Motivation können wir in Deutschland nur profitieren.
Ich möchte ebenfalls daran erinnern, dass die gleichen
Ängste, die Sie jetzt im Zusammenhang mit der Osterweiterung artikulieren, auch vor der Süderweiterung
geschürt wurden. Nichts dergleichen ist damals eingetreten.
({3})
Im Gegenteil: Die Übergangsfristen sind vorzeitig aufgehoben worden, weil Portugiesen, Spanier und Griechen aus den damaligen Mitgliedstaaten der EG zurückgegangen sind und nicht so wanderungswillig waren,
wie man uns fabulistisch hat glauben machen wollen.
Deswegen appelliere ich an die Bedenkenträger in Ihren
Reihen: Lernen Sie aus der Vergangenheit und spielen
Sie nicht populistisch mit den Ängsten der Menschen in
Deutschland!
({4})
Im Hinblick auf Ihre wirtschaftlichen Bedenken
kann ich nur sagen: Deutschland profitiert zusammen
mit Österreich schon jetzt am stärksten von der engen
Verflechtung mit den neuen Beitrittsländern. Osteuropa
ist ein attraktiver Absatzmarkt für unsere Unternehmen.
Es sind gerade die Grenzregionen, die mittelfristig den
größten Nutzen von einem vereinfachten Handel und
von der neuen Freiheit haben werden.
Allerdings hat die EU am Vorabend der Erweiterung
auch noch eine sehr entscheidende Aufgabe zu erledigen. Sie muss sich eine Verfassung geben. Nur mit einer
Verfassung - hier teile ich ausnahmsweise Ihre Bedenken - wird die größere Europäische Union handlungsfähig bleiben. Deshalb bin ich sehr froh, dass in den letzten Tagen wieder Bewegung in den Verfassungsprozess
gekommen ist. Ich erwarte und hoffe, dass sich die Regierungen noch in diesem Halbjahr einigen werden.
({5})
Denn die erweiterte EU ist nur mit einer neuen Verfassung auch in guter Verfassung.
Richtig ist ebenfalls, dass sich die Europäische Union
verändern muss und wird. Bei der Strukturförderung
zum Beispiel müssen die Mittel natürlich auf die Regionen konzentriert werden, die am bedürftigsten sind, das
heißt auf die neuen Mitgliedsländer.
({6})
Aber Panik ist in Deutschland nicht angesagt; denn die
bedürftigen Regionen in Ostdeutschland werden noch
einige Jahre Gelder aus Brüssel bekommen und die
Grenzregionen erhalten schon jetzt eine besondere Förderung, um sich an die Veränderungen anpassen zu können.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn wir in
Deutschland im Zusammenhang mit der Osterweiterung
über den Gewinn und den Verlust sprechen, dann ist es
ein beliebtes Spiel, gerade von Ihrer Seite, Nettobeiträge
minus Milchquotenzuschuss plus Strukturfondsmittel zu
rechnen. Aber diese Rechnung kann nicht aufgehen. Was
wir durch die Erweiterung gewinnen, ist unbezahlbar, ist
nicht in Geld auszudrücken.
Überlegen Sie sich doch einmal, was wir verlieren
würden, wenn die Erweiterung nicht käme! Wir würden
politische Stabilität und historisch ein vereintes Europa
verlieren. Deshalb sollte Ihnen eigentlich auch klar sein,
wofür wir hier gemeinsam argumentieren sollten. Wir
müssen die Menschen in diesem Land von den riesigen
Chancen der Osterweiterung und eines geeinten Europas überzeugen. Dabei geht es mir nicht darum, Probleme kleinzureden, sondern mir geht es darum, konstruktiv zu sein. Wir haben die historische Aufgabe, die
Menschen in Ost und West zu einen, statt neuen Neid
und neues Misstrauen zu säen.
({7})
Nur so wird die europäische Einigung zu einem Erfolg.
Vielen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Andreas Scheuer das Wort.
Herr Präsident, danke für die Möglichkeit der Kurzintervention.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich zu
einer Kurzintervention gemeldet, weil ich damit aufräumen will, dass wir als Opposition in diesem Haus irgendwelche Blockaden im Kopf haben oder irgendwelche
Friedenschancen und Sicherheitschancen nicht sehen.
Wir sehen diese Friedenschancen, diese Sicherheitschancen, dieses vereinte Europa genauso wie Sie, Frau Kollegen Lührmann, es in Ihrer Rede gesagt haben.
Wir sehen mittel- und langfristig auch die wirtschaftlichen Chancen. Aber dadurch, dass die Bundesregierung bei dem Prozess der EU-Osterweiterung ab dem
1. Mai 2004 die Möglichkeiten konkreter Maßnahmen
und Handlungen verschläft, kommen wir in die Bredouille, dass genau diese schlechte Stimmung vor Ort
entsteht. Erklären Sie einer Fließbandarbeiterin im
Bayerischen Wald doch einmal, dass sie ihren Arbeitsplatz verloren hat, weil bei den Nachbarn drüben billiger
produziert werden kann! Erklären Sie den Menschen
einmal, dass die Infrastruktur schlecht ist, weil die Bundesregierung im Bundesverkehrswegeplan zur EU-Osterweiterung nichts vorsieht! Erklären Sie den Menschen
einmal, dass die Chancen für einen Wirtschaftsaustausch
zwar da sind, aber die Infrastruktur - ich sage nur: A 6
Amberg, A 94 Passau - dem nicht entspricht. Die Menschen sehen die Chancen, aber sie sehen auch, dass die
Bundesregierung nichts zur Verbesserung der Infrastruktur und zum Aufbau eines guten wechselseitigen Wirtschaftsklimas vorsieht. Ich könnte die Liste der Beispiele endlos fortführen.
Und dann gibt es auch noch eine Beruhigungspille.
Man kündigt ein Förderprogramm an. Das kommt
dann aber nicht. Herr Staatsminister Bury, Wirtschaftsminister Clement hat in der „Passauer Neuen Presse“ ein
Förderprogramm des Freistaats Bayern über 100 Millionen in allen Tönen gelobt und gesagt: In der Bayerischen
Staatsregierung sind intelligente Menschen. Das ist der
richtige Schritt. Wir auf Bundesebene haben leider kein
Geld. Die Bayern sollen das alleine machen.
Das ist doch nicht der richtige Schritt, um Ängste, die
die Menschen vor Ort haben, aufzunehmen. Dafür bedürfte es konkreter Maßnahmen und konkreten Handelns. Das verlangen wir. Sie schaffen es aber nicht einmal, diese Fragen in einer überschaubaren Zeit zu
beantworten, geschweige denn Antworten angesichts der
Ängste der Menschen zu geben.
Wir sehen die Chancen. Wir sehen alle Möglichkeiten, die wir durch die EU-Osterweiterung haben, aber
wir müssen konkret handeln und Lösungen bieten. Nur
dann werden wir Antworten angesichts der Ängste der
Menschen liefern können.
({0})
Frau Kollegin Lührmann, zur Erwiderung? - Bitte
schön.
Sehr verehrter Herr Kollege, ich habe nichts dagegen,
wenn man konstruktiv diskutiert und konstruktiv nachfragt. Dafür ist das Instrument der Großen Anfrage auch
gedacht.
({0})
Ich will Ihnen einmal eine Ihrer Fragen vorlesen. Sie
können mir die Antwort auf diese Frage dann eigentlich
selber geben. Die Frage 10 lautet:
Rechnet die Bundesregierung nach der Osterweiterung mit einer Zuwanderung in die bundesdeutsche
Arbeitslosigkeit, die daraus resultiert, dass die deutschen Lohnersatzeinkommen im Verhältnis zu den
osteuropäischen Löhnen einen starken Zuwanderungsanreiz nach Deutschland ausüben?
({1})
Diese Frage können Sie sich aufgrund der aktuellen
Rechtslage selbst mit Nein beantworten. Diese gilt ja
jetzt schon für die Bürgerinnen und Bürger der gegenwärtigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ein
Franzose etwa hat nicht das Recht, nach Deutschland zu
kommen, um hier Sozialhilfe zu beziehen. Das wissen
Sie genauso gut wie ich. Deshalb schüren Sie auf populistische Weise Ängste, die in der Bevölkerung vorhanden sein mögen, wenn Sie solche Fragen wider besseres
Wissen ständig wiederholen.
({2})
Deshalb fordere ich von Ihnen, die Chancen der Osterweiterung zu betonen und konstruktiv mit den Herausforderungen der Osterweiterung umzugehen, die sich
zum Beispiel in Bezug auf die Infrastruktur ergeben, die
wir bereitstellen sollen. Dieses fällt übrigens zum Teil
auch in die Zuständigkeit der Länder. Sie wissen, dass
im Bundesverkehrswegeplan eine Länderquote verankert ist. Mithilfe dieser können die Länder selbst
Schwerpunkte setzen. Wir erwarten, dass die Prioritäten
insbesondere in dem Bereich gesetzt werden, der von der
Erweiterung berührt wird.
Vielen Dank.
({3})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Engelbert Wistuba
von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! In genau 36 Tagen vollendet die Europäische Union die größte Erweiterungsrunde
({0})
in ihrer 53-jährigen Geschichte; das wurde heute schon
erwähnt. Die vielfach beschworene historische Dimension dieses 1. Mai 2004 liegt darin, dass ab diesem Tag
die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest geographisch überwunden wird. Viel mehr
noch: Wir haben mit dem klaren Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und mit der VerwirkliEngelbert Wistuba
chung der Idee eines gemeinsamen friedliebenden Kontinents einen weiten Schritt darüber hinaus getan.
({1})
Wie viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus
habe auch ich in den letzten Wochen auf Einladung der
Europäischen Kommission im Rahmen der „Initiative
pro Erweiterung“ zahlreiche Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern aus meinem Wahlkreis zur anstehenden Osterweiterung geführt. Dabei sind mir zwei
Dinge deutlich bewusst geworden:
Erstens. Für die junge Generation in Deutschland ist
Europa zu einer absoluten Selbstverständlichkeit geworden, die niemand in Zweifel stellt. Darüber bin ich sehr
froh.
({2})
Zweitens. Gleichzeitig wird diese positive Grundeinstellung zu Europa aber zunehmend von Ängsten um die
eigene Existenz überlagert. Dabei stehen Fragen zum
Arbeitsmarkt und zu wirtschaftspolitischen Themen eindeutig im Vordergrund. Das stimmt mich nachdenklich,
aber keinesfalls hoffnungslos; denn viele Fragen lassen
sich durchaus zufriedenstellend beantworten. Mir
scheint aber, es fehlt oftmals einfach an bereitwilligen
Gesprächspartnern. Wir Politiker sollten uns mit der
wichtigen Frage auseinander setzen, ob Europa vielleicht nicht mehr nur ein wünschenswerter Selbstläufer
ist, sondern wie andere Politikfelder auch immer wieder
neu erkämpft und bei den Menschen beworben werden
muss. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle alle
Kolleginnen und Kollegen auffordern, keine Kosten und
Mühen zu scheuen, sowohl vor als gerade auch nach
dem 1. Mai als Botschafter Europas durch die Lande zu
ziehen und den Menschen in Deutschland ihre Ängste zu
nehmen; denn Antworten gibt es mehr als genug.
({3})
Stichwort Arbeitsmarktzugang: Ja, es gelten flexible und zeitlich begrenzte Übergangsregelungen im
Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die ein schrittweises Zusammenwachsen der Arbeitsmärkte ermöglichen. Dabei wurde ein Rahmen von maximal sieben Jahren abgesteckt als auch eine entsprechende Regelung für
besonders betroffene Bereiche des Dienstleistungssektors getroffen, zum Beispiel für das Baugewerbe, für Innendekorateure oder auch für Gebäudereiniger. Gleichzeitig wurden entsprechende Möglichkeiten für eine
bedarfsorientierte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften eröffnet.
Jetzt zum Stichwort Auswirkungen auf die deutsche
Wirtschaft: Auch hier ein klares Ja. Die Erweiterung
muss Auswirkungen auf unsere Wirtschaft haben. Dabei
gilt es jetzt insbesondere auch für kleine und mittlere
Unternehmen, Ansatzpunkte zur Stärkung und Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu ermitteln und auszubauen. Ich möchte die wichtigsten Vorteile der Erweiterung für die deutsche Wirtschaft kurz hervorheben:
Die EU-Osterweiterung schafft neue, größere und damit attraktivere Märkte. Insgesamt entsteht mit 450 Millionen Einwohnern der größte Binnenmarkt der westlichen Welt, in dem sich Personen, Waren, Kapital und
Dienstleistungen frei bewegen können.
({4})
Die EU-Beitrittskandidaten und insbesondere die Nachbarländer Polen und Tschechien bieten dabei auch dem
deutschen Mittelstand interessante Potenziale als Absatz- und Beschaffungsmärkte. Sie verzeichneten seit
Mitte der 90er-Jahre ein dynamisches Wirtschaftswachstum mit jährlichen Zuwachsraten von mehr als
4 Prozent. Ihr Wachstum übertraf das der heutigen EU
somit deutlich.
Fast 10 Prozent der deutschen Exporte gehen bereits
in diese Länder, die damit für den deutschen Export
schon jetzt so bedeutend wie die USA sind. Von den sich
weiter vertiefenden Wirtschaftsbeziehungen zu den Beitrittsländern geht zudem ein Wachstumsimpuls auch für
den Binnenmarkt aus, der für viele Mittelständler einen
wichtigen Absatzmarkt darstellt.
Zu den ernst zu nehmenden Wahrheiten der EU-Osterweiterung gehört allerdings auch, dass sie neue Wettbewerber hervorbringen wird. Dabei werden von der
Erweiterung vor allem technologisch fortgeschrittene
und kapitalintensive Bereiche profitieren. Dagegen werden Wirtschaftsbereiche mit hohem Arbeitskostenanteil
und unterdurchschnittlichen Qualifikationen unter Anpassungsdruck auch in ihrem Heimatmarkt kommen.
Einen entscheidenden Aspekt gebe ich allerdings zu
bedenken: Aus ökonomischer Perspektive erfolgt die
Grenzöffnung nicht erst mit dem 1. Mai 2004; vielmehr
ist sie bereits seit Beginn der 90er-Jahre in vollem
Gange.
({5})
So kommt das Institut für Wirtschaftsforschung
Halle, das IWH, in einer gestern vorgestellten Studie zu
folgendem Schluss:
Im Bereich des Einzelhandels sowie bei den haushaltsnahen Dienstleistungen nutzen die Bewohner der
Grenzregionen schon seit 1991 rege die Angebote jenseits der Grenze. Auch hinsichtlich des Investitionsgeschehens sowie des Güterhandels ist nach dem 1. Mai
2004 nicht mit einer dramatischen Änderung der Situation zu rechnen.
Chancen wie Herausforderungen der EU-Osterweiterung machen jedoch eine frühzeitige Anpassung für den
Mittelstand notwendig. Die Bundesregierung verfolgt
daher im Rahmen ihrer Informations- und Kommunikationsstrategie das Ziel, gemeinsam mit den Einrichtungen der Wirtschaft die Unternehmen zu sensibilisieren,
damit sie zum einen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem
angestammten heimischen Markt verbessern und zum
anderen die neuen Geschäftsmöglichkeiten nutzen.
Eigenkapitalschwächen sollen zum Beispiel durch Kooperationen mit mehreren Partnern kompensiert werden.
Auch für die Grenzregionen bietet die EU-Osterweiterung große Chancen, Herr Hofbauer, da diese schrittweise aus ihrer Randlage heraustreten und von ihrer
neuen Rolle als Bindeglied zu den Beitrittsländern wirtschaftlich profitieren können. Von der EU-Osterweiterung geht allerdings auch ein zusätzlicher struktureller
Anpassungsdruck aus, von dem die Regionen an der
Grenze zu den Beitrittsländern besonders betroffen sind.
Zur Vorbereitung der Grenzregionen steht ein breites
Spektrum von Maßnahmen seitens der EU, des Bundes
und der Länder zur Verfügung. So können die Grenzregionen in der Förderperiode 2000 bis 2006 an Fördermitteln der EU-Programme in Höhe von insgesamt
16,3 Milliarden Euro partizipieren. Der größte Teil geht
in den Ausbau der Infrastruktur; das verbessert auch die
Standortbedingungen der kleinen und mittleren Unternehmen vor Ort.
Die Vorteile der EU-Osterweiterung werden uns aber
nicht in den Schoß fallen. Deshalb freut es mich, dass
auch das IWH in seiner genannten Analyse zu dem
Schluss kommt, dass unsere Unternehmen die Zeit der
Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit
und Dienstleistungsfreiheit aktiv nutzen müssen, wenn
sie eine mittelfristige Chance auf dem erweiterten
EU-Binnenmarkt haben wollen. Das bedeutet vor allem,
ihre Qualität und ihren Service weiter zu verbessern, um
sich von der Konkurrenz abheben zu können. Aktives
Handeln, so das IWH, heiße übrigens auch, um Kunden
aus Polen und Tschechien zu werben und in Geschäften,
Restaurants, Reisebüros oder Handwerksbetrieben polnisch oder tschechisch zu sprechen.
Die EU-Osterweiterung ist in ihrer Konstruktion
keine Einbahnstraße von Ost nach West. Dass dieses Angebot auf Gegenseitigkeit auch von den Menschen in
Deutschland entsprechend aufgenommen und genutzt
wird und dass die leider noch existierenden Barrieren in
den Köpfen überwunden werden, ist auch Aufgabe der
Politik in diesem Land. In diesem Sinne rufe ich allen
Kolleginnen und Kollegen zu: Die Ampeln stehen auf
Grün, gehen wir voran!
Danke.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Christel Humme, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard
Schewe-Gerigk, Jutta Dümpe-Krüger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Ausbau von Förderungsangeboten für Kinder
in vielfältigen Formen als zentraler Beitrag öffentlicher Mitverantwortung für die Bildung,
Erziehung und Betreuung von Kindern
- Drucksache 15/2580 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Haupt, Ina Lenke, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Faire Chancen für jedes Kind - Für eine bessere Bildung, Erziehung und Betreuung von
Anfang an
- Drucksache 15/2697 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Fischbach, Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ausbau und Förderung der Tagespflege als
Form der Kinderbetreuung in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 15/2651 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Frauen und Männer beim Wiedereinstieg in
den Beruf fördern
- Drucksache 15/1983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden zu Pro-
tokoll gegeben werden. Das sind die Reden der Kolle-
ginnen und Kollegen Kerstin Griese, Rita Streb-Hesse,
Caren Marks und Anton Schaaf von der SPD, Maria
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Eichhorn und Rita Pawelski von der CDU/CSU, Ekin
Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen und Klaus Haupt
von der FDP.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/2580, 15/2697, 15/2651 und
15/1983 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Mülltrennung vereinfachen - Haushalte entlasten
- Drucksache 15/2193 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss fürWirtschaft und Arbeit
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen,
wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die antragstellende FDP-Fraktion hat die Kollegin Birgit
Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass wir heute Abend die Gelegenheit haben,
den Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Mülltren-
nung vereinfachen - Haushalte entlasten“ zu beraten. Ich
denke, dass uns dieses Thema noch öfter beschäftigen
wird.
Vor knapp 15 Jahren waren die Müllberge bedrohlich
hoch. Die Bundesregierung hat damals vor dem Hinter-
grund dieses drohenden Müllnotstandes und angesichts
der Tatsache, dass immer mehr Verpackungsabfälle an-
fielen, eine Verpackungsverordnung erlassen. Sie hat da-
mit die Notbremse gezogen. Die Hersteller und Vertrei-
ber von Produkten wurden zur Zurücknahme ihrer
Verpackung verpflichtet. Sie sollten angehalten werden,
„vom Abfall her zu denken“, also eine Produktverant-
wortung zu übernehmen. Dazu mussten die Verpackun-
gen „in stofflich verwertbarer Qualität“ aussortiert wer-
den.
Die Trennung wurde im Zuge der Rücknahme durch
das Duale System Deutschland organisiert, sodass neben
der Restmülltonne in der Regel ein gelber Sack oder eine
gelbe Tonne eingeführt wurde. Für die Bürgerinnen und
Bürger bedeutet das vor allen Dingen einen höheren
Trennaufwand. Es bedeutet aber auch, dass die Lizenz-
gebühren für den Grünen Punkt im Prinzip über die Pro-
duktverpackungen mitbezahlt werden müssen.
1) Anlage 3
Mit der Verpackungsverordnung wurden zweifellos
große Erfolge und ökologische Verbesserungen erzielt.
Der jährliche Verpackungsverbrauch ist zwischen den
Jahren 2001 und 1991 um gut 672 000 Tonnen zurückgegangen.
({0})
Dank der Verpackungsverordnung wurden Müllberge
verringert und der seinerzeit drohende Müllnotstand
wurde verhindert.
Seither hat sich viel verändert. Die Verpackungsverordnung ist technisch überholt und völlig veraltet.
({1})
Die dadurch veranlasste Mülltrennung muss ebenfalls
überdacht werden. Früher war die manuelle Mülltrennung Grundvoraussetzung für eine hochwertige stoffliche Verwertung von Abfällen. Zwischenzeitlich gab es
aber einen enormen technischen Fortschritt. Neuartige,
vollautomatisierte Abfalltrenn- und -sortiersysteme
wurden entwickelt. Es ist also nicht mehr erforderlich,
den Abfall im bisherigen Umfang in den Haushalten per
Hand zu trennen, um ihn stofflich in hochwertiger Weise
verwerten zu können.
({2})
Diese Entwicklung muss man auch vor dem Hintergrund sehen, dass die manuelle Trennung nicht vernünftig funktioniert. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage
der FDP-Fraktion musste die Bundesregierung einräumen, dass in Einzelfällen im Restabfall höhere Verpackungsmengen als im gelben Sack enthalten sind. Das
muss man sich einmal vorstellen.
Um es deutlich zu sagen: Die Rückkehr zu einer einzigen Mülltonne steht überhaupt nicht zur Diskussion.
Selbstverständlich sollen Bioabfälle, Papier, Glas und
problematische Abfälle getrennt gesammelt werden auch zukünftig. Aber alles andere kann mit modernen
vollautomatischen Trenn- und Sortieranlagen wesentlich
schneller, zuverlässiger und auch kostengünstiger erledigt werden.
({3})
Testläufe zeigen, dass bei der Mülltrennung in automatisierten Anlagen sogar mehr Wertstoffe und Verpackungsmaterialien verwertet werden können als bei der
getrennten Sammlung über das DSD; denn diese Anlagen
können den Müll sehr viel sauberer trennen, als es von
Hand möglich ist. Ich weise in diesem Zusammenhang
darauf hin, dass diese Testläufe nicht in Versuchsanlagen
durchgeführt worden sind, sondern in ganz normalen Anlagen, in denen im Augenblick im Wesentlichen Leichtverpackungen, also der Inhalt von gelben Säcken, sortiert
werden.
Bereits heute müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass
im gelben Sack Restmüllanteile von bis zu 54 Prozent
enthalten sind. In 2002 betrug die Menge der in Sammelsystemen für Leichtverpackungen gesammelten Abfälle
rund 2,3 Millionen Tonnen. Der Verwertung wurden davon allerdings nur 1,4 Millionen Tonnen zugeführt. Das
entspricht 58 Prozent der insgesamt gesammelten
Menge. Dieser Überschuss von 1 Million Tonnen kommt
durch Fehlwürfe zustande und ist de facto Restmüll. Das
bedeutet also, dass schon heute maschinell Restmüll aussortiert und der Entsorgung zugeführt wird. Das bedeutet
aber auch, dass zwischenzeitlich eine maschinelle Trennung funktioniert.
({4})
Deswegen halte ich fest, dass die haushaltsnahe Mülltrennung keine Voraussetzung mehr für eine hochwertige Abfallverwertung ist. Die Bürgerinnen und Bürger
können also von unnötigem Sammelaufwand einerseits
und von unnötigen Kosten andererseits entlastet werden und das Ganze ohne ökologische Abstriche. Im Gegenteil: Es könnte sogar eine bessere Verwertungsquote als
bisher erreicht werden.
({5})
Ich fasse zum Schluss zusammen: Die technischen
Möglichkeiten sind gegeben. Selbst wenn man jetzt der
Meinung ist, man möchte weitere Details in zusätzlichen
Versuchen klären, ist es jetzt zumindest nötig, politisch
die Weichen zu stellen. Denn wenn wir jetzt nicht über
diese Sache diskutieren, werden wir nicht in fünf Jahren
die Abschaffung der gelben Tonne bzw. des gelben
Sacks erreichen können. Dann wird das alles noch sehr
viel länger dauern. Insofern stoßen wir diese Diskussion
heute an, um beizeiten die notwendigen Entscheidungen
zu treffen, um die Bürgerinnen und Bürger entlasten zu
können.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Petra Bierwirth von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Getrennt sammeln, ja oder nein, Ökologie kontra Ökonomie, Liberalisierung mit oder ohne Daseinsvorsorge,
Abfall als Ware oder doch eher als ein besonders zu beachtendes Gut, die Verantwortung der Abfallproduzenten und die Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger - all
das steckt in Ihrem Antrag, werte Kollegen von der FDP.
Ich berichte Ihnen sicherlich nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass die FDP ihre Forderungen getreu
dem Motto „Gewinne privatisieren, Verluste verstaatlichen“ gestrickt hat. Meiner Meinung nach steckt dieser
Antrag voller Tücken und Behauptungen, die überhaupt
noch nicht bewiesen sind; denn ich meine, der aktuelle
Stand der Technik ist noch lange nicht an dem Punkt angekommen, wie Sie es uns gerade dargestellt haben.
Es ist richtig: Es gibt kleine Versuche, die gezeigt haben, dass die Technik heute besser als gedacht ist. Aber
von einem bahnbrechenden Innovationssprung, wenn
man das erneute Zusammenwerfen von Abfällen so betrachten will, vermag ich nicht zu sprechen.
({0})
Wenn Sie die Versuchsauswertung richtig betrachtet
haben, werden Sie bemerkt haben, dass die Firmen, die
diese Versuche durchgeführt haben, selber gesagt haben
- das kann man auch in Presseerklärungen lesen -, dass
sie sehr dafür plädieren, die getrennte Erfassung, die
jetzt stattfindet, nicht aufzugeben, zumal diese Versuche
auch unter dem Gesichtspunkt „Beibehaltung der getrennten Erfassung“ durchgeführt worden sind. Diese ist
in diesen Versuchen nicht aufgegeben worden.
({1})
Auch ich als Ingenieurin bin technisch begeisterungsfähig. Aber ich habe gelernt, Vorsicht walten zu lassen,
wenn mir irgendjemand eine Technik als Allheilmittel
anpreisen will. Sie wissen ja sicherlich, dass Ingenieure
getreu dem Motto „Einem Ingenieur ist nichts zu
schwör“ zu allem fähig sind. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet aber: Zu welchem Preis tun wir das?
Wird am Ende der Kostendruck, der durch eine zu euphorisch gepriesene Technologie ausgelöst wird, über
Lohn- und Ökodumping ausgeglichen? Hierzu nenne ich
nur das kurze Wort: ALBA.
Mich erschreckt ein wenig, dass die zwei Jahrzehnte
andauernde Diskussion über die Abfallpolitik und die
Hierarchie im Umgang mit Abfällen, also die Erkenntnis, dass in Abfällen Rohstoffe stecken, heute in einer so
genannten Verbrennungsmanie enden soll.
({2})
Denn aus meiner Sicht bedeutet das Ende der Getrenntsammlung Verbrennung um jeden Preis inklusive Abfalltourismus. Darüber müssen wir uns im Klaren sein.
Ich bin mir ganz sicher, dass auch Sie wissen, wohin
diese Reise gehen soll.
({3})
Wir hätten uns dann den Umweg über die Verpackungsverordnung eigentlich sparen können.
({4})
Sie wollen, wie wir in Ihrem Antrag nachlesen können, lediglich Bioabfälle, Papier, Pappe, Karton und
Glas weiterhin getrennt sammeln. Das hatten wir irgendwann schon.
Aber die Produktverantwortung bliebe auf der Strecke; denn es besteht für Sie keinerlei Interesse, auch Materialverbunde und innovative Verpackungen wieder in
den Stoffkreislauf zurückzuführen. Außer den genannten
Fraktionen wollen Sie ja keine weiteren trennen. Natürlich - das wissen wir - können moderne Infraroterkennungssysteme schon heute Erstaunliches leisten. Aber
die Menge, die nach Ihrem Modell über die Laufbänder
gehen müsste - da bin ich mir ziemlich sicher -, wird die
Fehlerhäufigkeit erhöhen,
({5})
sodass in meinen Augen eine sinnvolle, ökologische
Verwertung dann nur noch eine Alibifunktion hätte.
Damit bin ich an dem Punkt angelangt, dass Sie mit
Ihrem Antrag eigentlich eine ganz andere Philosophie
verfolgen. Wir alle wissen: Der Abfallmarkt hat seine
Grenzen erreicht. Gewinne können nur dann noch vergrößert werden, wenn entweder an den Mitarbeitern gespart wird oder die Standards herabgesetzt werden. Es
gibt noch eine dritte Möglichkeit: Das ist der Zugriff auf
die Gebührentöpfe der Kommunen. Am Ende dieser
Kette steht der Griff in das Portemonnaie der Gebührenzahler.
Die Neuausrichtung der Abfallpolitik in Ihrem Sinne
führt zwangsläufig zu einer veränderten Zuständigkeit
für die Abfälle nach heute geltendem Recht. Es sollen
Ersatzbrennstoffe aus Müll hergestellt werden - über
deren Qualität sollten wir ein anderes Mal sprechen,
nicht heute - und diese sollen dann als energetische Verwertung aus dem gesamten Kuchen der Siedlungsabfälle
herausgebrochen werden. Was heißt das? Den in der Regel kommunalen Müllverbrennungsanlagen blieben die
kaum brennbaren Reste. Damit ist in meinen Augen ein
Absatzmarkt für die privatisierten Ersatzbrennstoffe
- denn verwertbare Abfälle werden von den Gerichten
zunehmend in private Hände geschoben - gefunden. Der
Zugriff auf den Gebührenhaushalt ist somit erfolgreich
vollzogen.
Ich möchte hier eine Lanze für die duale Abfallwirtschaft brechen. Wir haben eine gut funktionierende und
gut organisierte Abfallwirtschaft. Wir sind Weltmeister
im Trennen. Man kann im Bericht des Statistischen
Bundesamtes mit den Zahlen von 2002, der gerade veröffentlicht wurde, nachlesen, dass nach wie vor gerade
in den Privathaushalten eine sehr hohe Bereitschaft zur
Trennung besteht.
({6})
Wir sind auch Weltmeister im Verwerten von Abfällen.
Nicht alles ist ökologisch sinnvoll, was machbar erscheint, aber im Großen und Ganzen funktioniert die
deutsche Abfallwirtschaft; sie ist gewährleistet. An anderer Stelle sollten wir uns einmal über Standards für die
Verwertung unterhalten und klare Trennlinien zwischen
privat und öffentlich organisierter Abfallwirtschaft ziehen. Die Getrenntsammlung als Baustein der Verwertungsindustrie werden wir nicht aufgeben.
Eine große Mehrheit der Bevölkerung sieht den eigenen Umgang mit Abfall und die Mülltrennung als einen
Kernpunkt der Umweltpolitik im Kleinen an. Ich denke,
dass Getrenntsammlung auch ein erzieherisches Mittel
ist, das bewirkt, einmal darüber nachzudenken, was für
ein Konsumverhalten wir an den Tag legen.
({7})
Wenn Sie sagen, Sie wollen die Haushalte entlasten,
dann freue ich mich, dass Sie auch mich bei der Hausarbeit entlasten wollen. Doch für mich ist es überhaupt
kein Problem, den Müll zu Hause zu sammeln.
({8})
Wir sind das gewohnt. Das ist eine gute Sache. Wir lehnen Ihren Antrag ab.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Tanja Gönner von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zwar über einen sehr kurzen Antrag, aber
es ist ein Antrag mit weit reichenden Folgen für die Verbraucher und die gesamte Entsorgungswirtschaft.
Seit über zehn Jahren sind vermutlich die hier Anwesenden der Ansicht, dass Mülltrennung eine sinnvolle
Sache ist. Bei jedem Pappkarton, jedem Konservenglas
und jeder Plastikverpackung, die man fein säuberlich getrennt einem der vielen farbigen Trenngefäße eines umweltbewussten Haushaltes zukommen lässt, hat man das
Gefühl, wieder ein bisschen für die Zukunft unseres Planeten getan zu haben.
So ironisch ich es jetzt auch formuliert haben mag:
Das ist die Realität in Deutschland und zunehmend auch
in Europa. Eine ganz banale, alltägliche Handlung liefert
einen messbaren Beitrag zur Umweltbilanz unseres Landes. Diese Verhaltensweise haben wir alle in den vergangenen zehn Jahren den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland mit großem Erfolg vermittelt.
Eine Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach aus dem März dieses Jahres über die Einstellung
der Bevölkerung zur Reduzierung der Verwertungsanteile bei Verpackungsabfall bestätigt dies eindrucksvoll.
71 Prozent der Befragten sprechen sich heute für das
Sammeln und das Recycling von Abfällen aus. 66 Prozent sind für eine Wiederverwertung trotz höherer Kosten gegenüber einer Verbrennung. Nur 24 Prozent sind
hier für die Verbrennung.
Besonders interessant ist die Einstellung der Bürger
zur Getrennthaltung. 53 Prozent sind für eine Beibehaltung der Getrennthaltung und nur 17 Prozent dagegen.
Diese Ergebnisse zeigen: Die Getrenntsammlung ist
heute eines der erfolgreichsten Umweltschutzprojekte
der Bundesrepublik Deutschland. Nun steht dieses Erfolgsrezept aufgrund neuer technischer Erkenntnisse auf
dem Prüfstand und soll neu überdacht werden.
Lassen Sie mich kurz an den Anfang der Entwicklung
zurückkehren. Denn bevor man Altbewährtes über Bord
wirft, sollte man sich bewusst machen, welche Bedeutung es hat. In den 80er- und 90er-Jahren waren Verpackungsabfälle das Symbol der Wegwerfgesellschaft und
trugen erheblich zum damaligen Müllnotstand bei.
Deutschland schien Anfang der 90er im Müll zu versinken. Politische Antworten waren gefragt. Sie wurden in
Form des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes bzw.
der Verpackungsverordnung gegeben.
Die Einführung der Verpackungsverordnung durch
CDU/CSU und FDP 1991 war ein großer Durchbruch.
Produzenten und Verbraucher waren aufgefordert, Umweltschutz aktiv zu praktizieren. Die Unternehmen ließen sich durch die Produktverantwortung in die Pflicht
nehmen, ihre Abfälle zu vermeiden und zu verwerten
- mit Erfolg: Der jährliche Verpackungsverbrauch ist
seit dem In-Kraft-Treten der Verpackungsverordnung
um 1,4 Millionen Tonnen zurückgegangen. Allein im
Bereich der Verkaufsverpackungen, die beim privaten
Endverbraucher anfallen, ging der jährliche Verbrauch
um rund 850 000 Tonnen zurück.
Auch die Bürger engagieren sich ausgesprochen
stark. Sie wurden zu Experten der Mülltrennung und
machten so die Verwertung erst möglich. Jeder Einzelne
leistete auf diese Weise einen Beitrag zur Nachhaltigkeit.
Dies wirkte sich aber auch weitergehend auf das gesamte
Umweltbewusstsein der Menschen aus.
Nun aber genug zur Vergangenheit. In jüngster Zeit
wird immer wieder, wie auch jetzt im Antrag der FDP,
die Getrennterfassung infrage gestellt. Es wird als quasi
erwiesen dargestellt, dass eine Getrenntsammlung technisch nicht mehr erforderlich, wirtschaftlich teurer und
ökologisch verzichtbar sei. Es ist leicht, anhand kleinräumiger Vorversuche und Medienberichte solche Behauptungen aufzustellen. Aber halten sie einer grundsätzlichen Prüfung stand?
({0})
- Birgit Homburger, auch ich kenne eine Sortieranlage.
({1})
Die Sachlage gestaltet sich doch momentan folgendermaßen: Durch die Vorgaben der Verpackungsverordnung war die Wirtschaft gezwungen, die ihr übertragene
Produktverantwortung zu übernehmen. Sie hat dies akzeptiert und mit großem Erfolg umgesetzt. Mithilfe
weitreichender Investitionen in moderne Sortier- und
Verwertungstechnologien konnten Leichtverpackungen
sortiert und vor allem auch sortenreine Kunststofffraktionen zur wertstofflichen Verwertung extrahiert werden.
Trotz all dieser Lobeshymnen ist dies kein Aufruf zur
Stagnation. Ich bin nicht dafür, sich auf vergangenen Erfolgen auszuruhen und die Hände in den Schoß zu legen.
Natürlich sind die Fortschritte in der Sortier- und Verwertungstechnologie äußerst interessant. Es sollte genau
beobachtet werden, ob das Ziel, verwertbare Fraktionen
auch aus Abfallgemischen auszusortieren, erreicht werden kann. Natürlich ist es ebenfalls sinnvoll, bei Vorlage
einer gesicherten Datengrundlage die bestehenden Systeme dem neuesten Stand der Technik anzupassen.
Genau da liegt der größte Stein des Anstoßes im Antrag der FDP. Wie der Anfrage der FDP an die Bundesregierung zu entnehmen ist, beruht die Datengrundlage
der FDP im Wesentlichen auf einem „Plusminus“-Bericht und einem Pilotversuch eines Entsorgungsunternehmens in Nordrhein-Westfalen.
({2})
Diese Projekte können nur als Vorversuche bezeichnet
werden. So werden sie auch von den entsprechenden
Entsorgungsunternehmen genannt. Das kann aber keine
ausreichende Basis für eine derartige Umstrukturierung
der gesamten Entsorgungswirtschaft sein. Die Zielsetzung muss nach wie vor eine hochwertige Verwertung
im besten ökologischen Rahmen sein.
({3})
In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt
bleiben, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich
intensiv mit dieser Frage beschäftigt hat, zu folgendem
Schluss kam:
Im Ergebnis lässt sich … keine fachlich begründete
Veranlassung ableiten, die bisher praktizierte Getrenntsammlung von Verkaufsverpackungen, auch
der kleinteiligen Kunststoffverpackungen, aus ökologischen Gründen aufzugeben.
Noch unverständlicher wird der Antrag der FDP für
mich
({4})
aufgrund der Tatsache, dass bereits zahlreiche Testreihen
und Pilotprojekte laufen, ihre Ergebnisse aber noch nicht
vorliegen. Warum dieser voreilige Aktionismus?
({5})
In spätestens ein bis zwei Jahren werden wir zu den Fragen, die vor einer Aufgabe der Getrennthaltung beantwortet werden müssen, ausreichendes Material zur Verfügung haben. Erst dann werden wir in der Lage sein,
eine wirklich sachkundige und zuverlässige Entscheidung zur Zukunft der Getrennthaltung zu treffen.
({6})
Es ist die Verpflichtung der Politik, nur anhand einer gesicherten Datenbasis zu handeln und nicht vorschnell
Wunschvorstellungen hinterher zu jagen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen einige Beispiele nennen, damit deutlich wird, auf welch
breiter Basis uns bald Daten zur Verfügung stehen werden, die wir abwarten sollten. Die Entsorgerwirtschaft,
das Duale System Deutschland, einige Länder und andere Beteiligte haben sich Gedanken über die technische
Weiterentwicklung der Sortier- und Verwertungstechnologien gemacht. Sie sind dabei, zu testen, inwieweit
neue Sortier- und Aufbereitungstechnologien zu einer
Vereinfachung der heutigen Erfassungsstruktur beitragen
können. Zum Teil in Zusammenarbeit oder in Einzelinitiativen erproben sie die gemeinsame Sortierung von
Leichtverpackungen und Restmüll sowie die Eignung
des Trockenstabilatverfahrens für die gemeinsame Aufbereitung von Restmüll und Leichtverpackungen.
Sie suchen dabei unter anderem Antworten auf folgende Fragen: Welche Mengen an verwertbaren Materialien können mithilfe moderner Sortiertechnologien erzielt werden? Wie gut ist die Materialqualität der
aussortierten Abfallstoffe? Wie hoch sind die Einsparungen bei einer Vereinfachung der Erfassungsstruktur? Was
kostet demgegenüber die Aussortierung des Restmülls?
Welche weiteren Kosten wird es durch die Umrüstung
der Anlagen, den Verlust von Arbeitsplätzen, die erhöhte
Frequenz der Abholung des Restmülls etc. geben?
So finden zum Beispiel zu folgenden Themen Untersuchungen statt: zur Sortierung von gemischten Abfällen
aus Restmüll und Leichtverpackungen, zur Frage, inwieweit Trockenstabilat aus gemischten Müllfraktionen hergestellt werden kann, zur Zusammenführung von gelber
Tonne und Elektroschrott und zur so genannten trockenen Kunststofftonne, also zur Sammlung aller Kunststoffabfälle in einer Tonne.
Meine Damen und Herren, diese Liste ließe sich noch
um einige Punkte verlängern. Aber diese Projekte decken all die Fragen ab, die momentan noch nicht geklärt
sind.
({7})
Momentan können wir nur mit Sicherheit sagen, dass
Mischungen aus Restmüll und Leichtverpackungen technisch sortierbar sind. Aber bezüglich der Qualität, der
Verwertbarkeit und der Kosten der sortierten Produkte
gibt es enorme Unsicherheiten.
Aus diesem Grund ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum wir diese Ergebnisse nicht abwarten sollten.
Über die technischen Probleme hinaus gibt es noch andere Aspekte, die der Klärung bedürfen, bevor wir anfangen, neue Konzepte für die Abfallwirtschaft zu gestalten. Der entscheidende Punkt sind dabei die Kosten.
In Deutschland stehen derzeit Sortierkapazitäten für
circa 2,5 Millionen Tonnen Leichtverpackungen zur Verfügung. Bei gemeinsamer, flächendeckender Erfassung
müssten aber Kapazitäten für jährlich 15 Millionen Tonnen geschaffen werden.
Es stellen sich also die Fragen, wie hoch die Kosten
für ein solches System sind und wer sie übernehmen
soll. Wie hoch mögliche Kosteneinsparungen sein könnten, weiß derzeit niemand. Im Gegenteil, eher steht zu
erwarten, dass es bei gemeinsamer Sammlung und anschließender Aussortierung zu einem weiteren Kostenanstieg käme.
({8})
Zudem stellt sich die Frage, wie bzw. wem die Kosten
zugeordnet würden.
Als weiteren Punkt möchte ich auf die rechtliche
Lage hinweisen. Sowohl die Verpackungsverordnung
und das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz als auch
die EU-Verpackungsrichtlinie schreiben derzeit eine Getrennterfassung vor.
({9})
Last, but not least ist da noch die Produktverantwortung.
Auch sie würde durch die Aufgabe der Getrennterfassung letztlich ausgehebelt, und das in einer Zeit, in der
die Diskussion auf EU-Ebene gerade auf mehr Produktverantwortung hinausläuft.
Abschließend möchte ich sagen, dass ich froh bin,
dass die FDP in ihrem Antrag von dem Tenor ihrer Kleinen Anfrage, der völligen Aufgabe der Getrennterfassung, abweicht und jetzt nur noch eine Abschaffung für
bestimmte Abfallfraktionen fordert. Der Antrag bleibt
zwar konkrete Ansätze schuldig, aber über eine Erweiterung der gelben Tonne um bestimmte Fraktionen aus der
grauen Tonne - oder umgekehrt - können wir nach Abschluss der Pilotprojekte noch einmal diskutieren. Eine
völlige Aufgabe der Getrennterfassung, also ein EinTonnen-System, bleibt meiner Ansicht nach vorerst Utopie. Die Möglichkeiten, die aufgrund der bisherigen Datengrundlage denkbar wären, erlauben maximal die Einsparung eines der Standardsammelsysteme.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, mit der
letzten Forderung in Ihrem Antrag, die Bundesregierung
solle „ein überarbeitetes Konzept für eine zukunftsfähige
Abfallwirtschaftspolitik“ vorlegen, stimme ich voll und
ganz überein. Diese Forderung ist ja leider schon sehr oft
erfolglos an die Bundesregierung gestellt worden.
Liebe Birgit Homburger,
({11})
in der gestrigen Ausgabe der „Stuttgarter Nachrichten“
durfte ich lesen, dass du dir absolut sicher bist, dass der
gelbe Sack in fünf oder zehn Jahren abgeschafft sein
wird. Da wir ja sehen, dass es erst in fünf oder zehn Jahren sein wird, frage ich: Warum nehmen wir uns nicht
die Zeit,
({12})
ein, zwei Jahre abzuwarten, bis wir eine Datenbasis haben, auf der wir entscheiden können? Ich glaube, das
wäre sinnvoller und entspräche verantwortlicher Politik.
Was Ihre Auffassung zur Getrennterfassung angeht,
bitte ich Sie: Lassen Sie uns die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten! Dann werden wir sehen, ob wir einer
Forderung wie der Ihren zustimmen oder die Ergebnisse
zu einer Optimierung bestehender Systeme nutzen können. Die Union ist momentan nicht bereit, eine funktionierende Infrastruktur zu gefährden, ohne dafür fundierte Gründe zu haben. Deshalb können wir dem
Antrag in seiner Gesamtheit nicht zustimmen.
Zum Abschluss: Wir alle kennen Gorbatschows Ausspruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Bei dem vorliegenden, schlecht abgesicherten Antrag
({13})
sollten wir aufpassen, dass dies nicht auch dem geschieht, der zu früh kommt.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Antje Vogel-Sperl von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal ist es durchaus zu begrüßen,
dass sich die FDP mit alternativen Abfallkonzepten auseinander setzt und wir uns heute mit diesem Thema befassen. Auch wir Grüne sind selbstverständlich gegenüber neuen Verfahren und Techniken grundsätzlich aufgeschlossen. Allerdings müssen die Vorteile neuer Konzepte nachvollziehbar und belastbar belegt werden.
({0})
Da scheint mir der Antrag doch eher ein Schnellschuss
zu sein. Er bezieht sich offensichtlich vor allem auf die
Ergebnisse eines Großversuchs der Firma RWE Umwelt
in Essen, der zwischen dem 11. und dem
14. Februar 2003 durchgeführt wurde. Dieser Versuch
hat zwar grundsätzlich die Möglichkeit einer nachgeschalteten, maschinellen Sortierung von gemischtem
Siedlungsabfall aufgezeigt, eine wissenschaftlich fundierte, belastbare Datenbasis hat der Versuch allerdings
nicht erbracht: So betrug die effektive Laufzeit des Versuchs gerade einmal 53 Stunden.
({1})
RWE Umwelt selbst bezeichnet die im genannten Sortierversuch eingesetzte Menge an Abfall als „überschaubar“. Das Unternehmen führt deshalb weiter aus, die
Ergebnisse dürften eben nicht ohne Weiteres als repräsentativ eingestuft werden und bedürften einer weiteren
Überprüfung.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihre
Feststellung
Die derzeit in Deutschland praktizierte Form der
Mülltrennung durch den Verbraucher ist also technisch weitgehend überholt und zu teuer.
ist schlichtweg falsch und ich sage Ihnen, warum: Tatsache ist, dass bei der maschinellen Getrenntsammlung
noch erheblicher Forschungs- und Entwicklungsbedarf
besteht, zum Beispiel bei der Verbesserung der Trennschärfe und Sortenreinheit der gewonnenen Fraktionen
oder auch beim Ausbau entsprechend ökologisch hochwertiger Verwertungswege für die abgetrennten Fraktionen.
({3})
Im Übrigen plant die RWE Umwelt erst jetzt - zusammen mit dem DSD - einen Langzeitversuch zur
nachträglichen Sortierung über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. Ihre Schlussfolgerung, das Sortieren in
den Haushalten von Hand sei sowohl ohne ökologische
als auch ohne ökonomische Einbußen durch eine automatische Mülltrennung zu ersetzen, weil diese effizienter sei, ist derzeit nicht erwiesen. Ihre Forderung, die bisher praktizierte Getrenntsammlung könne teilweise
entfallen, ist somit eindeutig verfrüht. Dies wird im Übrigen von RWE Umwelt selbst bestätigt. Auch die Verbände der Entsorgungswirtschaft haben sich bislang eher
zurückhaltend geäußert.
({4})
Außerdem vermisse ich in dem Antrag die Auseinandersetzung mit anderen Abfallkonzepten, die derzeit
mindestens genauso intensiv diskutiert und erprobt werden. Es gibt alternative Vorschläge, wie zum Beispiel die
Erweiterung der bestehenden gelben Tonne zu einer
Wertstofftonne. Das DSD prüft ein derartiges Konzept in
Zusammenarbeit mit Alba in Leipzig. Solche Ansätze
bleiben in Ihrem Antrag leider unerwähnt.
({5})
Solche Konzepte erwähnen Sie nicht. Ich finde, bei einer
grundsätzlichen Debatte über die Zukunft der Getrenntsammlung ist eine umfassende und keine einseitige Betrachtungsweise notwendig.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
Sie lassen in Ihrem Antrag außerdem die Frage offen,
wie das Sammelgefäß zukünftig aussehen soll, grau oder
gelb?
({6})
Mit anderen Worten: Wer wird denn dann für den nicht
mehr getrennten Abfall zuständig sein, die öffentlichrechtlichen Entsorger oder die Privatwirtschaft?
({7})
Auch auf diese essenzielle Frage geben Sie in Ihrem Antrag keine Antwort. Sie fordern stattdessen die Bundesregierung auf, „ein überarbeitetes Konzept für eine zukunftsfähige Abfallwirtschaftspolitik in Deutschland
vorzulegen“, bleiben aber selbst ein schlüssiges Konzept
in Ihrem Antrag schuldig.
Ihr Antrag zielt darauf ab, das ökologisch wichtige
Thema Getrenntsammlung medienwirksam auszunutzen, ohne Antworten auf die aktuellen Fragen der Abfallwirtschaft, wie etwa auf die Frage nach dem Kartellrecht und der Zukunft des DSD, zu geben.
({8})
Aus all den genannten Gründen lehnen wir Ihren Antrag
ab.
({9})
- Hören Sie doch zu! - Fakt ist, der Aufbau einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft, deren zentrale Ziele die
Ressourcenschonung und eine Steigerung der Ressourceneffizienz sind, erfordert auch künftig erhebliche, stetige private und öffentliche Investitionen. Wir sind in
diesem Zusammenhang für alternative Abfallkonzepte
offen und werden sie selbstverständlich eingehend prüfen. Das sage ich hier in aller Deutlichkeit. Ich sage aber
auch, dass dabei für uns immer zwei Fragen von zentraler Bedeutung sein werden: Ist das Konzept geeignet,
Abfall zu vermeiden? Ist es ein Gewinn für die Umwelt?
Das heißt: Ist es ökologisch vorteilhafter, weil es zu
einer Verbesserung der Verwertung beiträgt?
({10})
An diesen Maßstäben haben wir neue Konzepte zu prüfen.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Gerd Bollmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Homburger, auf die Qualität der Untersuchungen
möchte ich nicht mehr eingehen, weil das meine Vorrednerinnen sehr ausführlich getan haben.
Mülltrennung vereinfachen und Haushalte entlasten das hört sich im ersten Moment gar nicht schlecht an.
Vereinfachung und Entlastung sind hehre Ziele, die in
den gesellschaftlichen Grundkonsens und den Kontext
der populistischen Forderungen der FDP passen.
Aber genau wie bei der Forderung nach einer radikalen Steuervereinfachung verschleiern die Liberalen meines Erachtens auch hier die wahren Ziele. Die Konsequenzen der auf den ersten Blick simplen Forderung der
FDP werden nicht erwähnt.
({0})
Was bedeutet die Durchführung für die Abfallwirtschaft
und für die Abfallpolitik insgesamt? Wie sind die Auswirkungen auf unser Ziel der Abfallvermeidung und der
Ressourcenschonung? Welche Folgen ergeben sich für
die Produktverantwortung und die Verantwortung der
Hersteller und Abfallproduzenten? Wie verändern sich
die Zuständigkeiten für die Abfälle? Inwiefern müssen
wir das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, die Verpackungsverordnung und die darauf beruhenden Bestimmungen sowie existierenden Strukturen verändern?
Allein die Aufzählung dieser wenigen Fragen zeigt,
dass die Folgen dieses Antrages zumindest weitreichender sein können. Ich denke, sie wären wesentlich weitreichender, als die FDP es uns in ihrem Antrag glauben
machen will.
({1})
Schauen wir uns die praktischen Konsequenzen für
die Verpackungsverordnung und die Produktverantwortung an. Mit der Verpackungsverordnung wurde den
Herstellern die Verantwortung für die Verwertung der
von ihnen produzierten Verpackungen und damit die
Kosten übertragen. Damit ist die Produktverantwortung
auf die Hersteller übergegangen. Der Handel sollte die
Rücknahme organisieren. Um aber dem Handel die Kosten zu ersparen, wurde nicht zuletzt auf Betreiben der
FDP das System des grünen Punktes eingeführt. Das Duale System Deutschland erblickte das Licht der Welt.
Gleichzeitig wurde den Kommunen die Zuständigkeit
für den Verpackungsmüll entzogen. Deshalb war es auch
nur logisch, die Verpackungsabfälle getrennt zu erfassen.
Nicht nur die organisatorische Zuständigkeit sprach für
eine getrennte Erfassung, sondern auch ökologische
Gründe sprachen dafür: Je reiner der gesammelte Stoff,
desto größer ist die Chance, eine hochwertige Verwertung vorzunehmen.
({2})
Für uns ist die stoffliche Verwertung dort, wo sie
sinnvoll angewandt werden kann, die hochwertigste
Form. Die FDP schlägt hier aber nur die energetische
Verwertung, also die Verbrennung vor.
({3})
Es stellt sich nun die Frage, ob die energetische Verwertung eine hochwertige Verwertung ist, die der stofflichen
Verwertung gleichzustellen oder gar um jeden Preis vorzuziehen ist. Wir sind also wieder am Ausgangspunkt
des Streites um das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz angekommen.
Unter welchen Bedingungen findet die energetische
Verwertung statt? Bereits vor 20 Jahren wollten viele
Vertreter der Industrie Abfall als angeblich ökonomisch
günstigste Variante verbrennen.
({4})
Die gründliche Diskussion hat ergeben, dass die stoffliche Verwertung und besonders die Abfallvermeidung
ökologisch und ökonomisch, auch unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenschonung, meistens der beste Weg
sind.
Ebenso wollen wir die Produktverantwortung und die
Abfallvermeidung nicht aufgeben. Mit dem großflächigen Produzieren von Ersatzbrennstoffen verabschieden
wir uns von der klaren Zuordnung der Verantwortung
und von einer Kreislaufwirtschaft, die diesen Namen
verdient. Kreislaufwirtschaft und Produktverantwortung
bedeuten, bereits bei der Herstellung darauf zu achten,
dass hinterher möglichst wenig Abfall entsteht und dass
eine stoffliche Verwertung möglich ist. Wer denkt darüber schon nach, wenn am Schluss ohnehin alles verbrannt wird?
Wer am Ende für die Kosten aufkommt, wird von der
FDP gar nicht erst beleuchtet. Wir lehnen die Übernahme der Kosten durch die Gesellschaft - oder besser
gesagt: durch den Gebührenzahler - ab.
({5})
Wir wollen die Verwertung nicht um jeden Preis. Es ist
keine Frage, dass es Kriterien für die hochwertige Verwertung geben muss.
Ich habe den Eindruck, dass Sie, meine Damen und
Herren von der FDP, nur an der Stelle privatisieren wollen, an der gut Geld zu verdienen ist.
({6})
Wir stehen technologischen Neuerungen immer positiv
gegenüber, wenn sie auch für die Gesellschaft positiv
einzusetzen sind. Wir werden die Folgen aber in jedem
Fall im Auge behalten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2193 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Carola Reimann, Walter Schöler, Carsten
Schneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Antje
Hermenau, Hans-Josef Fell, Volker Beck ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Qualitätssicherung des deutschen Forschungssystems
- Drucksache 15/2665 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helge
Braun, Dr. Maria Böhmer, Katherina Reiche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ressortforschung des Bundes effizienter gestalten und evaluieren
- Drucksache 15/1981 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Es ist vorgesehen, dass die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Dr. Carola Reimann von der SPD-Frak-
tion, Helge Braun von der CDU/CSU-Fraktion, Hans-
Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen und Ulrike Flach
von der FDP-Fraktion zu Protokoll genommen werden.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2665 und Drucksache 15/1981 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble,
Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3})
- Drucksache 15/2649 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast von der
SPD-Fraktion, Jürgen Herrmann und Stephan Mayer von
der CDU/CSU-Fraktion, Silke Stokar von Neuforn vom
Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max Stadler von der FDP-
Fraktion, Petra Pau, fraktionslos, und des Parlamentari-
schen Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper für die Bun-
desregierung.2)
1) Anlage 4
2) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2649 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gründung einer Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ({5})
- Drucksache 15/2720 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({6})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Bernhard Brinkmann, SPD, Jochen-
Konrad Fromme, CDU/CSU, Antje Hermenau, Bünd-
nis 90/Die Grünen, und Dr. Günter Rexrodt, FDP.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2720 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? ({7})
Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Hermann Gröhe, Dr. Ralf
Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Die Berliner Afghanistan-Konferenz - eine
neue Chance für mehr Kohärenz und Koordinierung beim Wiederaufbau
- Drucksache 15/2578 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fortsetzung des Engagements der Bundes-
regierung für den Wiederaufbau- und Stabili-
sierungsprozess in Afghanistan
- Drucksache 15/2757 -
1) Anlage 6
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Hier hat sich doch ein einsamer Redner gefunden.
({10})
Es ist der Kollege Ralf Brauksiepe von der CDU/CSUFraktion.
({11})
Somit eröffne ich die Aussprache und gebe dem Kollegen Brauksiepe das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In seiner wechselvollen Geschichte ist Afghanistan
schon häufig an den Rand der politischen Aufmerksamkeit gedrängt worden. Dies haben viele Menschen und
auch die internationale Staatengemeinschaft oft bitter
bereut. Wir haben es hier noch geschafft, eine kontroverse Debatte zum Thema Mülltrennung zu führen. Ich
begrüße, dass uns das gelungen ist.
Ich bedaure aber, dass es nicht möglich ist, zu dem
Thema eine Debatte zu führen, wie es in Afghanistan
und in Zentralasien, einer Region, die auch für uns von
vitalem Interesse ist, weitergeht. Das halte ich für bedauerlich. Dazu passt, dass das für die Anträge federführende Ministerium, wie ich gehört habe, durch die
persönliche Referentin der Parlamentarischen Staatssekretärin vertreten ist. Umso mehr freue ich mich, das
der Parlamentarische Staatssekretär des BMVg dieser
Debatte beiwohnt.
({0})
- Das stimmt. - Dabei bietet diese dritte AfghanistanKonferenz - normalerweise legen wir bei solchen Konferenzen großen Wert auf parlamentarische Beteiligung
- in der nächsten Woche eine große Chance, dem Wiederaufbauprozess in Afghanistan gerade vor dem Hintergrund der geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen neuen Schwung zu verleihen, einen
Schwung, den das Land im Übrigen dringend braucht.
Wir halten es für eine durchaus gute Tradition, dass
Deutschland bei den Wiederaufbaubemühungen der internationalen Gemeinschaft eine führende Rolle eingenommen hat. Unabhängig davon, ob Deutschland wirklich am Hindukusch verteidigt wird, haben wir das völlig
legitime Interesse, dass von dort keine Gefahren für die
Menschen in unserem Land ausgehen. Insofern unterscheidet sich das Engagement der Bundesregierung in
Afghanistan wohltuend von der Ohne-uns-Haltung, die
die Bundesregierung beim Wiederaufbau des Irak leider
noch immer überwiegend einnimmt. Das sei hier einmal
herausgestellt. Die Berliner Afghanistan-Konferenz
sollte deshalb Anlass sein, das Engagement der internationalen Gebergemeinschaft verstärkt fortzusetzen und
gleichzeitig für mehr Kohärenz und Koordinierung beim
Wiederaufbau Afghanistans zu sorgen.
({1})
Die Notwendigkeit, hier zu Verbesserungen zu kommen, steht nicht im Widerspruch zu der Feststellung,
dass im Zusammenspiel zwischen der neuen afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft
in den vergangenen Jahren in der Tat in Afghanistan viel
erreicht worden ist. Ausgehend von einer in jeder Hinsicht desaströsen Lage, in der sich dieses geschundene
Land nach dem 11. September 2001 befunden hatte, hat
Afghanistan die besten Perspektiven für eine politisch
friedliche, wirtschaftlich erfolgreiche und an den Menschenrechten orientierte Entwicklung seit Jahrzehnten.
Das Talibanregime, das dem Terrornetzwerk alQaida als Heimstätte diente, war eben nicht nur eine Bedrohung für die gesamte Welt; vielmehr hat dieses Regime, das nicht durch Wahlen, sondern durch Waffengewalt an die Macht gekommen war, in erster Linie den
Menschen in Afghanistan selbst Lebens- und Zukunftsperspektiven genommen.
Von diesem Regime hat die internationale Gemeinschaft
das afghanische Volk befreit. Bei aller berechtigten Kritik an der internationalen Gemeinschaft ist immer darauf
hinzuweisen, dass in erster Linie und mit zunehmendem
Abstand zum 11. September 2001 die Afghanen und ihre
maßgeblichen politischen Persönlichkeiten in zunehmenden Maße selbst für die Entwicklung ihres Landes
verantwortlich sind und ihrer Eigenverantwortung gerecht werden müssen.
Uns jedenfalls alarmieren Berichte, die wir aus den
Reihen der Wiederaufbauhelfer bekommen, wonach sich
viele, die mit großem Idealismus und viel Engagement
nach Afghanistan gehen, um dort am Wiederaufbau teilzunehmen, bisweilen als Bittsteller gegenüber den afghanischen Behörden oder auch als Melkkühe vorkommen. Es muss gerade im Interesse der Menschen in
Afghanistan unsere gemeinsame Aufgabe sein, von den
politisch Verantwortlichen vor Ort zu verlangen, dass es
zu einer Besserung und dass in den offenbar überall gegenwärtigen bürokratischen Dschungel Bewegung
kommt.
({2})
Die rot-grüne Bundesregierung wird es nicht gerne
hören, aber richtig bleibt es dennoch: Gravierende
Koordinierungs- und Effizienzdefizite beginnen vor
unserer eigenen Haustür.
({3})
Die Bundesregierung hat es versäumt, eine zentrale Koordinierungsinstanz für ihre Hilfsaktivitäten zu bestimmen. Die am Wiederaufbau beteiligten Ressorts wie
BMZ, AA und Innenministerium zeichnen sich häufig
durch gegenseitige Abgrenzung und durch Zersplitterung ihrer Bemühungen anstatt durch enge Koordinierung und Kooperation aus,
({4})
was durch die hier bereits mehrfach erörterte problematische haushaltstechnische Konstruktion, die Sie im
Widerspruch zum Grundsatz der Haushaltstransparenz
gewählt haben, noch verschärft wird. Es kann nicht der
Weisheit letzter Schluss sein, dass das Auswärtige Amt
Finanzmittel in Höhe von 30 Millionen Euro aus dem
BMZ-Etat zur Durchführung eigener Aktivitäten in Afghanistan erhält, hiervon aber einen erheblichen Teil an
das BMI für von dort gesteuerte Maßnahmen weiterleitet
und letztlich niemand weiß, wer wofür zuständig ist. Das
ist ein schlechtes Beispiel für Koordination „made in
Germany“.
({5})
Darüber hinaus zeigt sich leider, dass der wieder erstarkte Drogenanbau zu einem immer größeren Problem für einen nachhaltigen und friedlichen Wiederaufbau Afghanistans wird. Auch darauf weisen unsere
NGOs zu Recht hin. Es ist richtig und war in vergangenen Debatten unstrittig, dass die Bundeswehr keine Drogenanbaubekämpfungsarmee ist. Aber es muss uns langsam mehr zu dem Thema einfallen, als nur zu sagen, dies
sei nicht Aufgabe der Bundeswehr. Der Drogenhandel
ist die wirtschaftliche Basis für viele Warlords und für
deren blutige Gefechte. Das Problem muss dringend angegangen werden. Es überlagert sonst dauerhaft unsere
Wiederaufbaubemühungen.
Mit der Schaffung dauerhafter lukrativer alternativer
Einkommensquellen muss endlich begonnen und mit der
Vernichtung der Drogenanbaugebiete muss Ernst gemacht werden. Das ist die gemeinsame politische Verantwortung der Gebergemeinschaft. Das ist keine Aufgabe, für die allein die Briten zuständig sind, wo wir
beruhigt zuschauen können und mit der wir nichts zu tun
haben. Der Erfolg des Ganzen hängt von dem Erfolg auf
diesem Gebiet ab.
({6})
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für eine
friedvolle und insgesamt positive Entwicklung des Landes wird es auch sein, dass all das, worauf sich die Loya
Jirga bei der Schaffung einer neuen Verfassung geeinigt
hat, nun mit Leben erfüllt wird. Ich denke dabei insbesondere an die Verwirklichung der Menschenrechte und
die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Es
darf dabei nicht bei wohlklingenden Worten bleiben.
Auch hier ist die Einmischung der internationalen Gemeinschaft, sofern sie notwendig ist, völlig legitim.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung deshalb auf, sich bei der bevorstehenden
Konferenz für den Abschluss eines neuen mehrjährigen
Kooperationsabkommens für Afghanistan unter möglichst breiter Geberbeteiligung einzusetzen und dies mit
einem konzeptionell und finanziell angemessenen deutschen Engagement zu untermauern. Wir dürfen uns, was
unsere bisherigen Leistungen angeht, nicht auf unseren
Lorbeeren ausruhen.
Wir erwarten darüber hinaus gerade auch als Entwicklungspolitiker eine bessere Verzahnung der zu
Recht hoch angesehenen Aufbauarbeit unserer Bundeswehr mit den entwicklungspolitischen Maßnahmen zum
Wiederaufbau des Landes. Die vor Ort immer wieder anzutreffenden Vorbehalte aus den Reihen des BMZ gegenüber allem, was irgendwie militärisch ist, müssen
endlich der Vergangenheit angehören. Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Deutlichkeit selbst Mitglieder
der Bundesregierung die unbefriedigende Zusammenarbeit gerade mit dem BMZ kritisieren. Wir sind dankbar, wenn uns diese Hinweise gegeben werden.
Da wir fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit beraten, ist man versucht, noch einige drastische Zitate zu
bringen. Ich will es jedoch bei dem Hinweis bewenden
lassen. Ich bin froh, dass die Zusammenarbeit zwischen
dem AA und dem Verteidigungsministerium offenbar
vernünftig funktioniert. Das BMZ spielt dabei immer
wieder eine Außenseiterrolle. Das muss sich ändern.
({7})
Gerade auch vor dem Hintergrund unseres verstärkten
militärischen Engagements über Kabul hinaus beim PRT
in Kunduz, das wir als Unionsfraktion bei allen berechtigten Bedenken letztlich unterstützt und mitgetragen haben, ist es notwendig, zu Verbesserungen zu kommen.
Unsere seit Jahren erhobene Forderung nach einer
besseren Koordinierung der Hilfeaktivitäten innerhalb
der Bundesregierung wie auch mit der internationalen
Gebergemeinschaft bleibt für uns selbstverständlich auf
der Tagesordnung. Wenn ich den leider wieder einmal
etwas übereilt zusammengeschusterten Antrag von RotGrün zu dieser Debatte lese - bedauerlicherweise spricht
ja niemand dazu -, dann stelle ich fest, dass dieses Problem von der Regierung ähnlich eingeschätzt wird wie
von uns. Sie haben etwas andere Formulierungen in Ihrem Antrag. Danach soll alles noch besser werden; die
Koordinierung soll noch besser und effizienter werden.
Das will wohl heißen, dass es erhebliche Probleme gibt.
Ich bin froh, dass wir uns in dieser Frage einig sind,
wie beim Vergleich der beiden Anträge überhaupt festzustellen ist, dass es in der Substanz deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Eigentlich hätten
Sie sich auch einen Ruck geben und dem Antrag der
Union zustimmen können. Denn so sehr unterscheidet
sich Ihr Antrag nicht von unserem. Ihnen wäre dadurch
sicherlich kein Zacken aus der Krone gebrochen.
Besonders dringend scheint es uns darüber hinaus zu
sein, in koordinierter Weise alle Anstrengungen zu unternehmen, damit in ganz Afghanistan bald glaubwürdige Wahlen in einem sicheren Umfeld stattfinden können. Wir sehen darin auch einen wichtigen Meilenstein
für eine konsequente entwicklungsfördernde landesweite
Durchsetzung der neuen afghanischen Verfassung und
des in ihr verankerten Schutzes der Menschenrechte.
({8})
Dabei sind die führenden afghanischen politischen Persönlichkeiten sicherlich gut beraten, auch nach den Wahlen keine Entscheidungen mit 51-prozentigen Mehrheiten zu suchen, sondern den Wiederaufbau mit einem
möglichst breiten Konsens zwischen den verschiedenen
Volksgruppen im Lande voranzutreiben. Das ist bekanntlich nicht leicht; es stellt vielmehr ein großes Problem
dar. Ich denke hierbei vor allem auch an das nach wie
vor spannungsträchtige Verhältnis zwischen den Paschtunen als größter ethnischer Gruppe einerseits und den
anderen ethnischen Minderheitengruppen andererseits,
die sich, wie wir wissen, auch untereinander nicht immer
einig sind. Gerade mit dem paschtunischen Teilvolk
kommt es häufig zu Spannungen. Dieser Konsens ist im
Übrigen auch eine wichtige Voraussetzung für die von
uns angestrebte sichere und freiwillige Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge und Vertriebenen, die in ihrer
Heimat dringend gebraucht werden und die sich in ihren
Heimatregionen sicher fühlen müssen.
Wir wissen alle: Es bleibt noch viel zu tun in und für
Afghanistan. Die Berliner Konferenz in der nächsten
Woche bietet dafür eine wichtige Chance. Ich gehe davon aus, dass darüber in diesem Haus Einigkeit besteht.
Mir ist gesagt worden, ich solle nicht - nicht einmal in
objektiver Weise - noch weiter über den rot-grünen Antrag reden; das sehe die Geschäftsordnung nicht vor. Von
daher will ich abschließend festhalten: Wir wünschen
dieser Konferenz von Herzen allen Erfolg im wohlverstandenen deutschen, europäischen bzw. westlichen Eigeninteresse und vor allem im Interesse der Menschen in
Afghanistan, die diesen Erfolg dringend benötigen und
verdient haben.
Herzlichen Dank.
({9})
Die Reden der Kollegen Detlef Dzembritzki von der
SPD, Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, und Harald
Leibrecht, FDP, nehmen wir zu Protokoll. Damit
schließe ich die Aussprache.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2578 und 15/2757 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/2578 - Tagesordnungspunkt 14 - soll abweichend von der ehemaligen Tagesordnung federführend an den Auswärtigen Ausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Daniel Bahr ({0}), Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Initiative des Europäischen Parlaments, des
Europäischen Rates und der UNO zur Förde-
rung des Sports nachhaltig unterstützen
- Drucksache 15/2418 -
1) Anlage 7
Sportausschuss ({0})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden, und zwar handelt es sich um die Reden der Kol-
legen Axel Schäfer von der SPD, Klaus Riegert und
Peter Letzgus von der CDU/CSU, Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen, und Detlef Parr von der FDP.1)
1) Anlage 8
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 31. März 2004, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
({1})
Die Sitzung ist geschlossen.